summaryrefslogtreecommitdiff
diff options
context:
space:
mode:
authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-02-08 17:24:45 -0800
committernfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-02-08 17:24:45 -0800
commit40959cb65399d8719acc6ede38085fb9c6ff9512 (patch)
tree7d5647a0d2446588c56860d15f4580837eb9e8cf
parent87b8ecb6b0cf982acc13ddfa5c162a4be9c646e3 (diff)
Sentinels relocatedHEADmain
-rw-r--r--58238-0.txt26011
-rw-r--r--58238-8.txt26402
-rw-r--r--58238-h/58238-h.htm421
3 files changed, 26013 insertions, 26821 deletions
diff --git a/58238-0.txt b/58238-0.txt
new file mode 100644
index 0000000..b2731a4
--- /dev/null
+++ b/58238-0.txt
@@ -0,0 +1,26011 @@
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58238 ***
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
+
+ Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
+ herausgegeben von Moeller van den Bruck
+
+ Übertragen von E. K. Rahsin
+
+
+ Erste Abteilung: Erster und zweiter Band
+
+
+ F. M. Dostojewski
+
+
+
+
+ Rodion Raskolnikoff
+
+
+ (Schuld und Sühne)
+
+ Roman
+
+
+ R. Piper & Co. Verlag, München
+
+
+ R. Piper & Co. Verlag, München, 1922
+ 23.--35. Tausend
+ Druck: Otto Regel, G. m. b. H., Leipzig.
+ Buchausstattung von Paul Renner.
+
+
+ Copyright 1922 by R. Piper & Co.,
+ Verlag in München.
+
+
+
+
+ Zur Einführung in die Ausgabe
+
+
+Wir brauchen in Deutschland die voraussetzungslose russische
+Geistigkeit. Wir brauchen sie als ein Gegengewicht gegen ein Westlertum,
+dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren, wie Rußland ihnen
+ausgesetzt gewesen ist, und das auch uns dahin gebracht hat, wohin wir
+heute gebracht sind. Nachdem wir solange zum Westen hinübergesehen
+haben, bis wir in Abhängigkeit von ihm gerieten, sehen wir jetzt nach
+dem Osten hinüber -- und suchen die Unabhängigkeit. Aber wir werden sie
+nicht im Osten, wir werden sie immer nur bei uns selbst finden.
+
+Der Blick nach dem Osten erweitert unsern Blick um die Hälfte der Welt.
+Die Fragen des Ostens sind für uns zunächst eine Frage der geistigen
+Universalität. Und wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, dann handeln wir
+nur im Geiste unserer besten Überlieferung. Aber diese Fragen sind noch
+mehr. Sie sind zugleich eine Frage der geistigen Souveränität. Nachdem
+wir sie im neunzehnten Jahrhundert an den Westen verloren haben, wollen
+wir sie im zwanzigsten Jahrhundert für Deutschland zurückerringen.
+
+Es wird immer zu unseren Unbegreiflichkeiten gehören, daß wir es dahin
+kommen ließen, daß wir uns dem Westen bis zu dieser völligen
+Selbstvergessenheit hingaben. Es ist um so unbegreiflicher, als wir im
+Gegensatze zu Rußland, das sich seine geistigen Werte erst erringen
+mußte, die unseren im festen Besitze hielten, und als unter ihnen nicht
+wenige waren, die wir noch nicht einmal vor der eigenen Nation
+aufgeschlossen und ihr mitgeteilt hatten. Doch wir bevorzugten die
+fremden Werte. Heute sehen wir die Wirkung. Und wir leben unter den
+Folgen.
+
+Wir haben im Verlaufe unserer langen Bildungsgeschichte schon manches
+fremde und ferne Bildungsgebiet einbezogen, ob es das griechische war,
+oder das italienische. Aber noch nie wurde eines so gefährlich, wie das
+westliche geworden ist. Wir werden uns hüten müssen, daß nicht auch der
+Osten zu einer Gefahr wird.
+
+Es ist kein anderes Verhältnis zu ihm möglich als das des völligen
+Vertrautseins, aber auch des sicheren Abstandes. Wenn wir unsere
+geistige Souveränität, und aus ihr folgend unsere politische
+Souveränität, wiedergewonnen haben, dann wird auch Rußland nicht mehr
+und nicht weniger für uns sein, als eines jener großen Bildungsgebiete,
+die uns reicher machten, aber auch selbständiger.
+
+Bis dahin teilen wir mit Rußland, aus verschiedenen Gründen, das gleiche
+Schicksal.
+
+ M. v. d. B.
+
+
+
+
+ Rodion Raskolnikoff
+
+
+Die beiden gleichzeitigen und doch so verschiedenen Auseinandersetzungen
+des russischen Geistes mit Napoleon als der Verkörperung des
+westeuropäischen Geistes -- gleichsam zwei Wiederholungen des Jahres
+1812 -- sind in der russischen Literatur: »Krieg und Frieden« und
+»Rodion Raskolnikoff«.
+
+Die erste Auseinandersetzung hat nicht mit einem Siege, sondern nur mit
+einer Religionsverdrehung geendet. Ob der russische Geist auch in der
+zweiten eine Niederlage erlitten hat oder nicht, das bleibe
+dahingestellt. Jedenfalls hat er hier gezeigt, daß er würdig ist, seine
+Kräfte mit einem solchen Gegner wie Napoleon zu messen, hier ist er dem
+Feinde entgegengetreten -- ... Auge in Auge, wie es dem Kämpfer im
+Kampfe gebührt.
+
+Dostojewski hat vor uns die Kraftlosigkeit der napoleonischen Idee
+aufgedeckt, nicht die politische und nicht einmal die sittliche
+Kraftlosigkeit, sondern die religiöse: bevor man in Europa die Idee der
+altrömischen Monarchie, die Idee des universalen Caesar-Vereinigers, des
+Menschengottes auferweckte, mußte man zuerst die entgegengesetzte Idee
+der christlichen universalen Vereinigung, die Idee des Gottmenschen
+überwinden. Doch der historische Napoleon hat diese Idee in seinen Taten
+ganz ebensowenig bewältigt, wie Napoleon-Raskolnikoff es in der
+Anschauung tat, ja, sie sind nicht einmal an sie herangetreten, sie
+haben sie überhaupt nicht gesehen. Wenn dieser Napoleon Raskolnikoff
+tatsächlich ein »Prophet zu Pferde mit dem Schwert in der Hand«
+erscheint, so ist er doch immerhin -- ohne einen »neuen Koran«, ein
+Prophet nicht von Gott und nicht gegen Gott, sondern nur ohne Gott; und
+in diesem Sinne ist er natürlich -- _Pseudoantichrist_. »Wenn es Gott
+nicht gibt, so bin ich Gott!« folgert der irrsinnige und furchtlose
+Kiriloff -- nicht etwa deswegen furchtlos, weil irrsinnig? »Wenn ich es
+mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben, so würde man mich
+in allen Jahrmarktsbuden verspotten!« meinte der nicht gar zu
+vorsichtige und vernünftige Napoleon. Versteht sich, hier ist vom
+Erhabenen, vom Furchtbaren zum Lächerlichen -- »nur ein Schritt«. Ist
+aber die Furcht vor dem Lächerlichen bei Napoleon nicht zu gleicher Zeit
+eine ebenso lächerliche Furcht, wie die Furcht des Usurpators vor der
+Krone des legitimen Nachfolgers? »Gott hat sie mir gegeben. Wehe dem,
+der an sie rührt.« -- Hat sie wirklich Gott selbst gegeben? -- Noch
+niemand hat ihn mit einem so höhnischen Lächeln danach gefragt, niemand
+hat mit einer solchen Vermessenheit an seine Krone gerührt wie
+Dostojewski.
+
+ * * * * *
+
+»Ich wollte ein Napoleon werden, darum erschlug ich. Ich stellte mir
+einmal die Frage: wie, wenn zum Beispiel an meiner Stelle Napoleon
+gewesen wäre und er weder Toulon noch Ägypten, noch einen Übergang über
+den Montblanc gehabt hätte, um seine Laufbahn zu beginnen, sondern
+anstatt all dieser schönen und großartigen Dinge nur irgendein
+lächerliches Weib, eine alte Registratorenwitwe, die er noch dazu hätte
+erschlagen müssen, um aus ihrem Kleiderkasten Geld stehlen zu können
+(für den Anfang seiner Laufbahn -- du verstehst doch?). Nun also, würde
+er sich denn dazu entschlossen haben, wenn ein anderer Ausweg für ihn
+nicht möglich gewesen wäre? Hätte ihn das nicht abgestoßen, weil es doch
+gar zu wenig >großartig< war und ... Sünde wäre? Nun sieh, ich sage dir,
+über dieser >Frage< habe ich mich entsetzlich lange abgequält, so daß
+ich mich fürchterlich schämte, als ich endlich erriet (ganz plötzlich,
+irgendwie), daß es ihn nicht nur niemals abgestoßen haben würde, sondern
+ihm sogar überhaupt nicht in den Sinn gekommen wäre, daß so etwas gar
+nicht >großartig< sei ... Er hätte sogar überhaupt nicht begriffen, was
+ihn dabei abstoßen könnte, und sobald das nur sein einziger Ausweg
+gewesen wäre, würde er sie in einer Weise erwürgt haben, daß ihr nicht
+einmal Zeit zum Mucksen geblieben wäre, -- ohne das geringste Bedenken!
+Nun, und ich ... befreite mich von den Bedenken, erwürgte -- nach dem
+Beispiel seiner Autorität ... Und so war es auch buchstäblich.«
+
+Raskolnikoff begreift nur zu gut den Unterschied zwischen Napoleons
+»geglücktem« und seinem eigenen »mißglückten« Verbrechen, aber nur den
+_ästhetischen_, den Unterschied in der »Form« und in der Eigenart der
+geistigen Kraft. Er vergleicht sein Verbrechen mit den blutigen
+Heldentaten berühmter, gekrönter, historischer Verbrecher, doch Dunja,
+seine Schwester, protestiert gegen einen solchen Vergleich: »Aber das
+ist doch etwas ganz anderes, Bruder, das ist doch nie und nimmer
+dasselbe!« -- Da ruft er wie rasend aus: »Ah! Es ist nicht dieselbe
+_Form_! Es hat kein so ästhetisch schönes Äußere! Ich aber verstehe
+wirklich nicht, warum eine regelrechte Schlacht, mit Kanonenkugeln auf
+die Menschen feuern -- eine ehrenwertere Form sein soll? Die Furcht vor
+dem Unästhetischen ist das erste Anzeichen der Kraftlosigkeit!« --
+»Napoleon, die Pyramiden, Waterloo -- und eine hagere, häßliche
+Registratorenwitwe, eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem
+Bett, -- nun, wie soll das selbst ein Porphyri Petrowitsch (der
+Untersuchungsrichter) verdauen! ... Wie sollen die an ein solches
+Problem heranreichen! ... Die Ästhetik stört: >wird denn<, heißt es,
+>Napoleon unter das Bett eines alten Weibes kriechen?<«
+
+Ja, gerade die konventionelle Ästhetik, die Rhetorik der Lehrbücher,
+jene historische Lüge, die wir mit der Milch unserer erziehenden Mutter,
+der Schule, einsaugen, entstellt und verunstaltet unsere sittliche
+Wertung der universalhistorischen Erscheinungen. Von dieser
+»ästhetischen« Schale wird nun Raskolnikoff durch die Frage nach den
+Verbrechen der Helden befreit, wird von ihr, wie Sokrates sagt, »vom
+Himmel auf die Erde herabgeführt«, d. h. von jener abstrakten Höhe, wo
+die akademische Vergötterung der Großen stattfindet, auf die Ebene des
+lebendigen Lebens: und er stellt uns Angesicht gegen Angesicht dieser
+Frage in ihrer ganzen grauenvollen Einfachheit und Verschlungenheit
+gegenüber. Hat doch ein jeder von uns, uns Nichthelden, wenigstens
+einmal im Leben mehr oder weniger bewußt für sich entscheiden müssen, so
+wie Raskolnikoff es tut: »Bin ich zitternde Kreatur oder habe ich das
+Recht,« bin ich ein »Fressender« oder ein »Gefressener«? Und diese
+Frage, dem Anscheine nach die der umfassendsten und allgemeinsten
+universalhistorischen Anschauung, ist hier mit der ersten und
+wichtigsten sittlichen Frage jedes einzelnen Menschenlebens, jeder
+einzelnen menschlichen Persönlichkeit untrennbar eng verbunden. Ohne
+diese Frage mit dem Verstande und dem Herzen gelöst zu haben -- oder hat
+man sie nur mit dem Verstande oder nur mit dem Herzen gelöst, -- kann
+man nicht leben, kann man keinen Schritt im Leben tun.
+
+Wenn wir uns nun von der »Furcht vor der Ästhetik« befreien, werden wir
+dann nicht zugeben, daß der erste, sagen wir mathematische Ausgangspunkt
+der sittlichen Bewegung Napoleons und Raskolnikoffs -- ein und derselbe
+ist? Beide sind sie aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen: der kleine
+Korsikaner, der auf die Straßen von Paris hinausgeworfen war, der
+Fremdling ohne Titel, ohne Herkunft, dieser Bonaparte -- ist ganz ebenso
+ein unbekannter Vorübergehender, ein junger Mann, »der einmal in der
+Dämmerstunde aus seiner Dachkammer heraustrat,« wie der Student der
+Petersburger Universität Rodion Raskolnikoff. »Er war auffallend schön,
+er hatte dunkle Augen und dunkelblondes Haar, war schlank und
+wohlgestaltet« -- das ist alles, was wir zu Anfang der Tragödie von
+Raskolnikoff wissen, und nur ein wenig mehr wissen wir von -- Napoleon.
+Das »Menschenrecht« und die »Freiheit«, die die »Große Revolution«
+erobert hatten, sind für beide in erster Linie das Recht und die
+Freiheit, vor Hunger zu sterben; »Gleichheit und Brüderlichkeit« sind
+für sie Gleichheit und Brüderlichkeit mit denen, die von ihnen verachtet
+oder gehaßt werden. Beim Anblick dieser »Nächsten« und »Gleichen« --
+sagt Dostojewski von Raskolnikoff -- »drückte sich die Empfindung des
+tiefsten Ekels in den feinen Zügen des jungen Mannes aus«, und wir
+können dabei ebensogut an Napoleon denken. Brüderlichkeit und Gleichheit
+-- tiefster Ekel; Freiheit -- tiefste Verschmähung, Einsamkeit. Weder
+Vergangenheit noch Zukunft. Weder Hoffnungen, noch Überlieferungen. »Ein
+einziger gegen alle, sterbe ich morgen, bleibt nichts von mir übrig« --
+das ist die erste Empfindung beider. Und der Einfall dieser »zitternden
+Kreatur«, ein »Herrscher« zu werden, wäre ein ebenso verrückter Einfall
+-- oder Größenwahnsinn -- bei Napoleon wie bei Raskolnikoff: zuerst ins
+Krankenhaus, dann in die Zwangsjacke und -- aus ist es. Raskolnikoff hat
+vor Napoleon sogar einen gewissen Vorzug: er sieht nicht nur die
+äußeren, sondern auch die inneren Schranken und Hindernisse, die er
+»übertreten« muß, um »das Recht zu haben«. Napoleon sieht sie überhaupt
+nicht. Übrigens war vielleicht gerade diese Blindheit teilweise die
+Quelle seiner Kraft -- allerdings nur bis zu einer gewissen Zeit: zu
+guter Letzt wird der Mangel an Erkenntnis jeglicher Kraft doch nicht
+verziehen; und auch Napoleon wurde dieser Mangel nicht verziehen.
+Raskolnikoff erkühnt sich zu Größerem, weil er mehr, weil er Größeres
+sieht. Hätte er gesiegt, so wäre sein Sieg endgültiger, unumstößlicher
+gewesen, als der Sieg Napoleons. In jedem Fall aber ist infolge der
+Gleichheit oder Einheit des Ausgangspunktes, trotz des ganzen
+unermeßlichen Unterschiedes der zurückgelegten Wege, das sittliche
+Gericht über Raskolnikoff zu gleicher Zeit auch Gericht über Napoleon.
+Die Frage, die in »Rodion Raskolnikoff« erhoben wird, ist dieselbe
+Frage, die Tolstoj in »Krieg und Frieden« erhebt; der ganze Unterschied
+besteht nur darin, daß Tolstoj sie umfängt, während Dostojewski sich in
+sie vertieft; der eine tritt von außen an sie heran, der andere von
+innen; bei dem einen ist es Beobachtung, beim anderen Experiment.
+
+Die Revolution war ein ungeheurer politischer, schon in viel geringerem
+Maße sozialer, die Stände betreffender, und überhaupt kein moralischer
+Umsturz. »Du sollst nicht töten«, »du sollst nicht stehlen«, »du sollst
+nicht ehebrechen« -- alles ist geblieben, wie es war, wie es die Tafeln
+Moses vorschreiben; alles hat, ganz abgesehen von den äußeren
+kirchlichen und monarchischen Überlieferungen, seine innere sittliche
+Notwendigkeit vor dem Henker (Robespierre), ebenso wie vor dem Opfer
+(Louis XVI.) aufrecht erhalten. Trotz der »Göttin der Vernunft« war
+Robespierre ein ebensolcher »Deïst« wie Voltaire, und trotz der
+Guillotine ein ebensolcher »Menschenfreund« wie Jean Jacques Rousseau.
+Man muß seinen Nächsten lieben, man muß sich für seine Nächsten opfern
+-- dem widersprach kein einziger, weder die Henker, noch die Opfer.
+Hierbei vollzog sich keinerlei Umwertung der sittlichen Werte. Die
+Persönlichkeit war der Allgemeinheit in der neuen Regierungsform nicht
+etwa weniger untergeordnet, sondern mehr. Bei der mittelalterlichen
+Verfassung war diese Unterordnung ganz natürlich, innerlich bedingt,
+nicht willkürlich gewesen, war die Unterordnung des einen Gliedes im
+lebendigen Volkskörper unter ein anderes durch eine vielleicht sogar
+falsch aufgefaßte, aber immerhin religiöse, uneigennützige Idee. Jetzt
+wird die Politik zur Mechanik; die Persönlichkeit ordnet sich dem
+äußeren Zwang des »Gesellschaftsvertrages« unter -- der Stimmenmehrheit;
+sie wird zum Hebel inmitten aller Hebel der vernünftig und richtig
+gebauten Maschine, zur Eins unter Einern, zur mathematisch berechenbaren
+Ziffernhöhe dieser Mehrheit. Der Druck der neuen anmaßenden Freiheit
+war, wie es sich erwies, furchtbarer als der Druck der alten
+unverhohlenen Knechtschaft.
+
+Und die Persönlichkeit hielt es nicht aus und empörte sich in der
+letzten, in der Welt noch nie dagewesenen Empörung.
+
+Versteht sich: am allerwenigsten dachte an die Rechte der
+Menschenpersönlichkeit, an die Umwertung aller sittlichen Werte --
+Napoleon, als er die Läufe der Touloner Kanonen auf den revolutionären
+Volkshaufen richten ließ, um, nach dem Ausdruck Raskolnikoffs, »mit
+Kanonenkugeln auf Schuldige und Unschuldige zu feuern, ohne sie auch nur
+eines Wortes der Erklärung zu würdigen«. Und darauf folgt eine ganze
+Reihe ganz ebenso geglückter Verbrechen. -- »Ich erriet damals,« sagt
+Raskolnikoff »daß Macht nur dem gegeben wird, der es wagt, sich zu
+bücken und sie zu nehmen. Hierbei ist ja nur eines, nur eines
+erforderlich: man muß nur wagen, nur erkühnen muß man sich! ... Es stand
+plötzlich sonnenklar vor mir, wie denn noch kein einziger bis jetzt
+gewagt hat und nicht wagt, wenn er an diesem ganzen Blödsinn
+vorübergeht, einfach alles am Schwanz zu nehmen und zum Teufel zu
+schleudern! Ich wollte mich dazu erkühnen!« Dem Bewußtsein Napoleons
+zeigte sich dasselbe natürlich nicht »sonnenklar«: nur aus dem dunklen,
+uranfänglichen Instinkt der sich empörenden Persönlichkeit heraus
+»wollte _er_ sich erkühnen«.
+
+Napoleon ging aus der Revolution hervor und nahm sogar ihre
+Offenbarungen an, nur veränderte er sie für seine Zwecke. »Alle sind
+gleich« -- damit stimmte er überein, nur fügte er hinzu: »Alle sind
+gleich _für mich_, alle sind gleich _unter mir_.« »Alle sind frei« --
+und er will Freiheit, will freien Willen, aber »_nur für sich allein_«
+will er freien Willen.
+
+Vom Gesichtspunkte der alten, mosaischen, und der scheinbar neuen, in
+Wirklichkeit aber ebenso alten menschenfreundlichen Sittlichkeit aus,
+die Jean Jacques Rousseau mit der Feder und Robespierre mit dem
+Henkerbeil verkündet haben, ist Napoleon ein Dieb und Mörder, »ein
+Räuber außerhalb des Gesetzes«. Uns erdrückt das Pathos der historischen
+Ferne, wir sind geblendet von der Sonne von Austerlitz. »Napoleon, die
+Pyramiden, Waterloo -- und eine hagere, häßliche Registratorenwitwe,
+eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem Bett -- wie sollen
+sie denn das verdauen! Wird denn, heißt es, Napoleon unter das Bett
+eines alten Weibes kriechen?« Und doch, in der Tat, geben wir zu, wenn
+nur die »Ästhetik uns nicht störte«, daß für die Kritik der reinen
+Sittlichkeit die Zerstörung Toulons und das unter das Bett des alten
+Weibes nach dem roten Koffer Kriechen -- ein und dasselbe ist. Furchtbar
+und gemein ist es, scheußlich und widerlich! Er kroch unter das Bett und
+verkroch sein ganzes Leben. Warum ist das nun in dem einen Falle
+»Übertretung (Schuld) und Sühne«, und im anderen -- Übertretung
+(Verbrechen) und Krönung mit dem in der Geschichte einzig dastehenden
+universalhistorischen Lorbeerkranz? »Gott hat sie mir gegeben« (die
+Krone der römischen Cäsaren); »wehe dem, der an sie rührt.« Was Wunder,
+wenn der verschüchterte und ruhmberauschte Pöbel dem glaubte! Wie aber
+konnten die freien, rebellischen Byron und Lermontoff daran glauben? Wie
+konnten sie diesen »Tyrann«, der den größten Versuch der
+Menschenbefreiung, die Revolution, enthauptete, als ihren Helden
+anerkennen? Wie, endlich, konnten so ruhige und nüchterne Leute wie
+Puschkin und Goethe von ihm betrogen werden? Und doch ist es so. Als
+hätte er ihren geheimsten, für sie selbst noch furchtbaren Traum erraten
+und verkörpert! Und geradezu dankbar dichten sie die letzte wundervolle
+»Sage« Europas von ihm, dem Märtyrer-Imperator auf Sankt Helena, von dem
+neuen Prometheus, der an den einsamen Fels inmitten des Ozeans
+angeschmiedet ist. Dem Märtyrer welchen Gottes? -- Das wissen sie nicht,
+das sehen sie nicht, nur dunkel ahnt ihr Instinkt, daß gerade hier, bei
+Napoleon, ein anderer Geist umgeht, einer, der ihnen wie näher und
+verwandter, der wie neuer und sogar freier, befreiender und
+schöpferischer ist, als der Geist der Revolution. Erwachte nicht in dem
+alten, bereits zur Ruhe gekommenen und ein wenig sogar schon
+verknöcherten Goethe, als er sich an Napoleon wie an einer
+übernatürlichen, »dämonischen« Erscheinung der Natur und der Menschheit
+begeisterte, -- erwachte da nicht in ihm etwas Jünglinghaftes,
+grenzenlos Rebellisches, Unterirdisches, jenes selbe, aus dem auch sein
+Prometheusruf geboren scheint:
+
+ Ihr Wille gegen meinen!
+ Eins gegen Eins ...
+ -- -- -- -- -- --
+ Götter? Ich bin kein Gott,
+ Und bilde mir so viel ein als einer.
+ Unendlich? -- Allmächtig? --
+ Was könnt ihr? ......
+ Vermögt ihr, zu scheiden
+ Mich von mir selbst?
+
+Auch bei Byron nimmt die Erscheinung Napoleons nicht umsonst die Gestalt
+Prometheus, Kains, Lucifers an -- aller Verstoßenen, Verfolgten, die
+sich gegen Gott erhoben und vom Baume der Erkenntnis gegessen haben.
+Dieser Geist, der weder hell noch dunkel ist, wie das fahle Dämmerlicht
+der ersten Morgenstunden, dieser neue Dämon Europas mit seinem frommen,
+leidenschaftslosen Lächeln -- um wieviel ist er aufrührerischer als
+Robespierre oder Saint Just, um wieviel will er mehr, als Rousseau oder
+Voltaire! Es scheint, daß hier auch des Rätsels Lösung ist. Aber
+vielleicht ist niemand entfernter von diesem Erraten, als -- Napoleon
+selbst. Vielleicht würde sich niemand so sehr darüber wundern, niemand
+so entrüstet sein wie er, wenn er begreifen könnte, welch eine Folgerung
+aus seinen Sätzen gezogen, welch eine Bedeutung seiner Persönlichkeit
+beigelegt werden wird. Schien es doch nicht nur anderen, sondern auch
+ihm selbst, daß er das gestörte Gleichgewicht der Welt wieder
+herstellte, daß er unerschütterliche Ordnung einführte, das
+auseinanderfallende Gebäude des europäischen Staatskörpers stützte und
+der Revolution ein Ende machte. Wenn nur er selbst und die anderen den
+»ersten Schritt«, seinen Ausgangspunkt, vergessen könnten -- diesen
+bleichen jungen Menschen mit den blutigen Händen, der nach dem roten
+Koffer unter das Bett der alten Wucherin -- der Revolutionsgöttin
+»Vernunft« -- kriecht! »_Dio mi la dona._ Gott hat _sie_ mir gegeben,«
+-- die Krone oder die rote Truhe? Und ist es wirklich Gott? Wirklich der
+christliche Gott oder der Gott des fünften Buches Moses? Immerhin hat er
+doch getötet und gestohlen! Er aber ist ein einzelner; für die anderen
+heißt es nach wie vor: »Du sollst nicht töten«, »Du sollst nicht stehlen
+...« Wenn _er_ -- warum dann schließlich nicht auch _ich_? Ist er denn
+nicht aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen wie ich, nicht aus einem
+ebenso abstrakten mathematischen Nichtigkeitspunkt wie ich? Er ist --
+Gott; ich bin -- »zitternde Kreatur«. Aber auch in meinem Herzen erhebt
+sich der Schrei des Titanen:
+
+ Götter? Ich bin kein Gott,
+ Und bilde mir soviel ein als einer.
+
+Wenn er »beim Vorübergehen einfach alles am Schwanz nahm und
+fortschleuderte zum Teufel,« warum soll dann nicht auch ich einmal
+dasselbe versuchen, und wäre es auch nur, sagen wir -- aus Neugier?
+»Denn hier ist ja nur eines, nur eines erforderlich: man muß sich nur
+dazu entschließen.«
+
+Nein, Napoleon hat den Brand der großen Revolution nicht gelöscht, er
+hat nur den Feuerfunken derselben aus dem äußeren, politischen, weniger
+gefährlichen Gebiet in das innere, sittliche, um wieviel mehr
+explosionsfähige geworfen. Er wußte selbst nicht, was er tat, ahnte
+selbst nicht, »wes Geistes er war«; aber mit seinem ganzen Leben, durch
+sein Beispiel, durch die Größe seines Glücks und die Größe seines
+Unterganges hat er die tiefsten Grundfesten der ganzen christlichen und
+vorchristlichen Sittlichkeit erschüttert: ohne seinen Willen, gegen
+seinen Willen hat er die »Umwertung aller Werte« begonnen, hat er noch
+nie dagewesene Zweifel an die Uroffenbarungen des Menschengewissens
+erweckt, hat er -- wenn auch mit halbverschlafenen Augen -- in das
+»Jenseits von Gut und Böse« geblickt, und hat er auch anderen erlaubt
+und auch andere gezwungen, dorthin zu blicken. Das aber, was der Mensch
+dort erblickt hat, das kann er nie mehr vergessen. Die alte politische
+»Große« Revolution erscheint uns trotz all ihrer äußeren blutigen Greuel
+vollkommen unverletzend und ungefährlich, fast gutmütig und klein wie
+ein Kinderspiel, fast wie Schülerunart -- im Vergleich zu diesem kaum
+sehbaren, kaum hörbaren innerlichen Umsturz, der sich noch bis auf den
+heutigen Tag nicht vollzogen hat und dessen Folgen wir unmöglich
+voraussehen können.
+
+Eines ganzen Jahrhunderts angestrengten philosophischen und religiösen
+Denkens Europas hat es bedurft -- von Goethes »Prometheus« bis zu
+Nietzsches »Antichrist« --, um den ewigen Sinn der napoleonischen
+Tragödie als universalhistorischer Erscheinung zu erfassen: die
+antichristliche und doch dabei heilige Liebe zu sich selbst, zu seinem
+»fernen« Selbst, die der Liebe zu anderen, zum »Nächsten«
+entgegengesetzt ist; der titanische unterirdische Anfang der
+Persönlichkeit: »ich allein gegen alle« --
+
+ »Ihr Wille gegen meinen« --
+
+der Wille der Selbstbejahung, der »Wille zur Macht«, der dem Willen zur
+Selbstverleugnung, zur Selbstvernichtung entgegengesetzt ist; die
+Empörung gegen die alte, gegen die neue, gegen jede gesellschaftliche
+Einrichtung, jeden »gesellschaftlichen Verband«, gegen alle »beengenden
+Fesseln der Zivilisation«, nach dem Ausdruck Napoleons, den er gleichsam
+von dem Urahn der Anarchisten, Jean Jacques Rousseau, entlehnt hat; die
+Empörung gegen die Menschheit (Kain), gegen Gott (Lucifer), gegen
+Christus (der Antichrist-Nietzsche) -- das sind die emporführenden
+Stufen dieser neuen sittlichen Revolution. Unbegrenzte Freiheit,
+unbegrenztes Ich, vergöttertes Ich, Ich-Gott, -- das ist das letzte,
+kaum zu Ende gesprochene Wort dieser Religion, die Napoleon mit so
+genialem Instinkt vorausgesehen hat -- »ich habe eine Religion
+geschaffen« --, und über die er mit so unverzeihlichem Leichtsinn
+scherzen konnte: »In allen Jahrmarktsbuden würde man mich verspotten,
+wenn ich es mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben.«
+
+Und von diesem selben unterirdischen vulkanischen Stoß, der scheinbar
+aus dem Westen kam (wie wir späterhin sehen werden, _nicht nur_ aus dem
+Westen), von diesem selben unklaren, bald mitfühlenden, bald
+spöttischen, aber immer aufregenden und tiefen Gedanken, an die
+napoleonische Persönlichkeit, an die Raubvögel und aufrührerischen
+Helden, die »Menschen des Fatums« -- angefangen von dem kaukasischen
+Gefangenen, Onjégin, Aleko, Petschorin und dem Dämon[1], begann auch die
+Wiedergeburt der russischen Literatur. Dieser Gedanke, der sich wohl
+zeitweilig verbarg, sich gleichsam unter die Erde versenkte, niemals
+aber endgültig versiegte, da er immer wieder mit neuer und neuer
+Kraft hervorbrach, dieser Gedanke begleitet die ganze große
+universalhistorische Entwicklung des russischen Geistes in der
+russischen Literatur, von den »Moskowitern im Child Harold-Mantel«, an
+deren Händen »Blut klebt«, von Aleko-Petschorin, der »nur für sich
+allein Willen haben will« -- bis zum Nihilisten Kiriloff, der sich für
+»verpflichtet« hält, »Eigenwille zu zeigen«, bis Stawrogin, der »in
+beiden entgegengesetzten Polen (in der Freveltat und in der Heiligkeit)
+den gleichen Genuß findet« -- bis zu »Iwan Karamasoff«, der es endlich
+begreift, daß »alles erlaubt ist« und somit Friedrich Nietzsches »alles
+ist erlaubt« voraussagt.
+
+Ein junger Mann[2], mit dem bleichen Gesicht, »mit wundervollen Augen
+und ebensolchem Äußeren« (und nicht nur Äußeren), der an Bonaparte vor
+Toulon erinnert, stiehlt sich nachts in das Schlafzimmer der alten
+Gräfin, um ihr mittels Gewalt das Kartengeheimnis zu erpressen. Die
+Pistole, die er mitgenommen hat, um die Alte zu erschrecken, ist nicht
+geladen. Dennoch fühlt er sich als Mörder. Hier handelt es sich übrigens
+nicht um die Alte: »Die Alte ist Unsinn,« vielleicht auch ein Irrtum,
+»nicht die Alte, sondern das Prinzip« erschlug er, er bedurfte nur des
+»ersten Schrittes«: »ich wollte nur den ersten Schritt tun -- mich in
+eine unabhängige Stellung bringen, Mittel erlangen, und dann, später,
+hätte sich alles durch verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen
+ausgeglichen. _Ich wollte das Gute den Menschen._« Und für das Gute
+erschlug er. Das sagt Raskolnikoff, aber dasselbe könnte auch von
+Puschkins Herrman in der »Pique Dame« gesagt sein. Wie Raskolnikoff, so
+ist auch Herrman ein Nachahmer Napoleons. Wie flüchtig auch sein innerer
+Mensch von Puschkin gezeichnet ist, es ist trotzdem klar, daß er kein
+gewöhnlicher Verbrecher ist, daß hier noch etwas Komplizierteres,
+Rätselhafteres dahintersteckt. Puschkin selbst berührt natürlich, wie
+das so seine Art ist, kaum, kaum diese Rätsel, um dann sofort an ihnen
+vorüberzugehen und sich mit seinem unerhaschbar gleitenden, lächelnden
+Spott von ihnen loszumachen. Aber aus der wie zufällig von Puschkin
+hingeworfenen Skizze »Die Pique Dame« sind _nicht zufällig_ Gogols »Tote
+Seelen« und Dostojewskis »Rodion Raskolnikoff« hervorgegangen. So gehen
+auch hier die Wurzeln der russischen Literatur auf Puschkin zurück:
+gleichsam, als hätte er im Vorübergehen auf die Türe des Labyrinths
+gewiesen. Nachdem Dostojewski einmal in dieses Labyrinth eingetreten
+war, konnte er sich später sein Leben lang nicht mehr herausfinden:
+immer tiefer und tiefer drang er in dasselbe hinein, forschte, prüfte,
+versuchte, suchte und fand doch keinen Ausgang.
+
+Die Verwandtschaft Raskolnikoffs mit Herrman hat Dostojewski, wie es
+scheint, nicht nur gefühlt, sondern auch klar erkannt. »Der Puschkinsche
+Herrman in der >Pique Dame< ist eine kolossale Gestalt, ein
+ungewöhnlicher, durch und durch Petersburger Typ -- ein Typ aus der
+Petersburger Zeit!« läßt Dostojewski seinen Helden in der »Jugend«
+sagen, der gleichfalls einer von Raskolnikoffs geistigen
+Zwillingsbrüdern ist. Er sagt es bei der Beschreibung des Eindrucks, den
+der Petersburger Morgen auf ihn macht -- »der scheinbar prosaischste auf
+der ganzen Welt«, den er aber für den »allerphantastischsten der Welt«
+hält. »An einem solchen modernden, feuchten, nebligen Petersburger
+Morgen mußte der wilde Einfall eines Puschkinschen Herrman, wie mir
+scheint, noch mehr Wurzel fassen. Wohl hundertmal ist mir inmitten
+dieses Nebels der sonderbare, doch um so aufdringlichere Gedanke
+gekommen: Wie, wenn nun dieser Nebel verfliegt und sich emporhebt, wird
+dann nicht auch diese ganze modernde, sumpfig schlüpfrige Stadt zusammen
+mit dem Nebel emporschweben und verschwinden, wie Rauch verfliegen und
+nur den früheren finnischen Sumpf zurücklassen, inmitten desselben
+meinetwegen wie zum Schmuck der _Eherne Reiter_[3] auf dem heiß
+atmenden, überjagten Tiere?«
+
+Ebenso wie von Puschkins Herrman kann man auch von Raskolnikoff sagen,
+daß er ein »durch und durch Petersburger Typ« ist, »ein Typ aus der
+Petersburger Zeit«. In keiner einzigen anderen, weder russischen noch
+europäischen Stadt -- außer in Petersburg -- in keinem einzigen anderen
+Zeitabschnitt der russischen oder europäischen Geschichte hätte dieser
+Herrman sich entwickeln und auswachsen können zu einem -- Raskolnikoff.
+Und hinter diesen zwei »kolossalen«, »außergewöhnlichen« Gestalten hebt
+sich eine dritte Gestalt ab -- tritt die noch kolossalere und
+außergewöhnlichere Gestalt des Ehernen Reiters auf dem Granitfels
+hervor. Was zuerst fremd, aus dem »angefaulten Westen« importiert,
+romantisch, byronisch, napoleonisch erschien, wird verwandt, volklich,
+russisch, wird zum Geiste Puschkins, Peters; was aus den Tiefen Europas
+kam, trifft mit aus den Tiefen Rußlands Kommendem zusammen. Ist der
+Traum unseres sagenhaften Recken der Steppe, unseres Ilja von Murom,
+nicht der Traum vom »Wundertäter«, dem »Riesen«? Ja, in diesem Nebel der
+finnischen Sümpfe und in dem Granit der aus ihnen emporgewachsenen Stadt
+fühlt man deutlich die Verbindung aller kleinen und großen Helden der
+aufständischen oder nur andrängenden russischen Persönlichkeit von
+Onjégin bis Herrman, von Herrman bis Raskolnikoff, bis Iwan Karamasoff
+-- mit demjenigen,
+
+ -- durch dessen Fatumswille
+ Die Stadt sich aus dem Meer erhob --
+
+diese »absichtlichste aller Städte der Erdkugel«, die Stadt der
+abstraktesten Erscheinungen, der größten Vergewaltigung der Menschen und
+der Natur, des historischen »lebendigen Lebens«, die Stadt der
+anscheinend geometrischen Ordnung, des mechanischen Gleichgewichts, in
+Wirklichkeit aber -- der gefahrvollsten Aufhebung der Lebensordnung und
+des Lebensgleichgewichts. Nirgendwo in der Welt sind so
+unerschütterliche Massen auf so schwankendem Grunde aufgetürmt: Granit,
+der sich in Nebel auflöst, Nebel, der sich zu Granit verdichtet. Der
+»Geist der Knechtschaft« -- der »stumme und taube« Geist, von dem es zu
+Raskolnikoff hinüberweht, während er auf der Brücke steht und auf das
+»großartige Panorama« der Petersburger Kais schaut; der Geist der
+Unfreiheit und des »Verhängnisses«, des widernatürlichen und
+übernatürlichen »Willens«. Der »wilde Einfall« Raskolnikoffs »hätte noch
+mehr Wurzel fassen müssen« -- gerade hier in dieser phantastischen Stadt
+»mit der allerphantastischsten Entstehungsgeschichte der Welt«, durch
+die Berührung dieser Wirklichkeit, die selbst einem wilden Einfall,
+einem Fieberwahn gleicht. »Vielleicht ist das alles nur irgend jemandes
+Traum? ... Irgend jemand, dem alles das träumt, wird plötzlich erwachen
+-- und alles wird dann plötzlich verschwinden.«
+
+Bereits Puschkin hat die Ähnlichkeit Peters mit Robespierre bemerkt. Und
+in der Tat sind die sogenannten »Reformen« Peters die größte Revolution,
+der größte Umsturz, die Empörung, der Aufstand von oben, »der weiße
+Terror«. Peter ist Tyrann und Rebell zu gleicher Zeit, Rebell im
+Verhältnis zum Vergangenen, Tyrann im Verhältnis zum Zukünftigen,
+Napoleon und Robespierre in einer Person. Und sein Umsturz ist nicht nur
+politisch, sozial, sondern in noch viel größerem Maße sittlich, er ist
+ein unerbittlicher, unbarmherziger, wenn auch unbewußter Bruch aller
+kategorischen Imperative des Volksgewissens, ist die zügellose Umwertung
+aller sittlichen Werte. Ich glaube, daß, wenn in den Annalen alle
+menschlichen Verbrechen aufgezeichnet wären, man keines finden würde,
+das das Gewissen, wenn nicht mehr empören, so doch mehr befangen machen
+könnte, als die Ermordung des Zarewitsch Alexei. Ist sie doch nicht
+wegen des fraglos Verbrecherischen furchtbar, sondern wegen der immerhin
+möglichen _Gerechtigkeit_ und _Schuldlosigkeit_ des Sohnmörders; dieses
+Verbrechen ist furchtbar dadurch, daß man sich darüber auf keine Weise
+beruhigen kann, nachdem man zugegeben hat, daß er doch kein gewöhnlicher
+Missetäter ist, ein »Verbrecher außerhalb des Gesetzes«. Eine so
+rätselhafte Tragödie finden wir in Napoleons Leben nicht. Doch am
+fruchtbarsten ist hierbei die Frage: wie aber, wenn Peter so handeln
+_mußte_? wie, wenn er durch die Unterlassung dieser Tat das größte und
+wahre Heiligtum seines Zarengewissens zerstört hätte? Tötete er denn den
+Sohn um seinetwillen -- für sich selbst? Aber Peter konnte doch
+tatsächlich nicht -- er verstand es einfach nicht -- sich von Rußland
+unterscheiden, sich und Rußland nicht als eins fühlen: er empfand sich
+als Rußland, liebte Rußland wie sich selbst, liebte es mehr als sich
+selbst. Wer wagt zu sagen, daß er nicht tausendmal für Rußland gestorben
+wäre? Er wollte Rußlands Bestes, »wollte das Gute den Menschen bringen«,
+darum tötete er denn auch, darum »übertrat« er das Gesetz, trat er über
+das Blut, da er glaubte, daß dieser Schritt »später durch
+verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen wieder gut gemacht werden wird«. Er
+»lud sich das Blutvergießen -- auf sein Gewissen«.
+
+Und da steht Peter -- wie Puschkin sagt -- »bis zum Knie im Blute«,
+eigenhändig foltert und enthauptet er. Der Sohn des »Stillsten Zaren«
+ist -- Henker auf dem Roten Felde[4]. Und in dem Augenblick ahmt er
+niemandem nach, in dem Augenblick ordnet er sich keinerlei fremden
+Einflüssen des Westens unter, in dem Augenblick ist er im höchsten Grade
+russischer Zar, Nachfolger Iwans des Grausamem. Der Moskauer Zar-Henker
+ist ebenso autochthon, wie der Zaardamer Zimmermann, der einfache
+Arbeiter. Selbst seine ärgsten Feinde, die Abtrünnigen[5], fühlen doch,
+wenn sie ihn auch den »Fremden«, den »Untergeschobenen« nennen, daß er
+mit ihnen blutsverwandt ist. Und auch die Slawophilen hassen ihn als
+Blutsverwandten, hassen ihn mit dem größten Bluthaß, denn sie fühlen,
+daß er ihr eigen Fleisch und Blut ist, und was ihren Haß erzeugt, ist
+dasselbe Blut, das in Puschkin seine ebenso starke Liebe zu Peter
+erzeugt hat. Nein, nie noch hat es in der Weltgeschichte eine solche
+Verirrung, eine solche Erschütterung des Menschengewissens gegeben, wie
+sie Rußland in der Zeit der »Reformen Peters« erfahren hat. Wahrlich,
+nicht nur bei den Raskolniken allein konnte darob der Gedanke an den
+Antichrist entstehen! Es scheint, daß diese Erschütterung sich noch bis
+auf den heutigen Tag nicht nur im russischen _Volke_, sondern auch in
+unserer kultivierten Gesellschaft bemerkbar macht. Es scheint, daß der
+sumpfige Grund des finnischen Moores immer noch unter dem Ehernen Reiter
+schwankt. Wenn nicht heute, dann kommt morgen ein -- neuer Umsturz in
+dieser »phantastischen Geschichte«, eine neue Überschwemmung, wie sie
+Puschkin in seinem »Ehernen Reiter« geschildert ...
+
+Die Kraft der Wirkung ist gleich der Kraft der Gegenwirkung, dem Aufruhr
+von oben antwortet der Aufruhr von unten, dem weißen Terror der rote.
+Der russische Sozialismus oder der russische Terrorismus -- gleichfalls
+eine »durch und durch Petersburger« Erscheinung, eine Erscheinung des
+»Petersburger«, peterschen Zeitabschnitts -- ist einer der ewigen und
+prophetischen Träume des »Giganten auf dem ehernen Pferde«, ist einer
+der steilen Abhänge jenes »Abgrunds«, über dem er mit seinem Zügelruck
+»Rußland sich aufbäumen macht«. Hier muß der »wilde Gedanke« des
+Terrorismus durch die Berührung mit der »wilden« und phantastischen
+Wirklichkeit noch fester Fuß fassen. Und das ist jener gespenstische
+Nebel, der Nebel des Petersburger Tauwetters, der Nebel der Winde aus
+dem »faulenden Westen«, mit dem zusammen die bereiften Granitblöcke sich
+sofort erheben und wie Nebel verflattern und sich in nichts auflösen
+werden ...
+
+»Es begann mit der Anschauung der Sozialisten,« sagt der Student
+Rasumichin über die Lehre Raskolnikoffs vom Verbrechen -- diese Lehre,
+aus der die ganze Tragödie entstanden ist.
+
+In Europa war der Sozialismus abstrakte, wissenschaftliche Anschauung,
+oder private Anwendung dieser allgemeinen Anschauung, die durch die
+geschichtlichen Lebensbedingungen der Kultur hervorgerufen worden
+war. Erst in Rußland wurde der Sozialismus zur allgemeinen,
+allesverschlingenden, philosophischen, metaphysischen (denn der äußerste
+Materialismus ist bereits Metaphysik), teilweise sogar zur mystischen
+Lehre vom Sinn des Lebens, dem Ziel und Zweck der Weltentwicklung --
+mystisch natürlich ohne Wollen und Wissen ihrer Verkündiger. Und
+wiederum nur hier, in Rußland, in dem Rußland Petersburgs und Peters,
+kommt der Sozialismus bis zu seinen letzten (seinen ersten Lehrsätzen in
+bedeutendem Maße widersprechenden, mitunter dieselben unmittelbar
+verneinenden) -- _anarchistischen_ Folgerungen. Anarchismus ist ein
+furchtbares russisches Wort, ist die russische Antwort auf die Frage der
+westeuropäischen Kultur. Das haben wir nicht von Europa entlehnt, das
+haben wir Europa gegeben. Rußland hat hier zuerst, zum ersten Male das
+ausgesprochen, was Europa nicht zu sagen wagte. Hierin hat sich jene
+besondere Neigung, die mit religiöser Verblendung viel Gemeinsames hat,
+die Neigung zu allem dialektisch Äußersten, Zügellosen,
+Überschreitenden, selbst über den letzten »Strich« gehenden, die dem
+russischen Geiste eigen ist, wieder einmal ausgesprochen. Und so ist es
+selbstverständlich auch kein gewöhnlicher Zufall, daß diese unerhörte
+Entwicklung dieser beiden anscheinend so entgegengesetzten und
+unvereinbaren äußersten Pole -- die Idee der Selbstherrschaft und die
+Idee der Herrschaftslosigkeit, der Monarchie und der Anarchie -- sich
+gerade in dem Rußland Peters vollzogen hat. Sind sie doch beide aus
+»einem Geiste« hervorgegangen, aus dem »stummen und tauben« Geiste, aus
+dem Geiste des größten Selbstherrschers und des größten Rebellen der
+Neuen Geschichte: sie sind die zwei steilen Abhänge, die zwei Ränder
+immer derselben Kluft, desselben »Abgrundes«, über dem sich das Pferd
+des Ehernen Reiters bäumt. In der Politik -- Anarchismus, in der
+Sittlichkeit -- Nihilismus. Und auch hier, im Nihilismus, ist der
+»letzte Punkt« erreicht; auch hier ist der »ganze historische Weg
+zurückgelegt, es gibt nichts mehr, wohin man weitergehen könnte«.
+Wiederum das russische Extrem, die äußerste, dialektisch-zügellose,
+nichtwissenschaftliche Folgerung aus der westeuropäischen
+wissenschaftlichen »Kritik der reinen Sittlichkeit«, die sich als
+unerfüllbarer erwies, als die »Kritik der reinen Vernunft«,
+die Folgerung aus den westeuropäischen, unvergleichlich
+zaghafteren und gemäßigteren, weil mehr lebenskulturellen, mehr
+geschichtlich-realistischen »Versuchen, sich auf der Erde ohne Gott
+einzurichten« -- ohne himmlische wie auch ohne irdische Macht, -- die
+Folgerung aus der, wie man meint, ausschließlich materialistischen und
+mechanistischen Weltauffassung.
+
+Wenn Rasumichin recht hat, daß die Lehre Raskolnikoffs mit der
+Anschauung der Sozialisten begonnen habe, so ist das natürlich nicht im
+Sinne des westeuropäischen Sozialismus zu verstehen, sondern in einem
+besonderen, russischen Sinne, im Sinne des Anarchismus und Nihilismus.
+
+»Nun, die Auffassung der Sozialisten ist ja bekannt,« fährt Rasumichin
+fort, »das Verbrechen sei ein Protest gegen die Anormalitäten der
+sozialen Einrichtung -- und nichts weiter, irgend welche anderen
+Ursachen werden überhaupt nicht zugelassen -- und das sei alles!«
+Raskolnikoff aber geht bereits hier in seinem Ausgangspunkte viel weiter
+als die Sozialisten. Die Sozialisten sagen: der Protest -- die
+Verneinung des Vorhandenen -- muß zusammen mit dem, gegen was er
+gerichtet ist, verschwinden, die Verbrechen müssen in demselben
+Verhältnis, wie die »ungerechte Einrichtung oder Einteilung der
+Gesellschaft sich durch eine gerechte ersetzt«, seltener werden oder gar
+gänzlich aufhören. Raskolnikoff aber faßt es anders auf: das Verbrechen
+ist für ihn nicht nur Verneinung, Zerstörung des Alten, sondern auch
+Bejahung, Schaffung von Neuem, die nicht mit zeitlichen, veränderlichen
+Bedingungen der menschlichen Gesellschaft verbunden ist, sondern mit den
+ewigen, unveränderlichen Gesetzen der Natur. »_Nach dem Naturgesetz_,«
+sagt er zu Porphyri Petrowitsch, dem Untersuchungsrichter, indem er
+seine Lehre auseinandersetzt, »zerfallen die Menschen im allgemeinen in
+zwei Arten: in eine niedrigere Art, das sind die Gewöhnlichen, oder
+sagen wir einfach das Material, das einzig zur Erzeugung von
+Seinesgleichen dient, und in die eigentlichen Menschen, d. h. solche,
+die die Gabe oder das Talent besitzen, in ihrer Mitte ein _neues Wort_
+zu sagen ... Die zur zweiten Abteilung gehörenden übertreten alle das
+Gesetz, das sind die Umstürzler ... Und wenn ein solcher für seine Idee
+selbst über Leichen, über Blut schreiten muß, so darf er -- meiner
+Meinung nach -- innerlich, vor seinem Gewissen, sich die Erlaubnis
+geben, meinetwegen auch Blut zu vergießen -- übrigens, je nach der Idee
+und ihrem Umfange, das nicht zu vergessen.« -- »Wenn die Entdeckungen
+eines Kepler oder Newton, sagen wir, infolge irgendwelcher Kombinationen
+auf keine andere Weise den Menschen bekannt werden könnten, als durch
+das Opfer von einem, zehn, hundert oder noch mehr Menschen, die der
+Bekanntmachung der Entdeckung hinderlich wären oder sich als
+unüberwindliches Hindernis auf ihren Weg gestellt hätten, so hätte
+Newton das Recht und wäre sogar verpflichtet, diese zehn oder hundert
+Menschen zu ... _beseitigen_, um seine Entdeckungen der ganzen Welt
+kundtun zu können.« -- »Ferner ... alle Gesetzgeber oder Ordner der
+Menschheit, angefangen von den ältesten, fortgefahren mit Lykurg, Solon,
+Mahomet, Napoleon und so weiter (wie interessant, daß in dieser
+Aufzählung nicht auch Peter genannt wird, wen aber, sollte man meinen,
+müßte wohl Raskolnikoff der >durch und durch Petersburger< petrische
+Typ, wohl nennen, wenn nicht Peter?) -- alle sind sie bis auf den
+letzten Verbrecher, Übertreter schon allein durch den einen Umstand, daß
+sie, indem sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft
+heilig gehaltene und von den Vätern überkommene zerstörten, und weil sie
+selbstverständlich auch vor dem Blutvergießen für ihr neues Wort nicht
+zurückgeschreckt sind, wenn dieses Blut (das mitunter vollkommen
+unschuldig war und heldenmütig für das alte Gesetz hingegeben wurde)
+ihnen nur helfen konnte. Es ist wirklich auffallend, daß die meisten von
+diesen Ordnern und Wohltätern der Menschheit vor allem furchtbare
+Blutvergießer gewesen sind. Mit einem Wort, ich folgere daraus, daß
+alle, nicht nur die ganz Großen, sondern die auch nur etwas aus dem
+alten Geleise Heraustretenden, ich meine, wenn sie auch nur etwas Neues
+-- mag es noch so klein sein -- zu sagen vermögen, ihrer Natur gemäß
+unbedingt Verbrecher oder >Übertreter< sein müssen, versteht sich, mehr
+oder weniger. Anders, d. h. ohne Übertretung, würde es ihnen nicht gut
+möglich sein, aus dem alten Geleise herauszukommen, in ihm aber zu
+bleiben, das können sie natürlich nicht, und zwar wiederum _ihrer Natur
+gemäß_ nicht, und meiner Meinung nach sind sie sogar unmittelbar
+verpflichtet, nicht sich darein zu fügen, nicht den anderen zu folgen.«
+
+Am auffallendsten ist hierbei die aufrichtige oder vorgetäuschte Ruhe,
+die Selbstbeherrschung, mit der er seine Lehre wie irgend ein
+abstraktes, mathematisches Axiom auseinandersetzt. Ein Mensch spricht
+von Menschlichem, als wäre er selbst kein Mensch, sondern ein Wesen aus
+einer anderen Welt, oder wie ein Naturforscher von einem Ameisenhaufen
+oder Bienenstock spricht. Er untersucht nicht das, was sein sollte,
+sondern das, was ist, nicht Gewünschtes, sondern Vorhandenes. Als gäbe
+es zwischen der sittlichen und der religiösen Welt überhaupt keine
+Verbindung, als gäbe es zwischen dem Gedanken an das Wohl der Menschen
+und dem Gedanken an Gott keinerlei Beziehung, als hätte es diesen
+Gedanken an Gott überhaupt nie im Menschengewissen gegeben! Aber man muß
+Raskolnikoff Gerechtigkeit widerfahren lassen: seit Machiavelli hat kein
+einziger von sittlichen und politischen Fragen, die doch die größten
+Leidenschaften erregen, mit einer solchen Leidenschaftslosigkeit
+gesprochen. Und selbst die Sprache des Petersburger Nihilisten erinnert
+durch ihre schneidende Schärfe, Kälte und Klarheit der Dialektik, die
+»scharf wie ein Rasiermesser« ist, an die Sprache des Sekretärs der
+florentinischen Republik.
+
+Nur ein einziges Wort zum Schluß des Gespräches fällt aus dieser
+zynischen Leidenschaftslosigkeit heraus und enthüllt zu gleicher Zeit
+unter den abstrakten Gedanken eine noch viel größere Tiefe, als selbst
+Raskolnikoff ahnt.
+
+»Nun, aber die wahrhaft Genialen,« unterbricht Rasumichin halb
+ärgerlich, »diese, denen das Recht zu morden gegeben ist -- die müssen
+dann also überhaupt nicht leiden, auch nicht einmal für vergossenes
+Blut?«
+
+»Wozu hier das Wort >müssen<?« entgegnet Raskolnikoff. »Hier gibt es
+weder Erlaubnis noch Verbot. Mögen sie doch leiden, wenn ihnen das Opfer
+leid tut ... Leiden und Schmerz sind stets mit umfassender Erkenntnis
+und einem tiefen Herzen verbunden. Ich glaube, die wahrhaft großen
+Menschen müssen in der Welt eine _tiefe Schwermut_ empfinden,« fügte er
+plötzlich wie in Gedanken versunken hinzu, _so daß es sogar aus dem Ton
+der Unterhaltung herausfiel_. --
+
+Auch auf dem Gesichte desjenigen, dem Raskolnikoff nachahmt, dem er auch
+äußerlich ganz ebenso wie Puschkins Herrman ähnelt, -- auch auf dem
+sonderbar unbeweglichen Gesichte Napoleons, in seinen Augen, die
+scheinbar »in die Ferne, oder auf einen einzigen fernliegenden Punkt
+gerichtet sind«, finden wir den Stempel dieser tiefen Schwermut, dieser
+großen Trauer, -- kein Anzeichen von Reue oder Gewissensbissen, oder
+Leiden, sondern gerade nur von schwermütiger Trauer: als hätte er das
+erblickt, was Menschenaugen nicht sehen sollten, irgendein letztes
+Geheimnis der Welt vielleicht, und seit der Zeit verläßt dieser Schatten
+sein Antlitz nicht mehr, selbst nicht im blendendsten Lichte des Ruhmes
+und Glückes.
+
+Ja, dieses sonderbare Wort fällt »aus dem Ton der Unterhaltung heraus«:
+es mag ihm gleichsam im Versehen entschlüpft sein. Es ist ein
+jenseitiges, fast religiöses Wort. Denn, wenn in den Fragen von Gut und
+Böse alles so mathematisch klar und einfach ist, wenn das sittliche
+Gesetz nur das Gesetz der »Natur«, der natürlichen Notwendigkeit, der
+inneren Mechanik ist -- worüber trauert er dann, woher kommt dann dieser
+Schatten, vielleicht nicht aus der göttlichen, aber jedenfalls auch
+nicht der menschlichen Welt? Hat Raskolnikoff sich nicht versprochen,
+verraten? Verrät uns nicht dieses eine Wort, daß seine ganze
+wissenschaftliche Leidenschaftslosigkeit nur Äußerlichkeit, nur Membrane
+ist -- übrigens ganz so wie auch die Leidenschaftslosigkeit
+Machiavellis, der das Geheimnis seines »tiefen Herzens« ahnungslos
+aufdeckt, sobald er nur auf die Zukunft Italiens zu sprechen kommt? Es
+scheint, daß bei beiden unter der Leidenschaftslosigkeit eine -- große
+Leidenschaft loht ... wie ein »Feuertrank in einem Becher von
+Eiskristall«.
+
+Der Vorwurf, den Rasumichin den Sozialisten und teilweise auch seinem
+Freunde Raskolnikoff macht -- hatte doch nach Rasumichins Meinung auch
+bei ihm alles mit der »Anschauung der Sozialisten angefangen« -- dürfte
+von diesem wohl kaum verdient sein: »Die Natur wird überhaupt nicht in
+Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die wird als gar nicht
+vorhanden angenommen! -- Darum lieben sie ja auch so instinktiv die
+Geschichte nicht ... sie lieben die _lebendige_ Entwicklung des Lebens
+nicht: wozu _lebendige Seele_! Die lebendige Seele verlangt Leben, die
+lebendige Seele gehorcht nicht der Mechanik, die lebendige Seele ist
+mißtrauisch, die lebendige Seele ist konservativ. Hier aber, wenn's auch
+nach Aas riecht -- aus Kautschuk kann man's schon machen.«
+
+Der unerbittliche Aristokratismus, den Raskolnikoff zur Grundlage seiner
+Theorie gemacht hat -- die Einteilung der Menschen in Herde und Helden,
+in tatloses »Material«, in Sache, und in schöpferische Genies, die wie
+Bildhauer aus diesem Material eine neue Form meißeln, ein neues
+Angesicht der Geschichte -- ist vielleicht eine zu einseitige
+Auffassung, sie ist vielleicht zu übertrieben und darum ertötend,
+jedenfalls aber nicht tot, ist außerhalb des Lebens, aber darum nicht
+etwa leblos. Wenn diese Lehre auch der »Mechanik« ähnelt, so ist sie
+doch immerhin nicht »aus Kautschuk« gemacht, sondern aus dem härtesten
+Stahl und, wie eben eine schneidende Klinge, tötet sie wohl, aber sie
+prüft, erprobt, sie durchbohrt das lebendige Fleisch, den lebendigen
+Geist der Geschichte. Es geht schwer an, einen solchen Beobachter der
+menschlichen Natur, wie Machiavelli, zu verdächtigen, daß er die »Natur
+überspringe, die Geschichte, die lebendige Entwicklung des Lebens nicht
+liebe«. Der Sekretär der Republik Florenz am Hofe Cesare Borgias befand
+sich im Mittelpunkt dieser »lebendigen Entwicklung«, im Strudel der
+größten historischen Ereignisse, im Herzen der Renaissance. Machiavelli
+spricht nur davon, was er tatsächlich von diesem im grenzenlosen Leben
+und unbegrenzten Leidenschaften schlagenden Herzen erlauscht hat, nur
+davon, was er der »Natur« insgeheim abgesehen, dieser Natur, die sich
+gerade damals in ihrer furchtbaren Nacktheit nicht nur in den Schöpfern,
+sondern auch in den Kritikern der Geschichte offenbarte. Und jedenfalls
+kann man von dieser verführerischen Schimäre nicht sagen, daß es von ihr
+wie »Aasgeruch« herüberwehe, eher aber schon »wie von frischvergossenem
+Blute«, und wohl aus nichts weniger als »Kautschuk« dürfte sie gemacht
+sein. Aus dem Leben ist sie hervorgegangen und ins Leben hineingegangen
+-- und wenn auch wiederum wie schneidender Stahl. Indessen liegt der
+sittlichen wie auch politischen Lehre Machiavellis vielleicht derselbe
+oder gar ein noch schonungsloserer Aristokratismus zugrunde, als bei
+Raskolnikoff. Ist es bei ihm nicht dieselbe Einteilung der Menschen in
+»Material«, »Pöbel«, »ekelhaftes Gewürm« (wie Nietzsche es nennt) -- in
+_vulgus_, das durch das Naturgesetz zum Gehorchen bestimmt ist, -- und
+in Gebieter, in Herrscher, in Pfleglinge des Halbtiers, des Halbgotts,
+des Zentauren Chiron, die gleich ihrem Lehrer die übermenschliche,
+göttliche Natur mit der des »Tieres«, der _bestia_ in sich vereinen
+müssen? -- ist es nicht dieselbe »Entbindung von der Blutschuld auf ihr
+Gewissen«, die Erlaubnis, den »Wohltätern, den Ordnern der Menschheit«
+gegeben, Blut zu vergießen? -- ist nicht die vermeintlich unvermeidliche
+Vereinung von »Tugend« (_virtù_) und »Grausamkeit« (_ferocità_) in
+ihnen? Nicht umsonst hat Nietzsche, der seine Einsamkeit in der
+Weltliteratur fast krankhaft empfand und ihr solchen Wert beilegte,
+Nietzsche, der so anspruchsvoll war im Anerkennen von Verwandten oder
+Bundesgenossen, nicht umsonst hat er unter seinen wenigen Vorgängern
+Machiavelli und Dostojewski (»diesen tiefen Menschen, den einzigen
+Psychologen, bei dem ich etwas zu lernen hatte«) nebeneinandergestellt
+-- letzteren natürlich nicht als bewußtes Dogma, sondern nur für die
+künstlerische Darstellung solcher Helden des persönlichen Prinzips, wie
+Iwan Karamasoff und Rodion Raskolnikoff. Nietzsche ist ja gleichfalls --
+und das wissen wir bereits aus der Erfahrung unseres eigenen Herzens und
+Verstandes -- aus dem Leben hervorgegangen und so geht er auch wieder in
+das Leben hinein. Was nun auch der Wert seiner Lehre sei, jedenfalls
+sehen wir nur zu gut, daß man mit ihm nicht wie mit einer toten
+Abstraktion, sondern wie mit einer tief lebendigen historischen Kraft,
+gleichviel ob mit einer positiven oder negativen, in jedem Fall aber
+lebendigen Erscheinung der »lebendigen Entwicklung« rechnen muß.
+
+Machiavellis »Principe«, Raskolnikoffs »Herrscher«, Nietzsches
+»Übermensch« -- das sind wieder die emporführenden Stufen, die Stufen
+eines besonderen, nicht ins Vergangene, sondern ins Zukünftige
+gerichteten, zerstörend schöpferischen, zügellos aufrührerischen
+Aristokratismus, der aufrührerischer als jegliche Demokratie ist, --
+eines Aristokratismus, der in der Politik wie in der Sittlichkeit allen
+Wiedergeburten, die sich bis jetzt vollzogen haben, eigen ist.
+
+Wenn nun Raskolnikoff auch tatsächlich von der »Anschauung der
+Sozialisten« ausgegangen ist, so ist er doch zu einem Schluß gekommen,
+der ihrer Auffassung am entgegengesetztesten ist: Ungleichheit als
+unwandelbares, in jeder menschlichen Gesellschaft verwirklichtes
+»Naturgesetz«. Und diese Ungleichheit in ihrer Natur glättet sich nicht
+etwa aus, im Gegenteil, sie vertieft sich noch proportional der
+universalgeschichtlichen Entwicklung: die Menschheit hat sich gleichsam
+in zwei Hälften zerspalten und schon gibt es keine Vereinigung für sie,
+kein Zusammenwachsen mehr. »Der Mensch ist dem Menschen ein -- Tier« --
+oder Gott, in jedem Falle aber nicht Bruder, nicht Nächster, nicht
+Gleicher ... nach dem furchtbaren Worte Nietzsches, daß zwischen dem
+Menschen und dem Menschen eine größere Entfernung liegt, als zwischen
+Mensch und Tier.
+
+Zu gleicher Zeit ersieht man daraus, wie die Idee der Anarchie in ihren
+extremsten Folgeschlüssen sich unvermeidlich der Idee der Monarchie
+nähert und sogar unmittelbar mit ihr in eins zusammenfließt: die letzte
+Freiheit »jenseits von Gut und Böse«, die letzte Herrschaftslosigkeit
+führt zur Einherrschaft, zur Selbstherrschaft des Genies -- zum Gebot
+Platons: »es möge das Genie herrschen«.
+
+Übrigens macht Raskolnikoff in der ersten theoretischen Darlegung seiner
+Gedanken dem Sozialismus eine Konzession; er sagte »Diese (die Menschen
+der Masse) erhalten die Welt und vermehren sich; jene (die Helden)
+bewegen die Welt und führen sie ihrem Ziele zu. Diese wie jene haben
+also _vollständig dasselbe Recht zur Existenz_. Mit einem Wort, in
+meinen Augen haben _alle das gleiche Recht_, und -- _vive la guerre
+éternelle_{[1]} ... bis zum neuen Jerusalem, versteht sich!«
+
+»So glauben Sie immerhin doch an ein neues Jerusalem?« fragt Porphyri
+Petrowitsch.
+
+»Ja, ich glaube daran.«
+
+Hätte diese Konzession für seine ganze Lehre in der Tat die Bedeutung,
+die er selbst annimmt, so müßte die Teilung der Menschen in erhaltende,
+fortsetzende, und in die Welt bewegende, nicht die Vorstellung von
+Höheren und Niedrigeren, von Verächtlichen und Edlen hervorrufen. Beide
+Teile würden dann auf gleicher Stufe stehen. Dann hätte sich
+Raskolnikoff in diesen »Geringen hienieden« ein zwar anderer, aber doch
+nicht geringerer Adel offenbart, als in den Großen -- ein anderer, aber
+nicht geringerer Wert. Die Vorstellung von der »zitternden Kreatur«
+(Nietzsches »ekelhaftem Gewürm«), vom Pöbel, würde durch die Vorstellung
+des Volkes oder der »universalen Vereinigung der Menschen« ersetzt
+werden. Beide Fähigkeiten -- wie die Erhaltung des Gleichgewichts, so
+auch die Bewegung nach vorn, das Fleisch und der Geist der Menschheit --
+wären in seinen Augen in gleichem Maße heilig. Nicht Masse, wohl aber
+echtes Volk zu sein, würde ihm nicht verächtlicher und nicht rühmlicher
+erscheinen, als Held zu sein. Und so könnte man noch viele andere
+frappierende, von ihm sicherlich nicht erwartete Folgerungen aus dieser
+einen Konzession ziehen, die er ja doch nicht nur dem Sozialismus,
+sondern auch der Lehre Christi macht. Z. B.: würde sich daraus nicht
+ergeben, daß es folglich zwei Tafeln sittlicher Werte gibt, zwei
+Gewissen, zwei Wahrheiten, die tatsächlich »gleichstark«,
+»gleichberechtigt« sind? Hätte er dann nicht auch an den letzten Grenzen
+dieser Zerspaltung die Möglichkeit der _Vereinigung_ erblickt, -- hätte
+sich dann nicht auch der Vorhang vor dem wirklich »neuen«, längst nicht
+mehr sozialistischen »Jerusalem« vor ihm erhoben?
+
+Aber das ist es ja: Raskolnikoff erkennt das »gleiche Recht beider
+Hälften auf Existenz« nur mit dem Verstande an. Sein Herz verneint
+dieses Recht mit einer Kraft, wie es bis jetzt noch niemals jemand
+verneint hat, und er setzt zwischen ihnen eine größere Entfernung
+voraus, als der alte Grieche zwischen dem Sklaven und dem Freien, als
+der Inder zwischen Tschandala und Brahmane. Ja es scheint, daß es
+überhaupt keine größere Entfernung, keine größere Kluft in der Welt
+gibt, als es diese ist, die Raskolnikoff zwischen den zwei
+Menschenklassen annimmt. Er kann keine genügend grausamen, hochmütigen,
+zynischen Worte finden, um seine ganze Verachtung für die Nichthelden
+auszudrücken. -- »Oh, wie verstehe ich den Propheten zu Pferde und mit
+dem Schwert in der Hand: wenn Allah befiehlt, so hast du zu gehorchen,
+zitternde Kreatur! Recht, wahrlich Recht hat der >Prophet<, wenn er
+irgendwo mitten auf der Straße eine _gu--ute_ Batterie aufstellt und auf
+Gerechte und Ungerechte feuern läßt, ohne sie auch nur eines Wortes der
+Erklärung zu würdigen! Gehorche, zitternde Kreatur, und -- _laß dich
+nicht gelüsten_, denn -- das kommt dir nicht zu!!!« -- Von welch einem
+Rechte der Masse auf Existenz kann danach noch die Rede sein? Es sei
+denn -- von dem Recht auf ewiges Zittern, ewiges Nichtsein vor dem
+»Propheten«. Gibt es doch für Raskolnikoff kein größeres Entsetzen und
+keinen größeren Ekel, als sich als Menschen, wie alle, zu fühlen. Er hat
+ja auch nur deshalb den Mord begangen, um den Strich, der den Helden von
+dem Nichthelden scheidet, zu überschreiten, um sich selbst zu beweisen,
+daß er ein -- Mensch ist und nicht ein Ungeziefer, nicht eine »Laus«. --
+»Ich mußte damals unbedingt erfahren, ich mußte mich sobald als möglich
+überzeugen, _ob ich ein Ungeziefer bin, wie alle, oder ein Mensch_? ...
+Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder _habe ich das Recht_?« -- »Da
+hasten sie alle hin und her durch die Straßen und ist doch ein jeder von
+ihnen ein Schuft und Spitzbube allein schon seiner Natur gemäß, sogar
+schlimmer als das -- ein Idiot! ... O, wie ich sie alle hasse!« In
+seinem Herzen ist kein Körnchen von jener Liebe und Achtung vorhanden,
+ja nicht einmal von jener Gerechtigkeit zu den »Fortsetzern«, den
+»Erhaltern« der Menschheit, die er mit dem Verstande anerkennt.
+Augenscheinlich besteht hier zwischen dem Lebensgefühl und dem
+abstrakten Gedanken Raskolnikoffs irgendein klaffender Widerspruch.
+
+Die zweite Konzession, die er dem Sozialismus macht, ist die Anerkennung
+des »Wohles der Menschheit« als höchstes bewußtes Ziel der Helden. Die
+Helden sind, wie er sagt, »Ordner und Wohltäter der Menschheit«. Sie
+übertreten das Gebot nicht nur _aus dem Grunde_, weil ihre Natur derart
+beschaffen ist, sondern auch _zu dem Zweck_, nur das höhere Gebot zu
+erfüllen. Sie zerstören das Bestehende im Namen eines besseren
+Zukünftigen, im Namen des »neuen Jerusalem«. Sie opfern wenige für das
+Glück vieler, die Minderheit der Mehrheit. Ihre Verbrechen sind nicht
+nur natürlich, sondern auch vernünftig, denn verderblich sind sie nur
+für einzelne, vorteilhaft aber für Millionen, und somit können sie sogar
+durch die mathematische Berechnung gerechtfertigt werden: »läßt sich
+denn nicht ein einziges kleines Verbrechen durch Tausende von guten
+Taten wieder gut machen? Für ein Leben tausend Leben. Ein Tod und zum
+Ersatz dafür hundert Leben -- das ist doch Arithmetik!«
+
+Aber auch der zweiten Konzession kann man keine größere Bedeutung
+beilegen als der ersten; übrigens sieht er das zum Schluß auch selbst
+ein und zerreißt dann endgültig die letzte Verbindung mit der
+»Anschauung der Sozialisten«: -- »Weswegen schimpfte doch Rasumichin
+vorhin über die Sozialisten? Das sind doch arbeitsame, handeltreibende
+Leutchen, bemühen sich um das >allgemeine Glück< ... Nein, mir wird das
+Leben nur einmal gegeben, und niemals werde ich es wieder haben! -- Ich
+will nicht das >allgemeine Glück< abwarten. _Ich will auch selbst leben_
+-- oder sonst lieber überhaupt kein Leben! Nun was? Ich wollte nur nicht
+an einer hungrigen Mutter vorübergehen und, in der Erwartung des
+>allgemeinen Glücks<, in der Tasche meinen Rubel festhalten.« -- »Ich
+bringe, wie man sagt, >einen Stein zum Bau des allgemeinen Glücks und so
+kann mein Herz ruhig sein<. Haha! Warum habt ihr mich denn
+durchgelassen? Ich lebe doch im ganzen nur einmal, ich will doch auch
+...« Und er lacht, -- »zähneknirschend« -- über die mathematische
+Berechnung des Vorteils, des menschlichen Wohles: »Unternehme es,
+sozusagen, nicht im Interesse meines eigenen Fleisches, und der eigenen
+Lust, sondern habe ein ungeheures, erhabenes Ziel im Auge, -- haha! ...
+Beschloß jede nur mögliche Gerechtigkeit zu beobachten, Maß und Gewicht,
+und Arithmetik. Von allen Läusen wählte ich die allerüberflüssigste aus,
+und indem ich sie tötete, beschloß ich, genau nur soviel zu nehmen,
+wieviel ich für den ersten Schritt brauchte, nicht mehr und nicht
+weniger (und das übrige wäre dann nach dem Testament sowieso einem
+Kloster zugefallen, -- haha! ...). O Erbärmlichkeit! ... O Gemeinheit!
+...« Und bereits kurz vor der »Beichte« gesteht er Ssonja Marmeladoff:
+»Die ganze Qual dieser _Schwätzerei_ habe ich ertragen, Ssonja, und da
+wollte ich sie denn endlich von den Schultern wälzen: ich wollte ohne
+Kasuistik erschlagen, versteh mich recht, Ssonja, _für mich wollte ich
+erschlagen, für mich allein_! Darin wollte ich niemanden belügen, selbst
+mich nicht! Nicht um meiner Mutter helfen zu können, habe ich erschlagen
+-- Unsinn! Ich habe auch nicht erschlagen, um nach der Erlangung von
+Mitteln und Macht ein Wohltäter der Menschheit zu werden -- Unsinn! Ich
+habe einfach erschlagen, _für mich selbst habe ich erschlagen, nur für
+mich allein_!« ...
+
+Hier geht in der Seele Raskolnikoffs etwas Furchtbares und Rätselhaftes
+vor sich. Man sollte meinen, wenn er für andere, zum Wohle der Menschen
+erschlagen hätte, dann wäre eine Rechtfertigung noch möglich: zwar ist
+es, würde man sagen, ein schlechtes Mittel, aber dafür hat er ein edles
+Ziel gehabt. Hat er es aber »für sich allein« getan, »für sein eigen
+Fleisch und zur eigenen Lust«, dann gibt es hierfür keine Rechtfertigung
+mehr, dann ist er ein gewöhnlicher Dieb und Mörder, ein einfacher
+Missetäter, ein »Verbrecher außerhalb des Gesetzes«. Indessen ahnt
+Raskolnikoff dunkel, daß es in diesem Falle doch nicht so ist: ja, er
+hat für sich erschlagen, _für sich allein_, aber doch nicht für sein
+Fleisch und seine Lust allein, sondern noch für etwas Höheres in sich,
+für etwas Unzweifelhafteres und zu gleicher Zeit Uneigennützigeres,
+_Ferneres_, als das Wohl des Nächsten, als das »allgemeine Glück«.
+Natürlich ist auch »Egoismus« dabei, aber dieser Egoismus ist wiederum
+von einer besonderen Art. Das Verbrechen wird vielleicht noch
+furchtbarer, jedenfalls aber nicht einfacher, nicht roher, -- im
+Gegenteil, hier erst beginnt seine Kompliziertheit, Verfeinerung und das
+Verführerische an ihm. Raskolnikoffs von Qual und Leidenschaft
+geschärfter Blick sieht bereits die ganze hoffnungslose Flachheit und
+Erbärmlichkeit der sozialistischen »handelsmäßigen« Abwägungen,
+Abmessungen des allgemeinen Nutzens. In diesem »für sich, für sich
+allein« aber dämmert es weit, weit wie eine Ahnung von irgendeiner
+unbekannten Tiefe der Berührung mit der Ordnung unermeßlich höherer,
+allerschwerster, edelster Werte, als es alle sozialistischen Vorteile
+und der ganze allgemeine Nutzen sind; er ist sich dessen noch nicht
+bewußt, aber dunkel fühlt er schon, daß hierin -- wenn auch nicht die
+Rechtfertigung, so doch immerhin irgendeine letzte Wahrheit ist, die
+Befreiung, Reinigung von der ganzen »Kasuistik«, dem »Geschwätz und der
+Lüge« vom neuen sozialistischen »Jerusalem«. Das also ist der Grund,
+warum er sich mit einer so verzweifelten Hartnäckigkeit und Anspannung
+aller Kräfte an dieses »für mich, für mich allein« klammert, als wolle
+er seine Gedanken zu Ende führen, und dennoch, als könne, als wage er es
+nicht. Hier ist alles noch -- gar zu dunkel, gar zu tief; grauenvoll ist
+es für ihn, -- gerade durch die unerwartet sich aufdeckende Tiefe ist es
+furchtbar. Vielleicht ist hier selbst die Rechtfertigung furchtbarer als
+jede Verurteilung. Die lecke Barke des Sozialismus begann unter ihm zu
+sinken, und da sieht er, wie ein Ertrinkender, als einzigen festen
+Punkt, als einzigen unerschütterlichen Fels in den Wellen -- dieses »für
+mich allein«, aber noch weiß er nicht, ob er an jenem nackten scharfen
+Felsen endgültig zerschellen oder ob er sich auf ihn retten wird. Rodion
+Raskolnikoff erfährt denn auch nicht, begreift noch nicht, daß er sich
+nicht anders retten kann, als wenn er die Rechtfertigung durch die Liebe
+zu sich selbst nicht nur zu einer sozialen, moralischen, philosophischen
+Rechtfertigung macht, sondern auch zu einer _religiösen_.
+
+ _Dmitri Mereschkowski._
+
+
+
+
+ Vorbemerkung
+
+
+»Rodion Raskolnikoff« ist als das erste der fünf großen Roman-Epen, die
+Dostojewski geschrieben hat, im Jahre 1866 vollendet worden. Das Werk
+hat im Russischen einen Titel, dessen Übertragung sich der Begriffswelt
+»Schuld und Sühne« nähert. Dieser Titel ist von Dostojewski aus
+nachweisbar ein Nottitel. Die Lösung des Problemes, die der Titel
+andeutet, bringt das Werk gar nicht. Der geplante zweite Teil, auf den
+sich der Titel bereits bezieht, ist nie geschrieben worden. Daher ist
+das Werk hier mit demjenigen Namen genannt, den sein Inhalt verlangt und
+an den sich das allgemeine und natürliche Empfinden längst gewöhnt hat:
+mit dem Namen seines Helden, in dem die Gestalt des jungen russischen
+Studenten und Ideologen ein für allemal Typ und beinahe Symbol geworden
+ist.
+
+ E. K. R.
+
+
+
+
+ Erster Teil
+
+
+ I.
+
+Anfangs Juli, es war eine außerordentlich heiße Zeit, trat ein junger
+Mann gegen Abend aus seiner Kammer, die er in einem Hause der S.schen
+Gasse bewohnte, auf die Straße hinaus und ging langsam, wie
+unentschlossen, in der Richtung auf die K.sche Brücke.
+
+Er hatte glücklich eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe
+vermieden. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dache des hohen
+fünfstöckigen Hauses und glich eher einem Schrank, als einer Wohnung.
+Seine Wirtin aber, von der er diese Kammer mit Mittagessen und Bedienung
+gemietet hatte, wohnte eine Treppe tiefer in einer separaten Wohnung und
+jedesmal, wenn er auf die Straße hinausging, mußte er unbedingt an der
+Küche der Wirtin vorbeigehen, deren Tür fast immer sperrweit offen
+stand. Und jedesmal fühlte der junge Mann beim Vorbeigehen eine
+krankhafte und feige Empfindung, deren er sich schämte und bei der er
+das Gesicht verzog. Er war bei der Wirtin stark verschuldet und
+fürchtete sich, ihr zu begegnen.
+
+Nicht weil er so feige und scheu war, ganz im Gegenteil, aber seit
+einiger Zeit war er in einem gereizten und überanstrengten Zustand, der
+der Hypochondrie ähnelte. Er hatte sich so ganz und gar in sich selbst
+vertieft und hatte sich so vollständig von allen abgeschlossen, daß er
+sich sogar vor der gleichgültigsten Begegnung fürchtete, nicht bloß vor
+der mit der Wirtin. Er war von Armut erdrückt; aber selbst diese
+bedrängte Lage hatte in der letzten Zeit aufgehört auf ihm zu lasten. Er
+hatte es ganz und gar aufgegeben, mit seiner Tagesarbeit sich zu
+befassen, und hatte auch keine Lust dazu. Im Grunde genommen fürchtete
+er sich freilich nicht vor tausend Wirtinnen, was die auch gegen ihn im
+Schilde führen mochten. Aber auf der Treppe stehenbleiben, jeden Unsinn
+über alltäglichen Kram, der ihn gar nicht interessierte, anhören, all
+diese ewigen Mahnungen, seine Schulden zu bezahlen, die Drohungen, die
+Klagen anhören und sich dann den Kopf nach Ausreden zerquälen, sich
+entschuldigen und lügen zu müssen, -- nein, da war es schon besser, wie
+eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und sich davonzumachen, ohne
+von irgendeinem Menschen sich sehen zu lassen.
+
+Übrigens, dieses Mal setzte die Furcht vor einer Begegnung mit seiner
+Gläubigerin ihn selbst in Erstaunen, als er auf die Straße hinaustrat.
+
+»Solch eine Sache will ich wagen ... und fürchte mich vor solchen
+Kleinigkeiten!« dachte er über sich lächelnd. -- »Hm ... ja ... alles
+liegt in den Händen eines Menschen und er läßt alles vorbeigehen, einzig
+und allein aus Feigheit ... das ist ein Axiom ... Ich möchte wissen, was
+die Menschen am meisten fürchten? Sie fürchten sich am meisten vor einem
+neuen Schritt, vor einem neuen, eigenen Worte ... Ich schwatze übrigens
+viel zu viel. Darum handle ich nicht, weil ich schwatze. Vielleicht ist
+es aber auch so: ich schwatze darum, weil ich nicht handle. Und das
+Schwatzen habe ich in diesem letzten Monat gelernt, indem ich ganze Tage
+und Nächte in der Ecke lag und ... unnütz träumte. Warum gehe ich jetzt
+fort? Bin ich denn dazu fähig? Soll _es_ denn Ernst werden? Natürlich
+nicht. Bloß des Einfalls wegen spiegle ich mir selbst was vor.
+Spielerei! Ja, natürlich ist es Spielerei.«
+
+Die Hitze auf der Straße war beängstigend; dazu die schwüle Luft, das
+Gedränge, überall lagen Kalk, Ziegelsteine, standen Baugerüste, überall
+war Staub und jener besondere Sommergestank, der jedem Petersburger
+wohlbekannt ist, der nicht ein Landhäuschen mieten kann, -- dies alles
+erschütterte die ohnedies schon angegriffenen Nerven des jungen Mannes
+auf das unangenehmste. Der unerträgliche Geruch aus den Schenken, die in
+diesem Stadtteile besonders zahlreich sind, und der Anblick Betrunkener,
+denen man alle Augenblicke begegnete, -- trotz des Werktages, --
+vollendeten die widerwärtige und traurige Stimmung des Bildes. Ein
+Ausdruck des tiefsten Abscheus huschte einen Augenblick über die feinen
+Züge des jungen Mannes. Beiläufig gesagt, er war außergewöhnlich hübsch,
+hatte schöne dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war fein und schlank und
+von mehr als mittlerem guten Wuchse. Bald aber versank er in sein tiefes
+Sinnen, oder richtiger gesagt, in Selbstvergessenheit, und ging weiter,
+ohne seine Umgebung zu beachten, ohne den Wunsch, sie zu bemerken. Hin
+und wieder murmelte er etwas vor sich hin, nach seiner Gewohnheit
+Selbstgespräche zu halten, wie er es soeben sich selbst eingestanden
+hatte. Dabei wurde er es sich bewußt, daß seine Gedanken sich zuweilen
+verwirrten und daß er sehr schwach war -- es war ja der zweite Tag, daß
+er fast nichts gegessen hatte.
+
+Er war so schlecht angezogen, daß mancher, auch der es gewöhnt war, sich
+geschämt hätte, in solchen Lumpen am Tage auf die Straße zu gehen.
+Freilich war dieses Viertel derart, daß man hier schwerlich jemand durch
+seine Kleidung in Erstaunen setzen konnte. Die Nähe des Heumarktes, die
+Überzahl gewisser Häuser und die Bevölkerung, die ausschließlich aus
+Handarbeitern besteht und in diesen Straßen und Gassen zusammengepfercht
+haust, belebten genugsam das allgemeine Bild mit solchen Gestalten, daß
+es sonderbar gewesen wäre, wenn eine solche Figur aufgefallen wäre. Und
+in der Seele des jungen Mannes hatte sich soviel böse Verachtung
+angesammelt, daß er trotz seines zuweilen sehr jugendlichen
+Selbstgefühls sich fast nicht mehr seiner Lumpen schämte. Anders
+freilich war es, wenn er zufällig Bekannten oder früheren Kameraden
+begegnete, denen er naturgemäß gern aus dem Wege ging. Indessen, als ein
+Betrunkener, den man von ungefähr in diesem Augenblicke in einem großen
+Wagen, mit einem großen Lastpferd davor, durch die Straße fuhr,
+plötzlich im Vorbeifahren ihm zurief: »He, du da mit dem deutschen
+Hute!« -- und mit der Hand auf ihn wies, -- blieb der junge Mann stehen
+und faßte krampfhaft nach seinem Hute. Der Hut war hoch und rund, in
+einem guten Laden gekauft, aber völlig abgetragen und verschossen,
+voller Löcher und Flecken, ohne Rand und auf der einen Seite häßlich
+eingedrückt. Nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, das eher
+Schrecken war, hatte ihn erfaßt.
+
+»Ich wußte es!« murmelte er verlegen. »Ich dachte es mir! Das ist das
+allerschlimmste! So eine Dummheit, irgendeine sinnlose Kleinigkeit kann
+das ganze Vorhaben vernichten! Ja, der Hut fällt zu sehr auf ... Er ist
+lächerlich, darum fällt er auf ... Zu meinen Lumpen brauche ich
+unbedingt eine Mütze und wenn es auch eine alte Kappe ist, aber nicht
+dies Ungetüm. Niemand trägt solch einen Hut, von ferne schon sieht man
+ihn, kann sich ihn merken ... und die Hauptsache, man wird ihn sich für
+später merken, und ein Indizium ist da. Unauffällig muß man sein ... Die
+Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten sind die Hauptsache! ... Diese
+Kleinigkeiten verderben stets alles ...«
+
+Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von
+seiner Haustür waren -- genau, siebenhundertunddreißig. Er hatte sie
+einmal gezählt, als er stark ins Träumen gekommen war. Damals glaubte er
+diesen Träumen selbst noch nicht, und sie reizten ihn bloß durch ihre
+abscheuliche, aber verführerische Verwegenheit. Jetzt, nach einem Monat,
+schaute er es anders an und hatte sich unwillkürlich daran gewöhnt, den
+»abscheulichen« Traum -- ungeachtet aller stets wachen Selbstvorwürfe
+über seine eigene Kraftlosigkeit und Unentschlossenheit, -- als ein
+Vorhaben anzusehen, obwohl er sich immer noch nicht recht traute. Jetzt
+ging er _eine Probe_ seines Vorhabens zu machen, und mit jedem Schritt
+wuchs stärker und stärker seine Aufregung.
+
+Mit erstarrendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich einem
+riesigen Hause, das mit der einen Seite auf den Kanal hinausging, mit
+der anderen an der R.schen Straße lag. Dieses Haus hatte lauter kleine
+Wohnungen und war von allerhand Handarbeitern bewohnt, -- von
+Schneidern, Schlossern, Köchinnen, von Deutschen, von Mädchen, die ihre
+eigene Wohnung besaßen, kleinen Beamten und dergleichen. Durch die
+beiden Tore und die beiden Höfe des Hauses huschten in einem fort aus-
+und eingehende Menschen. Hier waren drei oder vier Hausknechte
+angestellt. Der junge Mann war sehr zufrieden, als er keinem von ihnen
+begegnete, und schlüpfte unbemerkt rechts vom Tore die Treppe hinauf.
+Die Treppe war dunkel und schmal, -- es war eine Hintertreppe, -- er
+kannte das alles schon, hatte es genau studiert, und die ganze Umgebung
+gefiel ihm; in solcher Dunkelheit ist ein neugieriger Blick
+ungefährlich.
+
+»Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie wird es dann sein, wenn ich
+wirklich an _die Tat_ selbst gehe?« dachte er unwillkürlich, während er
+zum vierten Stockwerk hinaufstieg. Hier versperrten ihm Packträger,
+verabschiedete Soldaten, die aus einer Wohnung Möbel hinaustrugen, den
+Weg. Er wußte von früher, daß in dieser Wohnung ein Deutscher, ein
+Beamter, mit seiner Familie lebte.
+
+»Dieser Deutsche zieht jetzt also aus, also bleibt im vierten Stock für
+einige Zeit nur die Wohnung der Alten bewohnt. Das ist gut ... auf jeden
+Fall ...« dachte er und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke
+schlug schwach an, als wäre sie aus Blech. In solchen kleinen Wohnungen
+findet man immer solche Glocken. Er hatte den Ton dieser Glocke
+vergessen, und jetzt schien ihn dieser eigenartige Klang plötzlich an
+etwas zu erinnern und eine klare Vorstellung von etwas zu geben ... Er
+zuckte zusammen, seine Nerven waren sehr herunter. Kurz darauf öffnete
+sich die Türe zu einem winzigen Spalt -- die Bewohnerin blickte hindurch
+mit sichtbarem Mißtrauen, und man sah bloß ihre kleinen, dunkel
+leuchtenden Augen. Als sie aber auf dem Flure viele Menschen erblickte,
+faßte sie sich ein Herz und öffnete die Tür ganz. Der junge Mann trat
+über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Wand in zwei
+Teile geteilt war, dahinter befand sich eine kleine Küche. Die Alte
+stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war eine kleine
+vertrocknete alte Frau, etwa sechzig Jahre alt, mit stechenden und
+bösen, kleinen Augen, einer kleinen, spitzen Nase und ohne
+Kopfbedeckung. Ihr hellblondes, leicht ergrautes Haar war mit Öl
+eingefettet. Um den dünnen und langen Hals, der dem Beine eines Huhnes
+glich, war ein Flanellappen gewickelt und über die Schultern hing, trotz
+der Hitze, eine abgetragene und gelbgewordene Pelzjacke. Die Alte
+hustete und räusperte sich fortwährend. Wahrscheinlich hatte der junge
+Mann ihr einen sonderbaren Blick zugeworfen, denn plötzlich tauchte in
+ihren Augen wieder das frühere Mißtrauen auf.
+
+»Ich heiße Raskolnikoff, bin Student, war bei Ihnen vor einem Monat,«
+beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen, sich
+erinnernd, daß man hier freundlich sein müsse.
+
+»Ich erinnere mich, Väterchen, ich erinnere mich gut, daß Sie da waren,«
+sagte die Alte, ohne ihre fragenden Augen von seinem Gesichte
+abzuwenden.
+
+»Also ... ich komme wieder in einer ähnlichen Angelegenheit ...« fuhr
+Raskolnikoff fort, ein wenig verwirrt und erstaunt über das Mißtrauen
+der Alten.
+
+»Vielleicht ist sie immer so, ich habe es damals bloß nicht gemerkt,«
+dachte er mit unangenehmer Empfindung.
+
+Die Alte schwieg eine Weile, wie in Gedanken vertieft, trat dann zur
+Seite, zeigte auf die Tür zu der Stube und sagte, indem sie den Besucher
+vorbei ließ:
+
+»Treten Sie näher, Väterchen!«
+
+Das kleine Zimmer, in das der junge Mann eintrat, hatte eine gelbe
+Tapete, Geranien standen dort und die Fenster umrahmten
+Mousselingardinen. In diesem Augenblick wurde es von der untergehenden
+Sonne hell erleuchtet.
+
+»Die Sonne wird auch _dann_ ebenso leuchten! ...« durchfuhr es plötzlich
+Raskolnikoff, und mit einem schnellen Blick überflog er alles in dem
+Zimmer, um nach Möglichkeit die Lage zu studieren und sie sich zu
+merken. In dem Zimmer aber gab es nichts Besonderes. Die Möbel aus
+gelbem Holze, alle sehr alt, bestanden aus einem Sofa mit
+ungeheuerlicher, gebogener hölzerner Rückenlehne, einem runden Tisch vor
+dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem kleinen Spiegel an der Wand
+zwischen den Fenstern, aus Stühlen an den Wänden und einigen billigen
+Bildern in gelben Rahmen, die deutsche Damen mit Vögeln in den Händen
+darstellten, -- das war die ganze Ausstattung. In der Ecke brannte vor
+einem kleinen Heiligenbilde ein Lämpchen. Alles war sehr sauber, -- die
+Möbel und die Diele waren blank poliert; alles glänzte. »Das ist
+Lisawetas Arbeit,« dachte der junge Mann. Kein Stäubchen konnte man in
+der ganzen Wohnung finden. »Bei bösen und alten Witwen findet man so
+eine Sauberkeit,« dachte Raskolnikoff weiter und warf einen neugierigen
+Seitenblick auf den Vorhang aus Kattun vor der Tür zu dem zweiten
+kleinen Zimmer, in dem das Bett und die Kommode der Alten standen,
+dahinein hatte er noch nicht geschaut. Die ganze Wohnung bestand aus
+diesen zwei Zimmern.
+
+»Was wünschen Sie?« fragte die kleine Alte scharf, als sie ihm in das
+Zimmer gefolgt war, und stellte sich wieder gerade vor ihm hin, um ihm
+ins Gesicht sehen zu können.
+
+»Ich habe etwas zu verpfänden,« und er zog eine alte, flache, silberne
+Uhr aus der Tasche. Auf der Rückseite war ein Globus eingraviert. Die
+Kette war aus Stahl.
+
+»Die Frist für das früher Versetzte ist schon um. Vorgestern ist der
+Monat abgelaufen.«
+
+»Ich will Ihnen die Zinsen noch für einen Monat bezahlen; warten Sie
+noch ein wenig.«
+
+»Das ist mein guter Wille, Väterchen, zu warten oder Ihr Ding sofort zu
+verkaufen.«
+
+»Wieviel geben Sie für die Uhr, Aljona Iwanowna?«
+
+»Immer kommen Sie mit Kleinigkeiten, Väterchen, sie ist ja fast nichts
+wert. Für den Ring habe ich Ihnen voriges Mal zwei Rubel gegeben, und
+man kann ihn bei jedem Juwelier neu für anderthalb Rubel kaufen.«
+
+»Geben Sie mir für die Uhr vier Rubel, ich werde sie einlösen. Sie hat
+meinem Vater gehört. Ich erhalte bald Geld.«
+
+»Ich will Ihnen anderthalb Rubel dafür geben und die Zinsen abziehen,
+wenn Sie damit einverstanden sind.«
+
+»Anderthalb Rubel!« rief der junge Mann aus.
+
+»Wie Sie wünschen.«
+
+Und die Alte reichte ihm die Uhr. Der junge Mann nahm sie; er war so
+böse, daß er schon fortlaufen wollte, aber er besann sich, daß er sonst
+nirgends hingeben konnte, und daß er noch aus einem anderen Grunde
+gekommen war.
+
+»Geben Sie das Geld!« sagte er grob.
+
+Die Alte fuhr in die Tasche nach den Schlüsseln und ging hinter den
+Vorhang in das andere Zimmer. Als der junge Mann allein zurückblieb,
+lauschte er voll Neugier und überlegte. Man hörte, wie die Alte die
+Kommode aufschloß. »Wahrscheinlich ist es die obere Schublade,« dachte
+er. »Die Schlüssel trägt sie in der rechten Tasche ... Alle sind sie an
+einem Stahlring ... Und da ist ein Schlüssel, größer als die anderen,
+dreimal so groß, mit zackigem Barte; er ist selbstverständlich nicht von
+der Kommode ... Also, muß es noch eine Schatulle geben oder eine kleine
+Truhe ... Das ist zu beachten. Truhen haben immer solche Schlüssel ...
+Aber, wie gemein ist dies alles ...« Da kam die Alte zurück.
+
+»Hier haben Sie das Geld, Väterchen. Den Zins zu zehn Kopeken pro Rubel
+und Monat gerechnet, bekomme ich von Ihnen für anderthalb Rubel und für
+einen Monat im voraus fünfzehn Kopeken. Außerdem erhalte ich von Ihnen
+für die zwei früheren Rubel nach derselben Berechnung weitere zwanzig
+Kopeken im voraus. Zusammen also fünfunddreißig Kopeken. Sie erhalten
+für Ihre Uhr einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Da haben Sie's.«
+
+»Wie? Jetzt macht es bloß einen Rubel und fünfzehn Kopeken?«
+
+»Ganz richtig.«
+
+Der junge Mann stritt nicht weiter und nahm das Geld. Er blickte die
+Alte an und zögerte zu gehen, als wolle er noch irgend etwas sagen oder
+tun, ohne selber zu wissen, was er wolle ...
+
+»Ich werde Ihnen, Aljona Iwanowna, in diesen Tagen vielleicht noch eine
+Sache bringen ... ein silbernes ... gutes ... Zigarettenetui ... sobald
+ich es von einem Freunde zurückerhalte ...«
+
+»Nun, dann wollen wir darüber reden, Väterchen.«
+
+»Leben Sie wohl ... Sie sitzen immer allein zu Hause. Ihre Schwester ist
+nicht da?« fragte er möglichst ungezwungen, während er in das Vorzimmer
+ging.
+
+»Was geht Sie die an, Väterchen?«
+
+»Nichts Besonderes. Ich fragte bloß so. Sie denken gleich ... Leben Sie
+wohl, Aljona Iwanowna!«
+
+Raskolnikoff schritt völlig verwirrt hinaus. Und seine Verwirrung
+verstärkte sich immer mehr und mehr. Während er die Treppe hinabstieg,
+blieb er sogar einige Mal stehen, als hätte ihn plötzlich etwas
+übermannt. Schließlich, schon auf der Straße, rief er aus:
+
+»Oh, Gott! ... Wie abscheulich ist dies alles! Und werde ich es
+tatsächlich, tatsächlich ... nein, das ist ja Unsinn, ein unmöglicher
+Gedanke!« fügte er entschlossen hinzu. »Wie konnte mir bloß so etwas
+fürchterliches in den Sinn kommen! Und doch, zu welchem Schmutz ist mein
+Herz fähig! Die Hauptsache bleibt, -- es ist schmutzig, niederträchtig,
+gemein, abscheulich ... Und ich habe einen ganzen Monat ...«
+
+Er konnte weder durch Worte noch durch Ausrufe seine Erregung
+ausdrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Abscheus, das sein Herz schon
+bedrückte und verwirrte, als er zu der Alten ging, erreichte nun solch
+einen Umfang und äußerte sich in einer Stärke, daß er nicht wußte, wohin
+er vor seiner Qual sollte. Er ging auf der Straße wie ein Betrunkener,
+ohne die Vorübergehenden zu bemerken, stieß mit ihnen zusammen und kam
+erst in der nächsten Straße zu einiger Besinnung. Er schaute um sich und
+ward gewahr, daß er neben einer Schenke stand, zu der von der Straße aus
+eine Treppe in das Kellergeschoß führte. Soeben kamen zwei Betrunkene
+heraus, stützten sich gegenseitig und stiegen schimpfend die Treppe
+hinauf. Ohne lange nachzudenken, sprang Raskolnikoff eilig hinab. Er war
+noch nie in einer Schenke gewesen, jetzt aber schwindelte ihn und ein
+brennender Durst quälte ihn. Er wollte kaltes Bier trinken, um so mehr,
+als er seine plötzliche Schwäche dem Umstande zuschrieb, daß er nichts
+im Magen hatte. Er ließ sich in einer dunkeln und schmutzigen Ecke an
+einem schmierigen Tische nieder, verlangte Bier und trank gierig das
+erste Glas aus. Sofort wurde es ihm leichter, und seine Gedanken wurden
+klarer. »Das alles ist Unsinn,« sagte er voll Hoffnung. »Nichts braucht
+mich aus der Fassung zu bringen. Es ist bloß physische Zerrüttung. Ein
+Glas Bier, ein Stück Zwieback, -- und im Nu ist der Verstand da, die
+Gedanken klar und die Absichten im Lot! Pfui, wie ist dies alles
+erbärmlich! ...«
+
+Aber trotz des verächtlichen Ausspeiens sah er schon heiter aus, als
+hätte er sich plötzlich einer schrecklichen Last entledigt, und blickte
+die Anwesenden freundlich an. Aber selbst in diesem Augenblicke überkam
+ihn die leise Ahnung, daß diese Empfänglichkeit für das Bessere auch
+krankhaft sei.
+
+In der Schenke waren um diese Stunde wenige Menschen. Außer den zwei
+Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte gleich darauf
+eine ganze Gesellschaft, etwa fünf Männer und ein Mädchen, mit einer
+Ziehharmonika die Schenke verlassen. Darauf war es still und freier
+geworden. Es waren übrig geblieben: ein Angetrunkener, der aber nicht zu
+stark berauscht war; er saß hinter einer Flasche Bier, dem Aussehen nach
+ein Kleinbürger; sein Kamerad, ein dicker übergroßer Mann, in einem
+dicken Mantel, mit grauem Bart, stark berauscht, duselte auf einer Bank;
+ab und zu begann er plötzlich, wie im Schlafe, mit den Fingern zu
+schnippen, wobei er die Arme ausbreitete, hin und wieder hüpfte er mit
+dem Oberkörper, ohne sich von der Bank zu erheben, sang dazu irgendeinen
+Unsinn und versuchte sich auf Verse wie folgende zu besinnen:
+
+ »Ein ganzes Jahr hab' ich mein Weib geliebt, gehätschelt,
+ Ein gan--zes Jahr hab' ich mein Weib ge--liebt, ge--hät--schelt ...«
+
+Oder er erwachte plötzlich und sang:
+
+ »Längs der Podjatscheskoi bin ich gegangen,
+ Hab' mein früheres Weib gefunden ...«
+
+Aber niemand nahm Anteil an seinem Glück; sein schweigender Kamerad sah
+diese Ausbrüche sogar feindselig und mißtrauisch an. Es war noch ein
+Mann da, dem Aussehen nach ein verabschiedeter Beamter. Er saß allein
+vor seiner Flasche, trank hin und wieder einen Schluck und blickte um
+sich. Auch er schien in einer gewissen Aufregung zu sein.
+
+
+ II.
+
+Raskolnikoff war an Menschenmengen nicht gewöhnt und wie gesagt, mied er
+besondere in der letzten Zeit jegliche Gesellschaft. Jetzt aber zog ihn
+plötzlich etwas zu den Menschen hin. Es ging in ihm etwas vor,
+anscheinend etwas Neues, und gleichzeitig machte sich ein starker Drang
+nach Menschen bemerkbar. Er war so müde von dieser einen Monat schon
+währenden bohrenden Qual und düsteren Aufregung, daß er wenigstens für
+einen Augenblick in einer anderen Welt, ganz gleichgültig in welcher, --
+aufatmen wollte, und so blieb er jetzt trotz des Schmutzes dieser
+Umgebung mit Vergnügen in der Schenke ...
+
+Der Besitzer des Lokals hielt sich in einem anderen Zimmer auf, kam aber
+öfters in das Schenkzimmer; er mußte dabei ein paar Stufen hinabsteigen,
+und es zeigten sich zuerst seine eleganten Schmierstiefel mit breitem
+roten Rande an den Schäften. Er stak in einem faltigen Mantel und in
+einer fürchterlich verschmierten schwarzen Atlasweste, war ohne Halstuch
+und sein ganzes Gesicht schien, gleich einem eisernen Schlosse, mit Öl
+eingefettet zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein Junge von vierzehn
+Jahren; es war noch ein anderer, ein jüngerer, da, der die Gäste
+bediente, wenn etwas verlangt wurde. Auf dem Tische lagen Gurken, in
+Scheiben geschnitten, schwarze Zwiebacke und in kleine Stücke zerteilter
+Fisch; dies alles roch sehr schlecht. In dem Raume war es so dumpf, daß
+es unerträglich war, darinnen zu sitzen und alles war von
+Branntweingeruch so durchdrungen, daß man von dieser Luft allein in fünf
+Minuten berauscht werden konnte. -- Es kommt vor, daß wir sogar völlig
+unbekannten Menschen begegnen, für die wir uns vom ersten Augenblick an,
+ehe wir noch ein Wort mit ihnen getauscht haben, zu interessieren
+beginnen. Einen ähnlichen Eindruck hatte auf Raskolnikoff der Gast
+gemacht, der einem verabschiedeten Beamten glich und abseits an einem
+Tische saß. Raskolnikoff erinnerte sich später mehrmals dieses ersten
+Eindruckes und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er blickte
+ununterbrochen den »Beamten« an, sicher auch darum, weil der ebenso
+hartnäckig zu ihm herüberschaute; man merkte, daß er sehr gern ein
+Gespräch angeknüpft hätte. Die übrigen Gäste, den Besitzer nicht
+ausgenommen, übersah der »Beamte« gewohnheitsmäßig und voll Langeweile,
+und zugleich mit einem Ausdrucke von hochmütiger Geringschätzung, wie
+Menschen von niedriger Stellung und Bildung, mit denen er nichts gemein
+habe. Es war ein Mann, über fünfzig Jahre, von mittlerem Wuchse und
+kräftigem Bau, mit ergrautem Haar und einer großen Glatze, mit einer vom
+Trinken gedunsenen, gelben oder vielmehr grünlichen Gesicht und
+geschwollenen Augenlidern, unter denen winzige aber lebhafte, gerötete
+Augen hervorstachen. Etwas Sonderbares war jedoch an ihm; in seinen
+Augen leuchtete eine gewisse Begeisterung, vielleicht lag auch Verstand
+und Klugheit in ihnen, -- aber gleichzeitig schimmerte es drinnen wie
+Irrsinn. Er war mit einem alten völlig heruntergerissenen schwarzen
+Frack mit losen Knöpfen bekleidet. Ein einziger Knopf saß noch
+einigermaßen fest, und mit ihm knöpfte er ihn zu, da er offenbar die
+gesellschaftlichen Formen nicht vernachlässigen wollte. Unter der
+Nankingweste zeigte sich ein ganz zerknülltes, beschmutztes und
+vertropftes Vorhemd. Das Gesicht war nach Beamtenart rasiert, aber vor
+längerer Zeit schon, so daß bläuliche Stoppeln hervorstanden. Selbst in
+seinen Bewegungen lag etwas Solides, Beamtenartiges. Aber er war in
+ständiger Unruhe, fuhr sich durch die Haare, stemmte die zerrissenen
+Ellenbogen zuweilen auf den begossenen und klebrigen Tisch und stützte,
+wie in schwerem Gram, mit beiden Händen den Kopf. Zuletzt faßte er
+Raskolnikoff fest ins Auge und sagte laut und energisch:
+
+»Darf ich es wagen, mein verehrter Herr, mich mit einem anständigen
+Gespräch an Sie zu wenden? Denn obgleich Ihr Äußeres nicht viel vermuten
+läßt, unterscheidet meine Erfahrung in Ihnen doch einen gebildeten und
+ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe stets Bildung geachtet,
+die mit Herz und Gefühl verbunden ist, und außerdem bin ich im Range
+eines Titularrates. Marmeladoff -- so ist mein Name, Titularrat. Darf
+ich erfahren, ob Sie im Staatsdienste gewesen sind?«
+
+»Nein, ich studiere ...« antwortete der junge Mann, erstaunt über den
+sonderbaren, verschnörkelten Ton der Anrede und auch darüber, daß man
+sich so direkt an ihn wandte. Trotz des Wunsches vor kurzem noch, in
+irgendeine Fühlung mit Menschen zu kommen, empfand er plötzlich bei dem
+ersten tatsächlich an ihn gerichteten Worte, seine gewöhnliche,
+peinliche und gereizte Abscheu vor jedem fremden Menschen, der sich ihm
+zu nähern versuchte.
+
+»Sie sind ein Student oder gewesener Student!« fuhr der Beamte fort.
+»Ich dachte es mir gleich. Das macht die Erfahrung, mein Herr, die lange
+Erfahrung!« und selbstgefällig berührte er die Stirn mit dem Finger. --
+»Sie waren Student, haben gelehrten Studien obgelegen! Gestatten Sie
+aber ...«
+
+Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Gläschen und
+setzte sich dem jungen Manne schräg gegenüber. Er war berauscht, sprach
+aber rasch und geläufig, hin und wieder blieb er ein wenig stecken und
+zog die Sätze in die Länge. Mit einer gewissen Gier hatte er sich auf
+Raskolnikoff gestürzt, als hätte auch er einen ganzen Monat mit niemand
+gesprochen.
+
+»Verehrter Herr!« begann er fast feierlich, »Armut ist kein Laster, das
+ist wahr. Ich weiß, daß der Trunk auch keine Tugend ist, und das ist
+noch wahrer. Aber Bettelarmut, mein Herr, bettelarm zu sein ist ein
+Laster, ja. In der Armut bewahrt man noch die Anständigkeit der
+angeborenen Gefühle, wenn man aber bettelarm ist -- nie und nimmer. Wenn
+man bettelarm ist, so wird man nicht mal mit einem Stocke herausgejagt,
+sondern mit einem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt,
+damit es beleidigender sein soll; und das ist gerecht, denn wenn ich
+bettelarm bin, so bin ich selbst, als erster, bereit, mich zu
+beleidigen. Daher auch das Trinken! Mein Herr, vor einem Monat hat Herr
+Lebesjätnikoff meine Gattin verprügelt, und meine Gattin ist etwas
+Besseres als ich! Verstehen Sie? Gestatten Sie mir eine Frage, so, aus
+reiner Neugier, -- haben Sie schon auf der Newa, in den Heubarken
+geschlafen?«
+
+»Nein, das habe ich noch nicht,« antwortete Raskolnikoff. »Was ist das?«
+
+»Nun, ich komme von dort, schlafe schon die fünfte Nacht in den Barken
+...«
+
+Er goß sich ein Glas ein, trank es leer und versank in Gedanken. Man sah
+tatsächlich an seinen Kleidern und in den Haaren hie und da Heuhalme. Es
+war leicht möglich, daß er sich fünf Tage weder ausgekleidet noch
+gewaschen hatte. Am schmutzigsten waren seine fetten, roten Hände mit
+schwarzen Fingernägeln.
+
+Sein Gespräch schien allgemeine, wenn auch etwas flaue Aufmerksamkeit
+erregt zu haben. Die Knaben hinter dem Schenktische begannen zu kichern.
+Der Wirt war, wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um den
+»Kauz« zu hören; er setzte sich abseits und gähnte faul, aber würdevoll.
+Marmeladoff war offenbar hier längst bekannt. Auch die Neigung für
+gesuchte Ausdrücke hatte er wahrscheinlich durch die Gewohnheit,
+Wirtschaftsunterhaltungen mit allerhand Unbekannten anzuknüpfen,
+ausgebildet. Diese Gewohnheit wird bei manchen Trinkern zum Bedürfnis
+und besonders bei denen, die zu Hause streng behandelt werden. Darum
+versuchen sie in Gesellschaft von Trinkern sich stets eine
+Rechtfertigung und wenn möglich sogar Achtung der anderen zu
+verschaffen.
+
+»Komischer Kauz!« sagte laut der Wirt. »Warum arbeitest du nicht, warum
+bist du nicht im Dienst, wenn du Beamter bist?«
+
+»Warum ich nicht im Dienste bin, mein Herr?« sagte Marmeladoff, sich
+ausschließlich an Raskolnikoff wendend, als hätte der ihm die Frage
+vorgelegt. -- »Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn das Herz
+nicht weh, daß ich unnütz herumlungere? Als Herr Lebesjätnikoff vor
+einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte und ich berauscht
+dalag, habe ich da nicht gelitten? Erlauben Sie, junger Mann, ist es
+Ihnen passiert, ... hm ... nun, daß Sie aussichtslos jemanden baten,
+Ihnen Geld zu leihen?«
+
+»Das ist mir passiert ... das heißt, wie meinen Sie -- aussichtslos?«
+
+»Das heißt völlig aussichtslos, wenn man schon im voraus weiß, daß
+nichts daraus wird. Sagen wir, Sie wissen zum Beispiel vorher und
+zweifellos, daß dieser Mann, dieser wohlgesinnte und äußerst nützliche
+Bürger Ihnen um keinen Preis Geld geben wird, denn -- ich frage Sie --
+warum soll er es tun? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde.
+Etwa aus Mitleid? Herr Lebesjätnikoff aber, der neue Gedanken und Ideen
+mit Interesse verfolgt, hat vor kurzem erklärt, daß in unserer Zeit
+Mitleid sogar von der Wissenschaft verboten sei, und daß man in England,
+woher die politische Ökonomie kommt, schon danach handle. Warum also --
+frage ich Sie -- sollte er geben? Und sehen Sie, obwohl Sie im voraus
+wissen, daß er nicht geben wird, machen Sie sich doch auf den Weg und
+...«
+
+»Warum geht man denn hin?« sagte Raskolnikoff.
+
+»Wenn es aber niemanden mehr gibt, wenn man nirgendwo anders hingehen
+kann! Es müßte doch so sein, daß jeder Mensch irgendwo hingehen könnte.
+Denn es kommen Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß! Als meine
+einzige Tochter zum erstenmal mit dem gelben Schein[6] ging, ging ich
+auch ... (meine Tochter lebt nämlich auf den gelben Schein) ...« fügte
+er hinzu und blickte mit einiger Unruhe den jungen Mann an. »Hat nichts
+zu sagen, mein Herr, hat nichts zu sagen!« beeilte er sich, sofort und
+scheinbar ruhig zu erklären, als die beiden Knaben hinter dem
+Schenktische in Lachen ausbrachen und auch der Wirt lächelte. »Hat
+nichts zu sagen! Durch dieses Tuscheln laß ich mich nicht stören, denn
+es ist längst bekannt, und alles Verborgene wird offenbar, und nicht mit
+Verachtung, sondern mit Demut ertrage ich es. Mögen sie! Mögen sie!
+>_Ecce homo!_< Erlauben Sie, junger Mann, können Sie vielleicht ... Aber
+nein, man muß sich stärken und deutlicher ausdrücken: nicht _können_
+Sie, sondern _wagen Sie_, indem Sie mich dabei ansehen, zu behaupten,
+daß ich kein Schwein bin?«
+
+Der junge Mann antwortete nicht.
+
+»Nun,« fuhr der Redner gesetzter und sogar noch würdevoller fort,
+nachdem er gewartet hatte, bis das Kichern in dem Zimmer aufhörte, »nun
+gut, ich mag ein Schwein sein, sie aber ist eine Dame. Ich sehe aus wie
+ein Vieh, Katerina Iwanowna, meine Gattin, aber ist eine gebildete
+Person und die Tochter eines Stabsoffiziers. Mag ich, mag ich ein Schuft
+sein, sie aber ist hochherzig und ist durch Erziehung voll edler
+Gefühle. Indessen aber ... oh, wenn sie mit mir Mitleid hätte! Mein
+Herr, verehrter Herr, es müßte doch so sein, daß jeder Mensch wenigstens
+eine Stelle habe, wo er Mitleid fände! Katerina Iwanowna ist wohl eine
+großmütige Dame, aber ungerecht ... Und obwohl ich verstehe, daß sie
+mich an den Haaren zerrt, aus keinem anderen Grunde als aus Mitleid des
+Herzens -- denn ich wiederhole es, ohne mich zu schämen, sie zerrt mich
+an den Haaren, junger Mann,« bestätigte er mit verstärkter Würde, als er
+wieder Kichern vernahm. »Aber mein Gott, was würde geschehen, wenn sie
+wenigstens ein einziges Mal ... Aber nein! Nein! Das alles ist umsonst,
+und es lohnt sich nicht, davon zu sprechen! Lohnt sich nicht zu
+sprechen! ... Denn mehr als einmal war das Gewünschte dagewesen, und
+mehr als einmal hatte man mit mir Mitleid gehabt, aber ... meine Natur
+ist schon so, ich bin ein geborenes Vieh!«
+
+»Und ob!« bemerkte der Wirt gähnend.
+
+Marmeladoff schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch.
+
+»So ist meine Natur! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, ich habe sogar
+ihre Strümpfe vertrunken! Nicht die Stiefel, denn das würde noch in der
+Ordnung der Dinge liegen, sondern die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich
+vertrunken! Ihr Tuch aus Ziegenwolle habe ich vertrunken, man hat es ihr
+einst geschenkt, es gehörte ihr, nicht mir; wir leben in einem kalten
+Zimmer und sie hat sich in diesem Winter erkältet und begann zu husten,
+sogar Blut kam. Wir haben noch drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna
+ist vom frühen Morgen bis in die Nacht bei der Arbeit; sie scheuert und
+wäscht, auch die Kinder wäscht sie, denn sie ist von Kindheit auf an
+Reinlichkeit gewöhnt, aber sie hat eine schwache Brust und neigt zur
+Schwindsucht, und ich fühle es! Fühle ich es denn nicht? Und je mehr ich
+trinke, um so stärker fühle ich. Darum trinke ich auch, weil ich in
+diesem Tranke Mitleid und Gefühl suche ... Ich trinke, weil ich doppelt
+leiden will!«
+
+Und er neigte wie in Verzweiflung seinen Kopf auf den Tisch.
+
+»Junger Mann,« fuhr er fort und hob wieder den Kopf, »in Ihrem Gesichte
+lese ich etwas wie Kummer. Als Sie hereintraten, habe ich es gesehen,
+und darum habe ich mich auch sofort an Sie gewandt. Denn, indem ich
+Ihnen die Geschichte meines Lebens erzählte, will ich mich nicht an den
+Schandpfahl vor diesen Tagdieben stellen, die übrigens alles wissen,
+sondern ich suche einen fühlenden und gebildeten Menschen. Sie sollen
+wissen, -- meine Gattin ist in einem adligen Gouvernementspensionat
+erzogen und hat bei der Schlußprüfung vor dem Gouverneur und anderen
+Persönlichkeiten mit dem Schal getanzt, wofür sie eine goldene Medaille
+und ein Ehrenzeugnis erhielt. Die Medaille ... nun die Medaille haben
+wir verkauft ... schon lange ... hm ... das Ehrenzeugnis liegt noch in
+ihrem Kasten, und sie hat es vor kurzem unserer Wirtin gezeigt. Obwohl
+sie mit der Wirtin ständig, ununterbrochen Streitigkeiten hat, wollte
+sie doch vor jemand sich rühmen und von vergangenen glücklichen Tagen
+erzählen. Und ich verurteile sie nicht, ich verurteile nicht, denn das
+allein ist nur in ihrer Erinnerung geblieben, alles übrige ist zu Staub
+geworden. Ja, ja, sie ist eine hitzige, stolze und unbeugsame Dame. Sie
+wäscht selbst den Fußboden, ißt Schwarzbrot, aber Mißachtung duldet sie
+nicht. Darum wollte sie auch nicht die Grobheit des Herrn Lebesjätnikoff
+dulden, und als Herr Lebesjätnikoff sie verprügelte, da legte sie sich
+zu Bett -- weniger der Schläge, als des Schimpfes wegen. Ich habe sie
+als Witwe geheiratet, mit drei ganz kleinen Kindern. Ihren ersten Mann,
+einen Infanterieoffizier, heiratete sie aus Liebe und war aus dem
+Elternhause mit ihm geflohen. Sie liebte ihren Mann grenzenlos, er fing
+aber an Karten zu spielen, kam vors Gericht und starb. Er hat sie oft
+geschlagen in den letzten Jahren, und obwohl sie sich nichts von ihm
+gefallen ließ, wie ich es bestimmt und aus Schriftstücken weiß, --
+erinnert sie sich doch seiner heute noch mit Tränen und hält ihn mir als
+Muster vor, und ich freue mich, ich freue mich, weil sie sich wenigstens
+in der Phantasie als einstmals glücklich fühlt ... Nach seinem Tode
+blieb sie mit drei kleinen Kindern in einem abgelegenen und
+weltvergessenen Kreise, wo ich mich auch damals befand, und in solch
+hoffnungsloser Armut, daß ich sie nicht beschreiben kann, obwohl ich
+vieles und allerhand gesehen habe. Ihre Verwandten hatten sich alle von
+ihr losgesagt. Ja und sie war so stolz, zu stolz ... Und da bot ich,
+mein Herr, auch ein Witwer mit einer vierzehnjährigen Tochter von meiner
+ersten Frau, ihr meine Hand an, denn ich konnte solch eine Qual nicht
+mit ansehen. Sie können danach beurteilen, wie stark ihre Not war, daß
+sie, gebildet, gut erzogen und aus angesehener Familie, bereit war, mich
+zu heiraten. Sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend
+-- heiratete sie mich doch! Denn sie konnte ja nirgendwo hin. Verstehen
+Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man nirgendwo mehr hin
+kann? Nein! Das können Sie noch nicht verstehen ... Ein ganzes Jahr
+erfüllte ich meine Pflicht treu und redlich und rührte das da nicht an
+(er wies auf die Branntweinflasche), denn ich habe Gefühl. Aber auch
+damit konnte ich sie nicht zufrieden stellen; ich verlor meine Stelle
+und nicht eines Vergehens, sondern einer Änderung im Etat wegen, und nun
+wandte ich mich dem zu! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir
+nach langen Irrfahrten und vielfach großer Not endlich in dieser
+prächtigen und mit unzähligen Denkmälern geschmückten Residenz
+eintrafen. Ich fand hier eine Stelle ... Ich fand und verlor sie wieder.
+Verstehn Sie? Diesmal verlor ich die Stelle aus eigener Schuld, denn
+meine Neigung brach durch ... Jetzt wohnen wir in einem Winkel bei der
+Wirtin Amalie Fedorowna Lippewechsel, wovon wir aber leben und womit wir
+bezahlen -- das weiß ich nicht. Außer uns leben noch viele dort ... Ein
+entsetzliches Drunter und Drüber ... hm ... ja ... Indessen wurde mein
+Töchterchen aus der ersten Ehe erwachsen, und was sie, mein Töchterchen,
+von ihrer Stiefmutter zu erdulden hatte, als sie heranwuchs, darüber
+schweige ich. Obwohl Katerina Iwanowna von großmütigen Gefühlen
+durchdrungen ist, so ist sie doch eine hitzige und gereizte Dame und
+schneidet einem schnell das Wort ab ... Ja! Nun, es lohnt sich nicht,
+dessen zu gedenken! Eine Erziehung hat Ssonja, wie Sie sich denken
+können, nicht erhalten. Ich habe versucht, etwa vor vier Jahren,
+Geographie und Weltgeschichte mit ihr durchzunehmen, aber da ich selbst
+nicht ganz sattelfest war und keine anständigen Bücher besaß, denn die
+Bücher, die wir hatten ... hm ... na, diese Bücher sind nicht mehr da
+... So endigte auch damit der ganze Unterricht. Wir blieben bei Cyrus
+von Persien stehen. Später, als sie reifer und älter wurde, las sie
+einige Bücher romanhaften Inhalts, ja und vor kurzem erhielt sie von
+Herrn Lebesjätnikoff ein Buch -- Physiologie von Lewis -- kennen Sie es?
+Sie las es mit großem Interesse und teilte uns auch einige Abschnitte
+daraus mit, -- das ist ihr ganzes Wissen. Jetzt wende ich mich an Sie,
+mein Herr, mit einer persönlichen Frage, so von mir aus, -- wieviel
+kann, nach Ihrer Meinung, ein armes, ehrliches, junges Mädchen durch
+ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie wird kaum fünfzehn Kopeken pro Tag
+verdienen, mein Herr, wenn sie ehrlich ist und keine besonderen Talente
+hat, und da muß sie, ohne einen Augenblick zu ruhen, ununterbrochen
+arbeiten! Und dabei hat der Staatsrat Iwan Iwanowitsch Klopstock, --
+haben Sie von ihm gehört? -- bis heute nicht bloß das Geld für Nähen
+eines halben Dutzend Hemden aus holländischem Leinen nicht bezahlt,
+sondern hat sie sogar unter Kränkungen hinausgejagt, hat mit den Füßen
+getrampelt und sie in unanständiger Weise beschimpft, unter dem
+Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und dazu schief genäht sei.
+Und die Kinder sitzen hungrig zu Hause ... Katerina Iwanowna geht
+händeringend im Zimmer herum und auf ihren Wangen zeigen sich rote
+Flecke, -- was bei dieser Krankheit stets vorkommt. Du lebst bei uns,
+Müßiggängerin, sagte sie, -- ißt, trinkst und genießt die Wärme, -- was
+gibt es aber denn zu essen und zu trinken, wenn die Kinder nicht mal
+eine Brotrinde drei Tage lang zu sehen bekommen! Ich lag damals
+berauscht da ... nun, was ist da viel zu sagen, ich lag berauscht da und
+hörte, wie meine Ssonja sagt -- sie ist so still und ihr Stimmchen so
+sanft ... hellblond ist sie, das Gesichtchen ist immer bleich und mager
+-- also, sie sagt: >Wie, Katerina Iwanowna, soll ich denn auf so was
+eingehen?< Darja Franzowna, ein böses und der Polizei gut bekanntes
+Weib, hatte sich schon dreimal durch unsere Wirtin erkundigt. >Was
+sonst,< antwortet Katerina Iwanowna spöttisch. >Wozu es hüten? So ein
+Kleinod!< Klagen Sie sie aber nicht an, mein Herr, klagen Sie nicht an,
+verurteilen Sie nicht! Es war gesagt nicht bei gesundem Verstande,
+sondern in erregter Stimmung, in Krankheit und beim Anblick der
+weinenden Kinder, die nichts gegessen hatten, und es war eher um zu
+kränken, als im genauen Sinne des Wortes gesagt ... Denn Katerina
+Iwanowna hat nun einmal so einen Charakter, und wenn die Kinder anfangen
+zu weinen, und sei es aus Hunger, schlägt sie sie sofort. Und da sah ich
+-- es war gegen sechs Uhr -- wie Ssonjetschka aufstand, das Tüchlein
+umnahm, ihr Pelzchen anzog und die Wohnung verließ, in der neunten
+Stunde aber kam sie zurück. Sie kam, ging direkt zu Katerina Iwanowna
+und legte schweigend auf den Tisch dreißig Rubel hin. Kein einziges
+Wörtchen hat sie gesagt, nicht mal hingeblickt; sie nahm unser großes
+grünes Umlegetuch -- wir besitzen so ein gemeinsames Umlegetuch --
+bedeckte damit den Kopf und das Gesicht ganz und gar und legte sich auf
+das Bett mit dem Gesichte zur Wand; bloß die schmalen Schultern und der
+ganze Körper bebten ... Ich aber lag, wie vorher, in demselben Zustande
+... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, ohne
+ein Wort zu sagen, an das Bettchen von Ssonjetschka herantrat und den
+ganzen Abend auf den Knien zu ihren Füßen lag, ihr die Füße küßte, nicht
+aufstehen wollte, und wie sie beide schließlich umschlungen einschliefen
+... beide ... beide zusammen ... ja ... und ich lag berauscht da.«
+
+Marmeladoff schwieg, als versage ihm die Stimme. Dann schenkte er sich
+plötzlich ein, trank schnell aus und krächzte.
+
+»Seit der Zeit, mein Herr,« -- fuhr er nach kurzem Schweigen fort, --
+»seit der Zeit ist meine Tochter Ssofja Ssemenowna gezwungen worden --
+dank einem ungünstigen Zufalle und dank der Denunziation
+schlechtgesinnter Menschen, wobei Darja Franzowna sich besonders
+hervorgetan hat, weil man ihr angeblich die ihr gebührende Achtung
+versagt habe, -- den gelben Schein zu nehmen und hat infolgedessen bei
+uns nicht länger bleiben können. Denn unsere Wirtin, Amalie Fedorowna
+wollte es nicht zulassen, -- vorher aber hat sie Darja Franzowna, dazu
+verholfen -- und auch Herr Lebesjätnikoff ... hm ... Ja, sehen Sie, die
+Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna passierte ja wegen Ssonja.
+Zuerst stellte er Ssonjetschka selbst nach, mit einem Mal aber wurde er
+empfindlich. >Wie kann ich, als ein gebildeter Mann -- sagte er -- mit
+so einer in derselben Wohnung leben?< Katerina Iwanowna nahm es nicht
+stillschweigend hin, trat für Ssonja ein ... nun, und da passierte es
+... Ssonjetschka besucht uns nun meist in der Dämmerung, hilft Katerina
+Iwanowna und gibt nach Möglichkeit Geld ... Wohnen aber tut sie bei dem
+Schneider Kapernaumoff; sie hat bei ihm eine Stube gemietet.
+Kapernaumoff ist lahm und stottert, und seine sehr zahlreiche Familie
+stottert auch. Auch seine Frau stottert ... Sie leben alle in einem
+Zimmer. Ssonja aber hat ihr eigenes mit einer Scherwand ... Hm ... ja
+... Es sind furchtbar arme Leute und dazu stottern sie noch ... ja ...
+Ich stand also am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob die Hände gen
+Himmel und ging zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie
+Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? ... Nun, dann
+kennen Sie nicht einen Gottesmenschen! Er ist wie Wachs ... Wachs vor
+dem Angesichte Gottes; er schmilzt wie Wachs ... Er vergoß sogar Tränen,
+nachdem er geruht hat alles anzuhören. >Nun, -- sagte er -- einmal hast
+du meine Erwartung getäuscht, Marmeladoff ... Ich gebe dir noch einmal
+eine Stelle, -- auf meine persönliche Verantwortung hin,< -- so sprach
+er -- >denk daran -- sagte er -- und geh jetzt!< Ich küßte den Staub zu
+seinen Füßen -- in Gedanken nur, denn in Wirklichkeit hätte er es nicht
+gestattet, als Würdenträger und als ein Mann der neuen Staatsideen und
+Bildung. Ich kehrte nach Hause zurück, und als ich mitteilte, daß ich in
+den Staatsdienst aufgenommen wäre und Gehalt erhalten würde, --
+Herrgott, was geschah da ...«
+
+Marmeladoff hielt von neuem in großer Erregung inne. In diesem
+Augenblick drang von der Straße eine Schar von Trunkenbolden herein, die
+schon bezecht waren, und am Eingange ertönten die Klänge eines
+Leierkastens und die gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das
+ein Gassenlied sang. Es wurde lärmend. Der Wirt und die Knaben bedienten
+die Neuangekommenen. Marmeladoff setzte seine Erzählung fort, ohne die
+Eingetretenen zu beachten. Er schien sehr schwach geworden zu sein, aber
+je stärker der Branntwein auf ihn wirkte, um so redseliger wurde er. Die
+Erinnerung an den kürzlichen Erfolg und die Aufnahme in den Dienst
+schien ihn zu beleben und spiegelte sich sogar auf seinem Gesichte
+gleich einem frohen Schimmer wieder. Raskolnikoff hörte ihm aufmerksam
+zu.
+
+»Das geschah, mein Herr, vor fünf Wochen. Ja ... Kaum hatten sie beide,
+Katerina Iwanowna und Ssonjetschka es erfahren, da schien ich -- oh
+Gott! -- ins Himmelreich geraten zu sein. Früher lag ich da wie ein Vieh
+und hörte bloß Schimpfen! Nun aber gingen sie auf den Fußspitzen, die
+Kinder wurden angehalten ruhig zu sein. >Ssemjon Sacharytsch ist müde
+vom Dienste, ruht sich aus ... pst!< Ehe ich in den Dienst mußte, bekam
+ich Kaffee; Sahne wurde gekocht. Sie verschafften wirkliche Sahne, hören
+Sie! Und woher sie elf Rubel und fünfzig Kopeken zu einer anständigen
+Equipierung zusammengekratzt haben, begreife ich bis jetzt noch nicht.
+Stiefel, ein prachtvolles Kalikohemd, einen Uniformrock -- alles haben
+sie in ausgezeichnetem Zustande für elf Rubel und fünfzig Kopeken
+aufgebracht. Den ersten Tag kam ich früh aus dem Dienste und was sehe
+ich, -- Katerina Iwanowna wartet mit zwei Speisen auf -- Suppe und
+Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir vorher nicht mal einen Begriff
+hatten. Sie hat eigentlich keine Kleider ... wirklich gar keine, aber
+nun war sie angezogen, als wollte sie einen Besuch machen; sie hatte
+sich geschmückt, und im Grunde genommen war nichts Besonderes da, aber
+sie hatte es verstanden, aus nichts alles zu schaffen, -- hatte ihr Haar
+geordnet, einen reinen Kragen, Manschetten angelegt und hatte aus sich
+einen ganz anderen Menschen gemacht, sah jünger und hübscher aus.
+Ssonjetschka, mein Täubchen, hatte nur mit Geld geholfen, denn es gehe
+jetzt nicht an, sagte sie, daß sie uns oft besuchte, höchstens in der
+Dämmerung, damit niemand es sehe. Hören Sie, hören Sie? Nach dem Essen
+legte ich mich ein wenig hin -- wie meinen Sie, was geschah da, --
+Katerina Iwanowna konnte es doch nicht über sich bringen, und lud unsere
+Wirtin, Amalie Fedorowna, trotzdem sie sich vor einer Woche mit ihr
+gehörig gezankt hatte, nun zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden saßen
+sie und flüsterten fortwährend. >Ssemjon Sacharytsch -- erzählte
+Katerina Iwanowna -- ist jetzt im Staatsdienste und erhält Gehalt; er
+erschien bei Seiner Exzellenz, und Seine Exzellenz kam selbst heraus,
+ließ alle anderen warten, nahm Ssemjon Sacharytsch an der Hand und
+führte ihn in sein Zimmer!< -- Hören Sie, hören Sie! -- >Ich erinnere
+mich selbstverständlich Ihrer Verdienste, Ssemjon Sacharytsch -- sagte
+er -- und obwohl Sie diese leichtsinnige Schwäche haben, -- da Sie es
+mir aber versprechen und es bei uns außerdem ohne Sie nicht gut gegangen
+ist< -- (Hören Sie, hören Sie!) -- >So verlasse ich mich jetzt auf Ihr
+Ehrenwort< -- sagte er -- das heißt, ich muß Ihnen sagen, sie hatte sich
+das alles ausgedacht, nicht aus Geschwätzigkeit und auch nicht um damit
+zu prahlen. Nein, sie glaubt selbst daran, ergötzt sich an ihrer eigenen
+Phantasie, bei Gott! Und ich verurteile es nicht, nein, ich verurteile
+es nicht, nein, ich verurteile es nicht! ... Als ich nun, vor sechs
+Tagen, mein erstes Gehalt -- dreiundzwanzig Rubel vierzig Kopeken ihr
+vollzählig abgab, nannte sie mich ihr Püppchen. >So ein Püppchen bist
+du!< -- sagte sie. Und unter vier Augen hat sie es gesagt, verstehen
+Sie? Nun, bin ich denn etwa schön, und was bin ich für ein Gatte? Sie
+hat mich in die Wange gekniffen und >so ein Püppchen< gesagt.«
+
+Marmeladoff hielt inne, wollte lächeln, plötzlich aber zitterte sein
+Kinn. Er beherrschte sich. Diese Schenke, das verkommene Aussehen, die
+fünf Nächte auf den Heubarken, die Branntweinflasche und dazu nun diese
+krankhafte Liebe zu Frau und Familie verwirrten den Erzähler.
+Raskolnikoff hörte ihm gespannt zu, jedoch mit einem peinvollen
+Empfinden. Er ärgerte sich, daß er hierher gekommen war.
+
+»Mein Herr, verehrter Herr!« -- rief Marmeladoff aus, nachdem er sich
+völlig beherrscht hatte -- »Oh, mein Herr, vielleicht erscheint Ihnen
+das alles lächerlich, wie den anderen, und ich belästige Sie bloß mit
+dem Kram und all diesen kleinlichen Einzelheiten meines häuslichen
+Lebens, -- nun, für mich aber ist es nicht lächerlich! Denn ich kann
+dies alles fühlen ... Und diesen himmlischen Tag meines Lebens, wie auch
+den Abend verbrachte ich in flüchtigen Träumereien, -- wie ich alles
+einrichten, den Kindern Kleidung verschaffen, ihr die Ruhe geben und
+meine einzige Tochter aus der Schande in den Schoß der Familie
+zurückbringen werde ... Und viel mehr, viel anderes noch ... Es war ja
+verzeihlich, mein Herr. Nun, mein Herr -- (Marmeladoff fuhr plötzlich
+auf, erhob den Kopf und blickte seinem Zuhörer ins Gesicht) -- nun, am
+andern Tage nach all diesen Träumen, heute sind es genau fünf Tage her,
+-- entwandt ich gegen Abend durch einen listigen Betrug, wie ein Dieb in
+der Nacht, Katerina Iwanowna den Schlüssel zu ihrem Kasten, nahm den
+Rest von dem heimgebrachten Gehalt, -- wieviel es war, weiß ich nicht
+mehr, -- und nun sehen Sie mich an, seht Ihr alle mich an. Den fünften
+Tag bin ich von Hause weg, man sucht mich, und der Dienst ist aus, der
+Uniformrock liegt in einer Schenke bei der Ägyptischen Brücke und an
+seiner Stelle habe ich diese Kleidung erhalten ... und alles ist nun
+aus!«
+
+Marmeladoff schlug sich mit der Faust an die Stirn, preßte die Zähne
+zusammen, schloß die Augen und stützte sich schwer mit den Ellbogen auf
+den Tisch. Nach einem Moment aber veränderte sich plötzlich sein
+Gesicht, er blickte mit geheuchelter Verschmitztheit und gespielter
+Frechheit Raskolnikoff an, lachte und sagte: »Und heute war ich bei
+Ssonja, habe sie gebeten mir Geld für einen Schnaps zu geben!
+He--he--he!« ... »Hat sie dir wirklich gegeben?« -- rief jemand von den
+Neuangekommenen, rief es und lachte aus vollem Halse.
+
+»Diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft,« -- sagte Marmeladoff,
+sich ausschließlich an Raskolnikoff wendend. -- »Dreißig Kopeken gab sie
+mir, mit ihren eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, ...
+ich habe es selbst gesehen ... Sie hat nichts, nichts gesagt, hat mich
+bloß schweigend angesehen ... So grämt und weint man nicht auf Erden
+über Menschen ... sondern dort oben ... und keinen Vorwurf, keinen
+einzigen Vorwurf ... Und es tut einem mehr weh, wenn man keinen Vorwurf
+hört! ... Dreißig Kopeken, ja. Und sie braucht sie selbst jetzt, ah? Wie
+meinen Sie, mein lieber Herr! Sie muß ja doch jetzt auf Sauberkeit
+achten. Diese Sauberkeit, diese besondere Sauberkeit kostet Geld,
+verstehen Sie? Verstehen Sie es? Nun, und dann muß sie hin und wieder
+Pomade oder so was kaufen, es geht ja nicht ohne dem; steife Unterröcke
+muß sie haben. Stiefel, hübsche Stiefel müssen da sein, um das Füßchen
+zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen muß. Verstehen Sie, verstehen
+Sie, mein Herr, was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Nun, und ich, der
+leibliche Vater, nahm ihr diese dreißig Kopeken zu einem Schnaps! Und
+ich trinke hier! Habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer soll denn mit
+so einem, wie ich, Mitleid haben? Ah? Tue ich Ihnen jetzt leid oder
+nicht, mein Herr? Sagen Sie, mein Herr, tue ich Ihnen leid oder nicht?
+He--he--he--he!«
+
+Er wollte sich einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war
+leer.
+
+»Warum soll man auch mit dir Mitleid haben?« -- rief der Wirt, der sich
+in ihrer Nähe befand.
+
+Starkes Lachen erscholl und Schimpfworte wurden laut. Alle lachten, die
+Marmeladoff zugehört und auch die, welche nicht zugehört hatten, und
+schimpften ohne Grund, allein schon beim Anblick der Person des
+verabschiedeten Beamten.
+
+»Mit mir Mitleid haben! Mitleid haben!« -- rief Marmeladoff plötzlich
+laut und erhob sich mit ausgestreckter Hand, sich gebärdend, als hätte
+er bloß auf diese Worte gewartet. -- »Warum Mitleid mit mir haben, sagst
+du? Ja! Es gibt nichts, weswegen man mich bemitleiden kann. Man muß mich
+kreuzigen, mich ans Kreuz nageln und nicht Mitleid haben! Kreuzige,
+kreuzige, Richter und nachdem du gekreuzigt hast, habe Mitleid. Und da
+will ich selbst zur Kreuzigung zu dir kommen, denn ich suche nicht
+Fröhlichkeit, sondern Kummer und Tränen! ... Meinst du, du Krämer, daß
+diese Flasche mir zur Freude war? Kummer, Kummer suchte ich auf ihrem
+Boden, Kummer und Tränen, und ich habe sie gefunden und habe von ihnen
+gekostet. Mitleid aber mit uns wird der haben, der mit allen Mitleid
+hat, und der alles und alle verstanden hat, Er, der einzige; er ist auch
+der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: >Wo ist die
+Tochter, die sich der bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und den
+fremden kleinen Kindern geopfert hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem
+irdischen Vater, dem lasterhaften Trunkenbold, Mitleid hatte, ohne sich
+vor seiner Tierheit zu erschrecken?< Und er wird sagen, -- >komm! Ich
+habe dir schon einmal vergeben ... Habe dir einmal vergeben ... Vergeben
+sind dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebt hast ...<
+Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben; ich weiß es, daß
+er ihr vergeben wird ... Ich habe es, als ich jetzt bei ihr war, im
+Herzen gefühlt! ... Und er wird allen gerecht sein und wird vergeben,
+wie den guten, so auch den bösen, wie den weisen, so auch den
+einfältigen ... Und wenn er mit allen schon zu Ende sein wird, da wird
+er auch zu uns sprechen -- >kommet auch ihr< -- wird er sagen >kommt ihr
+Betrunkenen, kommt ihr Schwächlinge, kommt ihr Sündigen!< Und wir alle
+werden hervortreten, ohne uns zu schämen, und werden dastehn. Er aber
+wird sagen: >Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres, ihr viehischen
+Gesichter, ihr -- kommt auch ihr!< Und die Weisen und die Klugen werden
+ausrufen: >Herr! Warum nimmst du sie auf?< Und er wird sagen -- >Ich
+nehme sie auf, ihr Weisen. Ich nehme sie auf, ihr Klugen, weil sich kein
+einziger von ihnen für dessen würdig hielt ...< Und er wird seine Hände
+gegen uns ausstrecken, und wir werden niedersinken ... und werden weinen
+... und alles verstehn! Dann werden wir alles verstehen! ... Und alle
+werden verstehn ... auch Katerina Iwanowna ... auch sie wird verstehn
+... Herr, dein Reich komme.«
+
+Er ließ sich auf die Bank nieder, erschöpft und geschwächt, ohne jemand
+anzusehen, als hätte er die Umgebung vergessen, und versank in tiefes
+Sinnen. Seine Worte hatten einen gewissen Eindruck hervorgerufen; für
+einen Augenblick trat Schweigen ein, bald darauf aber ertönte von neuem
+Lachen und Schelten.
+
+»Er hat gerichtet!«
+
+»Hat sich vergaloppiert!«
+
+»Ist auch Beamter!«
+
+und solcherlei mehr hörte man.
+
+»Wollen wir gehen, mein Herr!« -- sagte Marmeladoff plötzlich, hob den
+Kopf und wandte sich an Raskolnikoff. -- »Begleiten Sie mich ... Haus
+Kosel ... im Hofe. Es ist Zeit ... für mich ... zu Katerina Iwanowna
+...«
+
+Raskolnikoff hatte längst schon weggehen wollen, und auch selbst
+gedacht, ihm behilflich zu sein. Marmeladoff zeigte sich viel schwächer
+in den Beinen, als in seinen Reden, und stützte sich stark auf den
+jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen.
+Verwirrung und Angst packten immer stärker und stärker den Säufer, je
+mehr sie sich dem Hause näherten.
+
+»Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna,« -- murmelte er
+erregt, -- »auch nicht davor, daß sie mich an den Haaren raufen wird.
+Was sind Haare! ... Dummes Zeug sind die Haare! Das sage ich! Es ist
+sogar besser, daß sie mich raufen wird, aber ich fürchte mich nicht
+davor ... ich ... ich ... fürchte mich vor ihren Augen ... ja ... vor
+ihren Augen ... Auch vor den roten Flecken auf den Wangen fürchte ich
+mich ... und ich fürchte mich -- vor ihrem Atem ... Hast du gesehen, wie
+die Menschen bei dieser Krankheit atmen ... wenn sie erregt sind? Auch
+vor den weinenden Kindern fürchte ich mich ... Wenn Ssonja ihnen nichts
+zu essen gegeben hat, dann ... weiß ich nicht, wie ... Ich weiß nicht!
+Vor Schlägen fürchte ich mich nicht ... Du sollst wissen, mein Herr, daß
+solche Schläge mir keinen Schmerz, sondern Genuß bereiten ... Denn ohne
+die kann ich selbst nicht auskommen. Es ist besser. Mag sie mich
+schlagen, mag sie ihrem Herzen Luft machen ... es ist besser ... Da ist
+ja das Haus. Es gehört Kosel, einem Schlosser, einem reichen Deutschen
+... führe mich!«
+
+Sie traten in den Hof und stiegen in das vierte Stockwerk. Je höher sie
+die Treppe hinaufstiegen, um so dunkler wurde es. Es war fast elf Uhr,
+und obwohl es um diese Jahreszeit in Petersburg keine Nacht gibt, war es
+doch sehr dunkel oben auf der Treppe.
+
+Eine kleine verräucherte Tür am Ende der Treppe war geöffnet. Ein
+Lichtstumpf beleuchtete ein sehr ärmliches, etwa zehn Schritte langes
+Zimmer; vom Flur aus konnte man es vollständig übersehen. Alles lag
+verstreut und in Unordnung umher, besonders zerlumpte Kinderkleider. Vor
+den hintersten Winkel war ein verlöchertes Bettlaken gezogen. Dort stand
+wahrscheinlich das Bett. Im Zimmer waren im ganzen zwei Stühle und ein
+sehr abgerissenes mit Wachstuch bezogenes Sofa, vor dem ein alter
+ungestrichener Küchentisch ohne Decke, aus Fichtenholz, stand. Auf einer
+Ecke des Tisches brannte in einem eisernen Leuchter der Lichtstumpf. Es
+erwies sich, daß Marmeladoff nicht in dem Winkel schlief, sondern in
+einem Zimmer für sich war, das aber ein Durchgangszimmer war. Die Tür zu
+den andern Räumen oder vielmehr Käfigen, in die die Wohnung von Amalie
+Lippewechsel eingeteilt war, stand offen. Dort ging es geräuschvoll und
+laut zu. Man hörte Lachen. Wie es schien, spielte man dort Karten und
+trank Tee. Hin und wieder ertönten höchst ungesellschaftliche Reden.
+
+Raskolnikoff erkannte Katerina Iwanowna sofort. Sie war eine furchtbar
+abgemagerte Frau, von ziemlich hohem Wuchse, und schlank, mit noch
+schönem, dunkelblondem Haar; auf den Wangen waren die roten Flecke zu
+sehen. Sie wanderte in dem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände an die
+Brust gepreßt, mit vertrockneten Lippen, und atmete stoßweise und
+unregelmäßig. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, der Blick aber war
+scharf und unbeweglich, und dieses schwindsüchtige und erregte Gesicht
+machte einen schmerzlichen Eindruck bei der Beleuchtung des sterbenden
+Lichtes, das auf dem Gesichte zitterte. Sie schien Raskolnikoff etwa
+dreißig Jahre alt zu sein und in der Tat zu Marmeladoff nicht zu passen
+... Die Eintretenden hatte sie nicht gehört und nicht bemerkt; ihre
+Gedanken schienen abwesend zu sein, sie hörte und sah nichts. Im Zimmer
+war es dumpf, das Fenster war verschlossen; von der Treppe her kam ein
+mörderlicher Gestank, und die Tür zur Treppe war offen, aus den inneren
+Räumen drangen durch die geöffnete Tür Wolken von Tabakrauch, -- sie
+hustete, schloß aber die Tür nicht zu. Das kleinste Mädchen im Alter von
+sechs Jahren etwa, saß zusammengekauert auf der Diele und schlief mit
+dem Gesicht ans Sofa gelehnt. Der Knabe, ein Jahr älter, stand in einem
+Winkel, am ganzen Körper zitternd, und weinte. Er hatte wahrscheinlich
+soeben Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, von neun Jahren, hoch und
+dünn, wie ein Streichholz, stand in einem schlechten und völlig
+zerrissenen Hemdchen und in einem alten wattierten Mantel, der um die
+nackten Schultern geworfen und wahrscheinlich vor zwei Jahren gemacht
+war, da er ihr jetzt kaum bis zu den Knien reichte, in dem Winkel neben
+dem kleinen Bruder und hielt seinen Hals mit ihrem langen, dünnen Arm
+umschlungen. Sie schien ihn zu trösten, flüsterte ihm etwas zu und hielt
+ihn in jeder Weise zurück, damit er ja nicht weine, und gleichzeitig
+beobachtete sie voll Angst die Mutter mit ihren übergroßen, dunklen
+Augen, die in dem abgemagerten und erschrockenen Gesichtchen noch größer
+erschienen. Marmeladoff kniete, ohne das Zimmer zu betreten, an der Tür
+nieder und schob Raskolnikoff vor sich her. Als die Frau einen Fremden
+erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen, kam auf einen Augenblick
+zu sich und schien nachzudenken, warum er eingetreten sei. Aber sie
+meinte wohl, daß er in die andern Räume wollte, da der ihrige nur ein
+Durchgangszimmer war. Nachdem sie sich's so überlegt hatte, ging sie,
+ohne ihn weiter zu beachten, zu der Flurtür, um sie zu schließen. Da
+schrie sie plötzlich auf, als sie auf der Schwelle ihren knienden Mann
+erblickte.
+
+»Oh!« -- rief sie in blinder Wut. -- »Du bist zurückgekehrt! Du
+Zuchthäusler! Du Unmensch! ... Wo ist das Geld? Was hast du in der
+Tasche, zeige mir's! Und die Kleider sind nicht dieselben! Wo ist deine
+Uniform? Wo ist das Geld? Sprich! ...«
+
+Und sie stürzte sich auf ihn, um ihn zu durchsuchen. Marmeladoff
+streckte gehorsam und unterwürfig die Arme nach beiden Seiten aus, um
+ihr die Durchsuchung der Taschen zu erleichtern. Vom Gelde war keine
+Kopeke mehr da.
+
+»Wo ist das Geld?« -- schrie sie. -- »Oh, Gott, er wird doch nicht alles
+vertrunken haben! Es waren doch zwölf Rubel in dem Kasten! ...«
+
+Plötzlich packte sie ihn in rasender Wut an den Haaren und zerrte ihn in
+das Zimmer hinein. Marmeladoff erleichterte ihr die Mühe, indem er auf
+den Knien demütig hinter ihr herkroch.
+
+»Das ist mir ein Genuß! Das ist für mich kein Schmerz, sondern ein
+Ge--nuß, mein Herr!« -- rief er aus, während er an den Haaren gezerrt
+wurde und sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden schlug.
+
+Das Kind, das auf der Diele schlief, wachte auf und begann zu weinen.
+Der Knabe im Winkel fuhr zusammen, erschauerte, schrie auf und stürzte
+in furchtbarem Schreck, wie in einem Anfalle, zu der Schwester hin. Das
+älteste Mädchen bebte an allen Gliedern, wie ein Blatt unter einem
+Windstoß.
+
+»Du hast das Geld vertrunken! Hast alles, alles vertrunken!« -- schrie
+die arme Frau in Verzweiflung. -- »Und die Kleider sind nicht dieselben.
+Die da sind hungrig, hungrig!« -- (und händeringend zeigte sie auf die
+Kinder) -- »Oh, verfluchtes Leben! Und Sie ... schämen Sie sich nicht«
+-- mit diesen Worten stürzte sie sich unversehens auf Raskolnikoff. --
+»Sie da aus der Schenke! Du hast mit ihm getrunken? Hast mit ihm
+getrunken! Hinaus!« Der junge Mann schritt eilends hinaus, ohne ein Wort
+zu sagen. Die Türe zu den anderen Zimmern wurde sperrweit geöffnet, und
+einige Neugierige schauten herein. Dreiste, lachende Gesichter mit
+Zigaretten und Pfeifen im Munde, mit Mützen auf dem Kopfe zeigten sich.
+Man sah Gestalten in Schlafröcken und mit völlig nackter Brust, in
+leichter Bekleidung, die an Unanständigkeit grenzte, manche mit Karten
+in den Händen. Sie amüsierten sich vortrefflich und lachten, als
+Marmeladoff an den Haaren gezerrt ausrief, daß dies ihm ein Genuß sei.
+-- Man drängte sich sogar in das Zimmer; plötzlich erscholl ein wütendes
+Gekreische, -- Amalie Lippewechsel war herbeigeeilt, um selbst auf ihre
+Weise Ordnung zu schaffen und zum hundertsten Mal die arme Frau durch
+den zornigen Befehl, morgen schon die Wohnung zu räumen, zu erschrecken.
+Beim Fortgehen gelang es Raskolnikoff die Hand in die Tasche zu stecken,
+soviel von dem Kupfergelde, das man ihm in der Schenke auf den Rubel
+herausgegeben hatte, hervorzuholen, als er erfassen konnte, und es
+unbemerkt auf das Fensterbrett zu legen. Auf der Treppe besann er sich
+und wollte umkehren. »Was habe ich für eine Dummheit gemacht?« dachte
+er. »Sie haben ja Ssonja und ich brauche es doch selbst.«
+
+Nachdem er aber eingesehen hatte, daß es unmöglich war, das Geld
+zurückzunehmen, und daß er es sowieso nicht zurückgenommen hätte, machte
+er eine Bewegung mit der Hand und ging nach Hause.
+
+»Ssonja braucht Pomade,« fuhr er fort, während er auf der Straße ging,
+und lächelte bitter. »Diese Sauberkeit kostet Geld ... Hm! Ssonjetschka
+kann vielleicht heute Fiasko machen, denn es ist immer ein Risiko -- die
+Jagd auf dieses Wild ... wie das Graben nach Gold ... da würden sie dann
+alle ohne mein Geld morgen auf dem Trockenen sitzen ... Ja, die Ssonja!
+Welch einen Brunnen haben sie zu finden verstanden! Und sie benutzen
+ihn! Sie benutzen ihn trotz allem! Und haben sich daran gewöhnt! Sie
+haben geweint und haben sich daran gewöhnt. An alles gewöhnt sich der
+Schuft -- der Mensch!«
+
+Er verfiel in Nachdenken.
+
+»Wenn ich aber gelogen habe,« rief er plötzlich unwillkürlich aus. »Wenn
+der Mensch tatsächlich _kein Schuft_ ist, das ganze Geschlecht
+überhaupt, das heißt das menschliche Geschlecht es nicht ist, so
+bedeutet das, daß alles Vorurteil ist, bloß eingebildeter Schrecken, und
+es gibt also keine Hindernisse und so muß es auch sein! ...«
+
+
+ III.
+
+Er erwachte am anderen Tage spät nach einem unruhigen Schlafe; der
+Schlaf hatte ihn nicht gestärkt. Er erwachte griesgrämig, gereizt und
+böse, und blickte voll Haß seine Kammer an. Es war ein winziger Raum,
+sechs Schritt lang, und machte mit seiner gelblichen, staubigen und
+überall an den Wänden losgelösten Tapete einen kläglichen Eindruck; das
+Zimmer war so niedrig, daß es einem einigermaßen großen Manne bange
+wurde, und immer schien es, als könnte man jeden Augenblick mit dem Kopf
+an die Decke stoßen. Die Möbel entsprachen dem Raume, -- es waren drei
+alte Stühle da, in nicht ganz brauchbarem Zustande, in einer Ecke stand
+ein gestrichener Tisch, auf dem ein paar Hefte und Bücher lagen; schon
+aus dem Umstande, wie verstaubt sie waren, konnte man schließen, daß sie
+lange nicht berührt worden waren. Außerdem stand in dem Zimmer noch ein
+plumpes, großes Sofa, das fast die ganze Wand und die Hälfte des Zimmers
+einnahm, einst war es mit Kattun bezogen, jetzt war es zerfetzt; es
+diente Raskolnikoff als Bett. Er schlief darauf oftmals so, wie er ging
+und stand, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, bedeckt mit einem alten,
+abgerissenen Studentenmantel, unter dem Kopfe ein kleines Kissen,
+worunter er alles, was er an Wäsche, reiner und getragener, besaß,
+stopfte, um die Kopfstelle höher zu machen. Vor dem Sofa stand ein
+kleines Tischchen. Es hielt schwer, noch verkommener und zerlumpter zu
+sein, Raskolnikoff aber war das in seiner jetzigen Gemütsverfassung
+gerade angenehm. Er hatte sich, wie eine Schildkröte in ihrer Behausung,
+von allen völlig zurückgezogen; und das Gesicht des Mädchens, das
+verpflichtet war, ihn zu bedienen und das zuweilen in sein Zimmer einen
+Blick warf, reizte schon seine Galle und verursachte ihm Krämpfe. Das
+kommt bei manchen Leuten vor, die von einer Manie befallen sind, und die
+sich auf etwas besonders stark konzentriert haben. Seine Wirtin hatte
+seit zwei Wochen schon aufgehört, ihm Essen zu geben und er hatte noch
+nicht gedacht, zu ihr zu gehen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen,
+obwohl er ohne Mittag saß. Nastasja, die Köchin und das einzige Mädchen
+der Wirtin, war über die Stimmung des Mieters zum Teil froh und hatte
+aufgehört, sein Zimmer aufzuräumen und auszukehren; ab und zu jedoch,
+vielleicht einmal in der Woche, ergriff sie, wie zufällig, den Besen.
+Sie hatte ihn jetzt geweckt.
+
+»Steh auf, was schläfst du!« rief sie ihm zu. »Es ist schon zehn Uhr.
+Ich habe dir Tee gebracht. Willst du Tee? Bist wahrscheinlich schon ganz
+abgemagert?«
+
+Der junge Mann öffnete die Augen, zuckte zusammen und erkannte Nastasja.
+
+»Ist der Tee von der Wirtin?« fragte er und erhob sich langsam und mit
+schmerzlicher Miene vom Sofa.
+
+»Was dir einfällt, -- von der Wirtin!«
+
+Sie stellte ihre eigene gesprungene Teekanne mit altem aufgebrühtem Tee
+vor ihm hin und legte zwei Stück gelben Zucker daneben.
+
+»Nimm das, bitte, Nastasja,« sagte er, indem er in der Tasche suchte --
+(er hatte angekleidet geschlafen) -- und eine Handvoll Kupfermünzen
+hervorholte. »Gehe und kaufe mir Weißbrot. Hole auch ein wenig Wurst aus
+dem Laden, aber billige ...«
+
+»Weißbrot will ich dir sofort bringen, willst du aber nicht anstatt
+Wurst etwas Kohlsuppe haben? Die Kohlsuppe ist gut, sie ist von gestern.
+Ich hatte gestern für dich etwas aufbewahrt, aber du kamst erst so spät.
+Es ist eine gute Kohlsuppe.«
+
+Nachdem sie die Kohlsuppe gebracht hatte, setzte sich Nastasja neben ihm
+auf dem Sofa hin und begann, während er aß, zu plaudern. Sie war vom
+Lande und ein sehr geschwätziges Frauenzimmer.
+
+»Praskovja Pawlowna will dich bei der Polizei verklagen,« sagte sie.
+
+Er verzog das Gesicht.
+
+»Bei der Polizei? Was will sie denn?«
+
+»Du zahlst nicht und räumst das Zimmer nicht. Es ist begreiflich, was
+sie will.«
+
+»Zum Teufel, das fehlte noch,« murmelte er und knirschte mit den Zähnen.
+»Nein, das kommt mir jetzt ... sehr ungelegen ... Sie ist dumm,« fügte
+er laut hinzu. »Ich will heute noch zu ihr gehen und mit ihr sprechen.«
+
+»Sie ist dumm, ebenso wie ich; aber du, Kluger, was liegst du da, wie
+ein Sack, nichts hat man von dir. Früher, sagst du, hast du Kinder
+unterrichtet, warum machst du aber jetzt nichts?«
+
+»Ich mache ...« antwortete Raskolnikoff unwillig und finster.
+
+»Was machst du denn?«
+
+»Ich arbeite ...«
+
+»Was arbeitest du denn?«
+
+»Ich denke,« antwortete er nach einem Schweigen finster.
+
+Nastasja schüttelte sich vor Lachen. Sie war von den Lachlustigen, und
+wenn man sie zum Lachen reizte, lachte sie lautlos, aber am ganzen
+Körper bebend und sich schüttelnd, bis sie nicht mehr konnte.
+
+»Hast du viel Geld mit dem Denken verdient?« brachte sie endlich hervor.
+
+»Ohne Stiefel kann man doch nicht unterrichten. Und übrigens pfeife ich
+auf alles.«
+
+»Sei nicht zu stolz.«
+
+»Den Unterricht bezahlt man in Kupfer. Was soll man mit ein paar Kopeken
+anfangen?« fuhr er unwillig fort, als antworte er den eigenen Gedanken.
+
+»Du möchtest wohl ein ganzes Kapital auf einmal haben?«
+
+Er blickte sie sonderbar an.
+
+»Ja, ein ganzes Kapital,« antwortete er nach einem Schweigen
+entschlossen.
+
+»Fang mit kleinem an; du erschreckst einen ja. Soll ich dir jetzt
+Weißbrot holen oder nicht?«
+
+»Wie du willst!«
+
+»Ach, ich vergaß; gestern ist für dich ein Brief angekommen.«
+
+»Ein Brief! Für mich! Von wem?«
+
+»Von wem er ist -- das weiß ich nicht. Ich habe dem Briefträger drei
+Kopeken aus meiner eigenen Tasche gegeben. Gibst du sie mir wieder?«
+
+»Bring doch den Brief, um Gottes Willen, bring ihn gleich!« rief
+Raskolnikoff ganz erregt. »Oh, Gott!«
+
+Nach einer Minute kam der Brief. »Wirklich! Er ist von der Mutter, aus
+dem R.schen Gouvernement.« Er erbleichte sogar, als er ihn nahm. Lange
+schon hatte er keine Briefe erhalten, und jetzt bedrückte noch etwas
+anderes sein Herz.
+
+»Nastasja, geh fort, um Gotteswillen. Da hast du deine drei Kopeken, geh
+nur schnell fort, um Gotteswillen.«
+
+Der Brief zitterte in seinen Händen; er wollte ihn nicht in ihrer
+Anwesenheit öffnen, er wollte mit dem Briefe _allein_ sein. Als Nastasja
+gegangen war, führte er schnell den Brief an seine Lippen und küßte ihn;
+dann blickte er lange die Schrift auf dem Kuvert an, die bekannte und
+liebe, feine und schräge Schrift seiner Mutter, die ihn einst lesen und
+schreiben gelehrt hatte. Er zögerte, den Brief zu öffnen, schien sich
+sogar vor etwas zu fürchten. Endlich öffnete er den Brief, einen langen,
+gewichtigen Brief; zwei große Briefbogen waren dicht beschrieben.
+
+»Mein lieber Rodja,« schrieb die Mutter, »es ist über zwei Monate her,
+seit ich mit dir brieflich gesprochen habe; darunter habe ich selbst
+gelitten, und manche Nacht haben mich die Gedanken nicht schlafen
+lassen. Aber du wirst mich sicher nicht verurteilen wegen meines
+ungewollten Schweigens. Du weißt, wie ich dich liebe; du bist unser
+Einziges, mir und Dunja, du bist unser alles, unsere ganze Hoffnung,
+unser Trost. Ach, wenn du wüßtest, wie mir war, als ich erfuhr, daß du
+die Universität schon einige Monate verlassen hast, weil es dir an
+Mitteln mangelte, und daß das Stundengeben und deine anderen Arbeiten
+ein Ende genommen haben. Und wie hätte ich dir mit meiner Pension von
+hundertzwanzig Rubel jährlich helfen können? Die fünfzehn Rubel, die ich
+vor vier Monaten schickte, hatte ich, wie du auch weißt, von unserem
+hiesigen Kaufmann Wassilij Iwanowitsch Wachruschin auf die Pension hin
+geliehen. Er ist ein guter Mensch und war ein Freund deines Vaters. Aber
+da ich ihm das Recht, die Pension für mich zu empfangen, gegeben hatte,
+mußte ich warten, bis die Schuld abgetragen war, und das ist soeben erst
+geschehen, so daß ich die ganze Zeit dir nichts schicken konnte. Jetzt
+aber, Gott sei Dank, denke ich, dir wieder etwas schicken zu können, und
+überhaupt wir können jetzt sogar von einem Glück sprechen, und das
+beeile ich mich, dir mitzuteilen. Zuerst also kannst du es dir
+vorstellen, lieber Rodja, daß deine Schwester bereits anderthalb Monate
+bei mir lebt, und daß wir uns nie mehr, in aller Zukunft nicht, trennen
+werden. Gott sei Dank, ihre Qualen haben ein Ende gefunden, aber ich
+will dir alles der Reihe nach erzählen, damit du erfährst, wie alles war
+und was wir bis jetzt vor dir verheimlichten. Als du mir vor zwei
+Monaten schriebst, du hättest von irgend jemand gehört, daß Dunja stark
+unter der Grobheit im Hause der Herrschaften Sswidrigailoff zu leiden
+habe, und von mir genaue Aufklärung verlangtest, -- was hätte ich dir
+damals antworten können? Wenn ich dir die ganze Wahrheit mitgeteilt
+hätte, so hättest du wahrscheinlich alles liegen lassen, wärest, und sei
+es zu Fuß, zu uns gekommen, denn ich kenne deinen Charakter und deine
+Gefühle, du hättest nicht geduldet, daß deine Schwester beleidigt wird.
+Ich war ganz verzweifelt, aber was sollte ich tun? Und wußte damals
+selber nicht die ganze Wahrheit. Das Haupthindernis bestand darin, daß
+Dunetschka, bei ihrem Eintritt in das Haus als Gouvernante im vorigen
+Jahre volle hundert Rubel voraus erhalten hatte, unter der Bedingung,
+die Summe monatlich von ihrem Gehalte abzuzahlen, und so konnte sie die
+Stelle nicht eher aufgeben, als die Schuld getilgt war. Diese Summe aber
+(jetzt kann ich dir alles erklären, teurer Rodja) hatte sie eigentlich
+deshalb genommen, um dir die sechzig Rubel zu schicken, die du damals
+nötig brauchtest, und die du auch im vorigen Jahre von uns erhalten
+hast. Wir haben dich damals getäuscht; wir schrieben dir, es sei von dem
+Gelde, das Dunetschka sich früher erspart habe, aber es verhielt sich
+nicht so, jetzt erst teile ich dir die volle Wahrheit mit, weil sich
+alles jetzt plötzlich nach Gottes Willen zum besten gewendet hat, und
+damit du weißt, wie Dunja dich liebt und welch unschätzbares Herz sie
+hat. Herr Sswidrigailoff behandelte sie zuerst sehr grob und erlaubte
+sich ihr gegenüber allerhand Unhöflichkeiten und Spöttereien bei Tisch
+... Aber ich will all diese trüben Einzelheiten nicht aufzählen, und
+dich nicht unnütz aufregen, da alles nun ein Ende hat. Kurz, trotz der
+guten und anständigen Behandlung seitens Marfa Petrownas, der Gemahlin
+des Herrn Sswidrigailoff, und aller Hausgenossen, hatte es Dunetschka
+sehr schwer, besonders wenn Herr Sswidrigailoff nach alter
+Regimentsgewohnheit unter dem Einflusse des Bacchus stand. Aber was
+geschah später? Stelle dir vor, dieser Wahnwitzige hatte schon seit
+langem eine Leidenschaft für Dunja gefaßt, aber er verbarg sie immer
+unter dem Scheine eines groben und hochfahrenden Wesens ihr gegenüber.
+Vielleicht schämte er sich auch und war unmutig auf sich selbst, daß er,
+als älterer Mann und Familienvater, sich solchen leichtfertigen Wünschen
+hingab und war darum auf Dunja unwillkürlich böse. Vielleicht wollte er
+auch durch seine Grobheit und durch seinen Spott die Wahrheit vor
+anderen verbergen. Schließlich aber hielt er es nicht mehr aus und wagte
+Dunja offen einen gemeinen Antrag zu machen und versprach ihr hohe
+Belohnung. Alles wollte er sogar im Stiche lassen und mit ihr auf ein
+anderes Gut oder ins Ausland reisen. Du kannst dir ihre Leiden
+vorstellen! Sofort ihre Stellung aufgeben, konnte sie nicht, -- nicht
+bloß wegen der Schuld, sondern auch um Marfa Petrowna zu schonen, die
+dadurch Verdacht fassen mußte; damit wäre der Zwist in die Ehe gekommen.
+Ja, auch für Dunetschka hätte es einen großen Skandal gegeben; so ganz
+ohne Aufsehen wäre die Sache nicht vorübergegangen. Es gab noch manche
+andere Gründe, so daß Dunja, noch vor sechs Wochen, in keinem Falle
+rechnen konnte, aus diesem schrecklichen Hause fortzukommen. Du kennst
+ja Dunja, weißt, wie klug sie ist, und welch festen Charakter sie
+besitzt. Dunetschka kann vieles ertragen, und im alleräußersten Falle
+findet sie immer noch so viel Stärke in sich, daß sie ihre Festigkeit
+bewahrt. Sie hat nicht mal mir über alles berichtet, um mich nicht
+aufzuregen, wir haben aber sonst einander oft geschrieben. Es kam jedoch
+eine unerwartete Lösung. Marfa Petrowna hörte zufällig, wie ihr Mann
+Dunetschka im Garten anflehte, und da sie alles falsch aufgefaßt hatte,
+gab sie Dunetschka die Schuld, in der Meinung, sie habe es eingefädelt.
+Es spielte sich im Garten zwischen ihnen eine fürchterliche Szene ab, --
+Marfa Petrowna hat sogar Dunetschka geschlagen, wollte nichts hören,
+schrie aber selbst stundenlang fort und befahl schließlich, Dunja sofort
+zu mir in die Stadt zu bringen, -- auf einem gewöhnlichen Bauernwagen,
+in den man alle ihre Sachen, -- Wäsche, Kleider, alles, wie man es
+vorfand, ohne es zusammenzulegen und ohne einzupacken, hineinwarf. Bei
+strömendem Regen mit Schande und Schmach bedeckt, mußte Dunja siebzehn
+Werst weit im offenen Bauernwagen fahren. Nun überlege, was hätte ich
+dir, als Antwort auf deinen Brief vor zwei Monaten schreiben sollen? Ich
+war verzweifelt; die Wahrheit durfte ich dir nicht mitteilen, denn du
+wärest unglücklich, zornig und empört geworden, ja und was hättest du
+tun können? Vielleicht hättest du dich ins Verderben gestürzt. Und
+Dunetschka hatte es mir verboten. Den Brief aber mit Lappalien
+ausfüllen, während im Herzen solcher Kummer gräbt, habe ich nicht
+gekonnt. Einen Monat lang gingen in der ganzen Stadt allerhand
+Klatschereien über diese Geschichte herum, und es war so weit gekommen,
+daß ich mit Dunja vor verächtlichen Blicken und hämischem Flüstern nicht
+mal in die Kirche gehen konnte, selbst in unserer Gegenwart wurde laut
+darüber gesprochen. Alle Bekannten hatten sich von uns abgewandt, alle
+hatten aufgehört, uns zu grüßen, und ich erfuhr mit Bestimmtheit, daß
+die Kommis und einige Schreiber die Absicht hatten, uns eine
+niederträchtige Beleidigung anzutun, indem sie das Tor unseres Hauses
+mit Teer beschmieren wollten, so daß unsere Wirtsleute verlangten, wir
+möchten die Wohnung räumen. Das alles war das Werk von Marfa Petrowna;
+es war ihr gelungen, Dunja in allen Häusern zu beschuldigen und schlecht
+zu machen. Sie ist ja hier mit allen bekannt, und in diesem Monat kam
+sie fortwährend in die Stadt, und da sie ziemlich geschwätzig ist und
+über ihre Familienangelegenheiten zu erzählen liebt, besonders aber bei
+jedem und allen über ihren Mann klagt, was doch sehr häßlich ist, so
+hatte sich die ganze Geschichte in kurzer Zeit nicht bloß in der Stadt,
+sondern auch im Kreise verbreitet. Mich griff's hart an, Dunetschka aber
+war stärker, hättest du doch sehen können, wie sie alles ertrug, wie sie
+mich tröstete und mir Mut zusprach! Sie ist ein Engel! Aber dank der
+Barmherzigkeit Gottes nahmen unsere Qualen ein Ende, Herr Sswidrigailoff
+kam zur Besinnung, bereute alles, und wahrscheinlich aus Mitleid mit
+Dunja legte er Marfa Petrowna volle und klare Beweise der völligen
+Unschuld von Dunetschka vor, und zwar, -- einen Brief, den Dunja noch
+bevor Marfa Petrowna sie im Garten überraschte, ihm zu schreiben und zu
+übersenden sich gezwungen sah, um persönliche Erklärungen und das
+Verlangen geheimer Zusammenkünfte abzulehnen; dieser Brief war nach der
+Abreise von Dunetschka in den Händen des Herrn Sswidrigailoff geblieben.
+In diesem Briefe hatte sie ihn in eindringlichster Weise und mit voller
+Entrüstung gerade wegen seines ehrlosen Benehmens Marfa Petrowna
+gegenüber getadelt, ihm vorgehalten, daß er Vater und Gatte sei, und ihm
+schließlich zu verstehen gegeben, wie niedrig es von ihm sei, ein
+wehrloses und ohnedem schon unglückliches Mädchen zu quälen und noch
+unglücklicher zu machen. Mit einem Worte, lieber Rodja, dieser Brief ist
+so edel und rührend geschrieben, daß ich schluchzend ihn las und ihn
+jetzt noch nur unter Tränen lesen kann. Außerdem kamen zur
+Rechtfertigung Dunjas die Aussagen der Dienstboten hinzu, die wie
+gewöhnlich viel mehr gesehen und gehört hatten, als Herr Sswidrigailoff
+ahnte. Marfa Petrowna war außergewöhnlich bestürzt und >von neuem
+zerschmettert,< wie sie uns selbst gestand, aber völlig von der
+Schuldlosigkeit Dunetschkas überzeugt; am anderen Tage noch, einem
+Sonntage, fuhr sie direkt in die Kirche und flehte zur Mutter Gottes
+kniefällig und mit Tränen, ihr die Kraft zu geben, diese neue Prüfung zu
+überstehen und ihre Pflicht zu erfüllen. Aus der Kirche kam sie zu uns,
+ohne jemand anderen zu besuchen, erzählte uns alles, weinte bitter und
+umarmte Dunja voller Reue und bat inständig um ihre Verzeihung. Am
+selben Morgen noch ging sie gleich von uns in alle Häuser der Stadt, und
+überall erzählte sie unter Tränen und in für Dunetschka
+schmeichelhaftesten Ausdrücken von Dunjas Unschuld und ihrem edlen Gemüt
+und Benehmen. Und nicht genug damit, sie zeigte allen den eigenhändigen
+Brief Dunetschkas an Sswidrigailoff, las ihn laut vor und erlaubte sogar
+Abschriften von dem Briefe zu nehmen, -- was mir wirklich zu viel
+scheint. In dieser Weise mußte sie einige Tage nacheinander alles in der
+Stadt besuchen, weil mancher sich gekränkt fühlte, daß anderen der
+Vorzug erwiesen war; es wurde also eine Reihenfolge bestimmt, so daß man
+sie in jedem Hause zu einer festgesetzten Zeit erwartete, und alle
+wußten, daß an dem und dem Tage Marfa Petrowna dort und dort den Brief
+vorlesen würde, und zu jedem Vorlesen kamen Leute, auch solche, die den
+Brief schon ein paarmal, sowohl in ihrem eigenen Hause, als auch bei
+Bekannten, gehört hatten. Meiner Meinung nach war hierbei vieles, sehr
+vieles überflüssig, aber Marfa Petrowna hat nun mal so einen Charakter.
+Sie hat wenigstens die Ehre von Dunetschka vollkommen wiederhergestellt
+und was an dieser Sache prekär, fiel wie eine untilgbare Schande ihrem
+Mann, als dem allein Schuldigen zu Lasten, so daß er mir doch zuletzt
+leid tat; man ist zu streng mit diesem Wahnwitzigen umgegangen. Dunja
+wurde sofort aufgefordert, in einigen Häusern Unterricht zu geben,
+allein sie schlug es ab. Überhaupt begannen alle mit einem Male ihr eine
+besondere Achtung zu zeigen. Dies alles half hauptsächlich ein Ereignis
+herbeiführen, durch das sich, man kann wohl sagen, jetzt unser ganzes
+Schicksal ändert. Du sollst wissen, lieber Rodja, daß Dunja einen Antrag
+von einem Herrn erhalten hat und daß sie ihre Einwilligung bereits
+gegeben hat, was ich dir eilends hierdurch mitteile. Obwohl die Sache
+sich auch ohne deinen Ratschlag entschieden hat, wirst du wahrscheinlich
+weder über mich noch über deine Schwester ungehalten sein; du wirst
+selbst aus dem Verlauf der Angelegenheit ersehen, daß wir unmöglich
+warten und die Antwort bis zu dem Empfang deines Briefes hinausschieben
+konnten. Ja, und du hättest auch nur an Ort und Stelle alles genau
+beurteilen können. Es ging also folgendermaßen vor sich: Er ist schon
+Hofrat, heißt Peter Petrowitsch Luschin und ist ein weitläufiger
+Verwandter von Marfa Petrowna, die diese Angelegenheit sehr gefördert
+hat. Er begann damit, daß er durch Marfa Petrowna den Wunsch äußern
+ließ, mit uns bekannt zu werden; er wurde, wie es sich ziemt, empfangen,
+trank bei uns Kaffee, und am nächsten Tage schickte er einen Brief, in
+dem er sehr höflich seinen Antrag machte und um eine baldige und
+bestimmte Antwort bat. Er ist ein arbeitsamer und vielbeschäftigter Mann
+und will jetzt schleunigst nach Petersburg reisen, so daß für ihn jeder
+Augenblick kostbar ist. Selbstverständlich waren wir zuerst sehr
+überrascht, da dies schnell und unerwartet gekommen war. Wir erwogen und
+überlegten den ganzen Tag miteinander. Er ist ein zuverlässiger Mann, in
+gesicherten Verhältnissen, nimmt zwei Stellungen ein und besitzt schon
+eigenes Vermögen. Gewiß, er ist schon fünfundvierzig Jahre alt, hat aber
+ein ganz angenehmes Äußere und kann noch Frauen gefallen; ja, er ist
+überhaupt ein sehr solider und anständiger Mann, bloß ein wenig düster
+und anscheinend hochmütig. Aber vielleicht scheint es bloß so beim
+ersten Anblick. Ja, und ich gebe dir den guten Rat, lieber Rodja, wenn
+du ihn in Petersburg sehen wirst, was sehr bald geschehen kann, urteile
+nicht zu schnell und hitzig, wie es dir eigen ist, wenn bei der ersten
+Begegnung dir etwas an ihm nicht so gut gefallen will. Ich sage das bloß
+für alle Fälle, denn ich bin überzeugt, daß er auf dich einen angenehmen
+Eindruck machen wird. Zudem, um einen fremden Menschen einzuschätzen,
+muß man sich ihm allmählich und vorsichtig nähern, damit man keinen
+Fehler begeht und keine Voreingenommenheit faßt, die später sehr schwer
+zu berichtigen und zu beseitigen ist. Peter Petrowitsch ist, wenigstens
+nach vielen Anzeichen, ein sehr ehrenwerter Mann. Bei seinem ersten
+Besuche schon erklärte er, daß er ein resoluter Mann sei, aber daß er in
+vielem >die Überzeugungen der jüngeren Generation< -- wie er sich
+ausdrückte -- teile, und ein Feind von allen Vorurteilen sei. Er sprach
+noch über vieles, denn er scheint ein wenig eingebildet zu sein und es
+zu lieben, daß man ihm zuhöre, aber das ist ja kein Fehler. Ich habe
+natürlich wenig davon begriffen, aber Dunja versicherte mir, daß er
+keine sehr große Bildung besitze, aber ein kluger und wie es scheint,
+auch guter Mensch sei. Du kennst den Charakter deiner Schwester Rodja.
+Sie ist ein starkes, vernünftiges, geduldiges und großmütiges Mädchen,
+freilich auch feurigen Herzens, so wie ich sie kenne. Gewiß ist weder
+auf ihrer, noch auf seiner Seite eine besondere Liebe vorhanden, aber
+Dunja ist nicht allein ein kluges Mädchen, sondern gleichzeitig auch ein
+edles Wesen, ein Engel, und wird es sich zur Aufgabe stellen, das Glück
+des Mannes auszumachen, der seinerseits für ihr Glück Sorge tragen wird;
+daran aber zu zweifeln haben wir vorläufig keine Ursache, obwohl --
+offen gestanden -- die Sache mir ein wenig zu schnell zustande kam.
+Außerdem ist er ein berechnender Mann, der sicher einsehen wird, daß
+sein eigenes Glück in der Ehe um so fester begründet ist, je glücklicher
+er Dunetschka macht. Was aber irgendwelche Unebenheiten des Charakters,
+irgendwelche alte Gewohnheiten und sogar ein gewisses Auseinandergehen
+in den Anschauungen anbetrifft -- (und das ist auch in den glücklichsten
+Ehen nicht zu vermeiden) -- so sagte mir Dunetschka, daß sie in dieser
+Hinsicht auf sich vertraut, daß es keinen Grund gibt, darüber beunruhigt
+zu sein und daß sie vieles ertragen kann, wenn nur gegenseitige
+Ehrlichkeit und Gerechtigkeit herrscht. Mir schien er zum Beispiel
+zuerst etwas hart, aber das kann auch von seiner Offenherzigkeit kommen
+und so wird es wohl auch sein. Bei seinem zweiten Besuche, als er das
+Jawort hatte, äußerte er im Gespräch, daß er schon früher, ehe er Dunja
+kennengelernt habe, beschlossen habe, ein ehrliches, aber armes Mädchen
+zu heiraten und unbedingt eines, das die Armut schon gekostet habe, denn
+ein Mann solle nach seiner Meinung seiner Frau durch nichts verpflichtet
+sein, sondern das sei das richtige, daß die Frau den Mann als ihren
+Wohltäter betrachte. Ich will hinzufügen, daß er sich ein wenig weicher
+und zarter ausdrückte, als ich es schreibe, denn ich habe den richtigen
+Wortlaut vergessen, erinnere mich bloß des Sinnes, und zudem hatte er
+das keineswegs mit Absicht gesagt, sondern hatte sich offenbar in Eifer
+gesprochen, darum versuchte er später, es abzuschwächen und zu mildern.
+Dennoch erschien es mir ein wenig zu scharf, und ich sprach darüber
+nachher mit Dunja. Sie aber antwortete mir sogar, daß >Worte noch keine
+Taten sind,< und das ist auch wahr. Ehe Dunja sich zu diesem Schritt
+entschloß, verbrachte sie eine schlaflose Nacht, und in der Meinung, daß
+ich schliefe, stand sie auf und ging die ganze Nacht im Zimmer auf und
+ab; schließlich ließ sie sich auf die Knie nieder und betete lange und
+inbrünstig vor der Mutter Gottes, und am andern Morgen erklärte sie mir,
+sie hätte sich entschieden.
+
+Ich habe schon erwähnt, daß Peter Petrowitsch sich jetzt nach Petersburg
+begibt. Er hat dort große Geschäfte vor, will in Petersburg ein
+öffentliches Bureau als Advokat eröffnen. Er beschäftigt sich seit
+langem schon mit Vertretung von allerhand Zivilklagen und Prozessen, und
+hat vor kurzem einen bedeutenden Prozeß gewonnen. Nach Petersburg muß er
+auch deswegen reisen, weil er dort im Senate eine bedeutende Sache zu
+vertreten hat. So kann er auch dir, lieber Rodja, sehr nützlich sein, ja
+in jeder Hinsicht, und wir -- ich und Dunja -- meinen nun, daß mit dem
+heutigen Tage deine künftige Karriere mit Sicherheit beginnt und daß
+dein Schicksal klar vor Augen liegt. Oh, wenn es sich schon verwirklicht
+hätte! Das wäre so ein Glück, daß man es nicht anders, als eine
+unmittelbare Gnadenspende des Allmächtigen an uns betrachten müßte. Das
+ist Dunjas Traum. Wir haben schon gewagt, ein paar Worte in dieser
+Hinsicht Peter Petrowitsch zu sagen. Er äußerte sich vorsichtig und
+meinte, daß er gewiß ohne einen Sekretär nicht auskommen könne, und da
+sei es selbstverständlich besser, das Gehalt dafür einem Verwandten als
+einem Fremden zu zahlen, wenn er sich bloß für den Posten eigne, -- (du
+solltest dich dazu nicht eignen!) -- gleichzeitig aber zweifelte er, daß
+das Universitätsstudium die Zeit für die Arbeiten in seinem Bureau übrig
+ließe. Diesmal blieb die Angelegenheit dabei stehen, aber Dunja denkt an
+nichts anderes mehr als an diese Aussicht. Sie ist seit einigen Tagen
+fieberhaft erregt, und hat sich einen ganzen Plan ausgedacht, daß du
+nämlich späterhin Mitarbeiter und sogar Kompagnon von Peter Petrowitsch
+in seinen Rechtssachen werden könntest, um so mehr, als du in der
+juristischen Fakultät bist. Ich bin mit ihr vollkommen einig, lieber
+Rodja, teile alle ihre Pläne und Hoffnungen und halte ihre völlige
+Verwirklichung für möglich. Und trotzdem Peter Petrowitsch sich jetzt
+zurückhaltend verhält, was sehr erklärlich ist, da er dich noch nicht
+kennt, so ist Dunja fest überzeugt, daß sie alles durch ihren guten
+Einfluß auf ihren künftigen Mann erreichen wird. Wir haben uns natürlich
+in acht genommen, Peter Petrowitsch etwas von unseren Zukunftsträumen
+und hauptsächlich davon, daß du sein Kompagnon werden sollst, merken zu
+lassen. Er ist ein nüchterner Mann und hätte es vielleicht sehr kalt
+aufgenommen, weil er alles für Phantasterei angesehen hätte. Ebensowenig
+haben wir, weder ich, noch Dunja, einen Ton über unsere feste Hoffnung
+gesprochen, daß er uns helfen soll, dich mit Geld zu unterstützen,
+solange du auf der Universität bist; wir haben es deswegen unterlassen,
+weil es sich späterhin jedenfalls von selbst ergeben und weil er sicher
+ohne viele Worte es uns anbieten wird -- (er wird doch Dunetschka es
+nicht abschlagen können!) -- um so mehr, als du seine rechte Hand im
+Bureau werden kannst, und diese Unterstützung nicht als eine Wohltat,
+sondern als verdientes Gehalt empfangen sollst. Dunetschka will es so
+einrichten, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden. Außerdem
+unterließen wir es, darüber zu sprechen, weil ich bei eurer
+bevorstehenden Begegnung dich auf gleichem Fuße mit ihm stehen sehen
+wollte. Wenn Dunja mit ihm voll Entzücken über dich sprach, antwortete
+er, daß man jeden Menschen selbst zuerst sehen, und zwar sehr nah sehen
+müsse, um über ihn urteilen zu können, und daß er sich das Recht
+vorbehalte, seine Meinung über dich zu bilden, erst nachdem er dich
+kennengelernt habe. Weißt du was, mein teurer Rodja, mir scheint es aus
+gewissen Gründen, -- die übrigens gar nichts mit Peter Petrowitsch zu
+tun haben, sondern so meine eigenen gewissen, persönlichen, vielleicht
+auch altweibischen Launen sind, -- also mir scheint es, daß ich
+vielleicht besser tue, wenn ich nach ihrer Verheiratung allein, so wie
+jetzt, und nicht mit ihnen zusammenleben werde. Ich bin völlig
+überzeugt, daß er so erkenntlich und zartfühlend sein wird, selber mir
+das Angebot zu machen, bei der Tochter zu bleiben und wenn er darüber
+bis jetzt nicht gesprochen hat, so kam es selbstverständlich daher, weil
+es auch ohne Worte so anzunehmen ist, aber ich will es ablehnen. Ich
+habe in meinem Leben mehr als einmal erfahren, daß Schwiegermütter den
+Männern nicht besonders genehm sind, und ich möchte niemandem im
+geringsten zur Last fallen und möchte auch selbst vollkommen frei sein,
+solange ich noch einen Bissen zu essen und solche Kinder, wie dich und
+Dunetschka, zu lieben habe. Wenn es mir möglich ist, will ich mich in
+der Nähe von euch beiden niederlassen, denn das angenehmste habe ich zum
+Schluß des Briefes aufgehoben, Rodja. Erfahre nun, mein lieber Freund,
+daß wir alle vielleicht sehr bald wieder zusammen sein und alle drei uns
+nach fast dreijähriger Trennung umarmen werden! Es ist schon _bestimmt_
+beschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg kommen, wann aber -- das
+weiß ich noch nicht, in jedem Falle sehr, sehr bald, vielleicht schon in
+einer Woche. Alles hängt von den Anordnungen Peter Petrowitschs ab, der
+uns sofort, wenn er sich in Petersburg umgesehen hat, Nachricht geben
+will. Er will die Vorbereitungen zur Heirat aus verschiedenen Erwägungen
+möglichst beschleunigen, und wenn möglich, die Hochzeit noch vor dem
+großen Fasten feiern, sollte es aber infolge der kurzen Frist nicht
+ausführbar sein, dann gleich nach den Osterfeiertagen. Oh, mit welch
+einem Glück werde ich dich an mein Herz pressen! Dunja ist vor Freude
+dich wiederzusehen ganz aufgeregt und sagte einmal im Scherz, daß sie
+schon deswegen allein Peter Petrowitsch heiraten würde. Sie ist ein
+Engel! Sie schreibt dir nicht, hat mich aber gebeten, dir zu schreiben,
+daß sie über so vieles mit dir sprechen müsse, über so vieles, daß ihre
+Hand sich jetzt gegen die Feder sträube, denn in ein paar Zeilen könne
+man nichts mitteilen, sondern sich nur aufregen. Sie bat mich, dich
+innig, innig zu umarmen und dir unzählige Küsse zu senden. Trotzdem wir
+uns vielleicht sehr bald sehen werden, will ich dir doch in diesen Tagen
+Geld, soviel ich vermag, zuschicken. Jetzt, wo alle wissen, daß
+Dunetschka Peter Petrowitsch heiratet, hat sich auch mein Kredit
+plötzlich gebessert, und ich weiß bestimmt, daß Afanassi Iwanowitsch mir
+jetzt auf Konto der Pension sogar bis zu fünfundsiebzig Rubel zu leihen
+bereit ist, so daß ich dir vielleicht fünfundzwanzig oder auch dreißig
+Rubel schicken kann. Ich würde noch mehr schicken, aber ich fürchte
+unsere Reisekosten. Obwohl Peter Petrowitsch so gut war, einen Teil der
+Ausgaben für unsere Reise nach der Residenz zu übernehmen, -- er hat
+sich nämlich selbst angeboten, unser Gepäck und einen großen Koffer für
+seine Rechnung hinzuschicken (er arrangiert es in irgendeiner Weise
+durch Bekannte), müssen wir doch mit der Reise nach Petersburg rechnen
+und damit, daß man dort nicht ohne einen Groschen ankommen kann und
+wenigstens für die ersten paar Tage das Nötige haben muß. Wir haben
+übrigens alles genau überschlagen, und es zeigte sich, daß uns die Reise
+nicht zu teuer zu stehn kommt. Von uns bis zur Eisenbahn sind es nur
+neunzig Werst, und wir haben für jeden Fall mit einem bekannten Bauern
+schon abgeschlossen; die Fortsetzung der Reise aber werden wir, ich und
+Dunetschka, glücklich und zufrieden in der dritten Klasse machen. Dann
+kriege ich es vielleicht fertig, dir nicht nur fünfundzwanzig, sondern
+dreißig Rubel zu schicken. Nun aber genug: zwei Bogen habe ich voll
+geschrieben und es ist kein Platz mehr da. Unsere ganze Geschichte habe
+ich dir erzählt, -- nun, es hat sich auch ein Haufen Ereignisse
+angesammelt. Jetzt, mein teurer Rodja, umarme ich dich bis zu unserem
+nahen Wiedersehen und sende dir meinen mütterlichen Segen. Rodja, liebe
+deine Schwester Dunja; liebe sie so, wie sie dich liebt, und vergiß
+nicht, daß sie dich grenzenlos, mehr als sich selbst, liebt. Sie ist ein
+Engel und du Rodja, bist unser alles, unsere ganze Hoffnung und unser
+Trost. Sei du bloß glücklich, dann werden auch wir glücklich sein.
+Betest du zu Gott, Rodja, wie früher und glaubst du auch an die Güte des
+Schöpfers und unseres Erlösers? Ich fürchte im Herzen, daß der neueste
+moderne Unglaube auch dich berührt haben kann. Wenn es so ist, dann bete
+ich für dich. Erinnerst du dich, mein Lieber, wie du, als dein Vater
+noch lebte, in deiner Kindheit auf meinen Knien deine Gebete
+stammeltest, und wie glücklich waren wir alle damals. Lebe wohl, oder
+besser, -- _auf Wiedersehen_! Ich umarme dich innig, innig und küsse
+dich unzähligemal.
+
+ Dein bis zum Tode
+ Pulcheria Raskolnikowa.«
+
+Fast die ganze Zeit, während Raskolnikoff den Brief las, von den ersten
+Zeilen an, war sein Gesicht naß von Tränen; als er aber geendet hatte,
+war sein Gesicht bleich und zuckte, und ein hartes, bitteres, böses
+Lachen lag auf seinen Lippen. Er lehnte seinen Kopf an das dünne und
+abgenutzte Kissen und dachte lange, lange nach. Sein Herz schlug stark,
+und die Gedanken wogten hin und her. Es wurde ihm schließlich zu dumpf
+und eng in dieser gelben Kammer, die einem Käfig oder einem Kasten
+glich. Die Augen und die Gedanken verlangten eine freie Weite. Er nahm
+seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu
+begegnen: das hatte er vergessen. Er schlug den Weg in der Richtung nach
+Wassiljew Ostroff ein, den W.ski-Prospekt entlang, als hätte er dort
+eine eilige Angelegenheit, er ging aber, wie es seine Gewohnheit war,
+ohne den Weg zu beachten, flüsterte vor sich hin und sprach hin und
+wieder laut mit sich selbst; so daß er den Vorübergehenden auffiel, und
+viele hielten ihn für betrunken.
+
+
+ IV.
+
+Der Brief der Mutter hatte ihn sehr erschüttert. Über die Hauptsache
+aber, das Moment, um das sich alles drehte, war er auch nicht einen
+Augenblick im Zweifel, nicht einmal während des Lesens. Ihrem Wesen nach
+war die Sache für ihn entschieden: »Diese Heirat kommt nicht zustande,
+solange ich lebe, und hol' der Teufel den Herrn Luschin!«
+
+»Die ganze Geschichte ist klipp und klar,« murmelte er höhnisch lachend
+und im voraus triumphierend über die Folgen seines Entschlusses. »Nein,
+liebe Mama, nein, Dunja, ihr könnt mich nicht täuschen! ... Und da
+entschuldigen sie sich, daß sie mich nicht um Rat gefragt und ohne mich
+die Sache gemacht haben! Haben auch Grund dazu! Sie meinen, daß man es
+nicht mehr zerreißen kann; wir wollen mal sehen, ob es möglich ist oder
+nicht! Sie haben auch eine glänzende Ausrede gefunden -- Peter
+Petrowitsch sei so beschäftigt, so beschäftigt, daß er nicht anders, als
+per Postpferde, fast per Eisenbahn, heiraten kann. Nein, Dunetschka, ich
+durchschaue alles und weiß, worüber du mit mir _so viel_ sprechen
+möchtest. Ich weiß auch, worüber du die ganze Nacht im Zimmer auf- und
+abgehend nachgedacht hast, und was du vor dem Bilde der Gottesmutter,
+das bei Mama im Schlafzimmer hängt, gebetet hast. Es ist schwer,
+Golgatha hinaufzugehen ... Hm ... Also es ist endgültig beschlossen.
+Awdotja Romanowna, Sie geruhen also einen tüchtigen und resoluten Mann
+zu heiraten, der eigenes Vermögen besitzt -- (der _schon_ eigenes
+Vermögen besitzt, das ist solider und ehrfurchtgebietender) -- der zwei
+Stellungen einnimmt und der die Überzeugungen unserer jüngeren
+Generation teilt (wie Mama sagt) und der, wie es scheint, gut ist, wie
+Dunetschka selbst sagt. Dieses >_wie es scheint_< ist das großartigste
+dabei! Und Dunetschka heiratet dieses >_wie es scheint_<! ... Großartig!
+Großartig!
+
+Es ist jedoch interessant, warum Mama mir über >die jüngere Generation<
+geschrieben hat? Bloß um die Person zu charakterisieren oder mit einer
+weitliegenden Absicht, -- um mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen?
+Oh, ihr Schlauen! Es wäre auch interessant, noch einen Umstand
+aufzuklären, -- wie weit war an jenem Tage und in jener Nacht ihre
+beiderseitige Offenherzigkeit und auch in der folgenden Zeit? Wurde
+_alles_ unter ihnen Wort für Wort besprochen, oder haben beide gefühlt,
+daß sie, eine wie die andere, ein und dasselbe auf dem Herzen hatten, so
+daß es überflüssig war, alles laut werden zu lassen und womöglich zu
+viel zu sagen. Sicher war es größtenteils so gewesen; man sieht's aus
+dem Briefe. Mama schien er _ein wenig_ hart, und die naive Mama wandte
+sich sofort an Dunja mit Bemerkungen. Die wurde selbstverständlich böse
+und >antwortete verstimmt<. Das ist begreiflich! Wen wird es nicht
+wütend machen, wenn eine Sache auch ohne naive Fragen klar genug ist,
+und wenn ausgemacht ist, daß daran nicht mehr zu rütteln ist. Und warum
+schreibt sie mir: >Rodja, liebe Dunja! Sie liebt dich mehr als sich
+selbst<. Wird sie etwa im geheimen von Gewissensbissen gequält, daß sie
+eingewilligt hat, die Tochter für den Sohn zu opfern. >Du bist unser
+Trost, du bist unser Alles! Oh, Mama! ...<«
+
+Der Zorn packte ihn immer stärker, und wäre Herr Luschin ihm jetzt
+begegnet, er hätte sich an ihm vergriffen!
+
+»Hm ... das ist wahr,« spann er die Gedanken weiter, die sich wie im
+Wirbelwinde in seinem Kopfe drehten. »Das ist wahr, daß man sich >einem
+Menschen allmählich und vorsichtig nähern muß, um ihn kennenzulernen,<
+Herr Luschin ist einem auch so verständlich. Die Hauptsache ist >ein
+tüchtiger und _wie es scheint_ guter Mensch<; es hat ja was zu sagen,
+daß er das Gepäck übernommen hat und für seine Rechnung den großen
+Koffer transportiert! Nun, ist er denn nicht gut? Die beiden aber, _die
+Braut_ und die Mutter, akkordieren mit einem Bauern und reisen in einem
+mit Strohmatten gedeckten Wagen -- ich kenn es ja selber! Das hat ja
+auch nichts zu sagen! Es sind bloß neunzig Werst, weiter aber >fahren
+wir zufrieden und glücklich dritter Klasse< -- also über tausend Werst.
+Es ist auch vernünftig, -- man muß sich nach der Decke strecken; aber
+Sie, Herr Luschin, was denken Sie dabei? Es ist ja Ihre Braut ...
+Sollten Sie etwa nicht wissen, daß Mutter sich das Geld zur Reise auf
+ihre Pension hin leiht? Gewiß, Sie haben hier ein gemeinsames
+kaufmännisches Geschäft, ein Unternehmen auf gegenseitigen Vorteil und
+mit gleichlautenden Anteilen, folglich fallen die Ausgaben auch in
+gleiche Teile; wie nach dem Sprichworte, -- Salz und Brot zusammen,
+Tabak aber jeder für sich. Ja, aber auch hier hat der geschäftstüchtige
+Mann die beiden ein wenig übers Ohr gehauen, -- das Gepäck kommt ihm
+billiger als ihre Reise zu stehen, und vielleicht kostet das Gepäck ihm
+gar nichts. Sehen denn beide es nicht oder wollen sie es nicht sehen?
+Sie sind ja zufrieden, sind beide zufrieden! Wenn man aber denkt, daß
+dies erst der Anfang ist und daß das dicke Ende später nachkommt! Was
+fällt einem hier am meisten auf, -- nicht der Geiz, nicht die schmutzige
+Rechnerei, sondern _der Ton_ des Ganzen. Das ist ja der künftige Ton
+nach der Verheiratung, die warnende Prophezeiung ... Ja, und die Mama,
+warum ist sie so flott? Mit was kommt sie nach Petersburg? Mit drei
+Rubel oder mit zwei >Scheinchen,< wie die ... Alte sagt ... hm! Wovon
+will sie denn in Petersburg leben? Sie hat schon aus irgendwelchen
+Anzeichen herausgefunden, daß sie mit Dunja nach der Verheiratung nicht
+zusammenleben kann, nicht mal in der ersten Zeit. Der liebe Mensch hat
+sich auch hier sicher irgendwie versprochen, hat es zu verstehen
+gegeben, obwohl Mama sich mit beiden Händen dagegen sträubt, -- >ich
+will,< sagt sie, >es selbst ablehnen<. Ja, auf was hofft sie denn noch
+-- mit ihrer Pension von hundertundzwanzig Rubel, von der noch die
+Schuld an Afanassi Iwanowitsch abgezogen wird? Sie strickt dann zu Hause
+Tücher, stickt Manschetten und verdirbt sich die alten Augen, und das
+bringt ihr zwanzig Rubel im Jahre ein zu der Pension, das kenne ich.
+Also, hofft man doch und baut auf die Freigiebigkeit und die Großmut des
+Herrn Luschin. >Er wird es mir selbst anbieten,< meint sie, >wird mich
+darum bitten.< Nein, darauf kann sie lange warten. So geht es stets
+diesen schönen Schillerschen Seelen, -- bis zum letzten Moment schmücken
+sie einen Menschen mit Pfauenfedern, bis zum letzten Moment glauben sie
+an das Gute und nicht an das Böse im Menschen; obwohl sie die Kehrseite
+der Medaille ahnen, belügen sie sich lieber selbst, weil sie sich vor
+der Wahrheit fürchten. Mit beiden Händen wehren sie sich dagegen, bis
+ihnen schließlich der ausgeschmückte Mensch eigenhändig einen
+Nasenstüber gibt. Es wäre interessant zu wissen, ob Herr Luschin Orden
+hat; ich gehe eine Wette ein, daß er den Orden der heiligen Anna im
+Knopfloche stecken hat und daß er ihn zu Diners bei allerhand Kaufleuten
+und Lieferanten trägt. Vielleicht wird er ihn auch zur Feier seiner
+Hochzeit anlegen! übrigens, hol ihn der Teufel! ... Nun, gegen Mama ist
+nichts zu sagen, sie ist einmal so, aber was ist mit Dunja? Liebe
+Dunetschka, ich kenne sie doch! Sie war bereits zwanzig Jahre alt, als
+wir uns zum letztenmal sahen, ihren Charakter habe ich schon damals
+verstanden. Die Mama schreibt >Dunetschka kann vieles ertragen<. Das
+wußte ich schon früher. Das wußte ich bereits vor zweiundeinhalb Jahren,
+und seit jener Zeit habe ich nachgedacht, zweiundeinhalb Jahre habe ich
+gerade darüber nachgedacht, wie vieles Dunetschka ertragen kann? Denn
+Herrn Sswidrigailoff mit all dem Folgenden ertragen zu können, heißt
+viel ertragen können. Jetzt aber meint sie, wie auch Mama, daß man den
+Herrn Luschin als zukünftigen Ehemann ebenfalls ertragen kann, der die
+Theorie über die Vorzüge von Frauen vertritt, die von Hause aus
+bettelarm sind und folglich von ihren Männern nur Wohltaten empfingen,
+und der dies fast bei der ersten Zusammmkunft auseinandersetzt. Nun,
+gut, wollen wir annehmen, er habe >sich versprochen,< obwohl er doch ein
+verständiger Mann ist, der sich vielleicht gar nicht versprochen,
+sondern sofort ihre richtige Stellung klargestellt wissen wollte, aber
+Dunja, Dunja, was ist mit ihr? Sie durchschaut doch den Menschen klar
+und deutlich, und muß mit ihm leben. Sie würde lieber schwarzes Brot
+essen und Wasser dazu trinken, als ihre Seele verkaufen; sie würde ihre
+sittliche Freiheit für keinen Komfort hergeben; für ganz
+Schleswig-Holstein würde sie sie nicht hergeben, geschweige denn für
+einen Herrn Luschin. Nein, Dunja war nicht so, soweit ich sie kannte,
+und ... hat sich sicher nicht verändert! ... Was ist da zu sagen!
+Sswidrigailoffs sind bitter! Es ist bitter, sein ganzes Leben als
+Gouvernante für zweihundert Rubel in der Provinz herumzuwandern, aber
+ich weiß, daß meine Schwester lieber als Neger zu einem
+Plantagenbesitzer oder als lettischer Bauer zu einem Deutschen in den
+Ostseeprovinzen sich verdingen würde, als ihren Geist und ihr sittliches
+Empfinden durch die Verbindung mit einem Manne zu besudeln, den sie
+nicht achtet und mit dem sie nichts verbindet -- auf ewig, aus
+persönlichem Vorteil bloß! Und wäre Herr Luschin sogar aus reinstem
+Golde oder aus einem einzigen Brillanten, auch dann würde sie nie
+einverstanden sein, die gesetzliche Bettgenossin des Herrn Luschin zu
+werden! Warum willigt sie denn ein? Wo ist der Schlüssel? Wo ist die
+Lösung? Die Sache ist klar, -- ihrer selber wegen, um eigener
+Annehmlichkeiten willen, selbst um sich vor dem Tode zu retten, wird sie
+sich nicht verkaufen, für einen anderen aber verkauft sie sich! Für
+einen geliebten, für einen vergötterten Menschen verkauft sie sich! Da
+haben wir das ganze Rätsel, -- für den Bruder, für die Mutter verkauft
+sie sich, verkauft ihr Bestes. Oh, hier wird man auch bei Gelegenheit
+das sittliche Empfinden unterdrücken; man wird die Freiheit, die Ruhe,
+das Gewissen sogar, alles, alles -- auf den Trödelmarkt bringen. Fahr
+dahin, Leben! Mögen bloß diese geliebten Wesen glücklich sein! Nicht
+genug dessen, man denkt sich noch eine eigene Kasuistik aus, geht bei
+den Jesuiten in die Lehre und beruhigt sich selbst vielleicht für eine
+Zeit, überzeugt sich selbst, daß es so gut sei, tatsächlich für einen
+guten Zweck nötig sei. Man ist nun einmal so, und alles ist so klar wie
+der Tag. Es ist ja selbstredend, daß hier niemand anders als Rodion
+Romanowitsch Raskolnikoff mitspricht und im Vordergrunde steht. Nun,
+warum denn auch nicht, -- man kann sein Glück begründen, ihn auf der
+Universität unterstützen, ihn zum Teilhaber machen, sein ganzes
+Schicksal sichern. Vielleicht wird er später ein reicher Mann, wird als
+angesehener, geachteter, auch vielleicht als berühmter Mann sein Leben
+beenden! Und die Mutter? Ja, es handelt sich um Rodja, den teuren Rodja,
+den Erstgeborenen! Und warum soll man nicht um solch eines Erstgeborenen
+willen selbst die Tochter opfern! Oh, ihr lieben und einfältigen Seelen!
+Man wird in diesem Falle vielleicht auch das Los einer Ssonjetschka
+nicht verschmähen! Ssonjetschka, Ssonjetschka Marmeladowa, die ewige
+Ssonjetschka, solange die Welt besteht! Habt ihr beide auch das Opfer,
+dieses Opfer genau ermessen? Habt ihr es? Reicht die Kraft aus? Ist es
+zum Besten? Ist es vernünftig? Wissen Sie auch Dunetschka, daß das Los
+von Ssonjetschka in keiner Weise schlimmer ist als Ihr Los mit Herrn
+Luschin? >Liebe ist nicht vorhanden,< schreibt die Mama. Was, wenn aber
+außer Liebe auch keine Achtung vorhanden ist, sondern im Gegenteil sich
+Widerwille, Verachtung und Ekel schon eingestellt haben, was dann? Und
+es kommt dabei auf eins heraus, daß man auch hier _auf Sauberkeit
+achtgeben_ muß. Ist es nicht etwa so? Verstehen Sie, verstehen Sie auch,
+was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Verstehen Sie, daß die Sauberkeit
+der Frau von Luschin gleichbedeutend mit der Sauberkeit von Ssonjetschka
+ist, vielleicht aber auch schlimmer, gemeiner und ekliger, weil Sie,
+Dunetschka, doch mit einem Überschuß von Annehmlichkeiten rechnen, dort
+aber handelt es sich einfach ums Verhungern! Diese Sauberkeit kommt
+teuer, sehr teuer zu stehen, Dunetschka! Und wenn nun die Kräfte nicht
+ausreichen, werden Sie es bereuen? Wieviel Kummer, Trauer, Flüche und
+Tränen folgen nach, tief verborgen, da Sie doch keine Marfa Petrowna
+sind! Und was wird dann aus der Mutter werden? Sie ist jetzt schon voll
+Unruhe und quält sich; wie dann, wenn sie alles klar und deutlich
+durchschauen wird? Und was wird mit mir? ... Ja, was haben Sie denn
+tatsächlich von mir gedacht? Ich will Ihr Opfer nicht, Dunetschka, ich
+will es nicht, Mama! Es soll nicht geschehen, solange ich lebe, es soll
+nicht sein, nicht sein! Ich nehme es nicht an!«
+
+Er kam plötzlich zu sich und blieb stehen.
+
+»Es soll nicht geschehen! Was willst du denn tun, damit es nicht
+geschieht? Willst du es verbieten? Was für ein Recht hast du? Was kannst
+du ihnen versprechen, um dir solch ein Recht anzueignen? Dein ganzes
+Schicksal, die ganze Zukunft ihnen widmen, _wenn du die Universität
+absolviert und eine Stelle erhalten hast_? Davon haben wir gehört, das
+sind aber _Träume_, was nun, jetzt? Es muß doch jetzt etwas, sofort
+etwas getan werden, verstehst du? Was tust du jetzt? Du beraubst sie.
+Sie erhalten das Geld, indem sie die Pension von hundert Rubel versetzen
+und sich bei den Herrschaften Sswidrigailoff verdingen. Wie willst du
+sie, du zukünftiger Millionär, du Zeus, der über das Schicksal verfügt,
+wie willst du sie vor Sswidrigailoffs, vor Afanassi Iwanowitsch
+Wachruschin bewahren? Etwa nach zehn Jahren? Inzwischen wird die Mutter
+vor lauter Stricken, vielleicht auch von Weinen, längst erblindet sein;
+vielleicht vor lauter Fasten zugrunde gehen. Und die Schwester? Denk mal
+nach, was nach zehn Jahren oder in diesen zehn Jahren mit der Schwester
+geschehen kann? Ist es dir gegenwärtig?«
+
+So quälte er sich und peitschte sich mit diesen Fragen; es bereitete ihm
+sogar einen gewissen Genuß. Und alle diese Fragen sie waren ihm nicht
+neu und unerwartet; sie waren alt, lange herumgetragen und längst
+vorhanden. Sie marterten sein Herz schon lange. Seit langer, sehr langer
+Zeit war in ihm diese Schwermut entstanden, war gewachsen, hatte sich
+angesammelt, war zur Reife gekommen, hatte sich konzentriert und die
+Form der entsetzlichen, wilden und phantastischen Frage angenommen, die
+sein Herz und seinen Kopf marterte und nach einer Lösung schrie. Der
+Brief von der Mutter hatte ihn jetzt wie ein Blitz getroffen. Jetzt war
+keine Zeit mehr, schwermütig zu sein, passiv zu leiden und zu erwägen,
+daß die Fragen unlösbar sind, sondern es muß unbedingt gehandelt werden,
+schnell gehandelt werden. Um jeden Preis muß ich mich für etwas
+entscheiden oder ...
+
+»Oder sich vom Leben ganz und gar lossagen!« rief er plötzlich in
+größter Erregung aus. -- »Das Schicksal, so wie es ist, ein für allemal
+geduldig hinnehmen und alles in sich ersticken, sich von jeglichem
+Rechte zu wirken, zu leben und zu lieben, lossagen!«
+
+»Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man
+nirgendwo mehr hingehen kann?« erinnerte er sich plötzlich der gestrigen
+Frage Marmeladoffs, »denn es müßte doch so sein, daß jeder Mensch
+irgendwo hingehen könnte ...«
+
+Plötzlich zuckte er zusammen, -- ein Gedanke, auch von gestern, ging
+wieder durch seinen Kopf. Er zuckte aber nicht zusammen, weil dieser
+Gedanke ihm neu war. Er kannte ihn schon, _er ahnte_, daß er unbedingt
+»kommen wird« und erwartete ihn sogar; auch war er nicht erst vom
+gestrigen Tage. Aber das andere war, daß dieser Gedanke vor einem Monat
+und von gestern noch bloß ein Traum war, jetzt aber ... jetzt erschien
+er ihm nicht mehr als Traum, sondern in einem neuen drohenden und völlig
+unbekannten Lichte, und er wurde dessen plötzlich bewußt ... Mit
+Keulenhieben schlug es ihn nieder, und vor seinen Augen wurde es dunkel.
+Er sah sich schnell um, als suche er etwas. Er wollte sich hinsetzen und
+suchte eine Bank; er war auf dem K.schen Boulevard. Nicht weit von ihm,
+etwa hundert Schritte, bemerkte er eine. Er ging eiligst darauf zu, auf
+dem Wege dahin aber ereignete sich ein Zwischenfall, der auf einige
+Minuten seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
+
+Während er sich nach einer Bank umsah, bemerkte er -- ungefähr zwanzig
+Schritte vor sich -- eine Frauensperson, zuerst schenkte er ihr so wenig
+Beachtung, wie all den Gegenständen, die an ihm vorbeiglitten. Es
+geschah ihm oft, daß er nach Hause kam und sich des Weges nicht entsann,
+den er gegangen war; so dahinzuwandern war ihm zur Gewohnheit geworden.
+Die Frauensperson aber, die vor ihm ging, hatte so etwas Sonderbares und
+Auffallendes an sich, daß seine Aufmerksamkeit allmählich an ihr haften
+blieb, -- zuerst gegen seinen Willen und zu seinem Verdruß, dann aber
+mit sich steigerndem Interesse. Er wollte sich klarmachen, was an dieser
+Frauensperson Sonderbares war. Sie war wahrscheinlich ein noch sehr
+junges Mädchen; ging in dieser Hitze mit unbedecktem Kopfe, ohne
+Sonnenschirm und ohne Handschuhe und pendelte eigentümlich mit den
+Armen. Sie hatte ein leichtes seidenes Kleidchen an, das sehr bedenklich
+angezogen und kaum zugeknöpft war, und hinten an der Taille, gerade, wo
+der Rock anfing, war es zerrissen, ein ganzes Stück hing lose herunter.
+Um den entblößten Hals war ein kleines Tuch umgeworfen und fiel auf der
+einen Seite schief herab. Außerdem fiel es ihm auf, daß das Mädchen
+unsicher ging, stolperte und sogar schwankte. Diese Erscheinung erregte
+also die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikoffs. Er holte das Mädchen bei
+der Bank ein; sie aber warf sich in eine Ecke der Bank, lehnte den Kopf
+an die Rücklehne und schloß die Augen, anscheinend vor äußerster
+Ermattung. Als Raskolnikoff sie näher ansah, begriff er sofort, daß sie
+völlig betrunken war. Es war ein so sonderbarer und widerwärtiger
+Anblick, daß er an seiner Wirklichkeit zweifelte. Er sah vor sich ein
+junges Gesichtchen von sechzehn, oder gar erst fünfzehn Jahren, mit
+hellblonden Haaren, sehr hübsch, aber unnatürlich gerötet und allem
+Anscheine nach ein wenig aufgedunsen. Das junge Mädchen schien nicht
+ganz bei Bewußtsein zu sein; das eine Bein hatte sie über das andere
+geschlagen und weiter vorgestreckt, als anständig war; jedenfalls war es
+ihr nicht bewußt, daß sie auf der Straße war.
+
+Raskolnikoff setzte sich nicht hin, wollte aber auch nicht weggehen; er
+blieb unschlüssig vor ihr stehen. Dieser Boulevard ist immer ziemlich
+leer, jetzt aber in der zweiten Nachmittagsstunde und bei dieser Hitze
+war fast niemand zu sehen. Nur etwa fünfzehn Schritte weiter, am Ende
+des Boulevards war seitwärts ein Herr stehengeblieben, der allem
+Anscheine nach die größte Lust hatte, an das junge Mädchen mit gewissen
+Absichten heranzutreten. Er hatte sie wahrscheinlich von weitem erblickt
+und war ihr nachgeeilt, Raskolnikoff aber hatte seinen Weg gekreuzt. Er
+warf ihm feindliche Blicke zu, die unbemerkt bleiben sollten und wartete
+voll Ungeduld, bis der Lump fortgegangen wäre, und er zu seinem Rechte
+käme. Die Sache war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, kräftig,
+wohlgenährt, mit roten Lippen und kleinem Schnurrbart, und sehr elegant
+gekleidet. Raskolnikoff ärgerte sich über ihn; er bekam plötzlich Lust,
+diesen gutgenährten Gecken in irgendeiner Weise zu beleidigen. So
+verließ er das junge Mädchen und trat an den Herrn heran.
+
+»He, Sie Sswidrigailoff! Was suchen Sie hier?« rief er ihm zu, ballte
+die Fäuste und lachte mit vor Wut bleichen Lippen.
+
+»Was soll das heißen?« fragte der Herr streng, zog die Augenbrauen
+zusammen und maß ihn mit einem hochmütigen Blick.
+
+»Sie sollen sich packen, heißt das!«
+
+»Wie wagst du, Kanaille! ...«
+
+Und er erhob sein Stöckchen. Raskolnikoff stürzte sich mit geballten
+Fäusten auf ihn, vollständig vergessend, daß der kräftige Herr mit ein
+_paar_ solchen, wie er, fertig würde. In diesem Augenblicke aber packte
+ihn jemand von hinten, und zwischen beide trat ein Schutzmann.
+
+»Ich bitte, meine Herren, sich nicht an öffentlichen Plätzen zu prügeln.
+Was wünschen Sie? Wer bist du?« wandte er sich streng an Raskolnikoff,
+nachdem er dessen Lumpen erblickt hatte.
+
+Raskolnikoff sah ihn aufmerksam an. Es war ein braves Soldatengesicht
+mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem verständigen Blick.
+
+»Sie brauche ich gerade,« rief er aus und faßte ihn bei der Hand. »Ich
+bin der ehemalige Student Raskolnikoff ... Das können auch Sie
+erfahren!« wandte er sich an den Herrn. »Kommen Sie bitte mit, ich will
+Ihnen etwas zeigen ...«
+
+Er nahm den Schutzmann bei der Hand und führte ihn zu der Bank.
+
+»Sehen Sie, sie ist ganz betrunken, soeben kam sie von dem Boulevard
+her. Wer weiß, wer sie ist, aber sie sieht nicht aus, wie eine
+gewerbsmäßige. Es ist wahrscheinlicher, daß man sie irgendwo betrunken
+gemacht und verführt hat ... zum erstenmal ... verstehen Sie ... und hat
+sie dann auf die Straße gebracht. Sehen Sie, wie das Kleid zerrissen
+ist, sehen Sie, wie es angezogen ist, -- man hat sie angekleidet, nicht
+sie selber, und ungeschickte Hände, Männerhände haben sie angekleidet.
+Das sieht man doch. Sehen Sie aber bitte dorthin, -- diesen Geck, mit
+dem ich mich soeben beinahe geprügelt hätte, kenne ich nicht, ich sehe
+ihn zum erstenmal. Er hat sie auch auf der Straße bemerkt, hat gesehen,
+daß sie betrunken, besinnungslos betrunken ist, und nun möchte er
+furchtbar gern an sie herankommen, und sie abfangen, und sie in diesem
+Zustande irgendwo hinschleppen ... Es ist sicher so, glauben Sie mir,
+ich irre mich nicht. Ich habe gesehen, wie er sie beobachtet und
+verfolgt hat, ich habe ihn bloß daran gehindert, und er wartet nun, bis
+ich weggehe. Sehen Sie, er ist jetzt ein paar Schritte weitergegangen
+und bleibt stehen, als drehe er sich eine Zigarette ... Wie können wir
+sie ihm entreißen? Wie können wir sie nach Hause schaffen, -- denken Sie
+doch darüber nach!«
+
+Der Schutzmann hatte im Nu alles verstanden und begriffen. Die Absichten
+des kräftigen Herrn waren ihm klar, mit dem jungen Mädchen aber mußte
+etwas geschehen. Der Veteran beugte sich über sie, um sie näher zu
+betrachten und ein aufrichtiges Mitleid drückte sich in seinen Zügen
+aus.
+
+»Ach, wie schade!« sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie ist ja noch
+ein Kind. Man hat sie verführt, das ist sicher. Hören Sie, mein
+Fräulein,« begann er sie zu rufen. »Wo wohnen Sie?«
+
+Das junge Mädchen öffnete die müden, schläfrigen Augen, blickte stumpf
+den Fragenden an und machte eine abwehrende Handbewegung.
+
+»Hören Sie,« sagte Raskolnikoff. »Hier haben Sie,« er suchte in der
+Tasche und zog zwanzig Kopeken hervor, die er noch fand, »hier haben Sie
+zu einer Droschke, und lassen Sie sie durch einen Kutscher nach Hause
+bringen. Wenn wir bloß Ihre Wohnung erfahren könnten.«
+
+»Fräulein, hören Sie, Fräulein!« begann von neuem der Schutzmann,
+nachdem er das Geldstück in Empfang genommen hatte. »Ich will Ihnen
+sofort eine Droschke besorgen und will Sie selbst begleiten. Wohin
+befehlen Sie? Ah? Wo wohnen Sie?«
+
+»Geht fort! ... Laßt mich in Ruhe! ...« murmelte das Mädchen und wehrte
+von neuem mit der Hand ab.
+
+»Ach, wie schlecht! Ach, welch eine Schande, Fräulein, welch eine
+Schande!« sagte der Schutzmann und schüttelte mit dem Kopfe, in
+Entrüstung und Mitleid. »Das ist eine Aufgabe!« wandte er sich an
+Raskolnikoff und sah ihn wieder flüchtig von Kopf bis zu Füßen an.
+Wahrscheinlich erschien er ihm merkwürdig, -- ein Mensch in solchen
+Lumpen, der Geld hergab.
+
+»Haben Sie sie weit von hier gefunden?« fragte er ihn.
+
+»Ich sagte Ihnen -- sie ging mit wankenden Schritten vor mir, hier, auf
+dem Boulevard. Als sie zu der Bank kam, fiel sie sofort hin.«
+
+»Ach, welch eine Schande jetzt in der Welt herrscht, Herrgott! So
+blutjung und schon betrunken! Man hat sie verführt, das ist sicher. Auch
+das Kleidchen ist zerrissen ... Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt
+um sich greift ... Ja, sie wird wahrscheinlich eine Adlige sein, von den
+armen ... Jetzt gibt es viele solche. Dem Aussehen nach ist sie von den
+zarten, ganz wie ein Fräulein ...« und er beugte sich wieder über sie.
+
+Vielleicht wuchsen bei ihm zu Hause auch solche Töchter heran, »ganz wie
+Fräuleins und von den zarten,« mit Gewohnheiten der Feinerzogenen und
+mit angenommener Modesucht ...
+
+»Die Hauptsache ist,« sagte Raskolnikoff, »daß dieser Schuft sie nicht
+bekommt! Warum soll er sie noch schänden! Man sieht ja, was er will,
+sehen Sie, der Schuft, er geht nicht weg.«
+
+Raskolnikoff sprach laut und zeigte mit der Hand auf ihn. Jener hörte es
+und wollte wieder böse werden, aber besann sich und begnügte sich mit
+einem verächtlichen Blick. Dann ging er langsam zehn Schritt weiter und
+blieb wieder stehen.
+
+»Das kann man verhindern, daß er sie bekommt,« antwortete der Schutzmann
+in Gedanken. »Wenn sie bloß sagen würde, wohin man sie bringen soll, so
+aber ... Fräulein, hören Sie, Fräulein!« er beugte sich zu ihr.
+
+Sie öffnete plötzlich die Augen, blickte aufmerksam die beiden an, als
+hätte sie etwas verstanden, stand von der Bank auf und ging in dieselbe
+Richtung zurück, woher sie gekommen war.
+
+»Pfui, schämt euch, könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen!« sagte sie und
+wehrte wieder mit der Hand ab.
+
+Sie ging schnell, aber auch, wie früher, stark schwankend.
+
+Der feine Herr ging ihr nach, aber in einer anderen Allee, und verlor
+sie nicht aus den Augen.
+
+»Haben Sie keine Sorge, ich will schon aufpassen!« sagte entschlossen
+der bärtige Schutzmann und folgte dem Mädchen.
+
+»Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt um sich greift!« wiederholte er
+laut und seufzte.
+
+Plötzlich schien Raskolnikoff mit einem Schlage wie verwandelt.
+
+»Hören Sie mal!« rief er dem Schutzmann nach. Der wandte sich um.
+
+»Lassen Sie es. Was geht es Sie an? Lassen Sie es. Möge er sich
+amüsieren« (er zeigte auf den Stutzer). »Was geht es Sie an?«
+
+Der Schutzmann begriff ihn nicht und starrte ihn an. Raskolnikoff lachte
+auf.
+
+»Na nu!« sagte der Schutzmann, machte eine abwehrende Handbewegung und
+ging dem Stutzer und dem jungen Mädchen nach; wahrscheinlich hielt er
+Raskolnikoff entweder für einen Verrückten oder für etwas Schlimmeres.
+
+»Meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen!« sagte Raskolnikoff wütend,
+als er allein zurückgeblieben war. »Nun, mag er auch von dem, von dem
+andern nehmen und das Mädchen mit ihm gehen lassen, damit wird es auch
+enden ... Und wozu habe ich mich hineingemischt? Um zu helfen? Steht es
+mir denn zu, jemand zu helfen? Habe ich denn ein Recht dazu? Mögen sie
+doch einander lebendig auffressen, -- was geht es mich an? Und wie
+durfte ich diese zwanzig Kopeken fortgeben? Gehören sie denn mir?«
+
+Bei diesen sonderbaren Worten wurde es ihm schwer zumute. Er setzte sich
+auf die nun leere Bank. Seine Gedanken waren verwirrt ... Und es war ihm
+kaum möglich, in diesem Augenblicke einen Gedanken zu fassen. Er wollte
+sich vollkommen vergessen, alles vergessen, dann erwachen und ganz von
+neuem beginnen ...
+
+»Armes Mädchen!« sagte er, nachdem er die leere Ecke der Bank erblickte.
+»Sie wird zu sich kommen, wird weinen, und dann erfährt es die Mutter
+... Zuerst wird sie sie schlagen, ihr die Rute geben, schmerzhaft und
+schmachvoll, vielleicht wird sie sie aus dem Hause jagen ... Und wenn
+sie sie nicht verjagt, werden es doch allerhand Darjas Franzowna
+erfahren, und das Mädchen wird aus einer Hand in die andere gehen ...
+Dann folgt das Krankenhaus -- und das passiert stets mit denen, die bei
+sehr ehrenwerten Müttern leben und im geheimen lose Streiche verüben, --
+nun, und dann ... folgt wieder das Krankenhaus ... Wein ... Kneipen ...
+und dann nochmals das Krankenhaus ... und in zwei oder drei Jahren ist
+sie ein Krüppel, und im ganzen hat sie ein Alter von neunzehn oder auch
+bloß achtzehn Jahren erreicht ... Habe ich denn nicht genug solche
+gesehen? Wie sind sie aber so geworden? So und nicht anders sind sie es
+geworden ... Pfui! Mögen Sie es! Man sagt, es muß so sein. Jedes Jahr,
+sagt man, muß ein gewisser Prozentsatz draufgehen ... irgendwohin ...
+wahrscheinlich zum Teufel, um die übrigen zu erfrischen und ihnen nicht
+hinderlich zu sein. Prozentsatz! Die Menschen haben in der Tat herrliche
+Worte gefunden, -- sie sind so beruhigend und wissenschaftlich noch
+dazu. Es ist gesagt -- ein Prozentsatz muß sein, also kein Anlaß, um
+sich zu beunruhigen. Ja, hätte man ein anderes Wort dafür, nun dann ...
+würde es vielleicht beunruhigender sein ... Was aber, wenn auch
+Dunetschka in irgendeiner Weise in diesen Prozentsatz hineinkommt! ...
+Und wenn nicht in diesen, dann in einen anderen! ... Aber wohin gehe ich
+denn?« -- dachte er plötzlich. -- »Sonderbar. Ich ging doch aus
+irgendeinem Grunde von Hause weg. Als ich den Brief gelesen hatte, ging
+ich fort ... Ich ging zu Rasumichin auf Wassiljew Ostroff ... jetzt
+erinnere ich mich. Aber wozu denn eigentlich? Und warum kam mir gerade
+jetzt der Gedanke zu Rasumichin zu gehen? Das ist sonderbar.«
+
+Er wunderte sich über sich selbst. Rasumichin war einer von seinen
+früheren Kommilitonen. Raskolnikoffs Eigentümlichkeit auf der
+Universität war, daß er fast keine Bekannten hatte, sich von allen
+zurückzog, zu niemandem hinging und ungern jemand bei sich empfing. Bald
+wandte man sich auch von ihm ab. Weder an gemeinsamen Zusammenkünften,
+noch an Gesprächen, noch an Zerstreuungen -- an nichts nahm er teil. Er
+arbeitete sehr eifrig, ohne auf sich Rücksicht zu nehmen; man achtete
+ihn deswegen, aber niemand liebte ihn. Er war sehr arm, abweisend stolz
+und unmitteilsam, als ob er etwas zu verheimlichen hätte. Manchem seiner
+Kommilitonen schien es, als sehe er auf sie alle, wie auf Unmündige
+herab, als hätte er sie alle in der Entwicklung, im Wissen und in
+Lebensanschauung überholt und als betrachte er ihre Anschauungen und
+ihre Interessen wie etwas Unreifes.
+
+Rasumichin war er aus irgendeinem Grunde nähergekommen, das heißt,
+eigentlich nicht so nähergekommen, daß er ihm gegenüber mitteilsam und
+offener geworden wäre. Man konnte eben zu Rasumichin in keinem anderen
+Verhältnisse stehn. Er war ein ungemein lustiger und mitteilsamer
+Bursche und gut bis zur Einfalt. Unter dieser Einfalt verbargen sich
+jedoch Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden wußten es, und alle
+liebten ihn. Er war sehr klug, konnte aber zuweilen wirklich täppisch
+sein. Sein Äußeres war charakteristisch -- hochgewachsen, hager,
+schwarzhaarig und immer schlecht rasiert. Zuweilen suchte er Händel und
+genoß den Ruf eines bärenstarken Menschen. Eines Nachts hatte er in
+einer lustigen Gesellschaft mit einem Hiebe einen baumlangen Hüter der
+Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unmenschlich, aber er konnte
+auch wieder gar nicht trinken; manchmal verübte er Streiche, die ans
+Unerlaubte grenzten, aber er konnte auch Ruhe halten. Rasumichin war es
+auch eigen, daß ihn kein Mißerfolg verblüffte, und das Schlimmste schien
+ihn nicht beugen zu können. Er vermochte es, gegebenenfalls auf einem
+Dachboden zu hausen, höllischen Hunger und ungewöhnliche Kälte zu
+ertragen. Er war sehr arm und verschaffte sich ganz und gar seinen
+Unterhalt durch alle möglichen Arbeiten, für die er eine Unmenge Quellen
+hatte. Einmal verbrachte er einen ganzen Winter im ungeheizten Zimmer
+und begründete es damit, daß es sich in der Kälte besser schliefe.
+Gegenwärtig war er ebenfalls gezwungen, die Universität zu verlassen,
+aber nicht auf lange Zeit, und er mühte sich aus allen Kräften, seine
+Verhältnisse zu verbessern, um das Studium wieder fortsetzen zu können.
+Raskolnikoff war seit vier Monaten nicht bei ihm gewesen, Rasumichin
+aber wußte sogar nicht dessen Wohnung. Vor zwei Monaten war er ihm
+einmal zufällig auf der Straße begegnet. Raskolnikoff aber hatte sich
+abgewandt und war sogar auf die andere Seite hinübergegangen, damit
+Rasumichin ihn nicht sehen sollte. Rasumichin hatte ihn wohl erkannt,
+ging aber ebenso vorbei, weil er _den Freund_ nicht stören wollte.
+
+
+ V.
+
+»Ich hatte noch vor kurzem wirklich die Absicht, Rasumichin um Arbeit zu
+bitten, daß er mir Stunden oder etwas anderes verschaffen solle ...«
+dachte Raskolnikoff. -- »Aber womit kann er mir jetzt helfen? Gesetzt
+den Fall, er verschafft mir Stunden, ja, gesetzt den Fall, er teilt mit
+mir sein letztes Gerstchen, wenn er eines hat, so daß ich mir selbst
+Stiefel kaufen und meine Kleidung instand setzen kann, um Stunden zu
+geben ... hm ... Aber was weiter? Was kann ich mit den paar Groschen
+machen? Ist es das, was ich jetzt brauche? Es ist lächerlich, daß ich zu
+Rasumichin gehe ...«
+
+Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehe, beunruhigte ihn mehr, als
+er sich selbst eingestehen wollte, und voll Unruhe suchte er eine böse
+Bedeutung in dieser anscheinend ganz gewöhnlichen Handlung.
+
+»Wie will ich nur die ganze Angelegenheit durch Rasumichin in Ordnung
+bringen, habe ich denn als letzten Ausweg nur Rasumichin gefunden?«
+fragte er verwundert sich selbst.
+
+Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz unerwartet,
+überraschte ihn nach langem Sinnen ein neuer Gedanke.
+
+»Hm ... zu Rasumichin ...« sagte er auf einmal völlig ruhig, wie fest
+entschlossen. »... zu Rasumichin gehe ich bestimmt ... aber nicht jetzt
+... Ich will zu ihm hingehen ... am andern Tage _nach dem_ ... wenn
+_das_ schon vorbei ist, und wenn ich von vorne anfange ...«
+
+Da kam er zu sich.
+
+»Nach dem,« rief er aus und sprang von der Bank auf. »Ja, wird _das_
+überhaupt geschehen? Wird es tatsächlich geschehen?«
+
+Er ging fort, ja er rannte beinahe fort; er wollte nach Hause
+zurückkehren, doch das war ihm entsetzlich, zu Hause, -- dort in der
+Ecke, zwischen den vier öden Wänden, über einen Monat schon reifte der
+grausige Plan -- und er ging, wohin die Füße ihn führten.
+
+Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er empfand
+Schüttelfrost, Frost in dieser Hitze! Fast bewußtlos, mit großer
+Überwindung begann er alles, was ihm begegnete, zu betrachten, als suche
+er Zerstreuung, aber das gelang ihm schlecht, er überraschte sich immer
+wieder bei seinem Gespenst. Wenn er aber auffahrend wieder den Kopf
+erhob und sich ringsum umblickte, vergaß er sofort, worüber er soeben
+nachgedacht hatte und wo er war. In dieser Weise durchwanderte er den
+ganzen Wassiljew Ostroff, kam zu der kleinen Newa hinaus, überschritt
+die Brücke und wandte sich den Inseln zu. Das frische Grün und die
+erquickende Luft taten seinen müden Augen wohl, die an Stadtstaub, Kalk
+und an beengende und bedrückende Häuser doch gewöhnt waren. Hier gab es
+weder eine dumpfe Luft, noch Gestank, noch Schenken. Doch es währte
+nicht lange, und es gingen auch diese neuen angenehmen Empfindungen in
+krankhafte und aufregende über. Ab und zu blieb er vor einer aus üppigem
+Grün lugenden Villa stehn, blickte durch den Zaun hindurch und sah in
+der Ferne auf den Balkonen und Terrassen elegante Frauen und in den
+Gärten spielende Kinder. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den
+Blumen, sie schaute er am längsten an. Er begegnete auch schönen Wagen,
+Reitern und Amazonen, verfolgte sie voll Neugier mit den Blicken und
+vergaß sie, wenn sie kaum seinen Augen entschwunden waren. Einmal blieb
+er auch stehn und zählte sein Geld nach -- es waren etwa dreißig
+Kopeken.
+
+»Zwanzig gab ich dem Schutzmann, drei für den Brief an Nastasja, also
+habe ich gestern Marmeladoffs siebenundvierzig oder fünfzig Kopeken
+hinterlassen,« dachte er, indem er aus irgendeinem Grund nachrechnete,
+bald aber hatte er vergessen, warum er das Geld aus der Tasche
+hervorgeholt hatte.
+
+Er erinnerte sich wieder daran, als er an einer Speiseanstalt, einer Art
+Garküche, vorbeiging und fühlte, daß er Hunger hatte. Er trat ein, trank
+ein Gläschen Branntwein und nahm eine Pastete, die er auf dem Wege zu
+Ende aß. Er hatte sehr lange schon keinen Branntwein mehr getrunken, der
+tat denn auch im Nu seine Wirkung, obwohl es nur ein einziges Gläschen
+war. Seine Füße wurden schwer, und er fühlte einen starken Drang zu
+schlafen. Er kehrte um, um nach Hause zu gehen, als er aber Petrowski
+Ostroff schon erreicht hatte, blieb er in völliger Erschöpfung stehen,
+ging abseits des Weges in ein Gebüsch, fiel aufs Gras hin und schlief im
+selben Augenblick ein. In krankhaften Zuständen zeichnen sich Träume oft
+durch ungewöhnliche Deutlichkeit, Klarheit und außerordentliche
+Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit aus. Es erscheint zuweilen ein
+seltsames Bild, die Umgebung aber und der ganze Gang der Vorstellung
+sind so wahrscheinlich und mit solchen feinen unerwarteten und dem
+Gesamtbilde künstlerisch entsprechenden Einzelheiten verbunden, daß
+derselbe Träumer sie in Wirklichkeit nicht so ausdenken kann, mag er
+auch selbst ein Künstler, wie Puschkin oder Turgenjeff sein. Solche
+krankhafte Träume bleiben stets lange in der Erinnerung haften und üben
+einen starken Eindruck auf den zerrütteten und angegriffenen Organismus
+eines Menschen aus. Raskolnikoff hatte solch einen Traum. Er träumt sich
+als Kind in der kleinen Provinzialstadt. Er ist sieben Jahre alt und
+geht an einem Feiertage gegen Abend mit seinem Vater außerhalb der Stadt
+spazieren. Es ist eine graue trübe Zeit, der Tag drückend, die Gegend
+genau so, wie sie in seiner Erinnerung lebt; in seiner Erinnerung ist
+sie ihm nicht so klar, als sie ihm jetzt im Traume erscheint. Das
+Städtchen liegt vor ihm, wie ein aufgeschlagenes Buch; ringsum kein
+Weidenstrauch; sehr weit, ganz am Horizonte hebt sich dunkel ein
+Wäldchen ab. Einige Schritte von dem äußersten städtischen Gemüsegarten
+steht eine Schenke, eine große Schenke, die auf ihn stets einen höchst
+unangenehmen Eindruck machte, ihm Furcht einflößte, wenn er auf dem
+Spaziergange mit dem Vater vorbeiging. Dort traf man stets eine große
+Menge an; sie brüllten, lachten, schimpften, sangen so scheußlich und
+heiser, und prügelten sich so oft; rings um die Schenke lungerten stets
+betrunkene und schreckliche Gestalten ... Wenn er ihnen begegnete,
+drückte er sich fester an den Vater und zitterte am ganzen Körper. Neben
+der Schenke führte ein Weg, ein Landweg vorbei, stets mit schwarzem
+Staub bedeckt. Der Weg zog sich schlängelnd weiter, und etwa nach
+dreihundert Schritten bog er rechts um den städtischen Friedhof ab.
+Mitten auf dem Friedhofe erhob sich eine steinerne Kirche mit grüner
+Kuppel, in die er ein paarmal im Jahre mit Vater und Mutter zum
+Gottesdienst ging, wenn für seine längst verstorbene Großmutter, die er
+nie gesehen hatte, eine Seelenmesse abgehalten wurde. Da nahmen sie
+stets »Kutje«[7] auf einem weißen Teller, in einer Serviette, mit, und
+die »Kutje« war aus Zucker, Reis und Rosinen zubereitet, und die Rosinen
+waren in Form eines Kreuzes in den Reis gesteckt. Er liebte diese Kirche
+und die alten Heiligenbilder, die meist ohne Einfassung waren, und den
+alten Priester mit dem zitternden Haupte. Neben dem Grabhügel der
+Großmutter, auf dem ein Grabstein war, lag auch das kleine Grab seines
+jüngsten Bruders, der sechs Monate alt gestorben war, und den er auch
+nicht gekannt hatte, an dessen Dasein er sich nicht erinnern konnte. Man
+hatte ihm aber erzählt, daß er einen kleinen Bruder gehabt habe, und
+jedesmal, wenn er den Friedhof besuchte, bekreuzigte er sich voll
+Andacht an dem kleinen Grabhügel, verneigte sich und küßte die Erde. Und
+nun träumte er: er geht mit dem Vater zum Friedhof, und sie gehen an der
+Schenke vorbei; er hält den Vater an der Hand und blickt voll Schrecken
+zu der Schenke hin. Ein besonderer Umstand fesselt seine Aufmerksamkeit,
+-- diesmal scheint hier ein Volksfest zu sein, ein Haufen geputzter
+Bürgerfrauen, Weiber, Männer und allerhand Gesindel steht da herum. Alle
+sind betrunken, alle singen, und neben der Treppe der Schenke steht ein
+Wagen -- ein seltsamer Wagen. Es ist ein großer Wagen, vor den große
+Lastpferde gespannt werden, und auf dem man Waren und Weinfässer
+befördert. Er liebt es, diesen ungeschlachten Gäulen mit den langen
+Mähnen und den dicken Beinen zuzusehen, wie sie langsam in gleichmäßigem
+Schritt dahinschreiten, einen ganzen Berg ohne die geringste Anstrengung
+hinter sich herziehend, als wäre es ihnen leichter mit dem Wagen als
+ohne ihn zu gehen. Jetzt aber war merkwürdigerweise vor solch einen
+großen Wagen ein kleines, mageres, braunes Bauernpferd gespannt, eines
+von jenen, die -- wie er es oft gesehen hatte -- sich mit hochbeladenen
+Wagen voll Holz oder Heu abquälen müssen, um so mehr, wenn der Wagen im
+Schmutze oder in alten Wagenspuren stecken bleibt. Dann hauen die Bauern
+darauf los, peitschen sie schmerzhaft, oft auf das Maul und über die
+Augen. Das tut ihm so weh, so weh anzusehen, daß ihm die Tränen kommen;
+die Mutter führt ihn dann immer von dem Fenster fort. -- Plötzlich
+erhebt sich ein Lärm -- aus der Schenke kommen mit Geschrei, Gesang und
+mit Balalaikas[8] betrunkene, völlig betrunkene, große Bauern heraus, in
+blauen und roten Hemden, mit übergeworfenen Mänteln.
+
+»Setzt euch, setzt euch alle!« ruft einer, ein junger Bursche mit dickem
+Halse und fleischigem, dunkelrotem Gesichte. -- »Ich fahre euch alle
+hin, setzt euch darauf!« Mit lautem Lachen erschollen die Ausrufe:
+
+»So eine Schindmähre soll uns ziehen.«
+
+»Bist du von Sinnen, Mikolka, -- so eine kleine Stute vor diesen Wagen
+zu spannen?«
+
+»Das Pferdchen ist sicher seine zwanzig Jahre alt, Brüder!«
+
+»Setzt euch, ich fahre euch alle zusammen!« ruft von neuem Mikolka,
+springt als erster auf den Wagen, ergreift die Zügel und pflanzt sich in
+seiner ganzen Größe vorne auf dem Wagen auf. »Mit dem Braunen ist Matwei
+vorhin losgezogen,« schreit er vom Wagen. »Diese Mähre treibt mir bloß
+die Galle ins Blut, ich möchte sie totschlagen, frißt umsonst den Hafer.
+Ich sage -- setzt euch! Ich lasse sie im Galopp laufen! Sie muß Galopp
+laufen!« Und er nimmt die Peitsche in die Hand und bereitet sich voll
+Wonne vor, das Pferd zu schlagen.
+
+»Setzt euch doch!« ruft man lachend in der Menge. »Hört doch, sie wird
+im Galopp laufen.«
+
+»Sie ist wahrscheinlich schon zehn Jahre nicht mehr im Galopp gelaufen.«
+
+»Sie wird schön springen!«
+
+»Keine Angst, Brüder, nehmt jeder eine Peitsche, und drauf los!«
+
+»Was ist da zu schonen! Schlagt los!«
+
+Alle springen mit Gelächter und Witzen in den Wagen. Sechs Mann sind
+hereingekrochen, und noch ist Platz. Sie nehmen ein dickes und
+rotbäckiges Weib noch hinauf, ein Weib in einem Kleide von rotem Kattun,
+mit einem Kopfputze aus Glasperlen, an den Füßen lederne Bauernschuhe;
+sie knackt Nüsse und lacht. Ringsum in der Menge lacht man auch, und in
+der Tat, warum soll man auch nicht lachen, -- so eine abgemagerte Mähre
+soll solch eine Last im Galopp ziehen! Zwei Burschen im Wagen nehmen je
+eine Peitsche, um Mikolka zu helfen. »Los!« ruft er, die Mähre zieht aus
+Leibeskräften an; vom im Trabe laufen kann nicht die Rede sein, sie kann
+nicht mal im Schritt losgehen, sie trippelt bloß auf einem Fleck, stöhnt
+und keucht unter den Hieben der drei Peitschen, die auf sie wie Hagel
+niederprasseln. Das Gelächter auf dem Wagen und in der Menge wird
+stärker, Mikolka aber wird wütend und peitscht immer heftiger, als
+glaube er wirklich, sie zum Galopp treiben zu können.
+
+»Nehmt mich auch mit, Brüder!« ruft ein Bursche aus der Menge, der Lust
+bekommen hatte, mitzufahren.
+
+»Setzt euch! Setzt euch alle hinein!« schreit Mikolka. »Sie wird alle
+ziehen. Ich peitsche sie zu Tode!« Und er schlägt los, schlägt das Pferd
+in einem fort und weiß vor Raserei nicht, womit er es noch schlagen
+soll.
+
+»Papa, lieber Papa!« ruft der Knabe dem Vater zu. --
+
+»Papa, was tun sie? Papa, sie schlagen das arme kleine Pferd!«
+
+»Komm, laß uns gehen!« sagte der Vater. »Betrunkene Dummköpfe treiben
+ihren Unfug; laß uns gehen, sieh nicht hin!« und er will ihn fortführen,
+der Knabe aber reißt sich los und läuft zu dem Pferde hin. Dem aber geht
+es schon schlecht. Es schnappt nach Luft, steht still, zieht von neuem
+an und fällt beinahe hin.
+
+»Peitscht es zu Tode!« schreit Mikolka. »Mag es kaput gehen. Ich
+peitsche es zu Tode!«
+
+»Bist du kein Christ, du Scheusal?« ruft ein alter Mann aus der Menge.
+
+»Hat man es je erlebt, daß so ein Pferd diese Last ziehen soll,« fügte
+ein anderer hinzu.
+
+»Du quälst es zuschanden!« ruft ein dritter.
+
+»Schweigt still! Es ist mein Eigentum. Ich kann damit tun, was ich will.
+Setzt euch noch dazu in den Wagen! Setzt euch alle hinein! Ich will, daß
+es im Galopp läuft! ...«
+
+Ein lautes Lachen übertönte plötzlich alles, -- die Mähre wollte sich
+der scharfen Schläge erwehren und begann in ihrer Bedrängnis
+auszuschlagen. Sogar der alte Mann mußte lächeln. Es war auch ein zu
+komisches Bild, -- so eine abgebrauchte Mähre schlägt plötzlich aus.
+Zwei Burschen aus der Menge verschaffen sich Peitschen und springen
+herzu, um das Pferd von zwei Seiten zu schlagen.
+
+»Schlagt sie auf das Maul, peitscht sie über die Augen, über die Augen!«
+schreit Mikolka.
+
+»Brüder, wollen wir ein Lied singen!« ruft jemand vom Wagen, und alle
+darinnen folgten sogleich der Aufforderung. Ein ausgelassenes Lied
+erschallt, ein Tamburin rasselt, der Refrain wird gepfiffen. Das Weib
+knackt Nüsse und lacht vergnügt.
+
+... Er läuft neben dem Pferde, er eilt nach vorne, er sieht, wie man es
+über die Augen schlägt, direkt über die Augen! Er weint. Sein Herz
+krampft sich zusammen, die Tränen fließen. Einer von den Peitschenden
+fährt ihm ins Gesicht; er fühlt es nicht, er ringt die Hände, schreit
+auf, stürzt zu dem alten Manne mit dem grauen Barte hin, der seinen Kopf
+schüttelt und das mißbilligt. Ein Weib packt seine Hand und will ihn
+fortführen, er reißt sich los und läuft wieder zu dem Pferde hin. Es hat
+keine Kraft mehr, noch einmal schlägt es aus.
+
+»Hol dich der Teufel!« schreit Mikolka wütend. Er wirft die Peitsche von
+sich, bückt sich und zieht vom Boden des Wagens eine lange und dicke
+Deichselstange hervor, ergreift sie mit beiden Händen und schwingt sie
+mit gewaltiger Anstrengung auf das Pferd nieder.
+
+»Er schlägt das Pferd tot!« schreit einer.
+
+»Er zerschmettert es!«
+
+»Es ist mein Eigentum!« brüllt Mikolka und läßt die Stange mit voller
+Wucht niedersausen.
+
+Ein dumpfer Schlag.
+
+»Haut es mit der Peitsche! Warum steht ihr da!« ruft man aus der Menge.
+
+Mikolka holt zum zweiten Male aus, und ein neuer Schlag saust auf den
+Rücken der unglücklichen Mähre nieder. Sie fällt beinahe auf die
+Hinterbeine, springt aber auf und ruckt und ruckt aus letzter Kraft hin
+und her, um den Wagen von der Stelle zu bringen; von allen Seiten
+empfängt sie Peitschenhiebe, die Deichselstange erhebt sich von neuem
+und saust zum dritten und vierten Male nieder. Mikolka ist wütend, daß
+er das Pferd nicht mit einem Schlage töten kann.
+
+»Es ist zäh!« ruft man ringsum.
+
+»Es fällt gleich hin, Brüder, nun geht es mit ihm zu Ende!« schreit
+jemand aus der Menge.
+
+»Ist es nicht besser, mit einem Beile es totzuschlagen? Macht doch ein
+Ende!« ruft ein anderer.
+
+»Zum Teufel mit dir! Geht alle aus dem Wege!« brüllt Mikolka, wirft die
+Deichsel fort, bückt sich von neuem und holt eine Eisenstange hervor.
+»Nehmt euch in acht!« ruft er und läßt sie mit voller Kraft auf das arme
+Pferd niedersausen. Dieser Schlag traf; das Pferd taumelte, krümmte sich
+und wollte ziehen, aber die Eisenstange sauste wieder auf seinen Rücken
+herab, und das Pferd stürzte zu Boden, als wären ihm alle vier Beine mit
+einemmal abgeschlagen.
+
+»Schlagt zu!« schreit Mikolka und springt wie toll vom Wagen herab.
+Einige Burschen, ebenso rot im Gesichte wie er und betrunken, ergreifen,
+was ihnen in die Hände kommt -- mit Peitschen, Stöcken, der
+Deichselstange laufen sie zu dem verendenden Pferde. Mikolka stellt sich
+auf der einen Seite hin und fängt an, sinnlos mit der Eisenstange auf
+seinen Leib zu schlagen. Die Mähre streckt den Kopf, holt schwer Atem
+und verendet. »Nun hast du ihm den Garaus gemacht!« ruft man aus der
+Menge.
+
+»Warum lief es nicht im Galopp!«
+
+»Es ist mein Eigentum!« schreit Mikolka mit blutunterlaufenen Augen und
+hält die Eisenstange noch in den Händen. Er steht da, als täte es ihm
+leid, daß er niemanden mehr habe, den er niederschlagen könnte.
+
+»Du bist wirklich kein Christ!« rufen einige Stimmen aus der Menge.
+
+Der arme Knabe aber ist außer sich. Mit einem Schrei durchbricht er die
+Menge, läuft auf das Pferd zu, umarmt den blutüberströmten toten Kopf
+und küßt ihn; er küßt die Augen, die Lefzen ... Dann springt er auf und
+stürzt sich voller Wut mit seinen kleinen Fäustchen auf Mikolka. In
+diesem Augenblick erwischt ihn der Vater, der ihm nachgelaufen war, und
+trägt ihn fort.
+
+»Gehen wir! Gehen wir!« sagt der Vater zu ihm. »Gehen wir nach Hause!«
+
+»Papa, lieber Papa! Warum haben sie ... das kleine Pferd ...
+erschlagen!« schluchzte er, sein Atem stockt und die Worte kommen wie
+Schmerzensschreie aus seiner gepreßten Brust.
+
+»Sie sind betrunken ... versündigen sich, uns geht es nichts an ...
+gehen wir!« sagt der Vater. Er aber umfaßt den Vater mit beiden Händen,
+es schnürt ihm die Kehle zu. Er will Atem holen, schreien und -- er
+erwacht. Er erwachte ganz mit Schweiß bedeckt, mit feuchten Haaren,
+schwer atmend, und erhob sich zitternd.
+
+»Gottlob, es war nur ein Traum!« sagte er, setzte sich unter den Baum
+und seufzte tief auf. »Aber was ist mit mir? Fange ich an zu fiebern, --
+so ein gräßlicher Traum!«
+
+Sein ganzer Körper war wie zerschlagen, und in seiner Seele war es
+dunkel und trübe. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und hielt sich
+mit beiden Händen den Kopf.
+
+»Mein Gott,« rief er aus. »Werde ich denn, werde ich wirklich ein Beil
+nehmen, werde es ihr auf den Kopf schlagen, das Gehirn ihr zerschmettern
+... in klebrig warmem Blute tasten, das Schloß aufbrechen, stehlen und
+zittern, mich verstecken, ganz mit Blut bedeckt ... mit einem Beile ...
+Oh, Gott, werde ich es denn tun?«
+
+Es durchschauerte ihn am ganzen Körper, als er das aussprach. »Ja, was
+ist denn mit mir?« fuhr er fort, sich aufraffend und mit tiefem Staunen.
+»Ich weiß doch, daß ich es nicht ertragen kann, warum habe ich mich denn
+bis jetzt gequält? Gestern, gestern schon, als ich hinging, diesen ...
+Versuch zu machen, gestern begriff ich vollkommen, daß ich es nicht zu
+tun vermöge ... Was will ich denn jetzt noch? Warum hatte ich bis jetzt
+noch Zweifel? Ich sagte mir schon gestern, als ich die Treppe
+hinunterging, daß es gemein, niedrig, schuftig sei ... mir wurde ja beim
+bloßen Gedanken übel und ein kalter Schauer ging mir durch alle Glieder
+... Nein, ich werde es nicht aushalten, werde es nicht aushalten! Mag es
+auch keinen einzigen Fehler in diesen Berechnungen geben, mag all das,
+was in diesem Monat beschlossen wurde, klar wie der Tag, und richtig wie
+eine mathematische Formel sein. Herrgott! Ich kann mich nicht dazu
+entschließen! Ich werde es ja nicht aushalten, nicht aushalten! Was ist
+denn mit mir immer noch, was denn?«
+
+Er stand auf, sah sich verwirrt um, als sei er erstaunt, daß er hierher
+gekommen war, und ging zu der T.-W.-Brücke. Er war bleich, die Augen
+brannten, in seinen Gliedern lag tiefste Ermattung, plötzlich aber
+konnte er leichter atmen. Er fühlte, daß er diese furchtbare Last, die
+ihn solange bedrückt hatte, abgeworfen habe, und in seiner Seele wurde
+es mit einem Male leicht und frei.
+
+»Oh Gott!« flehte er. »Zeig mir meinen Weg, und ich sage mich los von
+diesem verfluchten Trugbild!« Als er über die Brücke ging, blickte er
+still und ruhig auf die Newa und auf die untergehende grellrote Sonne.
+Trotz seiner Schwäche empfand er keine Müdigkeit. Es war, als sei das
+Geschwür an seinem Herzen, das den ganzen Monat heranreifte, plötzlich
+aufgegangen. Freiheit! Freiheit! Er ist jetzt von dieser Verzauberung,
+von dieser Hexerei, von diesem Reiz, von dieser Versuchung befreit!
+
+Später, als er an diese Zeit und all das dachte, was mit ihm in diesen
+Tagen, Minute für Minute, Punkt für Punkt, Strich für Strich vorgegangen
+war, setzte ihn fast bis zum Aberglauben ein Umstand stets in Erstaunen,
+der im Grunde genommen nicht besonders ungewöhnlich war, der ihm aber
+später wie die Fügung seines Schicksals erschien. Und zwar, -- er konnte
+es gar nicht verstehen und erklären, warum er, ermüdet und abgespannt,
+statt auf dem kürzesten und geradesten Weg nach Hause zu gehen,
+plötzlich über den Heumarkt, den zu durchqueren für ihn ganz überflüssig
+war, nach Hause zurückkehrte. Es war kein bedeutender Umweg, aber doch
+ein augenscheinlich und eben völlig überflüssiger. Gewiß, er war
+Dutzende von Malen nach Hause zurückgekehrt, ohne sich der Straßen zu
+erinnern, durch die er gewandert war. Warum aber, fragte er sich immer,
+warum passierte so eine wichtige, so eine entscheidende und gleichzeitig
+so eine höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte -- über den zu
+gehen er gar keine Veranlassung hatte -- gerade zu der Stunde, in dem
+Augenblicke seines Lebens, in solch einer Seelenstimmung und unter
+solchen Umständen, unter denen diese Begegnung auch die entscheidenste
+und endgültigste Wirkung auf sein ganzes Schicksal ausüben mußte? Als
+hätte es auf ihn hier absichtlich gelauert! -- Es war gegen neun Uhr,
+als er über den Heumarkt ging. Alle Verkäufer an den Tischen, in den
+Läden und Buden schlossen ihre Geschäfte oder kramten ihre Waren
+zusammen, packten sie ein und waren ebenso, wie ihre Käufer, auf dem
+Wege nach Hause. Bei den Garküchen, in den Kellern, in den schmutzigen
+und stinkenden Höfen der Häuser am Heumarkte, besonders aber bei den
+Schenken drängte sich eine Menge allerhand Händler und verlumpter
+Gestalten. Raskolnikoff liebte diese Gegend, ebenso auch alle
+umliegenden Gassen, ganz besonders aber, wenn er ohne ein bestimmtes
+Ziel bummeln ging. Hier erregten seine Lumpen keine hochmütige
+Aufmerksamkeit, hier konnte man gekleidet gehen, wie man wollte, ohne
+sich zu blamieren. An der Ecke der K.schen Gasse handelte ein
+Kleinbürger mit seiner Frau an zwei Tischen mit allerhand Waren, --
+Zwirn, Bändern, Kattuntüchern und dergleichen mehr. Sie waren auch beim
+Aufbruch, wurden aber durch ein Gespräch mit einer Bekannten
+aufgehalten. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna oder einfacher
+Lisaweta, wie sie allgemein genannt wurde, die jüngere Schwester
+derselben Alten, Aljona Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators,
+der Wucherin, bei der Raskolnikoff gestern gewesen war, um seine Uhr zu
+versetzen und seine _Probe_ zu machen ... Er wußte längst alles über
+diese Lisaweta, und sie kannte ihn auch ein wenig. Sie war ein
+hochgewachsenes, plumpes, zaghaftes und stilles Mädchen, fast eine
+Idiotin, fünfunddreißig Jahre alt, die bei ihrer Schwester lediglich die
+Dienstmagd war, für sie Tag und Nacht arbeitete, vor ihr zitterte und
+sogar von ihr Schläge bekam. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel vor
+dem Händler und seiner Frau und hörte ihnen aufmerksam zu. Die redeten
+mit besonderem Eifer auf sie ein. Als Raskolnikoff sie unvermutet
+erblickte, überkam ihn eine eigentümliche Empfindung, die einer sehr
+starken Verwunderung glich, obwohl diese Begegnung nichts
+Verwunderliches an sich hatte.
+
+»Sie wollen einmal selbst entscheiden, Lisaweta Iwanowna,« sagte der
+Händler laut. »Kommen Sie morgen so gegen sieben Uhr. Die werden auch
+herkommen.«
+
+»Mor--gen?« sagte Lisaweta gedehnt und nachdenklich, als ob sie sich
+nicht entschließen könne.
+
+»Aljona Iwanowna hat Ihnen viel zu viel Furcht eingejagt!« sagte die
+Frau des Händlers, ein flinkes Weib. »Sie sind ganz wie ein Kind. Und
+dabei ist sie nicht mal Ihre leibliche, sondern Ihre Stiefschwester und
+hat doch solch eine große Macht über Sie!«
+
+»Sie sollten Aljona Iwanowna nichts davon erzählen,« unterbrach der
+Mann, »ich gebe Ihnen den Rat, und Sie kommen zu uns ohne Erlaubnis. Es
+ist ein vorteilhaftes Geschäft. Ihre Schwester wird es später selbst
+einsehen.«
+
+»Soll ich kommen?«
+
+»Morgen, um sieben Uhr, auch von denen kommt jemand her. Dann können Sie
+selbst entscheiden.«
+
+»Wir stellen den Samowar auf und machen Tee,« fügte die Frau hinzu.
+
+»Gut, ich will kommen,« antwortete Lisaweta, immer noch in Nachdenken
+versunken, und ging langsam weiter.
+
+Raskolnikoff war schon vorüber und hörte nichts mehr. Er war langsam
+gegangen, unbemerkt, und bestrebt, kein Wort vom Gespräche zu verlieren.
+Seine Verwunderung verwandelte sich allmählich in Schrecken, als wäre
+ihm etwas Kaltes über den Rücken gelaufen. Er hatte erfahren, vollkommen
+unerwartet hatte er erfahren, daß morgen abend punkt sieben Uhr
+Lisaweta, die Schwester der Alten und ihre einzige Mitbewohnerin, nicht
+zu Hause sein werde, und daß also die Alte Punkt sieben Uhr _ganz allein
+zu Hause war_.
+
+Bis zu seiner Wohnung waren es bloß einige Schritte. Er ging, wie ein
+zum Tode Verurteilter. Er dachte an nichts und konnte auch an gar nichts
+denken, aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er plötzlich, daß er weder
+die Freiheit der Erwägung noch einen Willen besitze, und daß alles mit
+einem Male endgültig entschieden sei.
+
+Es war sicher, daß er, selbst bei jahrelangem Warten auf solch einen
+günstigen Zufall, sicher nicht auf einen deutlicheren Wink für den
+Erfolg rechnen konnte, als der war, der sich ihm jetzt urplötzlich bot.
+In jedem Falle würde es schwer sein, am Abend vorher und sicher, mit
+größter Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliches Ausfragen
+und Untersuchen, zu erfahren, daß am anderen Tage um die und die Stunde
+die Alte, auf die man einen Anschlag vorbereitet, ganz allein zu Hause
+sein werde.
+
+
+ VI.
+
+Später erfuhr Raskolnikoff ganz zufällig, warum der Händler und dessen
+Frau Lisaweta zu sich eingeladen hatten. Es handelte sich um eine rein
+alltägliche Sache und enthielt gar nichts Besonderes. Eine zugereiste,
+verarmte Familie wollte ihre Sachen, Kleider und ähnliches verkaufen. Da
+es unvorteilhaft war, auf dem Markte zu verkaufen, suchte man unter der
+Hand eine Händlerin; Lisaweta nun befaßte sich mit dergleichen, -- sie
+übernahm Aufträge, besorgte allerhand Gänge und hatte eine recht
+ansehnliche Praxis, weil sie sehr ehrlich war und immer den äußersten
+Preis bot, -- und bei dem Preis, den sie nannte, blieb sie stets. Sie
+redete überhaupt wenig und war, wie gesagt, still und verschüchtert ...
+
+Raskolnikoff war in der letzten Zeit abergläubisch geworden. Und Spuren
+dieses Aberglaubens blieben in ihm noch für lange hinaus untilgbar
+haften. Und er war später stets geneigt, in dieser ganzen Angelegenheit
+eine gewisse Bestimmung, eine geheimnisvolle Fügung, wie die Existenz
+besonderer Einflüsse und Zufälle, zu sehen. Noch im Winter hatte ihm
+sein Bekannter, ein Student, Pokoreff, bei seiner Abreise nach Charkoff
+beiläufig im Gespräche die Adresse der Alten, Aljona Iwanowna,
+mitgeteilt, für den Fall, daß er einmal etwas versetzen möchte. Er ging
+lange nicht zu ihr, da er Stunden gab und sich damit einigermaßen
+durchschlug. Vor anderthalb Monaten erinnerte er sich der Adresse; er
+hatte zwei Sachen, die zum Versetzen taugten, -- eine alte silberne Uhr
+von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten
+Steinchen, den seine Schwester ihm beim Abschied als Andenken geschenkt
+hatte. Er beschloß den Ring hinzubringen; nachdem er die Alte gefunden
+hatte, empfand er vom ersten Augenblick an, ohne von ihr etwas Näheres
+zu wissen, einen unwiderstehlichen Widerwillen gegen sie; er nahm von
+ihr zwei »Scheinchen« und ging auf dem Rückwege in ein schlechtes
+Wirtshaus. Da bestellte er Tee, setzte sich hin und verfiel in ein
+tiefes Nachdenken. Ein unheimlicher Gedanke löste sich in seinem Kopfe
+aus, wie ein Küchlein aus den Eierschalen, und nahm Besitz von ihm.
+
+An einem anderen Tische, fast neben ihm, saß ein Student, den er nicht
+kannte, und dessen er sich nicht erinnerte, und ein junger Offizier. Sie
+hatten eine Partie Billard gespielt und tranken nun Tee. Da hörte
+Raskolnikoff, wie der Student dem Offiziere von einer Wucherin Aljona
+Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators, erzählte und ihm ihre
+Wohnung nannte. Das berührte Raskolnikoff seltsam, -- er kommt soeben
+von dort und hier unterhält man sich von ihr. Gewiß, es ist ein Zufall,
+aber er kann sich gerade jetzt nicht von einem äußerst ungewöhnlichen
+Gefühl losmachen, ihm ist es, als wolle ihm jemand dazu behilflich sein,
+-- der Student erzählte allerhand Einzelheiten von dieser Aljona
+Iwanowna. »Sie ist ausgezeichnet,« sagte er, »man kann bei ihr stets
+Geld erhalten. Sie ist reich wie ein Jude, kann auf einmal fünftausend
+geben, geniert sich aber auch nicht, ein Pfand von einem Rubel
+anzunehmen. Viele von meinen Bekannten waren bei ihr. Aber sie ist ein
+Scheusal ...«
+
+Und er erzählte, wie böse und launisch sie sei, und daß das Pfand
+verfallen sei, wenn man den Termin bloß um einen Tag versäume. Sie gibt
+den vierten Teil des Wertes, nimmt fünf und sogar sieben Prozent pro
+Monat und dergleichen mehr. Der Student kam ins Plaudern und teilte
+unter anderem auch mit, daß die Alte eine Schwester Lisaweta habe, die
+sie, so klein und unansehnlich sie selbst sei, alle Augenblicke schlage
+und in völliger Bevormundung wie ein kleines Kind halte, trotzdem
+Lisaweta mindestens dreimal größer und stärker sei ...
+
+»Ja, sie ist eine Zierde ihres Geschlechts!« rief der Student aus und
+lachte laut.
+
+Er fing an von Lisaweta zu erzählen; erzählte mit augenscheinlichem
+Genuß und lachte dabei fortwährend; der Offizier hörte mit großem
+Interesse zu und bat den Studenten, ihm die Lisaweta zu schicken, um
+seine Wäsche auszubessern. Raskolnikoff verlor kein einziges Wort von
+der Unterhaltung und erfuhr somit alles, -- Lisaweta war die jüngere
+Stiefschwester der Alten -- von anderer Mutter -- und war schon
+fünfunddreißig Jahre alt. Sie arbeitete Tag und Nacht für die Schwester,
+ersetzte die Köchin und Wäscherin, nähte außerdem um Lohn, ging
+außerhalb des Hauses Dielen scheuern und gab jeden Verdienst der
+Schwester ab. Keine einzige Bestellung und keine Arbeit wagte sie ohne
+die Erlaubnis der Alten zu übernehmen. Diese hatte bereits ihr Testament
+gemacht, was Lisaweta bekannt war, hatte ihr keinen Groschen Geld,
+sondern nur die bewegliche Habe, wie Stühle und ähnliches vermacht; das
+ganze Geld war für ein Kloster in dem N.schen Gouvernement zu ewigen
+Seelenmessen bestimmt. Lisaweta war Kleinbürgerin, nicht aus dem
+Beamtenstande, unverheiratet, ungewöhnlich plump gebaut, übergroß, mit
+breiten Füßen, hatte immer schiefgetretene Schuhe, war aber sonst
+reinlich gekleidet. Was aber den Studenten am meisten belustigte, war,
+daß Lisaweta alljährlich schwanger war ...
+
+»Du sagst doch, sie sei häßlich!« bemerkte der Offizier.
+
+»Ja, sie hat eine dunkle Gesichtsfarbe, wie ein Soldat, ist aber sonst,
+weißt du, nicht häßlich. Sie hat so ein gutes Gesicht und gute Augen,
+sehr gute Augen; Grund genug, daß sie vielen gefällt. Sie ist still,
+sanft und anspruchslos, zu allem bereit. Ihr Lachen ist sogar
+einnehmend.«
+
+»Sie scheint dir zu gefallen!« lachte der Offizier.
+
+»Ja, ihrer Eigentümlichkeit wegen. Doch, was ich dir sagen wollte. Ich
+könnte diese verfluchte Alte ermorden und berauben, und, glaube mir, ich
+täte es ohne Gewissensbisse,« fügte der Student eifrig hinzu.
+
+Der Offizier lachte wieder auf, Raskolnikoff aber fuhr zusammen. Wie
+seltsam dies alles war!
+
+»Erlaube mal, ich will dir eine ernste Frage vorlegen,« sagte der
+Student voll Eifer. »Ich habe mir soeben einen Scherz erlaubt, aber sieh
+mal an -- einerseits gibt es ein dummes, bedeutungsloses,
+minderwertiges, böses, krankes, altes Weib, das keinem Menschen nützt,
+im Gegenteil allen schadet, das selbst nicht weiß, wozu es lebt, und das
+morgen ohne fremde Hilfe sterben wird. Verstehst du? Verstehst du mich?«
+
+»Nun, ich verstehe es,« antwortete der Offizier und sah aufmerksam
+seinen in Eifer geratenen Freund an.
+
+»Höre nun weiter. Anderseits gibt es junge, frische Kräfte, die unnütz
+zugrunde gehen, ohne Hilfe und das zu tausenden und allerorts. Hundert,
+tausend gute Taten und Hilfeleistungen könnte man für das Geld der Alten
+tun, das einem Kloster zufallen soll. Hundert, vielleicht tausend
+Existenzen könnten damit auf den richtigen Weg gebracht werden; dutzende
+Familien könnten vor Hunger, Verfall, Untergang, Laster und vor
+venerischen Krankheiten geschützt werden -- und all das für ihr Geld.
+Ermorde sie und nimm ihr Geld, um dich später mit seiner Hilfe der
+ganzen Menschheit und der gemeinnützigen Sache zu widmen, -- was meinst
+du, wird nicht ein einziges unbedeutendes, winziges Verbrechen durch
+Tausende guter Taten wettgemacht? Für ein Leben -- Tausende von Leben,
+gerettet vor Fäulnis und Verfall. Ein einziger Tod und hunderte Leben an
+seiner Statt, das ist doch ein einfaches Rechenexempel. Ja, und was
+bedeutet auf der allgemeinen Wage das Leben dieser schwindsüchtigen,
+dummen und bösen Alten. Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer
+Wanze, und nicht mal soviel, weil die Alte schädlich ist. Sie untergräbt
+das Leben eines anderen; vor ein paar Tagen hat sie Lisaweta aus Wut in
+den Finger gebissen, man mußte ihn fast abnehmen lassen!«
+
+»Gewiß, sie ist des Lebens nicht wert,« bemerkte der Offizier. »Aber das
+ist doch Sache der Natur.«
+
+»Ach, Bruder, die Natur korrigiert man doch auch und zeigt ihr den
+richtigen Weg, wir müßten ja sonst in Vorurteilen ersticken. Ohne das
+würde es keine großen Männer geben. Man redet von Pflicht und Gewissen,
+-- ich will nichts gegen Gewissen und Pflicht sagen, aber was verstehen
+wir darunter? Doch ich will dir noch eine Frage vorlegen. Gib acht!«
+
+»Nein, warte du mal, jetzt will ich dir eine Frage vorlegen. Höre zu.«
+
+»Nun!«
+
+»Sieh, du redest jetzt und ereiferst dich, sage mir aber -- würdest _du
+selbst_ die Alte ermorden oder nicht?«
+
+»Selbstverständlich nicht! Ich rede nur aus Gerechtigkeit ... Ich habe
+mit der Sache nichts zu tun ...«
+
+»Meiner Meinung nach kann von Gerechtigkeit gar nicht die Rede sein,
+wenn du dich nicht selbst dazu entschließt. Komm, wir wollen noch eine
+Partie Billard spielen!«
+
+Raskolnikoff war äußerst aufgeregt. Gewiß, das Gespräch war eins von den
+gewöhnlichsten Gesprächen und Gedanken, die er mehr als einmal unter
+jungen Leuten gehört hatte, vielleicht in einer anderen Form und über
+einen anderen Gegenstand. Warum aber kam er jetzt gerade dazu, dieses
+Gespräch und diese Gedanken zu hören, wo in seinem eigenen Kopfe ...
+_ebensolche Gedanken_ aufgetaucht waren? Und warum stößt er gerade
+jetzt, wo in ihm dieser Gedanke auftauchte, als er die Alte verließ, auf
+ein Gespräch über dieselbe Alte? ... Ihm erschien dieses Zusammentreffen
+stets merkwürdig. Diese nichtssagende Unterhaltung in dem Wirtshause
+hatte auf ihn einen außergewöhnlichen Einfluß für die weitere
+Entwicklung der Sache, -- als wäre hierbei tatsächlich eine
+Vorausbestimmung, ein Fingerzeig gewesen ...
+
+ * * * * *
+
+Nach Hause zurückgekehrt, warf er sich auf das Sofa und blieb eine volle
+Stunde sitzen, ohne sich zu rühren. Es war inzwischen dunkel geworden;
+ein Licht besaß er nicht, es kam ihm gar nicht der Gedanke, ein Licht
+anzustecken. Er konnte sich später niemals erinnern, ob er in dieser
+Stunde an etwas gedacht hatte. Er spürte noch immer das Fieber von
+früher her und den Schüttelfrost, und es war ihm ein angenehmer Gedanke,
+daß er sich auf das Sofa hinlegen konnte. Ein fester bleierner Schlaf
+überfiel ihn und legte sich schwer auf ihn.
+
+Er schlief ungewöhnlich lange und traumlos. Nastasja, die am nächsten
+Morgen um zehn Uhr in das Zimmer kam, konnte ihn nur mit Mühe aufwecken.
+Sie brachte ihm Tee und Brot, den Tee wie immer alt aufgegossen in ihrer
+eigenen Teekanne.
+
+»Sieh, wie er schläft!« rief sie entrüstet aus. »Er tut nichts wie
+schlafen!«
+
+Er erhob sich mühsam. Der Kopf tat ihm weh; er versuchte aufzustehen,
+drehte sich um und fiel wieder auf das Sofa zurück.
+
+»Willst du weiter schlafen!« rief Nastasja. »Bist du gar krank?«
+
+Er antwortete nicht.
+
+»Willst du Tee trinken?«
+
+»Nachher,« sagte er mit Anstrengung, schloß die Augen und wandte sich
+der Wand zu.
+
+Nastasja blieb eine Weile neben ihm stehn.
+
+»Vielleicht ist er wirklich krank,« sagte sie, kehrte um und ging
+hinaus.
+
+Um zwei Uhr kam sie wieder herein mit einer Suppe. Er lag noch wie
+früher. Der Tee war unberührt. Nun fühlte Nastasja sich gekränkt und
+begann ihn ärgerlich zu rütteln.
+
+»Was, schnarchst du noch?« rief sie und sah ihn mit Unwillen an.
+
+Er stand auf und setzte sich, sagte aber nichts und blickte zu Boden.
+
+»Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja, und wieder erhielt sie
+keine Antwort.
+
+»Du solltest auf die Straße gehen,« sagte sie nach einer Weile, »die
+Luft würde dich erquicken. Willst du nicht essen?«
+
+»Nachher,« antwortete er mit schwacher Stimme. »Geh jetzt fort!«
+
+Und er winkte mit der Hand ab. Sie blieb noch eine Weile stehen, blickte
+ihn voll Mitleid an und ging hinaus.
+
+Nach einigen Minuten hob er den Blick und schaute lange den Tee und die
+Suppe an. Dann nahm er ein wenig Brot, griff nach dem Löffel und begann
+zu essen.
+
+Er aß nicht viel, ohne Appetit, rein mechanisch etwa vier Löffel Suppe.
+Der Kopf tat ihm nicht mehr so weh. Nachdem er gegessen hatte, legte er
+sich wieder auf das Sofa, konnte aber nicht einschlafen und lag still
+da, das Gesicht ins Kopfkissen vergraben. Er träumte, wachend, in einem
+fort, und alle Träume waren seltsam, zumeist schien es ihm, als wäre er
+irgendwo in Afrika, in Ägypten, in einer Oase. Die Karawane ruht aus,
+die Kamele liegen still; ringsum im großen Kreise stehn Palmen, alles
+labt sich. Er aber trinkt unausgesetzt Wasser, direkt aus einem Bache,
+der hier neben ihm dahinfließt und plätschert. Es ist so kühl, und das
+Wasser ist so wundervoll, so blau und kalt, es fließt über bunte Steine
+und über reinen mit goldenem Schimmer besäten Sand ... Plötzlich hörte
+er deutlich eine Uhr schlagen. Er fuhr auf, kam zu sich, erhob den Kopf,
+sah zum Fenster hin, rechnete sich die Zeit aus und sprang auf, als
+hätte ihn jemand von dem Sofa heruntergerissen. Er ging auf den
+Fußspitzen zu der Türe, öffnete sie leise und lauschte auf die Treppe
+hinaus. Sein Herz klopfte gewaltig. Auf der Treppe war alles so still,
+als ob alles schliefe ... Höchst sonderbar und merkwürdig erschien es
+ihm, daß er von gestern auf heute in solcher Bewußtlosigkeit hatte
+durchschlafen können, wo er doch nichts getan und unvorbereitet war ...
+Vielleicht hat die Uhr gar sechs geschlagen ... Und eine ungewohnte
+fieberhafte und kopflose Hast überfiel ihn, nun nach dem Schlafe und
+stumpfen Brüten. Es waren übrigens keine großen Vorbereitungen nötig. Er
+strengte alle Kräfte an, um alles zu bedenken und nichts zu vergessen;
+das Herz klopfte immer noch heftig und schlug so stark, daß ihm das
+Atmen schwer fiel. Zuerst mußte er eine Schlinge machen und an seinen
+Mantel annähen, -- das war die Sache einer Minute. Er fuhr mit der Hand
+unter das Kopfkissen und fand unter der Wäsche, die dort lag, ein altes
+ungewaschenes Hemd, das schon völlig zerrissen war. Von diesem riß er
+einen Streifen ab, etwa fünf Zentimeter breit und sechsunddreißig
+Zentimeter lang. Diesen Streifen legte er zusammen, zog einen weiten
+starken Sommermantel aus dickem baumwollenen Stoffe -- sein einziges
+Oberkleid -- aus und begann die beiden Enden des Streifens innen unter
+der linken Achselhöhle anzunähen. Seine Hände zitterten beim Halten der
+Nadel, er überwand sich aber und hatte den Streifen so angenäht, daß man
+von außen nichts bemerken konnte, wenn er den Mantel angezogen hatte. Er
+hatte sich schon vor langer Zeit Nadel und Zwirn besorgt, und sie lagen
+in einem Stück Papier eingewickelt in dem Tischchen. Die Schlinge war
+seine eigene, sehr schlaue Erfindung, sie war für das Beil bestimmt. Man
+konnte doch nicht auf der Straße das Beil in der Hand tragen. Und wenn
+man es unter dem Mantel versteckt trug, mußte man es doch mit der Hand
+festhalten, was wiederum auffallen konnte. Jetzt aber brauchte man bloß
+das Beil in die Schlinge zu stecken, und es wird den ganzen Weg unter
+der Achsel ruhig hängen. Und wenn er die Hand in die Seitentasche des
+Mantels steckt, kann er auch das Ende des Beilschaftes festhalten, damit
+es nicht baumelt, und da der Mantel sehr weit war, ein richtiger Sack,
+so konnte niemand wahrnehmen, daß er etwas mit der Hand in der Tasche
+festhalte. Diese Schlinge hatte er schon vor zwei Wochen erfunden.
+
+Nachdem er mit der Schlinge fertig war, steckte er seine Finger in einen
+kleinen Spalt zwischen seinen »türkischen« Diwan und der Diele, suchte
+im linken Winkel nach und zog _das Versatzobjekt_ heraus, das er schon
+vor langer Zeit hergestellt und dort versteckt hatte. Es war gar kein
+Versatzstück, sondern ein einfaches, glatt abgehobeltes Stück Holz, in
+der Größe und Dicke eines silbernen Zigarettenetuis. Dieses
+Holzbrettchen hatte er zufällig bei einem seiner Spaziergänge auf einem
+Hofe gefunden, wo in einem Nebengebäude eine Werkstatt war. Nachher
+hatte er zu dem Brette ein glattes und dünnes Stück Eisen --
+wahrscheinlich irgendein Bruchstück -- beigelegt, das er auch damals auf
+der Straße gefunden hatte. Beides, das eiserne Stück war kleiner, hatte
+er zusammengelegt und mit einem Bindfaden kreuzweise fest
+zusammengebunden; dann hatte er das Ganze peinlich und mit einer
+gewissen Sorgfalt in ein reines weißes Papier eingewickelt und so fest
+zusammengeschnürt, daß das Paket nicht gleich zu öffnen war. Dies tat
+er, um auf eine Spanne Zeit die Aufmerksamkeit der Alten abzulenken,
+wenn sie sich mit dem Lösen des Knotens abmühte, um so den passenden
+Augenblick zu gewinnen. Das Eisenstück war des Gewichtes wegen
+hinzugefügt, damit die Alte wenigstens nicht sofort erriet, daß das
+»Versatzstück« nur aus Holz sei. Dies alles lag bis zur gegebenen Zeit
+unter dem Diwan verwahrt. Als er gerade das Paket hervorholte, rief
+plötzlich jemand auf dem Hofe:
+
+»Die Uhr geht schon gleich auf sieben!«
+
+»Schon gleich auf sieben! Mein Gott!«
+
+Er stürzte zur Tür, lauschte einen Augenblick, nahm seinen Hut und
+begann die dreizehn Stufen vorsichtig, leise wie eine Katze
+hinabzusteigen. Das Wichtigste stand ihm noch bevor -- das Beil aus der
+Küche zu stehlen. Daß das Werk mit einem Beile vollbracht werde hatte er
+längst beschlossen. Er hatte wohl noch ein zusammenlegbares
+Gartenmesser, aber er mochte sich nicht auf das Messer und zum wenigsten
+auf seine Kräfte verlassen, darum hatte er sich endgültig für das Beil
+entschieden. Bei dieser Gelegenheit wollen wir eine Eigentümlichkeit von
+ihm bei seinen endgültigen Entscheidungen hervorheben, die er in dieser
+Sache schon getroffen hatte. Sie hatten alle eine besondere Eigenschaft:
+je endgültiger sie wurden, desto abscheulicher, sinnloser wurden sie
+sofort in seinen Augen. Trotz des qualvollen innerlichen Kampfes, den er
+führte, konnte er die ganze Zeit über keinen Moment an die
+Durchführbarkeit seiner Pläne glauben.
+
+Und wenn er jemals alles bis zum letzten Punkte durchgedacht und
+endgültig beschlossen hätte und es gar keine Zweifel mehr gegeben hätte,
+dann hätte er offenbar sich von dem ganzen Plane losgesagt, als von
+einem sinnlosen, ungeheuerlichen Unding. Aber jetzt gab es noch einen
+ganzen Abgrund von ungelösten Punkten und Zweifeln. Woher er sich ein
+Beil verschaffen konnte, diese Kleinigkeit beunruhigte ihn gar nicht,
+nichts ist leichter als das. Die Sache lag so, daß Nastasja öfters,
+besonders aber abends, nicht zu Hause war, -- entweder lief sie zu den
+Nachbarn oder in einen Laden, die Türe aber ließ sie stets offen stehn.
+Die Wirtin schalt sie immer wieder deshalb. Also, man mußte nur leise
+zur rechten Zeit in die Küche gehen und das Beil nehmen, um es nach
+einer Stunde, wenn alles vorüber ist, wieder an seinen Platz zu legen.
+Aber auch hier tauchten Zweifel auf. Angenommen, er kommt nach einer
+Stunde zurück, um das Beil zurückzubringen, und Nastasja ist aber gerade
+heimgekehrt. Gewiß, man muß dann vorbeigehen und abwarten, bis sie
+wieder fortgeht. Wenn sie aber nun in dieser Zeit das Beil vermißt hat,
+es zu suchen begann und danach laut jammerte, -- so ist der Verdacht
+oder wenigstens das Moment zu einem Verdacht gegeben.
+
+Aber das waren Kleinigkeiten, an die zu denken er keine Lust und keine
+Zeit mehr hatte. Er dachte an die Hauptsache und hob die Kleinigkeiten
+für den gegebenen Moment auf. Das letzte aber erschien ihm selber
+unfaßbar. Er konnte sich zum Beispiel in keiner Weise vorstellen, daß er
+jemals aufhören werde, bloß an dieses Vorhaben zu denken, daß er
+aufstehn und einfach dorthin gehen werde ... Sogar seine kürzliche
+_Probe_ (d. h. den Besuch in der Absicht, endgültig sich den Tatort
+anzusehen) hatte er nur _versucht_ auszuführen, nicht etwa in vollem
+Ernste, sondern eben bloß in dem Gedanken: »ich will mal hingehen und
+probieren, anstatt hier davon zu träumen!« und natürlich, er hielt es
+nicht aus, ließ gleich die Absicht fallen und war in rasender Wut über
+sich selbst davongelaufen. Indessen, wie es schien, war die ganze
+Analyse im Sinne der moralischen Lösung der Frage von ihm ins reine
+gebracht; seine Kasuistik war geschärft wie ein Rasiermesser, und er
+fand in sich selbst keine klare Entgegnung mehr. Zu guter Letzt glaubte
+er dann einfach sich selbst nicht und suchte hartnäckig in allen
+Richtungen tastend nach Entgegnungen, als ob ihn jemand dazu zwänge und
+herbeizöge. Der letzte Tag aber, der so unerwartet eintrat, und der
+alles mit einem Male zur Entscheidung brachte, wirkte auf ihn fast rein
+mechanisch, -- wie wenn ihn jemand an die Hand genommen und
+unwiderstehlich, blindlings mit einer unnatürlichen Kraft und
+widerstandslos nach sich gezogen hätte, wie wenn er mit einem Zipfel
+seines Rockes in das Rad einer Maschine geraten und mit fortgerissen
+worden wäre.
+
+Von Anfang an, -- übrigens schon lange vorher -- beschäftigte ihn die
+Frage: warum fast alle Verbrecher so leicht aufgespürt und entdeckt
+werden, und warum die Spuren fast aller Verbrecher so deutlich
+wahrzunehmen sind? Er kam allmählich zu vielseitigen und interessanten
+Schlüssen, und nach seiner Meinung lag die Hauptursache nicht so sehr in
+der materiellen Unmöglichkeit, ein Verbrechen zu verbergen, als in dem
+Verbrecher selbst. Der Verbrecher selbst, und fast jeder verliert im
+Augenblick des Handelns an Willen und Verstand, an dessen Stelle ein
+kindischer phänomenaler Leichtsinn tritt, und gerade in dem Augenblicke,
+wo Verstand und Vorsicht am notwendigsten sind. Nach seiner Überzeugung
+ergab es sich, daß diese Verdunkelung des Verstandes und der
+Zusammenbruch des Willens einen Menschen gleich einer Krankheit packen,
+sich allmählich entwickeln und kurz vor der Vollbringung des Verbrechens
+ihren höchsten Punkt erreichen, bei der Ausführung, oder noch etwas
+länger, je nach Veranlagung, auf demselben Höhepunkt anhalten und dann
+ebenso vergehen, wie jede andere Krankheit. Die Frage aber, ob eine
+Krankheit das Verbrechen erzeugt oder ob das Verbrechen selbst irgendwie
+infolge seiner eigentümlichen Natur stets von etwas Ähnlichem wie
+Krankheit begleitet wird, -- zu lösen, fühlte er sich nicht imstande.
+
+Nachdem er das erwogen hatte, schloß er, daß mit ihm persönlich bei
+seiner Tat ein ähnlicher krankhafter Umschwung nicht stattfinden könne,
+daß sein Verstand und Wille während der ganzen Zeit der Vollführung
+völlig intakt sein werde, einzig schon aus dem Grunde, weil sein
+Unternehmen -- »kein Verbrechen« sei ... Lassen wir den ganzen Prozeß
+beiseite, durch den er zu dem letzten Schlusse gekommen war; wir sind
+schon ohnedem viel zu weit gegangen ... Wir wollen bloß hinzufügen, daß
+die tatsächlichen, rein materiellen Hindernisse der Tat überhaupt in
+seinem Verstande eine untergeordnete Rolle spielten. »Man muß nur den
+ganzen Willen und den ganzen Verstand bewahren, und sie alle werden
+seinerzeit besiegt werden, wenn es darauf ankommt, alle Einzelheiten der
+Tat bis zum kleinsten Punkt zu übersehen ...«
+
+Aber die Tat war noch nicht in Angriff genommen. An die endgültige
+Ausführung glaubte er eben fortgesetzt selber am wenigsten, und als die
+Stunde schlug, kam alles gar nicht so, sondern wie zufällig, ja fast
+unerwartet.
+
+Ein ganz geringfügiger Umstand machte ihn stutzig, noch ehe er die
+Treppe hinabgestiegen war. Als er an der Tür zu der Küche vorbeiging,
+die wie immer weit geöffnet war, warf er einen vorsichtigen Seitenblick
+hinein, um sich vorher zu vergewissern, ob nicht während der Abwesenheit
+von Nastasja die Wirtin selbst da sei, und wenn sie nicht da war, ob die
+Türe zu ihrem Zimmer auch gut verschlossen sei, damit sie ja nicht
+plötzlich herauskommen könne, wenn er das Beil holen würde? Aber wie
+groß war seine Betroffenheit, als er plötzlich Nastasja diesmal nicht
+nur in der Küche sah, sondern dazu mit einer Arbeit beschäftigt; sie
+nahm aus einem Korbe Wäsche und hing sie auf. Als sie ihn erblickte,
+hörte sie auf, wandte sich zu ihm und schaute ihn die ganze Zeit an,
+während er vorbeiging. Er wandte die Augen ab und ging weiter, als ob er
+sie nicht gesehen hätte. Die Sache aber war abgetan, -- er hatte kein
+Beil! Er war tief niedergeschlagen.
+
+»Und woher kam mir der Gedanke,« sagte er sich, indem er sich dem Tore
+näherte. »Woher kam mir der Gedanke, daß sie unbedingt in diesem
+Augenblicke nicht zu Hause sein dürfe? Warum, warum, warum war ich so
+sicher davon überzeugt?«
+
+Er war verstört, kam sich erniedrigt vor; wollte über sich selbst vor
+Ärger lachen ... Eine dumpfe tierische Wut bemächtigte sich seiner.
+
+Er blieb in Gedanken versunken unter dem Tore stehen. Auf die Straße zu
+gehen, um des Scheines willen zu spazieren, war ihm widerlich; nach
+Hause zurückkehren noch widerlicher. »Welch eine Gelegenheit hab ich für
+immer verloren!« murmelte er, indem er unschlüssig unter dem Tore
+stehenblieb, gerade gegenüber der dunklen Kammer des Hausknechts, die
+auch offen war. Plötzlich zuckte er zusammen. In der Kammer des
+Hausknechts, zwei Schritte von ihm entfernt, schimmerte unter der Bank
+rechts etwas Blankes ... Er sah sich um -- niemand war in der Nähe. Auf
+den Fußspitzen ging er zu der Kammer hin, stieg zwei Stufen hinab und
+rief mit leiser Stimme nach dem Hausknecht.
+
+»Es stimmt, er ist nicht da! Wahrscheinlich ist er irgendwo in der Nähe
+auf dem Hofe, da die Türe weit offen steht.«
+
+Er stürzte sich in aller Hast auf das Beil (es war ein solches) und zog
+es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzscheiten lag, hervor;
+befestigte es gleich in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen
+und verließ die Kammer. Niemand hatte es gesehen!
+
+»Wenn der Verstand nicht hilft, so tut es der Teufel!« dachte er mit
+einem sonderbaren Lächeln. Dieser Zufall hatte ihn außerordentlich
+ermutigt.
+
+Er ging langsam und _bedächtig_, ohne sich zu beeilen, um ja keinen
+Verdacht zu erwecken. Er sah die Vorübergehenden wenig an, versuchte
+ihnen nicht ins Gesicht zu sehen, um selber möglichst unerkennbar zu
+sein. Plötzlich fiel ihm sein Hut ein. »Mein Gott! Geld hatte ich
+vorgestern noch gehabt und bin nicht auf den Gedanken gekommen, mir eine
+Mütze zu kaufen!«
+
+Ein Fluch kam über seine Lippen. Als er zufällig in einen Laden
+hineinblickte, sah er, daß die Wanduhr dort schon zehn Minuten über
+sieben zeigte. Nun mußte er sich beeilen und gleichzeitig einen Umweg
+machen, -- er wollte das Haus von der anderen Seite erreichen ...
+Früher, als er ab und zu sich dies alles in der Phantasie vorstellte,
+hatte er gemeint, daß er große Angst haben werde. Aber er fürchtete sich
+jetzt nicht besonders, ja eigentlich gar nicht. In diesem Augenblicke
+beschäftigten ihn selbst ganz andere Gedanken, doch nur immer kurze
+Zeit. Als er an dem Jussupowschen Garten vorbeiging, vertiefte er sich
+ziemlich stark in die Idee, hohe Springbrunnen zu errichten, und malte
+sich aus, wie gut sie die Luft auf allen Plätzen erneuern würden.
+Allmählich kam er zu der Überzeugung, daß, wenn man den Sommergarten
+über den ganzen Exerzierplatz erweitern und ihn womöglich mit dem
+Michailoffschen Schloßpark vereinigen würde, die Stadt dadurch einen
+schönen großen Nutzen haben würde. Dabei interessierte ihn wiederum die
+Frage, warum gerade in allen großen Städten der Mensch nicht bloß aus
+reiner Notwendigkeit, sondern aus anderen Gründen geneigt ist, sich in
+solchen Stadtteilen niederzulassen und zu leben, wo es keine Gärten,
+keine Springbrunnen gibt, wo Schmutz und Gestank und allerhand
+Abscheuliches herrscht. Es kamen ihm auch seine eigenen Spaziergänge
+über den Heumarkt in den Sinn, und er besann sich auf sein Vorhaben.
+
+»Was für ein Unsinn!« dachte er. »Nein, besser, ich denke an gar
+nichts.«
+
+»Wahrscheinlich in ähnlicher Weise heften sich die Gedanken derer, die
+man zur Hinrichtung führt, an alle Gegenstände, die sie auf ihrem Wege
+treffen,« fuhr es blitzartig durch seinen Kopf. Er verjagte schnell
+diesen Gedanken ... da ist das Haus, er sieht das Tor. Irgendwo schlug
+plötzlich eine Uhr einmal. »Was, ist es schon halb acht? Das kann nicht
+sein, sie geht wahrscheinlich vor!«
+
+Zu seinem Glück ging unter dem Tore alles wieder gut vonstatten. Wie
+absichtlich fuhr in diesem Augenblicke unter das Tor ein ungeheurer
+Wagen voll Heu, so daß er ihn die ganze Zeit, während er das Tor
+passierte, verdeckte, und als der Wagen in den Hof hineinfuhr, huschte
+er in einem Nu nach rechts. Dort, auf der anderen Seite des Wagens,
+hörte man, wie einige Stimmen schrien und sich stritten, ihn aber hatte
+niemand bemerkt und er begegnete auch niemandem. Viele Fenster, die auf
+den großen viereckigen Hof hinausgingen, standen offen, aber er erhob
+nicht den Kopf, -- er hatte keine Kraft dazu. Die Treppe zu der Wohnung
+der Alten lag in der Nähe, gleich rechts von dem Tore. Er war schon auf
+der Treppe ...
+
+Er holte Atem, hielt die Hand auf das klopfende Herz, fühlte dabei nach
+dem Beile, rückte es zurecht und begann vorsichtig und leise die Treppe
+hinaufzusteigen, alle Augenblicke horchend. Auch die Treppe war um diese
+Zeit vollkommen leer; alle Türen waren verschlossen; er begegnete auch
+da niemandem. Im zweiten Stocke stand wohl eine leere Wohnung weit
+offen, und in ihr arbeiteten Maler, aber auch die sahen nicht zu ihm
+hin. Er stand einen Augenblick still, dachte nach und ging weiter. --
+»Gewiß, es wäre noch besser, wenn sie nicht da wären, aber ... über
+ihnen liegen noch zwei Stockwerke. Aber da ist nun der vierte Stock, da
+ist die Türe, und die Wohnung gegenüber, die ist unbewohnt. Im dritten
+Stocke steht die Wohnung, die unter der Wohnung der Alten liegt, allen
+Anzeichen nach auch leer, -- die Visitenkarte, die an der Türe mit
+Nägeln befestigt war, ist abgenommen, -- also sind sie ausgezogen!« ...
+Sein Atem stockte. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke: »Soll
+ich nicht fortgehen!« Er gab sich aber keine Antwort und begann an der
+Türe zu der Wohnung der Alten zu horchen, -- es war totenstill. Dann
+lauschte er nochmals die Treppe hinab, lauschte lange und aufmerksam ...
+Dann sah er sich zum letzten Male um, nahm sich zusammen, faßte sich und
+tastete noch einmal nach dem Beil in der Schlinge.
+
+»Bin ich nicht zu ... blaß?« dachte er. »Bin ich nicht zu erregt? Sie
+ist mißtrauisch ... Soll ich nicht besser noch ein wenig warten ... bis
+das Herz sich beruhigt? ...«
+
+Das Herz aber beruhigte sich nicht. Im Gegenteil, es klopfte, wie
+absichtlich, immer stärker und stärker ... Er hielt es nicht aus,
+langsam streckte er die Hand nach der Klingel und schellte. Nach einer
+halben Minute schellte er noch einmal etwas lauter.
+
+Keine Antwort. Unnütz zu klingeln ging nicht an und paßte außerdem nicht
+für ihn. Die Alte ist selbstverständlich zu Hause, aber sie ist
+mißtrauisch und allein. Er kannte teilweise ihre Gewohnheiten ... und er
+legte noch einmal sein Ohr fest an die Türe. Waren seine Sinne so
+geschärft (was überhaupt sich schwer vorstellen läßt) oder war
+tatsächlich es deutlich zu hören, er unterschied das vorsichtige Tasten
+einer Hand an der Türklinke und das Rascheln eines Kleides an der Türe.
+Jemand stand unbemerkbar innen am Schlosse selbst und lauschte ebenso,
+wie er hier von außen, mit angehaltenem Atem und wie es schien, ebenso
+mit dem Ohre an der Türe ... Er machte absichtlich eine Bewegung und
+murmelte laut etwas vor sich hin, um zu zeigen, daß er sich nicht
+verstecke. Dann schellte er zum dritten Male, aber leise, mit Anstand
+und ohne Ungeduld. Wenn er sich später dessen erinnerte, deutlich und
+klar, -- dieser Augenblick hat sich ihm auf ewig eingeprägt, -- konnte
+er nicht begreifen, woher soviel Schlauheit über ihn gekommen war,
+besonders, da sein Verstand sich zeitweise verdunkelte und er seinen
+Körper fast gar nicht fühlte ... Einen Augenblick nachher hörte man, daß
+der Verschluß abgenommen wurde.
+
+
+ VII.
+
+Die Türe wurde, wie auch damals, um einen einzigen Spalt geöffnet, und
+wieder hafteten auf ihm zwei scharfe und mißtrauische Augen aus der
+Dunkelheit. Da verlor Raskolnikoff die Fassung und machte beinahe einen
+großen Fehler.
+
+In der Befürchtung, daß die Alte erschrecken würde, weil sie allein sei,
+und da er nicht glauben konnte, daß sein Anblick sie beruhigen würde,
+griff er nach der Türe und zog sie zu sich, damit die Alte nicht auf den
+Gedanken komme, sich wieder einzuschließen. Als die Alte das sah, zog
+sie die Türe nicht zurück, ließ aber auch nicht die Türklinke los, so
+daß er sie beinahe mit der Türe auf die Treppe hinauszog. Da er aber
+sah, daß sie quer vor der Türe stand und ihn nicht durchlassen wollte,
+ging er direkt auf sie los. Die Alte sprang erschreckt zurück, wollte
+etwas sagen, aber schien es nicht zu können und sah ihn unverwandt an.
+
+»Guten Tag, Aljona Iwanowna,« begann er möglichst ungezwungen, aber die
+Stimme gehorchte nicht, sie brach ab und zitterte. »Ich habe Ihnen ...
+ein Versatzstück gebracht ... aber wir gehen besser hierher ... wo es
+hell ist ...« Er ließ sie stehn und ging ohne Aufforderung in das
+Zimmer. Die Alte lief ihm nach, ihre Zunge hatte sich gelöst.
+
+»Herrgott! Was wollen Sie? ... Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
+
+»Erlauben Sie, Aljona Iwanowna ... ich bin Ihnen bekannt ...
+Raskolnikoff ... da haben Sie, ich habe ein Versatzstück gebracht, wie
+ich vor ein paar Tagen versprach ...«
+
+Und er reicht ihr das Versatzstück hin.
+
+Die Alte warf einen leichten Blick auf das Versatzstück, aber richtete
+sofort ihre Augen direkt ins Gesicht des ungebetenen Gastes. Sie sah ihn
+aufmerksam, böse und mißtrauisch an. Es verging eine Minute; ihm schien
+sogar, in ihren Augen liege etwas wie Spott, als ob sie schon alles
+erraten hätte. Er fühlte, daß er die Fassung verlor, und daß ihn die
+Furcht packte, eine so starke Furcht, daß ihm schien, wenn sie ihn noch
+eine halbe Minute so weiter angesehen hätte, er ohne ein Wort zu sagen
+weggelaufen wäre.
+
+»Warum sehen Sie mich so an, als ob Sie mich nicht wiedererkennen?«
+sagte er plötzlich ebenfalls böse. »Wenn Sie wollen, nehmen Sie es zum
+Versatz, wenn nicht, -- gehe ich zu anderen, ich habe keine Zeit.«
+
+Er wußte selbst nicht, wie er zu diesen Worten kam.
+
+Die Alte kam zu sich, und der entschlossene Ton des Besuchers gab ihr
+anscheinend Mut.
+
+»Warum sind Sie hergekommen, Väterchen, was ist das?« fragte sie und
+blickte auf das Versatzstück.
+
+»Ein silbernes Zigarettenetui; ich sprach vorigesmal davon!«
+
+Sie streckte die Hand aus.
+
+»Warum sind Sie so blaß? Auch Ihre Hände zittern! Haben Sie gebadet?«
+
+»Fieber habe ich,« antwortete er kurz. »Unwillkürlich wird man blaß ...
+wenn man nichts zu essen hat,« fügte er, die Worte kaum aussprechend,
+hinzu. Die Kräfte verließen ihn wieder. Die Antwort aber erschien
+wahrheitsgetreu; denn die Alte nahm das Versatzstück.
+
+»Was ist es?« fragte sie, indem sie Raskolnikoff noch einmal prüfend
+ansah und das Versatzstück in der Hand wog.
+
+»Ein Ding ... ein Zigarettenetui ... aus Silber ... Sehen Sie nach.«
+
+»Hm, mir scheint es nicht aus Silber ... Sieh, wie er es zugeschnürt hat
+...« Indem sie versuchte, den Bindfaden zu lösen und sich zum Fenster
+gegen das Licht wandte (alle Fenster waren trotz der schwülen Hitze
+geschlossen), ließ sie ihn auf ein paar Sekunden aus dem Auge und
+stellte sich mit dem Rücken gegen ihn. Er knöpfte seinen Mantel auf und
+zog das Beil aus der Schlinge, aber er holte es noch nicht hervor,
+sondern hielt es mit der rechten Hand unter dem Mantel. Seine Hände
+waren furchtbar schwach; er fühlte selbst, wie sie mit jedem Augenblick
+immer mehr erlahmten und erstarrten. Er fürchtete, daß er das Beil
+fallen lassen werde ... plötzlich schwindelte ihm der Kopf.
+
+»Was hat er denn da umgewickelt!« rief die Alte ärgerlich aus und machte
+eine Bewegung nach seiner Seite. Kein Moment länger durfte verloren
+gehen. Er zog das Beil ganz hervor, hob es, kaum daß er sich dessen
+bewußt war, mit beiden Händen empor und ließ es fast ohne Anstrengung,
+fast mechanisch mit der breiten Seite auf den Kopf der Alten
+niederfallen. Er hatte, wie es schien, dabei keine Kraft angewandt. Aber
+kaum hatte er das Beil zum ersten Male fallen lassen, da kamen auch die
+Kräfte.
+
+Die Alte war wie immer barhäuptig. Ihre hellen, leicht ergrauten dünnen
+Haare, wie gewöhnlich fettig geölt, waren in rattenschwanzartige kleine
+Flechten geflochten und wurden von einem abgebrochenen Hornkamme, der
+auf ihrem Hinterkopfe saß, zusammengehalten. Der Schlag hatte sie bei
+ihrer Kleinheit direkt auf den Scheitel getroffen. Sie schrie auf, aber
+sehr leise, ihre beiden Hände gegen den Kopf erhebend. In der einen Hand
+hielt sie das »Versatzstück« fest. Da schlug er aus aller Kraft ein
+zweites und ein drittes Mal zu, immer mit der breiten Seite und immer
+gegen den Scheitel. Das Blut strömte hervor wie aus einem zersprungenen
+Glase, und der Körper fiel zu Boden mit dem Gesichte nach oben. Er trat
+einen Schritt zurück, ließ den Körper liegen und beugte sich über ihr
+Gesicht; sie war schon tot. Die Augen waren weit aufgerissen, als ob sie
+herausspringen wollten, und die Stirn und das ganze Gesicht waren
+verzogen und krampfhaft verzerrt.
+
+Er legte das Beil auf die Diele neben die Tote, langte eilends in ihre
+Tasche, in dieselbe rechte Tasche, aus der sie das vorige Mal die
+Schlüssel hervorgeholt hatte, und suchte zu verhindern, daß er sich mit
+dem fließenden Blute beschmiere. Er war bei klarem Verstande,
+Verdüsterungen und Schwindel fühlte er nicht mehr, aber die Hände
+zitterten immer noch. Er erinnerte sich später, daß er sogar sehr
+aufmerksam und vorsichtig war und immer versuchte, sich nicht zu
+beschmutzen ... Die Schlüssel zog er sofort heraus; sie hingen alle wie
+damals an einem Schlüsselbunde, an einem Ringe von Stahl. Er lief sofort
+mit ihm in das Schlafzimmer. Das war ein sehr kleines Zimmer mit einer
+großen Sammlung Heiligenbilder. An der anderen Wand stand ein großes
+Bett, sehr reinlich, mit einer wattierten Decke, die mit bunten
+Seidenflicken besetzt war. An der dritten Wand stand eine Kommode. Wie
+seltsam, kaum begann er die Schlüssel an der Kommode zu probieren, kaum
+hörte er ihr Rascheln, da kam der Krampf über ihn. -- Er bekam wieder
+Lust, alles liegenzulassen und fortzugehen. Aber das dauerte nur einen
+Augenblick; es war zu spät, fortzugehen. Er lächelte sogar über sich
+selbst, als plötzlich ein anderer beunruhigender Gedanke durch seinen
+Kopf fuhr. Ihm däuchte plötzlich, daß die Alte vielleicht noch lebe und
+zu sich kommen könne. Er ließ die Schlüssel fallen, lief zurück zu der
+Toten, ergriff das Beil und erhob es noch einmal über die Alte, ließ es
+aber nicht niedersausen. Es gab keinen Zweifel, sie war tot. Indem er
+sich über sie beugte und sie wieder in der Nähe betrachtete, sah er
+deutlich, daß der Schädel zerschmettert und sogar ein wenig nach der
+Seite verschoben war. Er wollte mit dem Finger es befühlen, aber er riß
+die Hand zurück; es war ja ohnedem zu sehen. Indessen war schon eine
+ganze Pfütze Blut zusammengelaufen. Plötzlich bemerkte er an ihrem Halse
+eine Schnur, er riß daran, aber die Schnur war stark und ließ sich nicht
+zerreißen, außerdem war sie mit Blut durchtränkt. Er versuchte sie so
+unter dem Busen hervorzuziehen, aber etwas hielt die Schnur fest.
+Ungeduldig wollte er wieder das Beil emporheben, um die Schnur von oben
+über den Körper durchzuschlagen, aber er wagte es nicht, und mit großer
+Mühe zerschnitt er nach einer Arbeit von zwei Minuten die Schnur, ohne
+mit dem Beile den Körper zu berühren, wobei er aber seine Hände und das
+Beil mit Blut besudelt hatte; er hatte sich nicht geirrt -- an der
+Schnur hing ein Beutel. Außerdem hingen daran zwei Kreuze, eins von
+Zypressen und das andere von Kupfer, und ein Heiligenbildchen aus
+Emaille; es war ein kleiner beschmutzter Beutel aus Sämischleder mit
+einer stählernen Spanne und kleinem Ringe. Der Beutel war sehr voll
+gepackt. Raskolnikoff steckte ihn, ohne ihn näher zu betrachten, in die
+Tasche, die Kreuze warf er der Alten auf die Brust, nahm diesmal das
+Beil auch mit und stürzte in das Schlafzimmer zurück.
+
+Er war in schrecklicher Hast, nahm die Schlüssel und versuchte sie von
+neuem. Aber es gelang ihm immer nicht, sie paßten nicht für die
+Schlösser. Nicht, weil seine Hände zitterten, aber er irrte sich immer;
+er sah zum Beispiel, daß es nicht der richtige Schlüssel war, daß er
+nicht paßte, trotzdem probierte er ihn immer wieder. Plötzlich dachte er
+daran und es leuchtete ihm ein, daß dieser große Schlüssel mit dem
+zackigen Barte, der an dem Ringe mit den anderen kleinen zusammenhing,
+gar nicht zu der Kommode gehörte (wie es ihm schon vorigesmal in den
+Sinn gekommen war), sondern unbedingt zu einer Truhe gehören mußte, und
+daß in dieser Truhe vielleicht alles aufbewahrt war. Er verließ die
+Kommode und kroch sofort unter das Bett, da er wußte, daß die Truhen
+gewöhnlich bei alten Frauen unter dem Bette stehen. Es stimmte, es stand
+darunter eine ziemlich große Truhe, ungefähr ein Meter lang, mit einem
+halbrunden Deckel, mit rotem Saffian beschlagen. Der zackige Schlüssel
+paßte und schloß die Truhe auf. Oben, unter einem weißen Laken, lag ein
+mit rotem Stoff bezogener Pelz aus Hasenfellen; unter ihm ein seidenes
+Kleid, ein Schal und in der Tiefe lagen, wie es schien, allerhand
+Kleidungsstücke. Zuerst begann er seine mit Blut besudelten Hände an dem
+roten Stoff abzuwischen. »Der Stoff ist rot und bei rot ist Blut nicht
+so auffallend,« dachte er und plötzlich kam er zu sich. »Mein Gott!
+Verliere ich den Verstand?« sagte er sich erschreckt.
+
+Kaum aber hatte er die Lumpen angerührt, als plötzlich unter dem Pelze
+eine goldene Uhr hervorglitt. Er machte sich daran, alles in der Truhe
+umzuwerfen. Zwischen den Kleidungsstücken waren in der Tat goldene
+Sachen untergebracht -- wahrscheinlich alles versetzte Sachen, gekaufte
+oder nicht ausgelöste Armbänder, Ketten, Ohrringe, Busennadeln und
+dergleichen mehr. Manche Pfänder waren in Futteralen, andere wieder
+einfach in Zeitungspapier eingeschlagen, aber peinlich und sorgfältig in
+doppelte Bogen und mit Bindfaden zugeschnürt. Ohne einen Moment zu
+zögern, begann er seine Hosentaschen und die Taschen im Mantel mit den
+Sachen zu füllen; er untersuchte nicht und öffnete nicht die Pakete und
+die Futterale, aber er kam nicht dazu, viel einzustecken ...
+
+Denn plötzlich hörte er in dem Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er
+ließ das Kramen und verhielt sich still, wie ein Toter. Alles war aber
+ruhig, also hatte er nur geträumt. Aber da hörte er deutlich einen
+leisen Schrei, als wenn jemand leise und abgerissen stöhnte und darauf
+schwieg. Wieder trat eine Totenstille ein, eine Minute oder zwei Minuten
+lang. Er horchte neben der Truhe und wartete mit angehaltenem Atem,
+plötzlich aber sprang er auf, ergriff das Beil und lief aus dem
+Schlafzimmer.
+
+Mitten im Zimmer stand Lisaweta mit einem großen Bündel in der Hand und
+sah erstarrt die ermordete Schwester an; sie war weiß wie Linnen und
+schien außerstande zu schreien. Als sie ihn hereinlaufen sah, erzitterte
+sie wie ein Blatt, und ihr ganzes Gesicht zuckte; sie erhob die eine
+Hand, öffnete den Mund, schrie aber trotzdem nicht und begann langsam
+rückwärts vor ihm in eine Ecke zurückzuweichen, ihm unverwandt ins
+Gesicht sehend, aber immer noch nicht schreiend, als ob es ihr an Luft
+mangele. Er stürzte sich auf sie mit dem Beile. Ihre Lippen verzogen
+sich so kläglich, wie es ganz kleine Kinder tun, wenn sie sich vor etwas
+fürchten, den Gegenstand ihrer Furcht unverwandt ansehen und sich
+anschicken zu schreien. Diese unglückliche Lisaweta war so einfältig und
+so völlig eingeschüchtert, daß sie nicht einmal ihre Hände erhob, um das
+Gesicht zu schützen, obwohl das doch die unwillkürlichste und
+natürlichste Bewegung in diesem Augenblicke gewesen wäre, während das
+Beil über ihrem Kopfe schwebte. Sie erhob nur ein wenig ihre freie linke
+Hand, aber bei weitem nicht bis zum Gesichte und streckte sie ihm
+langsam entgegen, als ob sie ihn zur Seite schieben wollte. Der Schlag
+traf direkt den Schädel mit der scharfen Seite des Beiles und
+durchschnitt mit einem Male den ganzen oberen Teil der Stirn fast bis
+zur Schläfe. Sie stürzte sofort hin. Raskolnikoff verlor beinahe die
+Fassung, er ergriff ihr Bündel, warf es wieder hin und lief in das
+Vorzimmer.
+
+Die Angst packte ihn mehr und mehr nach diesem zweiten, vollkommen
+unerwarteten Morde. Er wollte schnell von hier fort. Und wenn er in
+diesem Augenblicke imstande gewesen wäre, klarer zu sehen und zu denken,
+wenn er sich alle Schwierigkeiten seiner Lage, die ganze Verzweiflung,
+den ganzen Ekel und den ganzen Wahnsinn der Situation hätte vorstellen
+können und dabei verstanden hätte, wieviel Hindernisse, vielleicht auch
+Verbrechen er noch überwinden und vollbringen mußte, um von hier
+loszukommen und nach Hause zu gelangen, dann hätte er wahrscheinlich
+alles im Stiche gelassen und wäre sofort hingegangen und hätte sich
+selbst gestellt; und er hätte es nicht aus Furcht getan für seine
+Person, sondern nur aus Schrecken und Widerwillen allein vor dem, was er
+vollbracht hatte. Besonders der Widerwillen stieg und wuchs in ihm mit
+jedem Augenblicke. Um keinen Preis in der Welt würde er jetzt zu der
+Truhe oder in das Zimmer zurückgegangen sein.
+
+Aber eine Zerstreutheit, eine Nachdenklichkeit kam allmählich über ihn;
+einige Minuten blieb er wie verloren stehen oder besser, er verlor sich
+in Kleinigkeiten und vergaß die Hauptsache. Als er übrigens einen Blick
+in die Küche warf und auf einer Bank einen Eimer sah, der zur Hälfte mit
+Wasser gefüllt war, kam er auf den Gedanken, seine Hände und das Beil
+abzuwaschen. Seine Hände waren blutig und klebten. Das Beil steckte er
+mit der Schneide einfach ins Wasser, ergriff ein Stück Seife, das auf
+dem Fensterbrette auf einer zerschlagenen Untertasse lag und begann im
+Eimer selbst seine Hände zu waschen. Nachdem er die Hände gereinigt
+hatte, zog er auch das Beil heraus, wusch das Eisen ab und wusch lange,
+gegen drei Minuten lang, die Blutflecken vom Holze ab und versuchte
+sogar das Blut mit Seife abzuwaschen. Dann trocknete er alles mit
+Wäschestücken ab, die hier an einem Stricke trockneten, und besah lange
+voll Aufmerksamkeit am Fenster das Beil. Spuren waren nicht da, nur das
+Holz war noch feucht. Er steckte sorgfältig das Beil in die Schlinge
+unter dem Mantel. Darauf besah er den Mantel, die Hosen und die Stiefel,
+soweit es ihm das Licht in der halbdunklen Küche erlaubte. Beim ersten
+Blick schien man außen nichts zu sehen; nur auf den Stiefeln waren
+Flecken. Er machte einen Lappen naß und wischte die Stiefel ab. Er wußte
+übrigens, daß er nicht gut sehen konnte, daß es vielleicht etwas in die
+Augen Fallendes gab, was er nicht bemerkte. In Nachdenken versunken,
+stand er mitten im Zimmer. Ein quälender dunkler Gedanke erstand in ihm
+-- der Gedanke, daß er den Verstand verliere, und daß er in diesem
+Augenblicke weder denken noch sich verteidigen könne, daß vielleicht gar
+nicht das zu tun sei, was er jetzt tue ...
+
+»Mein Gott! Ich muß fort, fort!« murmelte er und stürzte in das
+Vorzimmer. Aber hier erwartete ihn ein Schrecken, wie er ihn sicher noch
+nie erlebt hatte.
+
+Er stand, sah hin und traute seinen Augen nicht: die Türe, die
+Außentüre, die aus dem Vorzimmer auf die Treppe ging, dieselbe, an der
+er vor kurzem geschellt und durch die er hineingekommen war, stand
+offen, sogar eine Hand breit offen, weder das Schloß war zu, noch der
+Riegel vor -- die ganze, die ganze, ganze Zeit! Die Alte hatte hinter
+ihm nicht abgeschlossen, vielleicht aus Vorsicht. Aber, mein Gott! Er
+hat aber doch später Lisaweta gesehen! Und wie konnte, wie konnte er
+nicht auf den Gedanken kommen, daß sie doch irgendwie hereingekommen
+war! Sie war nicht durch die Wand gekommen!
+
+Er stürzte zur Türe und legte den Riegel vor.
+
+»Aber nein, das war wieder nicht das richtige! Ich muß fort, fort! ...«
+
+Er zog den Riegel zurück, öffnete die Türe und begann zur Treppe hin zu
+lauschen.
+
+Er horchte lange. Irgendwo weit unten, wahrscheinlich unter dem Tore,
+schrien laut und kreischend zwei Stimmen, stritten sich und schimpften.
+
+»Was haben die? ...«
+
+Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einem Male alles still, wie
+abgeschnitten; sie sind fortgegangen.
+
+Er wollte schon hinaustreten, aber plötzlich öffnete sich geräuschvoll
+ein Stock tiefer eine Tür zur Treppe, jemand begann die Treppe
+hinabzusteigen und summte vor sich irgend etwas her.
+
+»Wie sie alle lärmen!« ging es durch seinen Kopf.
+
+Er zog wieder die Türe zu und wartete. Endlich verstummte alles, keine
+Seele war zu hören. Er tat schon einen Schritt zur Treppe, als er
+plötzlich wieder neue Schritte vernahm.
+
+Diese Schritte kamen von sehr weit her, ganz vom Anfange der Treppe,
+aber er erinnerte sich sehr gut und deutlich, daß er schon beim ersten
+Schritte damals aus irgendeinem Grunde den Verdacht faßte, daß man
+unbedingt _hierher_, in den vierten Stock, zu der Alten komme. Warum?
+Klangen die Schritte so sonderbar, so bedeutungsvoll? Es waren schwere
+gleichmäßige Schritte von einem Menschen, der keine Eile hat. Den ersten
+Stock hat _er_ schon erreicht, nun steigt er weiter die Treppe hinauf,
+-- deutlicher und deutlicher hört man es. Er vernahm das schwere Atmen
+des Kommenden. Nun ist er schon im dritten Stock. Er kommt hierher! Und
+plötzlich erschien es Raskolnikoff, als wäre er versteinert, als wäre er
+im Traume, wenn es einem träumt, daß man verfolgt wird, daß die Mörder
+ganz nahe hinter einem sind, man aber wie angewachsen dasteht und die
+Hände nicht rühren kann.
+
+Endlich, als der Besucher schon den vierten Stock heraufstieg, fuhr er
+plötzlich zusammen und es gelang ihm doch schnell und geschmeidig, von
+dem Treppenabsatz in die Wohnung hineinzuschlüpfen und die Türe hinter
+sich zuzumachen. Dann nahm er den Haken und legte ihn leise, unhörbar
+vor. Der Instinkt half ihm. Als er das in Ordnung gebracht hatte,
+stellte er sich mit angehaltenem Atem direkt an die Türe. Der unbekannte
+Besucher war schon da. Sie standen jetzt einander gegenüber, wie er vor
+kurzem der Alten gegenüberstand, als die Türe sie voneinander trennte,
+und er lauschte.
+
+Der Besucher atmete ein paarmal schwer.
+
+»Er ist wahrscheinlich dick und groß,« dachte Raskolnikoff und nahm das
+Beil fester in die Hand. Ihm war wieder alles wie im Traume. Der
+Besucher faßte die Klingel und läutete stark.
+
+Als die Klingel blechern erklirrte, schien es ihm, als ob in dem Zimmer
+sich jemand rühre. Einige Sekunden lauschte er. Der Unbekannte schellte
+noch einmal, wartete ein wenig und begann plötzlich ungeduldig aus aller
+Kraft mit der Türklinke zu klappern. Mit Schrecken blickte Raskolnikoff
+auf den hüpfenden Haken und wartete mit stumpfer Angst, daß der Haken
+jeden Augenblick herausspringen werde. Es schien in der Tat möglich zu
+sein, -- so stark riß jener an der Türe. Er wollte den Haken mit der
+Hand niederhalten, aber der _andere_ konnte es merken. Es begann ihm
+wieder schwindlig zu werden.
+
+»Ich breche noch zusammen!« durchzuckte es ihn, aber der Unbekannte
+begann zu sprechen, da kam er zu sich. »Ja, schlafen die denn da oder
+sind sie tot? Verflucht noch einmal!« wetterte er. »He, Aljona Iwanowna,
+alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, du wundervolle Schönheit! Öffnet! Ach,
+verflucht, schlafen sie wirklich?«
+
+Und er riß von neuem rasend gegen zehnmal nacheinander aus voller Kraft
+an der Klingel. Es war wohl ein Mann, der etwas galt und im Hause gut
+bekannt war.
+
+In diesem Augenblick vernahm man unweit auf der Treppe kurze eilige
+Schritte. Es kam noch jemand. Raskolnikoff hatte es zuerst nicht gehört.
+
+»Ist niemand da; unmöglich?« rief laut der Angekommene und wandte sich
+freundlich an den ersten Besucher, der noch immer an der Klingel riß.
+»Guten Abend, Koch!«
+
+»Nach der Stimme zu urteilen, muß es ein sehr junger Mann sein,« dachte
+Raskolnikoff.
+
+»Das weiß der Teufel, ich habe fast das Schloß abgerissen,« antwortete
+Koch. »Aber woher kennen Sie mich denn?«
+
+»Warum nicht! Vorgestern habe ich Ihnen drei Partien Billard im
+>Gambrinus< abgewonnen.«
+
+»Ah ...«
+
+»Also, sie sind nicht zu Hause. Merkwürdig. Das ist aber dumm. Wo mag
+nur die Alte hingegangen sein? Ich habe Geschäfte mit ihr.«
+
+»Ich auch, mein Lieber.«
+
+»Was ist da zu tun? Wohl oder übel müssen wir wieder gehen. Ach! Und ich
+hoffte Geld zu bekommen!« rief der junge Mann aus.
+
+»Selbstredend müssen wir gehen, aber wozu gibt man eine Zeit an? Die
+alte Hexe hat mir selbst die Stunde bestimmt. Für mich bedeutet das
+einen weiten Weg. Zum Teufel, ich verstehe nicht, wo sie sich
+herumtreiben kann. Das ganze Jahr sitzt sie im Hause, die Hexe, rührt
+sich nicht vom Fleck, die Füße tun ihr weh, und nun plötzlich macht sie
+Ausflüge!«
+
+»Sollen wir nicht den Hausknecht fragen?«
+
+»Wonach denn?«
+
+»Wohin sie gegangen ist und wann sie wiederkommt?«
+
+»Hm ... zum Teufel ... sollen wir fragen ... Ja, sie geht doch nie aus
+...« und er riß noch einmal an der Türklinke.
+
+»Zum Teufel, es bleibt nichts übrig, wir müssen fortgehen.«
+
+»Warten Sie!« rief plötzlich der junge Mann. »Sehen Sie einmal, wie die
+Türe nachgibt, wenn man daran reißt!«
+
+»Na, und?«
+
+»Also ist sie nicht abgeschlossen, sondern nur eingehakt, auf den Haken!
+Hören Sie, wie der Haken klirrt?«
+
+»Nun?«
+
+»Verstehn Sie denn nicht? Also ist jemand von ihnen zu Hause. Wenn alle
+fortgegangen wären, hätten sie die Türe mit dem Schlüssel abgeschlossen,
+und nicht von innen mit dem Haken. Hören Sie nun, wie der Haken klirrt?
+Um aber von innen die Türe mit dem Haken abzuschließen, muß man zu Hause
+sein, verstehen Sie? Also, sitzen sie zu Hause und öffnen nicht!«
+
+»Hm! Ja, das ist wahr!« rief erstaunt Koch. »Was ist denn mit ihnen
+los?« Und er begann voll Wucht an der Türe zu zerren.
+
+»Warten Sie!« rief von neuem der junge Mann. »Halten Sie ein! Hier ist
+etwas nicht in Ordnung ... Sie haben doch geklingelt, an der Türe
+gerüttelt, -- und sie öffnen nicht, also, liegen sie entweder in
+Ohnmacht oder ...«
+
+»Was?«
+
+»Hören Sie mal, holen wir den Hausknecht, möge er sie aufwecken.«
+
+»Gut.«
+
+Sie gingen beide zur Treppe.
+
+»Warten Sie! Bleiben Sie mal hier, ich aber laufe nach dem Hausknecht.«
+
+»Warum soll ich bleiben?«
+
+»Es ist so besser ...«
+
+»Meinetwegen ...«
+
+»Ich bereite mich zum Untersuchungsrichter vor! Hier stimmt offenbar,
+offen--bar ... nicht alles!« rief voll Eifer der junge Mann und lief
+eilig die Treppe hinab.
+
+Koch blieb, rührte noch einmal leise die Klingel und es klirrte ein
+einziges Mal; dann begann er sachte, als ob er es überlegte und prüfte,
+die Türklinke zu bewegen, er zog sie auf und ließ sie niedergleiten, um
+sich noch einmal zu vergewissern, daß die Türe bloß mit einem Haken
+geschlossen sei. Darauf bückte er sich schwer atmend und blickte durch
+das Schlüsselloch, aber darin stak von innen der Schlüssel, und er
+konnte nichts sehen.
+
+Raskolnikoff stand und hielt krampfhaft das Beil, fieberhaft erregt. Er
+war bereit zu kämpfen, wenn sie hereinkommen sollten. Schon als sie
+klopften und sich besprachen, kam ihm einigemal der Gedanke, allem ein
+Ende zu machen und ihnen durch die Türe zuzurufen. Es wandelte ihn an,
+sie zu schimpfen, sie zu reizen, bevor sie die Türe aufmachten. »Möchte
+es doch schneller zu Ende gehen!« fuhr es ihm durch den Kopf. »Zum
+Teufel noch einmal ...«
+
+Die Zeit verrann, eine Minute nach der andern ging vorüber, niemand kam.
+Koch begann unruhig zu werden.
+
+»Zum Teufel noch einmal! ...« rief er plötzlich aus, und voll Ungeduld
+verließ er seinen Posten, ging die Treppe eilig hinab, und stapfte fest
+auf.
+
+»Mein Gott, was ist nun zu tun!« Raskolnikoff hob den Haken ab, öffnete
+ein wenig die Türe, es war nichts zu hören, er trat plötzlich vollkommen
+gedankenlos heraus, zog die Türe hinter sich möglichst dicht zu und ging
+hinab. Er war schon drei Treppen hinabgestiegen, als plötzlich unten ein
+starker Lärm hörbar wurde, -- wohin sich wenden? Er konnte sich nirgends
+verstecken und wollte schon zurück in die Wohnung laufen.
+
+»He Teufel! Halt!«
+
+Mit einem Schrei stürzte jemand unten aus einer Wohnung heraus und lief
+so schnell hinunter, daß er die Treppe beinahe hinunterzufallen schien.
+
+»Mitjka, Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Hol dich der Kuckuck!«
+
+Der Schrei endete mit Kreischen; die letzten Töne hörte man schon vom
+Hofe her; alles wurde still. Aber im selben Augenblick begannen ein paar
+Menschen, die laut und schnell sprachen, geräuschvoll die Treppe
+hinaufzusteigen, vielleicht drei oder vier. Raskolnikoff unterschied die
+helle Stimme des jungen Mannes.
+
+»Das sind sie.«
+
+In größter Verzweiflung ging er ihnen direkt entgegen, -- mochte nun
+kommen, was wollte. Wenn sie ihn anhielten, war alles verloren, wenn sie
+ihn vorbeiließen, war auch alles verloren, -- denn sie werden ihn
+wiedererkennen. Sie kamen bedenklich näher; zwischen ihnen war nur eine
+einzige Treppe -- da kam die Rettung. Einige Stufen vor ihm rechts stand
+weit geöffnet eine leere Wohnung, dieselbe Wohnung im zweiten Stock, in
+der Arbeiter malten und jetzt wie mit Absicht fortgegangen waren. Das
+waren sicher die Leute gewesen, die soeben mit solch einem Geschrei
+hinabgelaufen waren. Die Dielen waren frisch gestrichen, mitten im
+Zimmer stand ein kleiner Eimer und eine Scherbe von einem Topfe mit
+Farbe und Pinsel. Im Nu schlüpfte er durch die offene Tür und verbarg
+sich hinter einer hohen Wand, es war hohe Zeit. Sie waren schon auf dem
+Treppenabsatz. Dann wandten sie sich nach oben und gingen laut sprechend
+nach dem vierten Stock. Er wartete eine Zeitlang, ging auf Fußspitzen
+hinaus und lief nach unten.
+
+Auf der Treppe war niemand! Auch unten nicht. Er ging schnell durch das
+Tor und ging nach links die Straße hinunter. Er wußte es nur zu gut, daß
+sie in diesem Augenblicke schon in der Wohnung waren, daß sie erstaunt
+waren, die Türe offen zu sehen, die noch eben verschlossen war, daß sie
+schon die Leichen erblickten, und daß sie in weniger als einer Minute
+erraten würden, daß der Mörder hier soeben noch dagewesen war und Zeit
+gefunden hatte, sich irgendwo zu verbergen, an ihnen vorbeizuhuschen und
+zu fliehen; sie werden vielleicht auch auf den Gedanken gekommen sein,
+daß er in der leeren Wohnung stak, als sie nach oben gingen. Indessen
+aber durfte er um keinen Preis seinen Gang zu sehr beschleunigen,
+obgleich bis zur ersten Seitenstraße gegen hundert Schritte waren.
+
+»Soll ich nicht in ein Tor hineinschlüpfen und irgendwo in einer
+unbekannten Straße abwarten? Nein, das ist gefährlich! Soll ich nicht
+das Beil fortwerfen? Soll ich nicht eine Droschke nehmen? Es ist zu
+gefährlich, zu gefährlich!«
+
+Endlich kam die Seitenstraße, er bog in sie halbtot ein. Hier war er
+schon zur Hälfte gerettet, und ward es inne, -- hier erregte er kaum
+Verdacht, zudem war diese Straße stark belebt, und er ging wie ein
+Sandkorn in der Menge verloren. Aber alle diese Qualen hatten ihn so
+erschöpft, daß er sich kaum mehr fortbewegen konnte. Der Schweiß rann
+ihm in Tropfen herunter, sein Hals war ganz naß.
+
+»Sieh mal, wie der voll ist!« rief ihm jemand zu, als er auf den Kanal
+hinauskam.
+
+Er hatte fast keinen Gedanken mehr; je weiter er ging, um so schlimmer
+wurde es. Er erschrak plötzlich, als er an den Kanal hinauskam; denn
+dort gab es wenig Menschen, hier konnte er leichter auffallen, und er
+wollte wieder in die Seitengasse zurückkehren. Trotzdem er am Umfallen
+war, machte er doch einen Umweg und kam von einer anderen Seite nach
+Hause.
+
+Noch fast besinnungslos schritt er durch das Tor seines Hauses; er war
+schon die Treppe hinaufgestiegen, da erst entsann er sich des Beiles.
+Eine überaus wichtige Aufgabe stand ihm noch bevor, das Beil
+zurückzulegen und es unbemerkt zu tun. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu
+überlegen, ob es vielleicht nicht viel besser wäre, das Beil gar nicht
+mehr auf seinen früheren Platz zurückzubringen, sondern es irgendwo auf
+einen fremden Hof, wenn auch nicht sofort, zu werfen.
+
+Doch es ging alles gut vonstatten. Die Türe zu der Wohnung des
+Hausknechts war zugemacht, aber nicht verschlossen, also war der
+Hausknecht sehr wahrscheinlich zu Hause. Und so weit hatte er schon die
+Fähigkeit zu überlegen verloren, daß er einfach auf die Wohnung losging
+und die Türe öffnete. Hätte der Hausknecht ihn in diesem Augenblick
+gefragt, was er wolle, er hätte ihm einfach das Beil in die Hand
+gegeben. Der Hausknecht war aber auch diesmal nicht da und er konnte das
+Beil auf seinen Platz unter die Bank legen; er bedeckte es sogar wieder
+mit einem Holzscheit. Keine Seele begegnete ihm bis zu seinem Zimmer;
+die Türe zur Wohnung der Wirtin war abgeschlossen. Nachdem er in sein
+Zimmer eingetreten war, warf er sich auf den Diwan, so wie er war. Er
+schlief nicht, verfiel aber in einen Halbschlummer. Wenn jemand jetzt in
+sein Zimmer getreten wäre, wäre er aufgesprungen und hätte geschrien.
+Abgerissene, verworrene Gedanken wirbelten in seinem Kopfe, aber er
+konnte keinen einzigen erfassen, keinen festhalten, trotz aller
+Anstrengung.
+
+
+
+
+ Zweiter Teil
+
+
+ I.
+
+So lag er sehr lange da. Manchmal wachte er vom Schlafe auf und dann
+bemerkte er, daß es schon längst Nacht war. Endlich nahm er wahr, daß es
+schon heller Tag war. Er lag auf dem Diwan ausgestreckt, noch erstarrt
+von der kaum überwundenen Bewußtlosigkeit. Schrill tönte fürchterliches
+verzweifeltes Geheul von der Straße herauf, das er jede Nacht unter
+seinem Fenster in der dritten Morgenstunde hörte. Das hatte ihn auch
+jetzt wieder aufgeweckt.
+
+»Ah! Es kommen die Betrunkenen schon aus den Kneipen,« dachte er. »Es
+ist drei Uhr!« und er sprang auf, als hätte ihn jemand von dem Diwan
+heruntergestoßen.
+
+»Wie! Es ist schon drei!«
+
+Er setzte sich -- und da fiel ihm alles ein! Plötzlich fiel ihm alles
+ein!
+
+Im ersten Augenblicke dachte er, er würde den Verstand verlieren. Eine
+furchtbare Kälte erfaßte ihn, aber die Kälte kam vom Fieber, das schon
+längst während des Traumzustandes angefangen hatte. Es packte ihn ein
+Schüttelfrost, daß die Zähne zusammenschlugen, und alles zitterte an
+ihm. Er öffnete die Türe und begann zu lauschen: im Hause schlief alles.
+Erschreckt betrachtete er sich selbst und alles ringsum im Zimmer und
+begriff nicht -- wie konnte er nur gestern die Türe nicht zuhaken und
+sich nicht nur angekleidet, sondern sogar mit dem Hute auf den Diwan
+werfen; der Hut war ihm heruntergefallen und lag dort auf der Diele in
+der Nähe des Kissens.
+
+»Wenn jemand gekommen wäre, was hätte er denken müssen? Daß ich
+betrunken, aber ...«
+
+Er stürzte zum Fenster. Es war genügend hell und er besah sich schnell
+ganz vom Kopfe bis zu den Füßen, seine ganze Kleidung, ob nicht Spuren
+daran waren. Aber man konnte so nichts sehen; zitternd vor Frost, zog er
+alles aus und wieder betrachtete er es von allen Seiten. Er drehte alles
+um bis zum letzten Faden und Fetzen, und da er sich selber nicht traute,
+wiederholte er dreimal die Besichtigung. Aber er fand nichts, scheinbar
+keine Spur; nur an einer Stelle, wo die Hosen unten abgerieben und in
+Fransen hingen, waren an diesen Fransen dicke Flecken eingetrockneten
+Blutes. Er nahm ein großes Taschenmesser und schnitt die Fransen ab.
+Mehr schien es nicht zu sein. Da fiel ihm ein, daß der Beutel und die
+Sachen, die er aus der Truhe bei der Alten herausgenommen, sich noch
+immer in seinen Taschen befanden. Er hatte nicht mehr daran gedacht, sie
+herauszunehmen und zu verstecken. Nicht einmal jetzt sogar hatte er sich
+ihrer gleich erinnert, als er seine Kleider besah. War denn das möglich?
+Hastig nahm er sie heraus und warf sie auf den Tisch. Nachdem er alles
+herausgenommen und die Taschen umgekehrt hatte, um sich zu vergewissern,
+daß nichts übriggeblieben war, brachte er den ganzen Haufen in eine
+Ecke. Dort in der Ecke waren unten an einer Stelle die von der Wand
+losgelösten Tapeten zerrissen; sofort begann er alles in dieses Loch
+unter dem Papier hineinzustopfen.
+
+»Es ist hineingegangen! Alles ist fort, sogar der Beutel!« dachte er
+voller Freude, indem er aufstand und stumpf in die Ecke sah, auf das
+Loch, wo die Tapete jetzt weiter abstand.
+
+Da schrak er wieder zusammen.
+
+»Mein Gott,« flüsterte er verzweifelt, »was ist mit mir? Ist denn das
+versteckt? Versteckt man das so?«
+
+Natürlich hatte er mit solchen Gegenständen gar nicht gerechnet; er
+dachte, daß es nur Geld bei ihr geben würde und darum hatte er keinen
+Platz vorher ausgesucht.
+
+»Aber jetzt, jetzt, worüber freute ich mich denn?« dachte er. »Versteckt
+man denn so? In der Tat, der Verstand verläßt mich!«
+
+Erschöpft setzte er sich auf den Diwan und von neuem schüttelte ihn ein
+unerträglicher Fieberanfall. Mechanisch hüllte er sich in seinen
+früheren Studentenmantel, einen gefütterten, aber schon recht schäbigen
+Winterüberzieher; er deckte sich mit ihm zu, und alsbald überfielen ihn
+wieder Schlaf und Fieberträume.
+
+Doch schon nach fünf Minuten sprang er wieder auf und stürzte außer sich
+von neuem zu seinen Kleidern. »Wie konnte ich nur wieder einschlafen, wo
+noch nichts getan ist! Da haben wir es, da haben wir es, die Schlinge
+unter der Achsel habe ich noch nicht abgenommen! Ich habe es vergessen,
+habe solch eine Sache vergessen! Solch ein Verdachtsmoment!«
+
+Er riß die Schlinge ab und begann sie schnell in Stücke zu zerreißen und
+versteckte sie unter dem Kissen in der Wäsche.
+
+»Stücke von zerrissener Leinwand können in keinem Falle Verdacht
+erregen; es scheint so, es scheint so!« wiederholte er, mitten im Zimmer
+stehend, und begann von neuem mit schmerzhaft angespannter
+Aufmerksamkeit ringsum, auf der Diele und überall, herumzuspähen, ob er
+nicht noch etwas vergessen habe. Die Überzeugung, daß alles, sogar das
+Gedächtnis, sogar das einfache Denken ihn verließ, -- begann ihn
+unerträglich zu quälen.
+
+»Was! fängt es schon jetzt an, kommt schon jetzt die Strafe? Sieh da,
+sieh es stimmt!«
+
+Die abgeschnittenen Fransen, die er von den Hosen abgetrennt hatte,
+lagen in der Tat auf der Diele mitten im Zimmer, damit sie ja der erste
+beste sehen konnte.
+
+»Was ist denn nur mit mir!« rief er wieder aus, wie verloren.
+
+Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: vielleicht war auch seine ganze
+Kleidung blutig, vielleicht hat sie viele Flecken, aber er sieht sie
+bloß nicht, er bemerkt sie nicht, weil sein Denken geschwächt, verworren
+... der Verstand verdüstert ist ... Plötzlich erinnerte er sich, daß an
+dem Beutel auch Blut war.
+
+»Bah, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ich den noch feuchten
+Beutel hineinsteckte!«
+
+Schnell kehrte er die Hosentasche um, und -- tatsächlich, -- auf dem
+Futter der Tasche waren Spuren, Flecken.
+
+»Also hat mich der Verstand noch nicht ganz verlassen, also besitze ich
+noch Urteilsfähigkeit und Gedächtnis, wenn ich mich hierauf besinnen
+konnte!« dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und
+freudig auf. »Es ist einfach fieberhafte Schwäche, eine vorübergehende
+Anwandlung.«
+
+Und er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche. In diesem
+Augenblicke beleuchtete ein Sonnenstrahl seinen linken Stiefel; auf dem
+Strumpfe, der aus dem Stiefel hervortrat, schienen Flecken zu sein. Er
+zog den Stiefel aus, -- es waren wirklich Spuren. Die ganze Fußspitze
+war mit Blut durchtränkt; wahrscheinlich war er unvorsichtigerweise in
+die Pfütze getreten ... »Aber was nun damit tun? Wohin diesen Strumpf
+tun? Wohin diesen Strumpf, die Franse, die Hosentasche?« Er knüllte
+alles in der Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. »In den
+Ofen? Aber im Ofen wird man zuerst nachstöbern. Verbrennen? Ja, aber
+womit brennen? Er hat nicht mal Streichhölzer. Nein, besser, irgendwo
+hingehen und alles fortwerfen. Ja! das beste ist fortwerfen!«
+wiederholte er und setzte sich von neuem auf den Diwan. »Und sofort muß
+ich es tun, in diesem Augenblick, ohne Zeit zu verlieren! ...«
+
+Indessen fiel sein Kopf von neuem auf das Kissen; wieder durchrüttelte
+ihn eisig der unerträgliche Schüttelfrost; wieder zog er den
+Wintermantel über sich. Und lange noch, ein paar Stunden, träumte er ab
+und zu, »ich muß sofort ohne Zögern irgendwo hingehen und alles
+fortwerfen, damit es schnell aus den Augen kommt!« Einigemal erhob er
+sich vom Diwan, wollte aufstehn, konnte aber nicht mehr. Endlich weckte
+ihn ein starkes Klopfen an der Türe.
+
+»Öffne doch, lebst du oder nicht? Und immer schläft er!« schrie Nastasja
+und schlug mit der Faust an die Türe. »Den ganzen geschlagenen Tag
+schläft er wie ein Hund! Er ist auch ein Hund! Öffne doch. Es ist schon
+elf Uhr.«
+
+»Vielleicht ist er nicht zu Hause,« sagte eine männliche Stimme.
+
+»Ha, das ist die Stimme des Hausknechtes ... Was will er?«
+
+Er sprang auf und setzte sich auf den Diwan. Das Herz klopfte so stark,
+daß es ihn schmerzte.
+
+»Wer hat denn die Türe zugehakt?« erwiderte Nastasja. »Sieh mal, er
+fängt an, sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn holen könnte?
+Öffne. Mensch, wach auf!«
+
+»Was wollen sie? Warum ist der Hausknecht da? Alles ist bekannt. Soll
+ich Widerstand leisten oder öffnen? Mag alles zugrunde gehen ...«
+
+Er erhob sich ein wenig, beugte sich nach vorn und nahm den Haken ab.
+
+Das ganze Zimmer war nur so groß, daß man den Türhaken abnehmen konnte,
+ohne vom Bette aufzustehen.
+
+Er hatte richtig geraten, -- vor ihm standen Nastasja und der
+Hausknecht. Nastasja blickte ihn eigentümlich an. Er warf dem
+Hausknechte einen herausfordernden und verzweifelten Blick zu. Der
+reichte ihm schweigend ein graues zusammengelegtes Stück Papier, das mit
+gewöhnlichem Siegellack zugesiegelt war.
+
+»Vorladung aus dem Bureau,« sagte er, indem er das Papier überreichte.
+
+»Aus welchem Bureau? ...«
+
+»Selbstredend vom Polizeibureau.«
+
+»Von der Polizei! ... Warum?«
+
+»Woher soll ich es wissen. Man verlangt es und da müssen Sie gehen.«
+
+Er sah ihn aufmerksam an, warf einen Blick ins Zimmer und wandte sich,
+um fortzugehen.
+
+»Bist du ganz krank geworden?« bemerkte Nastasja, die ihre Augen nicht
+von ihm abwandte.
+
+Der Hausknecht drehte auch einen Augenblick seinen Kopf um.
+
+»Seit gestern hat er Fieber,« fügte sie hinzu.
+
+Er antwortete nichts und hielt das Schriftstück in den Händen, ohne es
+zu öffnen.
+
+»Bleib liegen,« fuhr Nastasja fort; sie wurde weicher gestimmt, als sie
+sah, daß er die Füße vom Diwan herabließ.
+
+»Da du krank bist, so gehe nicht hin: es brennt doch nicht. Was hast du
+da in der Hand?«
+
+Er blickte hin. In der rechten Hand hielt er die abgeschnittenen Fransen
+von der Hose, den Strumpf und die Fetzen der ausgerissenen Tasche. So
+hatte er mit ihnen geschlafen. Als er später darüber nachsann, erinnerte
+er sich, daß er im Fieber aufwachend, dies alles nur fester in seiner
+Hand zusammenballte und wieder einschlief.
+
+»Sieh, was für Lumpen er gesammelt hat und schläft mit ihnen, als wären
+sie ein kolossaler Schatz ...« Und Nastasja fiel in ihr lautes nervöses
+Lachen.
+
+Im Nu steckte er alles unter den Mantel und heftete auf sie einen
+forschenden Blick. Obwohl er in diesem Augenblicke wenig mit Verstand
+sich die Sache überlegen konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen
+nicht in dieser Weise behandeln würde, wenn man ihn verhaften wollte ...
+
+»Aber ... die Polizei?«
+
+»Du solltest etwas Tee trinken. Willst du? Ich bringe ihn dir; es ist
+etwas übriggeblieben ...«
+
+»Nein ... ich will hingehen; ich will sofort hingehen,« murmelte er
+aufstehend.
+
+»Du kannst ja nicht mal die Treppe hinuntergehen.«
+
+»Ich will hingehen ...«
+
+»Wie du willst.«
+
+Sie folgte dem Hausknechte.
+
+Sofort stürzte er zum Licht, um den Strumpf und die Hosenfransen zu
+besehen.
+
+»Flecken sind da, aber kaum sichtbar. Alles ist beschmutzt, abgerieben
+und verblichen. Wer es nicht weiß -- wird nichts bemerken. Nastasja
+konnte wahrscheinlich von weitem nichts sehen. Gott sei Dank.« Dann
+öffnete er mit Bangen die Vorladung und begann zu lesen; er las lange,
+und schließlich begriff er. Es war eine gewöhnliche Vorladung, vom
+Polizeirevier, heute um halb zehn in dem Bureau des Revieraufsehers zu
+erscheinen.
+
+»Das ist mir noch nie passiert. Ich habe nichts mit der Polizei zu tun.
+Und warum gerade heute!«
+
+Er wollte sich schon auf die Knie werfen, um zu beten, lachte dann aber
+selbst darüber, -- nicht über das Beten, sondern über sich selbst. Er
+begann sich eilig anzuziehen.
+
+»Soll ich zugrunde gehen, na, dann ist nichts zu machen. Soll ich den
+Strumpf anziehen!« dachte er plötzlich. »Er wird noch mehr im Staub
+beschmutzt und die Spuren werden verschwinden.«
+
+Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn voll Ekel und Schrecken
+herunterriß. Er hatte ihn vom Fuß heruntergerissen, aber nachdem er
+überlegt hatte, daß er keinen anderen hatte, zog er ihn wieder an -- und
+lachte wieder.
+
+»All das ist Vorurteil, alles ist nur wie man's nimmt, all das sind nur
+Formen,« dachte er einem flüchtigen Gedanken nach und zitterte dabei am
+ganzen Körper. »Ich habe ihn doch angezogen. Hab es fertig gebracht, ihn
+anzuziehen.«
+
+Aber das Lachen verwandelte sich sogleich in Verzweiflung.
+
+»Nein, das ist über meine Kräfte ...« dachte er. Seine Füße zitterten.
+
+»Aus Angst,« murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und
+schmerzte vor Fieber.
+
+»Eine List ist es! Sie wollen mich mit List hinlocken und mich plötzlich
+aus der Fassung bringen,« fuhr er fort vor sich hinzumurmeln und ging
+auf die Treppe hinaus. »Das ist schlimm, daß ich fieberig bin ... ich
+kann irgendeine Dummheit machen ...«
+
+Auf der Treppe besann er sich, daß er alle Sachen so in dem Loche unter
+der Tapete liegen ließ. »Und gerade jetzt konnte absichtlich in seiner
+Abwesenheit eine Haussuchung vorgenommen werden,« fiel es ihm ein, und
+er blieb stehn. Aber solch eine Verzweiflung und solch ein, wenn man
+sich so ausdrücken darf, -- Zynismus über seinen Untergang hatten ihn
+gepackt, daß er unbekümmert weiterging.
+
+»Möge es bloß schnell vorbei sein! ...« Auf der Straße war es wieder
+unerträglich heiß; kein Regentropfen in all diesen Tagen. Wieder gab es
+Staub von Ziegeln und Kalk, wieder den Gestank aus den Läden und
+Wirtshäusern, wieder tauchten alle Augenblicke Betrunkene, finnische
+Höcker und halbzerfallene Droschken auf. Die Sonne strahlte hell in
+seine Augen, so daß es ihm weh tat, und der Kopf schwindelte ihm, -- das
+gewöhnliche Gefühl eines Fieberkranken, der plötzlich auf die Straße an
+einem heißen sonnigen Tage hinaustritt.
+
+Als er um die Ecke in die _gestrige_ Straße einbog, blickte er dorthin,
+auf _jenes_ Haus voll qualvoller Unruhe ... und wendete sogleich die
+Augen ab.
+
+»Wenn man mich frägt, werde ich es vielleicht sagen,« dachte er, indem
+er sich dem Polizeibureau näherte.
+
+Das Bureau war ein paar hundert Schritte von seinem Hause entfernt. Es
+war kürzlich in neuen Räumen in einem neuen Hause im vierten Stocke
+untergebracht worden. In dem alten Bureau war er einmal, aber vor
+längerer Zeit, gewesen. Als er in das Tor eintrat, erblickte er zur
+rechten Hand eine Treppe, von der ein Mann mit einem Buche in der Hand
+herunterkam. »Ein Bureaudiener also; folglich ist auch hier das Bureau,«
+und er begann aufs Geratewohl die Treppe hinaufzusteigen. Er wollte
+niemanden um Auskunft fragen.
+
+»Ich trete ein, werfe mich auf die Knie und erzähle alles ...« dachte
+er, indem er die letzte Treppe zum vierten Stock hinaufstieg.
+
+Die Treppe war sehr schmal, steil und voll Unrat. Alle Küchen von allen
+Wohnungen in all den vier Stockwerken mündeten auf diese Treppe und
+standen fast den ganzen Tag offen. Daher war dort eine furchtbare,
+stickige Luft. Es kamen und gingen Hausknechte mit Büchern unter dem
+Arm, Schutzleute und allerhand Volk beiderlei Geschlechts, die da zu tun
+hatten. Die Türe zu dem Polizeibureau stand auch sperrweit auf. Er trat
+ein und blieb im Vorzimmer stehn. Überall standen, überall warteten
+Bauern. Auch hier war die Luft schrecklich dumpf und außerdem roch es
+zum Übelwerden nach frischer, nicht ausgetrockneter Farbe mit ranzigem
+Öl von den neugestrichenen Dielen. Er wartete ein wenig und beschloß,
+weiter in das nächste Zimmer zu gehen. Alle Zimmer waren klein und
+niedrig. Eine quälende Ungeduld zog ihn immer weiter und weiter. Niemand
+beachtete ihn. In dem zweiten Zimmer saßen und schrieben einige
+Schreiber, die vielleicht ein wenig besser gekleidet waren als er, dem
+Äußeren nach komische Menschen. Er wandte sich an einen von ihnen.
+
+»Was wünschest du?«
+
+Er zeigte die Vorladung.
+
+»Sie sind Student?« fragte der Schreiber, nachdem er einen Blick auf die
+Vorladung geworfen hatte.
+
+»Ja, ich bin gewesener Student.«
+
+Der Schreiber blickte ihn ohne jegliche Neugier an. Er war ein besonders
+zerzauster Mensch mit einem unbeweglichen Ausdruck im Blicke.
+
+»Von diesem erfahre ich nichts, denn ihm ist es gleichgültig,« dachte
+Raskolnikoff.
+
+»Gehen Sie dorthin, zu dem Sekretär,« sagte der Schreiber und wies mit
+dem Finger auf das allerletzte Zimmer.
+
+Er trat in dieses Zimmer, das vierte der Reihe nach; es war eng und
+vollgestopft von Menschen, die ein wenig besser gekleidet waren, als in
+den ersten Zimmern. Unter den Besuchern waren auch zwei Damen. Die eine
+in Trauer, ärmlich gekleidet, saß an einem Tisch gegenüber dem Sekretär
+und schrieb etwas nach seinem Diktat. Die andere Dame, eine sehr dicke,
+purpurrote, ansehnliche Frau mit Flecken im Gesichte, sehr auffällig
+gekleidet, mit einer Brosche in der Größe einer Untertasse stand
+seitwärts und schien auf etwas zu warten. Raskolnikoff schob dem
+Sekretär seine Vorladung zu. Dieser besah sie flüchtig, sagte: »warten
+Sie« und fuhr fort, sich mit der Dame in Trauer zu beschäftigen.
+
+Raskolnikoff atmete erleichtert auf.
+
+»Es ist sicher nicht das!« Allmählich begann er Mut zu fassen, er sprach
+sich mit aller Macht zu, sich zusammenzunehmen und besonnen zu sein.
+
+»Irgendeine Dummheit, irgendeine geringfügige Unvorsichtigkeit, und ich
+kann mich verraten! Hm ... schade, daß hier keine frische Luft ist,«
+fügte er hinzu, »diese Schwüle ... Der Kopf schwindelt mir noch mehr ...
+und der Verstand auch ...«
+
+Er fühlte in seinem ganzen Körper eine furchtbare Zerrüttung und
+fürchtete auch, sich nicht beherrschen zu können. Nun versuchte er, sich
+an etwas anzuklammern, und an irgend etwas vollkommen Nebensächliches zu
+denken, aber das gelang ihm absolut nicht. Der Sekretär interessierte
+ihn übrigens sehr stark, -- er wollte gern aus seinem Gesichte etwas
+erraten und ihn durchschauen. Es war ein sehr junger Mann von etwa
+zweiundzwanzig Jahren, mit einem beweglichen Gesichte von dunkler Farbe,
+das ihn älter erscheinen ließ; er war nach der Mode und stutzerhaft
+gekleidet, hatte einen Scheitel am Hinterkopf, war frisiert und
+pomadisiert und trug eine Menge Ringe an den weißen, peinlich sauberen
+Fingern und eine goldene Kette auf der Weste. Mit einem anwesenden
+Ausländer wechselte er sogar ein paar Worte französisch, und tat es
+ziemlich gut.
+
+»Louisa Iwanowna, setzen Sie sich doch,« sagte er flüchtig zu der
+geputzten purpurroten Dame, die die ganze Zeit dastand, als wage sie
+nicht sich hinzusetzen, obwohl ein Stuhl neben ihr stand.
+
+»Ich danke,« sagte sie deutsch und setzte sich, seiderauschend, auf den
+Stuhl. Ihr hellblaues Kleid, mit weißen Spitzen besetzt, umgab gleich
+einem Luftballon ihren Stuhl und nahm beinahe das halbe Zimmer ein. Ein
+Duft von Parfüm verbreitete sich. Aber der Dame schien es peinlich zu
+sein, daß sie das halbe Zimmer einnahm und daß sie so stark nach Parfüm
+duftete, obgleich sie halb ängstlich, halb frech, jedoch voll deutlicher
+Unruhe lächelte.
+
+Die Dame in Trauer war endlich fertig und erhob sich von ihrem Platze.
+Plötzlich trat mit einigem Geräusch, bei jedem Schritte sehr rasch und
+eigentümlich die Schultern bewegend, ein Offizier ein, warf die Mütze
+mit der Kokarde auf den Tisch und setzte sich in den Sessel. Bei seinem
+Anblicke sprang die geputzte Dame von ihrem Platze auf und begann mit
+besonderem Entzücken zu knixen, der Offizier aber schenkte ihr nicht die
+geringste Beachtung und sie wagte es nicht mehr, sich in seiner
+Gegenwart hinzusetzen. Es war der Gehilfe des Revieraufsehers, er hatte
+einen horizontal abstehenden rötlichen Schnurrbart, sein Gesicht wies
+unbedeutende Züge auf, die außer einer gewissen Frechheit nichts
+ausdrückten. Er blickte von der Seite und unmutig auf Raskolnikoff;
+dessen Anzug war schlecht, und dennoch entsprach seine Haltung nicht der
+Ärmlichkeit seiner Kleidung. Raskolnikoff hatte aus Unvorsichtigkeit ihm
+zu lange ins Gesicht gestarrt, so daß jener sich sogar beleidigt fühlte.
+
+»Was willst du?« schrie er ihn an, entrüstet, daß solch ein zerlumpter
+Mensch nicht daran dachte, vor seinem blitzesprühenden Blicke sich zu
+verziehen.
+
+»Man hat mich bestellt ... laut Vorladung ...« antwortete Raskolnikoff
+zusammenhanglos.
+
+»Es handelt sich um eine Geldforderung an ihn, _er ist Student_,«
+beeilte sich der Sekretär zu bemerken, indem er von seiner Arbeit
+aufschaute. »Da ist es!« und er warf Raskolnikoff ein Heft zu und zeigte
+ihm die Stelle. »Lesen Sie es durch!«
+
+»Geld? Was für Geld?« dachte Raskolnikoff, »aber, ... es ist also nicht
+das!«
+
+Und er fuhr vor Freude zusammen. Es wurde ihm urplötzlich unbeschreibbar
+leicht. Alles war verflogen.
+
+»Um welche Stunde aber sind Sie hierher bestellt, mein Herr!« schrie der
+Leutnant, der sich aus unbekannten Gründen immer mehr ärgerte. »Man
+bestellte Sie um neun und jetzt ist schon die zwölfte Stunde.«
+
+»Man hat mir die Vorladung erst vor einer Viertelstunde zugestellt,«
+antwortete laut und über die Schulter hinweg Raskolnikoff, der auch
+plötzlich und unerwartet ärgerlich geworden war und darin ein gewisses
+Vergnügen fand. »Es ist schon genug, daß ich trotz meines Fiebers
+hergekommen bin.«
+
+»Belieben Sie nicht zu schreien!«
+
+»Ich schreie gar nicht, sondern spreche sehr ruhig, aber Sie schreien
+mich an; ich bin Student und erlaube nicht, daß man mich anschreit.«
+
+Der Gehilfe war so erregt, daß er im ersten Augenblick kein Wort
+hervorbringen konnte, er zischte nur und sprang von seinem Platze auf.
+
+»Schwei--gen Sie bitte! Sie stehen vor einer Behörde. Sie dürfen nicht
+grob sein, mein Herr!«
+
+»Auch Sie sind bei einer Behörde,« rief Raskolnikoff, »und Sie schreien
+nicht allein, sondern rauchen auch, verletzen uns also in jeder Weise.«
+
+Als Raskolnikoff dies gesagt hatte, empfand er einen unbeschreiblichen
+Genuß. Der Sekretär blickte sie lächelnd an. Der hitzige Leutnant war
+sichtbar verblüfft.
+
+»Das geht Sie nichts an!« schrie er endlich unnatürlich laut. »Belieben
+Sie aber besser eine Antwort auf die Forderung zu geben. Zeigen Sie sie
+ihm, Alexander Grigorjewitsch. Klagen laufen gegen Sie ein! Sie zahlen
+nicht! Schaut mal den noblen Herrn an!«
+
+Raskolnikoff aber hörte nicht mehr, nahm aufgeregt das Papier vor und
+suchte schnell die Lösung. Er las es einmal, ein zweites Mal, und
+begriff nichts.
+
+»Was ist es denn?« fragte er den Sekretär.
+
+»Man verlangt von Ihnen Geld laut Schuldschein, eine Forderung ist es.
+Sie müssen entweder die Summe mit allen Unkosten, Strafgeldern und so
+weiter bezahlen oder eine schriftliche Erklärung abgeben, wann Sie
+imstande sind zu bezahlen, gleichzeitig aber auch sich verpflichten, die
+Hauptstadt bis zur Tilgung der Schuld nicht zu verlassen und Ihr
+Eigentum weder zu veräußern noch zu verheimlichen. Der Gläubiger aber
+hat das Recht, Ihr Eigentum zu verkaufen und mit Ihnen nach dem Gesetze
+zu verfahren.«
+
+»Ja ... aber ich schulde niemand etwas.«
+
+»Das geht uns nichts an. Wir haben zur Einkassierung einen verfallenen
+und gesetzlich protestierten Schuldschein auf hundertundfünfzehn Rubel
+erhalten, den Sie der Witwe des Kollegienassessors Sarnitzin vor neun
+Monaten ausgestellt haben und der von der Witwe Sarnitzin an den Hofrat
+Tschebaroff durch Kauf übergegangen ist, und darum fordern wir von Ihnen
+eine Erklärung.«
+
+»Sie ist ja meine Zimmerwirtin!«
+
+»Nun, und was ist dabei, daß sie Ihre Zimmerwirtin ist?«
+
+Der Sekretär blickte ihn mit herablassendem mitleidigen Lächeln an,
+gleichzeitig aber ein wenig triumphierend, wie über einen Neuling, den
+man soeben beginnt zu rupfen, als wollte er sagen: »Nun, wie fühlst du
+dich jetzt?«
+
+Aber was kümmert ihn jetzt der Schuldschein, eine Forderung! Lohnt es
+sich jetzt, darüber sich auch nur ein wenig aufzuregen, es auch nur zu
+beachten! Er stand da, las, hörte, antwortete, fragte sogar selbst, aber
+alles nur mechanisch. Der Triumph der Selbsterhaltung, die Rettung aus
+der drohenden Gefahr, -- das erfüllte in diesem Augenblick sein ganzes
+Wesen, ohne Ausblick, ohne Analyse, ohne Deutung und Enträtselung der
+Zukunft, ohne Zweifel und ohne Fragen. Es war ein Augenblick
+unmittelbarer, rein tierischer Freude. Aber in diesem Momente ereignete
+sich im Bureau etwas wie die Entladung eines Gewitters. Der Leutnant,
+immer noch aus dem Gleichgewicht wegen der Unehrerbietigkeit, ganz
+aufgeregt und wahrscheinlich mit dem Wunsche, die gekränkte Ehre
+herzustellen, stürzte sich mit seinem ganzen Zorn auf die unglückliche
+»pompöse Dame,« die ihn seit seinem Eintritt mit einem äußerst dummen
+Lächeln anblickte.
+
+»Ach du, so eine,« schrie er sie plötzlich aus vollem Halse an (die Dame
+in Trauer war schon fortgegangen), »was ist bei dir in der vorigen Nacht
+passiert? Ah? Wieder gibt es bei dir Schimpf und Skandal in der ganzen
+Straße? Wieder Schlägerei und Sauferei. Du träumst wohl vom
+Arbeitshause! Ich habe dir doch schon gesagt, habe dich schon zehnmal
+gewarnt, daß ich dir das elfte Mal nichts schenken werde! Und du tust es
+wieder, du, du ...«
+
+Das Papier entfiel den Händen Raskolnikoffs und er blickte entsetzt die
+prachtvolle Dame an, mit der man so ungeniert herumsprang; aber bald
+darauf begriff er, was los sei, und sofort gefiel ihm diese Sache
+ausgezeichnet. Er hörte mit Vergnügen zu, so daß er Lust bekam, laut zu
+lachen, zu lachen, zu lachen ... Alle seine Nerven zuckten.
+
+»Ilja Petrowitsch!« versuchte der Sekretär zu besänftigen, aber er hielt
+inne, um die rechte Zeit abzuwarten, denn den in Aufregung geratenen
+Leutnant konnte man nicht anders beruhigen als durch Festhalten der
+Hände, was er aus eigener Erfahrung kannte.
+
+Was aber die prachtvolle Dame anging, so begann sie zuerst beim Donner
+und Blitz zu beben; aber sonderbar, je zahlreicher und kräftiger die
+Schimpfwörter wurden, um so liebenswürdiger wurde ihr Aussehen, um so
+bezaubernder wurde ihr Lächeln dem zornigen Leutnant gegenüber. Sie
+trippelte auf einem Fleck, knixte ununterbrochen und wartete voll
+Ungeduld, daß sie endlich auch zu Wort kommen würde, was ihr schließlich
+gelang.
+
+»Gar kein Lärm und keine Schlägerei waren bei mir, Herr Kapitän,«
+plapperte sie plötzlich los, so schnell, als schüttete man Erbsen aus,
+-- mit einem stark deutschen Akzent, aber doch fließend russisch, --
+»und gar kein Skandal, gar keiner, und sie kamen betrunken hin, und ich
+will alles erzählen, Herr Kapitän, und ich bin nicht schuld ... ich habe
+ein anständiges Haus, Herr Kapitän, und ein anständiger Ton ist bei mir,
+Herr Kapitän, und ich will nie, will selbst nie einen Skandal haben. Sie
+aber kamen ganz betrunken hin und haben dann drei Flaschen verlangt, und
+dann erhob einer seine Füße und begann mit den Füßen auf dem Klavier zu
+spielen, und das paßt sich gar nicht in einem anständigen Hause, und er
+hat das ganze Klavier zerschlagen, und das ist doch keine Manier, und da
+habe ich es ihm gesagt. Er aber nahm eine Flasche und begann alle von
+hinten mit der Flasche zu stoßen. Und da habe ich den Hausknecht
+gerufen, und als Karl kam, hat er Karl das Auge ausgeschlagen, und
+Henriette hat er auch das Auge ausgeschlagen, und mich hat er fünfmal
+auf die Backe geschlagen. Und das ist nicht fein in einem anständigen
+Hause, Herr Kapitän, und ich habe geschrien. Und er hat das Fenster zu
+dem Kanal geöffnet und hat wie ein kleines Schwein aus dem Fenster
+gequiekt; das ist doch eine Schande. Wie kann man auch wie ein kleines
+Schwein aus dem Fenster quieken? Pfui, pfui, pfui! Und Karl hat ihn an
+seinem Frack vom Fenster gezogen, und das ist wahr, Herr Kapitän, daß er
+ihm da seinen Rock zerrissen hat. Und da begann er zu schreien, daß man
+ihm fünfzehn Rubel Strafe zahlen müsse. Und ich selbst habe ihm fünf
+Rubel für seinen Rock bezahlt, Herr Kapitän. Und das ist ein
+unanständiger Gast, Herr Kapitän, und er hat allen Skandal gemacht. Ich
+werde, hat er gesagt, eine große Satire über Sie drucken lassen, denn
+ich kann in allen Zeitungen über Sie schreiben.«
+
+»Also ein Zeitungsschreiber?«
+
+»Ja, Herr Kapitän, und welch ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, wenn
+er in einem anständigen Hause ...«
+
+»Nun, nun, genug! Ich habe dir doch gesagt, habe dir doch gesagt ...«
+
+»Ilja Petrowitsch!« sagte von neuem der Sekretär bedeutungsvoll.
+
+Der Leutnant blickte ihn schnell an, der Sekretär nickte leicht mit dem
+Kopfe.
+
+»... Also es ist mein letztes Wort, verehrteste Louisa Iwanowna, und
+auch zum letztenmal,« fuhr der Leutnant fort, »wenn in deinem
+anständigen Hause nur noch ein einziges Mal ein Skandal vorkommt, so
+werde ich dich selbst beim Wickel nehmen, wie man sich poetisch
+ausdrückt. Hast du gehört? Also ein Literat, ein Schriftsteller war es,
+der in einem >anständigen Hause< fünf Rubel für einen Rockschoß genommen
+hat? So sind sie, diese Schriftsteller!« und er warf einen verächtlichen
+Blick auf Raskolnikoff. »Vorgestern passierte in einem Restaurant
+dieselbe Geschichte, -- hat einer zu Mittag gegessen, wünscht aber nicht
+zu zahlen; >ich werde<, sagt er, >Sie in einer Satire schildern<. Ein
+anderer wieder beschimpft mit den gemeinsten Worten in der vorigen Woche
+auf einem Dampfschiffe die achtbare Familie eines Staatsrates, Frau und
+Tochter. Vor ein paar Tagen hat man einen dritten aus einer Konditorei
+herausgeschmissen. So sind sie alle, die Schriftsteller, Literaten,
+Studenten, Großmäuler ... pfui! Und du kannst dich packen! Ich will mal
+selbst dich aufsuchen ... dann nimm dich in acht! Hast du gehört?«
+
+Louisa Iwanowna begann mit eiliger Liebenswürdigkeit nach allen Seiten
+hin zu knixen und trippelte knixend bis zur Türe, hier aber stieß sie
+von hinten auf einen stattlichen Offizier mit einem offenen frischen
+Gesichte und schönem dichten, blonden Backenbart. Es war Nikodim
+Fomitsch selbst, der Revieraufseher. Louisa Iwanowna beeilte sich einen
+tiefen Knix zu machen und flog mit eiligen kleinen Schritten hüpfend aus
+dem Bureau hinaus.
+
+»Wieder Gepolter, wieder Donner und Blitz, Wirbelwind und Orkan!« wandte
+sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja
+Petrowitsch. »Wieder hat man Ihr Herz in Aufruhr gebracht, wieder sind
+Sie erregt worden! Ich hab' es schon auf der Treppe gehört.«
+
+»Ach, was!« sagte mit nobler Gleichgültigkeit Ilja Petrowitsch und ging
+mit einigen Papieren zu einem anderen Tisch, wobei er bei jedem Schritt
+elegant mit den Schultern zuckte. »Da, bitte sehen Sie es sich mal an --
+der Herr Schriftsteller, pardon Student, ein gewesener wollte ich sagen,
+zahlt nicht, stellt Wechsel aus, räumt die Wohnung nicht, fortwährende
+Klagen laufen ein, -- er aber war doch gekränkt, daß ich in seiner
+Gegenwart mir eine Zigarette ansteckte. Selbst aber gaunert diese Sorte,
+bitte sehen Sie sich ihn doch an, -- da steht er in seinem reizenden
+Aussehen.«
+
+»Armut ist kein Laster, mein Freund, na, aber wozu reden. Es ist ja
+bekannt, du bist wie Pulver, konntest eine Kränkung nicht ertragen. Sie
+fühlten sich durch irgend etwas von ihm gekränkt und konnten sich nicht
+beherrschen,« fuhr Nikodim Fomitsch fort, sich liebenswürdig an
+Raskolnikoff wendend, »aber das war überflüssig, er ist der
+an--stän--dig--ste Mensch, sage ich Ihnen, aber wie Pulver, wie Pulver!
+Flammt auf, kocht über, brennt ab -- und Schluß. Und alles ist vorbei!
+Und zu guter Letzt bleibt nur das goldene Herz! Man hat ihn schon im
+Regiment >Leutnant Pulver< genannt!«
+
+»Und was für ein Regiment es war!« rief Ilja Petrowitsch aus, sehr
+zufrieden, daß man ihm so angenehm geschmeichelt hatte, aber immer noch
+schmollend. Raskolnikoff bekam plötzlich Lust, ihnen allen etwas äußerst
+Angenehmes zu sagen.
+
+»Aber bitte, Herr Kapitän,« begann er ziemlich ungezwungen, sich
+plötzlich an Nikodim Fomitsch wendend, »berücksichtigen Sie auch meine
+Lage ... Ich bin sogar bereit, um Entschuldigung zu bitten, wenn ich
+gegen etwas verstoßen habe. Ich bin ein armer und kranker Student,
+erdrückt (er sagte >erdrückt<) von Armut. Ich bin ehemaliger Student, da
+ich jetzt meinen Unterhalt nicht verdienen kann, aber ich erhalte Geld
+... Ich habe Mutter und Schwester im --schen Gouvernement. Sie werden
+mir Geld schicken und ich werde ... bezahlen. Meine Wirtin ist eine gute
+Frau, aber sie ist so böse geworden, weil ich meine Stunden verloren
+habe und ihr den vierten Monat nicht zahle, daß sie mir sogar kein
+Mittagessen mehr schickt ... Und ich begreife gar nicht, was das für ein
+Wechsel ist. Jetzt verlangt sie von mir, ihn einzulösen, aber wie kann
+ich denn zahlen, urteilen Sie selbst!«
+
+»Aber das geht ja uns nichts an ...« versuchte der Sekretär wieder zu
+bemerken ...
+
+»Erlauben Sie, erlauben Sie, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden,
+aber erlauben Sie, Ihnen klar zu machen,« unterbrach ihn Raskolnikoff,
+indem er sich nicht an den Sekretär, sondern, wie schon die ganze Zeit,
+an Nikodim Fomitsch wandte und dabei aus aller Kraft versuchte, sich
+auch an Ilja Petrowitsch zu wenden, obgleich dieser sich hartnäckig den
+Anschein gab, als wühle er in den Papieren und beachte ihn nicht,
+»erlauben Sie mir auch meinerseits Ihnen zu erklären, daß ich schon drei
+Jahre bei ihr wohne, seit meiner Ankunft aus der Provinz und früher ...
+früher ... übrigens warum soll ich es nicht gestehen, gleich im Anfang
+gab ich ihr das Versprechen, daß ich ihre Tochter heiraten werde, es war
+ein mündliches, vollkommen freiwilliges Versprechen ... Sie war ein
+junges Mädchen ... übrigens sie gefiel mir sogar ... obgleich ich nicht
+in sie verliebt war ... mit einem Worte Jugend, d. h. ich will sagen,
+daß meine Wirtin mir damals viel Kredit einräumte und ich führte
+teilweise ein solches Leben ... ich war sehr leichtsinnig ...«
+
+»Man verlangt von Ihnen gar nicht solche intime Geständnisse, mein Herr,
+außerdem haben wir keine Zeit dazu,« unterbrach ihn grob und
+triumphierend Ilja Petrowitsch, aber Raskolnikoff beeilte sich voll
+Eifer weiter zu sprechen, obwohl es ihm plötzlich äußerst schwer fiel.
+
+»Aber erlauben Sie, erlauben Sie mir, teilweise, alles zu erzählen ...
+wie die Sache vor sich ging und ... wiederum ... obgleich es überflüssig
+ist zu erzählen, ich bin darin mit Ihnen einverstanden, -- aber vor
+einem Jahre starb dies junge Mädchen am Typhus, ich aber blieb in Miete,
+wie vorher, und meine Wirtin sagte mir, als sie in ihre jetzige Wohnung
+einzog, und ... sagte es mir freundschaftlich ... daß sie mir vollkommen
+vertraue und daß alles ... aber ob ich ihr nicht einen Schuldschein von
+hundertundfünfzehn Rubel ausstellen möchte, das war die Summe, die ich
+ihr schuldete. Erlauben Sie, -- sie sagte mir nämlich, daß, wenn ich ihr
+dies Papier ausgestellt habe, sie mir von neuem kreditieren würde,
+soviel ich nur wünschte, und daß sie niemals, niemals -- das sind ihre
+eigenen Worte -- von diesem Papier Gebrauch machen würde, bis ich selbst
+bezahlen werde ... Und jetzt, wo ich meine Stunden verloren und nichts
+zu essen habe, verklagt sie mich ... Was soll ich dazu sagen?«
+
+»Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, mein Herr,«
+schnitt Ilja Petrowitsch dreist ab. »Sie müssen eine Erklärung abgeben
+und eine Verpflichtung ausstellen, ob Sie aber verliebt waren, und all
+diese tragischen Sachen gehen uns ganz und gar nichts an.«
+
+»Nun, du bist aber ... auch zu grausam ...« murmelte Nikodim Fomitsch,
+indem er sich an seinen Tisch setzte und Papiere zu unterschreiben
+begann.
+
+Er schien sich zu schämen.
+
+»Schreiben Sie also,« sagte der Sekretär zu Raskolnikoff.
+
+»Was soll ich schreiben?« fragte er besonders grob.
+
+»Ich werde Ihnen diktieren.«
+
+Raskolnikoff schien es, als wäre der Sekretär herablassender und
+geringschätziger ihm gegenüber nach seiner Beichte geworden, -- aber
+merkwürdig, -- ihm war plötzlich die Meinung eines anderen so vollkommen
+gleichgültig, und dieser Umschwung hatte sich in einem Augenblick, in
+einem Nu vollzogen. Wenn er nur ein wenig hätte nachdenken wollen, so
+würde er sicher verwundert gewesen sein, wie er so mit ihnen vor einer
+Minute hatte sprechen und sich sogar mit seinen Gefühlen hatte
+aufdrängen können? Und woher kam dieses Gefühl? Jetzt, wenn das Zimmer
+plötzlich nicht mit Revieraufsehern, sondern mit seinen besten Freunden
+angefüllt wäre, würde er kein einziges menschliches Wort für sie finden,
+so leer war plötzlich sein Herz geworden. Ein düsteres Empfinden der
+qualvollen endlosen Einsamkeit und Entfremdung teilte sich plötzlich
+bewußt seiner Seele mit. Nicht die Erniedrigung vor Ilja Petrowitsch
+durch seine Herzensergießung, auch nicht die Erniedrigung durch den
+Triumph des Leutnants hatten sein Herz plötzlich so umgewandelt. Oh, was
+ging ihn jetzt die eigene Schuftigkeit an, all der Ehrgeiz, was gingen
+ihn alle Leutnants, deutsche Frauen, Geldforderungen, Bureaus an und so
+weiter und so weiter! Hätte man ihn in diesem Augenblicke zum
+Scheiterhaufen verurteilt, er hätte sich auch dann nicht gerührt, hätte
+kaum das Urteil aufmerksam angehört. In ihm vollzog sich etwas ihm
+völlig Unbekanntes, Neues, Unerwartetes und Niedagewesenes. Er konnte es
+nicht begreifen, aber fühlte es ganz klar mit der ganzen Kraft des
+Empfindens, daß er von jetzt ab weder mit gefühlvollen Ereignissen, wie
+vorhin, noch mit anderen Dingen sich an diese Menschen im Polizeibureau
+wenden konnte; auch dann wäre es für ihn überflüssig, sich an sie jemals
+im Leben zu wenden, wenn es sogar seine leiblichen Brüder und Schwestern
+gewesen wären, und nicht Polizeileutnants. Er hatte bis zu diesem
+Augenblick noch nie eine ähnliche seltsame und fürchterliche Empfindung
+erlebt. Und das Quälendste dabei war, -- daß es ein Empfinden war, kein
+bewußtes Begreifen, eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von
+allen, die er im Leben gekostet.
+
+Der Sekretär begann ihm die Form einer in diesem Falle gebräuchlichen
+Erklärung zu diktieren, d. h. ich kann nicht zahlen, verspreche es in
+der Frist (irgendwann) zu tun, werde die Stadt nicht verlassen und mein
+Eigentum weder verkaufen, noch verschenken und dergleichen mehr.
+
+»Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand,«
+-- bemerkte der Sekretär und blickte voll Neugier Raskolnikoff an. --
+»Sie sind krank?«
+
+»Ja ... der Kopf schwindelt mir ... diktieren Sie weiter.«
+
+»Das ist alles. Unterschreiben Sie es.«
+
+Der Sekretär nahm das Papier und wendete sich andern Besuchern zu.
+
+Raskolnikoff gab die Feder zurück, aber anstatt aufzustehen und
+wegzugehen, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und preßte mit den
+Händen den Kopf zusammen. Es war, als ob man ihm einen Nagel in die
+Schläfe hineinschlüge. Ein wunderlicher Gedanke kam ihm plötzlich, --
+sofort aufzustehen, zu Nikodim Fomitsch zu gehen und ihm das gestrige zu
+erzählen, alles bis auf die letzte Einzelheit, dann mit ihm in seine
+Wohnung zu gehen und ihm die Sachen in dem Winkel im Loche zu zeigen.
+Der Drang war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen.
+
+»Soll ich nicht einen Moment nachdenken?« -- fuhr es ihm durch den Kopf.
+»Nein, besser nicht nachdenken und die Sache ist abgetan!«
+
+Aber plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Nikodim Fomitsch sprach
+voll Eifer mit Ilja Petrowitsch, und er vernahm folgende Worte:
+
+»Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens, widerspricht
+alles der Annahme; urteilen Sie selbst, -- warum holten sie den
+Hausknecht, wenn sie es getan haben? Etwa um sich selbst anzuzeigen?
+Oder aus Schlauheit! Nein, das wäre schon zu schlau! Und schließlich,
+den Studenten Pestrjakoff haben beide Hausknechte und eine Frau am Tore
+im selben Momente gesehen, als er hineinging, -- er ging mit drei
+Bekannten zusammen und verabschiedete sich von ihnen am Tore, und dann
+fragte er die Hausknechte nach der Wohnung in Gegenwart seiner
+Bekannten. Nun, wird jemand nach der Wohnung fragen, wenn er so eine
+Absicht hat? Und Koch, -- der hat, bevor er zu der Alten ging, eine
+halbe Stunde unten bei dem Silberarbeiter gesessen und er ist genau ein
+viertel vor acht zu der Alten hinaufgegangen. Jetzt erwägen Sie ...«
+
+»Aber erlauben Sie, woher denn der Widerspruch bei ihnen -- sie
+behaupten selbst, daß sie geklopft haben, und daß die Türe verschlossen
+war, und nach drei Minuten, als sie mit dem Hausknecht heraufkamen,
+erwies sich, daß die Türe offen war?«
+
+»Das ist ja der Haken, -- der Mörder saß unbedingt drinnen und hatte
+sich eingeschlossen, und man hätte ihn sicher gefaßt, wenn Koch nicht
+die Dummheit begangen hätte, selbst nach dem Hausknecht zu gehen. _Dem_
+aber gelang es währenddessen, die Treppe hinunterzugehen und irgendwie
+an ihnen vorbeizuschlüpfen. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: >wenn
+ich geblieben wäre,< sagt er, >würde er herausgekommen sein und hätte
+mich totgeschlagen<. Er will ein russisches Dankgebet abhalten lassen
+... ha--ha!«
+
+»Und den Mörder hat niemand gesehen?«
+
+»Wie denn? Das Haus ist eine Arche Noah,« -- bemerkte der Sekretär, der
+von seinem Platze zuhörte.
+
+»Es ist ganz klar, es ist ganz klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch
+eifrig.
+
+»Nein, die Sache ist sehr unklar,« blieb Ilja Petrowitsch bei seiner
+Ansicht.
+
+Raskolnikoff nahm seinen Hut und ging zur Türe, aber kam nicht so weit
+... Als er zu sich kommt, sieht er, daß er auf einem Stuhl sitzt; daß
+rechts ihn jemand stützt, links ein anderer steht mit einem gelben
+Glase, gefüllt mit gelbem Wasser, und daß Nikodim Fomitsch vor ihm steht
+und ihn unverwandt anblickt. Er stand vom Stuhle auf.
+
+»Was ist Ihnen, sind Sie krank?« -- fragte Nikodim Fomitsch ziemlich
+scharf.
+
+»Schon als er unterschrieb, konnte er kaum die Feder führen,« bemerkte
+der Sekretär, indem er seinen Platz einnahm und in seinen Papieren
+wieder blätterte.
+
+»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platze
+aus, indem er auch in Papieren blätterte.
+
+Er hatte selbstverständlich auch den Kranken betrachtet, als er
+ohnmächtig war, war aber sofort auf die Seite getreten, als jener zu
+sich kam.
+
+»Seit gestern ...« murmelte Raskolnikoff zur Antwort.
+
+»Und sind Sie gestern ausgegangen?«
+
+»Ja.«
+
+»Krank?«
+
+»Ja.«
+
+»Um wieviel Uhr?«
+
+»In der achten Stunde abends.«
+
+»Und wohin, wenn man fragen darf?«
+
+»Auf die Straße.«
+
+»Kurz und bündig.«
+
+Raskolnikoff antwortete scharf, kurz, bleich wie ein Taschentuch, ohne
+seine schwarzen entzündeten Augen vor dem Blick Ilja Petrowitsch' zu
+senken.
+
+»Er kann kaum auf den Füßen stehen und du ...« versuchte Nikodim
+Fomitsch zu bemerken.
+
+»Tut nichts!« -- sagte Ilja Petrowitsch sehr eigentümlich.
+
+Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, schwieg aber, als er den
+Sekretär anblickte, der ihn auch sehr aufmerksam ansah. Plötzlich
+schwiegen alle. Es war merkwürdig.
+
+»Nun gut!« -- schloß Ilja Petrowitsch.
+
+»Wir halten Sie nicht auf.«
+
+Raskolnikoff ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem
+Fortgange plötzlich ein lebhaftes Gespräch begann, in dem am lautesten
+die fragende Stimme von Nikodim Fomitsch hervortrat ... Auf der Straße
+kam er ganz zu sich.
+
+»Eine Haussuchung, Haussuchung, sie werden sofort bei mir suchen!« --
+wiederholte er vor sich hin, indem er sich beeilte nach Hause zu kommen.
+-- »Räuber! Sie haben Verdacht!«
+
+Wieder erfaßte ihn vom Kopf bis zu Füßen die Angst von vorhin.
+
+
+ II.
+
+»Wie, wenn die Haussuchung schon vorgenommen ist? Wie, wenn ich sie
+jetzt schon bei mir antreffe?«
+
+Aber da ist er schon in seinem Zimmer. Nichts und niemand; niemand war
+dagewesen. Sogar Nastasja hat nichts angerührt. Aber, mein Gott! Wie
+konnte er nur vorhin alle diese Sachen in dem Loche liegen lassen?
+
+Er stürzte zu dem Winkel, steckte die Hand unter die Tapeten und begann
+die Sachen hervorzuholen und in die Taschen zu stecken. Im ganzen waren
+es acht Stück, -- zwei kleine Schachteln mit Ohrgehängen oder etwas
+ähnlichem, -- er hatte es nicht genau angesehen; dann vier kleine Etuis
+aus Saffian. Eine kleine Kette war bloß in Zeitungspapier eingewickelt.
+Es war noch etwas in einem Zeitungspapier, wie es schien, ein Orden ...
+Er steckte alles in die verschiedenen Taschen, in den Paletot und in die
+übriggebliebene rechte Hosentasche und gab sich Mühe, daß nichts von
+außen zu merken war. Den Beutel nahm er gleichfalls mit. Dann verließ er
+das Zimmer und ließ diesmal die Tür weit offen stehen.
+
+Er ging schnell und fest, und obgleich er fühlte, daß er vollkommen
+zerschlagen war, war doch sein Bewußtsein klar. Er fürchtete eine
+Verfolgung, fürchtete, daß nach einer halben Stunde, nach einer
+Viertelstunde schon vielleicht der Befehl gegeben würde, ihn zu
+beobachten, also mußte er um jeden Preis, ehe es zu spät war, alles
+beiseite schaffen. Er mußte fertig sein, solange ihm noch die geringste
+Kraft und klarer Verstand zur Seite standen ... Wohin aber gehen?
+
+Das war längst entschieden: »Alles in den Kanal werfen, und das ist das
+Ende«. So hatte er noch in der Nacht, im Fieber, beschlossen, in den
+Augenblicken, wo er -- er entsann sich dessen -- ein paarmal versuchte
+aufzustehen und fortzugehen: »Schnell, schnell, alles fortwerfen«. Aber
+das erwies sich als sehr schwer.
+
+Er wanderte den Jekaterinenkanal schon über eine halbe Stunde entlang,
+vielleicht auch länger, und schaute nach den Treppen, die zum Kanal
+hinabführten. Aber es war nicht mal daran zu denken, das Vorhaben
+auszuführen: entweder lagen an den Treppen Flöße, und Wäscherinnen
+wuschen dort, oder Kähne hatten angelegt, und überall wimmelte es von
+Menschen, außerdem aber konnte man von allen Seiten hersehen, es war
+schon verdächtig, wenn ein Mensch hinabging, stehen blieb und etwas ins
+Wasser warf. Und gar wenn die Etuis nicht untergingen, sondern obenauf
+schwammen? Ja, und so wird es auch kommen. Jeder wird es sehen. Schon
+jetzt sehen alle ihn an, als ob sie sich nur um ihn kümmerten.
+
+»Woher kommt das, oder scheint es mir nur so?« -- dachte er.
+
+Endlich kam ihm der Gedanke, ob es nicht besser wäre, irgendwohin an die
+Newa zu gehen? Dort sind weniger Menschen, und es würde weniger
+bemerkbar und in jedem Falle bequemer sein, hauptsächlich aber wäre es
+weit von hier. Und er wunderte sich plötzlich, wie er eine volle halbe
+Stunde an den gefährlichen Stellen in Trübsal und Unruhe herumgewandert
+war, ohne früher auf diesen Gedanken zu kommen.
+
+Und er hatte nur darum eine halbe Stunde nutzlos verbraucht, weil er so
+im Traume, im Fieber beschlossen hatte. Er war sehr zerstreut und
+vergeßlich geworden und fühlte es. Entschieden mußte er sich beeilen.
+
+Er ging zur Newa den W.schen Prospekt entlang und unterwegs kam ihm
+plötzlich der Gedanke: »Warum denn zur Newa? Warum ins Wasser werfen?
+Ist es nicht besser, irgendwohin ganz weit hinzugehen, vielleicht auf
+die Inseln, und dort irgendwo an einer einsamen Stelle, im Walde, unter
+einem Busche alles zu verscharren und vielleicht sich den Baum zu
+merken?«
+
+Und obgleich er fühlte, daß er nicht imstande sei, alles klar und
+vernünftig in diesem Augenblicke zu überlegen, schien ihm doch der
+Gedanke einwandfrei zu sein.
+
+Aber auch das war ihm nicht bestimmt auszuführen, es geschah etwas
+anderes: -- als er vom W.schen Prospekt auf den Platz kam, erblickte er
+plötzlich links das Tor zu einem von vollkommen fensterlosen Mauern
+umgebenen Hof. Rechts zog sich von dem Eingange tief in den Hof hinein
+die fensterlose, ungekalkte Mauer des vierstöckigen Nachbarhauses. Links
+vom Eingange, parallel der kahlen Mauer, lief ein hölzerner Zaun, der
+weiterhin, etwa zwanzig Schritte vom Eingange eine Biegung nach links
+machte. Es war ein leerer, umzäunter Platz, wo allerhand Baumaterialien
+lagen. Weiter, tief im Hofe, blickte hinter dem Zaune die Ecke einer
+niedrigen, verräucherten Scheune aus Stein hervor, wahrscheinlich der
+Teil einer Werkstatt. Hier war sicher eine Werkstatt für Wagenbauer oder
+eine Schlosserei oder etwas ähnliches, denn überall lag viel schwarzer
+Kohlenstaub. »Hier könnte man es wegwerfen und fortgehen!« --
+durchzuckte es ihn plötzlich. Da er niemand auf dem Hofe bemerkte,
+durchschritt er das Tor und erblickte sofort am Eingange eine am Zaune
+angebrachte Rinne, wie man sie oft in solchen Häusern antrifft, in denen
+es viele Arbeiter, Kutscher usw. gibt, und über der Rinne war am Zaune
+mit Kreide die übliche witzige Bemerkung angeschrieben: »Hier ist es
+verboten, stehen zu bleiben!« Dieser Umstand war also ausgezeichnet, es
+konnte keinen Verdacht erregen, daß er hineingegangen und hier stehn
+geblieben war. »Alles mit einem Ruck fortwerfen und fortgehen!«
+
+Er blickte sich noch einmal um und wollte schon die Hand in die Tasche
+stecken, als er plötzlich an der äußeren Mauer, zwischen dem Tore und
+der Rinne, wo es höchstens einen Meter breit war, einen großen
+unbehauenen Stein bemerkte, der vielleicht einen halben Zentner schwer
+sein mochte und an die Straßenmauer angelehnt war. Hinter dieser Mauer
+war die Straße, der Fußsteg, man hörte, wie die Vorbeigehenden
+schlurften, aber hinter dem Tore konnte ihn niemand sehen, wenn nicht
+jemand von der Straße eintrat, was übrigens sehr leicht passieren
+konnte, und darum mußte er sich beeilen.
+
+Er beugte sich zu dem Steine, packte die obere Spitze mit beiden Händen
+fest an, nahm alle seine Kräfte zusammen und wandte den Stein um. Unter
+dem Steine hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet; er begann sofort
+alles aus der Tasche hineinzuwerfen. Der Beutel kam obenauf zu liegen,
+und trotzdem war noch Platz in der Vertiefung. Dann packte er den Stein
+von neuem an, drehte ihn mit einem Ruck um, und er kam genau auf die
+frühere Stelle zu liegen, nur schien er ein wenig hervorzuragen. Er
+scharrte Erde ringsum zusammen und trat sie fest. Es war nichts zu
+merken. Dann ging er hinaus und wandte sich dem Platze zu. Wieder packte
+ihn auf einen Augenblick eine starke, überwältigende Freude, wie vorhin
+in dem Polizeibureau.
+
+»Alle Spuren sind verwischt! Und wem, wem könnte es in den Sinn kommen,
+unter diesem Steine nachzusuchen? Er liegt hier, vielleicht seitdem das
+Haus gebaut ist und wird vielleicht noch ebensolange liegen. Und wenn
+man es auch finden würde, wer würde an mich denken? Alles ist vorüber!
+Es gibt keine Beweise!« und er lachte. Ja, er entsann sich später, daß
+ihn ein nervöses stilles Lachen überfallen und daß er solange gelacht
+hatte, als er über den Platz ging. Als er aber den K.schen Boulevard
+erreichte, wo er vorgestern dem jungen Mädchen begegnet war, verging ihm
+das Lachen. Andere Gedanken kamen ihm in den Kopf. Ein Abscheu ergriff
+ihn, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals nach dem Fortgehen
+des Mädchens gesessen und nachgedacht hatte, und er fürchtete sich, dem
+Polizisten wieder zu begegnen, dem er damals zwanzig Kopeken gegeben
+hatte. »Hol ihn der Teufel!« Er ging und blickte sich zerstreut und
+ärgerlich um. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um einen einzigen,
+anscheinend um den Hauptpunkt, und er fühlte, daß dies wirklich der
+Hauptpunkt sei, und daß er jetzt, gerade jetzt, mit diesem Hauptpunkte
+unter vier Augen zu tun habe, -- und daß es das erstemal seit diesen
+zwei Monaten sei.
+
+»Ah, hol der Teufel all das!« dachte er plötzlich in einem Anfalle von
+unermeßlicher Wut. »Na, wenn es mal begonnen hat, mag es auch dabei
+bleiben, hol der Teufel das neue Leben. Oh Gott, wie das dumm ist! ...
+Und wieviel habe ich heute zusammengelogen und wie gemein war ich! Wie
+gemein habe ich vorhin geschwänzelt und dem charakterlosen Ilja
+Petrowitsch geschmeichelt. Was war das für ein Blödsinn! Ich pfeife auf
+sie alle und auch auf das, daß ich geschwänzelt und geschmeichelt habe.
+Das ist es nicht, das ist es gar nicht!«
+
+Plötzlich blieb er stehn; eine neue, völlig unerwartete und
+außerordentlich einfache Frage brachte ihn von diesem Gedanken ab und
+ließ ihn bitter erstaunen:
+
+»Wenn das ganze in der Tat bewußt und nicht in alberner Weise vollführt
+wurde, wenn du tatsächlich ein bestimmtes und sicheres Ziel hattest, --
+wie kam es dann, daß du bis jetzt nicht einmal in den Beutel
+hineinblicktest und nicht weißt, was dir zugefallen ist, warum hast du
+alle Qualen auf dich genommen und solch eine gemeine, häßliche, niedrige
+Tat bewußt übernommen? Du wolltest doch soeben ihn ins Wasser werfen,
+den Beutel mit all den Sachen, die du auch noch nicht gesehen hast ...
+Wie ist denn das?«
+
+Ja so ist es, es ist einmal so. Er hatte es vorher gewußt, und es war
+gar keine neue Frage für ihn. Auch als es in der Nacht beschlossen
+wurde, ohne jedes Schwanken und jeden Widerspruch, sondern so, als
+gehörte es sich so, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er wußte dies
+alles und erinnerte sich daran; ja, schon gestern war es vielleicht so
+beschlossen in demselben Moment, als er über den Kasten gebückt dasaß
+und die Futterale hervorholte ... Es ist doch so! ...
+
+»Das kommt daher, daß ich sehr krank bin,« entschied er schließlich
+finster, »ich habe mich selbst gemartert und abgequält und weiß selbst
+nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und die ganze Zeit
+habe ich mich gemartert ... Ich werde gesund werden und ... werde mich
+dann nicht mehr martern ... Aber wenn ich nun gar nicht gesund werde? Oh
+Gott! Wie ich all dessen überdrüssig bin ...«
+
+Er ging weiter ohne stehn zu bleiben. Er wollte sehr gern sich irgendwie
+zerstreuen, aber er wußte nicht, was er tun und unternehmen sollte. Eine
+neue unbezwingbare Empfindung erfaßte ihn immer stärker und stärker mit
+jedem Augenblick, -- es war ein grenzenloser, fast physischer Widerwille
+gegen alles, was ihm begegnete und was ihn umgab; es war ein
+hartnäckiges, böses und quälendes Gesicht. Alle Begegnenden waren ihm
+widerwärtig, -- ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen waren ihm
+widerwärtig. Er hätte sie am liebsten angespien, ja, vielleicht gar
+gebissen, wenn man ihn angeredet hätte.
+
+Er blieb stehn, als er an das Ufer der kleinen Newa, auf Wassiljew
+Ostroff bei der Brücke hinauskam.
+
+»Da wohnt er ja, in diesem Hause,« dachte er. »Was ist denn das, bin ich
+etwa zu Rasumichin mit Willen gegangen? Es ist dieselbe Geschichte wie
+damals ... Es ist mir nun doch sehr interessant, -- bin ich mit Absicht
+hierhergekommen oder lenkte das Schicksal meine Schritte. Es ist mir
+übrigens gleichgültig. Ich sagte mir ... vorgestern ... daß ich am
+andren Tage _nach dem_ hingehen werde; na, ich werde es tun, was ist
+denn dabei! Als ob ich jetzt nicht zu ihm gehen könnte ...«
+
+Er ging hinauf zu Rasumichin in das fünfte Stockwerk.
+
+Rasumichin war in seinem Zimmerchen und mit Schreiben beschäftigt; er
+öffnete ihm selbst. Seit vier Monaten etwa hatten sie sich nicht
+gesehen. Rasumichin stak in einem zerfetzten abgetragenen Schlafrock,
+hatte Pantoffeln an den bloßen Füßen und saß ungekämmt, unrasiert und
+ungewaschen da. Auf seinem Gesichte zeigte sich großes Erstaunen.
+
+»Was ist mit dir?« rief er aus und betrachtete den eingetretenen
+Kameraden vom Kopf bis zu den Füßen. Dann schwieg er und tat einen
+leisen Pfiff.
+
+»Steht es mit dir wirklich so schlecht? Ja, du hast sogar unsereinen
+übertroffen,« fügte er hinzu und blickte auf Raskolnikoffs Lumpen. »Aber
+so setz' dich doch, du bist wahrscheinlich müde!«
+
+Und als dieser auf das türkische Sofa von Wachstuch hinsank, sah
+Rasumichin plötzlich, daß sein Besucher krank sei.
+
+»Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?«
+
+Er begann seinen Puls zu fühlen, Raskolnikoff aber riß die Hand weg.
+
+»Ist nicht nötig,« sagte er, »ich bin gekommen ... die Sache ist -- ich
+habe keine Stunden zu geben ... ich wollte ... übrigens, ich brauche
+keine Stunden ...«
+
+»Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn
+aufmerksam beobachtete.
+
+»Nein, ich phantasiere nicht ...«
+
+Raskolnikoff erhob sich vom Sofa. Indem er zu Rasumichin ging, dachte er
+nicht daran, daß er Auge in Auge ihm gegenüberstehen müsse. Jetzt aber,
+in einem Nu, wurde es ihm durch diese Erfahrung klar, daß er jetzt am
+allerwenigsten aufgelegt sei, irgend jemandem auf der ganzen Welt Auge
+in Auge gegenüberzutreten. Die Galle stieg in ihm auf. Er verlor fast
+den Atem vor Wut über sich selbst, darüber, daß er diese Schwelle
+überschritten hatte.
+
+»Lebe wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür.
+
+»Aber warte doch, warte, du komischer Kauz!«
+
+»Nicht nötig! ...« wiederholte der und stieß seine Hand zurück.
+
+»Weshalb aber bist du denn gekommen, zum Teufel noch einmal! Bist du von
+Sinnen? Das ist doch ... fast beleidigend. Ich laß dich nicht so.«
+
+»So hör nun, -- ich bin zu dir gekommen, weil ich niemand außer dir
+kenne, der mir helfen würde ... anzufangen ... weil du besser, d. h.
+klüger als alle anderen bist und beurteilen kannst ... Jetzt aber sehe
+ich, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts brauche ... keinen
+Dienst und Teilnahme ... Ich selbst ... allein ... Nun, genug davon!
+Laßt mich in Ruhe!«
+
+»Aber warte doch einen Augenblick, du Schornsteinfeger! Bist ja ganz
+verrückt! Meinetwegen tue, wie du willst. Siehst du, Stunden habe ich
+nicht mal selber und pfeife auch darauf, aber auf dem Trödlermarkt gibt
+es einen Buchhändler Heruwimoff, der ist mir lieber als Stunden. Ich
+möchte ihn nicht gegen fünf Stunden bei Kaufleuten vertauschen. Er
+verlegt allerhand kleine Sachen und gibt naturwissenschaftliche
+Broschüren heraus, -- und wie die gehen? Die Titel allein sind schon was
+wert! Siehst du, du hast immer behauptet, ich wäre dumm; bei Gott, es
+gibt noch Dümmere als ich, Bruder mein! Jetzt macht er sogar in der
+modernen Literatur; selbst versteht er rein gar nichts davon, ich aber
+unterstütze ihn selbstverständlich darin. Hier siehst du mehr als zwei
+Bogen deutschen Text, -- meiner Ansicht nach, von der allerdümmsten
+Charlatanerie; mit einem Worte, es wird erörtert, ob die Frau ein Mensch
+ist oder nicht? Selbstredend wird mit Glanz bewiesen, daß sie ein Mensch
+ist. Heruwimoff bringt es, als zur Frauenfrage gehörend, heraus. Ich
+übersetze; er wird diese zwei und einen halben Bogen auf sechs
+ausdehnen, wir erfinden dann einen prachtvollen Titel; eine halbe Seite
+lang, und schlagen es zu fünfzig Kopeken los. Es wird sicher gehen! Für
+die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel pro Bogen, also für das Ganze
+fünfzehn, und sechs Rubel habe ich Vorschuß. Wenn wir damit fertig sind,
+fangen wir an, über Walfische zu übersetzen, dann folgen einige
+langweilige Klatschgeschichten aus dem zweiten Teil der >Konfessions,<
+die schon vorgemerkt sind und übersetzt werden sollen. Jemand hat
+Heruwimoff gesagt, Rousseau wäre eine Art Radischtscheff.[9] Ich
+widerspreche selbstverständlich nicht, hol ihn der Teufel! Willst du nun
+den zweiten Bogen von >Ist die Frau ein Mensch?< übersetzen? Wenn du
+willst, nimm sofort den Text, Federn und Papier -- dies alles wird
+gratis geliefert -- und nimm drei Rubel. Da ich für die ganze
+Übersetzung, für den ersten und zweiten Bogen, vorausbekommen habe, so
+kommen gerade auf diesen Teil drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen
+fertig bist, -- erhältst du noch drei Rubel. Ja, noch eins, -- bitte,
+sieh' es nicht als einen Dienst meinerseits an. Im Gegenteil, als du
+eintratest, dachte ich gleich, wie nützlich du mir sein könntest.
+Erstens bin ich in der Orthographie schlecht und zweitens bin ich im
+Deutschen öfters recht schwach, so daß ich meistens selbst hinzu dichte
+und mich bloß damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Aber wer
+weiß, vielleicht wird es nicht besser, sondern schlechter ... Tust du
+mit oder nicht?« Raskolnikoff nahm schweigend die Blätter der deutschen
+Artikel, nahm die drei Rubel und ging ohne ein Wort zu sagen hinaus.
+Rasumichin blickte ihm erstaunt nach. Als Raskolnikoff aber schon ein
+Stück gegangen war, kehrte er plötzlich um, ging wieder zu Rasumichin
+hinauf, legte auf den Tisch die Blätter und die drei Rubel und ging
+wieder schweigend von dannen.
+
+»Hast du etwa das Delirium?« schrie Rasumichin, der schließlich wütend
+geworden war. »Warum führst du hier eine Komödie auf? Hast mich sogar
+konfus gemacht ... Warum bist du denn hergekommen, zum Teufel?«
+
+»Ich brauche keine ... Übersetzungen ...« murmelte Raskolnikoff, als er
+schon die Treppe hinabstieg.
+
+»Ja, was brauchst du denn, zum Teufel?« rief von oben Rasumichin.
+
+Der ging jedoch schweigend hinunter.
+
+»He, du! Wo wohnst du?«
+
+Es erfolgte keine Antwort.
+
+»Na, so hol dich der Teu--fel!« ...
+
+Raskolnikoff war schon auf der Straße angelangt.
+
+Auf der Nikolaibrücke passierte es ihm, daß er infolge eines für ihn
+sehr unangenehmen Zwischenfalles wieder zur völligen Besinnung kam. Der
+Kutscher einer Privatequipage hatte ihm einen starken Peitschenhieb über
+den Rücken versetzt, weil er beinahe unter die Pferde geraten war,
+trotzdem er ihn einigemal angerufen hatte. Der Peitschenhieb verursachte
+eine solche Wut in ihm, daß er bis ans Geländer sprang -- (es war
+unklar, warum er in der Mitte der Brücke, auf dem Fahrweg, ging) und mit
+den Zähnen knirschte. Ringsherum erklang lautes Lachen.
+
+»Geschieht ihm recht!«
+
+»Ist wahrscheinlich ein Spitzbube.«
+
+»Selbstverständlich, stellt sich betrunken, kriecht absichtlich unter
+die Räder, und unsereiner muß es verantworten.«
+
+»Davon leben sie, Verehrtester, damit verdienen sie ...«
+
+In dem Augenblicke, als er am Geländer stand, den Rücken reibend und
+immer noch sinnlos vor Wut der davonfahrenden Equipage nachschaute,
+fühlte er, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf, --
+es war eine ältliche Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche, und neben ihr
+ein junges Mädchen im Hute, mit einem grünen Sonnenschirme,
+wahrscheinlich die Tochter. »Nimm, mein Lieber, um Christi willen!« Er
+nahm das Geld, und sie gingen weiter. Es waren zwanzig Kopeken. Seiner
+Kleidung und dem Aussehen nach konnten sie ihn sehr leicht für einen
+Bettler, für einen echten Groschensammler von der Straße halten, daß sie
+ihm aber ganze zwanzig Kopeken gaben, hatte er sicher dem Peitschenhiebe
+zu danken, der sie mitfühlend gestimmt hatte.
+
+Er drückte die Münze fest in die Hand, ging etwa zehn Schritte und
+wandte sich mit dem Gesichte zur Newa, in der Richtung des Winterpalais.
+Der Himmel war ohne die geringste Wolke und das Wasser fast blau, was so
+selten auf der Newa vorkommt. Die Kuppel des Domes, der von keinem
+Punkte sich besser hervorhebt, als von der Brücke aus, leuchtete
+förmlich, durch die reine Luft konnte man jede Verzierung deutlich
+wahrnehmen. Der Schmerz vom Peitschenhieb hatte nachgelassen, und
+Raskolnikoff hatte den Hieb vergessen; ein unruhiger und nicht ganz
+klarer Gedanke beschäftigte ihn jetzt ausschließlich. Er stand und
+schaute lange und unverwandt in die Ferne; diese Stelle kannte er
+besonders gut. Als er noch zur Universität ging, geschah es gewöhnlich,
+-- meistens auf dem Rückwege nach Hause, -- daß er gerade an dieser
+Stelle stehn blieb, um unverwandt dieses prachtvolle Panorama zu
+betrachten, und jedesmal mußte er über den Eindruck, den er sich nicht
+erklären konnte, staunen. Eine unerklärliche Kälte wehte ihm stets von
+diesem wundervollen Panorama entgegen; dieses prächtige Bild war für ihn
+von einem stillen und dumpfen Geiste erfüllt ... Er wunderte sich
+jedesmal über seinen düsteren und rätselhaften Eindruck und schob die
+Lösung, ohne zu wissen warum, in die Zukunft. Jetzt erinnerte er sich
+deutlich seiner früheren Fragen und Zweifel, und es schien ihm, als
+hätte er sich nicht rein zufällig ihrer erinnert. Schon der Umstand
+erschien ihm merkwürdig und wunderlich, daß er auf derselben Stelle, wie
+früher, stehengeblieben war, als bilde er sich wirklich ein, daß er
+jetzt über dasselbe, wie ehedem, nachsinnen und sich für ebensolche
+Themen und Bilder interessieren könne, wie er es früher ... noch
+unlängst getan. Ihm wurde fast lächerlich zumute und gleichzeitig
+schnürte es ihm die Brust zu. In der Tiefe, tief unten in einem
+ungeheuren Abgrunde versunken, erschien ihm jetzt die ganze
+Vergangenheit, die früheren Gedanken, die alten Ziele und Probleme, die
+damaligen Eindrücke und dieses ganze Panorama, und er selbst und alles
+... Ihm schien, als fliege er irgendwo hinauf, und alles verschwinde aus
+seinen Augen ... Indem er eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand
+machte, fühlte er wieder in seiner geballten Faust die zwanzig Kopeken.
+Er öffnete die Hand, blickte aufmerksam das Geldstück an und schleuderte
+es ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Ihm schien
+es, als hätte er in diesem Augenblick seine ganze Vergangenheit mit
+einer Schere abgeschnitten.
+
+Es war am Abend, als er nach Hause kam, also mußte er im ganzen gegen
+sechs Stunden gewandert sein. Welchen Weg, und wie er zurückgekommen
+war, erinnerte er sich gar nicht. Er kleidete sich aus, und zitternd am
+ganzen Körper, wie ein abgehetztes Pferd, legte er sich auf das Sofa,
+zog seinen Mantel über sich und fiel sofort in Bewußtlosigkeit ...
+
+Er wurde in völliger Dämmerung von einem furchtbaren Geschrei
+aufgestört. Oh, Gott, was ist das für ein Geschrei! Solche unnatürlichen
+Töne, solch ein Geheul, Stöhnen, Knirschen, Weinen, Schläge und
+Schimpfen hatte er noch nie vernommen. Er konnte sich nicht mal solchen
+Greuel, solche Raserei vorstellen. Voll Schrecken erhob er sich und
+setzte sich in seinem Bette auf; schwer atmend litt er Qualen. Die
+Schläge, das Geschrei und die Schimpfwörter wurden immer stärker und
+stärker. Er vernahm zu seiner größten Verwunderung die Stimme seiner
+Wirtin. Sie heulte, kreischte und klagte, sie sprach die Worte in so
+eiliger Hast, daß man nicht verstehen konnte, um was sie flehte, --
+gewiß, daß man aufhören sollte, sie zu schlagen, denn man prügelte sie
+auf der Treppe unbarmherzig. Die Stimme des Schlagenden war so
+schauerlich vor Wut und Raserei, daß er bloß noch röchelte, und er
+sprach ebenso unverständlich, hastig und sich verschluckend. Plötzlich
+bebte Raskolnikoff am ganzen Körper; er hatte die Stimme von Ilja
+Petrowitsch erkannt. Er ist hier und schlägt die Wirtin! Er schlägt sie
+mit Fäusten, stößt ihren Kopf auf die Stufen, -- das ist klar, man hörte
+es an dem Ton, am Geheul, an den Schlägen! Was ist denn geschehen, hat
+sich die Welt gewendet? Man hörte, wie aus allen Stockwerken, auf der
+ganzen Treppe sich Menschen ansammeln, Stimmen, Ausrufe erschallen, man
+läuft, trampelt, schlägt die Türen zu, rennt zusammen. »Aber weshalb
+denn, weshalb und wie ist es denn möglich?« wiederholte er und glaubte
+in allem Ernste, er hätte den Verstand verloren. Aber nein, er hört es
+doch zu deutlich! ... Also wird man auch zu ihm gleich kommen, »denn ...
+das ist sicher wegen desselben ... wegen des gestrigen ... Oh, Gott!« Er
+wollte die Tür zuhaken, konnte aber die Hand nicht erheben ... und es
+wäre ja nutzlos. Die Angst lag auf seiner Seele wie Eis, hatte ihn
+zermartert, ihn erstarrt ... Aber nach und nach hörte dieser Spektakel,
+der sicher gegen zehn Minuten gedauert hatte, auf. Die Wirtin stöhnte
+und ächzte, Ilja Petrowitsch drohte und schimpfte noch immer ... Endlich
+schien auch er ruhiger geworden zu sein; jetzt hörte man ihn nicht mehr.
+»Ist er fortgegangen? Oh, Gott!« Ja, nun geht auch die Wirtin fort, sie
+stöhnt und weint noch immer ... nun schlug sie auch ihre Türe zu ...
+Jetzt gehen die Menschen die Treppe hinunter in ihre Wohnungen, -- sie
+bedauern, streiten, rufen einander zu, bald erhebt sich ihr Gerede bis
+zum Geschrei, bald sinkt es zum Flüstertone. Wahrscheinlich waren es
+viele gewesen, fast das ganze Haus war zusammengelaufen. »Aber, mein
+Gott, ist denn das alles möglich! Und warum, warum kam er hierher!«
+
+Raskolnikoff fiel kraftlos auf das Sofa hin, aber er konnte kein Auge
+schließen; er lag etwa eine halbe Stunde in solcher Qual, in dem
+unausstehlichen Gefühle eines grenzenlosen Schreckens, wie er ihn noch
+nie empfunden hatte. Plötzlich erhellte ein greller Schein sein Zimmer,
+-- Nastasja kam mit einem Lichte und einem Teller Suppe herein. Sie sah
+ihn aufmerksam an und als sie bemerkte, daß er nicht schlafe, stellte
+sie das Licht auf den Tisch und begann das Mitgebrachte aufzustellen:
+Brot, Salz, einen Teller und Löffel ...
+
+»Hast seit gestern wahrscheinlich nichts gegessen? Hast dich den ganzen
+Tag umhergetrieben, -- im Fieber, wie du bist.«
+
+»Nastasja ... warum schlug man die Wirtin?«
+
+Sie sah ihn aufmerksam an.
+
+»Wer hat die Wirtin geschlagen?«
+
+»Soeben ... vor einer halben Stunde. Ilja Petrowitsch, der Gehilfe des
+Revieraufsehers, auf der Treppe ... Warum hat er sie so geschlagen. Und
+... warum kam er her?«
+
+Nastasja betrachtete ihn schweigend und mit zusammengezogenen
+Augenbrauen, und sah ihn lange so an. Ihm wurde dieses Anstarren sehr
+unangenehm, beängstigend.
+
+»Nastasja, warum schweigst du?« sagte er schließlich zaghaft mit
+schwacher Stimme.
+
+»Das ist das Blut,« antwortete sie leise, als rede sie mit sich selbst.
+
+»Blut! ... Was für ein Blut? ...« murmelte er erbleichend und rückte zur
+Wand.
+
+Nastasja fuhr fort ihn schweigend zu betrachten.
+
+»Niemand hat die Wirtin geschlagen,« sagte sie endlich in strengem und
+entschiedenem Tone.
+
+Er sah sie an und atmete kaum.
+
+»Ich habe selbst gehört ... ich habe nicht geschlafen ... ich saß,«
+sagte er noch zaghafter. »Ich habe lange zugehört ... Der Gehilfe des
+Revieraufsehers war gekommen ... Alle waren auf der Treppe
+zusammengelaufen, aus allen Stockwerken ...«
+
+»Niemand ist dagewesen. Es ist das Blut, das in dir spricht. Wenn es
+keinen Ausweg hat und sich in Klumpen zusammenballt, dann erscheinen
+einem allerhand Dinge ... Wirst du essen?«
+
+Er antwortete nicht. Nastasja stand immer noch bei ihm, blickte ihn
+aufmerksam an und ging nicht weg.
+
+»Gib mir zu trinken ... liebe Nastasja.«
+
+Sie ging hinunter und nach ein paar Minuten kehrte sie mit Wasser in
+einer weißen Tasse zurück, weiter erinnerte er sich nichts mehr, nur
+noch, wie er einen Schluck kalten Wassers genommen und aus der Tasse auf
+die Brust verschüttet hatte. Dann hatte er das Bewußtsein verloren.
+
+
+ III.
+
+Er war jedoch nicht ganz besinnungslos während seiner Krankheit; es war
+ein fieberhafter Zustand mit Traumgesichten und halbem Bewußtsein. An
+vieles konnte er sich später erinnern. Bald schien es ihm, als versammle
+sich eine Menge Menschen um ihn, die ihn irgendwohin fort tragen wollten
+und sich seinetwegen sehr viel stritten und zankten. Bald war er wieder
+allein im Zimmer, alle waren weggegangen und fürchteten sich vor ihm,
+nur zuweilen öffnete man die Türe, um ihn zu betrachten, man drohte ihm,
+verabredete unter sich etwas, lachte und reizte ihn. Nastasja sah er oft
+um sich, auch unterschied er noch einen Menschen, der ihm sehr bekannt
+schien, aber wer es war -- konnte er nicht herausbekommen, das peinigte
+ihn, und er weinte sogar. Manchmal schien es ihm, als liege er schon
+einen Monat, ein anderes Mal aber -- als wäre es noch derselbe Tag.
+_Jenes_ aber, _jenes Ereignis_ hatte er völlig vergessen; dafür aber
+dachte er immerfort, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte
+vergessen dürfen, -- er quälte sich, marterte sich, um darauf zu kommen,
+stöhnte, es überfiel ihn eine rasende Wut oder eine schreckliche
+unerträgliche Angst. Dann versuchte er aufzustehen, wollte fliehen, aber
+stets hielt ihn jemand mit Gewalt zurück und er verfiel wieder in
+Schwäche und Bewußtlosigkeit. -- Endlich kam er ganz zu sich.
+
+Das geschah an einem Morgen um zehn Uhr. Um diese Stunde zog an heiteren
+Tagen die Sonne stets einen langen Streifen über die rechte Wand des
+Zimmers und beleuchtete die Ecke an der Tür. An seinem Bette stand
+Nastasja und noch ein Mann, der ihn mit großem Interesse betrachtete und
+der ihm völlig unbekannt war. Das war ein junger Bursche in langem Rock,
+mit einem kleinen Barte, der seinem Aussehen nach ein Kontordiener sein
+mochte. Hinter der halbgeöffneten Tür blickte die Wirtin hervor.
+Raskolnikoff erhob sich.
+
+»Wer ist das, Nastasja?« fragte er und wies auf den Burschen.
+
+»Sieh mal, er ist zu sich gekommen!« sagte sie.
+
+»Zu sich gekommen,« wiederholte der Kontordiener.
+
+Als sie hörte, daß er zu sich gekommen sei, schloß die Wirtin sofort die
+Tür und verschwand. Sie war immer schon schüchtern und vertrug mit Mühe
+Gespräche und Auseinandersetzungen; sie war gegen vierzig Jahre alt,
+dick und fett, hatte schwarze Augenbrauen und schwarze Augen, war
+gutmütig aus Wohlgenährtheit und Faulheit, ziemlich hübsch, genierte
+sich aber über alle Maßen.
+
+»Wer sind ... Sie?« wandte sich fragend Raskolnikoff an den
+Kontordiener. In diesem Augenblicke wurde die Türe von neuem weit
+geöffnet, und gebückt, da er viel zu groß war, trat Rasumichin ein.
+
+»Das ist ja die reinste Schiffskajüte,« rief er beim Eintreten, »immer
+stoße ich mit der Stirn an. Und das nennt sich eine Wohnung? Und du bist
+zu dir gekommen, Bruder! Die liebe Praskovja sagte es mir.«
+
+»Er ist soeben zu sich gekommen,« sagte Nastasja.
+
+»Soeben zu sich gekommen,« bestätigte wieder der Kontordiener mit einem
+Lächeln.
+
+»Wer sind Sie aber, mein Herr?« fragte er plötzlich Rasumichin, sich an
+ihn wendend. »Ich bin, sehen Sie, Rasumichin, Student, Sohn eines
+Edelmannes, und er ist mein Freund. Nun, und wer sind Sie?«
+
+»Ich bin in unserm Kontor Diener, beim Kaufmann Schelopajeff, und komme
+in Geschäften.«
+
+»Nehmen Sie bitte Platz auf diesem Stuhl.«
+
+Rasumichin setzte sich auf einen andern, an der anderen Seite des
+Tischchens.
+
+»Das hast du gut getan, Bruder, daß du zu dir gekommen bist,« fuhr er
+fort, sich an Raskolnikoff wendend. »Den vierten Tag schon hast du kaum
+etwas gegessen oder getrunken. Löffelweise hat man dir ein wenig Tee
+gegeben. Ich brachte ein paarmal Sossimoff mit. Erinnerst du dich
+seiner? Er hat dich genau untersucht und sagte sofort, es sei nichts von
+Bedeutung, -- es hat sich in den Kopf gezogen. Irgendein Unsinn mit den
+Nerven, sagt er, schlechte Ernährung, zu wenig Bier und Meerrettich habe
+man dir gegeben, daher auch die Krankheit, aber es habe nichts auf sich,
+wird bald vergehen und gut werden. Sossimoff ist ein tüchtiger Kerl!
+Fängt glänzend an damit, daß er dich kuriert. Na, ich will Sie nicht
+aufhalten,« wandte er sich wieder an den Kontordiener, »wollen Sie Ihre
+Wünsche erklären? Denk dir, Rodja, das ist schon der zweite Bote aus dem
+Kontor, mit dem ersten habe ich gesprochen. Wer war es, der vor Ihnen da
+war?«
+
+»Ich glaube, es war vorgestern; ja es stimmt. Das war Alexei
+Ssemenowitsch, er ist auch aus unserem Kontor.«
+
+»Er ist wohl gescheiter als Sie, he?«
+
+»Ja, Sie haben recht, er ist solider.«
+
+»Das lobe ich mir, nun, fahren Sie fort.«
+
+»Also, Afanassi Iwanowitsch Wachruschin, von dem, wie ich annehme, Sie
+öfter gehört haben, sendet Ihnen auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, durch
+unser Kontor eine Anweisung,« begann der Diener, sich direkt an
+Raskolnikoff wendend.
+
+»Falls Sie wieder bei Bewußtsein sind, soll ich Ihnen fünfunddreißig
+Rubel überreichen, die an Ssemjon Ssemenowitsch von Afanassi Iwanowitsch
+auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, wie in früheren Fällen, überwiesen werden.
+Sie kennen ihn doch?«
+
+»Ja ... ich erinnere mich ... Wachruschin ...« sagte Raskolnikoff
+sinnend.
+
+»Hören Sie -- er kennt den Kaufmann Wachruschin!« rief Rasumichin aus.
+»Ist er nun nicht bei Bewußtsein? Übrigens, ich merke jetzt auch, daß
+Sie ebenfalls ein gescheiter Mann sind. Na! Kluge Reden hört man gern.«
+
+»Ja, er ist es, Wachruschin, Afanassi Iwanowitsch, und zufolge des
+Wunsches Ihrer Frau Mutter, die schon einmal auf diesem Wege Ihnen Geld
+gesandt hatte, hat er es auch diesmal nicht abgelehnt und hat Ssemjon
+Ssemenowitsch in diesen Tagen Order erteilt, Ihnen fünfunddreißig Rubel
+bis auf weiteres zu übergeben.«
+
+»Das ist gut: >bis auf weiteres,< nicht übel war auch das >von Ihrer
+Frau Mutter<. Nun, also wie ist Ihre Ansicht, -- ist er bei vollem
+Bewußtsein oder nicht, he?«
+
+»Mir ist es gleich. Sehen Sie, nur die Unterschrift müßte ich haben.«
+
+»Er wird sie schon hinkritzeln. Was haben Sie da, ein Buch etwa?«
+
+»Ein Quittungsbuch, hier.«
+
+»Geben Sie es her. Nun, Rodja, erhebe dich. Ich will dich stützen;
+unterschreibe mal, nimm die Feder, denn Geld brauchen wir jetzt mehr als
+Syrup, Bruder.«
+
+»Ist nicht nötig,« sagte Raskolnikoff und stieß die Feder von sich.
+
+»Was ist nicht nötig?«
+
+»Ich werde nicht unterschreiben.«
+
+»Zum Teufel, wie denn ohne Quittung?«
+
+»Ich brauche nicht ... das Geld ...«
+
+»Das Geld brauchst du nicht? Nun, da lügst du, Bruder, ich kann es
+bezeugen! ... Bitte, beachten Sie es nicht, er tut bloß so ...
+phantasiert wieder. Das passiert ihm übrigens auch in wachem Zustande
+... Sie sind ein verständiger Mann und wir wollen ihn leiten, das heißt,
+einfach seine Hand führen, er wird dann unterschreiben. Helfen Sie ...«
+
+»Übrigens, ich kann auch ein andres Mal kommen.«
+
+»Nein, nein, warum wollen Sie sich bemühen. Sie sind ein verständiger
+Mann ... Nun, Rodja, halte den Besuch nicht auf ... du siehst, er
+wartet,« und er schickte sich in allem Ernste an, Raskolnikoffs Hand zu
+führen.
+
+»Laß, ich will selbst ...« sagte jener, nahm die Feder und quittierte im
+Buche.
+
+Der Kontordiener zählte das Geld auf und ging.
+
+»Bravo! Willst du nun essen, Bruder?«
+
+»Ich will essen,« antwortete Raskolnikoff.
+
+»Haben Sie Suppe?«
+
+»Ja, von gestern,« antwortete Nastasja, die die ganze Zeit dabei
+gestanden hatte.
+
+»Mit Kartoffel und Reis?«
+
+»Ja, mit Kartoffel und Reis.«
+
+»Ich kenne das auswendig. Bringe die Suppe und gib auch Tee.«
+
+»Gleich.«
+
+Raskolnikoff blickte auf alles mit großem Erstaunen und einer dumpfen
+sinnlosen Angst. Er beschloß zu schweigen und abzuwarten, was weiter
+kommen würde. »Ich träume nicht, wie es scheint,« dachte er, »es scheint
+Wirklichkeit zu sein ...«
+
+Nach ein paar Minuten kam Nastasja mit der Suppe zurück und erklärte,
+daß sofort auch der Tee da sein werde. Mit der Suppe erschienen auch
+zwei Löffel, zwei Teller und das ganze Zubehör: ein Salzfaß, Pfeffer,
+Senf für das Fleisch und alles übrige, in einer Ordnung, die schon lange
+nicht mehr geherrscht hatte. Sogar das Tischtuch war sauber.
+
+»Es wäre nicht schlecht, liebe Nastasja, wenn Praskovja Pawlowna ein
+paar Flaschen Bier beordern würde. Wir würden sie gerne trinken.«
+
+»Auch noch!« murmelte Nastasja, ging aber, den Befehl auszuführen.
+
+Raskolnikoff begann starr und angestrengt zu beobachten. Unterdessen
+hatte sich Rasumichin zu ihm auf das Sofa gesetzt; ungeschickt, wie ein
+Bär, umfaßte er mit der linken Hand Raskolnikoffs Kopf, trotzdem dieser
+selber sich erheben konnte, und brachte ihm mit der rechten Hand den
+Suppenlöffel an seinen Mund, nachdem er ein paarmal vorher darauf
+geblasen hatte, damit er sich nicht verbrenne. Die Suppe war kaum warm.
+Raskolnikoff verschlang voll Gier einen Löffel, dann einen zweiten und
+einen dritten. Nachdem er aber ihm noch einige Löffel gereicht, hielt
+Rasumichin plötzlich inne und erklärte, daß man des weiteren wegen
+Sossimoff fragen müsse.
+
+Nastasja kam mit zwei Flaschen Bier herein.
+
+»Willst du Tee?«
+
+»Ja, ich möchte gern.«
+
+»Bring mal schnell den Tee, Nastasja, denn was Tee anbelangt, so kann
+man wohl auch ohne Konsultation auskommen. Na, und hier ist Bier!«
+
+Er setzte sich auf seinen Stuhl, rückte die Suppe und das Fleisch zu
+sich und begann mit solch einem Appetit zu essen, als hätte er drei Tage
+nichts bekommen.
+
+»Ich esse jetzt jeden Tag bei euch zu Mittag, lieber Rodja,« brummte er,
+soweit es ihm der vollgestopfte Mund erlaubte, »und zwar bewirtet mich
+so die liebe Praskovja, deine Wirtin, und ehrt mich von ganzer Seele.
+Ich bestehe selbstverständlich nicht darauf, aber protestiere auch nicht
+dagegen. Da ist Nastasja mit dem Tee. Wie flink du bist! Nastasja,
+willst du Bier?«
+
+»Ne, du Spaßvogel.«
+
+»Und wie steht es mit Tee?«
+
+»Tee möchte ich wohl.«
+
+»Gieß ein. Warte, ich will dir selbst eingießen; setz dich an den
+Tisch.«
+
+Er machte sich sofort daran, goß eine Tasse ein, dann eine zweite, ließ
+sein Essen stehen und setzte sich wieder auf das Sofa hin. Wie früher,
+umfaßte er mit der linken Hand den Kopf des Kranken, richtete ihn auf
+und begann ihm den Tee löffelweise einzuflößen, wobei er wieder
+ununterbrochen und sehr eifrig auf den Löffel blies, als bestände in
+diesem Blasen das wesentlichste und heilsamste Moment für die Genesung.
+Raskolnikoff schwieg und sträubte sich nicht, obwohl er genügend Kraft
+in sich fühlte, sich zu erheben und ohne fremde Hilfe auf dem Sofa zu
+sitzen, nicht bloß die Hände zu benutzen, um den Löffel oder die Tasse
+zu halten, sondern vielleicht auch herumzugehen. Aber aus einer
+eigentümlichen, fast tierischen Schlauheit heraus kam es ihm plötzlich
+in den Sinn, vorläufig seine Kräfte zu verheimlichen, sich zu verstellen
+und sich auch nötigenfalls den Anschein zu geben, als verstünde er noch
+nicht alles, indessen aber zuzuhören und zu erfahren, was um ihn
+vorgehe. Übrigens überwand er nicht seinen Widerwillen, -- nachdem er
+etwa zehn Löffel Tee geschlürft hatte, befreite er plötzlich seinen Kopf
+von der Umarmung, stieß den Löffel von sich und sank wieder auf die
+Kissen zurück. Unter seinem Kopfe lagen jetzt wirklich Kissen, --
+gefüllt mit weichem Flaum und mit sauberen Überzügen bezogen; das hatte
+er auch schon bemerkt und darüber nachgedacht.
+
+»Die liebe Praskovja muß uns heute noch Himbeersaft schicken, um ihm ein
+Getränk zu machen,« sagte Rasumichin, indem er seinen Platz wieder
+einnahm und sich an die Suppe und das Bier machte.
+
+»Wo soll sie den Himbeersaft für dich hernehmen?« fragte Nastasja, die
+die Untertasse auf ihren ausgespreizten fünf Fingern hielt und den Tee
+durch ein Stück Zucker hindurchsog.
+
+»Den Himbeersaft wird sie im Laden erhalten, mein Freund. Siehst du,
+Rodja, während du krank warst, ist hier eine ganze Geschichte passiert.
+Als du in solcher spitzbübischen Weise von mir ausrücktest und mir deine
+Wohnung nicht sagtest, packte mich plötzlich eine Wut, daß ich beschloß,
+dich aufzusuchen und zu strafen. Am selben Tage begann ich schon. Ich
+wanderte und wanderte umher, fragte hier und fragte dort! Deine jetzige
+Wohnung hatte ich vergessen, erinnerte mich ihrer auch nicht, weil ich
+sie gar nicht kannte. Nun, und von der früheren Wohnung wußte ich bloß,
+daß sie an den Fünfecken lag, im Hause Karlamoff. Ich suchte und suchte
+dies Haus von Karlamoff, -- und später fand sich's, daß es gar nicht
+Karlamoff, sondern Buch gehörte, wie man sich zuweilen im Klange irren
+kann. Na, ich wurde böse, und ging auf gut Glück am anderen Tage in das
+Adreßbureau, und stell dir vor, -- in zwei Minuten hatte man dich dort
+herausgefunden. Du bist dort eingetragen.«
+
+»Ich bin dort eingetragen.«
+
+»Das stimmt, aber den General Koboleff, siehst du, konnte man dort gar
+nicht finden. Na, darüber ließe sich viel reden. Kaum war ich hier
+eingebrochen, als ich sofort mit allen deinen Angelegenheiten bekannt
+wurde; mit allen, mit allen, Bruder, ich weiß alles. Nikodim Fomitsch
+lernte ich kennen, Ilja Petrowitsch zeigte man mir, auch mit dem
+Hausknecht wurde ich bekannt, ebenso Herrn Alexander Grigorjewitsch
+Sametoff, dem Sekretär in dem Polizeibureau und zu guter Letzt mit der
+lieben Praskovja, -- das war die Krone vom ganzen. Sie, Nastasja, weiß
+es auch ...«
+
+»Er hat sich eingeschmeichelt,« murmelte Nastasja mit einem schelmischen
+Lächeln.
+
+»Versüßen Sie doch Ihren Tee, Nastasja Nikiforowna.«
+
+»Zum Kuckuck mit dir!« rief plötzlich Nastasja und prustete vor Lachen.
+»Ich heiße übrigens Nastasja Petrowna und nicht Nikiforowna,« fügte sie
+hinzu, nachdem sie aufgehört hatte zu lachen.
+
+»Das will ich mir merken. Na, also, Bruder, um nicht viel Worte zu
+verlieren, ich wollte, siehst du, zuerst hier einen elektrischen Strom
+durchlassen, um alle Vorurteile in hiesiger Gegend mit einem Male zu
+vertilgen, aber die liebe Praskovja siegte. Ich hatte gar nicht
+erwartet, Bruder, daß sie so ... lieb sein würde ... Was meinst du?«
+
+Raskolnikoff schwieg, obwohl er keinen Augenblick seinen erregten Blick
+von ihm gewandt hatte, und jetzt noch fortfuhr, ihn starr anzublicken.
+
+»Und sogar sehr lieb,« fuhr Rasumichin fort, ohne sich durch
+Raskolnikoffs Schweigen stören zu lassen, und als bekräftige er dessen
+Antwort, »und in bester Ordnung in jeder Hinsicht.«
+
+»Das ist einer!« rief Nastasja wieder aus, der dieses Gespräch eine
+unbeschreibliche Wonne zu bereiten schien.
+
+»Schlimm war es, Bruder, daß du von Anfang an nicht verstanden hast, die
+Sache richtig anzufassen. Mit ihr mußte man anders verfahren. Sie ist
+sozusagen ein problematischer Charakter! Doch vom Charakter später ...
+Eins nur, zum Beispiel, wie konntest du es soweit kommen lassen, daß sie
+wagte, dir kein Mittagessen zu schicken? Oder zum Beispiel dieser
+Wechsel? Bist du etwa verrückt geworden, Wechsel zu unterzeichnen. Oder
+wiederum diese in Aussicht genommene Ehe, als noch die Tochter, Natalja
+Jegorowna, lebte ... Ich weiß alles! übrigens, ich sehe, daß das eine
+zarte Angelegenheit ist und ich ein Esel bin; entschuldige bitte.
+Apropos: Dummheit; Praskovja Pawlowna ist gar nicht so dumm, Bruder, wie
+man auf den ersten Blick meinen könnte, he?«
+
+»Ja ...« sagte Raskolnikoff gedehnt, indem er zur Seite blickte, aber er
+begriff, daß es vorteilhafter war, vom Thema nicht abzulenken.
+
+»Nicht wahr?« rief Rasumichin aus, sichtlich erfreut, daß er Antwort
+bekommen hatte. »Aber auch nicht klug, wie? Ein ganz, ganz
+unberechenbarer Charakter! Zum Teil bin ich mir selber nicht ganz klar,
+sage ich dir, Bruder ... Sie wird sicher ihre vierzig sein. Sie sagt,
+sie sei sechsunddreißig, und das ist ihr gutes Recht. Übrigens, ich
+schwöre dir, daß ich über sie mehr nach meinem Verstande, rein
+metaphysisch urteile; hier haben sich Verwicklungen eingestellt,
+schlimmer, als in der Algebra. Ich begreife nichts! -- Na, das ist
+lauter Unsinn. Als sie sah, daß du nicht mehr Student bist, weder
+Stunden noch Kleidung hast, bekam sie Furcht und da sie es nicht nötig
+hat, nach dem Tode ihrer Tochter dich verwandtschaftlich zu behandeln,
+und da du deinerseits dich in den Winkel verkrochst und den früheren
+Verkehr nicht unterhieltest, faßte sie den Entschluß, dich aus der
+Wohnung hinauszuwerfen. Sie hatte schon lange diese Absicht gehabt, aber
+der Wechsel tat ihr leid. Außerdem hast du ja selbst versichert, daß
+deine Mutter bezahlen würde ...«
+
+»Das habe ich aus Schuftigkeit gesagt ... Meine Mutter muß beinahe
+betteln gehen ... und ich log, damit man mich wohnen ließe und ... mir
+zu essen gebe,« sagte Raskolnikoff laut und deutlich.
+
+»Ja, das hast du vernünftig gemacht. Nur die Sache war die, daß sich ein
+Herr Tschebaroff einfand, Hofrat und Geschäftsmann. Die liebe Praskovja
+hätte ohne ihn nichts unternommen, sie ist doch zu schüchtern. Na, ein
+Geschäftsmann aber ist nicht schüchtern, und das erste, was er
+selbstverständlich tat, war, ihr die Frage vorzulegen, ob Aussicht da
+sei, daß der Wechsel eingelöst werde? Die Antwort lautete, --
+ja, denn es gibt so eine Mutter, die mit ihrer Pension von
+hundertundfünfundzwanzig Rubel dem Rodenka helfen würde, wenn sie auch
+selbst hungern müßte, und es gibt noch eine Schwester, die für ihren
+Bruder sich schinden lassen würde. Darauf baute der Geschäftsmann ...
+Halte dich nur ruhig! Ich habe jetzt alle deine Geheimnisse erfahren,
+Bruder, du warst nicht umsonst gegen die liebe Praskovja offen, als du
+noch auf verwandtschaftlichem Fuße mit ihr standest, jetzt aber sage ich
+dir dies alles in aller Liebe ... Da haben wir es, ein ehrlicher und
+gefühlvoller Mensch ist offen, spricht sich aus, ein Geschäftsmann aber
+hört zu und kaut dazu und verspeist zu guter Letzt. Sie überließ also
+diesen Wechsel, als hätte sie dafür Zahlung erhalten, jenem Tschebaroff,
+und er genierte sich nicht und forderte die Summe auf gesetzlichem Wege.
+Ich wollte, als ich dies alles erfuhr, ihm zur Beruhigung meines
+Gewissens mit einem kalten Strahl kommen, aber da begann zwischen mir
+und der lieben Praskovja die Harmonie, und ich ordnete an, daß die Sache
+im Keime sozusagen erstickt werden sollte, indem ich mich verbürgte, daß
+du bezahlen wirst. Ich habe mich für dich verbürgt, Bruder, hörst du?
+Tschebaroff wurde hergerufen, man warf ihm zehn Rubel in den Rachen,
+nahm den Wechsel ihm ab, und da habe ich die Ehre, ihn Ihnen zu
+übergeben, -- man glaubt Ihnen nun aufs Wort -- nehmen Sie ihn, er ist
+von mir, wie es sich gehört, eingerissen.«
+
+Rasumichin legte den Wechsel auf den Tisch; Raskolnikoff blickte ihn an
+und wandte sich ohne ein Wort zu sagen gegen die Wand. Rasumichin
+berührte es peinlich.
+
+»Ich sehe, Bruder,« sagte er nach einer Weile, »daß ich wieder eine
+Dummheit gemacht habe. Ich dachte dich zu zerstreuen und mit Geplauder
+zu erheitern, habe aber, wie es scheint, deine Galle aufgerührt.«
+
+»Du warst es, den ich im Fieber nicht erkannte?« fragte Raskolnikoff
+nach einigem Schweigen, ohne den Kopf umzuwenden.
+
+»Ja, ich war es, und du gerietest sogar aus diesem Grunde in Wut,
+besonders, als ich einmal Sametoff mitbrachte.«
+
+»Sametoff? ... Den Sekretär? ... Warum?« Raskolnikoff wandte sich
+schnell um und starrte Rasumichin an.
+
+»Ja, was ist dir ... Warum regst du dich auf? Er wollte mit dir bekannt
+werden; hatte selbst den Wunsch geäußert, weil ich viel mit ihm über
+dich gesprochen habe ... Von wem hätte ich denn sonst soviel über dich
+erfahren. Er ist ein prächtiger Bursche, Bruder, wundervoll ...
+selbstverständlich in seiner Art. Jetzt sind wir Freunde, fast täglich
+sehen wir uns. Ich bin in dieses Revier übergesiedelt. Du weißt es noch
+nicht? Ich bin soeben umgezogen. Bei der Louisa waren wir ein paarmal.
+Erinnerst du dich an Louisa Iwanowna?«
+
+»Habe ich phantasiert?«
+
+»Und ob? Du warst ja ganz ohne Bewußtsein.«
+
+»Worüber habe ich phantasiert?«
+
+»Nanu! Worüber du phantasiert hast? Es ist begreiflich, worüber man
+phantasiert ... Nun, Bruder, wir wollen jetzt keine Zeit mehr verlieren,
+zur Arbeit.«
+
+Er stand vom Stuhle auf und nahm seine Mütze.
+
+»Worüber habe ich phantasiert?«
+
+»Er läßt nicht davon. Hast du Angst vor einem Geheimnis? Sei ruhig, von
+-- einer Gräfin wurde nichts geredet. Aber von einer Bulldogge, von
+Ohrgehängen und von allerhand Ketten, von der Krestowski-Insel und von
+einem Hausknecht, von Nikodim Fomitsch und von Ilja Petrowitsch, seinem
+Gehilfen hast du viel gesprochen. Ja, und außerdem geruhtest du dich
+sogar sehr für deinen Strumpf zu interessieren. Klagtest: >Gebt ihn,<
+sagtest du, >bitte<. Sametoff suchte in eigener Person in allen Winkeln
+deine Strümpfe zusammen und überreichte dir den Schund mit seinen
+parfümierten und mit Ringen besetzten Händen. Dann erst beruhigtest du
+dich und hieltest diesen Schund Tag und Nacht in den Händen, man konnte
+es dir nicht wegnehmen. Wahrscheinlich liegt er auch jetzt irgendwo
+unter deiner Decke. Und dann batest du um Fransen von den Hosen, du
+batest mit Tränen darum. Wir versuchten zu erfahren, was für Fransen du
+wünschtest? Aber man konnte nichts verstehen ... Nun, an die Arbeit.
+Hier sind fünfunddreißig Rubel, ich nehme zehn davon, und nach ein paar
+Stunden werde ich Rechenschaft darüber abgeben. Unterdessen will ich
+Sossimoff benachrichtigen, obwohl er ohnedem längst hier sein müßte,
+denn es geht auf zwölf. Sie aber, Nastasja, sehen öfters nach, während
+ich fort bin, und sorgen für ein Getränk oder etwas anderes, was er
+wünschen sollte ... Und der lieben Praskovja werde ich selbst gleich
+sagen, was nötig ist. Auf Wiedersehen!«
+
+»Liebe Praskovja nennt er sie! Ach, du schlauer Kerl!« -- sagte Nastasja
+hinter ihm drein.
+
+Dann öffnete sie die Tür und begann zu horchen, aber sie hielt es nicht
+aus und lief hinunter. Es interessierte sie doch zu sehr, was er mit der
+Wirtin sprach; überhaupt konnte man sehen, daß sie von Rasumichin ganz
+bezaubert war.
+
+Kaum schloß sich die Tür hinter ihr, als der Kranke die Decke von sich
+warf und wie wahnsinnig aus dem Bette sprang. Mit brennender,
+krampfhafter Ungeduld hatte er gewartet, daß sie schneller fortgehen
+würden, um sofort etwas zu tun. Aber was denn, was wollte er tun? -- ihm
+schien es, als mußte es so sein, jetzt vergessen zu haben.
+
+»Oh, Gott! Sag' du mir nur eins -- wissen sie alles oder wissen sie noch
+nichts? Aber wenn sie schon alles wissen und sich bloß so anstellen,
+mich irreführen, solange ich liege, um dann plötzlich einzutreten und zu
+sagen, daß alles schon längst bekannt sei und daß sie bloß so ... Was
+soll ich jetzt tun? Ich habe es vergessen, vergessen; plötzlich ist es
+mir entschwunden und eben noch wußte ich es! ...«
+
+Er stand mitten im Zimmer und blickte in qualvoller Unentschlossenheit
+ringsumher; er ging zur Tür, öffnete sie und lauschte, aber das war es
+nicht. Plötzlich, als hätte er sich erinnert, stürzte er zu der Ecke, wo
+hinter den Tapeten das Loch war, sah alles nach, steckte die Hand in das
+Loch und scharrte nach, aber auch das war es nicht. Er ging zum Ofen,
+öffnete die Tür und begann in der Asche zu scharren; die Fransen von der
+Hose und die Fetzen der zerrissenen Tasche lagen noch umher, wie er sie
+hineingeworfen hatte, also hat niemand nachgesehen. Da erinnerte er sich
+des Strumpfes, von dem Rasumichin soeben erzählt hatte. In der Tat, er
+lag auf dem Sofa unter der Decke, aber er war so abgenutzt und
+beschmutzt, daß Sametoff sicher nichts hatte sehen können.
+
+»Bah, Sametoff ... das Polizeibureau! ... Warum ladet man mich ins
+Polizeibureau? Wo ist die Vorladung? Bah! ... ich verwechsele ... das
+war damals! Ich habe schon da den Strumpf besehen und jetzt ... jetzt
+war ich krank. Warum ist aber Sametoff hergekommen? Warum hat Rasumichin
+ihn mitgebracht? ...« murmelte er, ganz schwach, und setzte sich auf das
+Sofa. »Was ist denn? Phantasiere ich weiter oder ist es Wirklichkeit? Es
+scheint Wirklichkeit zu sein ... Ah, ich erinnere mich, ich muß fliehen!
+Schnell fliehen, unbedingt, unbedingt fliehen! Ja ... aber wohin? Und wo
+sind meine Kleider? Die Stiefel sind nicht da. Man hat sie weggeschafft!
+Hat sie versteckt! Ich verstehe es! Ah, da ist der Mantel -- den haben
+sie übersehen. Hier auf dem Tische liegt auch Geld, Gott sei Dank! Da
+ist auch der Wechsel ... Ich nehme das Geld und gehe fort, will mir eine
+andere Wohnung mieten, sie werden mich nicht finden! ... Ja, aber das
+Adreßbureau? Sie werden mich finden! Rasumichin wird mich finden. Es ist
+besser, ganz weit zu fliehen ... nach Amerika ... und ich pfeif' auf
+sie! Ich will auch den Wechsel nehmen ... dort kann er von Nutzen sein
+... Was soll ich noch mitnehmen? Sie denken, ich sei krank. Sie wissen
+es nicht, daß ich gehen kann, hehehe! ... Ich habe es an ihren Augen
+erraten, daß sie alles wissen. Wenn ich nur die Treppe hinunterkäme!
+Aber wenn sie dort Wächter aufgestellt haben ... Polizeibeamte! Ist das
+Tee? Ah, Bier ist auch übriggeblieben, eine halbe Flasche, es ist kalt!«
+
+Er nahm die Flasche, in der noch ein ganzes Glas übrig war, und trank
+sie in einem Zuge mit Genuß aus, als lösche er ein Feuer in seiner
+Brust. Aber es verging kaum eine Minute, da stieg ihm das Bier zu Kopfe
+und längs dem Rücken durchzog ihn ein leichtes, doch angenehmes
+Frösteln. Er legte sich hin und zog die Decke über sich. Seine Gedanken,
+die ohnedem krankhaft und ohne Zusammenhang waren, verwirrten sich immer
+mehr, und bald überfiel ihn ein leichter und angenehmer Schlaf. Mit
+Wonne suchte er mit dem Kopf eine Stelle in den Kissen aus, wickelte
+sich fester in die weiche wattierte Decke ein, die jetzt an Stelle des
+zerrissenen Mantels über ihm lag, seufzte leise und fiel in einen
+tiefen, festen, kräftigenden Schlaf.
+
+Er erwachte, als er jemand in das Zimmer eintreten hörte, öffnete die
+Augen und erblickte Rasumichin, der die Türe weit geöffnet hatte und auf
+der Schwelle stand, unentschlossen, ob er eintreten solle oder nicht.
+Raskolnikoff erhob sich schnell und blickte ihn an, als gäbe er sich
+Mühe, sich auf etwas zu besinnen.
+
+»Ah, du schläfst nicht; nun, da bin ich! Nastasja, schlepp' das Bündel
+her!« rief Rasumichin hinunter. »Du erhältst sofort Abrechnung ...«
+
+»Wieviel Uhr ist es?« fragte Raskolnikoff und blickte erregt um sich.
+
+»Du hast tüchtig geschlafen, Bruder; es ist Abend, etwa um sechs Uhr. Du
+hast über sechs Stunden geschlafen ...«
+
+»Oh, Gott! Was ist mit mir! ...«
+
+»Ja, was soll denn sein? Zur Gesundheit ist's! Wohin treibt's dich denn?
+Zu einem Stelldichein etwa? Die ganze Zeit gehört jetzt uns. Ich warte
+schon drei Stunden, war ein paarmal hier, da du schliefst. Bei Sossimoff
+war ich auch zweimal, er ist nicht zu Hause und basta! Das tut nichts,
+er wird schon kommen! ...
+
+In eigenen Angelegenheiten war ich auch fortgewesen. Ich bin ja heute
+umgezogen, fix und fertig umgezogen mit meinem Onkel zusammen. Ich habe
+nämlich jetzt einen Onkel ... Nun aber zum Teufel damit, jetzt zur
+Sache. Gib mal das Bündel her, Nastasja. Wir wollen es gleich besorgen.
+Und wie fühlst du dich?«
+
+»Ich bin gesund, bin nicht krank ... Rasumichin, bist du schon lange
+hier?«
+
+»Ich sage dir, ich warte seit drei Stunden.«
+
+»Nein, ich meine vorher?«
+
+»Was vorher?«
+
+»Seit wann kommst du hierher?«
+
+»Ich habe es dir doch erzählt oder erinnerst du dich nicht?«
+
+Raskolnikoff sann nach. Wie im Traume schwebte ihm das vorhin Geschehene
+vor. Allein er konnte sich nicht entsinnen und blickte fragend
+Rasumichin an.
+
+»Hm!« sagte dieser. »Du hast es vergessen. Mir schien es schon damals,
+daß du noch nicht ganz ... Jetzt nach dem Schlafe hast du dich erholt
+... Tatsächlich, du siehst besser aus. Braver Junge! Nun aber zur Sache.
+Du wirst dich gleich erinnern. Sieh mal her, lieber Bursche.«
+
+Er begann das Bündel aufzumachen, das ihn sichtlich außerordentlich
+interessierte. »Das, glaube mir, lag mir besonders auf dem Herzen. Denn
+man muß doch aus dir einen Menschen machen. Wollen wir anfangen, und
+zuerst von oben. Siehst du dieses Kaskett?« sagte er, indem er aus dem
+Bündel eine ziemlich hübsche, aber auch sehr einfache und billige Mütze
+hervorholte. -- »Laß es dir mal anprobieren.«
+
+»Nachher ... später,« -- sagte Raskolnikoff, sich mürrisch wehrend.
+
+»Nein, Rodja, sträube dich nicht, sonst wird es zu spät und auch ich
+werde die ganze Nacht nicht einschlafen können, weil ich es ohne Maß
+aufs Geratewohl gekauft habe. Es paßt genau!« -- rief er triumphierend
+aus, nachdem er die Mütze anprobiert hatte, -- »paßt, wie angemessen!
+Die Kopfbedeckung, Bruder, ist der wichtigste Teil des Anzuges, eine
+tote Empfehlung. Mein Freund Tolstjakoff muß jedesmal seine
+Kopfbedeckung abnehmen, wenn er irgendwo hinkommt, wo alle anderen in
+Hüten und Mützen herumstehen. Alle glauben, er tue es aus sklavischer
+Empfindung, nein, er schämt sich einfach seines Vogelnestes; er ist mal
+schon so schüchtern. Nun, Nastenka, hier haben Sie zwei Kopfbedeckungen
+(er holte aus einer Ecke den zerdrückten runden Hut von Raskolnikoff,
+den er Gott weiß warum Palmerston nannte) -- diesen Palmerston und
+dieses Kleinod. Taxiere mal. Rodja, was meinst du, das ich dafür bezahlt
+habe? Nastasjuschka?« -- wandte er sich an sie, als er sah, daß
+Raskolnikoff schwieg. »Zwanzig Kopeken wirst du wahrscheinlich gegeben
+haben«, -- antwortete Nastasja.
+
+»Zwanzig Kopeken, Dummkopf!« -- rief er beleidigt aus, -- »heutzutage
+kauft man auch dich nicht mal für zwanzig Kopeken. Achtzig Kopeken habe
+ich bezahlt! Und auch deshalb nur, weil sie schon getragen ist. Jedoch
+mit der Bedingung, daß du im nächsten Jahre eine andere umsonst
+erhältst, wenn diese abgetragen ist, bei Gott! Nun wollen wir zu den
+Vereinigten Staaten von Amerika, wie man bei uns im Gymnasium sagte,
+übergehen. Ich sage im voraus, daß ich auf die Hosen stolz bin!« -- und
+er breitete vor Raskolnikoff ein paar graue Beinkleider aus leichtem,
+wollenem Sommerstoff aus. -- »Weder ein Löchlein, noch ein Fleckchen,
+dafür aber sehr anständig, obwohl sie getragen sind, ebensolch eine
+Weste, in derselben Farbe, wie es die Mode verlangt. Und daß sie
+getragen sind, ist offen gestanden auch besser, sie sind weicher, zarter
+... Siehst du, Rodja, um in der Welt eine Karriere zu machen, genügte
+es, meiner Meinung nach, sich stets nach der Saison zu richten; wenn man
+im Monat Januar keinen Spargel ißt, behält man im Beutel ein paar Rubel
+mehr; ebenso ist es mit diesem Kauf. Wir haben jetzt die Sommersaison,
+und da habe ich auch danach den Einkauf gemacht, denn zur Herbstsaison
+wird so wie so ein wärmerer Stoff vonnöten sein, also muß man es
+fortwerfen ... um so mehr, als dies alles bis dahin von selbst verfallen
+wird, wenn nicht aus stärker gewordenem Luxusbedürfnis, so aus inneren
+Zerrüttungen. Nun taxiere sie mal. Wieviel meinst du? -- Zwei Rubel
+fünfundzwanzig Kopeken! Und vergiß nicht mit derselben Bedingung, hast
+du sie vertragen, erhältst du im nächsten Jahre ein anderes Paar
+umsonst. In Fedjajeffs Laden handelt man nicht anders: man bezahlt nur
+einmal und hat fürs ganze Leben genug, denn ein zweites Mal geht man
+selbst nicht hin. Jetzt zu den Stiefeln, -- wie gefallen sie dir? Man
+sieht es wohl, daß sie getragen sind, aber ein paar Monate halten sie
+noch aus, denn es ist ausländische Arbeit und ausländische Ware; der
+Sekretär der englischen Botschaft hat sie vorige Woche auf dem
+Trödelmarkte losgeschlagen, er hat sie nur sechs Tage getragen, brauchte
+aber sehr notwendig Geld. Der Preis ist ein Rubel fünfzig Kopeken. Ist
+das nicht ein glücklicher Einkauf?«
+
+»Aber vielleicht passen sie nicht!« -- bemerkte Nastasja.
+
+»Nicht passen! Und was ist das?« -- er zog aus der Tasche den alten,
+eingetrockneten, zerrissenen, ganz mit altem Schmutz bedeckten Stiefel
+Raskolnikoffs. -- »Ich bin mit Vorrat hingegangen; nach diesem Scheusal
+hat man das richtige Maß festgestellt. Alles war sorgfältig bedacht. Und
+wegen der Wäsche habe ich mich mit der Wirtin beraten. Da sind drei
+leinene Hemden, mit modernen Kragen ... Also nun die Rechnung: achtzig
+Kopeken die Mütze, zwei Rubel fünfundzwanzig die übrigen Kleider, im
+ganzen drei Rubel und fünf; ein Rubel und fünfzig die Stiefel, -- weil
+sie gar so gut sind, -- macht vier Rubel fünfundfünfzig und die ganze
+Wäsche fünf Rubel -- wir haben einen Engrospreis gemacht, -- ist in
+Summa neun Rubel fünfundfünfzig Kopeken. Den Rest -- fünfundvierzig
+Kopeken in Kupfer bitte ich zurückzunehmen, da lege ich sie hin. Und
+nun, Rodja, bist du in deiner ganzen Kleidung hergestellt, denn dein
+Mantel kann, meiner Meinung nach, nicht bloß weiterdienen, sondern er
+macht sogar einen besonders anständigen Eindruck; das macht, wenn man
+bei einem guten Schneider arbeiten läßt. Was Strümpfe und das übrige
+anbelangt, das überlasse ich dir selbst; wir haben an Geld noch
+fünfundzwanzig Rubel; wegen der lieben Praskovja und der Miete kannst du
+ruhig sein. Ich sage dir, du hast einen unbegrenzten Kredit. Jetzt aber
+erlaube mal, dir die Wäsche zu wechseln, Bruder, vielleicht steckt die
+Krankheit jetzt bloß noch im Hemde ...«
+
+»Laß es! Ich will nicht!« wehrte sich Raskolnikoff, der voll Widerwillen
+dem gesucht neckischen Bericht Rasumichins über den Einkauf der Sachen
+zugehört hatte.
+
+»Das geht nicht an, Bruder. Warum habe ich mich denn abgeschunden!«
+bestand Rasumichin auf seinem Verlangen. »Nastasjuschka, genieren Sie
+sich nicht, sondern helfen Sie, -- so, so!«
+
+Und ungeachtet des Widerstandes Raskolnikoffs, hatte er ihm doch die
+Wäsche gewechselt. Der aber fiel auf die Kissen zurück und ein paar
+Minuten redete er kein Wort.
+
+»Die werde ich noch lange nicht los!« dachte er.
+
+»Von welchem Gelde ist denn dies alles gekauft?« fragte er endlich,
+indem er nach der Wand blickte.
+
+»Von welchem Gelde? Das ist mal eine Frage! Doch von deinem eigenen.
+Vorhin war doch der Bureaudiener von Wachruschin hier, deine Mutter hat
+es dir gesandt, oder hast du auch das vergessen?«
+
+»Jetzt erinnere ich mich ...« sagte Raskolnikoff nach langem und
+düsterem Nachdenken. Rasumichin sah ihn hin und wieder voll Unruhe mit
+zusammengezogenen Brauen an. Da öffnete sich die Türe und ein großer
+kräftiger Mann trat ein, der dem Aussehen nach Raskolnikoff schon ein
+wenig bekannt vorkam.
+
+»Sossimoff! Endlich!« rief Rasumichin erfreut aus.
+
+
+ IV.
+
+Sossimoff war groß und dick, mit einem gedunsenen, farblosen, blassen
+und glattrasierten Gesichte, hatte helles glattes Haar, trug eine Brille
+und an einem seiner fetten Finger saß ein großer goldener Ring. Er war
+etwa siebenundzwanzig Jahre alt. Unter einem weiten, eleganten, leichten
+Überzieher sahen helle Sommerbeinkleider hervor; alles war an ihm weit,
+elegant und nagelneu, die Wäsche war tadellos und die Uhrkette massiv.
+Seine Bewegungen waren langsam, es lag in seiner Trägheit gleichzeitig
+eine gesuchte Ungezwungenheit; eine Überhebung, die er übrigens stark zu
+verbergen suchte, kam immer wieder zum Vorschein. Alle, die ihn kannten,
+fanden ihn schwerfällig, gaben jedoch zu, daß er seine Sache verstände.
+
+»Ich bin zweimal bei dir gewesen, Bruder ... Siehst du, er ist zu sich
+gekommen!« rief Rasumichin aus.
+
+»Ich sehe, sehe es. Nun, wie fühlen wir uns jetzt?« wandte sich
+Sossimoff an Raskolnikoff, indem er ihn aufmerksam betrachtete und sich
+zu ihm auf das Sofa zu seinen Füßen setzte, wobei er sich sofort nach
+Möglichkeit breit machte. »Er ist immer schlechter Laune,« fuhr
+Rasumichin fort, »wir haben ihm soeben die Wäsche gewechselt, da fing er
+fast zu weinen an.«
+
+»Das ist begreiflich; die Wäsche konnte man auch später wechseln, wenn
+er es selbst wünscht ... Der Puls ist prächtig. Der Kopf tut immer noch
+ein wenig weh, ja?«
+
+»Ich bin gesund, bin vollkommen gesund!« sagte hartnäckig und gereizt
+Raskolnikoff, indem er sich gleichzeitig vom Sofa erhob und mit den
+Augen blitzte, er fiel aber sofort auf das Kissen zurück und wandte sich
+der Wand zu.
+
+Sossimoff beobachtete ihn aufmerksam.
+
+»Sehr gut ... alles, wie es sich gehört,« sagte er träge. »Hat er etwas
+gegessen?«
+
+Man sagte es ihm und fragte, was man geben könne.
+
+»Ja, alles kann man ihm geben ... Suppe, Tee ... Pilze und Gurken
+selbstverständlich nicht, na, und Fleisch ist auch nicht nötig und ...
+was ist da weiter zu reden! ...«
+
+Er wechselte einen Blick mit Rasumichin.
+
+»Die Arznei weg und alles weg; morgen will ich wieder nachsehen ... Es
+wäre heute ... na, einerlei ...«
+
+»Morgen abend gehe ich mit ihm spazieren!« beschloß Rasumichin. »In den
+Jussupoff-Garten, und nachher gehen wir in den Kristallpalast.«
+
+»Morgen würde ich ihm noch nicht raten, sich Bewegung zu machen,
+übrigens aber ... ein wenig ... na, wir wollen sehen.«
+
+»Ach, es ist schade, heute weihe ich gerade meine Wohnung ein, es sind
+ja nur zwei Schritte von hier; wenn er auch dabei sein könnte! Er könnte
+ja auf dem Sofa unter uns liegen. Du wirst doch kommen?« wandte sich
+Rasumichin plötzlich an Sossimoff. »Vergiß es nicht, du hast
+versprochen.«
+
+»Vielleicht komme ich, aber ein wenig später. Was hast du denn?«
+
+»Ja, nichts besonderes, Tee, Schnaps, Hering. Eine Pirogge gibt es; nur
+die nächsten Bekannten kommen.«
+
+»Wer denn?«
+
+»Ja, alle aus der nächsten Nachbarschaft und fast lauter neue,
+ausgenommen den alten Onkel und neu ist der auch. Er ist gestern nach
+Petersburg in eigenen Angelegenheiten gekommen; alle fünf Jahre sehen
+wir uns.«
+
+»Wo ist er?«
+
+»Er hat sein Lebelang in einer Kreisstadt als Postmeister vegetiert ...
+erhält eine kleine Pension, ist fünfundsechzig Jahre alt, es lohnt sich
+nicht, darüber zu sprechen ... Ich habe ihn übrigens gern. Porphyri
+Ssemenowitsch wird auch kommen, der hiesige Untersuchungsrichter ... er
+ist aus dem Richterstande. Ja, du kennst ihn doch ...«
+
+»Ist er auch ein Verwandter von dir?«
+
+»Ganz weitläufig; warum siehst du so verdrießlich aus? Weil ihr euch
+einmal gezankt habt, wirst vielleicht deshalb nicht kommen?«
+
+»Ah, ich pfeife auf ihn ...«
+
+»Das ist auch das beste. Nun und außerdem -- Studenten, ein Lehrer, ein
+Beamter, ein Musiker, ein Offizier, Sametoff ...«
+
+»Sag mir bitte, was kann zwischen dir oder dem da,« Sossimoff wies auf
+Raskolnikoff, »und einem Sametoff gemeinsames sein?«
+
+»Ach, du Nörgler! Prinzipienreiter! ... Du bist ja ganz mit Prinzipien
+ausgestopft wie ein Kissen mit Federn, bist schon ganz ihr Sklave. Meine
+Meinung ist, wenn ein Mensch gut ist, -- so ist er mir angenehm, und das
+ist mein Prinzip. Und Sametoff ist ein ganz prächtiger Bursche.«
+
+»Und läßt sich schmieren.«
+
+»Nun ja, was macht es, wenn er sich schmieren läßt, ich pfeife darauf.
+Was ist da dabei, wenn er sich schmieren läßt!« rief plötzlich
+Rasumichin unnatürlich gereizt aus, -- »hab ich ihn denn gelobt, weil er
+sich schmieren läßt? Ich sagte, daß er nur in seiner Art gut sei. Und
+wenn man alle so genau nach jeder Seite besehen würde, dann würden nicht
+viel gute Menschen übrig bleiben. Ich bin überzeugt, daß man dann für
+mich, mit allen Eingeweiden zusammen, eine gebackene Zwiebel geben
+würde, und auch nur mit dir als Zugabe! ...«
+
+»Das ist wenig; ich will für dich zwei geben ...«
+
+»Und ich für dich nur eine! Mach mir keine weiteren Witze! Sametoff ist
+noch ein dummer Junge, ich werde ihn noch oft an den Haaren zupfen, man
+muß ihn an sich ziehen und nicht von sich stoßen. Wenn man einen
+Menschen abstößt, verbessert man ihn nicht, um so mehr, wenn er ein
+unreifer Junge ist. Mit einem Jungen soll man noch einmal so vorsichtig
+sein. Ach, ihr progressiven Dummköpfe, nichts versteht ihr! Ihr achtet
+nicht den Menschen, und schadet euch selbst ... Und wenn du es wissen
+willst, wir haben ein gemeinsames Interesse.«
+
+»Das möchte ich wissen.«
+
+»Ja, es ist in der Sache mit dem Maler, das heißt dem Anstreicher ...
+Wir werden ihn schon loskriegen! Übrigens ist jetzt auch keine Gefahr
+mehr. Die Sache ist jetzt klipp und klar! Wir wollen sie bloß
+beschleunigen.«
+
+»Was ist das für ein Anstreicher?«
+
+»Wie, habe ich dir denn nicht davon erzählt? Ja, richtig, ich habe dir
+nur den Anfang erzählt ... von der Ermordung der alten Pfandleiherin,
+der Beamtenwitwe ... nun und darein ist jetzt ein Anstreicher verwickelt
+...«
+
+»Von diesem Morde habe ich schon früher gehört, bevor du es mir
+erzähltest, und ich interessiere mich sehr für diese Sache ... teilweise
+... aus einem besonderen Grunde ... ich las in den Zeitungen darüber.
+Aber siehst du ...«
+
+»Lisaweta hat man auch ermordet!« platzte plötzlich Nastasja heraus,
+indem sie sich an Raskolnikoff wandte.
+
+Sie hatte die ganze Zeit an die Tür gelehnt zugehört.
+
+»Lisaweta?« murmelte Raskolnikoff mit kaum hörbarer Stimme.
+
+»Lisaweta, die Händlerin, weißt du es nicht? Sie kam öfters hierher in
+unser Haus, hat dir auch ein Hemd ausgebessert.«
+
+Raskolnikoff wandte sich zu der Wand, wählte auf der schmutzigen gelben
+Tapete mit weißen Blümchen eine plumpe weiße Blume mit braunen Strichen
+aus und begann sie zu betrachten, wieviel Blätter sie habe, was für
+Zacken an den Blättern und wieviel Striche sie durchzogen. Er fühlte,
+daß seine Hände und Füße erstarrten, als wären sie gelähmt, aber er
+versuchte nicht mal sich zu rühren und blickte unverwandt die Blume an.
+
+»Nun, was ist mit dem Anstreicher?« unterbrach Sossimoff sehr unwillig
+Nastasjas Geschwätz.
+
+Sie seufzte und schwieg.
+
+»Er soll auch der Mörder sein!« fuhr Rasumichin eifrig fort.
+
+»Hat man denn Beweise?«
+
+»Gar keine, zum Teufel! Übrigens hat man doch einen, aber dieser Beweis
+ist kein Beweis und siehst du, das muß man erst nachweisen. Es ist genau
+so, wie sie zuerst diese ... wie heißen sie doch ... ja Koch und
+Pestrjakoff verdächtigt und eingesperrt haben. Pfui! Wie dumm dies alles
+gehandhabt wird, einen Unbeteiligten ekelt es an. Pestrjakoff, der eine
+von ihnen, wird vielleicht auch heute bei mir sein ... Apropos, Rodja,
+du kennst ja diese Geschichte, sie passierte noch vor deiner Krankheit,
+gerade am Abend vorher, als du im Polizeibureau ohnmächtig wurdest, als
+man darüber sprach ...«
+
+Sossimoff blickte Raskolnikoff neugierig an, er rührte sich aber nicht.
+
+»Weißt du, Rasumichin? Ich muß mich über dich wundern, daß du dich
+überall hineinmischest,« bemerkte Sossimoff.
+
+»Mag sein, aber wir wollen ihn doch loskriegen!« rief Rasumichin aus und
+schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was einen dabei aber am meisten
+ärgert, ist nicht, daß sie so viel lügen. Lügen kann man immer
+entschuldigen, Lügen ist ein gutes Ding, wenn es zur Wahrheit führt.
+Aber das ist ärgerlich, daß sie lügen und an ihre eigenen Lügen
+unerschütterlich glauben. Ich achte Porphyri, aber ... Was hat sie zum
+Beispiel ganz am Anfang aus dem Konzept gebracht? Die Türe war
+verschlossen, und als sie später mit dem Hausknecht kamen, war sie
+offen, also haben Koch und Pestrjakoff gemordet! Siehst du, so ist ihre
+Logik!«
+
+»Rege dich doch nicht auf; man hat sie einfach eine kurze Zeit in Haft
+behalten, man kann doch nicht ... Nebenbei gesagt, ich habe diesen Koch
+irgendwo kennengelernt. Es hat sich herausgestellt, daß er von der Alten
+verfallene Pfandobjekte ankaufte?«
+
+»Ja, er ist ein Gauner! Er kauft auch Wechsel auf. Ein dunkler
+Ehrenmann. Aber hol ihn der Teufel! Versteh mich doch, worüber ich mich
+am meisten ärgere. Über ihre veraltete, sinnlose, verkehrte Methode
+ärgere ich mich ... Hier aber, in dieser Sache allein, muß man einen
+ganz neuen Weg entdecken. Nach den psychologischen Momenten allein kann
+man schon zeigen, wie die richtige Spur gefunden werden soll. Wir haben
+Indizien, sagen sie! Ja, aber Indizien ist doch nicht alles; wenigstens
+die Hälfte der Sache besteht darin, wie man mit den Indizien umzugehen
+versteht!«
+
+»Und verstehst du mit den Indizien umzugehen?«
+
+»Man kann aber doch nicht schweigen, wenn man fühlt, handgreiflich
+fühlt, daß man der Sache nützen könnte, wenn ... Ach! ... Kennst du die
+Sache ausführlich?«
+
+»Ich warte darauf, über den Anstreicher zu hören.«
+
+»Ach ja! Höre also die Geschichte, -- genau am dritten Tage nach dem
+Morde, am Morgen, als sie sich noch mit Koch und Pestrjakoff abgaben, --
+obwohl die jeden ihrer Schritte nachgewiesen hatten, alles war schreiend
+klar, -- wird plötzlich ein ganz unerwartetes Faktum offenbar. Ein
+gewisser Duschkin, ein Bauer, Besitzer einer Kneipe gerade gegenüber
+jenem Hause, erscheint in dem Polizeibureau, bringt ein Etui mit
+goldenen Ohrgehängen mit und erzählt eine ganze Geschichte. >Vorgestern
+abend ungefähr nach acht Uhr,< -- merk du dir Tag und Stunde! -- >kommt
+zu mir ein Arbeiter, ein Anstreicher, Nikolai, der auch schon früher im
+Laufe des Tages dagewesen war, und bringt mir dieses Kästchen mit
+goldenen Ohrgehängen und mit den Steinen und bittet, ihm zwei Rubel
+darauf zu leihen; auf meine Frage aber, woher er sie habe, erklärte er
+mir, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte. Mehr habe ich ihn nicht
+ausgefragt,< das alles sagt Duschkin, >sondern gab ihm einen Schein,<
+das heißt also einen Rubel, >denn ich dachte, wenn ich sie nicht nehme,
+versetzt er sie bei einem anderen, und wird das Geld sowieso vertrinken.
+Mögen besser die Sachen bei mir liegen; sollte sich aber etwas zeigen
+oder sollten Gerüchte auftauchen, bringe ich sie zur Polizei.<
+Selbstverständlich schwindelt er, lügt wie ein Pferd, denn ich kenne
+diesen Duschkin, er ist selbst Pfandleiher, schafft Gestohlenes zur
+Seite und hat dem Nikolai das Ding, das dreißig Rubel wert ist, nicht
+abgeluchst, um es zur Polizei zu bringen. Er hat einfach Angst bekommen.
+Hol' ihn der Teufel! -- höre weiter,« fuhr Rasumichin fort: »>Ich kenne
+ihn, den Nikolai Dementjeff von klein auf,< erzählt Duschkin weiter, >er
+stammt aus demselben Rjasanschen Gouvernement wie ich, und aus demselben
+Kreise. Nikolai ist kein Säufer, trinkt aber doch hin und wieder eins,
+und ich wußte, daß er in jenem Hause mit Dmitri arbeitet, denn Dmitri
+stammt auch aus derselben Gegend. Als er von mir den Schein erhalten
+hatte, wechselte er ihn sofort, trank auf einmal zwei Gläschen, nahm den
+Rest des Geldes und ging seiner Wege, Dmitri war aber damals nicht mit
+ihm. Am anderen Tage hörte ich, daß Aljona Iwanowna und ihre Schwester
+Lisaweta mit einem Beile erschlagen sind, -- ich habe sie gekannt, --
+und da packten mich Zweifel wegen der Ohrgehänge, denn mir war es
+bekannt, daß die Verstorbene Geld gegen Pfand auslieh. Ich ging hinüber
+und begann vorsichtig und still auszuhorchen und zu allererst frug ich,
+ob Nikolai da sei! Dmitri erzählte mir, daß Nikolai zu trinken
+angefangen habe, er wäre bei Tagesanbruch betrunken nach Hause gekommen,
+ungefähr zehn Minuten dageblieben und wieder fortgegangen; Dmitri habe
+ihn nicht mehr gesehen und beende die Arbeit allein. Sie arbeiteten aber
+im zweiten Stock desselben Hauses, in dem die Ermordeten lebten. Als ich
+dies hörte, habe ich niemanden etwas davon mitgeteilt,< sagte Duschkin,
+>ich versuchte vielmehr alles über die Ermordung in Erfahrung zu bringen
+und bin mit denselben Zweifeln nach Hause zurückgekehrt. Heute morgen
+nun gegen acht Uhr,< das heißt, am dritten Tage, verstehst du? >sehe ich
+Nikolai hereinkommen, nicht nüchtern, aber auch nicht ganz betrunken, so
+daß er ganz gut ausgehört werden konnte. Er setzt sich auf eine Bank und
+schweigt. Außer ihm war in der Kneipe zu der Zeit noch ein fremder
+Mensch da, auf einer Bank schlief ein anderer, ein Bekannter von mir,
+auch die zwei Laufjungens waren zur Stelle. Hast du Dmitri gesehen,
+fragte ich ihn. -- Nein, sagte er, ich habe ihn nicht gesehen. -- Und
+warst du auch nicht bei ihm? -- Nein, antwortete er, seit vorgestern war
+ich nicht bei ihm. -- Und wo hast du die Nacht geschlafen? -- Bei
+Bekannten auf den Peßki. -- Und woher, fragte ich, hast du die
+Ohrgehänge genommen? -- Ich habe sie auf dem Trottoir gefunden, -- und
+er sagte es so, als sei es nicht wahr, und ohne mich anzublicken. --
+Hast du auch gehört, fragte ich ihn, daß dies und dies, und erzählte ihm
+nun die Geschichte, am selben Abend und zur selben Stunde auf jener
+Treppe geschehen ist? -- Nein, sagte er, ich habe nichts gehört. -- Er
+hörte mit weit aufgerissenen Augen auf das, was ich ihm erzählte, und
+ward plötzlich weiß wie Kalk. Ich erzähle weiter, siehe da, er nimmt
+seine Mütze und will aufstehen. Da wollte ich ihn festhalten und sage,
+warte ein wenig, Nikolai, willst du nicht eins trinken? Ich gab einem
+Jungen ein Zeichen, daß er die Tür zuhalten soll, und kam hinter dem
+Ladentisch hervor, er aber springt auf, stürzt auf die Straße und läuft
+um die Ecke, -- weg war er. Da verlor ich meine Zweifel, es ist sein
+Werk, sein Verbrechen ...<«
+
+»Sicher! ...« sagte Sossimoff.
+
+»Warte! Höre zu Ende! Selbstverständlich beeilte man sich schleunigst,
+Nikolai zu finden; Duschkin wurde verhaftet und Haussuchung bei ihm
+gehalten, Dmitri sperrte man auch ein; die Bekannten von Nikolai, bei
+denen er die letzte Nacht geschlafen hat, wurden gleichfalls hergenommen
+-- und vorgestern brachte man Nikolai selbst; man hatte ihn in der Nähe
+des N.schen Schlagbaums in einer Spelunke aufgefangen. Er war dorthin
+gekommen, hatte sein silbernes Kreuz vom Halse genommen und ein Glas
+Schnaps dafür verlangt. Man hatte es ihm auch gegeben. Nach einer Weile
+ging die Frau in den Kuhstall und sah durch eine Ritze, daß Nikolai in
+der Scheune nebenan an einen Balken seinen Gürtel gebunden hatte und
+eine Schlinge gemacht hatte; dann stieg er auf einen Klotz und wollte
+die Schlinge um den Hals legen; die Frau schrie aus vollem Halse, und
+man lief zusammen. -- >Du bist so einer!< -- >Führt mich,< sagte er,
+>auf das Polizeibureau, ich will alles bekennen.< Nun, man schaffte ihn
+mit den gehörigen Ehrenbezeigungen in das Polizeibureau, das heißt
+hierher. Allerhand Fragen wurden ihm dort gestellt, wer, woher, wie alt
+-- >zweiundzwanzig< und dergleichen. Frage: >Als du und Dmitri
+arbeitetet, habt ihr nicht jemand auf der Treppe in der und der Stunde
+gesehen?< Antwort: >Gewiß sind Menschen vorbeigegangen, aber wir haben
+sie uns nicht gemerkt.< >Habt ihr nicht Lärm oder ähnliches gehört?<
+>Wir haben nichts besonderes gehört.< >Wußtest du aber, Nikolai, daß am
+selben Tage die Witwe so und so an diesem Tage und zu der und der Stunde
+mit ihrer Schwester ermordet und beraubt wurde?< >Ich habe gar nichts
+gewußt, zum ersten Male hörte ich davon in der Kneipe am dritten Tage
+von Afanassi Pawlowitsch.< >Und woher hast du die Ohrgehänge?< >Ich habe
+sie auf dem Trottoir gefunden.< >Warum bist du am anderen Tage nicht mit
+Dmitri zur Arbeit gekommen?< >Weil ich angefangen hatte zu bummeln.<
+>Und wo hast du gebummelt?< >Ja, dort und dort.< >Warum liefst du von
+Duschkin weg?< >Weil ich große Angst bekam.< >Warum bekamst du Angst?<
+>Daß man mich verhören wird.< >Wie konntest du denn davor Angst
+bekommen, wenn du dich vollkommen unschuldig fühlst??< ... Nun, glaub
+oder glaub mir nicht, Sossimoff, diese Frage wurde gestellt und
+buchstäblich mit diesen Worten, ich weiß es bestimmt, man hat es mir
+genau mitgeteilt! Wie findest du das? Wie findest du das?«
+
+»Aber, es existieren doch Beweise.«
+
+»Ich spreche jetzt nicht von den Beweisen, sondern von der
+Fragestellung, darüber, wie sie ihre Aufgabe auffassen! Aber, zum Teufel
+damit! ... Also sie haben so lange gepreßt und gequetscht, bis er
+bekannte, >ich habe sie,< sagte er, >nicht auf dem Trottoir, sondern in
+der Wohnung gefunden, wo ich mit Dmitri arbeitete.< >Wie verhält sich
+denn das?< >Wir arbeiteten den ganzen Tag bis acht Uhr und wollten schon
+nach Hause gehen, da nahm Dmitri einen Pinsel, schmierte mir in die
+Fratze Farbe und lief davon und ich ihm nach. Und ich lief hinter ihm
+her und schrie aus vollem Halse; wie ich aber von der Treppe unter den
+Torweg kam, stieß ich im vollen Laufe mit dem Hausknecht und einigen
+Herren zusammen, -- wieviel Herren es waren, erinnere ich mich nicht,
+der Hausknecht schimpfte mich aus, auch der andere Hausknecht schimpfte
+mich, die Frau des Hausknechtes kam heraus und schimpfte; ein Herr, der
+mit einer Dame durch den Torweg kam, schimpfte auch, weil ich und Dmitri
+quer im Wege lagen, -- ich hatte Dmitri an den Haaren gepackt, ihn
+hingeworfen und versetzte ihm Püffe, Dmitri hatte, unter mir liegend,
+mich auch an den Haaren und puffte mich, wir taten es nicht im Ernst,
+sondern in aller Freundschaft, im Scherze. Dmitri machte sich von mir
+los und lief auf die Straße, ich lief ihm nach, holte ihn aber nicht ein
+und ging in die Wohnung allein zurück, -- es mußte noch aufgeräumt
+werden. Ich begann das Werkzeug zu sammeln und wartete auf Dmitri,
+vielleicht kommt er noch. Und bei der Türe im Vorzimmer, an der Wand, in
+einem Winkel, trat ich auf ein Kästchen. Ich sehe, es liegt da,
+eingeschlagen in Papier. Das Papier nahm ich ab und sah solche ganz
+winzige Häkchen, ich machte sie auf und im Kästchen lagen die Ohrgehänge
+...<«
+
+»Hinter der Tür? Hinter der Tür lag es? Hinter der Tür?« rief plötzlich
+Raskolnikoff, sah Rasumichin mit einem trüben, erschreckten Blick an und
+erhob sich langsam, sich mit der Hand stützend, vom Sofa.
+
+»Ja ... aber was ist denn los? Was ist mit dir? Was hast du?« Rasumichin
+erhob sich auch von seinem Platze.
+
+»Nichts! ...« antwortete kaum hörbar Raskolnikoff, sank wieder auf das
+Kissen zurück und wandte sich von neuem zu der Wand.
+
+Alle schwiegen eine Weile.
+
+»Er war wahrscheinlich eingeschlummert, noch halb im Schlafe,« sagte
+endlich Rasumichin und blickte Sossimoff fragend an; jener machte eine
+leichte verneinende Bewegung mit dem Kopfe.
+
+»Na, fahr fort,« sagte Sossimoff, »was weiter?«
+
+»Ja, was weiter? Als er die Ohrgehänge erblickte, vergaß er sofort die
+Wohnung und Dmitri, nahm seine Mütze und lief zu Duschkin hin und
+erhielt von ihm, wie es dir bekannt ist, einen Rubel, ihm log er aber
+vor, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte, und fing sofort an zu
+bummeln. Von dem Morde aber bestätigt er das früher gesagte: >Ich weiß
+von gar nichts, habe es erst am dritten Tage gehört!< >Und warum bist du
+bis jetzt nicht gekommen?< >Vor Angst.< >Und warum wolltest du dich
+erhängen?< >Vor lauter Gedanken.< >Was für Gedanken?< >Daß man mich
+verurteilen würde.< Nun, das ist die ganze Geschichte. Jetzt, was meinst
+du, daß sie daraus gefolgert haben?«
+
+»Ja, was ist da zu denken, es ist eine Spur, wenn sie auch unbedeutend
+ist, so ist es doch eine Spur. Eine Tatsache. Soll man deinen
+Anstreicher etwa in Freiheit setzen?«
+
+»Ja, sie halten ihn jetzt einfach für den Mörder! Sie haben keinen
+Zweifel mehr ...«
+
+»Das geht zu weit, du bist hitzig. Nun aber die Ohrgehänge? Du mußt doch
+selbst zugeben, -- wenn am selben Tage und zur selben Stunde die
+Ohrgehänge aus dem Kasten der Alten in die Hände von Nikolai geraten, --
+daß sie in irgendeiner Weise zu ihm hingekommen sein müssen? Das hat
+doch nicht wenig zu sagen bei solch einer Untersuchung.«
+
+»Wie hingekommen! Wie sie hingekommen sind?« rief Rasumichin aus. »Und
+du als Arzt, du, der vor allen Dingen verpflichtet ist, den Menschen zu
+studieren und der Gelegenheit hat, eher als jeder andere, die
+menschliche Natur kennenzulernen, -- kannst du denn nicht nach all
+diesen gegebenen Anzeichen sehen, was für eine Natur dieser Nikolai ist?
+Kannst du denn nicht auf den ersten Blick sehen, daß alles, was er bei
+den Verhören ausgesagt hat, die heiligste Wahrheit ist? Sie sind genau
+so in seine Hände geraten, wie er ausgesagt hat. Er ist auf ein Kästchen
+getreten und hat es aufgehoben.«
+
+»Heiligste Wahrheit! Er hat aber doch selbst eingestanden, daß er das
+erstemal gelogen hat?«
+
+»Höre mich an, höre aufmerksam zu, -- der Hausknecht, Koch und
+Pestrjakoff, auch der andere Hausknecht, die Frau des ersten
+Hausknechtes und eine Bekannte von ihr, die zur selben Zeit in der
+Wohnung des Hausknechtes saßen, und der Hofrat Krjukoff, der in
+demselben Augenblick aus einer Droschke gestiegen und mit einer Dame Arm
+in Arm durch den Torweg gegangen war, -- alle, also acht oder zehn
+Zeugen, sagen einstimmig aus, daß Nikolai den Dmitri zu Boden gedrückt,
+auf ihm lag und ihn schlug, und daß jener ihn an den Haaren gepackt
+hatte und ebenso auf ihn schlug. Sie liegen beide quer im Wege und
+versperren den Durchgang; sie werden von allen geschimpft und sie liegen
+da, wie >kleine Kinder< aufeinander (buchstäblicher Ausdruck der
+Zeugen), kreischen, prügeln sich und lachen, lachen beide um die Wette,
+mit den komischsten Fratzen und laufen auf die Straße, gleich Kindern,
+hinaus einander zu fangen. Hast du gehört? Nun merke dir jetzt, -- oben
+liegen die Körper noch warm, hörst du, noch warm, so fand man sie! Wenn
+sie oder auch Nikolai nur allein, gemordet und dabei den Kasten
+aufgebrochen und geraubt hätten oder auch nur einigermaßen an dem Raube
+beteiligt gewesen wären, erlaube mir nur die eine Frage dir vorzulegen,
+-- ist solch eine seelische Stimmung, das heißt, Kreischen, Lachen,
+kindisches Prügeln in dem Torwege -- mit Beilen, Blut, mit
+verbrecherischer Schlauheit, Vorsicht, Raub vereinbar? Sie haben soeben
+noch vor fünf oder zehn Minuten gemordet, -- denn es muß so stimmen, die
+Körper waren ja noch warm -- und plötzlich lassen sie die Leichen liegen
+und die Wohnung offen, wobei sie wissen, daß soeben Menschen dorthin
+gegangen sind, kümmern sich nicht um die Beute und wälzen sich wie
+kleine Kinder auf dem Wege, lachen und lenken die allgemeine
+Aufmerksamkeit auf sich -- und dies alles bezeugen einstimmig zehn
+Zeugen!«
+
+»Sicher ist es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch unmöglich,
+aber ...«
+
+»Nein, Bruder, es gibt kein aber, -- sondern wenn die Ohrgehänge, die
+zur selben Stunde und am selben Tage in Nikolais Hände geraten sind,
+tatsächlich einen wichtigen ihn belastenden Beweis ausmachen, -- der
+jedoch durch seine Aussagen einfach erklärt wird, also noch ein
+_strittiger Beweis ist_, -- muß man doch auch die entlastenden Tatsachen
+in Erwägung ziehen und um so mehr, als dies _unwiderlegbare_ Tatsachen
+sind. Und glaubst du wohl, nach der Art unserer Jurisprudenz, daß sie
+dies anerkennen wird, oder daß sie fähig ist, solch eine Tatsache, --
+die ausschließlich auf rein psychologischer Unmöglichkeit, nur auf
+seelischer Stimmung allein begründet ist, -- als eine unanfechtbare und
+alle belastenden und sachlichen Momente, wie sie auch sein mögen,
+widerlegende Tatsache anzuerkennen? Nein, sie werden es nicht
+anerkennen, keineswegs, denn man hat das Kästchen gefunden, werden sie
+sagen, und der Mensch wollte sich erhängen, -- >was nicht geschehen
+könnte, wenn er sich nicht schuldig fühlte<. Das ist die Hauptfrage,
+darum ereifere ich mich auch! Verstehe es doch!«
+
+»Ja, ich sehe es auch, daß du dich ereiferst. Warte, ich vergaß dich zu
+fragen, wodurch ist es nachgewiesen, daß das Kästchen mit den
+Ohrgehängen tatsächlich von der Alten stammt?«
+
+»Das ist nachgewiesen,« antwortete Rasumichin mit gerunzelten
+Augenbrauen und anscheinend mit Unlust. »Koch hat das Ding erkannt und
+den Pfandgeber genannt, und dieser hat bewiesen, daß die Ohrgehänge ihm
+gehören.«
+
+»Das ist schlimm. Jetzt noch eins, -- hat jemand Nikolai gesehen, als
+Koch und Pestrjakoff allein hinaufgingen, und kann man es nicht
+irgendwie beweisen?«
+
+»Das ist es ja, daß niemand ihn gesehen hat,« antwortete Rasumichin
+ärgerlich, -- »das ist ja das Schlimme; sogar Koch und Pestrjakoff haben
+Nikolai und Dmitri nicht bemerkt, als sie hinaufgingen, obgleich ihr
+Zeugnis jetzt nicht viel bedeuten würde. >Wir haben gesehen,< sagen sie,
+>daß die Wohnung offen war, daß man darin wahrscheinlich arbeitete, aber
+wir haben im Vorübergehen nicht darauf geachtet und erinnern uns nicht
+genau, ob in dem Momente dort Arbeiter waren oder nicht.<«
+
+»Hm. Also gibt es nur eine einzige Rechtfertigung: die, daß sie einander
+Püffe versetzt und gelacht haben. Angenommen, dies ist ein starker
+Beweis, aber ... Erlaube mal, wie erklärst du selbst den ganzen Vorgang?
+Wodurch willst du den Fund der Ohrgehänge erklären, wenn er sie
+tatsächlich so gefunden hat, wie er angibt?«
+
+»Wie ich es erkläre? Ja, was ist da zu erklären, die Sache ist klar.
+Wenigstens der Weg, den man bei dieser Sache gehen muß, ist klar und
+bewiesen, und gerade das Kästchen hat ihn gezeigt. Der wirkliche Mörder
+hat die Ohrgehänge verloren. Der Mörder war oben, als Koch und
+Pestrjakoff klopften, und saß eingeschlossen dort. Koch machte die
+Dummheit und ging nach unten, da sprang der Mörder heraus und lief
+ebenfalls nach unten, denn er hatte keinen anderen Ausweg. Auf der
+Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakoff und dem Hausknecht in
+der leeren Wohnung, und zwar in dem Augenblicke, als Dmitri und Nikolai
+herausgelaufen waren; er stand hinter der Türe, als der Hausknecht und
+die anderen nach oben gingen, wartete bis die Schritte verhallten und
+ging in aller Seelenruhe hinunter, genau im selben Augenblicke, als
+Dmitri und Nikolai auf die Straße gelaufen waren, alles fort und niemand
+im Torwege war. Vielleicht hat man ihn auch gesehen, aber nicht
+beachtet; es gehen ja nicht wenige Menschen dort aus und ein. Und das
+Kästchen ist ihm aus der Tasche gefallen, als er hinter der Tür stand,
+und er hat es nicht gemerkt, denn er mußte an anderes denken. Das
+Kästchen aber beweist klar, daß er dort gestanden hat. So ist die ganze
+Sache!«
+
+»Das ist schlau. Nein, Bruder, das ist sehr schlau. Das ist zu schlau!«
+
+»Aber warum denn, warum?«
+
+»Ja, weil alles viel zu glücklich verlief ... und sich gestaltete ...
+wie auf dem Theater.«
+
+»Ach,« rief Rasumichin und wollte fortfahren, aber in diesem Augenblicke
+öffnete sich die Tür und es trat eine neue, von keinem der Anwesenden
+gekannte Person herein.
+
+
+ V.
+
+Es war ein Herr, nicht mehr jung, geziert, würdevoll, mit einem
+lauernden und verdrießlichen Gesichte; er begann damit, daß er an der
+Tür stehen blieb und sich mit unverkennbar beleidigtem Erstaunen
+umblickte, als ob er fragen würde: »wohin bin ich denn geraten?«
+Mißtrauisch, mit dem Ausdruck eines affektierten Überraschtseins, fast
+eines Schreckens, sah er sich in Raskolnikoffs enger und niedriger
+»Schiffskajüte« um. Mit gleichem Erstaunen richtete er seine Blicke auf
+Raskolnikoff selbst, der entkleidet, ungekämmt und ungewaschen auf
+seinem unansehnlichen, schmutzigen Sofa lag und ihn ebenso unverwandt
+betrachtete. Dann begann er mit gleicher Bedächtigkeit die abgerissene,
+unrasierte und ungekämmte Gestalt Rasumichins zu betrachten, der
+seinerseits ihm frech und fragend direkt in die Augen blickte, ohne sich
+von seinem Platze zu rühren. Das gespannte Schweigen dauerte etwa eine
+Minute und endlich trat, wie man es auch erwarten konnte, ein kleiner
+Stimmungswechsel ein. Nachdem der eingetretene Herr wahrscheinlich aus
+gewissen, übrigens sehr deutlichen Anzeichen entnommen hatte, daß mit
+einer herrischen Miene hier in dieser »Schiffskajüte« nichts zu wollen
+sei, wurde er etwas freundlicher und sagte höflich, obgleich nicht ohne
+eine gewisse Strenge, indem er sich an Sossimoff wandte und jede Silbe
+seiner Frage betonte: »Rodion Romanytsch Raskolnikoff, Herr Student oder
+ehemaliger Student?«
+
+Sossimoff rührte sich ein wenig und hätte auch vielleicht geantwortet,
+wenn Rasumichin, an den die Worte gar nicht gerichtet waren, ihm nicht
+zuvorgekommen wäre.
+
+»Da liegt er auf dem Sofa! Und was wollen Sie?« Dieses familiäre »Und
+was wollen Sie?« traf den gezierten Herrn wie ein Hieb, und fast hätte
+er sich zu Rasumichin umgewandt, aber er hielt sich noch rechtzeitig
+zurück und wandte sich schnell wieder an Sossimoff.
+
+»Da ist Raskolnikoff!« brummte Sossimoff und wies auf den Kranken hin,
+dann gähnte er, wobei er ungewöhnlich weit seinen Mund aufsperrte und
+ihn ungewöhnlich lange in dieser Lage behielt. Dann bewegte er die Hand
+langsam zu der Westentasche, zog eine riesige, dicke, goldene Uhr
+hervor, öffnete den Deckel, sah nach und steckte sie ebenso langsam und
+träge wieder ein.
+
+Raskolnikoff selbst lag die ganze Zeit schweigend auf dem Rücken und
+blickte unverwandt, scheinbar gedankenlos, den Eingetretenen an. Sein
+Gesicht, das er jetzt von der interessanten Blume in der Tapete
+abgewandt hatte, war außerordentlich bleich und drückte ein
+ungewöhnliches Leiden aus, als hätte er soeben eine qualvolle Operation
+durchgemacht, oder als hätte er eine Tortur hinter sich. Der
+eingetretene Herr aber begann allmählich seine Aufmerksamkeit mehr und
+mehr zu erregen, es tauchten in ihm Zweifel, Mißtrauen und sogar
+anscheinend Furcht auf. Als aber Sossimoff auf ihn hinwies und »da ist
+Raskolnikoff« sagte, erhob er sich schnell, wie auffahrend, setzte sich
+auf sein Bett und sagte mit fast herausfordernder, aber schwankender und
+schwacher Stimme:
+
+»Ja. Ich bin Raskolnikoff! Was wollen Sie?«
+
+Der Besucher blickte ihn aufmerksam an und sagte mit Betonung:
+
+»Peter Petrowitsch Luschin. Ich habe die sichere Hoffnung, daß mein Name
+Ihnen nicht ganz unbekannt sei.«
+
+Raskolnikoff aber, der etwas ganz anderes erwartet hatte, blickte ihn
+stumpf und nachdenklich an und antwortete nichts, als ob er Peter
+Petrowitschs Namen entschieden zum erstenmal höre.
+
+»Wie? Haben Sie bis jetzt noch keine Nachrichten über mich erhalten?«
+fragte Peter Petrowitsch mit einer Bewegung unangenehmer Überraschung.
+
+Anstatt zu antworten, ließ sich Raskolnikoff langsam auf das Kissen
+nieder, steckte die Hände unter den Kopf und begann die Zimmerdecke zu
+betrachten. Eine bedrückte Stimmung zeigte auf Luschins Gesicht starke
+Betroffenheit. Sossimoff und Rasumichin fingen an, ihn mit noch größerer
+Neugierde anzusehen, und er wurde sichtlich verlegen.
+
+»Ich nahm an und rechnete bestimmt darauf,« murmelte er, »daß der Brief,
+der schon vor mehr als zehn Tagen, vielleicht sogar vor vierzehn Tagen
+abgesandt ist ...«
+
+»Hören Sie mal, was sollen Sie denn die ganze Zeit an der Türe stehen?«
+unterbrach ihn Rasumichin, »wenn Sie etwas mitzuteilen haben, setzen Sie
+sich doch, für Sie und Nastasja ist es dort zu eng. Nastasja, mach mal
+Platz, laß ihn durchgehen! Kommen Sie hierher, da haben Sie einen Stuhl!
+Kriechen Sie hier durch!«
+
+Er rückte seinen Stuhl von dem Tische ab, machte zwischen dem Tisch und
+seinen Knien einen Durchgang frei und wartete in dieser unbequemen
+Stellung, bis der Gast durch diesen Spalt »hindurchkriechen« würde. Der
+Moment war so gewählt, daß man nicht gut ablehnen konnte, und der
+Besucher kroch durch den engen Durchgang, sich beeilend und stolpernd,
+hindurch. Als er den Stuhl erreicht hatte, setzte er sich und blickte
+Rasumichin argwöhnisch an.
+
+»Seien Sie übrigens nicht verlegen,« platzte dieser hervor. »Rodja ist
+schon den fünften Tag krank und hat drei Tage phantasiert, jetzt aber
+ist er zu sich gekommen und hat sogar mit Appetit gegessen. Dort sitzt
+sein Arzt, er hat ihn soeben untersucht, und ich bin Rodjas Kamerad,
+auch ein ehemaliger Student, und pflege ihn nun; also, achten Sie nicht
+auf uns und genieren Sie sich nicht, fahren Sie nur fort und sagen Sie,
+was Sie zu sagen haben.«
+
+»Ich danke Ihnen. Werde ich aber nicht durch meine Anwesenheit und mit
+meinem Gespräch den Kranken aufregen?« wandte sich Peter Petrowitsch an
+Sossimoff.
+
+»N--nein,« sagte Sossimoff langsam, »Sie können ihn vielleicht
+zerstreuen.«
+
+Und er gähnte wieder.
+
+»Oh, er ist schon lange bei Besinnung, seit heute morgen!« fuhr
+Rasumichin fort, dessen Familiarität den Stempel solch einer
+unverfälschten Treuherzigkeit trug, daß Peter Petrowitsch allmählich
+seine Fassung wiedergewann, zum Teil wohl auch darum, weil dieser
+zerlumpte und freche Mensch sich als Student vorgestellt hatte.
+
+»Ihre Frau Mutter ...« begann Luschin.
+
+»Hm!« äußerte sich Rasumichin vernehmlich.
+
+Luschin blickte ihn fragend an.
+
+»Das hat nichts zu sagen, ich tat es nur so; fahren Sie fort ...«
+
+Luschin zuckte die Achseln.
+
+»... Ihre Frau Mutter begann noch während meiner Anwesenheit dort einen
+Brief an Sie. Nachdem ich hier eingetroffen war, ließ ich absichtlich
+einige Tage vergehen und kam nicht gleich zu Ihnen, um ganz gewiß zu
+sein, daß Sie von allem unterrichtet sind, jetzt aber zu meinem
+Erstaunen ...«
+
+»Ich weiß, ich weiß!« sagte plötzlich Raskolnikoff mit dem Ausdrucke des
+ungeduldigsten Ärgers. »Sie sind es? Der Bräutigam? Nun, ich weiß ...
+und genug!«
+
+Peter Petrowitsch fühlte sich entschieden beleidigt, aber er schwieg. Er
+dachte eifrig nach, was dieses alles zu bedeuten habe. Es herrschte ein
+minutenlanges Schweigen.
+
+Indessen begann Raskolnikoff, der sich bei seiner Antwort nur ein wenig
+ihm zugekehrt hatte, ihn von neuem aufmerksam und mit einer gewissen
+Neugier anzusehen, als hätte er vorhin nicht Zeit gefunden, ihn ganz zu
+betrachten oder als wäre ihm etwas Neues an ihm aufgefallen; er erhob
+sich zu dem Zwecke sogar absichtlich von dem Kissen. In dem ganzen
+Aussehen von Peter Petrowitsch lag wirklich etwas Besonderes, und zwar
+etwas, das die Bezeichnung »Bräutigam,« die ihm soeben so ungeniert
+zugeteilt wurde, zu rechtfertigen schien. Man konnte sehen, und zwar
+ziemlich deutlich, daß Peter Petrowitsch sich sehr beeilt hatte, die
+paar Tage seines Aufenthaltes in der Residenz auszunutzen, um sich in
+Erwartung der Braut neu auszustaffieren und zu verschönern, was gewiß
+sehr unschuldig und statthaft war. Sogar die eigentümliche, vielleicht
+ein wenig zu ausgeprägte Selbstzufriedenheit über seine angenehme
+Veränderung konnte in diesem Falle verzeihlich erscheinen, denn Peter
+Petrowitsch war ja in dem Stande eines Bräutigams. Seine ganze Kleidung
+war soeben vom Schneider gekommen und alles war gut, nur daß eben alles
+zu neu war und zu sehr den bestimmten Zweck verriet. Auch der elegante,
+nagelneue, runde Hut deutete auf diesen Zweck hin, -- Peter Petrowitsch
+behandelte ihn zu ehrerbietig und hielt ihn mit zu großer Vorsicht in
+Händen. Auch das reizende Paar Handschuhe von heller lila Farbe bezeugte
+das, wenn auch nur damit, daß man sie nicht anzog, sondern in der Hand
+hielt. Helle und jugendliche Farben herrschten in Peter Petrowitschs
+Kleidung vor. Er hatte ein sehr hübsches Sommerjackett von hellbrauner
+Farbe an, helle leichte Beinkleider, ebensolch eine Weste, neugekaufte
+feine Wäsche, eine leichte Krawatte aus Batist mit rosa Streifen, und
+das allerbeste war dabei, daß alles Peter Petrowitsch sehr gut kleidete.
+Sein Gesicht, sehr frisch und sogar hübsch, schien auch ohnedem jünger
+als fünfundvierzig Jahre. Ein dunkler Backenbart umrahmte es zu beiden
+Seiten und verdichtete sich ziemlich hübsch um das glänzende, vorzüglich
+rasierte Kinn. Auch die Haare, übrigens nur stellenweise und kaum
+bemerkbar grau, waren von einem Friseur gekämmt und gekräuselt,
+erhielten aber dadurch nichts Lächerliches oder gaben ein dummes
+Aussehen, was gewöhnlich bei gekräuselten Haaren der Fall ist, weil es
+dem Gesichte eine unvermeidliche Ähnlichkeit mit einem Deutschen, der
+zum Altar schreitet, verleiht. Wenn in diesem ziemlich hübschen und
+soliden Gesichte etwas tatsächlich Unangenehmes und Abstoßendes war, so
+hatte dies einen anderen Grund. Nachdem Raskolnikoff Herrn Luschin
+ungeniert betrachtet hatte, lächelte er sarkastisch, ließ sich wieder
+auf das Kissen nieder und begann, wie früher, die Zimmerdecke anzusehen.
+
+Herr Luschin aber nahm sich zusammen und schien entschlossen zu sein,
+diese Sonderbarkeiten vorläufig nicht zu beachten.
+
+»Ich bedauere sehr, sehr, Sie in solch einer Lage zu finden,« begann er
+von neuem, mit Mühe das Schweigen brechend. »Wenn ich von Ihrem
+Unwohlsein gewußt hätte, wäre ich früher gekommen. Aber, wissen Sie, die
+Plackereien ... Ich habe außerdem eine sehr wichtige Angelegenheit im
+Senat, in meiner Eigenschaft als Advokat. Ich erwähne nicht die Sorgen,
+die auch Sie erraten können. Die Ihrigen, das heißt Ihre Frau Mutter und
+Schwester, erwarte ich stündlich ...«
+
+Raskolnikoff machte eine Bewegung und wollte etwas sagen; sein Gesicht
+drückte eine gewisse Erregung aus. Peter Petrowitsch hielt in Erwartung
+inne, aber da nichts erfolgte, fuhr er fort: »... Stündlich. Ich habe
+ihnen fürs erste eine Wohnung gesucht ...«
+
+»Wo?« fragte leise Raskolnikoff.
+
+»Gar nicht weit von hier, im Hause von Bakalejeff.«
+
+»Das ist auf dem Wosnesensky-Prospekt,« unterbrach ihn Rasumichin, »dort
+sind zwei Stockwerke, als möblierte Zimmer eingerichtet; der Kaufmann
+Juschin ist Inhaber; ich bin dort gewesen.«
+
+»Ja, es sind möblierte Zimmer ...«
+
+»Es ist fürchterlich dort; Schmutz, Gestank und ein verdächtiger Ort
+auch; mancherlei ist da vorgefallen. Ja, und weiß der Teufel, was da
+nicht alles wohnt! ... Ich selbst bin dort aus einem skandalösen Grunde
+gewesen. Übrigens ist es billig.«
+
+»Ich konnte selbstverständlich nicht soviel erfahren, da ich selbst vor
+kurzem angekommen bin,« antwortete Peter Petrowitsch empfindlich, »es
+sind übrigens zwei sehr, sehr saubere kleine Zimmer, und da es auf eine
+sehr kurze Zeit nur ist ... Ich habe schon eine wirkliche, das heißt
+unsere künftige Wohnung gefunden,« wandte er sich an Raskolnikoff, »und
+jetzt wird sie instand gesetzt; unterdessen aber behelfe ich mich auch
+selbst mit einem möblierten Zimmer, zwei Schritte von hier, bei Frau
+Lippewechsel, in der Wohnung eines jungen Freundes von mir, Andrei
+Ssemenytsch Lebesjätnikoff; er hat auch mir das Haus von Bakalejeff
+empfohlen ...«
+
+»Lebesjätnikoff?« sagte langsam Raskolnikoff, als ob er sich auf etwas
+besinne.
+
+»Ja, Andrei Ssemenytsch Lebesjätnikoff, er ist im Ministerium
+angestellt. Kennen Sie ihn?«
+
+»Ja ... nein ...« antwortete Raskolnikoff.
+
+»Entschuldigen Sie, mir scheint es so nach Ihrer Frage. Ich war einmal
+sein Vormund ... ein sehr lieber junger Mann ... und mit Interessen ...
+Und ich bin froh, mit der Jugend zusammenzukommen; durch sie erfährt man
+alles Neue ...«
+
+Peter Petrowitsch blickte erwartungsvoll alle Anwesenden an.
+
+»Wie meinen Sie das?« fragte Rasumichin.
+
+»Nun, im besten Sinne des Wortes,« sagte Peter Petrowitsch, als wäre er
+über die Frage erfreut. »Ich war, sehen Sie, seit zehn Jahren nicht mehr
+in Petersburg. Alle unsere Neuerungen, Reformen und Ideen, dies alles
+hat auch uns in der Provinz erreicht, aber um klarer zu sehen und um
+alles zu sehen, muß man in Petersburg sein. Nun, und meine Meinung ist,
+daß man am meisten bemerkt und erfährt, indem man unsere jüngere
+Generation beobachtet. Und offen gestanden, ich bin erfreut ...«
+
+»Worüber denn?«
+
+»Ihre Frage ist zu umfassend. Ich kann mich irren, aber es scheint mir,
+ich finde einen klareren Blick, sozusagen mehr Kritik, mehr Tüchtigkeit
+...«
+
+»Das ist wahr,« sagte gelassen Sossimoff.
+
+»Du lügst, Tüchtigkeit ist nicht da,« mischte sich Rasumichin ein.
+»Tüchtigkeit erwirbt sich schwer und fällt nicht umsonst vom Himmel. Wir
+sind aber fast seit zweihundert Jahren von jeder Arbeit entwöhnt ... Ich
+gebe zu, Ideen hat man,« wandte er sich an Peter Petrowitsch, »auch
+Wünsche für das Gute sind da, wenn auch kindische, auch Ehrlichkeit
+findet man vor, ungeachtet dessen, daß hierher unzählige Gauner gekommen
+sind, aber Tüchtigkeit gibt es doch nicht! Nur in Ausnahmefällen.«
+
+»Ich bin mit Ihnen nicht einverstanden,« erwiderte mit sichtbarem
+Behagen Peter Petrowitsch, »sicher gibt es Übertreibung,
+Unregelmäßigkeiten, aber man muß auch nachsichtig sein; Übertreibung
+zeugt von Eifer für die Sache und von der unrichtigen äußeren Umgebung,
+in der die Sache sich befindet. Wenn noch wenig getan ist, so war auch
+die Zeit zu kurz. Von den Mitteln rede ich gar nicht. Meiner
+persönlichen Auffassung nach ist sogar, wenn Sie wollen, etwas getan, --
+es sind neue nützliche Gedanken, einige neue nützliche Werke, an Stelle
+der früheren schwärmerischen und romantischen, verbreitet; die Literatur
+zeigt ein reiferes Gepräge; viele schädliche Vorurteile sind ausgerottet
+und werden verspottet ... Mit einem Worte, wir haben uns unwiderruflich
+von der Vergangenheit losgesagt, und das ist meiner Meinung nach schon
+eine Tat ...«
+
+»Hat er das auswendig gelernt! Empfiehlt sich damit!« sagte plötzlich
+Raskolnikoff.
+
+»Was?« fragte Peter Petrowitsch, da er nicht recht gehört hatte, aber er
+erhielt keine Antwort.
+
+»Das ist alles wahr,« beeilte sich Sossimoff zu bemerken.
+
+»Ja, nicht wahr?« fuhr Peter Petrowitsch fort und blickte Sossimoff
+freundlich an. »Geben Sie selbst zu,« wandte er sich an Rasumichin,
+jetzt aber im Tone des Triumphes und der Überlegenheit, und beinahe
+hätte er »junger Mann« hinzugefügt, »daß es einen Fortschritt oder, wie
+man sich jetzt ausdrückt, einen Prozeß gibt, wenigstens in der
+Wissenschaft und in den wirtschaftlichen Gesetzen ...«
+
+»Das ist ein Gemeinplatz!«
+
+»Nein, es ist kein Gemeinplatz! Wenn man mir zum Beispiel bis jetzt
+sagte: >Liebe deinen Nächsten<, und ich tat es, -- was kam dabei
+heraus?« fuhr Peter Petrowitsch fort, vielleicht mit zu großem Eifer.
+»Es kam das heraus, daß ich meinen Rock in zwei Hälften zerriß, ihn mit
+dem Nächsten teilte, und wir beide blieben halbnackt, wie nach dem
+russischen Sprichworte: >Wer ein paar Hasen gleichzeitig nachjagt, fängt
+keinen einzigen.< Die Wissenschaft aber sagt: >Liebe vor allem zuerst
+dich selbst, denn alles in der Welt ist auf persönlichem Interesse
+begründet.< Wenn man sich selbst liebt, wird man seine Angelegenheiten,
+wie es sich gehört, in Ordnung bringen, und der Rock bleibt einem ganz
+und heil. Die wirtschaftlichen Gesetze fügen noch hinzu, daß, je mehr es
+in der Gesellschaft geordnete Privatangelegenheiten und sozusagen ganze
+und heile Röcke gibt, daß sie um so mehr Grundlagen hat, und daß um so
+mehr das Allgemeinwohl gefördert wird. Also, indem ich allein und
+ausschließlich für mich selbst erwerbe, erwerbe ich dadurch auch für
+alle und trage dazu bei, daß mein Nächster etwas mehr als einen
+zerrissenen Rock erhält, und nicht mehr als Wohltat von einzelnen
+Privatpersonen, sondern infolge des allgemeinen Fortschritts. Der
+Gedanke ist einfach, aber zum Unglück tauchte er zu spät auf, verdeckt
+durch Überschwänglichkeit und Schwärmerei, und es möchte scheinen, daß
+man nicht viel Witz braucht, um darauf zu kommen ...«
+
+»Entschuldigen Sie, ich habe auch nicht viel Witz,« unterbrach ihn
+Rasumichin schroff, »hören wir besser auf. Ich habe nur aus einem
+bestimmten Zweck begonnen, sonst ist mir dies ganze Geschwätz, dieses
+Sichselbst-Trösten, diese endlosen unaufhörlichen Gemeinplätze und dies
+ewige Einerlei in drei Jahren so zuwider geworden, daß ich bei Gott
+erröte, wenn auch andere, nicht ich bloß, in meiner Gegenwart davon
+sprechen. Sie haben sich selbstverständlich beeilt, sich mit Ihren
+Kenntnissen einzuführen, das ist sehr verzeihlich, und ich verurteile
+Sie nicht. Ich aber wollte bloß erfahren, wer Sie sind; denn sehen Sie,
+in der letzten Zeit haben sich so viel und allerhand Industrieritter an
+der allgemeinen Sache angeklebt und haben alles, womit sie in Berührung
+kamen, so zu ihrem Vorteil zugerichtet, daß sie entschieden die ganze
+Sache beschmutzt haben. -- Nun genug davon!«
+
+»Mein Herr,« begann Luschin, sich mit der größten Würde aufrichtend,
+»wollen Sie etwa damit ausdrücken, daß auch ich ...«
+
+»Oh, bitte, bitte ... Könnte ich es denn! ... Nun genug!« schnitt
+Rasumichin ab und wandte sich unmittelbar an Sossimoff, um das frühere
+Gespräch fortzusetzen.
+
+Peter Petrowitsch zeigte sich so klug, sofort der Erklärung zu glauben,
+beschloß aber, nach ein paar Minuten wegzugehen.
+
+»Ich hoffe, daß unsere jetzt geschlossene Bekanntschaft,« wandte er sich
+an Raskolnikoff, »nach Ihrer Genesung und infolge der Ihnen bekannten
+Umstände sich noch mehr befestigen wird ... Besonders wünsche ich Ihnen
+gute Besserung ...«
+
+Raskolnikoff wandte nicht mal den Kopf um. Peter Petrowitsch schickte
+sich an, aufzustehen.
+
+»Der Mörder war sicher ein Pfandgeber!« Sossimoff stimmte zu.
+
+»Unbedingt ein Pfandgeber!« wiederholte Rasumichin. »Porphyri verrät
+seine Gedanken nicht, aber er verhört doch die Pfandgeber ...«
+
+»Verhört die Pfandgeber?« fragte Raskolnikoff laut.
+
+»Ja, was ist denn?«
+
+»Nichts.«
+
+»Wo findet er sie denn?« fragte Sossimoff.
+
+»Einige hat Koch genannt; von anderen waren die Namen auf den Umschlägen
+der Sachen notiert, und manche kamen von selbst, als sie hörten ...«
+
+»Na, das muß doch eine gewandte und erfahrene Kanaille sein! Welche
+Kühnheit! Welche Entschlossenheit!«
+
+»Das ist es ja, daß dies nicht der Fall ist!« unterbrach Rasumichin.
+»Das bringt auch alle von der Spur ab. Ich aber sage -- er war ungewandt
+und unerfahren und sicher war es das erstemal. -- Nimm Berechnung und
+eine gewandte Kanaille an, und es erscheint unglaublich. Nimm aber einen
+Unerfahrenen an, und es zeigt sich, daß nur der Zufall ihn unterstützt
+und gerettet hat, und was tut nicht der Zufall? Ich bitte dich, er hat
+vielleicht nicht einmal Hindernisse vorausgesehen! Und wie führt er die
+Tat aus? -- Er nimmt Sachen im Werte von zehn und zwanzig Rubel, stopft
+sich damit die Taschen voll, wühlt in dem Kasten, in allerhand
+Weiberlumpen, -- und in der Kommode, in der oberen Schublade findet man
+nachher in einer Schatulle an barem Gelde gegen anderthalb tausend,
+außer den Wertpapieren. Er hat nicht mal verstanden zu rauben, er hat
+bloß verstanden zu morden! Ich sage dir, es ist sein erster Fall, sein
+allererster; er hat seine Fassung verloren. Und nicht durch Berechnung,
+sondern durch Zufall ist er entkommen.«
+
+»Mir scheint, Sie sprechen von der kürzlichen Ermordung der alten
+Beamtenwitwe,« mischte sich Peter Petrowitsch ein, sich an Sossimoff
+wendend. Er stand schon mit dem Hute und Handschuhen in der Hand, aber
+vor dem Fortgehen wollte er noch einige geistreiche Worte fallen lassen.
+Er mühte sich sichtlich, einen guten Eindruck zu hinterlassen und die
+Eitelkeit überwand die Vernunft.
+
+»Ja. Haben Sie davon gehört?«
+
+»Selbstverständlich, es ist ja in der Nachbarschaft ...«
+
+»Kennen Sie die Einzelheiten?«
+
+»Das kann ich nicht behaupten. Mich aber interessiert dabei ein anderer
+Umstand, sozusagen die ganze Frage. Ich spreche nicht davon, daß in den
+letzten fünf Jahren die Verbrechen in der unteren Klasse sich vermehrt
+haben; ich spreche nicht von den ununterbrochenen Raubanfällen und
+Feuersbrünsten, die überall nun vorkommen; am auffallendsten aber
+erscheint mir, daß die Verbrechen auch in den höheren Klassen sich
+ebenso vermehren und sozusagen in paralleler Weise. Dort, hört man, hat
+ein ehemaliger Student auf offener Straße die Post beraubt; dort wieder
+fabrizieren Menschen, die nach ihrer gesellschaftlichen Stellung zu den
+ersten gehören, falsches Papiergeld; in Moskau ertappt man eine ganze
+Gesellschaft beim Fälschen von Scheinen der letzten Prämienanleihe, --
+und einer der Hauptbeteiligten ist ein Professor der Weltgeschichte;
+dort, im Auslande ermordet man einen von unsern Botschaftssekretären aus
+rätselhaften Gründen ... Und wenn jetzt diese alte Pfandleiherin von
+jemand aus der besseren Gesellschaft getötet ist, -- denn einfache Leute
+versetzen keine Goldsachen, -- wie kann man denn diese Verdorbenheit des
+gebildeten Teiles unserer Gesellschaft erklären?«
+
+»Es gibt viele ökonomische Verschiebungen,« bemerkte Sossimoff.
+
+»Wie erklären?« unterbrach ihn Rasumichin.
+
+»Gerade durch die uns anhaftende Untüchtigkeit kann man es erklären.«
+
+»Wieso denn?«
+
+»Was antwortete Ihr Professor in Moskau auf die Frage, warum er die
+Scheine gefälscht habe? Alle werden durch allerhand Mittel reich, da
+wollte ich auch schnell reich werden -- das war seine Antwort. Des
+Wortlautes entsinne ich mich nicht genau; aber der Sinn war, daß er auf
+fremde Kosten schnell, ohne zu arbeiten, reich werden wollte. Wir sind
+gewohnt, Hilfe zu erhalten, am Gängelbande zu gehen, Vorgekautes zu
+essen ... Nun, und schlägt die große Stunde, da zeigt sich jeder in
+seiner wahren Gestalt ...«
+
+»Aber es gibt doch Moral. Und sozusagen Begriffe ...«
+
+»Ja, was ereifern Sie sich denn?« mischte sich Raskolnikoff plötzlich
+ins Gespräch. »Es ist doch nach Ihrer Theorie!«
+
+»Wieso nach meiner Theorie?«
+
+»Ziehen Sie doch die Konsequenzen dessen, was Sie vorhin predigten, und
+es ergibt sich, daß man Menschen umbringen darf ...«
+
+»Aber ich bitte!« rief Luschin aus.
+
+»Nein, so ist das nicht!« bemerkt Sossimoff.
+
+Raskolnikoff lag bleich mit zuckender Lippe da und atmete schwer.
+
+»Alles hat seine Grenzen,« fuhr Luschin hochmütig fort, »eine
+ökonomische Idee ist noch keine Aufforderung zum Mord, und wenn man nur
+annimmt ...«
+
+»Ist es wahr, daß Sie,« unterbrach ihn von neuem Raskolnikoff mit vor
+Wut zitternder Stimme, aus der man die Freude zu beleidigen heraus
+merkte, »ist es wahr, daß Sie Ihrer Braut ... in derselben Stunde, als
+Sie ihr Jawort erhielten, gesagt haben, daß Sie sich am meisten darüber
+freuten ... daß sie eine Bettlerin sei ... weil es vorteilhafter sei,
+eine bettelarme Frau zu nehmen, um über sie später herrschen ... und ihr
+vorhalten zu können, daß Sie ihr Wohltäter seien? ...«
+
+»Mein Herr!« rief Luschin betroffen und gereizt aus und wurde rot und
+verwirrt. »Mein Herr ... so meine Worte zu entstellen ... Entschuldigen
+Sie, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die zu Ihnen gedrungen
+sind, oder besser gesagt, die Ihnen zugetragen sind, auch nicht den
+Schatten eines vernünftigen Grundes haben, und ich ... vermute, wer ...
+mit einem Worte ... dieser ... Pfeil ... mit einem Worte, Ihre Frau
+Mutter ... Sie erschien mir auch ohnedem, bei allen ihren übrigens
+ausgezeichneten Eigenschaften, in ihrer Auffassung ein wenig
+schwärmerisch und romantisch angehaucht ... Aber ich war doch tausend
+Meilen entfernt von der Voraussetzung, daß sie die Sache in solch einer
+von der Phantasie verunstalteten Weise auffassen und auslegen würde ...
+Und schließlich ... schließlich ...«
+
+»Wissen Sie was?« rief Raskolnikoff aus, erhob sich auf dem Kissen und
+sah ihn mit durchdringendem, scharfem Blicke an. »Wissen Sie was?«
+
+»Was denn?« Luschin hielt inne und wartete mit gekränkter und
+herausfordernder Miene.
+
+Das Schweigen dauerte einige Sekunden.
+
+»Daß, wenn Sie noch einmal ... wagen, nur ein Wort ... von meiner Mutter
+zu erwähnen, ich Sie die Treppe hinunterwerfe!«
+
+»Was ist dir?« rief Rasumichin aus.
+
+»Ah, so ist die Sache!« Luschin erbleichte und biß sich auf die Lippen.
+»Hören Sie, Herr,« begann er stockend und mit aller Kraft an sich
+haltend, aber dennoch atemlos, »ich habe schon vorhin beim ersten
+Schritt Ihre Feindseligkeit erraten, aber ich blieb absichtlich hier, um
+noch mehr zu erfahren. Vieles konnte ich einem Kranken und Verwandten
+zugute halten, jetzt aber ... Ihnen ... niemals ...«
+
+»Ich bin nicht krank!« rief Raskolnikoff aus.
+
+»Um so schlimmer ...«
+
+»Scheren Sie sich zum Teufel!«
+
+Luschin ging schon von selbst, ohne seine Rede zu vollenden, indem er
+wieder zwischen dem Tisch und Stuhl hindurchkroch; Rasumichin stand
+diesmal auf, um ihn durchzulassen. Ohne jemand anzusehen und ohne sogar
+Sossimoff mit einem Kopfnicken zu grüßen, der ihm längst schon Zeichen
+gegeben hatte, den Kranken in Ruhe zu lassen, ging Luschin hinaus, und
+als er durch die Tür gebückt hindurchging, hielt er vorsichtshalber
+seinen Hut in Schulterhöhe. Sogar die Krümmung seines Rückens schien
+ausdrücken zu wollen, daß er sich furchtbar beleidigt fühle.
+
+»Aber wie kann man denn, wie kann man denn so ...« sagte der verblüffte
+Rasumichin und schüttelte den Kopf.
+
+»Laßt mich, laßt mich alle in Ruhe!« rief Raskolnikoff rasend. »Ja,
+wollt ihr endlich mich in Ruhe lassen, ihr Quälgeister! Ich fürchte euch
+nicht! Ich fürchte jetzt niemand, niemand! Geht fort! Ich will allein
+sein, allein, allein sein!«
+
+»Gehen wir!« sagte Sossimoff und winkte Rasumichin.
+
+»Erlaube, kann man ihn denn so lassen?«
+
+»Gehen wir,« bestand Sossimoff und ging hinaus.
+
+Rasumichin sann nach und lief dann hinaus, ihn einzuholen.
+
+»Es könnte schlimmer werden, wenn wir nicht gehorcht hätten,« sagte
+Sossimoff, schon auf der Treppe. »Man darf ihn nicht reizen ...«
+
+»Was ist mit ihm?«
+
+»Wenn ihm bloß etwas Glückliches widerfahren wollte, das wäre gut.
+Vorhin war er bei Kräften ... Weißt du, er hat etwas auf dem Herzen.
+Etwas Starkes, Bedrückendes ... Das fürchte ich sehr!«
+
+»Ja, vielleicht ist es dieser Herr Peter Petrowitsch! Aus dem Gespräche
+konnte man entnehmen, daß er seine Schwester heiraten will, und daß
+Rodja darüber kurz vor der Krankheit einen Brief erhalten hat ...«
+
+»Ja; der Teufel hat ihn jetzt hergeführt; vielleicht hat er die ganze
+Sache verdorben. Hast du aber gemerkt, daß er gegen alles gleichgültig
+ist, über alles schweigt, außer den einen Punkt, wo er aus sich
+herausgeht -- den Mord ...«
+
+»Ja, ja!« bestätigte Rasumichin. »Ich habe es sehr gut gemerkt. Er
+interessiert sich dafür, gerät in Aufregung. Man hat ihn am Tage, als er
+krank wurde, in dem Polizeibureau damit erschreckt; er fiel in
+Ohnmacht.«
+
+»Erzähle mir darüber genauer heute abend, ich will dir auch später etwas
+sagen. Er interessiert mich sehr! Nach einer halben Stunde will ich ihn
+aufsuchen ... Ein Fieber wird übrigens nicht folgen.«
+
+»Ich danke dir. Ich will unterdessen bei der lieben Praskovja warten und
+will durch Nastasja ihn beobachten lassen ...«
+
+Raskolnikoff blickte voll Ungeduld und traurig Nastasja an; sie aber
+zögerte wegzugehen.
+
+»Willst du jetzt Tee trinken?« fragte sie ihn.
+
+»Nachher! Ich will schlafen! Laß mich ...« Er wandte sich krampfhaft der
+Wand zu. Nastasja ging hinaus.
+
+
+ VI.
+
+Kaum aber war sie hinausgegangen, als er aufstand, die Tür zuhakte, das
+Bündel mit Kleidern, das Rasumichin vorhin gebracht und wieder
+zugebunden hatte, aufmachte und sich anzukleiden begann. Merkwürdig,
+plötzlich schien er völlig ruhig geworden zu sein, weder das
+halbwahnsinnige Phantasieren, wie vorhin, noch die panische Angst, wie
+in der ganzen letzten Zeit, waren vorhanden. Es war der erste Augenblick
+einer seltsamen Ruhe. Seine Bewegungen waren bestimmt und klar, eine
+feste Absicht lag in ihnen. »Heute noch, heute noch! ...« murmelte er
+vor sich hin. Er begriff jedoch, daß er noch schwach sei, aber eine
+starke, seelische Spannung, die sich bis zur Ruhe, bis zu einer
+unerschütterlichen Idee gesteigert hatte, verlieh ihm Kraft und
+Selbstbewußtsein; er hoffte auch, daß er auf der Straße nicht hinstürzen
+würde. Nachdem er sich neu angezogen hatte, erblickte er das Geld, das
+auf dem Tische lag, dachte nach und steckte es in die Tasche. Es waren
+fünfundzwanzig Rubel. Er nahm auch das Kupfergeld, den Rest von den zehn
+Rubeln, die Rasumichin für die Kleidung ausgegeben hatte. Dann hob er
+leise den Haken ab, ging aus dem Zimmer, stieg die Treppe hinab und warf
+einen Blick in die weit geöffnete Küche! Nastasja stand mit dem Rücken
+gegen ihn und blies gebückt in den Samowar. Sie hatte nichts gehört. Wer
+konnte auch voraussetzen, daß er fortgehen würde? Nach einer Minute war
+er schon auf der Straße.
+
+Es war gegen acht Uhr, die Sonne ging unter. Es herrschte die frühere
+Schwüle, aber er atmete gierig diese stinkende, staubige, durch die
+Stadt verpestete Luft ein. Der Kopf begann ihm ein wenig zu schwindeln;
+eine wilde Energie blitzte in seinen entzündeten Augen und in seinem
+abgemagerten, bleichen, gelben Gesichte auf. Er wußte nicht und dachte
+auch nicht nach, wohin er wollte; er wußte bloß eins, »daß man _alles_
+heute noch, mit einem Schlage, sofort beenden müsse, daß er anders nicht
+nach Hause zurückkehren würde, weil er nicht so weiterleben wolle. Wie
+enden? Wodurch? Davon hatte er keinen Begriff und wollte auch daran
+nicht denken. Er verscheuchte den Gedanken, der ihn quälte. Bloß eins
+fühlte und wußte er, daß alles sich ändern müsse, so oder so; einerlei
+wie,« wiederholte er mit einer verzweifelten, starren Entschlossenheit
+und Festigkeit.
+
+Nach seiner Gewohnheit ging er wieder dem Heumarkt zu. Kurz vor dem
+Heumarkte stand auf der Straße vor einem kleinen Laden ein junger
+schwarzhaariger Mann mit einem Leierkasten und spielte ein rührseliges
+Stück. Er begleitete ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vor ihm auf dem
+Fußsteig stand und wie eine Dame mit Krinoline, Mantille, Handschuhen
+und einem Strohhut mit einer Feder von flammendem Rot bekleidet war;
+alles war alt und abgetragen. Sie sang in Erwartung einer
+Zweikopekenmünze eine Romanze mit zitternder, aber nicht unangenehmer
+und kräftiger Straßenstimme. Raskolnikoff blieb neben ein paar anderen
+Zuhörern stehen, hörte zu, nahm ein Fünfkopekenstück und legte es in die
+Hand des jungen Mädchens. Sie brach bei der höchsten und rührseligsten
+Note ab, rief dem Leiermann scharf »Schluß!« zu, und beide wanderten
+weiter zu dem nächsten Laden.
+
+»Haben Sie Straßengesang gern?« wandte sich plötzlich Raskolnikoff an
+einen nicht mehr jungen Mann, der neben ihm stand und das Aussehen eines
+Bummlers hatte. Dieser blickte ihn erschrocken und verwundert an.
+
+»Ich habe es gern,« fuhr Raskolnikoff fort, und mit einem Ausdrucke, als
+rede er gar nicht über Straßengesang. »Ich liebe es, wenn nach einer
+Leierkastenmelodie gesungen wird an einem kalten, dunklen und feuchten
+Herbstabend, unbedingt an einem feuchten, wenn alle Vorübergehenden
+blaßgrüne und kranke Gesichter haben, oder noch besser, wenn ein nasser
+Schnee kerzengerade, ohne Wind, niederfällt, wissen Sie, und die
+Gasflammen hindurchschimmern ...«
+
+»Ich weiß nicht ... Entschuldigen Sie ...« murmelte der Herr, betroffen
+über die Worte und das sonderbare Aussehen Raskolnikoffs, und ging auf
+die andere Seite der Straße hinüber.
+
+Raskolnikoff schritt weiter und kam zu der Ecke auf dem Heumarkte, wo
+der Kleinbürger und seine Frau, die sich damals mit Lisaweta
+unterhielten, ihren Handel trieben, aber sie waren jetzt nicht da. Als
+er die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, sah sich um und wandte
+sich an einen jungen Burschen im roten Hemde, der am Eingange eines
+Mehlladens gähnte.
+
+»Hier an der Ecke handelt doch ein Kleinbürger und seine Frau, nicht
+wahr?«
+
+»Es handeln hier viele Leute,« antwortete der Bursche und blickte
+Raskolnikoff von oben herab an.
+
+»Wie heißt er?«
+
+»Wie man ihn getauft hat, so heißt er auch.«
+
+»Bist du nicht aus dem Rjasanschen Gouvernement? Aus welcher Gegend bist
+du denn?«
+
+Der Bursche sah Raskolnikoff wieder an.
+
+»Wie soll ich es denn wissen, Eure Durchlaucht, bin zu dumm, um es zu
+wissen ... Entschuldigen Sie gütigst, Durchlaucht.«
+
+»Ist dort oben eine Schenke?«
+
+»Das ist ein Restaurant, hat auch ein Billard und schöne Damen findet
+man dort auch ... Tra-la-la.«
+
+Raskolnikoff ging quer über den Platz. Dort auf der anderen Ecke stand
+eine dichte Volksmenge, lauter Bauern. Er zwängte sich durch den
+dicksten Knäuel und sah die Gesichter an. Aus irgendeinem Grunde zog es
+ihn an alle anzureden. Aber die Bauern schenkten ihm keine Beachtung und
+lamentierten alle unter sich. Er blieb stehen, dachte nach und ging nach
+rechts, auf den Fußsteg, in der Richtung zu dem W.-schen Prospekt. Als
+er den Platz verlassen hatte, geriet er in die N.-Gasse.
+
+Er war auch früher oft durch diese sehr kurze Gasse gegangen, die eine
+Biegung macht und von dem Platze auf die Ssadowaja führte. In der
+letzten Zeit zog es ihn sogar an, wenn es ihm schwer zumute war, in
+dieser Gegend herumzuirren, damit »es ihm noch schwerer werden sollte«.
+Jetzt aber war er hierhergekommen, ohne etwas zu wollen. Hier gab es ein
+großes Haus, das ganz mit Schenken und anderen Speise- und
+Trinkanstalten angefüllt war; alle Augenblicke kamen von dort
+Frauenzimmer herausgelaufen, gekleidet, wie man »in der Nachbarschaft«
+herumzugehen pflegt -- ohne Kopfbekleidung und Überrock. Sie sammeln
+sich auf dem Fußsteig an, ein paar stehen in Gruppen, besonders bei den
+Eingängen in das Erdgeschoß, wo man zwei Stufen tiefer in allerhand sehr
+lustige Lokale gelangen konnte. In einem von diesen Etablissements
+herrschte in diesem Augenblicke starker Lärm und Geschrei, so daß man es
+in der ganzen Straße hören konnte, auf einer Guitarre wurde geklimpert,
+es wurde gesungen, es ging sehr bunt zu. Eine große Gruppe von Frauen
+drängte sich am Eingange; einige saßen auf den Stufen, andere auf dem
+Fußsteig, andere wieder standen und unterhielten sich. Auf dem Fahrdamme
+daneben schlenderte ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette,
+schimpfte laut und wie es schien, wollte er irgendwo hineingehen, aber
+wahrscheinlich hatte er vergessen, wohin er wollte. Ein zerlumpter Kerl
+schimpfte einen anderen und ein total Betrunkener lag quer über der
+Straße. Raskolnikoff blieb bei der großen Gruppe von Weibern stehen. Sie
+sprachen mit heiseren Stimmen, alle hatten sie Kattunkleider an und
+billige Stiefel und waren barhaupt. Einige waren über vierzig Jahre alt,
+es waren aber auch siebzehnjährige dabei, fast alle hatten sie zerbläute
+Gesichter. -- Aus irgendeinem Grunde interessierte ihn der Gesang und
+dieser ganze Lärm und Tumult dort unten ... Man konnte hören, wie unter
+Lachen und Kreischen jemand mit einer hohen Fistelstimme burschikos zu
+einer Guitarre sang und wie ein anderer toll dazu tanzte und mit den
+Absätzen den Takt schlug. Er hörte aufmerksam, düster und nachdenklich
+zu, indem er, am Eingange stehend und sich vorbeugend, neugierig in das
+Vorzimmer hineinblickte.
+
+ Oh, mein schöner Schutzmann
+ Schlägt mich so ohne Grund! ...
+
+ertönte die dünne Stimme des Sängers. Raskolnikoff hatte schreckliche
+Lust zu hören, was man sang, als wäre das jetzt die Hauptsache.
+
+»Soll ich nicht hineingehen?« dachte er. »Sie lachen laut! Aus
+Betrunkenheit. Warum soll ich mich nicht auch betrinken?«
+
+»Kommen Sie doch herein, lieber Herr!« sagte eine der Frauen mit
+ziemlich heller und nicht ganz heiserer Stimme. Sie war jung und gar
+nicht abstoßend -- die einzige von der ganzen Gruppe.
+
+»Sieh mal, wie hübsch du bist!« antwortete er, den Kopf erhebend und
+blickte sie an.
+
+Sie lächelte; das Kompliment hatte ihr sehr gefallen.
+
+»Sie sind auch selbst sehr hübsch,« sagte sie.
+
+»Wie mager Sie sind!« bemerkte eine andere mit einer Baßstimme. »Kommen
+wohl eben aus dem Krankenhause?«
+
+»Ihr seid alle aus feiner Familie, aber die Nasen sind zu platt!«
+unterbrach sie plötzlich ein herantretender Bauer, ein wenig
+angeheitert, mit einem listig lächelnden Gesichte. -- »Das ist aber ein
+Vergnügen!«
+
+»Geh hinein, wenn du schon da bist!«
+
+»Ich will auch hineingehen. Du Süße!«
+
+Und er stolperte hinunter.
+
+Raskolnikoff ging weiter.
+
+»Hören Sie, mein Herr!« rief ihm das Mädchen nach.
+
+»Was?«
+
+Sie tat schämig.
+
+»Ich würde mich freuen, mein Herr, mit Ihnen die Zeit zu vertreiben, ich
+bin aber ganz außer Fassung vor Ihnen. Schenken Sie mir, hoher Herr,
+sechs Kopeken zu einem Trunk.«
+
+Raskolnikoff nahm heraus, was er erfaßt hatte -- es waren fünfzehn
+Kopeken.
+
+»Ach, was für ein guter Herr!«
+
+»Wie heißt du?«
+
+»Fragen Sie nach Duklida.«
+
+»Nein, das geht nicht an,« sagte plötzlich eine aus der Gruppe und
+schüttelte den Kopf über Duklida. »Ich verstehe nicht, wie man so
+betteln kann. Ich würde vor lauter Scham in die Erde sinken ...«
+
+Raskolnikoff blickte neugierig die Sprechende an. Es war ein
+pockennarbiges Mädchen, etwa dreißig Jahre alt, voll blauer Flecken mit
+geschwollener Lippe. Sie sprach und tadelte ruhig und ernst.
+
+»Wo habe ich,« dachte Raskolnikoff, während er weiterging, »wo habe ich
+es gelesen, wie ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor seinem Ende
+spricht oder denkt, daß wenn er irgendwo auf einer Höhe, auf einem
+Felsen und auf einem schmalen Streifen, wo er bloß seine zwei Füße
+hinsetzen könnte, leben sollte, -- umgeben von Abgründen, von Ozean, von
+ewiger Finsternis, ewiger Einsamkeit und ewigem Sturm, -- und so, auf
+diesem ellenbreiten Streifen stehend, sein ganzes Leben, tausend Jahre,
+eine Ewigkeit verbringen müßte, -- daß es besser sei so zu leben, als
+sofort zu sterben! Nur leben, leben, leben! Wie, ganz gleich! -- bloß
+leben! ... Wie wahr! Herrgott, wie wahr! Der Mensch ist ein Schuft! ...
+Und ein Schuft ist der, welcher ihn darum einen Schuft nennt,« fügte er
+nach einer Weile hinzu.
+
+Er kam auf eine andere Straße hinaus.
+
+»Ah! Das ist ja der Kristallpalast! Rasumichin sprach vorhin vom
+Kristallpalast! Ja, was wollte ich aber? Ah, ich wollte lesen! ...
+Sossimoff erzählte, daß er in den Zeitungen gelesen hätte ...«
+
+»Haben Sie Zeitungen?« fragte er, indem er in ein ziemlich geräumiges
+und sogar reinliches Restaurant mit mehreren jetzt ziemlich leeren
+Räumen eintrat. Zwei, drei Gäste tranken Tee und in einem der
+Hinterzimmer saßen etwa vier Menschen und tranken Champagner.
+Raskolnikoff glaubte unter ihnen Sametoff zu erkennen. Von weitem konnte
+man es nicht unterscheiden.
+
+»Und wenn auch!« dachte er.
+
+»Befehlen Sie Branntwein?« fragte der Kellner.
+
+»Bringe mir Tee. Und bringe mir Zeitungen, alte Zeitungen, so von den
+letzten fünf Tagen, ich gebe dir ein Trinkgeld dafür.«
+
+»Jawohl. Hier sind die heutigen. Befehlen Sie auch Branntwein?«
+
+Alte Zeitungen und der Tee erschienen. Raskolnikoff setzte sich hin und
+begann zu suchen: -- »Isler ... Isler ... Azteken ... Azteken ... Isler
+... Bartola ... Massimo ... Azteken ... Isler ... pfui, zum Teufel! ah,
+da ist die Lokalchronik ... von der Treppe herabgestürzt ... ein
+Kleinbürger gestorben an Alkoholvergiftung ... Feuersbrunst ...
+Feuersbrunst ... noch eine Feuersbrunst ... und noch eine Feuersbrunst
+... Isler ... Massimo ... Isler ... Isler ... Massimo ... Ah, da ist es
+...«
+
+Er hatte endlich gefunden, was er suchte und begann zu lesen; die Zeilen
+hüpften vor seinen Augen, trotzdem las er die ganze »Nachricht« zu Ende
+und begann voll Gier in den weiteren Nummern die Fortsetzung zu suchen.
+Seine Hände zitterten vor starker Ungeduld, indem er in den Zeitungen
+blätterte. Plötzlich setzte sich jemand neben ihn, an seinen Tisch. Er
+schaute hin -- es war Sametoff, derselbe Sametoff und mit demselben
+Äußern, mit Ringen, Uhrketten, mit einem Scheitel in seinen schwarzen
+gekräuselten und pomadisierten Haaren, in einer eleganten Weste, in
+einem etwas abgetragenen Rocke und nicht ganz reiner Wäsche. Er war
+lustig gestimmt, wenigstens lachte er sehr vergnügt und gutmütig. Sein
+gebräuntes Gesicht war vom genossenen Champagner ein wenig erhitzt.
+
+»Wie! Sie hier?« begann er mit Staunen und in einem Tone, als wäre er
+ein ewigalter Bekannter. »Mir erzählte gestern noch Rasumichin, daß Sie
+immer noch bewußtlos daliegen. Das ist merkwürdig! Wissen Sie, ich war
+bei Ihnen ...«
+
+Raskolnikoff hatte sich's gedacht, daß er zu ihm herankommen würde. Er
+legte die Zeitungen beiseite und wandte sich zu Sametoff. Auf seinen
+Lippen spielte ein hämisches Lächeln, aber in diesem Lächeln lag eine
+gereizte Ungeduld.
+
+»Ich weiß es, daß Sie da waren,« antwortete er, »ich habe es gehört. Sie
+haben meinen Strumpf gesucht ... Wissen Sie, Rasumichin ist ganz
+entzückt von Ihnen, er erzählte, daß Sie mit ihm bei Louisa Iwanowna
+waren, wissen Sie, wegen der Sie damals so angelegentlich dem Leutnant
+Pulver zuzwinkerten und er immer nicht begriff, erinnern Sie sich noch?
+Und es war doch nicht viel zu verstehen -- es war ja eine klare Sache
+... nicht?«
+
+»Was für ein Schwätzer er ist!«
+
+»Pulver?«
+
+»Nein, Ihr Freund Rasumichin ...«
+
+»Sie haben es gut, Herr Sametoff; zu den angenehmsten Orten zollfreien
+Eintritt! Wer hat Ihnen soeben Champagner spendiert?«
+
+»Wir haben ... ein wenig getrunken ... Und Sie sagen -- spendiert?!«
+
+»Ein wenig Honorar! Sie ziehen eben aus allem Nutzen!« Raskolnikoff
+lachte. »Hat nichts zu sagen, mein guter junger Mann, tut nichts!« fügte
+er hinzu und schlug Sametoff auf die Schulter. »Ich sage es nicht aus
+Bosheit, sondern >aus Freundschaft, im Scherze,< so wie der Arbeiter
+sagte, als er Dmitri schlug, wissen Sie, in der Sache der Alten ...«
+
+»Woher wissen Sie es?«
+
+»Ich weiß vielleicht mehr als Sie ...«
+
+»Wie komisch Sie sind ... Wahrscheinlich sind Sie noch sehr krank. Es
+war unvorsichtig von Ihnen auszugehen.«
+
+»Erscheine ich Ihnen komisch?«
+
+»Ja. Was lesen Sie da, Zeitungen?«
+
+»Ich lese Zeitungen.«
+
+»Es wird viel von Feuersbrünsten geschrieben.«
+
+»Nein, ich lese nicht über Feuersbrünste.« Hier blickte er Sametoff
+rätselhaft an; ein höhnisches Lächeln verzog wieder seine Lippen. »Nein,
+ich las nicht über Feuersbrünste,« fuhr er fort und zwinkerte Sametoff
+zu. »Gestehen Sie nur, lieber junger Mann, daß Sie furchtbar gern wissen
+möchten, was ich gelesen habe?«
+
+»Ich will es gar nicht wissen; ich habe bloß so gefragt. Darf man denn
+nicht fragen? Was haben Sie nur immer ...«
+
+»Hören Sie, Sie sind doch ein gebildeter, belesener Mensch?«
+
+»Ich habe die Sekunda eines Gymnasiums,« antwortete Sametoff mit Würde.
+
+»Die Sekunda! Ach, Sie kleiner Spatz! Mit einem Scheitel, mit Ringen --
+ein reicher Mann! Nein, welch ein lieber Junge!« Hier verfiel
+Raskolnikoff in ein nervöses Lachen und lachte Sametoff direkt ins
+Gesicht. Der fuhr zurück und war, wie es schien, nicht gekränkt, eher
+sehr verwundert.
+
+»Nein, wie komisch Sie sind!« wiederholte Sametoff ernsthaft. »Mir
+scheint, Sie phantasieren immer noch.«
+
+»Ich phantasiere? Das lügst du, mein Spätzchen! ... Also, ich bin
+komisch? Nun errege ich aber Ihre Neugier? Nicht wahr?«
+
+»Ja, Sie erregen meine Neugier.«
+
+»Soll ich Ihnen also sagen, was ich gelesen, was ich gesucht habe? Sehen
+Sie, wieviel Nummern ich mir bringen ließ. Erscheint das nicht
+verdächtig?«
+
+»Sagen Sie mir ...«
+
+»Sind Ihre Ohren gespitzt?«
+
+»Warum sollen sie gespitzt sein?«
+
+»Ich will es Ihnen nachher sagen, jetzt aber erkläre ich Ihnen, mein
+Lieber ... nein, besser, >ich gestehe< ... Nein, das ist auch nicht das
+richtige, >ich gebe es Ihnen zu Protokoll und Sie schreiben es,< so
+lautet's doch. Also, ich gebe zu Protokoll, daß ich gelesen, mich
+interessiert, gesucht habe ... nachgeforscht ...«
+
+Raskolnikoff kniff die Augen zusammen und wartete eine Weile.
+»Nachgeforscht habe, -- und bin auch darum hierher gekommen, -- betreffs
+der Ermordung der Alten, der Beamtenwitwe,« sagte er endlich, fast im
+Flüstertone, wobei er mit seinem Gesichte außerordentlich nahe dem
+Sametoffs kam.
+
+Sametoff sah ihn unverwandt an, ohne sich zu bewegen und ohne sein
+Gesicht zurückzuziehen. Am merkwürdigsten erschien es Sametoff nachher,
+daß das Schweigen wohl eine volle Minute gedauert hatte und daß sie
+solange einander anblickten.
+
+»Nun, was ist dabei, daß Sie darüber gelesen haben?« rief er plötzlich
+ungehalten und ungeduldig aus. »Was geht das mich an? Was ist denn
+dabei?«
+
+»Das ist dieselbe Alte,« fuhr Raskolnikoff fort, in demselben
+Flüstertone und ohne sich bei dem Ausrufe Sametoffs zu rühren, »es ist
+dieselbe, von der man, erinnern Sie sich, im Polizeibureau zu sprechen
+begann, wobei ich in Ohnmacht fiel. Merken Sie was?«
+
+»Ja, was denn? Was ... soll ich merken?« sagte Sametoff unruhig.
+
+Das unbewegliche und ernste Gesicht Raskolnikoffs veränderte sich
+plötzlich und wieder verfiel er in das nervöse Lachen von vorhin, als
+hätte er keine Macht darüber. Und auf einen Augenblick schwebte ihm
+außerordentlich klar und intensiv jener Moment vor Augen, als er mit dem
+Beil hinter der Türe stand, wie der Haken hüpfte, und wie die hinter der
+Tür schimpften und an der Türe rissen, und wie er plötzlich Lust bekam,
+ihnen zuzurufen, sie zu schimpfen, ihnen die Zunge zu zeigen, sie zu
+verhöhnen, zu lachen, laut zu lachen, lachen und lachen!
+
+»Sie sind entweder verrückt oder ...« sagte Sametoff -- und hielt inne,
+als hätte er über einem plötzlichen Gedanken die Sprache verloren.
+
+»Oder? Was -- >oder<? Was ist's? Sprechen Sie?«
+
+»Nichts!« antwortete Sametoff gereizt. »Es ist ja alles Unsinn!«
+
+Beide verstummten. Auf den Lachanfall wurde Raskolnikoff gleich wieder
+nachdenklich und düster. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und
+legte den Kopf in die Hand. Es schien, als hätte er die Gegenwart
+Sametoffs völlig vergessen. Das Schweigen dauerte ziemlich lange.
+
+»Warum trinken Sie Ihren Tee nicht? Er wird kalt,« sagte Sametoff.
+
+»Ah? Was? Tee? ... Meinetwegen ...« Raskolnikoff nahm einen Schluck aus
+dem Glase, steckte ein kleines Stück Brot in den Mund, blickte Sametoff
+an und schien sich auf einmal an alles zu erinnern. Sein Gesicht nahm im
+selben Augenblick den früheren höhnischen Ausdruck an. Er fuhr fort, Tee
+zu trinken.
+
+»Heutzutage passieren viele Gaunereien,« sagte Sametoff. »Ich las vor
+kurzem in den >Moskowskije Wedomosti<, daß man in Moskau eine Bande
+Falschmünzer festgenommen habe. Es war eine ganze Gesellschaft ... Sie
+fälschten Papiergeld.«
+
+»Oh, das ist schon lange her. Ich habe es vor einem Monat gelesen,«
+antwortete Raskolnikoff ruhig.
+
+»Also, das sind Ihrer Meinung nach Gauner!« fügte er lächelnd hinzu.
+
+»Warum nicht Gauner?«
+
+»Die? Das sind Grünspechte, aber keine Gauner! Ganze fünfzig Menschen
+vereinigen sich zu diesem Zwecke! Geht denn das an? Bei so einer Sache
+sind schon drei zu viel, da muß jeder dem andern mehr als sich selbst
+vertrauen. Es braucht bloß einer in Betrunkenheit mit anderen zu
+plappern, und alles ist verloren! Grünspechte waren es! Sie mieteten
+sich unzuverlässige Menschen, um das Geld in allerhand Banken umwechseln
+zu können, -- so eine Sache dem ersten besten anvertrauen! Nun gut,
+nehmen wir an, daß es ihnen geglückt wäre, jeder hat eine Million
+eingewechselt, nun, was weiter, das ganze Leben hindurch? Jeder ist von
+dem anderen sein Lebelang abhängig! Da ist es besser, sich gleich zu
+erhängen! Und sie verstanden nicht mal einzuwechseln, -- der eine geht
+in eine Bank zum wechseln, empfängt fünftausend und die Hände beginnen
+zu zittern. Viertausend zählt er nach, das fünfte Tausend aber nimmt er
+ohne nachzuzählen, auf gut Glauben, um es schneller in die Tasche
+stecken zu können und fortzulaufen. Er erregte Verdacht, und die ganze
+Sache ging in die Brüche bloß wegen eines einzigen Dummkopfes! Ja, ist
+das denkbar?«
+
+»Daß die Hände zitterten?« unterbrach Sametoff.
+
+»Das ist denkbar. Ich bin vollkommen überzeugt, daß es möglich ist.
+Manchmal kann man so etwas nicht standhalten.«
+
+»So etwas?«
+
+»Könnten Sie standhalten? Ich hielte es nicht aus! Für eine Bezahlung
+von hundert Rubel diese Angst auf sich nehmen! Nein! Mit einem
+gefälschten Papier hingehen -- und wohin noch -- in ein Bankhaus, wo sie
+so gewitzt sind, -- nein, ich hätte die Fassung verloren. Und Sie hätten
+nicht die Fassung verloren?«
+
+Raskolnikoff hatte plötzlich wieder große Lust, »die Zunge zu zeigen«.
+Ein Schüttelfrost packte ihn wieder.
+
+»Ich würde nicht so gehandelt haben,« begann er, weit ausholend. »Ich
+hätte so gewechselt, -- ich hätte das erste Tausend so gegen viermal von
+allen Seiten nachgezählt, jeden Schein betrachtet, und hätte mich dann
+an das zweite Tausend gemacht; ich hätte angefangen zu zählen, wäre bis
+zur Hälfte gekommen, hätte dann irgendeinen Schein von fünfzig Rubel
+hervorgeholt, und ihn gegen das Licht gehalten, dann ihn umgedreht und
+wieder gegen das Licht gehalten, -- ob er nicht gefälscht ist? Ich bin
+ängstlich -- hätte ich gesagt, -- eine Verwandte von mir hat auf diese
+Weise vor kurzem fünfundzwanzig Rubel eingebüßt, -- und hätte nun eine
+Geschichte zum Besten gegeben. Und wenn ich das dritte Tausend zu zählen
+angefangen hätte, -- würde ich sagen, -- erlauben Sie, ich habe, scheint
+mir, in dem zweiten Tausend das siebente Hundert nicht richtig
+nachgezählt, ich bin im Zweifel. -- Ich hätte das dritte Tausend zur
+Seite gelegt und wieder das zweite Tausend nachgezählt, -- und in dieser
+Weise hätte ich es mit allen fünf gemacht. Und wenn ich damit fertig
+gewesen wäre, hätte ich aus dem zweiten und aus dem fünften Tausend je
+einen Schein herausgenommen, gegen das Licht gehalten und voll Zweifel
+gebeten, ihn umzutauschen, -- und ich hätte den Angestellten zum
+Schwitzen gebracht, so daß er alles getan hätte, um mich endlich los zu
+werden. Und nach dem allen wäre ich schließlich zur Türe gegangen, hätte
+sie geöffnet -- und wäre wieder zurückgegangen, um unter Entschuldigung
+irgend etwas zu fragen oder mich über etwas zu erkundigen, -- sehen Sie,
+so hätte ich es gemacht!«
+
+»Oh, was für Schauergeschichten Sie erzählen!« sagte Sametoff lachend.
+»Das redet man so, bei der Ausführung aber würden Sie schon stolpern.
+Bei so einer Sache, sage ich Ihnen, kann nicht mal ein geübter,
+geriebener Mensch für sich einstehen, geschweige denn wir beide. Wozu so
+weit ausholen, -- da haben Sie ein Beispiel, in unserem Revier hat man
+eine alte Frau ermordet. Allem Anschein nach ein verwegener Bursche, am
+hellen lichten Tage hat er's gewagt, nur durch ein Wunder rettete er
+sich, -- die Hände aber haben doch versagt; er hat nicht verstanden zu
+stehlen, hat nicht standgehalten; man sieht es aus dem Tatbestande ...«
+
+Raskolnikoff schien sich gekränkt zu fühlen.
+
+»Man sieht es! So nehmen Sie ihn doch fest!« rief er höhnisch aus, um
+Sametoff zu reizen.
+
+»Man wird ihn schon kriegen.«
+
+»Wer? Sie? Sie wollen ihn kriegen? Das wird lange dauern! Sehen Sie, was
+ist denn bei Ihnen die Hauptsache, -- ob ein Mensch viel Geld ausgibt
+oder nicht? Hatte er vor kurzem keins, gibt jetzt plötzlich Geld aus, --
+so muß er das sein! In dieser Weise kann Sie jedes kleine Kind
+irreführen, wenn es will.«
+
+»Das ist es ja, daß sie alle so handeln,« antwortete Sametoff. »Erst
+morden sie mit Bedacht, riskieren ihr Leben und gehen dann fort ohne
+Beute in eine Schenke und werden dort festgenommen. Beim Geldausgeben
+werden sie festgenommen. Nicht alle sind so schlau wie Sie. Sie würden
+selbstverständlich in keine Schenke gehen!«
+
+Raskolnikoff zog die Augenbrauen zusammen und blickte Sametoff scharf
+an.
+
+»Sie haben, wie es scheint, Appetit bekommen und möchten wissen, wie ich
+auch in diesem Falle gehandelt hätte?« fragte er bitter.
+
+»Ich möchte es sehr gern wissen,« antwortete jener fest und bestimmt.
+Seine Stimme und sein Blick waren jetzt fast zu ernst geworden.
+
+»Sehr?«
+
+»Sehr.«
+
+»Gut. Ich hätte folgendermaßen gehandelt,« begann Raskolnikoff, indem er
+plötzlich sein Gesicht wieder dem Sametoffs näherte, ihn unverwandt
+anblickte und wieder im Flüstertone sprach, so daß jener diesmal
+zusammenzuckte. »Ich hätte folgendermaßen gehandelt, -- ich hätte das
+Geld und die Sachen an mich genommen und kaum entkommen, wäre ich sofort
+ohne Aufenthalt zu einem abgelegenen Platz gegangen, wo es nur Zäune
+gibt und wo es fast menschenleer ist, -- zu einem Gemüsegarten oder
+etwas ähnlichem. Ich hätte mir dort auf diesem Hofe schon früher
+irgendeinen Stein, ungefähr im Gewichte von zwanzig Kilo oder mehr
+ausgesucht, irgendwo in einer Ecke am Zaune einen Stein also, der,
+seitdem das Haus gebaut ist, dort liegt; ich hätte diesen Stein
+aufgehoben -- unter ihm muß es eine Vertiefung geben, -- und in diese
+Vertiefung hätte ich alle Sachen und das Geld hineingelegt. Dann hätte
+ich den Stein auf seinen alten Platz gerückt, die Erde ringsum mit dem
+Fuße ausgeglättet und wäre fortgegangen. Ja, und ich würde ein Jahr,
+zwei oder auch drei Jahre nichts angerührt haben, -- nun, sucht mal! Es
+war da und nun ist es weg.«
+
+»Sie sind verrückt!« sagte Sametoff auch fast im Flüstertone und rückte
+plötzlich von Raskolnikoff weg.
+
+Raskolnikoffs Augen funkelten; er war furchtbar bleich, seine Oberlippe
+zuckte und zitterte. Er beugte sich zu Sametoff noch näher hin und
+bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen; das währte eine halbe Minute;
+er wußte, was er tat, aber er konnte sich nicht mehr halten. Ein
+fürchterliches Wort, wie damals der Haken an der Türe, hüpfte auf seinen
+Lippen -- jeden Augenblick konnte es sich lösen, er brauchte es nur
+entschlüpfen zu lassen, nur auszusprechen!
+
+»Wie, wenn ich die Alte und Lisaweta ermordet hätte?« sagte er plötzlich
+und -- kam zu sich. Sametoff blickte ihn wild an und wurde so weiß wie
+das Tischtuch. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
+
+»Wie wäre das möglich?« sagte er kaum hörbar.
+
+Raskolnikoff blickte ihn zornig an.
+
+»Gestehen Sie, daß Sie es glaubten? -- Ja? Nicht wahr?«
+
+»Nein, nicht! Jetzt weniger als je!« sagte Sametoff hastig.
+
+»Nun haben Sie sich verraten! Das Spätzlein ist erwischt! Also haben Sie
+es früher geglaubt, wenn Sie es >jetzt weniger als je< glauben?«
+
+»Aber gar nicht!« rief Sametoff sichtlich betroffen. »Sie haben mich
+deshalb erschreckt, um mich dahin zu bringen?«
+
+»Also Sie glaubten es nicht? Worüber aber sprachen Sie damals, als ich
+aus dem Bureau fortging? Und warum verhörte mich der Leutnant Pulver
+nach meiner Ohnmacht? Hör mal, du!« rief er dem Kellner zu, stand auf
+und nahm seine Mütze. »Was habe ich zu zahlen?«
+
+»Dreißig Kopeken im ganzen!« antwortete der Kellner.
+
+»Da hast du noch zwanzig Kopeken als Trinkgeld. Sehen Sie, wieviel Geld
+ich habe,« er streckte Sametoff seine zitternde Hand mit Papiergeld hin,
+-- »rote und blaue Scheine, fünfundzwanzig Rubel sind es. Woher habe ich
+es? Und woher stammt die neue Kleidung? Sie wissen doch, daß keine
+Kopeke da war! Sie haben doch sicher meine Wirtin ausgefragt ... Nun,
+genug! _Assez causé!_{[2]} Auf Wiedersehen ... auf angenehmes
+Wiedersehen! ...«
+
+Er ging hinaus, am ganzen Körper von einer wilden, hysterischen
+Erregtheit zitternd, in die sich das Gefühl eines qualvollen Genusses
+mischte, -- sonst aber düster und todmüde. Sein Gesicht war verzerrt,
+wie nach einem Anfalle. Und seine Ermattung nahm rasch überhand. Seine
+Kräfte ließen sich spannen und zeigten sich beim ersten Anlaß, beim
+ersten Empfinden des Reizes und erschlafften ebenso schnell, in dem
+Maße, wie der Reiz nachließ.
+
+Nachdem Sametoff allein geblieben war, saß er noch lange sinnend auf
+demselben Platz. Raskolnikoff hatte seine Gedanken in diesem Punkte zum
+Umschlagen gebracht, und eine neue Auffassung hatte sich in ihm
+endgültig befestigt.
+
+»Ilja Petrowitsch ist ein Dummkopf!« sagte er endlich.
+
+Kaum hatte Raskolnikoff die Türe zur Straße geöffnet, als er plötzlich
+auf der Außentreppe mit dem eintretenden Rasumichin zusammenstieß. Sie
+hatten beide einander nicht gesehen, so daß sie fast mit den Köpfen
+zusammenstießen. Eine Weile maßen sie sich mit den Blicken. Rasumichin
+war höchst erstaunt, aber plötzlich flammte der Zorn, ein wirklicher
+Zorn, drohend in seinen Augen auf.
+
+»Also hier bist du!« schrie er aus vollem Halse. »Du bist dem Bette
+entsprungen! Und ich habe dich sogar unter dem Sofa gesucht! Wir sind
+auf dem Boden gewesen. Ich habe Nastasja deinetwegen beinahe verprügelt
+... Und nun bist du hier! Rodjka! Was soll das bedeuten? Sag die
+Wahrheit! Gestehe! Hörst du?«
+
+»Es bedeutet, daß ich euch alle ernstlich satt habe, und daß ich allein
+sein will,« antwortete Raskolnikoff ruhig.
+
+»Allein sein? Wo du nicht mal gehen kannst, wo deine Fratze noch bleich
+wie Leinwand ist, und wo du den Atem verlierst! Dummkopf! ... Was hast
+du im Kristallpalast gesucht? Gestehe es sofort!«
+
+»Laß mich!« sagte Raskolnikoff, und wollte an ihm vorbeigehen.
+
+Das brachte Rasumichin ganz außer sich, er packte ihn fest an der
+Schulter.
+
+»Laß mich? Du wagst zu sagen >Laß mich<? Weißt du auch, was ich mit dir
+gleich tun werde? Ich packe dich zu einem Bündel zusammen und bringe
+dich unterm Arm nach Hause und sperre dich ein!«
+
+»Höre, Rasumichin,« begann Raskolnikoff leise und scheinbar völlig
+ruhig. »Siehst du denn nicht, daß ich deine Wohltaten nicht wünsche? Und
+was ist es für ein Vergnügen, denen Wohltaten zu erweisen, die ...
+darauf pfeifen? Denen, schließlich, die sie in allem Ernste am wenigsten
+vertragen? Nun, sage mir, warum hast du mich beim Beginn meiner
+Krankheit aufgesucht? Ich wäre vielleicht glücklich gewesen zu sterben!
+Nun, habe ich dir heute nicht genügend gezeigt, daß du mich quälst, daß
+ich deiner ... überdrüssig geworden bin? Was für ein Vergnügen hast du
+daran, Menschen zu quälen! Ich versichere dir, daß dies alles meine
+Genesung ernstlich hindert, weil es mich ununterbrochen reizt. Sossimoff
+ging doch vorhin fort, um mich nicht zu reizen. Laß du mich um
+Gotteswillen auch in Ruhe! Und was für ein Recht hast du schließlich,
+mich mit Gewalt zurückzuhalten? Ja, siehst du denn nicht, daß ich jetzt
+bei vollem Verstande bin? Wie, wie -- sage mir -- soll ich dich
+schließlich bitten, daß du mich in Ruhe läßt und mir keine Wohltaten
+mehr erweisest? Mag ich undankbar sein, mag ich gemein sein, aber um
+Gotteswillen laßt mich, laßt mich alle in Ruhe. Laßt mich in Ruhe!«
+
+Er hatte ruhig begonnen und freute sich im voraus über das ganze Gift,
+das er sich auszuschütten anschickte, er schloß aber in Raserei und fast
+erstickend, wie vorhin bei Luschin.
+
+Rasumichin stand eine Weile da, dachte nach und ließ seine Hand los.
+
+»Scher dich zum Teufel!« sagte er leise und fast nachdenklich.
+
+»Halt!« brüllte er plötzlich, als Raskolnikoff fortgehen wollte. »Höre
+mich an. Ich erkläre dir, daß ihr alle ohne Ausnahme Großmäuler und
+aufgeblasene Kerls seid! Wenn ihr ein kleines Leid habt, lauft ihr wie
+ein Huhn mit einem Ei herum! Auch in diesem Falle stehlt ihr von
+anderen. Keine Spur von Selbständigkeit steckt in euch! Ihr seid aus
+Spermacetsalbe gemacht und anstatt Blut habt ihr Quark in den Adern!
+Keinem von euch glaube ich! Das erste, die Hauptsache bei euch in allen
+Dingen ist -- nur nicht einem Menschen ähnlich sein! War--te!« rief er
+mit verstärkter Wut, als er merkte, daß Raskolnikoff sich anschickte
+wegzugehen. »Höre mich zu Ende! Du weißt, heute kommen Leute zu mir, um
+die neue Wohnung einzuweihen, vielleicht sind sie schon da, ich habe den
+Onkel dortgelassen, -- ich war soeben zu Hause, -- die Gäste zu
+empfangen. Also, wenn du kein Dummkopf, kein flacher Dummkopf, kein Esel
+wärest, keine Übersetzung aus fremden Sprachen ... siehst du, Rodja, ich
+gestehe, du bist ein kluger Bursche, aber ein Dummkopf, -- also, wenn du
+kein Dummkopf wärest, würdest du heute besser den Abend bei mir
+verbringen, als unnütz die Stiefel abzulaufen. Du bist nun einmal
+ausgegangen, da ist weiter nichts mehr daran zu machen! Ich würde dir
+einen weichen Sessel hereinbringen, meine Wirtsleute haben einen ... Tee
+würde es geben, Gesellschaft ... Und wenn du den Sessel nicht wünschst,
+-- lege ich dich auf die Chaiselongue hin, -- aber du würdest dann doch
+unter uns liegen ... Auch Sossimoff kommt. Kommst du?«
+
+»Nein!«
+
+»Du lügst!« rief Rasumichin ungeduldig aus. »Warum weißt du es? Du
+kannst für dich nicht bestimmen! Und übrigens du verstehst davon nichts.
+Ich habe mich tausendmal ebenso mit Menschen verkracht und bin wieder
+zurückgegangen ... man schämt sich -- und kehrt zu dem Menschen zurück.
+Also, erinnere dich, Haus Potschinkoff, dritter Stock ...«
+
+»Auf diese Weise werden Sie, Herr Rasumichin, möglicherweise sich
+schlagen lassen, nur dem, der Sie schlägt, zu Gefallen?«
+
+»Was? Schlagen! Schon für den Gedanken drehte ich dem die Nase ab. Haus
+Potschinkoff, Nr. 47, in der Wohnung des Beamten Babuschkin ...«
+
+»Ich komme nicht, Rasumichin!« Raskolnikoff wandte sich um und ging
+fort.
+
+»Ich wette, daß du kommst!« rief ihm Rasumichin nach. »Sonst bist du ...
+sonst bist du ... sonst will ich nichts mehr von dir wissen! Warte! Ist
+Sametoff hier?«
+
+»Ja, er ist hier.«
+
+»Hast du ihn gesehen?«
+
+»Ich habe ihn gesehen.«
+
+»Hast du mit ihm gesprochen?«
+
+»Ich habe mit ihm gesprochen.«
+
+»Worüber? Nun, hol dich der Teufel, meinetwegen brauchst du es nicht zu
+sagen. Haus Potschinkoff, 47, Babuschkins Wohnung, vergiß nicht!«
+
+Raskolnikoff ging bis zur Ssadowaja und bog um die Ecke. Rasumichin
+blickte ihm sinnend nach. Endlich machte er eine abwehrende Bewegung mit
+der Hand und ging in das Haus hinein, aber auf der Mitte der Treppe
+blieb er stehen.
+
+»Teufel noch einmal!« fuhr er fast laut fort. »Er spricht vernünftig,
+und doch scheint's ... Ich bin auch ein Dummkopf. Sprechen denn
+Verrückte nicht vernünftig? Und Sossimoff hatte, ich glaube, davor
+Angst!« Er tippte mit dem Finger an seine Stirn. »Wenn aber ... wie kann
+man ihn jetzt allein gehen lassen? Er kann sich ertränken ... Ach, daran
+habe ich nicht gedacht! Man darf ihn nicht allein lassen!« und er lief
+zurück, um Raskolnikoff einzuholen, aber der war verschwunden. Er spie
+aus und eilte in den Kristallpalast zurück, um etwas von Sametoff zu
+erfahren.
+
+Raskolnikoff ging direkt auf die N.sche Brücke, blieb in der Mitte
+stehen, stützte beide Ellbogen auf das Geländer und begann in die Ferne
+zu schauen. Nachdem er von Rasumichin Abschied genommen hatte, war er so
+schwach geworden, daß er nur mit Mühe hierher gekommen war. Er wollte
+sich irgendwo hinsetzen oder hinlegen, und sei's auf die Straße. Über
+das Wasser gebeugt, blickte er mechanisch auf den letzten, rosigen
+Widerschein des Sonnenuntergangs, auf die Reihe Häuser, die in der
+hereinbrechenden Dämmerung dunkel hervortraten, auf das weit entfernte,
+kleine Fenster in irgendeiner Mansarde auf dem linken Quai, das wie im
+Flammenschein von dem letzten Sonnenstrahl getroffen, leuchtete; er
+blickte auf das dunkle Wasser des Kanals und schien dieses Wasser
+aufmerksam zu betrachten. Auf einmal zeigten sich vor seinen Augen rote
+Kreise, die Häuser drehten sich, die Vorübergehenden, die Ufer,
+Equipagen, -- alles drehte sich und tanzte. Er fuhr auf, vielleicht vor
+einem neuen Ohnmachtsanfall durch ein schauerliches, wildes und
+widerwärtiges Ereignis bewahrt. Er fühlte, wie jemand an seine rechte
+Seite trat; sah hin und bemerkte ein Weib, hochgewachsen, mit einem
+Tuche um den Kopf, mit einem gelben, länglichen, abgemagerten Gesichte
+und mit geröteten, eingefallenen Augen. Sie schaute auf ihn, aber
+offenbar sah sie ihn nicht und unterschied niemanden. Plötzlich stützte
+sie sich mit der rechten Hand auf das Geländer, hob das linke Bein und
+stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser spritzte hoch auf,
+verschlang auf einen Moment sein Opfer, aber nach einer Minute tauchte
+noch einmal die Selbstmörderin auf, und die Strömung nahm sie mit fort.
+Ihr Kopf und ihre Füße waren im Wasser, mit dem Rücken lag sie nach
+oben, ihr Rock war übergeschlagen und wie ein Kissen vom Wasser
+aufgeblasen.
+
+»Sie hat sich ertränkt! Sie hat sich ertränkt!« riefen ein Dutzend
+Stimmen; Menschen liefen zusammen, die beiden Ufer bedeckten sich mit
+Zuschauern, auf der Brücke, rings um Raskolnikoff, drängte sich das
+Volk, stieß ihn und preßte ihn von hinten.
+
+»Leute, das ist ja unsere Afrosinja!« schrie unweit eine weinerliche
+Frauenstimme. »Leute, rettet sie! Gute, liebe Leute, zieht sie heraus!«
+
+»Ein Boot! Ein Boot!« rief man in der Menge. Ein Boot war aber nicht
+mehr nötig; ein Schutzmann war die Stufen zu dem Kanal hinuntergelaufen,
+hatte seinen Mantel und seine Stiefel von sich geworfen und stürzte sich
+ins Wasser. Es war keine große Arbeit, -- die Unglückliche schwamm nur
+ein paar Schritte entfernt von der Treppe, er erfaßte mit der rechten
+Hand ihr Kleid und mit der linken gelang es ihm, die Stange, die ihm ein
+Kamerad entgegenhielt, zu ergreifen, und die Selbstmörderin wurde
+alsbald herausgezogen. Man legte sie auf die Granitfliesen der Treppe.
+Sie kam rasch zu sich, erhob sich, setzte sich hin, begann zu niesen und
+zu prusten und wischte mit den Händen mechanisch ihr nasses Kleid ab.
+Sie sprach nichts.
+
+»Sie hat sich bis zur Bewußtlosigkeit vollgesoffen, Leute,« heulte
+dieselbe Frauenstimme, jetzt schon neben der Afrosinja. »Vor kurzem
+wollte sie sich hängen, wir haben sie aus der Schlinge gezogen. Ich ging
+eben in einen Laden, hatte ein kleines Mädchen dagelassen, um auf sie
+aufzupassen, -- und da ist das Unglück geschehen! Sie ist eine
+Kleinbürgerin, wohnt hier nebenan, im zweiten Hause von hier, dort ...«
+
+Das Volk ging auseinander, die Schutzleute gaben sich noch mit der
+Lebensmüden ab, jemand rief etwas »vom Polizeibureau« ... Raskolnikoff
+sah allem mit einem seltsamen Gefühle von Gleichgültigkeit und
+Teilnahmslosigkeit zu. Ihm wurde übel.
+
+»Nein, es ist abscheulich ... das Wasser ... es lohnt sich nicht, hier
+zu bleiben,« murmelte er vor sich hin. »Nichts wird hier geschehen,«
+fügte er hinzu. »Es lohnt sich nicht, zu warten. Wie wär's mit dem
+Polizeibureau ... Warum aber ist Sametoff nicht im Bureau? Das Bureau
+ist doch in der zehnten Stunde offen ...«
+
+Er wandte dem Geländer den Rücken und blickte um sich.
+
+»Nun, was ist dabei! Auch so gut!« sagte er entschlossen, ging über die
+Brücke und schlug die Richtung nach dem Polizeibureau ein. Sein Herz war
+leer und öde. Denken wollte er nicht. Auch seine schwermütige Stimmung
+war verschwunden, von der früheren Energie, als er seine Wohnung
+verließ, um allem ein Ende zu machen, war keine Spur mehr vorhanden.
+Eine völlige Apathie war an ihre Stelle getreten.
+
+»Es gibt doch einen Ausweg!« dachte er, indem er langsam und träge längs
+des Kanalufers ging. »Ich werde ein Ende machen, weil ich will ... Ist
+es aber ein Ausweg? Ach, einerlei! Einen drei Ellen langen Raum wird es
+doch noch geben ... he! Aber was ist das für ein Ende! Und soll es
+wirklich das Ende sein? Werde ich es ihnen sagen oder nicht? Ah ... zum
+Teufel! Ich bin auch müde, könnte ich mich doch irgendwo bald hinlegen
+oder hinsetzen! Am meisten schäme ich mich, daß es so dumm ist. Aber
+auch darauf pfeife ich! Was für Dummheiten einem in den Sinn kommen ...«
+
+Um in das Polizeibureau zu gelangen, mußte man geradeaus gehen und bei
+der zweiten Biegung links einschwenken, -- es war nur zwei Schritte
+entfernt. Als er die erste Biegung erreicht hatte, blieb er stehen,
+dachte nach, bog in eine Seitengasse ein und ging durch zwei Straßen auf
+einem Umwege dorthin, -- vielleicht ohne jedes Ziel, vielleicht aber um
+es noch eine Minute hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und sah
+zur Erde. Plötzlich schien ihm jemand etwas ins Ohr geflüstert zu haben.
+Er erhob den Kopf und sah, daß er an _dem_ Hause, direkt am Toreingange
+stehe. Seit _jenem_ Abend war er hier nicht mehr gewesen und auch nicht
+vorübergegangen.
+
+Ein unbezähmbares und unerklärliches Verlangen zog ihn. Er ging in das
+Haus hinein, durchschritt das Tor, bog in den ersten Eingang rechts ein
+und begann die bekannte Treppe in das vierte Stockwerk hinaufzusteigen.
+Es war sehr dunkel auf der engen und steilen Treppe. Er blieb auf jedem
+Absatz stehen und sah sich neugierig um. Auf dem Absatze des ersten
+Stockes war ein Fensterrahmen herausgenommen. »Das war damals nicht
+gewesen,« dachte er. Da ist auch die Wohnung im zweiten Stock, wo
+Nikolai und Dmitri gearbeitet haben. »Sie ist verschlossen. Und die Türe
+ist neu bemalt, also wird sie vermietet sein.«
+
+»Und da ist auch der dritte Stock ... und der vierte ...
+
+Hier war es!«
+
+Ein Zweifel packte ihn. Die Türe zu dieser Wohnung war sperrweit
+geöffnet, es waren Menschen drin, man hörte Stimmen. Dies hatte er
+keineswegs erwartet. -- Nachdem er eine Weile unschlüssig dagestanden
+hatte, stieg er die letzten Stufen hinauf und trat in die Wohnung ein.
+
+Sie wurde auch neu hergerichtet; es waren Arbeiter da, dies schien ihn
+zu verwundern. Er glaubte aus irgendeinem Grunde alles ebenso
+anzutreffen, wie er es damals verlassen hatte, vielleicht sogar die
+Leichen an denselben Stellen auf der Diele. Jetzt aber fand er kahle
+Wände, keine Möbel, -- es war so eigentümlich! Er ging zum Fenster und
+setzte sich auf das Fensterbrett.
+
+Es waren nur zwei Arbeiter da, beide junge Burschen, der eine schien
+bedeutend jünger zu sein als der andere. Sie beklebten die Wände mit
+neuen Tapeten, weiß mit lila Blümchen, an Stelle der früheren gelben,
+die zerrissen und schmutzig waren. Raskolnikoff gefiel dies ganz und gar
+nicht; er blickte diese neuen Tapeten feindselig an, als täte es ihm
+leid, daß man alles so verändert habe.
+
+Die Arbeiter schienen sich verspätet zu haben. Sie rollten schnell das
+Papier zusammen und schickten sich an, nach Hause zu gehen.
+Raskolnikoffs Erscheinen hatten sie fast nicht beachtet. Sie
+unterhielten sich und Raskolnikoff kreuzte die Arme und begann
+zuzuhören.
+
+»Sie kam also am Morgen zu mir,« sagte der ältere, »ganz früh schon,
+schön geputzt. Warum hast du dich denn so fein gemacht -- sagte ich --
+warum hast du dich denn so geputzt?« »Ich will -- sagt sie -- nun völlig
+zu Ihren Diensten stehn.« »Siehst du, so war es. Und wie fein geputzt
+sie war, -- wie aus einem Journal, wie aus einem Mode-Journal!«
+
+»Was ist ein Journal, Onkelchen?« fragte der jüngere. Er schien offenbar
+bei dem »Onkelchen« in die Schule zu gehen.
+
+»Ein Journal ist, ja weißt du, solche bemalte Bilder, und sie kommen
+jeden Sonnabend per Post aus dem Auslande hierher, zu den hiesigen
+Schneidern, damit man weiß, wie sich jeder -- ein Mann oder eine Frau,
+-- kleiden soll. So eine Zeichnung also. Die Männer werden meistens in
+langen Röcken gemalt und für die Frauen gibt es feine Sachen, daß man
+Mund und Augen aufsperren muß.«
+
+»Was man nicht alles in diesem Petersburg hat!« rief der jüngere
+begeistert aus. »Außer Vater und Mutter kann man doch alles haben.«
+
+»Ja, außer diesen gibt es hier alles,« sagte in belehrendem Tone der
+Ältere.
+
+Raskolnikoff stand auf und ging in das andere Zimmer, wo früher die
+Truhe, das Bett und die Kommode der Alten gestanden hatten; das Zimmer
+erschien ihm ohne Möbel furchtbar klein. Die Tapeten waren dieselben; in
+der Ecke konnte man deutlich an der Tapete sehen, wo der Heiligenschrank
+mit den Heiligenbildern gestanden hatte. Er blickte sich um und kehrte
+zu seinem früheren Platz am Fenster zurück. Der ältere Arbeiter blickte
+ihn von der Seite an.
+
+»Was wünschen Sie?« fragte er, sich plötzlich an ihn wendend.
+
+Anstatt zu antworten, stand Raskolnikoff auf, ging in das Vorzimmer,
+ergriff die Klingel und zog daran. Dieselbe Klingel, derselbe blecherne
+Ton! Er zog zum zweiten und zum dritten Male; er lauschte und entsann
+sich. Das frühere, qualvoll schreckliche, abscheuliche Gefühl begann
+immer deutlicher und lebendiger in seiner Erinnerung aufzuwachen, er
+zuckte bei jedem Tone zusammen, ihm wurde dabei immer wohler und wohler.
+
+»Was willst du denn? Wer bist du?« rief der Arbeiter, indem er zu ihm
+hinausging. Raskolnikoff war wieder durch die Türe eingetreten.
+
+»Ich will die Wohnung mieten,« sagte er, »und sehe sie mir an.«
+
+»In der Nacht mietet man keine Wohnung, und außerdem müssen Sie mit dem
+Hausknecht kommen.«
+
+»Ist die Diele gewaschen, wird man sie streichen?« fuhr Raskolnikoff
+fort. »Blut ist nicht da?«
+
+»Was für Blut?«
+
+»Man hat doch die Alte und ihre Schwester ermordet. Hier war eine ganze
+Pfütze.«
+
+»Ja, was bist du für ein Mensch?« rief der Arbeiter unruhig.
+
+»Ich?«
+
+»Ja.«
+
+»Möchtest du es wissen? ... Komm in das Polizeibureau, dort will ich es
+dir sagen.«
+
+Die Arbeiter sahen ihn starr an.
+
+»Wir müssen fortgehen, haben uns verspätet. Komm, Aljoschka. Wir müssen
+nun abschließen,« sagte der ältere Arbeiter.
+
+»So wollen wir gehen!« antwortete Raskolnikoff gleichgültig, ging zuerst
+hinaus und stieg langsam die Treppe hinab. »He, Hausknecht!« rief er,
+als er im Tore war. Einige Menschen standen am Eingange von der Straße
+und sahen sich die Vorübergehenden an; es waren die beiden Hausknechte,
+ein Weib, ein Kleinbürger im Schlafrocke und noch jemand. Raskolnikoff
+ging auf sie zu.
+
+»Was wünschen Sie?« sagte der eine Hausknecht.
+
+»Bist du im Polizeibureau gewesen?«
+
+»Ich war soeben dort. Was wünschen Sie?«
+
+»Sind die Beamten dort?«
+
+»Ja, sie sind da.«
+
+»Ist auch der Gehilfe des Aufsehers da?«
+
+»Er war da. Was wünschen Sie?«
+
+Raskolnikoff antwortete nicht und blieb neben ihm, in Nachdenken
+versunken, stehen.
+
+»Er kam sich die Wohnung anzusehen,« sagte der herantretende ältere
+Arbeiter.
+
+»Welche Wohnung?«
+
+»Wo wir arbeiten. >Warum ist das Blut abgewaschen<, fragte er. >Hier ist
+doch ein Mord geschehen und ich möchte nun die Wohnung mieten.< Und an
+der Klingel hat er gerissen, beinahe hätte er sie abgerissen. Wir
+wollen, sagt er, auf das Polizeibureau gehen, dort will ich alles
+erklären. Wir konnten gar nicht von ihm loskommen.«
+
+Der Hausknecht betrachtete mißtrauisch und finster Raskolnikoff.
+
+»Wer sind Sie eigentlich?« rief er barsch.
+
+»Ich heiße Rodion Romanytsch Raskolnikoff, bin ehemaliger Student, und
+wohne im Hause Schill, hier in der Seitengasse, nicht weit von hier, in
+Wohnung Nr. 14. Frage den Hausknecht ... er kennt mich.«
+
+Raskolnikoff sagte dies träge und nachdenklich, ohne sich umzuwenden,
+und blickte dabei stier auf die dunkel gewordene Straße.
+
+»Ja, warum sind Sie in die Wohnung gegangen?«
+
+»Um sie zu sehen.«
+
+»Was ist dort zu sehen?«
+
+»Nehmt ihn doch und bringt ihn auf das Polizeibureau!« warf der
+Kleinbürger ein und verstummte wieder.
+
+Raskolnikoff blickte ihn über die Schulter aufmerksam an und sagte
+ebenso leise und träge:
+
+»Wollen wir hingehen.«
+
+»Bringt ihn doch hin!« wiederholte der Kleinbürger, der wieder Mut
+gefaßt hatte. »Warum hat er _danach_ gefragt, was hat er im Sinn?«
+
+»Betrunken scheint er nicht zu sein, weiß Gott, was er ist,« murmelte
+der Arbeiter.
+
+»Ja, was wollen Sie denn?« rief von neuem der Hausknecht, der ernstlich
+böse wurde. »Was suchst du hier?«
+
+»Dir ist Angst, mit aufs Polizeibureau zu gehen!« sagte Raskolnikoff
+höhnisch.
+
+»Mir Angst? Was suchst du hier?«
+
+»Spitzbube!« rief das Weib.
+
+»Was _ist_ da viel zu reden,« rief der andere Hausknecht, ein sehr
+großer Bauer, in einem offenen langen Mantel und mit Schlüsseln am
+Gürtel. »Pack dich! ... Ist wahrhaftig ein Spitzbube ... Pack dich!«
+
+Und er nahm Raskolnikoff an der Schulter und stieß ihn auf die Straße.
+
+Dieser wäre beinahe gefallen, fing sich jedoch noch, reckte sich, sah
+schweigend alle Zuschauer an und ging weiter.
+
+»Närrischer Mensch,« sagte der Arbeiter.
+
+»Närrische Leute gibt es heutzutage viele,« meinte das Weib.
+
+»Besser wäre es doch, ihn aufs Polizeibureau zu bringen,« fügte der
+Kleinbürger hinzu.
+
+»Es lohnt sich nicht, mit so einem anzubinden,« sagte der große
+Hausknecht. »Man sieht doch, daß er ein Spitzbube ist! Er will es ja
+selbst, und wenn man ihm den Willen tut, wird man ihn nicht los ... Wir
+kennen das.«
+
+»Also soll ich hingehen oder nicht?« dachte Raskolnikoff, indem er
+mitten auf der Straße an einer Kreuzung stehen blieb und sich umsah, als
+erwarte er von jemand das entscheidende Wort. Aber von keiner Seite kam
+es; alles war still und tot, wie die Steine, über die er ging, für ihn
+war alles tot, für ihn allein ... Da, zweihundert Schritt vor ihm,
+unterschied er am Ende der Straße in der Dunkelheit eine Menschenmenge,
+hörte Stimmen, Geschrei ... Mitten im Gewühl stand eine Equipage ... Ein
+Licht schimmerte in der Straße. »Was ist da geschehen?« Raskolnikoff
+wandte sich nach rechts und ging auf die Menge zu. Er schien sich an
+alles anzuklammern, und lächelte kalt, als er es inne ward, denn er war
+schon fest entschlossen, auf das Polizeibureau zu gehen und glaubte
+sicher, daß alles sogleich ein Ende haben würde.
+
+
+ VII.
+
+Mitten in der Straße stand eine elegante herrschaftliche Equipage mit
+zwei feurigen grauen Pferden. In der Equipage saß niemand, der Kutscher
+war vom Bock gestiegen und stand daneben; die Pferde hielt man am Zügel.
+Ringsherum drängten sich die Menschen, ganz vorne standen Polizisten.
+Einer von ihnen hielt eine kleine brennende Laterne in der Hand, mit der
+er, sich bückend, etwas auf der Straße dicht bei den Rädern der Equipage
+beleuchtete. Alle redeten, schrien und stießen Ah!-Rufe aus; der
+Kutscher schien bestürzt zu sein und rief mehrmals:
+
+»Welch ein Unglück! Herrgott, welch ein Unglück!«
+
+Raskolnikoff drängte sich nach Möglichkeit nach vorne und erblickte
+endlich die Ursache dieses Zusammenlaufs und der Neugierde. Auf dem
+Boden lag ein von den Pferden getretener Mann, ohne Besinnung,
+anscheinend schlecht gekleidet, ganz mit Blut bedeckt. Das Blut floß ihm
+vom Gesicht und Kopf; sein Gesicht war vollkommen zerschlagen, zerrissen
+und verstümmelt. Man sah, daß er schwer verwundet war.
+
+»Liebe Leute!« klagte der Kutscher. »Habe ich Schuld daran? Ja, wenn ich
+die Pferde gejagt oder ihm nicht zugerufen hätte, ich fuhr aber langsam,
+gleichmäßig. Alle haben es gesehen und können es bezeugen ... Ich sah
+ihn, wie er über die Straße ging, hin und her wankte, beinahe hinfiel,
+-- ich rief ihm einmal zu, noch einmal und zum drittenmal, hielt die
+Pferde zurück, aber er fiel direkt unter ihre Hufe! Hat er es
+absichtlich getan oder war er zu stark angetrunken ... Die Pferde sind
+jung und ängstlich, -- sie zogen an und wurden wild, als er aufschrie
+... und das Unglück war geschehen.«
+
+»Es ist so, wie er sagt!« rief ein Augenzeuge.
+
+»Er hat ihm zugerufen, das ist wahr, dreimal hat er gerufen,« sagte eine
+andere Stimme.
+
+»Genau dreimal hat er gerufen, wir haben es alle gehört,« rief ein
+dritter.
+
+Der Kutscher war übrigens nicht allzu sehr niedergeschlagen und
+erschrocken. Man konnte sehen, daß die Equipage einem reichen und
+angesehenen Herrn gehöre, der irgendwo abgeholt werden sollte; die
+Polizisten gaben sich deshalb nicht Mühe, diesen letzten Umstand zu
+berücksichtigen. Den Überfahrenen wollte man auf das Polizeibureau und
+ins Krankenhaus schaffen. Niemand kannte ja seinen Namen.
+
+Unterdessen hatte sich Raskolnikoff nach vorn gedrängt und beugte sich
+über ihn. Plötzlich beleuchtete die Laterne hell das Gesicht des
+Unglücklichen, -- er erkannte ihn.
+
+»Ich kenne ihn, kenne ihn!« rief er aus und drängte sich ganz nach
+vorne. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, Titularrat Marmeladoff! Er
+wohnt hier, nebenan, im Hause Kosel ... Holt schnell einen Arzt! Ich
+will bezahlen, hier ist Geld!«
+
+Er zog aus der Tasche sein Geld hervor und zeigte es einem Schutzmann.
+Er war in merkwürdiger Aufregung.
+
+Die Polizeibeamten waren sehr zufrieden, daß sie erfahren hatten, wer
+der Überfahrene sei. Raskolnikoff nannte auch seinen Namen, gab seine
+Wohnung an und bat inständig, als gelte es seinem leiblichen Vater, den
+besinnungslosen Marmeladoff schnell in dessen Wohnung zu schaffen.
+
+»Er wohnt hier, drei Häuser weit,« sagte er, »im Hause Kosel, eines
+reichen Deutschen ... Er ging wahrscheinlich betrunken nach Hause. --
+Ich kenne ihn ... Er ist ein Trinker ... Er hat Familie, Frau und Kinder
+und noch eine Tochter. Ihn ins Krankenhaus zu schleppen, dauert zu
+lange, hier im Hause aber ist sicher ein Arzt. Ich bezahle, bezahle
+alles! ... Er wird doch Pflege bei den Seinigen finden, man wird ihm
+sofort helfen, auf dem Wege zum Krankenhause aber kann er sterben ...«
+Er hatte sogar Zeit gefunden, etwas dem Schutzmanne unbemerkt in die
+Hand zu drücken; übrigens war die Sachlage gesetzlich klar und
+jedenfalls war Hilfe hier näher. Man hob den Verunglückten auf und trug
+ihn; es fanden sich bereitwillige Hände. Das Haus Kosel war nur dreißig
+Schritte entfernt. Raskolnikoff ging hinterher, stützte vorsichtig den
+Kopf des Verletzten und wies den Weg. »Hierher, hierher! Die Treppe
+hinauf muß man ihn mit dem Kopfe voran tragen; dreht euch um ... so
+ist's gut! Ich will's bezahlen, ich will's euch danken!« murmelte er.
+
+Katerina Iwanowna spazierte, wie immer, wenn sie einen freien Augenblick
+hatte, in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, vom Fenster bis zum Ofen und
+zurück, wobei sie die Hände über der kranken Brust gekreuzt hatte und
+mit sich selbst redete. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, öfter
+und mehr mit dem älteren Mädchen, der zehnjährigen Poljenka, zu
+sprechen, die vieles noch nicht begriff, dafür aber sehr gut verstanden
+hatte, daß die Mutter sie brauchte, und die darum ihr stets mit ihren
+großen, klugen Augen folgte und sich mit aller Kraft den Anschein gab,
+als verstehe sie alles. Jetzt zog Poljenka gerade ihren kleinen Bruder
+aus, der sich den ganzen Tag nicht wohl gefühlt hatte, um ihn schlafen
+zu legen. Der Knabe wartete darauf, daß man ihm das Hemdchen wechselte,
+das in der Nacht noch gewaschen werden mußte, und saß auf einem Stuhl
+schweigend, mit ernstem Gesichte, kerzengerade und unbeweglich, mit nach
+vorn gestreckten Füßen. Er horchte auf das, was die Mutter mit der
+Schwester sprach, mit offenem Munde, seine kleinen Augen schauten starr,
+er rührte sich nicht, alles so, wie gewöhnlich brave Kinder dasitzen
+müssen, wenn sie ausgekleidet werden, um schlafen zu gehen. Das jüngste
+Mädchen, in Lumpen gehüllt, stand bei dem Bettschirm und wartete, bis
+sie an die Reihe kam. Die Türe nach der Treppe zu war offen, wegen der
+Tabakswolken, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die die arme
+Schwindsüchtige alle Augenblicke zwangen, lange und qualvoll zu husten.
+Katerina Iwanowna schien in diesen acht Tagen noch magerer geworden zu
+sein, und die roten Flecken auf ihren Wangen brannten noch greller als
+früher.
+
+»Du kannst nicht glauben, du kannst es dir nicht vorstellen, Poljenka,«
+sagte sie, indem sie auf und ab ging, »wie lustig und prachtvoll wir im
+Hause meines Papas lebten, und wie dieser Trinker mich zugrunde
+gerichtet hat und euch alle zugrunde richten wird! Mein Papa war Oberst
+im Zivildienst und beinahe schon Gouverneur; er war ganz nahe daran, so
+daß alle zu ihm kamen und sagten: >Wir sehen Sie, Iwan Michailytsch,
+schon als unseren Gouverneur an.< Als ich ... khe! ... als ich ... khe
+... khe--khe ... oh, verfluchtes Leben!« rief sie aus, als sie
+ausgehustet hatte, und griff nach der Brust. »Als ich ... ach, auf dem
+letzten Balle ... bei dem Adelsmarschall ... mich die Fürstin
+Bessemeljanja erblickte, -- die mir späterhin den Segen gab, als ich
+deinen Papa heiratete, Polja, -- frug sie mich sofort: >Sind Sie nicht
+das liebe Mädchen, das mit dem Shawl beim Schlußexamen getanzt hatte?<
+... (Das Loch muß man zunähen, nimm eine Nadel und stopfe es sofort,
+sonst ... khe ... khe ... zerreißt es ... khe--khe--khe ... mor--gen
+noch mehr! rief sie fast erstickend aus.) ... Damals war aus Petersburg
+soeben der Kammerjunker Fürst Tschegolski angekommen ... er tanzte mit
+mir Mazurka und wollte am anderen Tage kommen, mir einen Antrag zu
+machen, aber ich dankte ihm in der schmeichelhaftesten Weise und sagte,
+daß mein Herz längst einem anderen gehöre. Dieser andere war dein Vater,
+Polja. Mein Papa war furchtbar böse ... Ist das Wasser fertig? Nun, gib
+das Hemd ... wo sind die Strümpfe? ... Lida,« wandte sie sich an die
+jüngste Tochter, »schlaf diese Nacht einmal ohne Hemd ... und lege die
+Strümpfe nebenan hin ... Ich will gleich mitwaschen ... Warum kommt der
+Lump nicht, der Trinker! Er trägt sein Hemd schon lange, es ist wie ein
+schmutziger Lappen, hat es auch zerrissen ... Ich würde es jetzt
+waschen, um mich nicht zwei Nächte nacheinander zu quälen! Herr Gott!
+Khe--khe--khe--khe! Schon wieder! Was ist das?« rief sie aus, als sie
+die Menge auf der Treppe erblickte, und ein paar Männer, die etwas in
+ihr Zimmer hineintrugen. »Was ist das? Was bringen sie da? Oh, Gott!«
+
+»Wo soll man ihn hinlegen?« fragte ein Schutzmann und sah sich um,
+nachdem man den blutbedeckten und besinnungslosen Marmeladoff in das
+Zimmer hineingebracht hatte.
+
+»Auf das Sofa! Legen Sie ihn auf das Sofa, mit dem Kopfe hierher!«
+zeigte Raskolnikoff.
+
+»Er ist überfahren worden, auf der Straße! Er war betrunken!« rief
+jemand von der Treppe aus.
+
+Katerina Iwanowna stand bleich und atmete schwer. Die Kinder waren
+erschrocken. Die kleine Lida schrie auf, stürzte zu Poljenka hin,
+umfaßte sie und erzitterte am ganzen Körper.
+
+Nachdem Marmeladoff gebettet war, eilte Raskolnikoff zu Katerina
+Iwanowna hin.
+
+»Beruhigen Sie sich, um Gotteswillen, erschrecken Sie nicht!« sagte er
+hastig. »Er ging über die Straße, eine Equipage hat ihn überfahren,
+beruhigen Sie sich, er wird zu sich kommen, ich habe angeordnet, daß man
+ihn hierher bringe ... ich war schon bei Ihnen, erinnern Sie sich ... Er
+wird zu sich kommen, ich will bezahlen!«
+
+»So weit hat er's gebracht!« schrie Katerina Iwanowna verzweifelt auf
+und stürzte zu ihrem Manne.
+
+Raskolnikoff merkte bald, daß diese Frau keine von denen war, die sofort
+in Ohnmacht fallen. Im Nu ward unter den Kopf des Unglücklichen ein
+Kissen geschoben, an das niemand gedacht hatte; Katerina Iwanowna begann
+ihn zu entkleiden, besah ihn, war die ganze Zeit um ihn und verlor nicht
+die Fassung; sie hatte ihr eigenes Leid vergessen, biß die zitternden
+Lippen zusammen und unterdrückte den Schrei, der sich ihrer Brust
+entringen wollte.
+
+Raskolnikoff hatte indessen jemand veranlaßt, einen Arzt zu holen. Wie
+es sich zeigte, wohnte im Nebenhause ein Arzt.
+
+»Ich habe nach einem Arzt geschickt,« sagte er zu Katerina Iwanowna,
+»beunruhigen Sie sich nicht, ich will bezahlen. Haben Sie Wasser? ...
+Geben Sie mir auch eine Serviette oder ein Handtuch, irgend etwas,
+schnell; man kann noch nicht sehen, wie stark er verletzt ist ... Er ist
+nur verletzt und nicht tot, seien Sie überzeugt. -- Wir wollen sehen,
+was der Arzt sagt!«
+
+Katerina Iwanowna rannte zum Fenster; dort stand in der Ecke auf einem
+durchgesessenen Stuhl eine große tönerne Schüssel mit Wasser, zum
+Waschen der Kinderwäsche und der Wäsche des Mannes. Diese nächtliche
+Wäsche vollzog Katerina Iwanowna selbst, wenigstens zweimal in der
+Woche, zuweilen auch öfters, denn sie waren so heruntergekommen, daß sie
+fast gar keine Wäsche zum Wechseln besaßen und daß jedes Mitglied der
+Familie nur hatte, was es auf dem Leibe trug; Katerina Iwanowna aber
+konnte Unreinlichkeit nicht vertragen und lieber quälte sie sich in der
+Nacht und über ihre Kraft, um bis zum Morgen die nasse Wäsche trocknen
+und ihnen reine Wäsche geben zu können, als Schmutz im Hause zu dulden.
+Sie ergriff die Schüssel, um sie Raskolnikoff hinzubringen, wäre aber
+fast damit hingefallen. Raskolnikoff hatte schon ein Handtuch gefunden,
+angefeuchtet und begann das mit Blut bedeckte Gesicht Marmeladoffs
+abzuwaschen. Katerina Iwanowna stand neben ihm, atmete schwer und hielt
+die Hände auf die Brust gepreßt. Sie brauchte selbst Hilfe. Raskolnikoff
+fing an, zu begreifen, daß er vielleicht töricht daran getan hatte, den
+Überfahrenen hierher schaffen zu lassen. Der Schutzmann stand noch
+unschlüssig da.
+
+»Polja!« rief Katerina Iwanowna, »laufe zu Ssonja, schnell. Wenn du sie
+nicht zu Hause triffst, sag, sag dort jedenfalls, daß Vater überfahren
+sei und daß sie sofort herkommen soll ... wenn sie nach Hause kommt.
+Schnell, Polja! Da hast du ein Tuch, bedecke dich!«
+
+»Lauf, was du kannst!« rief plötzlich der Kleine von seinem Stuhle, dann
+fiel er wieder in sein früheres Schweigen zurück und saß auf dem Stuhle
+kerzengerade, mit starren Augen und mit vorgestreckten Füßchen.
+
+Indessen füllte sich das Zimmer so an, daß man sich kaum rühren konnte.
+Die Polizeibeamten waren, außer einem, fortgegangen, der blieb eine
+Weile da und bemühte sich, die Zuschauer, die von der Treppe
+hereingedrungen waren, wieder hinauszutreiben. Aus den anderen Zimmern
+dagegen waren fast alle Mieter der Frau Lippewechsel erschienen, zuerst
+drängten sie sich nur an der Türe, dann aber überfluteten sie in einem
+Haufen das ganze Zimmer. Katerina Iwanowna geriet in Zorn.
+
+»Laßt ihn doch wenigstens ruhig sterben!« schrie sie die Menge an.
+»Meint ihr, hier wird eine Vorstellung gegeben? Mit Zigaretten im Munde
+kommen sie her! Khe--khe--khe! Setzt doch noch die Hüte auf den Kopf!
+... Da ist ja auch einer im Hute ... Hinaus mit euch! Habt doch
+wenigstens vor einem Sterbenden Achtung!«
+
+Der Husten erstickte sie fast, aber ihr Appell half. Man hatte offenbar
+vor Katerina Iwanowna Respekt; die Mieter zogen sich, einer nach dem
+anderen, zurück zu der Türe, mit dem eigentümlichen Gefühle der
+Befriedigung, das sich stets, sogar bei den Allernächsten, bemerklich
+macht, wenn einen ihrer Nebenmenschen ein Unglück trifft. Von diesem
+Gefühle ist kein Mensch, ohne jede Ausnahme, frei, mag er noch so
+aufrichtiges Mitleid und Teilnahme hegen.
+
+Hinter der Türe wurden Stimmen laut, die vom Krankenhaus sprachen und
+meinten, es gehöre sich nicht, hier unnütze Aufregung hervorzurufen.
+
+»Es gehört sich nicht, zu sterben!« rief Katerina Iwanowna und stürzte
+zur Türe hin, um sie zu öffnen und ihrem Zorne Luft zu machen, aber bei
+der Türe stieß sie mit Frau Lippewechsel zusammen, die soeben von dem
+Unglücke vernommen hatte und gelaufen kam, um Ordnung zu schaffen. Sie
+war eine außerordentlich alberne und fahrige Deutsche.
+
+»Ach mein Gott!« schlug sie die Hände zusammen. »Ihr Mann ist betrunken
+unter die Pferde geraten. Er muß ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!«
+
+»Amalie Ludwigowna! Ich bitte Sie, sich zu überlegen, was Sie sagen,«
+begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie stets im
+hochmütigen Tone, damit die »ihre Stellung nicht vergesse,« und konnte
+sich auch jetzt dieses Vergnügen nicht versagen), »Amalie Ludwigowna
+...«
+
+»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie mich nicht Amalie
+Ludwigowna nennen sollen, ich heiße Amalie Iwanowna.«
+
+»Sie heißen nicht Amalie Iwanowna, sondern Amalie Ludwigowna, und da ich
+nicht zu den schuftigen Schmeichlern gehöre, wie Herr Lebesjätnikoff,
+der jetzt hinter der Türe lacht« (hinter der Türe hörte man wirklich
+Lachen und den Ruf: »Sie sind sich in die Haare gefahren!«), »so werde
+ich Sie stets Amalie Ludwigowna nennen, obgleich ich gar nicht verstehen
+kann, warum Ihnen dieser Name nicht gefällt. Sie sehen selbst, was mit
+Ssemjon Sacharowitsch ist, -- er stirbt. Ich bitte Sie, diese Türe
+sofort abzuschließen und niemanden hereinzulassen. Lassen Sie ihn
+wenigstens ruhig sterben! Sonst, versichere ich Sie, wird über Ihre
+Handlungsweise noch morgen der Generalgouverneur selbst erfahren. Der
+Fürst kannte mich, als ich noch ein junges Mädchen war, und erinnert
+sich sehr gut Ssemjon Sacharowitschs, dem er viele Male geholfen hat. Es
+ist allen bekannt, daß Ssemjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner
+hatte, von denen er sich selbst in edlem Stolz zurückgezogen hatte, weil
+er sich seiner unglücklichen Schwäche bewußt war, jetzt aber (sie zeigte
+auf Raskolnikoff) hilft uns ein großmütiger junger Mann, der Mittel und
+Verbindungen besitzt, und den Ssemjon Sacharowitsch noch als Kind
+gekannt hat, und seien Sie versichert, Amalie Ludwigowna ...«
+
+Dies alles wurde mit außerordentlicher Schnelligkeit hervorgestoßen, und
+je länger desto schneller; aber der Husten unterbrach mit einem Male die
+Rede von Katerina Iwanowna. In diesem Augenblicke kam der Sterbende zu
+sich und stöhnte auf, und sie lief zu ihm hin. Er öffnete die Augen, und
+ohne jemand zu erkennen und etwas zu verstehen, begann er den über ihn
+gebeugten Raskolnikoff zu betrachten. Er atmete schwer, tief und mit
+großen Pausen: auf den Lippen zeigte sich Blut; der Schweiß trat ihm auf
+die Stirn. Da er Raskolnikoff nicht erkannt hatte, begann er unruhig die
+Augen hin und her zu wenden. Katerina Iwanowna blickte ihn voll
+Traurigkeit, aber streng an; aus ihren Augen quollen Tränen.
+
+»Mein Gott! Seine ganze Brust ist zerquetscht! Sehen Sie, wieviel Blut!«
+sagte sie voll Verzweiflung.
+
+»Man muß ihn ausziehen! Dreh dich etwas um, Ssemjon Sacharowitsch, wenn
+du kannst,« rief sie ihm zu.
+
+Marmeladoff erkannte sie.
+
+»Einen Priester!« sagte er mit heiserer Stimme. Katerina Iwanowna ging
+zum Fenster, lehnte die Stirn an den Fensterrahmen und rief verzweifelt
+aus:
+
+»Oh, dreimal verfluchtes Leben!«
+
+»Priester!« sagte nach einer Weile von neuem der Sterbende.
+
+»Man holt ihn schon!« schrie ihn Katerina Iwanowna an; da schwieg er.
+
+Mit schüchternem, traurigem Blicke suchte er sie; sie war wieder zu ihm
+zurückgekehrt und stellte sich an seinem Kopfe hin. Er beunruhigte sich
+ein wenig, aber es dauerte nicht lange. Seine Augen blieben bald an der
+kleinen Lidotschka (seinem Liebling) in der Ecke haften, die wie im
+Fieber zitterte und ihn mit erstaunten, weit aufgerissenen Augen ansah.
+
+»Ach ... ach ...« zeigte er voll Unruhe auf sie. Er wollte etwas sagen.
+
+»Was ist denn?« rief Katerina Iwanowna.
+
+»Barfuß. Barfuß!« murmelte er und zeigte mit einem irren Blick auf die
+nackten Füßchen des Kindes.
+
+»Schweig!« rief gereizt Katerina Iwanowna. »Du weißt selbst, warum sie
+barfuß ist.«
+
+»Gott sei Dank, da ist der Arzt!« rief erfreut Raskolnikoff.
+
+Der Arzt, ein sorgfältig gekleideter, alter Mann, ein Deutscher, trat
+ein und blickte mißtrauisch um sich; er trat zu dem Verunglückten heran,
+fühlte seinen Puls, betastete aufmerksam den Kopf, öffnete das mit Blut
+völlig durchtränkte Hemd und machte die Brust frei. Die Brust war ganz
+zerquetscht, eingedrückt und zerrissen, einige Rippen auf der rechten
+Seite waren gebrochen. Auf der linken Seite, ganz am Herzen, war ein
+schrecklicher, großer, gelblich schwarzer Fleck, ein furchtbarer
+Hufschlag. Des Arztes Blick wurde trüb. Der Schutzmann erzählte ihm, daß
+der Verunglückte von einem Rade erfaßt und etwa dreißig Schritte auf der
+Straße geschleift worden sei.
+
+»Merkwürdig, daß er noch zu sich gekommen ist,« flüsterte der Arzt leise
+Raskolnikoff zu.
+
+»Was meinen Sie?« fragte der.
+
+»Er wird gleich sterben.«
+
+»Gibt es gar keine Hoffnung?«
+
+»Nicht die geringste. Er liegt in den letzten Zügen ... Außerdem ist der
+Kopf sehr gefährlich verletzt ... Hm. Vielleicht könnte man ihn noch zu
+Ader lassen ... aber ... es ist nutzlos. Nach fünf oder zehn Minuten
+stirbt er unbedingt.«
+
+»Lassen Sie ihn doch zu Ader!«
+
+»Gut ... Ich sage aber im voraus, es ist völlig nutzlos.«
+
+In diesem Augenblicke ertönten Schritte, die Menge auf der Treppe machte
+Platz und auf der Schwelle erschien der Priester, ein alter Mann, mit
+den Sakramenten. Ihn hatte ein Schutzmann sofort nach dem Unglück
+geholt. Der Arzt trat ihm sofort seinen Platz ab und wechselte mit ihm
+einen bedeutungsvollen Blick. Raskolnikoff bat den Arzt, noch eine Weile
+zu bleiben. Der zuckte die Achseln und blieb.
+
+Alle traten zurück. Die Beichte dauerte nicht lange. Der Sterbende
+schien kaum etwas zu verstehen; er konnte bloß abgerissene, unklare
+Laute hervorbringen. Katerina Iwanowna hatte Lidotschka an die Hand
+genommen, den Knaben vom Stuhle heruntergeholt, war mit ihnen in eine
+Ecke am Ofen gegangen, auf die Knie gesunken, die Kinder vor sich. Das
+kleine Mädchen zitterte; der Knabe aber lag auf seinen nackten Knien
+ernst da, erhob sein Händchen, schlug ein großes Kreuz und beugte sich
+zum Boden nieder, wobei er mit der Stirne anstieß, was ihm anscheinend
+Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich auf die Lippen und hielt
+die Tränen zurück; sie betete auch; ab und zu zog sie dem Knaben das
+Hemdchen zurecht, und warf über die nackten Schultern des Mädchens ein
+Tuch, das sie von der Kommode nahm, ohne sich zu erheben und weiter
+betend. Indessen wurde die Türe zu den anderen Zimmern wieder von
+Neugierigen geöffnet. Im Treppenflure drängten sich immer mehr und mehr
+Zuschauer, Mieter vom ganzen Hause, aber ohne die Schwelle des Zimmers
+zu überschreiten. Ein Lichtstümpfchen beleuchtete die ganze Szene.
+
+In diesem Augenblicke drängte sich durch die Menge auf dem Flure
+Poljenka, die gelaufen war, die Schwester zu holen. Sie kam atemlos vom
+schnellen Laufen, nahm ihr Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter,
+trat an sie heran und sagte: »Sie kommt! Ich habe sie auf der Straße
+getroffen!« Die Mutter zog sie neben sich auf die Knie. Durch die Menge
+drängte sich leise und schüchtern ein junges Mädchen, und ihre
+Erscheinung in diesem Zimmer, mitten in dieser Armut, Lumpen, Tod und
+Verzweiflung war grotesk. Sie war auch in Lumpen; ihre Kleidung war von
+billiger Sorte, aber straßenmäßig geschmückt, mit Geschick und
+Verständnis für ihren besonderen Zweck und diesen Zweck in peinlich
+aufdringlicher Weise unterstreichend. Ssonja blieb im Flure neben der
+Schwelle stehen, trat nicht in das Zimmer und blickte wie verloren vor
+sich hin; sie schien ganz fassungslos, schien vergessen zu haben, daß
+sie ein seidenes, farbiges, aus vierter Hand gekauftes und hier
+unpassendes Kleid anhatte, mit einer langen und lächerlichen Schleppe
+und einer ungeheuren Krinoline, die die ganze Türe einnahm, auch daß sie
+helle Stiefel und einen Sonnenschirm trug, den sie doch in der Nacht
+nicht brauchte, und einen lächerlichen runden Strohhut mit einer grell
+feuerroten Feder aufhatte. Unter diesem keck aufgesetzten Hute blickte
+ein mageres, bleiches und erschrockenes Gesichtchen hervor, mit
+geöffnetem Munde und vor Schreck unbeweglichen Augen. Ssonja war klein
+von Wuchs, etwa achtzehn Jahre alt, mager, aber eine hübsche Blondine
+mit wundervollen blauen Augen. Sie blickte starr auf das Sofa und auf
+den Priester und atmete schwer vom schnellen Gehen. Wahrscheinlich hatte
+sie das Flüstern und einige Worte unter der Menge vernommen. Sie senkte
+den Kopf, tat einen Schritt über die Schwelle und blieb im Zimmer
+stehen, wieder aber ganz an der Türe.
+
+Die Beichte und das Abendmahl waren beendet. Katerina Iwanowna ging
+wieder an das Lager ihres Mannes. Der Priester trat zurück und wandte
+sich beim Weggehen an Katerina Iwanowna, um ihr ein paar Worte zum Trost
+und als Beileid zu sagen.
+
+»Wo soll ich denn mit diesen hin?« unterbrach sie ihn scharf und gereizt
+und zeigte auf die Kleinen.
+
+»Gott ist gnädig. Vertrauen Sie auf die Hilfe des Allmächtigen,« begann
+der Priester.
+
+»Ja--a! Er ist gnädig, aber nicht für uns!«
+
+»So etwas zu sagen ist eine Sünde, meine Dame,« bemerkte der Priester
+und schüttelte den Kopf.
+
+»Und ist das keine Sünde?« rief Katerina Iwanowna aus und wies auf den
+Sterbenden.
+
+»Vielleicht werden die, welche die unwillkürliche Ursache waren, bereit
+sein, es Ihnen zu entgelten, wenigstens hinsichtlich des verlorenen
+Verdienstes ...«
+
+»Sie verstehen mich nicht!« rief gereizt Katerina Iwanowna und winkte
+mit der Hand ab. »Ja, wofür sollen sie mich entgelten? Er ist ja selbst
+betrunken unter den Wagen geraten? Was für ein Verdienst? Wir hatten von
+ihm keinen Verdienst, sondern nur Qual. Er vertrank doch alles! Er
+bestahl uns und schleppte es in die Schenke, das Leben der Kinder und
+meines hat er in der Schenke verpraßt. Und Gott sei Dank, daß er stirbt!
+Weniger Ausgaben bedeutet es!«
+
+»Sie sollten lieber in der Todesstunde verzeihen. Solche Gefühle zu
+haben, ist eine große Sünde!« Katerina Iwanowna war um den Sterbenden
+bemüht, sie reichte ihm zu trinken, trocknete den Schweiß und das Blut
+von seinem Kopfe, machte die Kissen zurecht und während der Arbeit
+unterhielt sie sich mit dem Priester, wobei sie sich nur selten zu ihm
+wandte. Jetzt aber stürzte sie sich fast rasend auf ihn.
+
+»Ach, Väterchen! Das sind nur Worte und weiter nichts! Verzeihung! Sehen
+Sie, wenn er nicht überfahren wäre, wäre er heute betrunken nach Hause
+gekommen, -- er hat nur ein Hemd, ganz schmutzig und zerrissen, -- er
+hätte sich schlafen gelegt, ich aber hätte bis zum frühen Morgen im
+Wasser geplantscht, seine Lumpen und die Kinderwäsche gewaschen, hätte
+es vor dem Fenster getrocknet, und wenn der Morgen gekommen wäre, hätte
+ich mich hingesetzt und die Sachen ausgebessert, -- sehen Sie, das wäre
+meine Nachtruhe gewesen! ... Also, was ist da vom Verzeihen zu reden!
+Ich habe auch so verziehen!«
+
+Ein hohler, schrecklicher Husten unterbrach sie. Sie hustete, spie in
+ein Taschentuch, hielt die eine Hand vor Schmerz an die Brust und zeigte
+mit der anderen dem Priester das Taschentuch. Das Taschentuch war voll
+Blut ...
+
+Der Priester senkte den Kopf und schwieg.
+
+Marmeladoff lag in den letzten Zügen; er wandte von Katerina Iwanowna,
+die sich wieder über ihn gebeugt hatte, seine Augen nicht ab. Er wollte
+ihr immer etwas sagen, er begann auch, bewegte voll Anstrengung die
+Zunge und sprach die Worte unklar aus, aber Katerina Iwanowna, die
+verstanden hatte, daß er sie um Verzeihung bitten möchte, rief ihm
+sofort in befehlendem Tone zu:
+
+»Schweig ... schweig! Ist nicht nötig! ... Ich weiß, was du sagen
+willst! ...«
+
+Und der Sterbende verstummte, aber in diesem Augenblicke fiel sein
+irrender Blick auf die Türe, und er erblickte Ssonja.
+
+Vorher hatte er sie nicht bemerkt, -- sie stand im Schatten in der Ecke.
+
+»Wer ist das? Wer ist das?« sagte er plötzlich mit heiserer,
+erstickender Stimme, ganz aufgeregt und zeigte voll Schrecken mit den
+Augen auf die Türe, wo seine Tochter stand, und versuchte sich zu
+erheben.
+
+»Bleib liegen!« rief Katerina Iwanowna. Ihm war es mit unnatürlicher
+Anstrengung gelungen, sich auf seine Hand zu stützen. Er sah wild und
+unbeweglich eine Weile die Tochter an, als ob er sie nicht erkenne. Er
+hatte sie auch noch nie in diesem Aufzuge gesehen. Plötzlich erkannte er
+sie, die gedemütigte, völlig niedergeschlagene, geputzte und sich
+schämende, die demütig wartete, bis an sie die Reihe kam, vom sterbenden
+Vater Abschied zu nehmen. Ein grenzenloses Leid zeigte sich auf seinem
+Gesichte.
+
+»Ssonja! Tochter! Verzeih!« rief er und wollte nach ihr die Hand
+ausstrecken, aber er verlor das Gleichgewicht und stürzte vom Sofa mit
+dem Gesichte zu Boden. Man lief hin, um ihn aufzuheben und legte ihn auf
+das Sofa hin, aber er war schon im Sterben. Ssonja schrie schwach auf,
+lief hin, umarmte ihn und blieb bewegungslos stehen. Er starb in ihren
+Armen.
+
+»Er hat's erreicht!« rief Katerina Iwanowna, als sie ihren Mann tot sah.
+»Aber was soll ich jetzt tun! Womit soll ich ihn beerdigen? Und womit
+soll ich diese hier füttern?«
+
+Raskolnikoff trat zu Katerina Iwanowna.
+
+»Katerina Iwanowna,« begann er. »Ihr verstorbener Gatte erzählte mir in
+der vorigen Woche sein ganzes Leben und alle seine Verhältnisse ...
+Seien Sie versichert, daß er von Ihnen mit Wärme und Achtung sprach.
+Seit diesem Abend, als ich erfuhr, wie er an Ihnen hing und wie er Sie,
+Katerina Iwanowna, besonders hochschätzte und liebte, trotz seiner
+unglücklichen Schwäche, seit diesem Abend waren wir Freunde ... Erlauben
+Sie mir jetzt also ... Ihnen behilflich zu sein ... meinem verstorbenen
+Freunde die letzte Ehre erweisen zu können. Sehen Sie, hier habe ich ...
+zwanzig Rubel, glaube ich ... und wenn dies Ihnen eine Hilfe sein kann,
+so ... ich ... will mit einem Worte wiederkommen, ... ich komme
+unbedingt ... ich komme unbedingt ... ich komme vielleicht schon morgen
+zu Ihnen ... Leben Sie wohl!«
+
+Und er ging schnell aus dem Zimmer und drängte sich durch die Menge, da
+aber stieß er plötzlich mit Nikodim Fomitsch, dem Polizeikommissar,
+zusammen, der von dem Unglück gehört hatte und persönlich Anordnungen
+treffen wollte. Seit dem Auftritt im Polizeibureau hatten sie einander
+nicht gesehen, aber Nikodim Fomitsch erkannte ihn sofort.
+
+»Ah, Sie sind hier?« fragte er.
+
+»Er ist gestorben,« antwortete Raskolnikoff. »Ein Arzt war dagewesen,
+auch ein Priester war da, alles ist in Ordnung. Regen Sie die arme Frau
+nicht auf, sie hat ohnedem die Schwindsucht. Flößen Sie ihr Mut ein, so
+gut Sie können ... Sie sind ja ein guter Mensch, ich weiß es ...« fügte
+er mit einem schiefen Lächeln hinzu und blickte ihm in die Augen.
+
+»Wie Sie sich mit Blut befleckt haben,« bemerkte Nikodim Fomitsch, als
+er beim Lichte der Laterne einige frische Flecken auf der Weste
+Raskolnikoffs erblickte.
+
+»Ja, ich habe mich bespritzt ... ich bin mit Blut bedeckt!« sagte
+Raskolnikoff mit einem eigentümlichen Ausdruck, lächelte, nickte ihm zu
+und ging die Treppe hinab. Er stieg langsam hinab, ohne sich zu beeilen,
+tief ergriffen, voll von einem einzigen, neuen, unermeßlichen Gefühl,
+das als volle und mächtige Lebenswelle über ihn gekommen war. Ein
+Gefühl, das dem eines zu Tode Verurteilten gleichen mochte, dem man
+unerwartet die Begnadigung mitgeteilt hatte. Auf der Treppe überholte
+ihn der Priester, der nach Hause ging; Raskolnikoff ließ ihn schweigend
+an sich vorübergehen und wechselte mit ihm einen stummen Gruß. Als er
+aber die letzten Stufen hinabschritt, hörte er eilige Schritte hinter
+sich. Jemand wollte ihn einholen. Es war Poljenka, sie lief ihm nach und
+rief: »Hören Sie, hören Sie doch!«
+
+Sie kam die letzte Treppe herab und blieb eine Stufe über ihm stehen.
+Ein schwaches Licht drang vom Hofe herein. Raskolnikoff schaute in das
+magere, aber liebe Gesichtchen des kleinen Mädchens, das ihm zulächelte
+und ihn fröhlich, nach Kinderart, ansah. Sie war mit einem Auftrage
+gekommen, der ihr selbst sehr zu gefallen schien.
+
+»Sagen Sie mir, wie heißen Sie denn? ... und noch ... wo wohnen Sie
+denn?« fragte sie ihn hastig mit erstickendem Stimmchen.
+
+Er legte beide Hände auf ihre Schultern und blickte sie glücklich an. Es
+war ihm wohltuend, sie anzusehen, -- er wußte selbst nicht warum.
+
+»Wer hat dich zu mir geschickt?«
+
+»Schwesterchen Ssonja hat mich geschickt,« antwortete das kleine Mädchen
+und lächelte noch freundlicher.
+
+»Ich wußte, daß Schwesterchen Ssonja dich geschickt hat.«
+
+»Mama hat mich auch geschickt. Als Schwesterchen Ssonja mich schickte,
+kam Mama auch und sagte: Ja, lauf schnell, Poljenka!«
+
+»Liebst du Schwesterchen Ssonja?«
+
+»Ich liebe sie mehr als alle anderen!« sagte Poljenka mit besonderer
+Festigkeit, und ihr Gesicht wurde plötzlich ernst.
+
+»Wirst du mich auch lieben können?«
+
+Anstatt einer Antwort näherte sich ihm das Gesichtchen des Kindes, und
+die kleinen Lippen streckten sich ihm zum Kuß entgegen. Ihre Ärmchen,
+streichhölzchendünn, umschlangen ihn kräftig, ihr Kopf senkte sich auf
+seine Schulter, und das kleine Mädchen fing leise an zu weinen und
+preßte sich immer fester und fester mit dem Gesicht an ihn.
+
+»Papa tut mir so leid!« sagte sie nach einer Weile, hob ihr verweintes
+Gesichtchen in die Höhe und wischte sich mit den Händen die Tränen ab.
+»Wir haben immer Unglück,« fügte sie unerwartet hinzu und mit jenem
+besonders wichtigen Ausdruck, den Kinder annehmen, wenn sie wie
+Erwachsene sprechen wollen.
+
+»Papa hat dich auch geliebt?«
+
+»Er hat Lidotschka mehr als uns alle geliebt,« fuhr sie mit dem gleichen
+Ernste fort, »er liebte sie, weil sie klein und krank ist, und er
+brachte ihr immer etwas mit, uns aber lehrte er das Lesen, und mich
+Grammatik und Religion,« fügte sie mit Stolz hinzu, »Mama sagte nichts
+dazu, aber wir wußten doch, daß sie das gern hatte, und Papa wußte es
+auch. Mama will mich Französisch lehren, es ist Zeit, daß ich eine
+Erziehung erhalte.«
+
+»Kannst du auch beten?«
+
+»Oh, gewiß können wir es. Schon lange, ich bete, seitdem ich groß bin,
+allein für mich, Kolja und Lidotschka beten laut mit Mama; zuerst sagen
+sie das Gebet an die Gottesmutter und dann noch ein Gebet, >lieber Gott,
+verzeihe und segne Schwesterchen Ssonja,< und dann >lieber Gott,
+verzeihe und segne unsern andern Papa,< denn unser älterer Papa ist
+schon gestorben, dieser war unser zweiter Papa, doch wir beten auch für
+ihn.«
+
+»Poletschka, ich heiße Rodion; bete auch für mich einmal, -- >für den
+Gottesknecht Rodion< -- und mehr nicht.«
+
+»Ich werde mein ganzes künftiges Leben für Sie beten,« sagte eifrig das
+kleine Mädchen, lachte wieder heiter und umarmte ihn von neuem.
+Raskolnikoff nannte ihr seinen Namen, gab ihr seine Adresse und
+versprach, morgen unbedingt zu ihr zu kommen. Das kleine Mädchen ging
+völlig entzückt von ihm. Es war die elfte Stunde, als er auf die Straße
+hinaustrat. Nach fünf Minuten stand er auf der Brücke, genau an
+derselben Stelle, wo vorhin die Frau sich ins Wasser gestürzt hatte.
+
+»Genug!« sagte er entschlossen und feierlich, »fort mit den
+Traumgebilden, fort mit den eingebildeten Schrecken, fort mit den
+Gespenstern! ... Es gibt noch ein Leben! Habe ich eben nicht gelebt?
+Mein Leben ist noch nicht mit der alten Witwe gestorben! Möge ihr das
+Himmelreich beschieden sein und, -- und genug, Mütterchen, es ist Zeit
+für dich zu ruhen! Das Reich der Vernunft und des Lichtes ist jetzt
+gekommen! ... und ... und des Willens ... und der Kraft ... und nun
+wollen wir sehen! Wir wollen unsere Kräfte messen« fügte er
+herausfordernd hinzu, als wende er sich an eine dunkle Macht und fordere
+sie zum Kampfe auf. »Und ich war schon bereit, mich auf den ellenlangen
+Raum einzurichten!«
+
+»... Sehr schwach fühle ich mich in diesem Augenblicke, aber ... es
+scheint, die Krankheit ist vorüber. Ich wußte, daß sie vergehen wird,
+als ich vor kurzem wegging. Wie ist mir denn -- ist nicht das Haus
+Potschinkoff kaum zwei Schritte von hier. Jetzt gehe ich zu Rasumichin,
+wenn es auch nicht nur zwei Schritte wären ... mag er die Wette
+gewinnen! ... mag er auch sein Vergnügen haben, -- tut nichts, mag er es
+haben! Kraft, Kraft ist nötig, -- ohne Kraft kann man nichts überwinden,
+und die Kraft muß wieder durch Kraft erworben werden, aber davon haben
+sie keine Ahnung,« fügte er stolz und selbstbewußt hinzu, und konnte
+kaum seine Füße noch heben. Der Stolz und das Selbstvertrauen wuchsen
+mit jeder Minute in ihm; im nächsten Augenblicke war er schon ein
+anderer Mensch als in dem vorhergehenden. Was war mit ihm Besonderes
+vorgegangen, das ihn so verwandelt hatte? Er wußte es selbst nicht; ihm
+war es wie einem Menschen, der nach einem Strohhalm greift, um sich zu
+retten; und es war ihm, als ob es noch Leben gab für ihn, als ob sein
+Leben mit der Alten nicht gestorben sei. Vielleicht war er zu eilig mit
+der Schlußfolgerung, aber daran dachte er nicht.
+
+»Den Gottesknecht Rodion soll sie im Gebet nennen,« durchfuhr es ihn,
+»und das ist ... für alle Fälle!« fügte er hinzu, und mußte selber über
+den Einfall lachen.
+
+Er befand sich in ausgezeichneter Stimmung.
+
+Rasumichin fand er mit Leichtigkeit; im Hause Potschinkoff kannte man
+schon den neuen Mieter, und der Hausknecht zeigte ihm sogleich den Weg.
+Auf der halben Treppe konnte man den Lärm und die lebhaften Stimmen
+einer großen Gesellschaft vernehmen. Die Türe zur Treppe war
+sperrangelweit auf; man hörte, wie geschrien und gestritten wurde.
+Rasumichins Zimmer war ziemlich groß, und es waren etwa fünfzehn
+Menschen bei ihm. Raskolnikoff blieb im Flure stehen. Hier, hinter einer
+Rollwand, waren zwei Mädchen der Wirtsleute mit zwei großen Samowars
+beschäftigt, hier standen Flaschen, Teller und Schüsseln mit Pasteten
+und Imbiß, die aus der Küche der Wirtsleute hierher geschafft worden
+waren. Raskolnikoff ließ Rasumichin herausholen. Der kam freudig
+überrascht herausgelaufen. Man merkte beim ersten Blick, daß er
+ungewöhnlich viel getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich nie
+betrunken hatte, konnte man es ihm dieses Mal doch anmerken.
+
+»Höre,« beeilte sich Raskolnikoff zu sagen, »ich bin nur hergekommen, um
+dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast, und daß tatsächlich
+niemand wissen kann, was alles mit ihm geschieht. Hineingehen kann ich
+nicht, -- ich fühle mich zu schwach, so daß ich fürchten muß,
+hinzufallen. Und darum sage ich dir gleich >Guten Abend< und >Lebewohl<!
+Komm du morgen zu mir ...«
+
+»Weißt du was, ich begleite dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst,
+daß du dich schwach fühlst, da ...«
+
+»Und deine Gäste? Wer ist dieser mit dem lockigen Haar, der soeben
+herausguckte?«
+
+»Der? Weiß der Teufel, wer er ist! Wahrscheinlich ein Bekannter meines
+Onkels, vielleicht ist er auch ohne Aufforderung hergekommen ... Ich
+lasse den Onkel bei den Gästen; er ist ein prächtiger Mensch. Schade,
+daß du ihn jetzt nicht kennenlernst. Im übrigen, hol sie alle der
+Teufel! Jetzt haben sie keine Zeit, an mich zu denken, und ich muß
+frische Luft schöpfen; du bist mir sehr gelegen gekommen. Noch zwei
+Minuten und ich hätte mich mit ihnen geprügelt, bei Gott! Sie lügen so
+das dümmste Zeug zusammen ... Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß
+der Mensch im Lügen ist! Na, warum sollst du es dir nicht vorstellen
+können? Wir lügen doch selbst? Ja, mögen sie auch jetzt lügen, dafür
+werden sie später nicht mehr lügen ... Warte einen Augenblick, ich sage
+es noch Sossimoff ...«
+
+Sossimoff eilte hastig auf Raskolnikoff zu; man merkte in ihm eine
+besondere Neugierde, jedoch sein Gesicht hellte sich sofort auf.
+
+»Gleich ins Bett,« sagte er, nachdem er nach Möglichkeit den Kranken
+untersucht hatte, »und zur Nacht nehmen Sie noch ein Pülverchen. Wollen
+Sie es nicht? Ich habe schon vorher für Sie ... ein Pülverchen
+bereitet.«
+
+»Meinetwegen nehme ich auch zwei Pulver,« antwortete Raskolnikoff.
+
+Und das Pulver wurde sofort eingenommen.
+
+»Es ist sehr gut, daß du ihn begleitest,« sagte Sossimoff zu Rasumichin,
+»wie es morgen sein wird, werden wir sehen, heute ist es nicht übel mit
+ihm, -- eine bedeutende Verbesserung seit kurzem. Man lernt sein ganzes
+Leben ...«
+
+»Weißt du, was Sossimoff mir soeben zuflüsterte, als wir fortgingen,«
+platzte Rasumichin heraus, als sie auf die Straße traten. »Ich will dir,
+Bruder, nicht alles so direkt sagen, denn sie sind Dummköpfe. Sossimoff
+bat mich, den ganzen Weg mit dir zu schwatzen und dich selbst zum
+Schwatzen zu veranlassen, um ihm dann alles nachher zu erzählen, denn er
+hat eine Idee ... nämlich daß du ... verrückt seist, oder nahe daran
+bist. Stell' dir das vor! Erstens bist du dreimal klüger als er,
+zweitens, wenn du nicht verrückt bist, pfeifst du darauf, daß er so
+dummes Zeug im Kopfe hat, und drittens, dieses Stück Fleisch, trotz
+seiner Spezialität für Chirurgie, ist jetzt auf Geisteskrankheiten
+versessen, und in bezug auf dich hat ihn dein heutiges Gespräch mit
+Sametoff endgültig darauf gebracht.«
+
+»Hat dir Sametoff alles erzählt?«
+
+»Ja, alles, und es ist sehr gut, daß er es erzählt hat. Jetzt habe ich
+alles, auch was drum und dran hängt, begriffen, und Sametoff hat auch
+begriffen ... Nun ja, mit einem Worte, Rodja ... die Sache ist die ...
+Ich bin jetzt ein bißchen betrunken ... Aber das tut nichts ... die
+Sache ist die, daß dieser Gedanke ... verstehst du? ... in der Tat ihnen
+hin und wieder kam ... verstehst du? Das heißt, niemand wagte es laut
+auszusprechen, denn es ist das dümmste Zeug, und besonders, nachdem man
+diesen Anstreicher verhaftet hatte, zerfiel alles in nichts und
+verschwand auf immer. Aber warum sind sie solche Dummköpfe? Ich hatte
+damals Sametoff ein wenig verprügelt, -- das soll unter uns bleiben,
+Bruder; bitte, laß dir auch nicht das geringste merken, daß du es weißt,
+ich habe bemerkt, daß er empfindlich ist, es geschah bei Louisa, --
+heute, heute wurde alles klar. Hauptsächlich dieser Ilja Petrowitsch! Er
+benutzte damals deine Ohnmacht im Polizeibureau, später schämte er sich
+selber dessen, ich weiß es ...«
+
+Raskolnikoff hörte aufmerksam zu. Rasumichin plapperte in seiner
+Trunkenheit alles aus.
+
+»Ich fiel damals darum in Ohnmacht, weil so schlechte Luft war und weil
+die Ölfarbe so widerlich roch,« sagte Raskolnikoff.
+
+»Du willst noch erklären! Nicht die Ölfarbe war es allein, die Krankheit
+bereitete sich schon einen ganzen Monat vor, -- Sossimoff ist doch
+Zeuge! Aber wie niedergeschlagen jetzt dieser Junge -- Sametoff -- ist,
+du kannst dir es nicht vorstellen! -- >Ich bin den kleinen Finger dieses
+Menschen nicht mal wert<, sagt er. Das heißt _deinen_ kleinen Finger. Er
+hat zuweilen schöne Gefühle, Bruder. Aber die Lehre, die heutige Lehre
+im Kristallpalast -- das ist der Hauptcoup! Du hast ihn zuerst
+erschreckt und fast zum Wahnsinn gebracht! Du hast ihn fast gezwungen,
+wieder an diesen ganzen scheußlichen Unsinn zu glauben und dann
+plötzlich zeigtest du ihm die Zunge, -- als würdest du sagen, -- na, da
+hast du es jetzt, glaubst du nun? Es war köstlich! Er ist jetzt
+zermalmt, zerknirscht! Du bist ein Meister, bei Gott, so muß man mit
+ihnen umspringen! Schade, daß ich nicht dabei war! Er erwartete dich
+jetzt sehnlichst bei mir. Porphyri will dich auch kennenlernen ...«
+
+»Ah ... auch der ... Und warum halten sie mich für verrückt?«
+
+»Das heißt nicht für verrückt. Ich habe, scheint mir, da zuviel gesagt
+... Siehst du, es setzte ihn in Erstaunen, daß dich diese Sache
+interessiert; wo er alle Umstände kennt ... und er sah, wie es dich
+gereizt hatte und wie es mit deiner Krankheit zusammenfiel ... Ich bin
+ein wenig betrunken, Bruder, aber weiß der Teufel, er hat so seine
+eigene Idee ... Ich sage dir, -- er ist jetzt auf Geisteskrankheiten
+versessen. Pfeif' ihm darauf ...«
+
+Beide schwiegen eine Weile.
+
+»Höre, Rasumichin,« begann Raskolnikoff, »ich will dir offen gestehen;
+ich war soeben bei einem Sterbenden, Beamter ist er gewesen ... dort
+habe ich mein ganzes Geld hergegeben ... außerdem hat mich soeben ein
+Wesen geküßt, das auch, wenn ich wirklich jemand ermordet hätte, ebenso
+... mit einem Worte, ich habe dort noch ein anderes Wesen gesehen ...
+mit einer feuerroten Feder ... übrigens, aber ich phantasiere ... ich
+bin sehr schwach, stütze mich ... gleich sind wir bei der Treppe ...«
+
+»Was ist mit dir? Was ist mit dir?« fragte Rasumichin ängstlich.
+
+»Mir schwindelt ein wenig der Kopf, aber das ist es nicht, mir ist so
+traurig, so traurig ... wie jener Frau ... es ist wahr! Sieh, was ist
+das? Sieh! Sieh!«
+
+»Was denn?«
+
+»Siehst du denn nicht? Siehst du nicht, in meinem Zimmer ist Licht!
+Durch die Ritze ...«
+
+Sie standen schon auf dem letzten Treppenabsatz, neben der Türe zu der
+Wirtin Wohnung; man konnte wirklich von unten aus sehen, daß
+Raskolnikoffs Kammer erleuchtet war.
+
+»Sonderbar! Es ist vielleicht Nastasja,« bemerkte Rasumichin.
+
+»Sie ist niemals um diese Zeit bei mir, und außerdem schläft sie schon
+längst, doch ... mir ist es einerlei. Lebe wohl!«
+
+»Was ist dir? Ich begleite dich doch, wir gehen beide hinein!«
+
+»Ich weiß, daß wir zusammen hineingehen werden, aber ich will hier deine
+Hand drücken und hier von dir Abschied nehmen. Da, gib mir die Hand,
+lebwohl!«
+
+»Was ist dir, Rodja?«
+
+»Nichts ... komm, wir gehen ... du wirst Zeuge sein ...«
+
+Sie begannen die Treppe hinaufzusteigen, und Rasumichin durchzuckte der
+Gedanke, daß Sossimoff doch vielleicht recht habe. »Ach! Ich habe ihn
+mit meinem Geschwätz verwirrt!« murmelte er vor sich hin. Als sie an die
+Türe kamen, hörten sie Stimmen im Zimmer.
+
+»Was ist da los?« rief Rasumichin aus.
+
+Raskolnikoff ergriff zuerst die Türklinke und öffnete die Türe weit und
+blieb wie versteinert auf der Schwelle stehen.
+
+Seine Mutter und Schwester saßen auf dem Sofa und warteten auf ihn schon
+seit anderthalb Stunden. Sie hatte er am allerwenigsten erwartet und
+noch weniger an sie gedacht, trotzdem ihm heute noch einmal die
+Mitteilung geworden war, daß sie abgereist, unterwegs wären und jeden
+Augenblick ankommen könnten. Sie hatten die anderthalb Stunden, einander
+unterbrechend, Nastasja ausgefragt, die auch jetzt noch vor ihnen stand
+und ihnen schon alles erzählt hatte, und waren vor Schreck fast gelähmt,
+als sie hörten, daß er »heute weggelaufen sei,« krank, wie er war, und
+sicher nicht bei vollem Bewußtsein, wie man aus der Erzählung entnehmen
+konnte! »Mein Gott, was wird mit ihm geschehen sein!« Sie weinten beide,
+und beide hatten in diesen anderthalb Stunden Folterqualen erlitten.
+
+Ein freudiger, entzückter Schrei begrüßte Raskolnikoffs Erscheinen.
+Beide stürzten auf ihn zu. Er aber stand wie leblos da; eine
+unerträgliche Empfindung hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Seine Hände
+erhoben sich nicht, um sie zu umarmen, -- sie konnten sich nicht
+erheben. Die Mutter und Schwester erdrückten ihn in ihrer Umarmung,
+küßten ihn, lachten und weinten ... Er tat einen Schritt, schwankte und
+stürzte ohnmächtig zu Boden.
+
+Aufregung, erschreckte Ausrufe, Gestöhn ... Rasumichin, der auf der
+Schwelle stand, flog ins Zimmer herein, packte den Kranken mit seinen
+kräftigen Armen, und jener lag im Nu auf dem Sofa.
+
+»Hat nichts zu sagen! Tut nichts!« rief er Mutter und Schwester zu, »das
+ist eine Ohnmacht, das ist nichts! Soeben hat noch der Arzt gesagt, daß
+es ihm bedeutend besser gehe, daß er vollkommen gesund sei! Wasser her!
+Sehen Sie, er kommt schon zu sich, er ist bei Bewußtsein!«
+
+Er ergriff die Hand Dunetschkas so stark, daß er sie beinahe verrenkte,
+und zog sie näher, damit sie sich überzeuge, daß »er schon bei
+Bewußtsein sei«. Mutter und Schwester blickten Rasumichin wie die
+Vorsehung, mit Rührung und Dankbarkeit an; sie hatten schon von Nastasja
+gehört, was dieser »eifrige junge Mann,« wie ihn am selben Abend
+Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa selbst in einem intimen Gespräche
+mit Dunetschka genannt hatte, für ihren Rodja gewesen war.
+
+
+
+
+ Dritter Teil
+
+
+ I.
+
+Raskolnikoff erhob sich und setzte sich auf das Sofa. Er winkte mit der
+Hand schwach Rasumichin ab, damit er dem Strome seiner eifrigen
+Trostspendung an Mutter und Schwester ein Ende mache, nahm beider Hände
+und blickte etwa zwei Minuten schweigend bald die eine, bald die andere
+an. Die Mutter erschrak vor seinem Blick. In diesem Blicke lag ein bis
+zur Qual gesteigertes Gefühl, aber gleichzeitig etwas Starres, fast
+Irrsinniges. Pulcheria Alexandrowna begann zu weinen.
+
+Awdotja Romanowna war bleich, ihre Hand zitterte in der des Bruders.
+
+»Geht nach Hause ... mit ihm,« sagte er mit stockender Stimme und wies
+auf Rasumichin, »bis morgen; morgen wird alles ... Seid ihr schon lange
+angekommen?«
+
+»Heute abend, Rodja,« antwortete Pulcheria Alexandrowna, »der Zug hat
+sich schrecklich verspätet. Rodja, ich will aber jetzt um keinen Preis
+der Welt von dir gehen! Ich schlafe hier neben dir ...«
+
+»Quält mich nicht!« sagte er und machte eine gereizte Bewegung mit der
+Hand.
+
+»Ich bleibe bei ihm!« rief Rasumichin. »Ich will ihn keinen einzigen
+Augenblick verlassen, und hol der Teufel alle meine Gäste, mögen sie
+außer sich sein! Mein Onkel mag dort repräsentieren.«
+
+»Wie, wie soll ich Ihnen danken!« begann Pulcheria Alexandrowna und
+drückte von neuem Rasumichin die Hand, aber Raskolnikoff unterbrach sie.
+
+»Ich kann nicht, kann nicht,« wiederholte er gereizt, »quält mich nicht!
+Genug, geht weg ... Ich kann nicht! ...«
+
+»Gehen wir, Mama, gehen wir wenigstens auf einen Augenblick aus dem
+Zimmer heraus,« flüsterte die erschrockene Dunja, »wir martern ihn, man
+sieht's doch.«
+
+»Soll ich denn gar nicht bei ihm sein, nach drei Jahren langer
+Trennung!« weinte Pulcheria Alexandrowna.
+
+»Wartet!« hielt Raskolnikoff sie zurück, »ihr unterbrecht mich immer,
+und meine Gedanken verwischen sich ... Habt ihr Luschin gesehen?«
+
+»Nein, Rodja, aber er weiß schon, daß wir angekommen sind. Wir haben
+gehört, Rodja, daß Peter Petrowitsch so gut war und dich heute besucht
+hat,« fügte ein wenig schüchtern Pulcheria Alexandrowna hinzu.
+
+»Ja ... er war so gut ... Dunja, ich habe vorher Luschin gesagt, daß ich
+ihn die Treppe hinunterwerfen werde und habe ihn zum Teufel gejagt ...«
+
+»Rodja, was ist dir! Du hast sicher ... du willst doch nicht sagen,«
+begann Pulcheria Alexandrowna erschreckt, hielt aber vor einem Blick
+Dunjas inne.
+
+Awdotja Romanowna sah den Bruder aufmerksam an und wartete auf das, was
+er weiter sagen würde. Beide waren schon von dem Streite durch Nastasja
+benachrichtigt, so weit sie es selber begriffen hatte und mitteilen
+konnte, und hatten unter der Ungewißheit und Erwartung gelitten.
+
+»Dunja,« fuhr Raskolnikoff mit Mühe fort, »ich wünsche diese Heirat
+nicht, und darum mußt du morgen noch Luschin absagen, damit er völlig
+verschwinde.«
+
+»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
+
+»Bruder, überlege, was du sprichst!« begann Awdotja Romanowna erregt,
+aber hielt sofort an sich. »Du bist vielleicht jetzt nicht imstande, du
+bist müde,« fügte sie sanft hinzu.
+
+»Gar im Fieber? Nein ... Du heiratest Luschin um meinetwillen. Ich aber
+nehme das Opfer nicht an. Und darum schreibe morgen den Brief ... mit
+der Absage ... Gib ihn mir morgen früh zu lesen, und Schluß damit!«
+
+»Ich kann es nicht tun!« rief das gekränkte Mädchen aus. »Mit welchem
+Recht ...«
+
+»Dunetschka, du bist zu hitzig, hör auf, morgen ... Siehst du denn nicht
+...« suchte die erschrockene Mutter zu beruhigen. »Ach, gehen wir besser
+fort!«
+
+»Er redet im Fieber!« rief der berauschte Rasumichin. »Sonst würde er
+das nicht sagen! Morgen ist dieser ganze Unsinn verschwunden ... Heute
+hat er ihn wohl hinausgejagt. Das ist wahr. Nun, und jener wurde böse
+... Er hat hier schöne Reden gehalten, seine Kenntnisse ausgekramt und
+ging dann mit eingezogenem Schwanz weg ...«
+
+»Also, es ist wahr?« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
+
+»Bis auf morgen, Bruder!« sagte Dunja mitleidsvoll. »Gehen wir, Mama ...
+Leb wohl, Rodja!«
+
+»Hörst du, Schwester,« rief er ihnen mit letzten Kräften nach, »ich
+phantasiere nicht; diese Heirat ist eine Schuftigkeit. Mag ich ein
+Schuft sein, du aber darfst nicht ... einer von beiden ... und wenn ich
+auch ein Schuft bin, aber so eine Schwester will ich nicht als Schwester
+anerkennen. Entweder ich oder Luschin! Geht ...«
+
+»Du bist verrückt geworden! Despot!« brüllte Rasumichin, aber
+Raskolnikoff antwortete nicht mehr, vielleicht hatte er auch nicht mehr
+die Kraft, zu antworten.
+
+Er hatte sich auf das Sofa gelegt und sich in völliger Ermattung der
+Wand zugekehrt. Awdotja Romanowna blickte Rasumichin voll Interesse an;
+ihre schwarzen Augen funkelten, -- Rasumichin zuckte unter diesem Blicke
+zusammen. Pulcheria Alexandrowna stand, wie vom Donner gerührt, da.
+
+»Ich kann nicht weggehen!« flüsterte sie fast verzweifelt Rasumichin zu,
+»ich bleibe hier, irgendwo ... begleiten Sie Dunja.«
+
+»Und Sie werden die ganze Sache verderben!« flüsterte Rasumichin außer
+sich. »Gehen wir wenigstens auf die Treppe hinaus. Nastasja, leuchte
+uns! Ich schwöre Ihnen,« fuhr er im Flüstertone fort, als sie schon auf
+der Treppe waren, »daß er vorhin beinahe mich und den Arzt verprügelt
+hätte! Verstehen Sie! Selbst den Arzt! Und der gab nach, um ihn nicht zu
+reizen und ging fort, ich aber blieb unten, um auf ihn aufzupassen, er
+hatte sich aber inzwischen angekleidet und entschlüpfte mir. Er wird uns
+auch jetzt entschlüpfen, wenn Sie ihn reizen werden, und es ist Nacht,
+und er kann sich etwas antun ...«
+
+»Ach, was sagen Sie?«
+
+»Und Awdotja Romanowna kann auch nicht ohne Sie allein in diesen
+möblierten Zimmern bleiben! Denken Sie nach, wo Sie abgestiegen sind!
+Dieser Schuft Peter Petrowitsch konnte Ihnen doch eine bessere Wohnung
+... Übrigens, wissen Sie, ich bin ein wenig betrunken und habe darum ...
+ihn geschimpft; beachten Sie es nicht ...«
+
+»Ich gehe zu seiner Wirtin,« bestand Pulcheria Alexandrowna auf ihrer
+Absicht, »ich will sie bitten, mir und Dunja einen Platz für diese Nacht
+zu geben. Ich kann ihn nicht so verlassen, ich kann nicht!«
+
+Während sie darüber sprachen, standen sie auf dem Treppenabsatz vor der
+Türe zu der Wohnung der Wirtin. Nastasja leuchtete ihnen von der letzten
+Stufe herab. Rasumichin war ungewöhnlich erregt. Vor einer halben Stunde
+noch, als er Raskolnikoff nach Hause begleitete, war er wohl übermäßig
+geschwätzig und wußte es auch, er war aber völlig munter und ganz
+frisch, ungeachtet des fürchterlichen Quantums Wein, das er an diesem
+Abend getrunken hatte. Jetzt aber geriet er in Ekstase und der ganze
+Wein schien mit einem Male mit verstärkter Macht ihm zu Kopf gestiegen
+zu sein. Er stand vor den beiden Damen, hatte sie beide an den Händen
+gefaßt, redete auf sie ein und machte ihnen mit erstaunlicher Offenheit
+Vorstellungen und wahrscheinlich, um sie besser zu überzeugen, preßte er
+bei jedem Worte, wie mit Klammern, ihre Hände, daß ihnen die Tränen
+kamen und schien Awdotja Romanowna mit den Augen zu verschlingen, ohne
+sich dabei groß zu genieren. Vor Schmerz suchten sie ihre Hände aus
+seiner großen und knochigen Hand zu befreien, aber er merkte den Grund
+nicht und zog beide noch stärker zu sich. Wenn sie ihm in diesem
+Augenblicke befohlen hätten, ihnen zuliebe sich von der Treppe kopfüber
+hinabzustürzen, er hätte es getan, ohne sich zu besinnen und zu zögern.
+Pulcheria Alexandrowna, ganz aufgeregt im Gedanken an ihren Rodja,
+fühlte wohl, daß der junge Mann sehr exzentrisch sei und zu schmerzhaft
+ihre Hand drücke, aber da er doch für sie ein Stück Vorsehung war, so
+wollte sie alle diese exzentrischen Einzelheiten nicht bemerken. Trotz
+ihrer Aufregung wegen des Bruders und obwohl sie nicht ängstlicher Natur
+war, bemerkte Awdotja Romanowna doch voll Staunen und fast mit Schrecken
+die in wildem Feuer funkelnden Augen des Freundes ihres Bruders, und
+bloß das grenzenlose Vertrauen, das ihr die Erzählung Nastasjas über
+diesen sonderbaren Menschen eingeflößt hatte, hielt sie ab, wegzulaufen
+und die Mutter von ihm wegzubringen. Sie begriff aber auch, daß sie von
+ihm jetzt nicht loskommen könne. Nach etwa zehn Minuten aber hatte sie
+sich schon gefaßt, -- Rasumichins Art war es, sich schnell restlos zu
+zeigen, in welcher Stimmung er auch war, so daß alle sehr bald wußten,
+mit wem sie es zu tun hatten.
+
+»Bei der Wirtin ist es unmöglich, und ein greulicher Unsinn ist es!«
+fiel er Pulcheria Alexandrowna in die Rede. »Mögen Sie auch die Mutter
+sein, wenn Sie aber hier bleiben, versetzen Sie ihn in Raserei und dann
+weiß der Teufel, was folgen wird! Hören Sie, ich will es so machen, --
+jetzt bleibt bei ihm Nastasja sitzen, ich aber begleite Sie beide zu
+Ihrer Wohnung, denn Sie können nicht allein auf der Straße gehen. Bei
+uns in Petersburg ist es in dieser Hinsicht ... Nun, lassen wir das ...
+Ich laufe dann sofort hierher zurück und bringe Ihnen nach einer
+Viertelstunde, mein heiliges Ehrenwort darauf, Rapport, -- wie es mit
+ihm steht, ob er schläft oder nicht und dergleichen. Dann, hören Sie
+weiter! Dann laufe ich von Ihnen auf einen Sprung zu mir, -- ich habe
+Gäste, alle sind betrunken, -- nehme Sossimoff -- das ist der Arzt, der
+ihn behandelt, er sitzt jetzt bei mir, ist nicht betrunken, er ist nie
+betrunken. Ich schleppe ihn zu Rodja und bin wieder sofort bei Ihnen,
+also im Laufe von einer Stunde haben Sie zwei Rapporte über ihn, -- und
+vom Arzte, verstehen Sie, vom Arzte selbst, das ist mehr wert als von
+mir! Sollte es schlimmer sein, ich schwöre Ihnen, so bringe ich Sie
+selbst hierher, steht aber alles gut, so gehen Sie schlafen. Ich aber
+werde diese Nacht hier schlafen, im Flure, er wird nichts hören, und
+Sossimoff werde ich sagen, er soll bei der Wirtin schlafen, damit er da
+ist, wenn man ihn braucht. Nun, was ist für ihn jetzt besser, -- Sie
+oder der Arzt? Der Arzt ist doch nützlicher, nützlicher. Nun, gehen Sie
+also nach Hause! Zu der Wirtin ist es unmöglich; mir ist es möglich,
+Ihnen aber nicht, -- sie wird Sie nicht hereinlassen, weil ... weil sie
+eine Närrin ist. Sie wird auf Awdotja Romanowna meinetwegen eifersüchtig
+sein, wenn Sie es wissen wollen, und auch auf Sie selbst ... Auf Awdotja
+Romanowna aber unbedingt. Sie ist ein vollkommen, vollkommen
+unberechenbarer Charakter! Übrigens, ich bin auch ein Narr ... Ich
+pfeife darauf! Gehen wir! Glauben Sie mir? Nun, glauben Sie mir oder
+nicht? ...«
+
+»Gehen wir, Mama,« sagte Awdotja Romanowna, »er wird bestimmt so tun,
+wie er versprochen hat. Er hat schon einmal den Bruder zum Leben
+erweckt, und wenn der Arzt wirklich damit einverstanden ist, hier zu
+schlafen, dann ist es am besten so.«
+
+»Sehen Sie ... Sie ... Sie verstehen mich, weil Sie ein Engel sind!«
+rief Rasumichin entzückt aus. »Gehen wir! Nastasja! Schnell herauf und
+setze dich mit dem Lichte zu ihm; ich komme in einer Viertelstunde ...«
+
+Obwohl Pulcheria Alexandrowna nicht ganz überzeugt war, widersetzte sie
+sich nicht mehr. Rasumichin bot ihnen beiden seinen Arm und zog sie die
+Treppe hinab. Es beunruhigte sie übrigens eins -- »obwohl er flink und
+gut ist, kann er aber auch erfüllen, was er verspricht? Er ist doch in
+solchem Zustande! ...«
+
+»Sie haben Angst, weil Sie glauben, daß ich nicht ganz klar im Kopfe
+bin!« unterbrach Rasumichin ihren Gedankengang, als ob er ihn erraten
+hätte, während er mit Riesenschritten weiterging, ohne zu bemerken, daß
+die beiden Damen ihm kaum folgen konnten. »Unsinn! das heißt ... ich bin
+wie ein Stück Holz betrunken, aber das hat nichts zu sagen; denn ich bin
+nicht vom Wein betrunken. Als ich Sie erblickte, da stieg mir das Blut
+zu Kopfe ... Aber pfeifen Sie auf mich! Achten Sie nicht darauf, -- ich
+lüge; ich bin Ihrer unwürdig! ... Wenn ich Sie nach Hause gebracht habe,
+gieße ich mir schleunigst hier aus diesem Kanal zwei Eimer Wasser über
+den Kopf, damit ich wieder zur Besinnung komme ... Wenn Sie nur wüßten,
+wie ich Sie beide liebe! ... Lachen Sie nicht und seien Sie mir nicht
+böse! ... Seien Sie auf alle böse, aber auf mich sollen Sie nicht böse
+sein! Ich bin sein Freund, also bin ich auch Ihr Freund. Ich will es so
+... Ich habe es geahnt, ... im vorigen Jahre gab es so einen Augenblick
+... Übrigens, ich habe gar nichts geahnt, denn Sie sind wie vom Himmel
+gefallen. Ich werde vielleicht auch die ganze Nacht nicht schlafen ...
+Dieser Sossimoff fürchtete vorhin, daß er den Verstand verlieren könnte
+... Darum muß man ihn nicht reizen ...«
+
+»Was sagen Sie?« rief die Mutter aus.
+
+»Hat das der Arzt gesagt?« fragte erschrocken Awdotja Romanowna.
+
+»Er hat gesagt, aber nicht das, sondern ganz was anderes. Er hat ihm
+auch eine Arznei gegeben, ein Pulver, ich habe es gesehen, und da kamen
+Sie ... Ach! ... Es wäre besser, Sie wären morgen gekommen! Insofern ist
+es gut, daß wir weggingen. Nach einer Stunde wird Ihnen Sossimoff selbst
+über alles Rapport erstatten. Sehen Sie, der ist nicht betrunken! Auch
+ich wäre nicht betrunken ... Warum aber habe ich so viel getrunken? Wie
+sie mich in eine Diskussion hineingebracht haben, die Verfluchten! Ich
+habe mir selbst das Versprechen gegeben, nicht zu streiten! ... Nun
+redeten sie aber so einen Blödsinn zusammen! Ich habe mich beinahe mit
+ihnen geprügelt! Ich habe nun meinen Onkel als Präsidium hinterlassen
+... Können Sie es glauben, -- sie verlangen völlige Unpersönlichkeit des
+einzelnen und finden darin den Sinn des Lebens! Bloß nicht für sich
+selbst sein, möglichst wenig eigenartig sein! Und das halten sie für den
+allergrößten Fortschritt. Und wenn sie wenigstens auf eigene Art lügen
+würden, so aber ...«
+
+»Hören Sie,« unterbrach ihn schüchtern Pulcheria Alexandrowna, aber das
+brachte ihn noch mehr in Eifer.
+
+»Ja, was meinen Sie?« rief Rasumichin und erhob seine Stimme noch mehr.
+»Meinen Sie, ich rede so, weil sie lügen? Unsinn! Ich liebe es, wenn man
+lügt. Das Lügen ist das einzige menschliche Privilegium vor allen
+Organismen. Wenn du lügst, -- kommst du zur Wahrheit! Ich bin darum auch
+Mensch, weil ich lüge. Keine einzige Wahrheit ist erreicht, ohne daß man
+vorher vierzigmal, vielleicht auch hundertundvierzigmal gelogen hat, und
+das ist in seiner Art höchst ehrenvoll. Wir aber verstehen nicht einmal,
+auf eigene Art zu lügen! Lüge mir vor, aber lüge in deiner Weise, und
+ich gebe dir dann einen Kuß. In seiner eigenen Weise zu lügen ist besser
+noch als Wahrheit nur aus fremder Quelle; im ersten Falle bist du ein
+Mensch, im letzteren bist du bloß ein Papagei. Die Wahrheit wird nicht
+fortlaufen, das Leben aber kann man dabei mit Brettern zunageln; wir
+haben Beispiele dafür. Nun, was sind wir jetzt? Wir alle, alle ohne
+Ausnahme, sitzen in bezug auf Wissenschaft, Entwicklung, Denken,
+Erfindungen, Ideale, Wünsche, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und
+alles, alles, alles und alles noch in der ganz untersten Klasse des
+Gymnasiums! Uns hat es genügt, mit fremder Weisheit auszukommen, -- wir
+haben Geschmack daran gefunden! Ist es nicht so? Habe ich recht?«
+
+»Oh, mein Gott, ich weiß es nicht,« sagte die arme Pulcheria
+Alexandrowna.
+
+»Es ist so, so ... obwohl ich mit Ihnen nicht in allem einverstanden
+bin,« fügte Awdotja Romanowna ernst hinzu, aber gleich darauf schrie sie
+auf, weil er ihr diesmal zu stark die Hand gedrückt hatte.
+
+»So? Sie sagen, es sei so? Ach, dann sind Sie ... Sie ...« rief er voll
+Entzücken aus. »Sie sind die Quelle der Güte, Reinheit, der Vernunft und
+... der Vollkommenheit! Geben Sie mir Ihre Hand, geben Sie ... geben
+auch Sie Ihre Hand, ich will Ihnen beiden die Hände küssen, hier,
+sofort, auf den Knien!«
+
+Und er warf sich mitten auf dem Trottoir, das zum Glück leer war, auf
+die Knie hin.
+
+»Hören Sie auf, ich bitte Sie, was machen Sie?« rief die äußerst
+betroffene Pulcheria Alexandrowna.
+
+»Stehen Sie doch auf, stehen Sie doch auf!« lachte Dunja, aber mit einer
+gewissen Unruhe.
+
+»In keinem Falle, Sie müssen erst Ihre Hände gegeben haben! So ist es
+gut, nun genug, ich bin aufgestanden und nun wollen wir weitergehen! Ich
+bin ein unglückseliger Tolpatsch, ich bin Ihrer unwürdig und bin
+betrunken und schäme mich ... Ich bin nicht wert, Sie zu lieben, aber
+die Knie vor Ihnen zu beugen ist die Pflicht eines jeden, wenn er nicht
+ein vollkommenes Tier ist! Und ich habe vor Ihnen die Knie gebeugt ...
+Da sind auch Ihre möblierten Zimmer, und schon ihretwegen allein war
+Rodion im Rechte, als er vorhin Ihren Peter Petrowitsch hinauswarf! Wie
+durfte er es wagen, Sie in solchen Zimmern unterzubringen? Das ist ein
+Skandal! Wissen Sie, wer hier absteigt? Sie sind doch seine Braut! Sie
+sind seine Braut, nicht wahr? Und nun sage ich Ihnen, daß Ihr Bräutigam
+nach diesem ein Schuft ist!«
+
+»Hören Sie, Herr Rasumichin, Sie haben vergessen ...« begann Pulcheria
+Alexandrowna.
+
+»Ja, ja, Sie haben recht, ich habe mich vergessen, ich schäme mich!«
+rief Rasumichin erschrocken. »Aber ... aber ... aber ... Sie können mir
+nicht böse sein, daß ich so rede! Denn ich sage es aufrichtig und nicht
+weil ... hm! das wäre gemein; mit einem Worte, nicht weil ich Sie ...
+hm! ... nun, also, es ist nicht nötig, ich will nicht sagen, warum, ich
+darf es nicht! ... Wir hatten alle vorhin gleich begriffen, als er
+hereinkam, daß dieser Mensch nicht zu uns paßt. Nicht weil er mit
+gebrannten Locken vom Friseur kam, nicht weil er sich beeilte, seinen
+Verstand zu zeigen, sondern weil er ein Aushorcher und Spekulierer ist,
+weil er ein Jude und Gauner ist, und das sieht man. Sie denken, er ist
+klug? Nein, er ist ein Dummkopf! Nun, paßt er denn zu Ihnen? Oh, mein
+Gott! Sehen Sie, meine Damen,« er blieb plötzlich auf der Treppe stehen,
+»wenn sie alle bei mir auch betrunken sind, dafür aber sind sie alle
+ehrlich, und obgleich wir auch lügen, denn ich lüge auch, aber wir
+werden uns schließlich bis zur Wahrheit durchlügen, weil wir auf einem
+anständigen Wege gehen, Peter Petrowitsch jedoch ... geht nicht auf
+einem anständigen Wege. Ich habe wohl soeben sie alle tüchtig
+geschimpft, aber ich achte sie alle; sogar Sametoff, wenn ich ihn auch
+nicht achte, so liebe ich ihn doch, denn er ist noch wie ein junger
+Hund! Selbst dieses Vieh von Sossimoff, weil er auch ehrlich ist und
+seine Sache versteht ... Aber genug, alles ist gesagt und wird
+verziehen. Ist es verziehen? Ist es wirklich? Nun, gehen wir. Ich kenne
+diesen Korridor, bin hier ein paarmal gewesen; sehen Sie hier, in Nummer
+drei, war einmal ein Skandal ... Nun, wo wohnen Sie? Welche Nummer?
+Acht? Nun, schließen Sie sich für die Nacht ein, lassen Sie niemand
+herein. Nach einer Viertelstunde kehre ich mit einer Nachricht zurück
+und dann noch einmal nach einer halben Stunde mit Sossimoff, Sie werden
+sehen! Leben Sie wohl, ich springe!«
+
+»Mein Gott, Dunetschka, was wird geschehen?« sagte Pulcheria
+Alexandrowna und wandte sich voll Unruhe und Angst an die Tochter.
+
+»Beruhigen Sie sich, Mama,« antwortete Dunja, indem sie ihren Hut und
+die Mantille abnahm. »Uns hat Gott selbst diesen Mann gesandt, obgleich
+er direkt von einer Kneiperei kommt. Man kann sich auf ihn verlassen,
+ich versichere Sie. Was hat er alles schon für den Bruder getan ...«
+
+»Ach Dunetschka, Gott weiß, ob er kommen wird? Wie konnte ich mich dazu
+entschließen, Rodja allein zu lassen! ... Und ich habe es mir nicht,
+durchaus nicht vorgestellt, ihn so zu finden! Wie ernst er war, als wäre
+er um uns nicht froh ...«
+
+Tränen zeigten sich in ihren Augen.
+
+»Nein, das ist nicht wahr, Mama. Sie konnten ihn nicht gut sehen, weil
+Sie fortwährend weinten. Er ist von einer schweren Krankheit sehr
+mitgenommen, -- das ist der ganze Grund.«
+
+»Ach, diese Krankheit! Was soll noch werden, was soll daraus werden! Und
+wie er mit dir sprach, Dunja!« sagte die Mutter und blickte schüchtern
+der Tochter in die Augen, um ihre Gedanken zu erraten, und teilweise
+schon dadurch getröstet, weil Dunja ihren Bruder in Schutz nahm, somit
+ihm verziehen habe. »Ich bin überzeugt, daß er morgen seinen Sinn ändern
+wird,« fügte sie hinzu, sie weiter auszuforschen.
+
+»Und ich dagegen bin überzeugt, daß er auch morgen dasselbe sagen wird
+...« schnitt Awdotja Romanowna ab, und man sprach nicht mehr darüber,
+denn es berührte einen Punkt, über den jetzt zu sprechen Pulcheria
+Alexandrowna sich zu sehr fürchtete.
+
+Dunja trat an die Mutter heran und küßte sie. Diese umarmte sie
+schweigend und innig. Dann setzte sie sich in unruhiger Erwartung
+Rasumichins hin, begann scheu die Tochter zu beobachten, die mit
+gekreuzten Armen und selbst voll Erwartung in Gedanken versunken im
+Zimmer auf und ab ging. Das Auf- und Abgehen in Gedanken war die
+Angewohnheit von Awdotja Romanowna, und die Mutter hütete sich immer,
+ihr Nachdenken zu stören.
+
+Rasumichin war selbstverständlich lächerlich mit seiner plötzlichen, in
+der Trunkenheit entflammten Leidenschaft zu Awdotja Romanowna. Aber wenn
+man Awdotja Romanowna gesehen hatte, besonders jetzt, wo sie mit
+gekreuzten Armen, traurig und nachdenklich auf und ab ging, würden
+vielleicht viele ihn entschuldigt haben, ganz abgesehen von seinem
+exzentrischen Zustande. Awdotja Romanowna war sehr schön, --
+hochgewachsen, wundervoll schlank, kräftig und selbstbewußt, -- das
+äußerte sich in jeder ihrer Bewegungen, tat aber der Weichheit und
+Grazie derselben in keiner Weise Eintrag. Ihr Gesicht ähnelte dem des
+Bruders, man konnte sie mit Recht eine Schönheit nennen. Ihr Haar war
+dunkelblond, ein wenig heller als das des Bruders; die Augen waren fast
+schwarz, ihr Blick stolz und doch wieder zuweilen von ungewöhnlicher
+Güte. Sie war bleich, aber nicht krankhaft; ihr Gesicht hatte vielmehr
+die Frische der Gesundheit. Ihr Mund war etwas klein, die Unterlippe,
+frisch und rot, stand kaum merklich hervor; ebenso das Kinn, das war
+aber auch die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesichte und
+verlieh ihm dafür eine besondere Eigentümlichkeit und vielleicht auch
+etwas wie Hochmut. Der Ausdruck ihres Gesichtes war in der Regel mehr
+ernst und sinnend als fröhlich; wie stand aber dafür ein Lächeln diesem
+Gesichte, wie kleidete sie ein lustiges, junges und sorgloses Lachen! Es
+war begreiflich, daß der hitzige, offene, schlichte, ehrliche,
+reckenhafte und betrunkene Rasumichin, der noch nie etwas Ähnliches
+gesehen hatte, beim ersten Blick den Kopf verlor. Außerdem zeigte ihm
+der Zufall gleich zuerst Dunja, wie absichtlich, in dem schönen Momente
+der Liebe zum Bruder und der Freude des Wiedersehens. Er sah dann, wie
+ihre Unterlippe vor Entrüstung gegenüber den ungestümen und undankbar
+grausamen Wünschen des Bruders zuckte, -- und er konnte nicht mehr
+widerstehen.
+
+Er hatte übrigens die Wahrheit gesagt, als er vorhin in seiner
+Trunkenheit auf der Treppe damit herausplatzte, daß die exzentrische
+Wirtin Raskolnikoffs, Praskovja Pawlowna, nicht bloß wegen Awdotja
+Romanowna, sondern vielleicht auch wegen Pulcheria Alexandrowna auf ihn
+eifersüchtig sein würde. Trotzdem Pulcheria Alexandrowna schon
+dreiundvierzig Jahre alt war, wies ihr Gesicht immer noch Zeichen der
+früheren Schönheit auf und außerdem erschien sie bedeutend jünger als
+sie war, was so oft der Fall ist bei Frauen, die die Klarheit des
+Geistes, die Frische der Eindrücke und das ehrliche, reine Feuer des
+Herzens bis zum Alter sich bewahrten. Wir wollen in Parenthese
+hinzufügen, daß dies zu bewahren das einzige Mittel ist, auch seine
+Schönheit bis ins Alter zu behalten. Ihr Haar zwar begann grau und dünn
+zu werden, kleine strahlenartige Runzeln hatten sich schon lange um die
+Augen gelegt, die Wangen waren eingefallen und vor Kummer und Sorgen
+hager geworden, und dennoch war dieses Gesicht schön. Es war Dunetschkas
+Abbild, nur zwanzig Jahre älter und ohne den besonderen Ausdruck der
+Unterlippe, die bei ihr nicht hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war
+empfindsam, aber nicht bis zur Süßlichkeit, sie war schüchtern und
+nachgiebig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, -- sie konnte in
+vielem nachgeben, konnte mit vielem sich abfinden, selbst wenn es ihrer
+Überzeugung widersprach, aber zur Verleugnung der Ehrlichkeit und ihrer
+tiefsten Überzeugungen konnten sie keine Umstände bringen.
+
+Genau nach zwanzig Minuten, seit Rasumichin weggegangen war, wurde
+zweimal nicht laut, aber hastig an die Türe geklopft; er war
+zurückgekehrt.
+
+»Ich komme nicht herein, habe keine Zeit!« sagte er hastig, als die Türe
+geöffnet wurde. »Er schläft einen Herkulesschlaf, ausgezeichnet, ruhig
+und geb's Gott, daß er zehn Stunden fortschläft. Nastasja sitzt bei ihm;
+ich habe ihr befohlen, nicht wegzugehen, bis ich zurückgekommen bin.
+Jetzt schleppe ich Sossimoff her, er wird Ihnen Rapport erstatten, und
+dann legen Sie sich schlafen; ich sehe, Sie sind abgespannt bis zum
+äußersten ...« Und er lief den Korridor hinab.
+
+»Welch ein flinker und ... ergebener junger Mann!« rief die Pulcheria
+Alexandrowna außerordentlich erfreut aus.
+
+»Er scheint ein prächtiger Mensch zu sein!« antwortete Awdotja Romanowna
+mit einem gewissen Eifer und begann von neuem im Zimmer hin und her zu
+wandern.
+
+Fast nach einer Stunde vernahm man Schritte auf dem Korridor, und bald
+darauf wieder ein Klopfen an der Türe. Beide Frauen warteten, diesmal
+vollkommen dem Versprechen Rasumichins vertrauend, -- und er hatte auch
+tatsächlich Sossimoff mitgeschleppt. Sossimoff hatte sich sofort bereit
+erklärt, das Fest zu verlassen und Raskolnikoff zu besuchen, aber zu den
+Damen ging er unwillig und mißtrauisch, da er dem betrunkenen Rasumichin
+nicht geglaubt hatte. Seine Eigenliebe war aber sofort beruhigt und er
+fühlte sich sogar geschmeichelt, -- er sah, daß man wirklich auf ihn,
+wie auf einen Propheten, gewartet hatte. Er blieb genau zehn Minuten und
+hatte es verstanden, Pulcheria Alexandrowna vollkommen zu beruhigen. Er
+sprach voll ungewöhnlicher Teilnahme, aber zurückhaltend und sehr ernst,
+ganz wie ein siebenundzwanzigjähriger Arzt bei einer wichtigen
+Konsultation, mit keinem Worte schweifte er vom Gegenstande ab und
+zeigte nicht den geringsten Wunsch, mit den Damen in ein persönlicheres
+und privates Verhältnis zu kommen. Als er beim Eintritt gesehen hatte,
+wie blendend schön Awdotja Romanowna war, vermied er, sie zu beachten
+und wandte sich während des ganzen Besuches ausschließlich an Pulcheria
+Alexandrowna. Dies alles gewährte ihm eine außerordentliche innere
+Genugtuung. Über den Kranken äußerte er, daß er ihn gegenwärtig in
+durchaus befriedigendem Zustande gefunden habe. Seinen Beobachtungen
+nach, habe die Krankheit des Patienten, außer der schlechten materiellen
+Lage in den letzten Monaten, noch einige seelische Ursachen, »sie ist
+sozusagen das Resultat vieler komplizierter, moralischer und materieller
+Einflüsse, Aufregungen, Sorgen, gewisser Ideen ... und dergleichen«. Als
+er zufällig bemerkte, daß Awdotja Romanowna besonders aufmerksam
+zuzuhören begann, ging er auf dieses Thema näher ein. Auf die aufgeregte
+und schüchterne Frage Pulcheria Alexandrownas, wegen seines »gewissen
+Verdachts von geistiger Störung,« antwortete er mit ruhigem und offenem
+Lächeln, daß man seine Worte übertrieben habe, daß man bei dem Kranken
+wohl eine fixe Idee, etwas, das auf Monomanie deute, konstatieren könne,
+-- er, Sossimoff, verfolge jetzt besonders diesen äußerst interessanten
+Zweig der Medizin, -- aber man dürfe auch nicht vergessen, daß der
+Kranke bis heute in fieberhaften Phantasien befangen war, und ... und,
+selbstverständlich werde die Ankunft der Verwandten auf ihn kräftigend,
+zerstreuend und heilbringend wirken, »wenn nur neue, besondere
+Erschütterungen vermieden würden,« fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann
+erhob er sich, verabschiedete sich einfach und freundlich, begleitet von
+Segnungen, heißer Dankbarkeit und Bitten; das Händchen Awdotja
+Romanownas streckte sich sogar, ohne daß er es suchte, zum Abschied ihm
+entgegen, und er ging fort, außerordentlich zufrieden mit seinem Besuche
+und noch mehr mit sich selbst.
+
+»Morgen wollen wir weiter sehen; legen Sie sich jetzt unbedingt nieder!«
+sagte Rasumichin, indem er mit Sossimoff fortging. »Morgen bin ich
+möglichst früh mit einem Rapport bei Ihnen.«
+
+»Welch ein reizendes kleines Mädchen diese Awdotja Romanowna ist!«
+bemerkte Sossimoff und schnalzte mit der Zunge, als sie beide auf die
+Straße hinaustraten.
+
+»Reizend? Du hast reizend gesagt!« brüllte Rasumichin, stürzte sich
+plötzlich auf Sossimoff und packte ihn an der Kehle. »Wenn du es noch
+einmal wagst ... Verstehst du? Verstehst du?« schrie er, schüttelte ihn
+am Kragen und drückte ihn an die Wand. »Hast du gehört?«
+
+»Laß mich los, betrunkener Teufel!« wehrte sich Sossimoff, blickte ihn
+dann, nachdem Rasumichin ihn losgelassen hatte, aufmerksam an und
+schüttelte sich plötzlich vor Lachen.
+
+Rasumichin stand mit gesenkten Armen und in düster ernstem Nachdenken
+vor ihm.
+
+»Selbstverständlich bin ich ein Esel,« sagte er finster, wie eine
+Gewitterwolke, »aber auch du ... bist einer.«
+
+»Nein, Bruder, nein, ich bin keiner. Ich träume nicht von Dummheiten.«
+
+Sie gingen schweigend weiter und erst, als sie sich der Wohnung
+Raskolnikoffs näherten, unterbrach Rasumichin mit sorgenvollem Gesichte
+das Schweigen.
+
+»Höre,« sagte er zu Sossimoff, »du bist ein prächtiger Bursche, aber du
+bist, außer all deinen üblen Eigenschaften, noch ein Stromer, das weiß
+ich, und außerdem einer von den ärgsten. Du bist ein nervöser, schwacher
+Lappen, hast verrückte Anwandlungen, hast Fett angesetzt und kannst dir
+nichts versagen, -- und das nenne ich schon gemein, denn es führt zum
+Gemeinen. Du hast dich so verwöhnt, daß ich -- offen gesagt, -- nicht im
+geringsten verstehe, wie du dabei ein guter und sogar aufopfernder Arzt
+sein kannst. Du -- ein Arzt -- schläfst auf einem Pfühle und stehst für
+einen Kranken in der Nacht auf! Nach drei Jahren wirst du nicht mehr
+wegen eines Kranken aufstehen ... Nun, zum Teufel damit, das ist es
+nicht, sondern folgendes, -- du schläfst heute Nacht in der Wohnung der
+Wirtin, -- ich habe sie mit Mühe dazu überredet, -- und ich in der
+Küche, -- da habt ihr Gelegenheit, einander näher kennenzulernen! Nicht
+etwa, wie du meinst, um ...! Davon ist keine Rede!«
+
+»Ich meine auch gar nichts.«
+
+»Hier findest du, Bruder, Schamhaftigkeit, Schweigsamkeit,
+Schüchternheit, eine gräßliche Keuschheit und dabei -- Seufzer, und sie
+schmilzt wie Wachs! Befreie mich von ihr, im Namen aller Teufel in der
+Welt! Sie ist sehr ansprechend! ... Ich vergelte es dir, tausendfach
+vergelte ich es dir!«
+
+Sossimoff lachte noch stärker als vorher.
+
+»Sieh mal, wie du aus dem Häuschen bist! Was soll ich denn mit ihr?«
+
+»Ich versichere dich, du brauchst dich wenig mit ihr abzugeben, rede
+bloß irgendeinen Unsinn, sprich, was du willst, setze dich aber neben
+sie und rede frisch drauf los. Du bist ja auch Arzt, fange an, sie zu
+behandeln. Ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen. Sie hat ein
+Klavier; du weißt, ich klimpere ein bißchen; ich habe bei ihr ein
+kleines Lied, ein echtes russisches Lied liegen, >Ich vergieße bittre
+Tränen ...< Sie liebt echte Volkslieder, -- nun, mit einem Liede fing es
+auch an; und du spielst doch Klavier, wie ein Virtuos, wie ein Meister,
+wie Rubinstein ... Ich versichere, du wirst es nicht bereuen! ...«
+
+»Hast du ihr denn etwas versprochen? Hast du ihr etwas Schriftliches
+gegeben? Hast du ihr versprochen, sie zu heiraten ...«
+
+»Nein, nichts, rein gar nichts! Und sie ist gar nicht so; Tschebaroff
+wollte ihr einen Antrag ...«
+
+»Nun, so laß sie doch laufen!«
+
+»Man kann sie nicht so ohne weiteres laufen lassen!«
+
+»Warum denn nicht?«
+
+»Man kann es nicht tun, und basta! Es ist da etwas, was mich festhält.«
+
+»Warum hast du sie denn verleitet?«
+
+»Ich habe sie gar nicht verleitet, ich habe mich selbst vielleicht aus
+Dummheit verleiten lassen, ihr aber wird es gleichgültig sein, ob du
+oder ich, nur, daß jemand neben ihr sitzt und seufzt. Es ist Bruder ...
+Ich kann es dir nicht erklären, es ist ... nun, du kannst doch gut
+Mathematik, und beschäftigst dich noch jetzt damit, soviel ich weiß ...
+fang an mit ihr die Integralrechnung durchzunehmen, bei Gott, ich
+scherze nicht, ich spreche im Ernst, ihr wird es vollkommen gleich sein,
+-- sie wird dich ansehen und seufzen, und so wird es ein Jahr dauern.
+Ich habe ihr unter anderem sehr lange, zwei Tage nacheinander, von dem
+Herrenhaus in Preußen erzählt, -- denn was soll man mit ihr reden? --
+sie seufzte bloß und schwitzte! Nur über Liebe sprich nicht, -- sie wird
+furchtbar verlegen, -- aber zeige doch, daß du nicht weggehen kannst, --
+das genügt. Es ist sehr komfortabel dort; man ist ganz wie zu Hause, --
+kann lesen, sitzen, liegen oder schreiben ... Man kann sogar einen Kuß
+geben, mit Vorsicht jedoch ...«
+
+»Was soll ich aber mit ihr?«
+
+»Ach, ich kann dir es nicht erklären. Siehst du, -- ihr paßt
+ausgezeichnet zueinander! Ich habe schon früher an dich gedacht ... Du
+wirst schon damit enden! Ist es denn dir nicht einerlei, -- ob früher
+oder später? Hier ist, Bruder, so etwas wie ein Pfühl, -- ach! und auch
+nicht das allein! Hier lockt es einen und zieht, hier ist das Ende der
+Welt, hier wirft man den Anker, hat einen stillen Zufluchtsort,
+sozusagen das Zentrum der Erde, die Essenz von Pfannkuchen,
+Abendsamowars, stillen Seufzern und warmen gestrickten Jacken und
+geheizten Ofenbänken -- nun, es ist, als ob du gestorben wärest und
+gleichzeitig am Leben bist, von beidem die Vorteile auf einen Schlag!
+Nun, Bruder, zum Teufel, ich habe zu viel geschwätzt, es ist Zeit,
+schlafen zu gehen! Höre, -- ich wache in der Nacht zuweilen auf, und da
+will ich nach ihm sehen. Es ist aber nichts, Unsinn, alles ist gut.
+Beunruhige dich nicht besonders, wenn du aber willst, sieh auch mal
+nach. Wenn du aber etwas merken solltest, Fieber zum Beispiel oder
+Phantasieren oder etwas anderes, weck mich sofort auf. Übrigens, es wird
+nichts passieren ...«
+
+
+ II.
+
+Am andern Morgen gegen acht Uhr wachte Rasumichin ernst und sorgenvoll
+auf. Eine Menge von neuen und unvorhergesehenen Fragen tauchte in ihm
+auf. Er hätte sich's früher nicht träumen lassen, daß er jemals so
+aufwachen würde. Er erinnerte sich bis aufs geringste alles gestern
+Vorgefallenen und begriff, daß ihm etwas nicht Alltägliches widerfahren
+sei; daß er in sich einen ihm bis jetzt völlig neuen Eindruck, der
+keinem früheren ähnelte, aufgenommen habe. Gleichzeitig war er sich
+vollkommen klar, daß der Traum, der in seinem Kopfe entflammt war, im
+höchsten Grade unerfüllbar sei, -- so unerfüllbar, daß er sich seiner
+schämte, und er sich schleunigst anderen, alltäglichen Sorgen und
+Plagen, die ihm der »verfluchte gestrige Tag« gebracht hatte, zuwandte.
+
+Die unangenehmste Erinnerung war für ihn, wie »niedrig und gemein« er
+sich gestern benommen hatte, nicht allein, weil er betrunken war,
+sondern weil er vor dem jungen Mädchen aus dummer übereilter Eifersucht,
+ihre Lage ausnutzend, ihren Bräutigam geschimpft hatte, ohne daß er ihr
+gegenseitiges Verhältnis und die Verpflichtungen, geschweige denn den
+Mann selbst ordentlich kannte. Und welches Recht hatte er, so schnell
+und übereilt über ihn zu urteilen? Und wer hatte ihn zum Richter
+berufen? Und kann denn solch ein Wesen, wie Awdotja Romanowna, sich
+einem unwürdigen Menschen des Geldes wegen hingeben? Also, muß er doch
+auch Tugenden haben. Die möblierten Zimmer? Woher sollte er denn in der
+Tat erfahren, was für möblierte Zimmer er genommen hatte? Er läßt doch
+eine Wohnung instand setzen ... pfui, welche Erniedrigung! War das etwa
+eine Entschuldigung, daß er betrunken war? Eine dumme Ausrede, die ihn
+noch mehr bloßstellte. Im Weine liegt die Wahrheit, und da hat sich auch
+die ganze Wahrheit, »das heißt, der ganze Schmutz seines neidischen,
+rohen Herzen«, gezeigt! Ist denn solch eine Idee ihm, Rasumichin,
+überhaupt erlaubt? Wer ist er im Vergleiche mit solch einem jungen
+Mädchen, -- er, der betrunkene Skandalmacher und gestrige Prahlhans?
+»Ist denn so eine zynische und lächerliche Zusammenstellung überhaupt
+möglich?« Rasumichin wurde bei diesem Gedanken rot, dazu erinnerte er
+sich noch, wie absichtlich, deutlich, daß er ihnen gestern auf der
+Treppe erzählt hatte, die Wirtin werde um seinetwillen auf Awdotja
+Romanowna eifersüchtig sein ... nein, es war unerträglich. Wütend schlug
+er mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich die Hand und schlug
+einen Ziegelstein heraus.
+
+»Gewiß,« -- murmelte er nach einer Weile vor sich hin, im Gefühle seiner
+Erniedrigung, -- »gewiß, alle diese Scheußlichkeiten lassen sich nie
+mehr beschönigen und verwischen ... also, soll man auch daran nicht
+denken, sondern man muß schweigend seine Pflichten erfüllen ... nicht
+um Verzeihung bitten, überhaupt nichts sagen, und ... und
+selbstverständlich ist jetzt alles verloren!«
+
+Trotzdem besah er beim Ankleiden seinen Anzug sorgfältiger als sonst.
+Einen anderen Anzug besaß er nicht, und wenn er auch einen anderen
+gehabt hätte, hätte er ihn vielleicht nicht angezogen, -- »gerade nicht
+angezogen«. Auf keinen Fall aber durfte man ein Zyniker und Schmutzfink
+bleiben, -- er hatte kein Recht, die Gefühle anderer zu beleidigen, um
+so mehr, als sie, die anderen, ihn brauchten und ihn selbst zu sich
+riefen. Also bürstete er aufs peinlichste seine Kleider aus. Seine
+Wäsche war stets erträglich, darauf hielt er etwas.
+
+Er wusch sich an diesem Morgen mit großer Sorgfalt, -- bei Nastasja fand
+er Seife, -- er wusch sein Haar, den Hals und besonders die Hände. Als
+aber die Frage an ihn herantrat, ob er seine Borsten rasieren sollte
+oder nicht, -- Praskovja Pawlowna hatte noch von ihrem verstorbenen
+Manne, Herrn Sarnitzin, ausgezeichnete Rasiermesser, -- da wurde sie
+unbarmherzig abgelehnt, -- »so soll es bleiben! Wenn sie meinen, daß ich
+mich rasiert habe, um ... und sie würden es meinen! Nein, ich tue es
+nicht, um keinen Preis in der Welt!«
+
+»Und ... und die Hauptsache ist, daß er so grob, schmutzig ist und
+Manieren wie aus der Kneipe hat, und ... und er weiß auch wohl, daß er
+nun wenigstens ein bißchen ein anständiger Mensch ist ... nun, was ist
+denn da stolz zu sein, daß er ein anständiger Mensch ist? Jeder muß ein
+anständiger Mensch sein und mehr ... er aber hat -- das weiß er --
+manches auf dem Kerbholz ... nichts Unehrenhaftes zwar, aber doch
+allerlei! ... Und was für Gedanken hatte er gehabt? Hm ... und kann man
+denn dies alles auf eine Stufe mit Awdotja Romanowna stellen? Nun, aber
+zum Teufel damit! Mag es so bleiben! Ich will absichtlich so schmutzig,
+schmierig, wie aus der Kneipe sein, und pfeife auf alles andere! Ich
+will es noch mehr zeigen! ...«
+
+Bei diesen Selbstgesprächen traf ihn Sossimoff an, der in der Wohnstube
+von Praskovja Pawlowna geschlafen hatte. Er wollte nach Hause gehen und
+sich vorher noch einmal den Kranken ansehen. Rasumichin teilte ihm mit,
+daß derselbe wie ein Murmeltier schlafe. Sossimoff ordnete an, ihn nicht
+zu wecken, bis er selbst aufwache. Er versprach, in der elften Stunde
+wiederzukommen.
+
+»Wenn er nur zu Hause bleiben wird,« -- fügte er hinzu. --
+
+»Pfui, Teufel! Man hat noch nicht einmal Macht über seinen Kranken und
+soll ihn behandeln! Weißt du es, geht _er_ zu denen, oder kommen _die_
+hierher?«
+
+»Ich glaube, die kommen her,« -- antwortete Rasumichin, als er den Zweck
+der Frage verstanden hatte, -- »und sie werden sicher über ihre
+Familienangelegenheiten sprechen. Ich gehe fort. Du als Arzt hast
+selbstverständlich mehr Rechte als ich.«
+
+»Ich bin doch kein Beichtvater; ich will kommen und sofort weggehen. Ich
+habe noch mehr zu tun.«
+
+»Mich beunruhigt eins,« -- unterbrach ihn Rasumichin mit verdüstertem
+Gesichte, -- »ich habe gestern in der Trunkenheit ihm auf dem Wege
+hierher allerhand Dummheiten erzählt, -- allerhand ... unter anderem
+auch, daß du fürchtest, daß er anscheinend ... zum Irrsinn neige ...«
+
+»Du hast auch gestern den Damen davon geschwatzt.«
+
+»Ich weiß, daß es dumm war. Meinetwegen kannst du mich verhauen! Sag'
+mir aber, hattest du wirklich daran geglaubt?«
+
+»Ich sage doch, es ist Scherz gewesen; was soll ich geglaubt haben? Du
+hast ihn mir selbst als einen Monomanen geschildert, als du mich zu ihm
+brachtest ... Nun, und gestern haben wir noch mehr geschürt, das heißt,
+eigentlich du, mit deiner Erzählung ... von dem Anstreicher; ein schönes
+Gespräch, wenn vielleicht gerade damit seine Verwirrung zusammenhängt!
+Wenn ich alles genau gewußt hätte, was damals im Polizeibureau
+vorgefallen war und daß ihn dort irgendeine Kanaille mit diesem Verdacht
+... gekränkt hatte, ich hätte gestern ein solches Gespräch nicht
+zugelassen. Diese Monomanen machen doch aus einem Tropfen einen Ozean
+und sehen die unsinnigsten Dinge deutlich im wachen Zustande ... Wie ich
+mich erinnere, ist mir gestern aus der Erzählung von Sametoff schon die
+Sache zur Hälfte klar geworden. Das ist noch gar nichts. Ich kenne einen
+Fall, wo ein Hypochonder, ein vierzigjähriger Mann, nicht imstande war,
+den täglichen Spott eines achtjährigen Knaben bei Tische zu ertragen und
+ihn deshalb ermordete! Und hier, er zerlumpt, ein frecher
+Polizeikommissar, beginnende Krankheit, und -- so ein Verdacht! Einem
+ausgesprochenen Hypochonder gegenüber! Mit einer wahnsinnigen, besonders
+ausgeprägten Eigenliebe! Vielleicht sitzt gerade hier der Ausgangspunkt
+der Krankheit! Nun, aber zum Teufel! ... Apropos, dieser Sametoff ist
+wirklich ein lieber Junge, aber hm ... es war doch überflüssig, daß er
+gestern dies alles erzählte. Ein furchtbarer Schwätzer!«
+
+»Wem hat er denn alles erzählt? Mir und dir!«
+
+»Und Porphyri.«
+
+»Nun, was tut denn das?«
+
+»Hm, sag' mal, hast du irgendeinen Einfluß auf die Mutter und Schwester?
+Man müßte heute ihm gegenüber vorsichtiger sein ...«
+
+»Sie werden sich schon einigen!« -- antwortete Rasumichin unwillig.
+
+»Und warum ist er so gegen den Luschin? Ein Mensch mit Geld, ihr, wie es
+scheint, nicht unangenehm ... und sie haben doch keinen blanken Heller!«
+
+»Was forschest du mich aus?« -- rief Rasumichin gereizt. -- »Woher soll
+ich wissen, ob sie einen Heller haben oder nicht? Frage sie doch selbst,
+vielleicht sagen sie es dir ...«
+
+»Na, wie dumm du zuweilen bist! Der gestrige Rausch sitzt noch in dir
+... Auf Wiedersehen! Danke in meinem Namen deiner Praskovja Pawlowna für
+das Nachtlager. Sie hat sich eingeschlossen, auf meinen >Guten Morgen<
+hat sie durch die Tür geantwortet, war aber um sieben Uhr aufgestanden,
+man brachte ihr aus der Küche durch den Korridor den Samowar ... Ich
+hatte nicht die Ehre, sie zu sehen ...«
+
+Punkt neun Uhr erschien Rasumichin in Bakalejeffs »Möbliertem Zimmer«.
+Beide Damen erwarteten ihn schon lange mit nervöser Ungeduld. Sie waren
+schon vor sieben Uhr aufgestanden. Er trat finster wie die Nacht ein,
+machte eine linkische Verbeugung, worüber er sofort ärgerlich wurde --
+selbstverständlich auf sich selbst. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt
+gemacht, -- Pulcheria Alexandrowna stürzte buchstäblich zu ihm hin,
+erfaßte ihn an beiden Händen und küßte sie beinahe. Er warf einen
+schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna, aber auch auf diesem stolzen
+Gesichte lag in diesem Augenblicke solch ein Ausdruck von Dankbarkeit
+und freundlicher Gesinnung, solch eine vollkommene und unerwartete
+Achtung -- (an Stelle von spöttischen Blicken und unwillkürlicher
+schlecht verborgener Verachtung) -- daß es ihm tatsächlich angenehmer
+gewesen wäre, wenn man ihn mit Scheltworten begrüßt hätte, es war zu
+beschämend. Zum Glück gab es ein Thema zur Unterhaltung, und er benutzte
+es sofort.
+
+Als Pulcheria Alexandrowna vernahm, daß er zwar noch nicht aufgewacht,
+aber »daß alles ausgezeichnet gehe,« erklärte sie, das wäre sehr gut,
+weil sie noch vorher mit ihm, Rasumichin, über sehr, sehr vieles zu
+sprechen habe. Er wurde gefragt, ob er schon Tee getrunken habe und dann
+eingeladen, mit ihnen den Tee zu trinken, -- sie hatten in Erwartung
+Rasumichins noch nicht gefrühstückt. Awdotja Romanowna klingelte, auf
+ihr Zeichen erschien ein schmutziger, zerlumpter Kerl, und bei ihm wurde
+der Tee bestellt, der auch endlich gereicht wurde, aber so schmutzig und
+so unanständig, daß die Damen sich schämten. Rasumichin begann energisch
+über diese möblierten Zimmer zu schimpfen, erinnerte sich aber Luschins,
+verstummte, wurde verlegen und war sehr froh, als Pulcheria Alexandrowna
+ihn mit ihren Fragen nicht mehr losließ.
+
+Er beantwortete sie alle, sprach drei Viertelstunden lang, wurde
+beständig unterbrochen und von neuem befragt, und teilte alles
+Hauptsächliche und Notwendige, das er aus dem letzten Jahre kannte, mit,
+und schloß mit einer genauen Erzählung von der Krankheit Rodion
+Romanowitschs. Er ließ aus, was verschwiegen werden mußte, unter anderem
+den Auftritt in dem Polizeibureau mit allen seinen Folgen. Man lauschte
+gierig seiner Erzählung; als er aber glaubte, daß er zu Ende sei und
+seine Zuhörerinnen befriedigt habe, zeigte es sich, daß er für sie kaum
+begonnen zu haben schien.
+
+»Sagen Sie, sagen Sie mir, wie meinen Sie ... ach, entschuldigen Sie,
+ich kenne ja noch nicht einmal Ihren und Ihres Vaters Namen!« -- sagte
+Pulcheria Alexandrowna eilig.
+
+»Dmitri Prokofjitsch.«
+
+»Also, Dmitri Prokofjitsch, ich möchte sehr gern erfahren ... wie er
+überhaupt ... wie er jetzt die Dinge betrachtet, das heißt, verstehen
+Sie mich ... wie soll ich es Ihnen erklären, das heißt, besser gesagt,
+-- was liebt er und was liebt er nicht? Ist er immer so gereizt? Was hat
+er für Wünsche und Träume, wenn man so sagen kann? Was hat auf ihn jetzt
+einen besonderen Einfluß? Mit einem Worte, ich möchte ...«
+
+»Ach, Mama, wie kann man denn das alles auf einmal beantworten!« --
+bemerkte Dunja.
+
+»Ach, mein Gott, ich habe doch nicht, gar nicht erwartet, ihn so zu
+finden, Dmitri Prokofjitsch.«
+
+»Das ist sehr natürlich,« -- antwortete Rasumichin. -- »Ich habe keine
+Mutter mehr, aber mein Onkel kommt jedes Jahr hergereist und erkennt
+mich jedesmal beinahe nicht mehr, selbst dem äußeren nach nicht, und ist
+doch auch ein kluger Mann. Nun, und in den drei Jahren Ihrer Trennung
+ist viel Wasser den Berg hinuntergeflossen. Ja, und was soll ich Ihnen
+sagen? Anderthalb Jahre kenne ich Rodion, -- er ist verschlossen,
+düster, selbstbewußt und stolz; in der letzten Zeit -- vielleicht aber
+auch schon früher -- argwöhnisch und hypochondrisch. Dabei großmütig und
+gut. Er liebt nicht seine Gefühle zu zeigen, und würde lieber hart
+erscheinen, als sein Herz zu offenbaren. Zuweilen erscheint er übrigens
+gar nicht hypochondrisch, sondern einfach kalt und gefühllos bis zur
+Unmenschlichkeit, als ob in ihm zwei entgegengesetzte Charaktere
+abwechselten. Er ist zuweilen schrecklich einsilbig! Er hat nie Zeit,
+immer stören ihn die anderen, dabei liegt er still und tut nichts. Er
+ist nicht spöttisch, nicht als ob es ihm an Witz mangelte, sondern weil
+er keine Zeit für solche Nichtigkeiten übrig hat. Er hört nicht bis zu
+Ende, wenn man ihm erzählt. Er interessiert sich nie für Dinge, für die
+sich alle im gegebenen Augenblicke interessieren. Er schätzt sich hoch
+ein und ich glaube, nicht ohne ein gewisses Recht dazu. Nun, was noch
+... Mir dünkt, Ihre Ankunft wird auf ihn einen sehr heilsamen Einfluß
+ausüben.«
+
+»Ach, möge es Gott geben!« -- rief Pulcheria Alexandrowna aus, die durch
+die Ansicht Rasumichins über ihren Rodja niedergedrückt war.
+
+Rasumichin aber blickte endlich Awdotja Romanowna mit etwas mehr Mut an.
+Er hatte sie während des Gespräches öfters angesehen, aber nur flüchtig,
+auf einen kurzen Augenblick, und wandte immer gleich seine Augen ab.
+Awdotja Romanowna setzte sich bald an den Tisch und hörte aufmerksam zu,
+bald stand sie wieder auf, begann nach ihrer Gewohnheit mit gekreuzten
+Armen und zusammengepreßten Lippen im Zimmer auf und ab zu gehen und
+stellte zuweilen Fragen, ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, und in
+Gedanken versunken. Auch sie hatte die Gewohnheit, nicht bis zu Ende
+zuzuhören. Sie war mit einem dunklen Kleide aus leichtem Stoff
+bekleidet, um den Hals war ein weißes durchsichtiges Tüchlein
+geschlungen. Aus vielen Anzeichen hatte Rasumichin bald die dürftigsten
+Verhältnisse der beiden Frauen ersehen. Wenn Awdotja Romanowna wie eine
+Königin gekleidet gewesen wäre, hätte er sich wohl vor ihr gar nicht
+gefürchtet; jetzt aber hatte sich vielleicht gerade aus dem Grunde, weil
+sie so ärmlich gekleidet war, und weil er die ganze ärmliche Umgebung
+bemerkt hatte, in seinem Herzen eine gewisse Scheu eingenistet, und er
+ängstigte sich für jedes seiner Worte und für jede Bewegung, was für
+einen Menschen, der ohnedem sich nicht traute, sicher unbequem war.
+
+»Sie haben viel Interessantes über den Charakter meines Bruders erzählt
+und ... haben es unparteiisch gesagt. Das ist gut; ich dachte, Sie beten
+ihn an,« -- bemerkte Awdotja Romanowna mit einem Lächeln. -- »Es scheint
+auch besser, wenn um ihn eine Frau ist,« -- fügte sie nachdenklich
+hinzu.
+
+»Das habe ich nicht gemeint, aber Sie haben vielleicht auch darin recht,
+nur ...«
+
+»Was?«
+
+»Er liebt doch niemand; vielleicht wird er auch nie lieben,« -- schnitt
+Rasumichin ab.
+
+»Das heißt, er ist unfähig, jemand zu lieben?«
+
+»Wissen Sie, Awdotja Romanowna, daß Sie Ihrem Bruder auffallend ähnlich
+sehen, in allem!« -- platzte er plötzlich heraus, sich selber
+überraschend, als er sich aber erinnerte, was er ihr soeben über den
+Bruder gesagt hatte, wurde er rot wie ein Krebs und stark verlegen.
+
+Awdotja Romanowna mußte bei seinem Anblicke laut auflachen.
+
+»In bezug auf Rodja könntet ihr beide euch irren,« -- sagte Pulcheria
+Alexandrowna etwas pikiert. -- »Ich rede nicht von dem jetzigen,
+Dunetschka. Das, was Peter Petrowitsch in diesem Briefe schreibt ... und
+was wir mit dir voraussetzten, -- kann unwahr sein, aber Sie können sich
+nicht vorstellen, Dmitri Prokofjitsch, wie phantastisch er ist und --
+wie soll ich es sagen -- launisch er ist. Ich konnte mich nie auf seinen
+Charakter verlassen, selbst als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin
+überzeugt, daß er auch jetzt plötzlich irgend etwas tun kann, woran
+keiner je dachte ... Wir brauchen nicht weit zu gehen, -- ist es Ihnen
+bekannt, wie er vor anderthalb Jahren mich überraschte, erschütterte, ja
+fast bis zum Tode erschreckte, als er diese, wie heißt sie doch, -- die
+Tochter von dieser Sarnitzin heiraten wollte?«
+
+»Wissen Sie etwas Näheres über diese Geschichte?« -- fragte ihn Awdotja
+Romanowna.
+
+»Glauben Sie,« -- fuhr Pulcheria Alexandrowna voll Eifer fort, -- »ihn
+hätten damals meine Tränen, meine Bitten, meine Krankheit, mein Tod
+vielleicht aus Gram, unsere große Armut, zurückgehalten? Er würde über
+alle Hindernisse in größter Ruhe hinweggeschritten sein. Aber ist es
+möglich, ist es möglich, daß er uns nicht liebt?«
+
+»Er hat mir nie selbst etwas über diese Geschichte gesagt,« --
+antwortete Rasumichin vorsichtig, -- »aber ich habe einiges von Frau
+Sarnitzin selbst gehört, die in ihrer Art auch nicht von den
+Mitteilsamen ist, und was ich gehört habe, ist vielleicht ein wenig
+seltsam.«
+
+»Und was, was haben Sie gehört?« -- frugen gleichzeitig beide Frauen.
+
+»Es ist nichts gar so Besonderes. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die
+schon eine vollständig abgemachte Sache war und bloß wegen des Todes der
+Braut nicht zustande kam, Frau Sarnitzin selbst sehr mißfiel ...
+Außerdem erzählt man, daß die Braut nicht hübsch war, das heißt, man
+sagt, sie sei sogar häßlich gewesen ... und sehr kränklich ... und
+eigentümlich ... sie hatte aber, wie es scheint, auch ihre Vorzüge. Es
+mußten unbedingt irgendwelche Vorzüge dagewesen sein, sonst konnte man
+so was nicht verstehen ... Mitgift hatte sie gar keine, und auf Mitgift
+hätte er auch nicht gerechnet ... Es ist überhaupt schwer in solch einer
+Sache zu urteilen.«
+
+»Ich bin überzeugt, daß sie ein würdiges junges Mädchen war,« bemerkte
+Awdotja Romanowna kurz.
+
+»Gott wird es mir verzeihen, ich habe mich aber doch über ihren Tod
+gefreut, obwohl ich es nicht weiß, wer von ihnen den andern zugrunde
+gerichtet hätte, -- er sie oder sie ihn,« schloß Pulcheria Alexandrowna.
+
+Dann begann sie vorsichtig mit Unterbrechungen, wobei sie ständig Dunja
+anblickte, was jener offenbar unangenehm war, wieder über den gestrigen
+Auftritt zwischen Rodja und Luschin zu fragen. Dieser Vorfall
+beunruhigte sie, wie man merken konnte, am meisten, bis zu Angst und
+Zittern. Rasumichin erzählte von neuem alles bis ins einzelne und fügte
+diesmal noch seine Ansicht hinzu, -- er beschuldigte Raskolnikoff, daß
+er Peter Petrowitsch vorsätzlich gekränkt habe und entschuldigte ihn
+sehr wenig durch seine Krankheit.
+
+»Er hat es sich noch vor der Erkrankung ausgedacht,« -- fügte er hinzu.
+
+»Das denke ich auch« -- sagte Pulcheria Alexandrowna niedergeschlagen.
+
+Sie war aber sehr überrascht, daß Rasumichin heute sich so vorsichtig
+und mit Achtung über Peter Petrowitsch äußerte. Auch Awdotja Romanowna
+war erstaunt.
+
+»Ist das Ihre Meinung über Peter Petrowitsch?« -- konnte sich Pulcheria
+Alexandrowna nicht enthalten zu fragen.
+
+»Über den künftigen Mann Ihrer Tochter kann ich auch keine andere
+Meinung haben,« -- antwortete Rasumichin fest und eifrig. -- »Und ich
+sage es nicht aus fader Höflichkeit, sondern weil ... weil ... nun,
+sagen wir, aus dem Grunde allein, weil Awdotja Romanowna selbst
+freiwillig diesen Menschen mit ihrer Wahl beehrte. Wenn ich ihn aber
+gestern so geschimpft habe, so war es, weil ich gestern schmählich
+betrunken und außerdem ... ohne Verstand war, ja, ohne Verstand, ich
+hatte den Verstand verloren, vollkommen ... und heute schäme ich mich
+dessen! ...« Er errötete und verstummte. Auch Awdotja wurde rot, aber
+unterbrach nicht das Schweigen. Sie hatte kein einziges Wort seit dem
+Augenblicke gesagt, als man über Luschin zu sprechen begann. Und
+Pulcheria Alexandrowna war ohne ihre Unterstützung offenbar unschlüssig.
+Schließlich sagte sie, stockend und ununterbrochen die Tochter
+anblickend, daß ein Umstand sie jetzt außerordentlich beunruhige.
+
+»Sehen Sie, Dmitri Prokofjitsch,« -- begann sie. »Ich will gegenüber
+Dmitri Prokofjitsch vollkommen offen sein, Dunetschka.«
+
+»Selbstverständlich, Mama,« -- bemerkte Awdotja Romanowna nachdrücklich.
+
+»Sehen Sie, die Sache ist die,« -- beeilte sie sich nun, ihren Kummer
+mitzuteilen, als hätte man ihr durch die Erlaubnis eine schwere Bürde
+abgenommen. -- »Heute, in aller Frühe, erhielten wir von Peter
+Petrowitsch einen Brief, als Antwort auf unsere gestrige Mitteilung von
+unserer Ankunft. Sehen Sie, er sollte uns gestern auf dem Bahnhofe
+selbst, wie er auch versprochen hatte, empfangen.
+
+Anstatt dessen war ein Diener zu unserem Empfang auf den Bahnhof gesandt
+worden, mit der Adresse von diesen möblierten Zimmern und um uns den Weg
+zu zeigen. Peter Petrowitsch aber ließ uns mitteilen, daß er heute
+morgen hier bei uns erscheinen werde. Anstatt dessen kam heute früh
+dieser Brief von ihm ... Es ist das beste, Sie lesen ihn selbst; in ihm
+ist ein Punkt, der mich sehr beunruhigt ... Sie werden selbst sofort
+sehen, welchen Punkt ich meine, und ... sagen Sie mir Ihre aufrichtige
+Meinung, Dmitri Prokofjitsch! Sie kennen besser als alle den Charakter
+Rodjas und können uns am besten raten. Ich sage Ihnen im voraus, daß
+Dunetschka schon alles vom ersten Schritt an beschlossen hat, ich aber,
+ich weiß noch nicht, wie ich handeln soll und ... und wartete die ganze
+Zeit auf Sie.«
+
+Rasumichin entfaltete den Brief, der mit dem gestrigen Datum versehen
+war, und las folgendes:
+
+»Sehr verehrte Pulcheria Alexandrowna!
+
+Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich infolge plötzlich
+eingetretener Hindernisse Sie auf dem Bahnsteige nicht empfangen konnte,
+ich sandte darum einen gewandten Menschen. Ebenso werde ich auch morgen
+früh nicht die Ehre einer Zusammenkunft mit Ihnen haben können,
+infolge unaufschiebbarer Angelegenheiten im Senat, und um Ihre
+verwandtschaftliche Zusammenkunft mit Ihrem Sohne und Awdotja Romanownas
+mit ihrem Bruder nicht zu stören. Ich will mir aber die Ehre nehmen, Sie
+spätestens morgen, Punkt acht Uhr abends, aufzusuchen, um Ihnen meine
+Aufwartung in Ihrer Wohnung zu machen, wobei ich mir erlaube, eine
+inständige und -- ich füge hinzu -- dringende Bitte auszusprechen, daß
+bei unserer gemeinsamen Zusammenkunft Rodion Romanowitsch nicht anwesend
+sein soll, da er mich bei meinem gestrigen Besuche während seiner
+Krankheit beispiellos und schwer gekränkt hat, und weil ich außerdem mit
+Ihnen persönlich eine notwendige und ausführliche Erklärung über einen
+Punkt haben möchte, über den ich Ihre eigene Deutung zu erfahren
+wünsche. Ich habe die Ehre, im voraus mitzuteilen, daß, falls ich,
+entgegen meiner Bitte, Rodion Romanowitsch antreffen sollte, ich
+gezwungen sein würde, mich zu entfernen, woran Sie allein sich die
+Schuld zuzuschreiben hätten.
+
+Ich schreibe es in der Voraussetzung, daß Rodion Romanowitsch, der bei
+meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, nach zwei Stunden
+plötzlich genas, ausgehen und also zu Ihnen kommen kann. Ich habe mich
+davon mit meinen eigenen Augen überzeugt, als er gestern in der Wohnung
+eines von Pferden überfahrenen Trunkenboldes, der an den Verletzungen
+gestorben ist, dessen Tochter, einem Mädchen von verrufenem
+Lebenswandel, etwa fünfundzwanzig Rubel aushändigte, unter dem Vorwande,
+die Kosten der Beerdigung zu tragen, was mich sehr überraschte, weil ich
+wußte, mit welcher Mühe Sie diese Summe erhielten. Hierbei übermittele
+ich meine besondere Achtung der geehrten Awdotja Romanowna und bitte
+Sie, meine achtungsvolle Ergebenheit entgegenzunehmen.
+
+ Ihr untertänigster Diener
+ P. Luschin.«
+
+»Was soll ich jetzt tun, Dmitri Prokofjitsch?« -- sagte Pulcheria
+Alexandrowna fast weinend. -- »Wie kann ich Rodja zumuten, nicht zu
+kommen? Er verlangte gestern so eindringlich die Absage an Peter
+Petrowitsch, und nun verlangt man, ihn selber abzuweisen. Ja, er wird
+absichtlich kommen, wenn er es erfährt und ... was geschieht dann?«
+
+»Handeln Sie so, wie Awdotja Romanowna beschlossen hat,« -- antwortete
+ruhig und sofort Rasumichin.
+
+»Ach, mein Gott! Sie sagt ... sie sagt -- Gott weiß was, und erklärt mir
+nicht den Zweck! Sie sagt, es würde am besten sein, das heißt, nicht am
+besten sein, sondern es sei aus einem Grunde unbedingt nötig, daß auch
+Rodja heute um acht Uhr abends bestellt werde, und daß sie unbedingt
+hier einander träfen ... Und ich wollte ihm nicht einmal den Brief
+zeigen, und es irgendwie durch Ihre Vermittelung einrichten, daß er
+nicht herkäme ... denn er ist so gereizt ... Ja, und ich verstehe gar
+nicht, was für ein Trunkenbold dort gestorben ist und was das für eine
+Tochter ist, und in welcher Weise konnte er dieser Tochter das letzte
+Geld abgeben ... das ...«
+
+»Das Ihnen so teuer zu stehen kam, Mama,« -- fügte Awdotja Romanowna
+hinzu.
+
+»Er war gestern außer sich,« -- sagte Rasumichin nachdenklich. -- »Wenn
+Sie erst wüßten, was er gestern in einer Restauration angerichtet hat,
+es war ja klug ... hm! Von einem Verstorbenen und von einem Mädchen
+sprach er tatsächlich gestern etwas zu mir, als wir nach Hause gingen,
+aber ich habe kein Wort verstanden ... übrigens, war ich gestern auch
+...«
+
+»Mama, am besten gehen wir zu ihm hin und dort, versichere ich Sie,
+werden wir sofort sehen, was zu tun ist. Und außerdem ist es Zeit, --
+Herrgott! Es ist über zehn Uhr!« -- rief sie aus, nachdem sie einen
+Blick auf ihre prachtvolle goldene Uhr mit Emaille warf, die an einer
+sehr feinen venetianischen Kette um ihren Hals hing, und mit der übrigen
+Kleidung gar nicht harmonierte.
+
+»Ein Geschenk des Bräutigams,« -- dachte Rasumichin.
+
+»Ach, es ist Zeit ... es ist Zeit, Dunetschka, es ist Zeit!« -- regte
+sich Pulcheria Alexandrowna auf. »Er wird denken, daß wir ihm noch von
+gestern her böse sind, weil wir solange nicht kommen. Ach, mein Gott!«
+
+Indem sie es sagte, warf sie eilig ihre Mantille um und setzte den Hut
+auf; auch Dunetschka zog sich an. Ihre Handschuhe waren nicht bloß
+abgetragen, sondern sogar zerrissen, wie Rasumichin bemerkte, indessen
+verlieh diese augenscheinliche Armut der Kleidung den Damen eine Art
+Würde, was immer bei denen der Fall ist, die ein ärmliches Kleid zu
+tragen verstehen. Rasumichin blickte voll Ehrfurcht Dunetschka an und
+war stolz, daß er sie begleiten durfte. »Die Königin,« -- dachte er im
+stillen, -- »die ihre Strümpfe in Gefängnissen stopfte, sah sicher in
+jenem Augenblicke wie eine echte Königin aus und königlicher als zur
+Zeit der prachtvollsten Feste und Empfänge.«
+
+»Mein Gott!« -- rief Pulcheria Alexandrowna aus, -- »habe ich je
+gedacht, daß ich ein Wiedersehen mit meinem Sohne, mit meinem lieben,
+lieben Rodja fürchten werde, wie ich es jetzt tue! ... Ich fürchte mich,
+Dmitri Prokofjitsch!« -- fügte sie hinzu und blickte ihn schüchtern an.
+
+»Fürchten Sie sich nicht, Mama,« sagte Dunja und küßte sie, -- »glauben
+Sie besser an ihn. Ich glaube.«
+
+»Ach, mein Gott! Ich glaube auch, habe aber die ganze Nacht nicht
+geschlafen!« -- rief die arme Frau aus.
+
+Sie traten auf die Straße hinaus.
+
+»Weißt du, Dunetschka, als ich gegen Morgen erst ein wenig einschlief,
+träumte ich plötzlich von der verstorbenen Marfa Petrowna ... sie war
+ganz in weiß ... sie kam auf mich zu, nahm mich an der Hand, schüttelte
+den Kopf über mich, und so streng, so streng, als ob sie mich verdamme
+... Ist das auch ein gutes Zeichen? Ach, mein Gott, Dmitri Prokofjitsch,
+Sie wissen es noch nicht, -- Marfa Petrowna ist gestorben!«
+
+»Nein, ich weiß es nicht. Was für eine Marfa Petrowna?«
+
+»Nachher, Mama,« -- mischte sich Dunja ein, -- »er weiß ja noch nicht,
+wer Marfa Petrowna war.«
+
+»Ach, Sie wissen es nicht? Und ich dachte, Sie kennen schon alles.
+Entschuldigen Sie mich, Dmitri Prokofjitsch, ich verliere in diesen
+Tagen völlig den Verstand. Ich sehe Sie wirklich wie unsere Vorsehung
+an, und darum war ich auch so überzeugt, daß Sie alles schon kennen. Ich
+betrachte Sie wie einen Verwandten ... Seien Sie mir nicht böse, daß ich
+so spreche. Ach, mein Gott, was ist mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie
+sie verletzt?«
+
+»Ja, ich habe sie verletzt,« -- murmelte glückselig Rasumichin.
+
+»Ich spreche zuweilen so offenherzig, daß Dunja mich korrigiert ...
+Aber, mein Gott, in was für einer Kammer er lebt! Ist er wohl schon
+aufgewacht? Und diese Frau, seine Wirtin, rechnet dies für ein Zimmer?
+Hören Sie, Sie sagen, er liebt nicht, sein Herz zu zeigen, so daß ich
+vielleicht ihm auch überdrüssig werden kann ... mit meinen Schwächen?
+... Können Sie mir nicht sagen, Dmitri Prokofjitsch, wie ich ihm
+gegenüber sein soll? Wissen Sie, ich gehe ganz wie verloren umher.«
+
+»Fragen Sie ihn nicht zu sehr aus, wenn Sie merken, daß er das Gesicht
+verzieht; besonders über seine Gesundheit fragen Sie ihn nicht zu viel,
+er liebt es nicht.«
+
+»Ach, Dmitri Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein.«
+
+»Hier ist die Treppe ... Was für eine schreckliche Treppe ...«
+
+»Mama, Sie sind so bleich, beruhigen Sie sich, meine Liebe,« -- sagte
+Dunja und schmiegte sich an sie, -- »er muß glücklich sein, Sie zu
+sehen, und Sie quälen sich so,« -- fügte sie mit funkelnden Augen hinzu.
+
+»Warten Sie, ich sehe zuerst nach, ob er aufgewacht ist.«
+
+Die Damen folgten langsam Rasumichin, der vorher die Treppe
+hinaufgegangen war, und als sie im vierten Stock an der Türe der Wirtin
+vorbei gingen, bemerkten sie, daß die Türe zu deren Wohnung ganz
+unbedeutend geöffnet war, und daß zwei schwarze Augen sie beide schnell
+in der Dunkelheit betrachteten. Als ihre Blicke sich kreuzten, wurde die
+Türe plötzlich zugeschlagen und mit solch einem Knall, daß Pulcheria
+Alexandrowna vor Schreck beinahe aufgeschrien hätte.
+
+
+ III.
+
+»Er ist gesund, gesund!« -- rief den Eintretenden Sossimoff fröhlich zu.
+
+Er war schon vor zehn Minuten gekommen und saß in seiner gestrigen Ecke
+auf dem Sofa. Raskolnikoff saß in der andern Ecke ihm gegenüber,
+vollkommen angekleidet und frisch gewaschen und gekämmt, was schon lange
+nicht mehr vorgekommen war. Das Zimmer war mit einem Male voll, aber
+Nastasja fand doch Zeit, den Besuchern zu folgen, um zuzuhören.
+
+In der Tat, Raskolnikoff war fast gesund, besonders im Vergleiche mit
+gestern, er war bloß sehr blaß, zerstreut und düster. Dem Äußeren nach
+glich er einem Verwundeten oder einem, der einen starken physischen
+Schmerz duldet, -- seine Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen
+aufeinander gepreßt und der Blick fieberhaft. Er sprach wenig und
+widerwillig, wie mit großer Anstrengung oder als erfülle er eine
+Pflicht, und eine Unruhe zeigte sich zuweilen in seinen Bewegungen.
+
+Es fehlte bloß die Binde um den Arm oder ein Verband um den Finger, um
+die völlige Ähnlichkeit mit einem Verletzten vollzumachen.
+
+Aber dieses bleiche und düstere Gesicht erhellte sich auf einen
+Augenblick, als Mutter und Schwester eintraten, aber sein Gesicht nahm
+rasch statt der früheren düsteren Zerstreutheit den Ausdruck innerer
+Pein an, und Sossimoff, der seinen Patienten mit dem ganzen Eifer des
+Anfängers beobachtete und studierte, bemerkte voll Verwunderung, statt
+Freude über die Ankunft der Verwandten, die mühsam versteckte
+Entschlossenheit, eine mehrstündige Folterqual zu ertragen, die man
+nicht umgehen kann. Er sah später, wie fast jedes Wort der
+nachträglichen Unterhaltung irgendeine Wunde seines Patienten zu
+berühren und aufzuwühlen schien, gleichzeitig aber war er wieder
+erstaunt, wie dieser heute verstand, sich zu bemeistern und seine
+Gefühle zu verbergen, -- der gestrige Monomane, der wegen des geringsten
+Wortes fast in Raserei geriet.
+
+»Ja, ich sehe jetzt selbst, daß ich fast gesund bin,« sagte
+Raskolnikoff, und küßte die Mutter und die Schwester freundlich, worüber
+Pulcheria Alexandrowna in Entzücken geriet, »und ich spreche nicht mehr
+wie _gestern_,« fügte er hinzu, sich an Rasumichin wendend, und drückte
+ihm freundschaftlich die Hand.
+
+»Ich habe mich heute nicht wenig über ihn gewundert,« begann Sossimoff,
+der über die Eingetretenen sehr erfreut war, weil er in den zehn Minuten
+den Faden des Gespräches mit seinem Kranken schon verloren hatte. »Nach
+drei oder vier Tagen, wenn es so weiter geht, wird alles beim alten
+sein, das heißt, wie es vor einem oder zwei Monaten ... vielleicht auch
+vor drei Monaten war. Es hat sich doch seit langem vorbereitet und
+entwickelt ... ah? Wollen Sie jetzt eingestehen, daß Sie selbst
+vielleicht mit daran schuld waren?« fügte er mit einem vorsichtigen
+Lächeln hinzu, als fürchte er, ihn schon dadurch zu reizen.
+
+»Es ist sehr möglich,« antwortete Raskolnikoff kalt.
+
+»Ich sage es nur aus dem Grunde,« fuhr Sossimoff fort, »weil Ihre
+völlige Genesung jetzt hauptsächlich von Ihnen allein abhängt. Jetzt, wo
+man mit Ihnen reden kann, möchte ich Ihnen vorhalten, daß es notwendig
+ist, die ursprünglichen, sozusagen die Grundursachen zu beseitigen, die
+Ihren Krankheitszustand hervorgerufen haben, dann werden Sie auch
+genesen, sonst kann es wieder schlimmer werden. Diese ursprünglichen
+Ursachen kenne ich nicht, aber Ihnen müssen Sie bekannt sein. Sie sind
+ein kluger Mensch und haben sich selbst sicher beobachtet. Mir scheint,
+der Anfang Ihrer Krankheit fällt teilweise mit Ihrem Austritt aus der
+Universität zusammen. Sie dürfen nicht ohne Beschäftigung sein, und
+darum können Arbeit und ein fest vorgenommenes Ziel, wie mich dünkt,
+Ihnen von sehr großem Werte sein.«
+
+»Ja, ja, Sie haben vollkommen recht ... ich will sofort die Universität
+besuchen, und dann wird alles ... wie geschmiert gehen ...«
+
+Sossimoff, der seine klugen Ratschläge teilweise wegen der Wirkung auf
+die Damen erteilt hatte, war natürlich verblüfft, als er seine Rede
+beendete und auf dem Gesicht seines Zuhörers einen entschieden
+spöttischen Ausdruck bemerkte. Das währte übrigens nur einen Augenblick.
+Pulcheria Alexandrowna begann sofort, Sossimoff zu danken, besonders für
+seinen Nachtbesuch im Hotel.
+
+»Wie, er ist in der Nacht bei euch gewesen?« fragte Raskolnikoff
+anscheinend beunruhigt. »Also habt ihr auch nach der Reise nicht
+geschlafen?«
+
+»Ach, Rodja, das war doch vor zwei Uhr. Wir haben uns auch zu Hause
+nicht früher als um zwei Uhr schlafen gelegt.«
+
+»Ich weiß nicht, wie ich ihm danken soll,« fuhr Raskolnikoff finster
+fort und den Blick senkend, »abgesehen von der Geldfrage --
+entschuldigen Sie, daß ich es erwähnte« (er wandte sich an Sossimoff),
+»ich weiß gar nicht, wodurch ich so eine besondere Aufmerksamkeit
+Ihrerseits verdient habe? Ich verstehe es einfach nicht ... und ... es
+lastet auf mir sogar, weil es mir unverständlich ist, -- ich sage es
+Ihnen ganz offen --.«
+
+»Werden Sie nur nicht gereizt,« lachte Sossimoff gezwungen. »Stellen Sie
+sich vor, daß Sie mein erster Patient sind, nun, und unsereiner, der
+soeben zu praktizieren anfängt, liebt seine ersten Patienten wie eigene
+Kinder, und manche sogar verlieben sich in sie. Und ich bin an Patienten
+nicht reich.«
+
+»Ich will gar nicht reden von dem dort,« fügte Raskolnikoff hinzu und
+wies auf Rasumichin, »auch er hat außer Kränkungen und Sorgen nichts von
+mir erfahren.«
+
+»Was er faselt! Bist du etwa heute in einer gerührten Stimmung?« rief
+Rasumichin.
+
+Wenn er etwas scharfsinniger gewesen wäre, hätte er gesehen, daß hier
+nichts von einer gerührten Stimmung da war, eher das Gegenteil. Awdotja
+Romanowna aber hatte es gemerkt. Sie beobachtete durchdringend und voll
+Unruhe den Bruder.
+
+»Von Ihnen, Mama, wage ich nicht zu sprechen,« fuhr er fort, als sage er
+etwas vorher auswendig Gelerntes auf. »Heute erst konnte ich
+einigermaßen einsehen, wie Sie sich gestern hier in Erwartung meiner
+Rückkehr gequält haben müssen.«
+
+Dann reichte er plötzlich stumm und mit einem Lächeln der Schwester die
+Hand. In diesem Lächeln schimmerte ein wahres, unverfälschtes Gefühl.
+Dunja erfaßte sofort, erfreut und dankbar, die ausgestreckte Hand und
+drückte sie innig. Zum erstenmal wandte er sich an sie nach dem
+gestrigen Zerwürfnis. Das Gesicht der Mutter leuchtete vor Entzücken und
+Glück beim Anblick dieser endgültigen und wortlosen Aussöhnung zwischen
+Bruder und Schwester.
+
+»Dafür liebe ich ihn!« flüsterte, sich energisch auf dem Stuhle wendend,
+Rasumichin, der sich leicht begeisterte. »Er hat solche Regungen! ...«
+
+»Und wie alles sich bei ihm gut macht,« dachte die Mutter, »was für edle
+Regungen er hat, und wie schlicht und zart er das gestrige
+Mißverständnis mit der Schwester beseitigt hat -- nur dadurch, daß er
+ihr die Hand im richtigen Augenblicke reichte und sie lieb anblickte ...
+Und was für schöne Augen er hat und wie schön das ganze Gesicht ist ...
+Er ist sogar schöner als Dunetschka ... Aber, mein Gott, was für einen
+Anzug hat er an, wie schrecklich ist er gekleidet! Der Markthelfer
+Wassja im Laden Atanassi Iwanowitsch ist besser gekleidet! ... Und ich
+möchte mich ihm an den Hals werfen und ihn umarmen, und ... weinen --
+aber ich fürchte mich, ich fürchte ... wie er es auffassen könnte, oh
+Gott! Er spricht wohl freundlich, aber ich fürchte mich! Nun, warum
+fürchte ich mich? ...«
+
+»Ach, Rodja, du wirst nicht glauben,« beeilte sie sich plötzlich, seine
+Bemerkung zu beantworten, »wie wir gestern, ich und Dunetschka ...
+unglücklich waren! Jetzt, wo alles vorüber und beendet ist, und wir alle
+wieder glücklich sind, -- kann man es sagen. Stell dir vor, wir laufen
+hierher, um dich zu umarmen, fast direkt von der Eisenbahn, und diese
+Frau, -- ah, da ist sie auch! Guten Tag, Nastasja! ... Sie sagt uns
+plötzlich, daß du im starken Fieber liegst und daß du soeben ohne Wissen
+des Arztes im Fieber weggelaufen seist, und daß man dich suchen gegangen
+sei. Du glaubst nicht, wie das uns traf! Ich stellte mir sofort vor, wie
+der Leutnant Potantschikoff, unser Bekannter, ein Freund deines Vaters,
+-- du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja -- tragisch endete, er
+hatte auch starkes Fieber und war in derselben Weise weggelaufen und in
+einen Brunnen im Hofe hineingefallen, am anderen Tage erst konnte man
+ihn herausziehen. Und wir haben es uns selbstverständlich noch schwärzer
+ausgemalt. Wir wollten hinausstürzen und Peter Petrowitsch suchen, um
+mit seiner Hilfe wenigstens ... denn wir waren allein, vollkommen
+allein,« sagte sie mit kläglicher Stimme und verstummte plötzlich, als
+sie sich erinnerte, daß es noch ziemlich gefährlich sei, über Peter
+Petrowitsch zu sprechen, ungeachtet dessen, »daß alle schon wieder
+vollkommen glücklich sind.«
+
+»Ja, ja ... das alles ist sicher ärgerlich ...« murmelte Raskolnikoff,
+aber mit solch einem zerstreuten und fast unaufmerksamen Ausdrucke, daß
+Dunetschka ihn voll Erstaunen ansah.
+
+»Was wollte ich doch sagen,« fuhr er fort und versuchte sich zu
+besinnen, »ja, -- bitte, Mama, und du, Dunetschka, denkt nicht, daß ich
+nicht als erster heute zu euch kommen wollte und etwa auf euren Besuch
+wartete.«
+
+»Ja, was fällt dir ein, Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna, die jetzt
+auch erstaunte, aus.
+
+»Weshalb spricht er so konventionell?« dachte Dunetschka. »Er söhnt sich
+aus und bittet um Verzeihung, als erfülle er eine Pflicht oder sage das
+Gelernte auf!«
+
+»Ich bin soeben aufgewacht und wollte zu euch gehen, aber mich hielten
+meine Kleider auf; ich hatte vergessen, ihr ... Nastasja zu sagen ...
+dieses Blut auszuwaschen ... Jetzt, soeben erst habe ich mich
+angezogen.« --
+
+»Blut! Was für Blut?« sagte Pulcheria Alexandrowna erschrocken.
+
+»Es ist nichts ... regen Sie sich nicht auf. Das Blut kommt daher, weil
+ich, als ich gestern besinnungslos herumirrte, auf einen überfahrenen
+Menschen stieß ... auf einen Beamten ...«
+
+»Besinnungslos? Aber du erinnerst dich an alles,« unterbrach ihn
+Rasumichin.
+
+»Das ist richtig,« antwortete ihm Raskolnikoff mit Bedacht, »ich
+erinnere mich an alles, bis auf die geringste Kleinigkeit, aber dennoch,
+denk dir, -- warum ich das getan und dort gewesen bin und jenes gesagt
+habe, -- kann ich mir nicht erklären.«
+
+»Das ist eine sehr bekannte Tatsache,« mischte sich Sossimoff ein,
+»zuweilen ist die Ausführung einer Sache meisterlich, glänzend, die
+Direktion der Handlungen aber, der Ursprung der Handlungen, ist dunkel
+und hängt von allerhand krankhaften Empfindungen ab. Es ist wie im
+Traume.«
+
+»Es ist vielleicht gut, daß er mich beinahe für einen Irrsinnigen hält,«
+dachte Raskolnikoff.
+
+»Aber das kann man vielleicht auch von Gesunden sagen,« bemerkte
+Dunetschka und sah Sossimoff besorgt an.
+
+»Ihre Bemerkung ist ziemlich richtig,« antwortete er, »in diesem Sinne
+gleichen wir fast alle tatsächlich und sehr oft Verrückten, nur mit dem
+kleinen Unterschiede, daß die >Kranken< ein bißchen mehr verrückt sind
+als wir, man muß hier eine Grenze festhalten. Einen ganz harmonischen
+Menschen aber, -- das ist wahr, -- gibt es fast nicht; auf Zehntausende,
+vielleicht aber auch auf viele Hunderttausende findet man einen ...«
+
+Bei dem Worte »verrückt,« das Sossimoff unvorsichtigerweise
+entschlüpfte, als er auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam, verzogen
+alle die Gesichter. Raskolnikoff saß in Gedanken und mit einem seltsamen
+Lächeln auf den bleichen Lippen da, als schenke er dem keine
+Aufmerksamkeit. Er fuhr fort etwas zu erwägen.
+
+»Nun, was ist mit dem Überfahrenen? Ich habe dich unterbrochen!« rief
+schnell Rasumichin.
+
+»Was?« schien er zu erwachen, »ja ... nun, da habe ich mich mit Blut
+beschmutzt, als ich half, ihn in seine Wohnung zu tragen ... Ja, Mama,
+ich habe gestern etwas Unverzeihliches getan, -- ich war wirklich nicht
+bei Verstand. Ich habe gestern alles Geld, das Sie mir geschickt haben,
+... seiner Frau ... zur Beerdigung gegeben. Sie ist jetzt Witwe, eine
+schwindsüchtige, beklagenswerte Frau ... drei kleine Kinder, Waisen,
+hungrig ... im Hause ist nichts ... und es ist noch eine Tochter da ...
+Vielleicht hätten Sie auch selbst gegeben, wenn Sie gesehen hätten ...
+Ich hatte übrigens gar kein Recht, ich gestehe es ein, besonders weil
+ich weiß, wie Sie dieses Geld sich verschafft haben. Um zu helfen, muß
+man erst ein Recht dazu haben, sonst -- >_Crevez, chiens, si vous n'êtes
+pas contents_{[3]}<.« Er lachte. »Ist es nicht wahr, Dunja?«
+
+»Nein, es ist nicht wahr,« antwortete Dunja fest.
+
+»Bah! Auch du hast ... Ansichten! ...« murmelte er und blickte sie fast
+mit Haß an und lächelte spöttisch. »Ich hätte dies in Betracht ziehen
+müssen ... Nun, was ist dabei, es ist lobenswert und für dich besser ...
+und wenn du bis zu einer Grenze kommst, die du nicht übertreten kannst
+-- wirst du unglücklich sein, und wenn du sie überschreitest, -- wirst
+du vielleicht noch unglücklicher sein ... Übrigens aber, dies ist alles
+Unsinn!« fügte er gereizt hinzu, ärgerlich über seine unwillkürliche
+Offenheit. »Ich wollte bloß sagen, daß ich Sie, Mama, um Verzeihung
+bitte,« schloß er scharf und bündig.
+
+»Aber Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« sagte
+erfreut die Mutter.
+
+»Seien Sie nicht davon überzeugt,« antwortete er und verzog den Mund zu
+einem Lächeln.
+
+Ein Schweigen trat ein. Etwas Gespanntes lag in diesem ganzen Gespräche
+und im Schweigen, wie auch in der Versöhnung und Verzeihung, und alle
+fühlten es.
+
+»Als ob sie sich vor mir fürchteten,« dachte Raskolnikoff und blickte
+die Mutter und die Schwester unter der gesenkten Stirn hervor an.
+
+Pulcheria Alexandrowna wurde immer ängstlicher, je länger sie schwieg.
+
+»Aus der Ferne schien sie doch zu lieben,« durchzuckte es ihn.
+
+»Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« platzte plötzlich
+Pulcheria Alexandrowna heraus.
+
+»Was für eine Marfa Petrowna?«
+
+»Ach, mein Gott, Marfa Petrowna Sswidrigailowa! Ich habe dir so viel
+über sie geschrieben.«
+
+»Ach, ja ich erinnere mich ... also sie ist gestorben? Ach, in der Tat?«
+fuhr er plötzlich auf, als sei er erwacht. »Ist sie wirklich gestorben?
+Woran denn?«
+
+»Stell dir vor, ganz plötzlich!« beeilte sich Pulcheria Alexandrowna ihm
+zu antworten, ermutigt durch seine Neugier, »und gerade in der Zeit, als
+ich dir den Brief schickte, sogar an demselben Tage! Denk dir, dieser
+schreckliche Mensch scheint auch die Ursache ihres Todes zu sein. Man
+erzählt, er habe sie furchtbar verprügelt!«
+
+»Leben sie denn in dieser Weise?« fragte er, sich an die Schwester
+wendend.
+
+»Nein, im Gegenteil. Er war ihr gegenüber stets sehr geduldig und
+höflich. In vielen Fällen sogar zu duldsam ihrer Art gegenüber, volle
+sieben Jahre ... Mit einem Male scheint er die Geduld verloren zu
+haben.«
+
+»Also ist er gar nicht so schrecklich, wenn er sieben Jahre ausgehalten
+hat? Du scheinst ihn, Dunetschka, zu entschuldigen?«
+
+»Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Ich kann mir nichts
+Schrecklicheres vorstellen,« antwortete Dunja fast erbebend, zog die
+Augenbrauen zusammen und wurde nachdenklich.
+
+»Es geschah am Morgen,« fuhr Pulcheria Alexandrowna eilig fort. »Dann
+befahl sie, sofort anzuspannen, um gleich nach dem Mittagessen in die
+Stadt zu fahren, weil sie stets in solchen Fällen in die Stadt fuhr; sie
+aß zu Mittag, wie man sagt, mit großem Appetit ...«
+
+»Verprügelt, wie sie war?«
+
+»... Sie hatte übrigens auch immer diese ... Angewohnheit, und kaum als
+sie gegessen hatte, ging sie, um nicht zu spät abzufahren, sofort in die
+Badestube ... Siehst du, sie nahm aus Gesundheitsrücksichten Bäder; sie
+haben dort eine kalte Quelle, und sie badete dort jeden Tag, und als sie
+ins Wasser stieg, traf sie plötzlich der Schlag!«
+
+»Kein Wunder,« sagte Sossimoff.
+
+»Und hat er sie stark verprügelt?«
+
+»Das ist aber doch gleichgültig,« sagte Dunja.
+
+»Hm. Übrigens, was haben Sie für ein Vergnügen, Mama, solch einen Unsinn
+zu erzählen,« kam es gereizt und plötzlich von den Lippen Raskolnikoffs.
+
+»Ach, mein Freund, ich wußte nicht mehr, worüber ich sprechen soll,«
+sagte Pulcheria Alexandrowna.
+
+»Ja, was ist das, fürchtet ihr mich etwa?« sagte er mit einem
+gezwungenen Lächeln.
+
+»Das ist wahr,« antwortete Dunja und sah den Bruder offen und streng an.
+»Als Mama die Treppe hinaufging, schlug sie sogar ein Kreuz vor Angst.«
+
+Sein Gesicht verzog sich wie im Krampf.
+
+»Ach, Dunja, was ist mit dir! Sei nicht böse, Rodja, ich bitte dich ...
+Warum hast du das gesagt, Dunja!« sagte Pulcheria Alexandrowna verlegen,
+»das ist wahr, als ich hierherreiste, träumte ich den ganzen Weg, wie
+wir uns wiedersehen, wie wir einander alles erzählen werden ... und war
+so glücklich, daß ich die Reise nicht einmal belästigend fand! Ja, was
+sage ich! Ich bin auch jetzt glücklich ... Du hast unrecht, Dunja ...
+Ich bin schon allein dadurch glücklich, daß ich dich sehe, Rodja ...«
+
+»Lassen Sie es, Mama,« murmelte er in Verlegenheit und drückte ihr die
+Hand ohne sie anzublicken, »wir werden schon Zeit haben uns
+auszusprechen.«
+
+Nachdem er das gesagt hatte, wurde er wieder verlegen und erbleichte, --
+wieder durchzog eine kurze schreckliche Empfindung in toter Kälte seine
+Seele, wieder wurde es ihm plötzlich vollkommen klar, daß er soeben eine
+furchtbare Lüge gesagt hatte, daß er nie wieder sich aussprechen könne,
+daß er nie mehr, niemals und mit niemandem, überhaupt _sprechen_ dürfe.
+Der Eindruck dieses qualvollen Gedankens war so stark, daß er auf einen
+Moment sich fast vergaß, von seinem Platze aufstand und ohne jemand
+anzublicken, aus dem Zimmer zu gehen im Begriffe war.
+
+»Was ist dir?« rief Rasumichin und faßte ihn an der Hand.
+
+Er setzte sich wieder hin und begann sich schweigend umzusehen; alle
+blickten ihn befremdet an.
+
+»Ja, warum seid ihr alle so langweilig!« rief er plötzlich, ganz
+unerwartet. »Sagt doch etwas! Warum sitzen wir so herum! Nun, so redet
+doch! Wollen wir uns unterhalten ... Sind zusammengekommen und schweigen
+... redet doch etwas!«
+
+»Gott sei dank! Ich dachte, mit ihm geschieht irgend etwas wie gestern,«
+sagte Pulcheria Alexandrowna und bekreuzigte sich.
+
+»Was ist mit dir, Rodja?« fragte Awdotja Romanowna mißtrauisch.
+
+»Nichts, ich denke gerade an etwas Komisches,« antwortete er und lachte
+plötzlich.
+
+»Nun, wenn es etwas Komisches ist, so ist es gut! Ich dachte beinahe
+selbst ...« murmelte Sossimoff und erhob sich vom Sofa. »Ich muß jetzt
+gehen; ich komme noch einmal her, vielleicht ... wenn ich Sie antreffe
+...« Er verabschiedete sich und ging hinaus.
+
+»Welch ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna.
+
+»Ja, er ist prächtig, ausgezeichnet, gebildet, klug ...« sagte plötzlich
+Raskolnikoff schnell und mit einer an ihm nicht gewohnten Lebhaftigkeit,
+»ich erinnere mich nicht, daß ich ihn vor meiner Krankheit getroffen
+hätte ... und doch ist mir, als hätte ich ihn irgendwo schon getroffen
+... Dieser da ist auch ein guter Mensch!« er wies mit dem Kopfe auf
+Rasumichin, -- »gefällt er dir, Dunja?« fragte er sie und lachte
+plötzlich, ohne daß man wußte warum.
+
+»Er gefällt mir sehr,« antwortete Dunja.
+
+»Pfui, wie ... gemein du bist!« sagte Rasumichin furchtbar verlegen und
+errötend und stand vom Stuhle auf.
+
+Pulcheria Alexandrowna lächelte ein wenig und Raskolnikoff lachte laut.
+
+»Wohin willst du denn?«
+
+»Ich muß auch ... gehen.«
+
+»Du mußt gar nicht, bleibe hier! Sossimoff ist fortgegangen und da mußt
+du auch gehen? Bleib nur. Wieviel Uhr ist es? Ist es schon zwölf? Was du
+für eine nette Uhr hast, Dunja! Ja, warum schweigt ihr wieder? Bloß ich,
+ich allein rede die ganze Zeit! ...«
+
+»Die Uhr ist ein Geschenk von Marfa Petrowna,« antwortete Dunja.
+
+»Und eine sehr teure Uhr,« fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu.
+
+»So--o! Wie groß ist sie, fast keine Damenuhr mehr.«
+
+»Ich habe solche gern,« sagte Dunja.
+
+»Also, es ist kein Geschenk vom Bräutigam,« dachte Rasumichin und wurde
+froh darüber.
+
+»Ich dachte, sie ist ein Geschenk von Luschin,« bemerkte Raskolnikoff.
+
+»Nein, er hat Dunetschka noch nichts geschenkt.«
+
+»So--o! Erinnern Sie sich noch, Mama, daß ich verliebt war und heiraten
+wollte,« sagte er plötzlich und sah die Mutter an, die von der
+unerwarteten Bemerkung und dem Tone, mit dem er sprach, betroffen war.
+
+»Ach, mein Freund, ja ich erinnere mich!« Pulcheria Alexandrowna
+wechselte mit Dunetschka und Rasumichin einen Blick.
+
+»Hm! Ja! Was soll ich Ihnen erzählen? Ich erinnere mich dessen ganz
+wenig. Sie war ein sehr krankes Mädchen,« fuhr er fort, anscheinend
+wieder in Gedanken versunken und mit gesenktem Blicke, »ganz krank war
+sie; sie liebte Almosen zu geben und träumte immer vom Kloster, und
+einmal weinte sie arg, als sie mir davon erzählte. Ja, ja ... ich
+erinnere mich ... ich erinnere mich dessen gut. Sie sah so ... häßlich
+aus. Ich weiß wirklich nicht, warum ich damals eine Neigung zu ihr
+faßte, vielleicht weil sie immer krank war ... Wäre sie noch lahm oder
+buckelig gewesen, ich hätte sie dann, glaube ich, noch mehr geliebt ...«
+(er lächelte nachdenklich). »Es war so ... ein Frühlingstraum ...«
+
+»Nein, es war nicht allein ein Frühlingstraum,« sagte Dunetschka innig.
+
+Er blickte aufmerksam und durchdringend die Schwester an, ohne ihre
+Worte recht gehört oder gar verstanden zu haben. Dann stand er in tiefem
+Nachdenken auf, trat an die Mutter heran, küßte sie, kehrte auf seinen
+Platz zurück und setzte sich wieder.
+
+»Du liebst sie auch jetzt noch!« sagte Pulcheria Alexandrowna gerührt.
+
+»Sie? Jetzt? Ach ja ... Sie meinen sie! Nein. All das ist jetzt wie aus
+einer anderen Welt ... und so lange her. Ja und alles, was hier rings um
+mich geschieht, ist, als geschähe es nicht hier ...«
+
+Er blickte sie aufmerksam an.
+
+»Auch euch ... ich sehe euch, wie tausend Werst weit von hier ... Ja,
+und zum Teufel, warum sprechen wir darüber! Und warum fragt ihr mich
+aus?« fügte er ärgerlich hinzu und verstummte, kaute an den Fingernägeln
+und wurde von neuem nachdenklich.
+
+»Wie schlecht deine Wohnung ist, Rodja, sie ist wie ein Sarg,« sagte
+plötzlich Pulcheria Alexandrowna, das peinliche Schweigen unterbrechend,
+»ich bin überzeugt, daß zur Hälfte dich diese Wohnung zu einem
+Melancholiker gemacht hat.«
+
+»Die Wohnung? ...« antwortete er zerstreut. »Ja, diese Wohnung hat viel
+dazu beigetragen ... ich habe es auch gedacht ... Wenn Sie aber wüßten,
+welchen merkwürdigen Gedanken Sie soeben aussprachen,« fügte er
+plötzlich hinzu und lächelte eigentümlich.
+
+Noch ein Weniges, und diese Gesellschaft, seine nächsten Verwandten, die
+er nach dreijähriger Trennung wiedersah, und diese Art von Gesprächen,
+die kein Thema festzuhalten vermochten, mußten ihm schließlich ganz
+unerträglich werden. Es gab jedoch noch eine unaufschiebbare
+Angelegenheit, die heute noch, so oder so, aber unbedingt entschieden
+werden sollte, -- so hatte er vorhin schon, als er erwachte,
+beschlossen. Jetzt freute er sich darüber, wie über einen Ausweg.
+
+»Höre, Dunja,« begann er ernst und trocken, »ich bitte
+selbstverständlich wegen des Gestrigen um Verzeihung, aber ich halte es
+für meine Pflicht, dich noch einmal zu erinnern, daß ich von meinem
+Hauptverlangen nicht zurücktrete. Entweder ich oder Luschin. Mag ich ein
+Schuft sein, du aber darfst es nicht werden. Einer allein. Wenn du
+Luschin heiratest, höre ich sofort auf, dich als meine Schwester
+anzusehen.«
+
+»Rodja, Rodja! Das ist doch dasselbe wie gestern,« rief Pulcheria
+Alexandrowna kummervoll aus, »und warum nennst du dich immer einen
+Schuft, ich kann es nicht ertragen! Auch gestern war dasselbe ...«
+
+»Bruder,« antwortete Dunja fest und ebenso trocken, »in alledem liegt
+ein Irrtum deinerseits. Ich habe es heute überlegt und den Irrtum
+gefunden. Die Hauptsache ist, daß du, wie es mir scheint, denkst, ich
+bringe mich jemandem und um jemandes willen zum Opfer. Das ist nicht
+richtig. Ich heirate nur meinethalben, weil mir das Leben so zu führen
+selbst schwer fällt; dann aber will ich auch sicher froh sein, wenn es
+mir gelingen sollte, meinen Verwandten nützlich zu sein, zu meinem
+Entschlusse aber ist dies nicht der hauptsächlichste Beweggrund ...«
+
+»Sie lügt!« dachte er und kaute vor Wut an seinen Nägeln. »Sie ist
+stolz! Sie will es nicht eingestehen, daß sie Wohltaten erweisen möchte!
+Oh, diese niedrigen Charaktere! Sie lieben, als haßten sie ... Oh, wie
+ich sie alle ... hasse!«
+
+»Mit einem Worte, ich heirate Peter Petrowitsch,« fuhr Dunetschka fort,
+»weil ich von zwei Übeln das kleinste wähle. Ich habe die Absicht, alles
+ehrlich zu erfüllen, was er von mir erwartet, also betrüge ich ihn nicht
+... Warum lächelst du jetzt?«
+
+Sie errötete und in ihren Augen blitzte der Zorn.
+
+»Du willst alles erfüllen?« fragte er mit einem giftigen Lächeln.
+
+»Bis zu einer gewissen Grenze. Die Art und die Form des Antrages von
+Peter Petrowitsch haben mir sofort gezeigt, was er braucht. Er schätzt
+sich gewiß vielleicht zu hoch ein, aber ich hoffe, daß er auch mich
+schätzt ... Warum lachst du wieder?«
+
+»Und warum errötest du wieder? Du lügst, Schwester, du lügst bewußt,
+bloß aus weiblichem Eigensinn, um nur auf deinem Willen vor mir zu
+bestehen ... Du kannst Luschin nicht achten, -- ich habe ihn gesehen und
+mit ihm gesprochen. Also, verkaufst du dich für Geld und also handelst
+du in jedem Falle niedrig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch
+erröten kannst!«
+
+»Es ist nicht wahr, ich lüge nicht! ...« rief Dunetschka, ihre ganze
+Kaltblütigkeit verlierend, »ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht
+überzeugt wäre, daß er mich schätzt und auf mich etwas gibt; ich würde
+ihn nicht heiraten, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß ich ihn
+selbst achten kann. Zum Glück kann ich mich davon sicher und heute noch
+überzeugen. Und solch eine Heirat ist keine Schuftigkeit, wie du sagst!
+Und wenn du auch recht hättest, wenn ich tatsächlich mich zu einer
+Schuftigkeit entschlossen hätte, -- ist es dann nicht grausam von dir,
+so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir ein Heldentum, das du
+vielleicht selbst nicht hast? Das ist Despotismus, das ist
+Gewalttätigkeit! Wenn ich jemand zugrunde richte, doch höchstens mich
+selbst ... Ich habe noch niemanden getötet ... Warum schaust du mich so
+an? Warum bist du so bleich geworden? Rodja, was ist dir? Rodja, lieber
+...«
+
+»Herrgott! Sie hat ihn bis zur Ohnmacht gebracht!« -- rief Pulcheria
+Alexandrowna aus.
+
+»Nein, nein ... das ist Unsinn ... es ist nichts! ... Der Kopf
+schwindelt mir nur ein wenig. Es ist keine Ohnmacht ... Ihr wittert
+überall Ohnmachten ... Hm! ja ... was wollte ich sagen? Ja, -- wie
+willst du dich heute überzeugen, daß du ihn achten kannst, und daß er
+dich ... schätzt etwa, wie du sagtest? Du sagtest, schien mir, heute?
+Oder habe ich mich verhört?«
+
+»Mama, zeigen Sie dem Bruder den Brief von Peter Petrowitsch,« -- sagte
+Dunetschka.
+
+Pulcheria Alexandrowna reichte ihm mit zitternden Händen den Brief. Er
+nahm ihn mit großer Neugierde. Ehe er ihn aber öffnete, blickte er
+plötzlich verwundert Dunetschka an.
+
+»Sonderbar,« -- sagte er langsam, als wäre er durch einen neuen Gedanken
+überrascht, »warum rege ich mich so auf? Warum dieses ganze Geschrei?
+Heirate, wen du willst!«
+
+Er sagte es scheinbar für sich selbst, sprach es aber laut aus und
+blickte eine Weile die Schwester wie verblüfft an.
+
+Er öffnete endlich den Brief, wobei er immer noch den Ausdruck einer
+seltsamen Verwunderung behielt; dann begann er langsam und aufmerksam zu
+lesen und las den Brief zweimal. Pulcheria Alexandrowna war in großer
+Unruhe, auch die anderen erwarteten etwas Besonderes.
+
+»Mich wundert es,« -- begann er nach einigem Nachdenken und gab den
+Brief der Mutter zurück, wandte sich aber zu keinem einzelnen, -- »er
+führt doch Prozesse, ist Advokat, und seine Weise zu sprechen hat auch
+so einen ... Anstrich, -- aber wie ungebildet er schreibt.« Alle rührten
+sich, das hatten sie nicht erwartet.
+
+»Sie schreiben doch alle so,« -- bemerkte Rasumichin kurz.
+
+»Hast du den Brief gelesen?«
+
+»Ja.«
+
+»Wir haben ihn gezeigt, Rodja, wir ... haben vorhin uns beratschlagt,«
+-- begann Pulcheria Alexandrowna verlegen.
+
+»Es ist eigentlich der Gerichtsstil,« -- unterbrach Rasumichin, --
+»Gerichtspapiere werden heute noch so geschrieben.«
+
+»Gerichtsstil? Ja, wirklich, Gerichtsstil, Geschäftsstil ... Er ist
+nicht ganz ungebildet geschrieben und auch nicht sehr literarisch; ein
+Geschäftsbrief!«
+
+»Peter Petrowitsch verheimlicht auch nicht, daß er wenig gelernt hat,
+und ist sogar stolz darauf, daß er seinen Weg selbst gemacht hat,« --
+bemerkte Awdotja Romanowna, neuerlich durch den Ton des Bruders
+gekränkt.
+
+»Nun, wenn er stolz darauf ist, hat er auch ein Recht dazu, -- ich
+widerspreche nicht. Du, Schwester, scheinst gekränkt zu sein, daß ich
+aus dem ganzen Brief nur so eine frivole Schlußfolgerung gezogen habe,
+und meinst, daß ich absichtlich über solche Kleinigkeiten gesprochen
+habe, um mich über dich aus Ärger lustig zu machen. Im Gegenteil, mir
+kam in bezug des Stils ein in diesem Falle nicht ganz überflüssiger
+Gedanke. In dem Briefe ist ein Ausdruck -- >woran Sie allein sich die
+Schuld zuzuschreiben hätten<, der sehr bedeutungsvoll und klar
+hingesetzt ist, und außerdem enthält der Brief die Drohung, daß er
+sofort fortgehen werde, wenn ich hinkomme. Diese Drohung fortzugehen,
+ist gleichbedeutend der Drohung, euch beide zu verlassen, wenn ihr
+unfolgsam sein werdet, und gerade jetzt zu verlassen, wo er euch nach
+Petersburg gebracht hat. Nun, was meinst du, -- kann man durch solch
+einen Ausdruck seitens Luschins ebenso gekränkt sein, wie wenn er es
+geschrieben hätte« -- (er zeigte auf Rasumichin) -- »oder Sossimoff oder
+einer von uns?«
+
+»N--nein,« -- antwortete Dunetschka, -- »ich habe sehr gut verstanden,
+daß es zu naiv ausgedrückt ist, und daß er vielleicht bloß nicht
+versteht zu schreiben ... Das hast du gut beurteilt, Bruder. Ich habe
+das nicht mal erwartet ...«
+
+»Das ist in Gerichtssprache ausgedrückt und im Gerichtsstil kann man es
+anders nicht schreiben, und es ist gröber herausgekommen, als er
+vielleicht wollte. Übrigens, ich muß dich ein wenig enttäuschen, -- in
+diesem Briefe gibt es noch eine Äußerung, eine Verleumdung in bezug auf
+mich, und eine ziemlich gemeine. Ich habe das Geld gestern der Witwe,
+einer schwindsüchtigen und niedergeschmetterten Frau, gegeben, und nicht
+unter dem Vorwande, die Beerdigungskosten zu tragen, sondern einfach zur
+Beerdigung, auch nicht der Tochter, -- einem Mädchen, wie er schreibt,
+>von verrufenem Lebenswandel< -- und die ich gestern zum ersten Male in
+meinem Leben gesehen habe, sondern tatsächlich der Witwe. In diesem
+allen sehe ich den zu eiligen Wunsch, mich mit Schmutz zu bewerfen und
+mit euch zu verzwisten. Es ist wiederum in der Gerichtssprache
+ausgedrückt, das heißt mit einer zu deutlichen Klarlegung des Zweckes
+und einer sehr naiven Eile. Er ist ein kluger Mann, aber um klug zu
+handeln genügt nicht, nur Verstand zu haben. Dies alles zeigt den
+Menschen und ... ich glaube nicht, daß er dich hochschätzt. Ich teile es
+dir nur zur Belehrung mit, denn ich wünsche aufrichtig dein Gutes ...«
+
+Dunetschka antwortete nicht; ihr Entschluß war schon vorhin gefaßt, sie
+erwartete bloß den Abend.
+
+»Wie entschließt du dich denn, Rodja?« -- fragte Pulcheria Alexandrowna,
+noch mehr beunruhigt als vorhin, durch den plötzlichen, neuen,
+_geschäftlichen_ Ton seiner Rede.
+
+»Was heißt -- entschließest du dich?« --
+
+»Peter Petrowitsch schreibt doch, daß du heute abend nicht bei uns sein
+sollst, und daß er fortgehen werde ... wenn du doch kommen solltest.
+Also, wie ... wirst du kommen?«
+
+»Die Entscheidung hierüber kommt doch selbstverständlich nicht mir,
+sondern erstens Ihnen zu, wenn Sie dieses Verlangen von Peter
+Petrowitsch nicht kränkt, und zweitens Dunja, wenn sie sich auch nicht
+gekränkt fühlt. Und ich will handeln, wie es für sie am besten ist,« --
+fügte er trocken hinzu.
+
+»Dunetschka hat schon beschlossen, und ich bin mit ihr völlig
+einverstanden,« -- beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu bemerken.
+
+»Ich habe beschlossen, dich, Rodja, zu bitten, eindringlich zu bitten,
+unbedingt bei dieser Zusammenkunft zugegen zu sein,« -- sagte Dunja, --
+»willst du kommen?«
+
+»Ich will kommen.«
+
+»Auch Sie bitte ich, bei uns um acht Uhr zu sein,« -- wandte sie sich an
+Rasumichin, -- »Mama, ich fordere ihn auch auf.«
+
+»Sehr gut, Dunetschka. Nun, wie ihr beschlossen habt, möge es bleiben,«
+-- fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. -- »Und für mich ist es auch
+leichter; ich liebe nicht, mich zu verstellen und zu lügen; besser
+wollen wir die ganze Wahrheit sagen ... Mag Peter Petrowitsch jetzt böse
+sein oder nicht!«
+
+
+ IV.
+
+In diesem Augenblicke wurde die Türe leise geöffnet und ins Zimmer trat,
+sich schüchtern umblickend, ein junges Mädchen herein. Alle wandten sich
+mit Erstaunen und Neugier zu ihr um. Raskolnikoff erkannte sie nicht
+gleich auf den ersten Blick. Es war Ssofja Ssemenowna Marmeladowa.
+Gestern hatte er sie zum ersten Male gesehen, aber in solch einem
+Augenblicke, in solcher Umgebung und solch einem Aufzuge, daß in seiner
+Erinnerung das Bild einer ganz anderen Person haften geblieben war.
+Jetzt war es ein einfach und sogar ärmlich angezogenes Mädchen, noch
+sehr jung, fast einem Kinde ähnlich, mit bescheidenem und anständigem
+Wesen, und mit einem klaren, aber anscheinend verängstigten Gesichte.
+Sie hatte ein sehr einfaches Hauskleid an und auf dem Kopfe einen alten
+Hut von früherer Mode; nur in den Händen trug sie den Sonnenschirm von
+gestern. Als sie plötzlich ein Zimmer voll Menschen erblickte, wurde sie
+nicht bloß verlegen, sondern verlor die Fassung und ward verzagt wie ein
+kleines Kind, und machte sogar eine Bewegung, als wollte sie wieder
+gehen.
+
+»Ach ... Sie sind es? ...« sagte Raskolnikoff außerordentlich
+verwundert, und wurde plötzlich selbst verlegen. Er dachte sofort daran,
+daß die Mutter und die Schwester aus dem Briefe Luschins schon etwas von
+einem gewissen Mädchen »von verrufenem Lebenswandel« wußten. Soeben
+hatte er noch gegen die Verleumdung Luschins protestiert und erwähnt,
+daß er dieses Mädchen zum ersten Male gesehen habe, und plötzlich tritt
+sie selbst ein. Er erinnerte sich auch, daß er gar nicht gegen den
+Ausdruck -- »von verrufenem Lebenswandel« protestiert habe. Dies alles
+durchzog unklar und flüchtig seinen Kopf. Als er aber aufmerksamer
+hinblickte, sah er, wie gedrückt dieses erniedrigte Wesen war, und sie
+tat ihm plötzlich leid. Als sie aber im Schreck sich anschickte
+wegzulaufen, schlug seine Stimmung um.
+
+»Ich habe Sie nicht erwartet,« -- sagte er hastig und hielt sie mit
+seinem Blicke zurück. -- »Setzen Sie sich bitte. Sie kommen sicher im
+Auftrage Katerina Iwanownas. Erlauben Sie, setzen Sie sich nicht
+hierhin, sondern dorthin« ... Bei Ssonjas Eintritt war Rasumichin, der
+auf einem der drei Stühle Raskolnikoffs gerade neben der Türe gesessen
+hatte, aufgestanden, um ihr zum Hereingehen Platz zu machen. Zuerst
+wollte ihr Raskolnikoff den Platz in der Ecke des Sofas anbieten, wo
+Sossimoff gesessen hatte, aber es fiel ihm ein, daß dieses Sofa ein zu
+_familiärer_ Platz sei, ihm als Bett diene und beeilte sich, ihr den
+Stuhl Rasumichins anzubieten.
+
+»Und du setzt dich hierher,« -- sagte er zu Rasumichin und wies ihn in
+die Ecke, wo Sossimoff gesessen hatte.
+
+Ssonja setzte sich, fast zitternd vor Angst, und blickte schüchtern auf
+die beiden Damen. Man sah, daß sie selbst nicht begriff, wie sie sich
+neben sie hinsetzen konnte. Als es ihr bewußt wurde, erschrak sie so,
+daß sie wieder aufstand und sich in völliger Verwirrung an Rasumichin
+wandte.
+
+»Ich ... ich ... bin nur auf einen Augenblick gekommen, verzeihen Sie,
+daß ich Sie gestört habe,« -- sagte sie stockend.
+
+»Ich komme im Auftrage Katerina Iwanownas, sie hatte sonst niemanden zum
+Schicken ... Und Katerina Iwanowna läßt Sie sehr bitten, zu der
+Totenmesse morgen früh ... zu kommen. Nach dem Gottesdienst ... auf dem
+Mitrofaniewschen Friedhof und nachher bei uns ... bei ihr ... zu essen
+... Ihr die Ehre zu erweisen ... Sie läßt Sie bitten.«
+
+Sie stockte und verstummte.
+
+»Ich will es unbedingt versuchen ... unbedingt,« -- antwortete
+Raskolnikoff, indem er sich auch erhob, ebenso stockte und nicht
+ausredete. -- »Bitte, tun Sie mir den Gefallen, setzen Sie sich,« --
+sagte er plötzlich, -- »ich muß mit Ihnen sprechen. Bitte, -- Sie haben
+es vielleicht eilig, -- tun Sie mir aber den Gefallen und schenken Sie
+mir nur noch zwei Minuten ...« und er schob ihr den Stuhl hin. Ssonja
+setzte sich wieder, und wieder warf sie schüchtern und verstört einen
+schnellen Blick auf die beiden Damen und senkte sogleich wieder die
+Augen.
+
+Das bleiche Gesicht Raskolnikoffs errötete; er schien wie umgewandelt,
+seine Augen funkelten.
+
+»Mama,« -- sagte er fest und eindringlich, -- »das ist Ssofja Ssemenowna
+Marmeladowa, die Tochter des unglücklichen Herrn Marmeladoff, der
+gestern vor meinen Augen vom Pferde zu Boden getreten wurde, was ich
+Ihnen schon erzählt habe ...«
+
+Pulcheria Alexandrowna blickte nach Ssonja und kniff ein wenig die Augen
+zusammen. Trotz ihrer Verlegenheit vor dem eindringlichen und
+herausfordernden Blicke Rodjas konnte sie sich dieses Vergnügen nicht
+versagen. Dunetschka sah ernst und unverwandt dem armen Mädchen ins
+Gesicht und betrachtete sie unschlüssig. Als Ssonja diese Vorstellung
+hörte, erhob sie die Augen auf einen Augenblick und wurde noch mehr
+verlegen.
+
+»Ich wollte Sie fragen,« -- wandte sich Raskolnikoff schnell zu ihr, --
+»wie hat sich heute alles bei Ihnen gemacht? Hat man sie nicht
+belästigt? ... Zum Beispiel die Polizei.«
+
+»Nein, alles ging glatt ... Es war doch deutlich zu sehen, woran er
+gestorben ist; man hat uns weiter nicht belästigt, nur die Mieter sind
+böse.«
+
+»Warum?«
+
+»Weil die Leiche so lange steht ... jetzt ist es doch heiß, es gibt
+einen Geruch ... so daß man die Leiche heute zur Abendmesse auf den
+Friedhof tragen wird, und läßt sie dort bis morgen in der Kapelle
+stehen. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht, jetzt aber sieht sie
+selbst ein, daß es so besser ist ...«
+
+»Also heute?«
+
+»Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen, morgen bei der Totenmesse in
+der Kirche zu sein, und dann bei ihr zu essen.«
+
+»Sie gibt zu seinem Andenken ein Essen?«
+
+»Ja, einen Imbiß; sie läßt Ihnen sehr danken, daß Sie gestern uns
+geholfen haben ... ohne Sie wäre gar nichts da, womit man ihn hätte
+beerdigen können.«
+
+Ihre Lippen und ihr Kinn bebten plötzlich, aber sie nahm sich zusammen,
+hielt an sich, und senkte wieder die Augen zu Boden.
+
+Während des Gespräches schaute sie Raskolnikoff unverwandt an. Sie hatte
+ein zartes, ganz mageres und blasses Gesichtchen, ziemlich unregelmäßige
+Züge, mit einer spitzen kleinen Nase und ebensolchem Kinn. Man konnte
+sie nicht einmal hübsch nennen, aber ihre blauen Augen waren so klar,
+und, wenn sie sich belebten, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes so gut
+und schlicht, daß sie einen unwillkürlich anzog. In ihrem Gesichte und
+auch in ihrer ganzen Gestalt lag außerdem etwas besonders
+Charakteristisches, -- trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie jünger aus als
+sie war, fast wie ein Kind, und dies zeigte sich zuweilen in gelungener
+Weise bei einigen ihrer Bewegungen.
+
+»Aber wie konnte denn Katerina Iwanowna mit so wenig Mitteln auskommen,
+und hat dazu noch die Absicht, ein Essen zu geben?« ... fragte
+Raskolnikoff, bestrebt, das Gespräch fortzuführen.
+
+»Der Sarg ist einfach ... und alles ist einfach, so daß es nicht teuer
+kommt ... wir haben vorhin mit Katerina Iwanowna alles ausgerechnet, es
+bleibt noch so viel übrig, um sein Andenken zu ehren ... und Katerina
+Iwanowna möchte das so sehr gern. Man kann nichts dagegen sagen ... ihr
+ist es ein Trost ... so ist sie nun, Sie wissen doch ...«
+
+»Ich verstehe, verstehe ... Selbstverständlich ... Warum betrachten Sie
+so mein Zimmer? Meine Mama sagt auch, daß es einem Sarge ähnelt.«
+
+»Sie haben gestern uns alles gegeben!« -- sagte plötzlich Ssonjetschka
+leise und hastig, und schlug wieder die Augen nieder.
+
+Ihre Lippen und ihr Kinn bebten wieder. Sie war längst schon von der
+ärmlichen Umgebung Raskolnikoffs überrascht, und jetzt waren ihr diese
+Worte entschlüpft. Es trat Schweigen ein. Dunetschkas Augen schienen zu
+leuchten, und Pulcheria Alexandrowna blickte Ssonja freundlich an.
+
+»Rodja,« -- sagte sie, sich erhebend, -- »wir essen selbstverständlich
+zusammen zu Mittag. Dunetschka, komm ... Rodja, du solltest ausgehen,
+etwas spazieren gehen, dann dich ausruhen, hinlegen, und dann kommst du
+zu uns ... Ich fürchte, wir haben dich ermüdet ...«
+
+»Ja, ja, ich will kommen,« -- antwortete er eilig im Aufstehen, -- »...
+ich habe übrigens noch zu tun ...«
+
+»Ja, werdet ihr nicht mal zusammen zu Mittag essen?« -- rief Rasumichin
+und blickte erstaunt Raskolnikoff an. -- »Was ist mit dir?«
+
+»Ja, ja, ich komme selbstverständlich ... Bleibe noch einen Augenblick.
+Sie brauchen ihn doch jetzt nicht, Mama? Oder nehme ich ihn euch
+vielleicht weg?«
+
+»Ach, nein, nein! Und Sie, Dmitri Prokofjitsch, kommen Sie zu Mittag,
+seien Sie so gut.«
+
+»Bitte, kommen Sie,« -- bat auch Dunetschka.
+
+Rasumichin verbeugte sich und strahlte förmlich. Auf einen Augenblick
+waren alle sonderbar verlegen.
+
+»Lebwohl, Rodja, das heißt, auf Wiedersehen! Ich liebe nicht >lebwohl<
+zu sagen. Lebwohl, Nastasja, ... ach, wieder habe ich >lebwohl< gesagt!
+...«
+
+Pulcheria Alexandrowna wollte sich auch vor Ssonjetschka verbeugen, aber
+sie brachte es nicht fertig und ging eilig aus dem Zimmer.
+
+Awdotja Romanowna wartete, bis die Reihe an sie kam, und als sie hinter
+der Mutter an Ssonja vorbeiging, verabschiedete sie sich von ihr mit
+einem aufmerksamen, höflichen und achtungsvollen Gruß. Ssonjetschka
+wurde verlegen, grüßte hastig und erschrocken, und ein schmerzliches
+Empfinden drückte sich in ihrem Gesichte aus, als ob die Höflichkeit und
+Aufmerksamkeit Awdotja Romanownas sie bedrückte und peinigte.
+
+»Dunja, lebwohl!« -- rief Raskolnikoff ihr auf der Treppe nach, -- »gib
+mir doch die Hand!«
+
+»Ich habe sie dir doch gereicht, hast du es vergessen?« antwortete Dunja
+innig und wandte sich zu ihm um.
+
+»Nun, was tut es, gib sie mir noch einmal!«
+
+Und er drückte stark ihre kleinen Finger. Dunetschka lächelte ihm zu,
+errötete, riß schnell ihre Hand aus der seinen und ging glücklich der
+Mutter nach.
+
+»Nun, das ist prächtig!« -- sagte er zu Ssonja, indem er in sein Zimmer
+zurückkehrte und sie klar anblickte, -- »gebe Gott den Toten die Ruhe
+und lasse die Lebenden leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Es ist doch so?«
+
+Ssonja sah verwundert in sein plötzlich erhelltes Gesicht; er blickte
+sie einige Augenblicke schweigend und unverwandt an, -- was ihr
+verstorbener Vater von ihr erzählt hatte, lebte in dieser Minute in
+seiner Erinnerung auf ...
+
+ * * * * *
+
+»Herrgott, Dunetschka!« -- sagte Pulcheria Alexandrowna, als sie kaum
+auf der Straße waren, -- »ich freue mich, daß wir weggegangen sind; es
+wird mir leichter zumute. Wie hätte ich mir gestern im Eisenbahnwagen
+denken können, daß ich darüber froh sein könnte!«
+
+»Ich sage Ihnen noch einmal, Mama, daß er noch sehr krank ist. Können
+Sie es denn nicht sehen? Vielleicht ist er so aufgeregt, weil er
+unseretwegen litt. Man muß nachsichtig sein, und man kann vieles, vieles
+verzeihen.«
+
+»Du aber warst nicht nachsichtig!« -- unterbrach sie eifrig und
+eifersüchtig Pulcheria Alexandrowna. -- »Weißt du, Dunja, ich sah euch
+beide an, du bist sein Ebenbild, und nicht so sehr äußerlich als
+seelisch, beide seid ihr schwerblütig, beide seid ihr düster und
+jähzornig, beide hochmütig und beide hochherzig ... Es kann doch nicht
+sein, daß er ein Egoist ist, Dunetschka, he? ... Und wenn ich daran
+denke, was uns heute abend bevorsteht, so steht mir das Herz still!«
+
+»Regen Sie sich nicht auf, Mama, es wird geschehen, was geschehen muß.«
+
+»Dunetschka! Denk doch nur, in welcher Lage wir jetzt sind! Was
+geschieht, wenn Peter Petrowitsch sich zurückzieht?« -- sagte
+unvorsichtigerweise die arme Pulcheria Alexandrowna.
+
+»Ja, und was ist er dann wert?« -- antwortete Dunetschka scharf und
+verächtlich.
+
+»Wir haben gut getan, daß wir jetzt weggingen,« -- beeilte sich
+Pulcheria Alexandrowna fortzufahren, -- »er hatte etwas Eiliges vor; mag
+er ausgehen, er wird frische Luft amten ... es ist furchtbar dumpf bei
+ihm ... aber wo kann man hier frische Luft atmen? Auch auf den Straßen
+hier ist es wie in einem Zimmer ohne Ventilation -- Herrgott, was ist
+das für eine Stadt! ... Warte doch, geh aus dem Wege, man wird dich noch
+umstoßen, sie tragen da etwas! Ein Klavier tragen sie, wirklich ... wie
+sie stoßen ... Dieses Mädchen fürchte ich auch sehr ...«
+
+»Was für ein Mädchen, Mama?«
+
+»Ja, diese dort, Ssofja Ssemenowna, die soeben da war ...«
+
+»Warum denn?«
+
+»Ich habe so eine Ahnung, Dunja. Nun, glaube mir oder nicht, aber als
+sie hereinkam, dachte ich im selben Augenblick, daß hier die Hauptsache
+sei ...«
+
+»Nichts ist da!« -- rief Dunja ärgerlich aus. -- »Was haben Sie auch für
+Ahnungen, Mama! Er kennt sie erst seit gestern, und jetzt, als sie
+hereintrat, erkannte er sie nicht einmal gleich.«
+
+»Nun, du wirst sehen! ... Sie bringt mich in Verwirrung, du wirst sehen,
+wirst sehen! Und ich bin so erschrocken, -- sie blickt mich an und
+blickt mich an, hat solche Augen, ich konnte kaum auf dem Stuhle sitzen
+bleiben, erinnerst du dich, als er sie vorstellte? Und sonderbar
+erscheint es mir, -- Peter Petrowitsch schreibt über sie in solcher
+Weise, und er stellt sie uns vor und dir noch dazu! Sie muß ihm doch
+teuer sein!«
+
+»Er schreibt über vieles! Über uns hat man auch gesprochen und
+geschrieben, haben Sie es vergessen? Und ich bin überzeugt, daß sie ...
+gut ist, und daß alles Unsinn ist!«
+
+»Möge es Gott geben!«
+
+»Und Peter Petrowitsch ist ein häßliches Klatschmaul,« -- schnitt
+plötzlich Dunetschka ab.
+
+Pulcheria Alexandrowna fuhr zusammen. Das Gespräch war plötzlich
+abgebrochen. -- --
+
+ * * * * *
+
+»Höre, höre mal, ich habe etwas mit dir vor ...« -- sagte Raskolnikoff
+und führte Rasumichin zum Fenster hin.
+
+»Also, ich will Katerina Iwanowna ausrichten, daß Sie kommen ...« wollte
+sich Ssonjetschka verabschieden.
+
+»Sofort, Ssofja Ssemenowna, wir haben keine Geheimnisse, Sie stören
+nicht ... Ich möchte Ihnen noch ein paar Worte sagen ... Höre mal,« --
+wandte er sich wieder an Rasumichin. -- »Du kennst doch diesen ... Wie
+heißt er? ... Porphyri Petrowitsch?«
+
+»Und ob? Er ist doch verwandt mit mir. Weshalb?« -- fügte jener mit
+Neugier hinzu.
+
+»Er führt doch jetzt diese Sache ... nun, über den Mord ... worüber ihr
+gestern gesprochen habt ...?«
+
+»Ja ... und?« -- Rasumichin sperrte die Augen auf.
+
+»Er hat die Pfandgeber befragt, ich habe auch dort versetzt,
+Kleinigkeiten, jedoch auch einen Ring von der Schwester, den sie mir zum
+Andenken schenkte, als ich abreiste, und die silberne Uhr meines Vaters.
+Alles das kostet fünf oder sechs Rubel, mir aber sind sie zu teuer als
+Andenken. Was soll ich jetzt tun? Ich will nicht, daß die Sachen
+verloren gehen, besonders die Uhr. Ich bebte davor, daß die Mutter
+danach fragen würde, als wir über Dunetschkas Uhr sprachen. Es ist das
+einzige, was vom Vater herrührt. Sie wird krank werden, wenn die Uhr
+verloren geht! Frauen sind einmal so! Also, was soll ich tun, sage es
+mir! Ich weiß, daß ich im Polizeibureau es anmelden muß. Ist es aber
+nicht besser, sich an Porphyri selbst zu wenden?? Ah! He! Wie meinst du?
+Man müßte es schnell tun. Du wirst sehen, daß die Mutter mich vor dem
+Mittage danach noch fragt.«
+
+»Keinesfalls im Polizeibureau, unbedingt sich an Porphyri wenden!« rief
+Rasumichin in ungewöhnlicher Aufregung. -- »Nun, wie ich froh bin! Ja,
+was ist da viel zu denken, gehen wir sofort hin, es sind bloß zwei
+Schritte, wir treffen ihn bestimmt an.«
+
+»Meinetwegen ... gehen wir zu ihm ...«
+
+»Und er wird sehr, sehr erfreut sein, dich kennenzulernen! Ich habe ihm
+viel von dir gesprochen, zu verschiedenen Malen ... Auch gestern wieder.
+Gehen wir! ... Also du hast die Alte gekannt? So so! ... Ausgezeichnet
+hat sich alles gemacht! ... Ach, ja ... Ssofja Iwanowna ...«
+
+»Ssofja Ssemenowna,« -- korrigierte ihn Raskolnikoff. -- »Ssofja
+Ssemenowna, das ist mein Freund Rasumichin, und ein guter Mensch ist er
+...«
+
+»Wenn Sie jetzt gehen müssen ...« -- begann Ssonja, wobei sie Rasumichin
+gar nicht angesehen hatte, was sie noch mehr verwirrt machte.
+
+»Nun, gehen wir!« -- beschloß Raskolnikoff, -- »ich komme zu Ihnen heute
+noch, Ssofja Ssemenowna, sagen Sie mir, wo Sie wohnen.«
+
+Er war nicht verwirrt, aber er schien es eilig zu haben und vermied
+ihren Blick. Ssonja gab ihre Adresse und errötete dabei. Sie gingen
+gleichzeitig fort.
+
+»Schließt du denn das Zimmer nicht ab?« -- sagte Rasumichin, hinter
+ihnen die Treppe hinabsteigend.
+
+»Nie! ... ich will schon seit zwei Jahren ein Schloß kaufen,« -- fügte
+er nachlässig hinzu. -- »Glücklich sind die Menschen, die nichts
+abzuschließen haben, nicht wahr?« -- wandte er sich lachend an Ssonja.
+
+Auf der Straße blieben sie am Tore stehen.
+
+»Sie müssen nach rechts, Ssofja Ssemenowna! Wie haben Sie mich denn
+gefunden?« -- fragte er sie, schien aber etwas ganz anderes sagen zu
+wollen.
+
+Er wollte die ganze Zeit in ihre stillen klaren Augen blicken, und es
+gelang ihm immer nicht ...
+
+»Sie gaben doch gestern Poletschka Ihre Adresse.«
+
+»Polja? Ach ja ... Poletschka! Das ist ... die Kleine ... das ist Ihre
+Schwester? Also, ich gab ihr meine Adresse!«
+
+»Haben Sie es denn vergessen?«
+
+»Nein ... ich erinnere mich ...«
+
+»Und ich habe von Ihnen noch durch den Verstorbenen gehört ... Ich
+kannte bloß damals Ihren Namen nicht, und auch er selbst wußte ihn nicht
+... Jetzt aber kam ich ... und als ich gestern Ihren Namen hörte ... da
+fragte ich heute: wo wohnt hier Herr Raskolnikoff? ... Und ich wußte
+nicht, daß Sie auch ein Zimmer gemietet ... Leben Sie wohl ... Ich will
+Katerina Iwanowna ...«
+
+Sie war sehr froh, daß sie endlich loskam; und ging mit gesenktem Kopfe
+eilig, um nur schneller aus ihren Augen zu verschwinden, um nur
+schneller diese zwanzig Schritte bis zur Biegung nach rechts in die
+Seitenstraße zu durcheilen und endlich allein zu sein; um im schnellen
+Gehen, ohne jemand anzublicken und unbeachtet, nachzudenken, sich zu
+erinnern und jedes Wort und jeden Umstand sich zurückzurufen. Nie, nie
+hatte sie Ähnliches empfunden. Eine ganz neue Welt war unbekannt und
+dunkel in ihre Seele gedrungen. Sie erinnerte sich plötzlich, daß
+Raskolnikoff heute selbst zu ihr kommen wollte, vielleicht schon heute
+morgen, vielleicht gleich!
+
+»Besser nicht heute, bitte, nicht heute!« -- murmelte sie mit stockendem
+Herzen, als flehe sie jemand an, wie ein erschrecktes Kind. --
+»Herrgott! Zu mir ... in dies Zimmer ... er wird sehen ... oh, Gott!«
+
+Sie konnte sicher in diesem Augenblicke den fremden Herrn nicht
+bemerken, der eifrig sie beobachtete und ihr auf den Fersen folgte. Er
+begleitete sie schon von dem Tore der Wohnung Raskolnikoffs an. In dem
+Augenblicke, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikoff und sie auf dem
+Fußsteige, um ein paar Worte zu wechseln, stehen blieben, schien dieser
+Vorübergehende plötzlich aufzufahren, als er an ihnen vorbeiging und
+zufällig die Worte Ssonjas auffing, -- »da fragte ich, wo wohnt hier
+Herr Raskolnikoff?« Er warf einen schnellen, aber aufmerksamen Blick
+allen dreien zu, besonders aber Raskolnikoff, an den sich Ssonja wandte,
+sah dann das Haus an und merkte es sich. Dies alles war in einem kurzen
+Augenblick, im Vorbeigehen geschehen und unauffällig, nun verminderte er
+seine Schritte, als wartete er. Er wartete auf Ssonja, denn er hatte
+gesehen, daß sie sich verabschiedete und wohl sofort nach Hause gehen
+würde.
+
+»Aber wohin nach Hause? Ich habe dieses Gesicht irgendwo gesehen,« --
+dachte er und forschte in seiner Erinnerung nach dem Gesicht Ssonjas, --
+»... ich muß es erfahren.« Als er die Biegung erreichte, ging er auf die
+andere Seite der Straße hinüber, wandte sich um und sah, daß Ssonja
+denselben Weg wie er eingeschlagen hatte und ihn nicht gewahrte. Sie bog
+in dieselbe Straße ein. Er verlor sie nicht aus den Augen und ging nach
+etwa fünfzig Schritten wieder auf dieselbe Seite hinüber, auf der Ssonja
+dahinschritt, holte sie ein und folgte ihr auf fünf Schritt Entfernung.
+-- Es war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, etwas mehr als
+mittelgroß, wohlbeleibt, mit breiten und schrägen Schultern, was ihm ein
+etwas gebücktes Aussehen verlieh. Er war elegant und bequem gekleidet
+und sah ansehnlich aus. In den Händen trug er einen hübschen Stock, den
+er bei jedem Schritt auf das Trottoir aufstieß, und seine Hände staken
+in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit hervorstehenden
+Backenknochen war nicht unangenehm, und seine Gesichtsfarbe frisch,
+nicht von Petersburger Art. Sein noch sehr dichtes Haar war ganz
+hellblond und kaum leicht ergraut, und der breite dichte Bart, der wie
+eine Schaufel herabhing, war noch heller als das Kopfhaar. Seine blauen
+Augen blickten kalt, durchdringend und sinnend; die Lippen waren rot.
+Überhaupt war er ein ausgezeichnet konservierter Mann und schien
+bedeutend jünger zu sein, als er war.
+
+Als Ssonja auf den Kanal hinauskam, waren sie beide allein auf dem
+Fußsteige. Während er sie beobachtete, hatte er schon ihre
+Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Als Ssonja ihr Haus
+erreichte, ging sie durch das Tor, er folgte ihr und schien überrascht
+zu sein. Im Hofe bog sie rechts in die Ecke ab, wo die Treppe zu ihrer
+Wohnung war. »Ah!« -- murmelte der Unbekannte und begann hinter ihr her
+die Stufen hinaufzusteigen. Hier erst bemerkte ihn Ssonja. Sie ging bis
+ins dritte Stockwerk, bog in den Korridor ein und klingelte an der Türe
+Nr. 9, wo mit Kreide -- »_Kapernaumoff, Schneider_« -- angeschrieben
+war. »Ah!« -- wiederholte der Unbekannte, verwundert über dieses
+seltsame Zusammentreffen, und klingelte an der Türe Nr. 8. Beide Türen
+waren voneinander kaum sechs Schritte entfernt.
+
+»Sie wohnen bei Kapernaumoff!« sagte er, blickte Ssonja an und lachte.
+»Er hat mir gestern eine Weste umgeändert. Und ich wohne hier neben
+Ihnen bei Madame Gertrude Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!« Ssonja
+schaute ihn aufmerksam an.
+
+»Wir sind also Nachbarn,« fuhr er besonders freundlich fort. »Ich bin
+erst seit drei Tagen in der Stadt. Nun, vorläufig auf Wiedersehen.«
+
+Ssonja antwortete nicht; die Tür wurde geöffnet und sie schlüpfte
+hinein. Sie schämte sich und schien sich zu ängstigen ...
+
+ * * * * *
+
+Rasumichin war auf dem Wege zu Porphyri in besonders aufgeregtem
+Zustande.
+
+»Das ist prächtig, Bruder,« wiederholte er ein paarmal, »und ich freue
+mich! Ich freue mich!«
+
+»Ja, worüber freut er sich?« dachte Raskolnikoff.
+
+»Ich wußte gar nicht, daß du auch bei der Alten versetzt hast. Und ...
+und ... ist es lange her? Das heißt, warst du vor längerer Zeit bei
+ihr?«
+
+»Wie naiv und dumm er ist!«
+
+»Wann? ...« Raskolnikoff blieb stehen und besann sich: »Ja, drei Tage
+vielleicht vor ihrem Tode war ich dort. Übrigens, ich gehe doch nicht
+jetzt hin, um die Sachen auszulösen,« sagte er hastig und wie besorgt um
+seine Sachen, »ich habe ja wieder bloß einen einzigen Rubel in Silber
+... infolge des gestrigen verfluchten Fieberanfalls ...«
+
+Den Fieberanfall betonte er besonders.
+
+»Nun, ja, ja, ja,« bestätigte Rasumichin eilig, »also darum auch hat
+dich ... er damals überrascht ... und weißt du, du hast auch im Fieber
+von allerhand Ringen und Ketten immer phantasiert! ... Nun, ja, ja ...
+Das ist klar, alles ist jetzt klar.«
+
+»Also doch! Wie dieser Gedanke bei ihnen sich festgesetzt hat! Dieser
+da, dieser Mensch ließe sich für mich ans Kreuz schlagen, und er ist
+doch froh, daß es sich geklärt hat, warum ich im Fieber von Ringen
+redete! Wie tief es bei ihnen allen wurzelt! ...«
+
+»Werden wir ihn auch antreffen?« fragte er laut.
+
+»Wir treffen ihn bestimmt an,« beeilte sich Rasumichin zu antworten. »Er
+ist ein prächtiger Bursche, du wirst sehen! Ein wenig plump, das heißt,
+er ist wohl Weltmann, aber ich meine in anderem Sinne ist er plump. Ein
+kluger Bursche. Er hat nur eine eigentümliche Denkweise. Mißtrauisch,
+skeptisch, ein Zyniker ... liebt er zu betrügen, das heißt nicht zu
+betrügen, sondern einen anzuführen ... Er hat die alte Mode auf Indizien
+... versteht aber seine Sache, versteht sie gut ... Er hat im vorigen
+Jahre das Dunkel über einen Mord ausgetüftelt, wo fast alle Spuren schon
+verloren waren! Er wünscht sehr, dich kennenzulernen!«
+
+»Ja, warum denn sehr?«
+
+»Das heißt, nicht etwa so ... siehst du, in der letzten Zeit, als du
+krank wurdest, hatte ich viel und oft Gelegenheit, dich zu erwähnen ...
+Nun, er hörte zu ... und als er erfuhr, daß du Jura studiert hast und
+infolge allerhand Umstände den Kursus nicht beenden konntest, sagte er,
+wie schade! Ich folgerte daraus ... das heißt, dies alles zusammen,
+nicht nur dies eine ... gestern hat Sametoff ... Siehst du, Rodja, ich
+habe dir gestern in meiner Betrunkenheit, als wir nach Hause gingen,
+etwas erzählt ... und ich fürchte nun, Bruder, daß du es übertreiben
+könntest, siehst du ...«
+
+»Was denn? Daß man mich für verrückt hält? Ja, vielleicht ist es auch
+wahr.«
+
+Er lächelte gezwungen.
+
+»Ja, ja ... das heißt, pfui, nein! ... Nun, alles, was ich sprach ...
+und auch über anderes, ist Unsinn und in Betrunkenheit gesagt.«
+
+»Ja, wozu entschuldigst du dich! Wie mir das alles zum Ekel ist!« rief
+Raskolnikoff mit übertriebener, zum Teil gespielter Gereiztheit.
+
+»Ich weiß, ich weiß, verstehe es. Sei überzeugt, daß ich es verstehe.
+Ich sollte mich schämen, davon nur zu sprechen ...«
+
+»Wenn du dich schämst, was sprichst du darüber!«
+
+Beide verstummten. Rasumichin war äußerst vergnügt und Raskolnikoff
+fühlte es voll Widerwillen. Ihn beunruhigte auch das, was Rasumichin
+soeben über Porphyri erzählt hatte.
+
+»Vor dem muß man auch ein Klagelied anstimmen,« dachte er erbleichend
+und mit Herzklopfen, »und es recht natürlich machen. Am besten wäre
+vielleicht, nichts vorzuklagen. Absichtlich nichts vorklagen! Nein,
+absichtlich wäre wieder nicht natürlich ... Nun, wie es sich macht ...
+wir werden ja sehen ... bald genug ... aber ist es gut oder nicht gut,
+daß ich hingehe? Der Schmetterling fliegt von selbst ins brennende
+Licht. Mein Herz klopft, das ist nicht gut! ...«
+
+»In diesem grauen Hause wohnt er,« sagte Rasumichin.
+
+»Am wichtigsten ist es, ob Porphyri es weiß oder nicht, daß ich gestern
+in der Wohnung dieser Hexe war ... und von dem Blut sprach? Sogleich muß
+ich es erfahren, beim ersten Schritt, wenn ich hineinkomme, muß ich es
+ihm am Gesichte anmerken; sonst ... und wenn ich zugrunde gehe, ich muß
+es erfahren!«
+
+»Weißt du auch?« wandte er sich plötzlich an Rasumichin mit einem
+schelmischen Lächeln, »ich habe bemerkt, Bruder, daß du dich seit heute
+früh in einer ungewöhnlichen Aufregung befindest? Ist es so?«
+
+»In was für einer Aufregung? In gar keiner Aufregung,« fuhr Rasumichin
+auf.
+
+»Nein, Bruder, es ist dir tatsächlich anzusehen. Auf dem Stuhl saßest du
+vorhin, wie du sonst nie sitzest, so nur auf einem Endchen und die ganze
+Zeit durchzuckte es dich, wie wenn du Krämpfe hättest. Du sprangst mir
+nichts dir nichts auf. Bald sahst du böse aus, bald verzog sich dein
+Gesicht plötzlich zu einem süßen Lächeln. Sogar rot wurdest du,
+besonders als man dich zu Mittag einlud.«
+
+»Nichts von alledem ist wahr, du lügst! ... Was denkst du dir?«
+
+»Ja, und jetzt drehst und wendest du dich wie ein Schulbube? Pfui!
+Teufel! Er ist schon wieder rot geworden!«
+
+»Was du für ein Schwein bist!«
+
+»Ja, warum wirst du so verlegen? Romeo! Warte, ich will es irgend
+jemanden heute noch erzählen, ha--ha--ha! Ich werde Mama zum Lachen
+bringen ... und noch jemand ...«
+
+»Höre mal, höre, aber im Ernste, es ist doch ... Was soll das bedeuten,
+zum Teufel!« Rasumichin wurde ganz verwirrt und starr vor Schrecken.
+»Was willst du ihnen erzählen? Ich bin, Bruder ... Pfui, welch ein
+Schwein du bist!«
+
+»Du bist wie eine Frühlingsrose! Und wie es dir steht, wenn du es nur
+wüßtest. Romeo, ein neuer Romeo! Und wie du dich heute gewaschen hast,
+vielleicht auch die Nägel gereinigt? Ah? Wann war dies zuletzt der Fall?
+Und du hast dich, bei Gott, mit Pomade eingeschmiert! Beuge dich mal!«
+
+»Schwein!«
+
+Raskolnikoff lachte so stark, daß er sich nicht mehr halten konnte, mit
+Lachen traten sie auch in die Wohnung von Porphyri Petrowitsch ein. Das
+wollte eben Raskolnikoff bezwecken, -- drinnen in den Zimmern konnte man
+es hören, daß sie lachend ins Vorzimmer eingetreten waren und dort immer
+noch lachten.
+
+»Kein Wort hier, oder ich ... zerschmettere dich!« flüsterte Rasumichin
+und packte wütend Raskolnikoff an der Schulter.
+
+
+ V.
+
+Sie gingen hinein. Raskolnikoff sah aus, als hielte er mit Gewalt an
+sich, um nicht loszuplatzen. Ihm folgte mit gänzlich verändertem
+Gesichte Rasumichin, rot wie eine Päonie, vor Scham und Wut, und
+verlegen. Sein Gesicht und die ganze Gestalt waren in diesem Augenblicke
+lächerlich und rechtfertigten Raskolnikoffs Heiterkeit. Raskolnikoff,
+dem Hausherrn noch nicht bekannt, verbeugte sich vor ihm, der mitten im
+Zimmer stand und sie fragend anblickte, reichte ihm die Hand und drückte
+die seinige, immer noch mit sichtlicher, großer Mühe seine Lustigkeit
+bekämpfend, um wenigstens ein paar Worte sagen und sich vorstellen zu
+können. Aber kaum war es ihm gelungen, eine ernste Miene anzunehmen und
+etwas hinzumurmeln, -- als er plötzlich, wie unwillkürlich wieder
+Rasumichin anblickte und da hielt er es nicht mehr aus, -- sein
+unterdrücktes Lachen brach um so ungestümer hervor, je stärker er es bis
+jetzt zurückgehalten hatte. Die ungewöhnliche Wut, mit der Rasumichin
+dieses »herzliche« Lachen auffaßte, verlieh diesem ganzen Auftritt das
+Aussehen von aufrichtigster Lustigkeit und, was die Hauptsache war,
+Natürlichkeit. Rasumichin trug, als beabsichtigte er's, noch viel dazu
+bei.
+
+»Pfui, zum Teufel!« brüllte er, holte mit der Hand aus und traf einen
+kleinen runden Tisch, auf dem ein leeres Teeglas stand. Alles fiel hin
+und zerbrach.
+
+»Ja, warum müssen denn gleich Stühle zerschlagen werden, meine Herren,
+das ist ein Verlust für den Staat!« rief Porphyri Petrowitsch lachend
+aus.
+
+Der Auftritt stellte sich wie folgt dar, -- Raskolnikoff lachte weiter,
+seine Hand in der Hand des Hausherrn lassend, aber er kannte das Maß und
+wartete nur auf den Augenblick, um schnell und natürlich zu enden.
+Rasumichin, durch den Fall des Tisches und des zerschlagenen Glases
+völlig verwirrt, blickte düster auf die Scherben, spie aus und drehte
+sich schroff nach dem Fenster, wo er sich mit dem Rücken gegen die
+übrigen hinstellte und mit fürchterlich finsterem Gesichte
+hinausschaute, aber nichts sah. Porphyri Petrowitsch lachte und hätte
+noch mehr gelacht, wenn er nur eine Erklärung dafür gehabt hätte. In der
+Ecke auf einem Stuhle hatte Sametoff gesessen, der sich beim Eintritt
+der Besucher erhob und in Erwartung dastand; sein Mund war zu einem
+Lächeln verzogen, aber er schaute stutzig und mißtrauisch dem ganzen
+Auftritt zu und sah Raskolnikoff verwirrt an. Die unerwartete
+Anwesenheit Sametoffs überraschte Raskolnikoff unangenehm.
+
+»Da muß man sich in acht nehmen!« dachte er.
+
+»Entschuldigen Sie, bitte,« begann er plötzlich ganz verlegen,
+»Raskolnikoff ...«
+
+»Erlauben Sie aber, sehr angenehm, und Sie kamen so angenehm herein ...
+Was, will er nicht mal >Guten Tag< sagen?« wies Porphyri Petrowitsch auf
+Rasumichin.
+
+»Bei Gott, ich weiß nicht, warum er auf mich wütend ist. -- Ich sagte
+ihm bloß auf dem Wege hierher, daß er Romeo ähnlich sei und ... habe es
+bewiesen, sonst war nichts.«
+
+»Du bist ein Schwein!« rief Rasumichin, ohne sich umzuwenden.
+
+»Er hatte also sehr ernste Gründe, um wegen dieses einzigen Wortes so
+böse zu werden,« lachte Porphyri Petrowitsch.
+
+»Nun auch der Untersuchungsrichter! ... Zum Teufel mit euch allen!«
+schnitt Rasumichin ab, plötzlich aber lachte er selbst und ging mit
+heiterem Gesichte, als wäre nichts vorgefallen, auf Porphyri Petrowitsch
+zu.
+
+»Schluß damit! Alle seid ihr Dummköpfe. Jetzt zur Sache, -- hier ist
+mein Freund, Rodion Romanytsch Raskolnikoff, der erstens von dir viel
+gehört hat und mit dir bekannt werden wollte, und der zweitens ein
+kleines Ansuchen an dich hat. Ah! Sametoff! Wie kommst du hierher? Kennt
+ihr denn einander? Seid ihr schon lange bekannt?«
+
+»Was bedeutet das!« dachte Raskolnikoff voll Unruhe.
+
+Sametoff schien ein wenig verlegen zu werden.
+
+»Wir haben uns gestern doch bei dir kennengelernt,« sagte er
+ungezwungen.
+
+»Also hat mich Gott vor Schererei behütet; in der vorigen Woche hat er
+mich geplagt, ihn mit dir, Porphyri, irgendwie bekannt zu machen, und
+nun habt ihr euch, ohne meine Hilfe, gefunden ... Wo hebst du deinen
+Tabak auf?«
+
+Porphyri Petrowitsch war in Hauskleidung, -- in einem Schlafrock, sehr
+reiner Wäsche und in abgetretenen Pantoffeln. Es war ein Mann von etwa
+fünfunddreißig Jahren, unter Mittelgröße, dick, mit einem Bäuchlein,
+glattrasiert, ohne Schnurrbart, mit kurz geschnittenem Haare auf dem
+großen runden Kopfe, der nach hinten zu besonders gewölbt war. Sein
+volles, rundes und ein wenig stumpfnäsiges Gesicht hatte eine
+kränkliche, dunkelgelbe Farbe, war aber munter und sogar spöttisch. Es
+wäre gutmütig zu nennen, wenn nicht der Ausdruck der Augen, die mit fast
+weißen, zwinkernden Wimpern bedeckt waren, mit ihrem wässerigen Glanze
+störend gewirkt hätte. Der Blick dieser Augen paßte wenig zu der ganzen
+Gestalt, die entschieden etwas Weibisches an sich hatte, und machte ihn
+viel ernster, als man beim ersten Anblick vermutete.
+
+Als Porphyri Petrowitsch vernahm, daß der Besucher ein kleines Ansuchen
+an ihn habe, bat er ihn sofort, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er setzte
+sich selbst in die andere Ecke und sah den Besucher voll Erwartung mit
+einer starken und zu ernsten Aufmerksamkeit an, die bedrücken und
+vollends gleich beim ersten Zusammensein verwirren mußte, um so mehr,
+wenn das, was man vorzubringen hat, durchaus in keinem Verhältnisse zu
+einer so ungewöhnlichen Aufmerksamkeit zu stehen scheint. Raskolnikoff
+jedoch legte seine Angelegenheit in kurzen und bündigen Worten, deutlich
+und klar dar, und war mit sich so zufrieden, daß er noch Gelegenheit
+fand, Porphyri Petrowitsch genau zu betrachten. Auch Porphyri
+Petrowitsch wandte keinen Augenblick seine Augen von ihm ab. Rasumichin
+hatte an demselben Tische ihnen gegenüber Platz genommen und verfolgte
+eifrig und ungeduldig die Darstellung der Sache, wobei er alle
+Augenblicke und ziemlich auffällig seine Augen von einem zu dem andern
+gleiten ließ.
+
+»Dummkopf!« schimpfte Raskolnikoff bei sich.
+
+»Sie müssen eine Eingabe an das Polizeibureau machen,« antwortete mit
+Geschäftsmiene Porphyri, »daß Sie über diesen Vorfall, das heißt von
+diesem Mord erfahren haben, und bitten den Untersuchungsrichter, der
+diese Sache führt, zu benachrichtigen, daß die und die Sachen Ihnen
+gehören, und daß Sie sie einlösen möchten ... oder Ähnliches ... man
+wird Ihnen das übrigens sagen.«
+
+»Das ist ja das Unbequeme, daß ich in diesem Augenblicke,« Raskolnikoff
+bemühte sich, möglichst verlegen zu werden, »nicht recht bei Kassa bin
+... und sogar so eine Kleinigkeit nicht kann ... sehen Sie, ich möchte
+jetzt nur erklären, daß es meine Sachen sind, und daß, wenn ich Geld
+haben werde, ich ...«
+
+»Das ist einerlei,« antwortete Porphyri Petrowitsch, die Erklärung über
+die Finanzlage kalt aufnehmend, »übrigens, Sie können auch direkt an
+mich, wenn Sie wollen, in demselben Sinne schreiben, daß Sie das und das
+in Erfahrung gebracht haben und die und die Sachen als Ihr Eigentum
+angeben und bitten ...«
+
+»Man kann es auf einfachem Papiere schreiben?« beeilte sich
+Raskolnikoff, ihn zu unterbrechen, wieder ein Interesse für die
+Geldfrage zeigend.
+
+»Oh, auf dem allereinfachsten Papiere!« und plötzlich blickte ihn
+Porphyri Petrowitsch spöttisch mit zusammengekniffenen Augen an und
+schien ihm zuzuzwinkern.
+
+Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß so geschienen, denn es
+dauerte nur einen Augenblick. Etwas war wenigstens gewesen. Raskolnikoff
+hätte darauf schwören mögen, daß er ihm zugezwinkert habe, weiß der
+Teufel warum.
+
+»Er weiß alles!« durchzuckte es ihn wie ein Blitz.
+
+»Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Kleinigkeiten belästigt
+habe,« fuhr er etwas verwirrt fort, »meine Sachen sind im ganzen
+höchstens fünf Rubel wert, aber sie sind mir besonders teuer, als ein
+Andenken an die, von denen ich sie erhalten habe und, offen gestanden,
+als ich es hörte, erschrak ich sehr ...«
+
+»Darum fuhrst du auch gestern so auf, als ich Sossimoff erzählte, daß
+Porphyri die Pfandgeber ausfrage!« bemerkte Rasumichin mit deutlicher
+Absicht.
+
+Das war schon unerträglich. Raskolnikoff konnte sich's nicht versagen,
+ihn wütend mit seinen vor Zorn funkelnden schwarzen Augen anzublicken.
+Er besann sich aber sofort.
+
+»Du scheinst dich über mich lustig zu machen, Bruder?« wandte er sich an
+ihn mit geschickt gespielter Gereiztheit. »Ich sehe es ein, daß ich
+vielleicht meine Sorge um diesen Schund übertreibe, der er doch in
+deinen Augen ist, aber man darf mich darum weder für einen Egoisten,
+noch für einen habgierigen Menschen halten, und für mich brauchen diese
+zwei geringen Gegenstände gar kein Schund zu sein. Ich sagte dir schon
+vorhin, daß diese silberne Uhr, die einen Spottwert hat, das einzige
+ist, was mir von meinem Vater geblieben ist. Du kannst dich über mich
+amüsieren, aber soeben ist meine Mutter angekommen,« wandte er sich
+plötzlich an Porphyri, »und wenn sie erfahren würde,« kehrte er sich
+wieder schnell zu Rasumichin und gab sich besondere Mühe, um mit der
+Stimme zu zittern, »daß diese Uhr verloren sei, so würde sie -- schwöre
+ich -- in Verzweiflung sein! Sie ist doch eine Frau!«
+
+»Ich sagte es gar nicht in dem Sinne! Ganz im Gegenteil!« rief
+Rasumichin gekränkt.
+
+»War es auch gut? War es natürlich? Habe ich nicht übertrieben?« sagte
+Raskolnikoff bebend zu sich selbst. »Warum sagte ich -- sie ist doch
+eine Frau!«
+
+»Ihre Frau Mutter ist zu Ihnen gekommen?!« erkundigte sich aus
+irgendeinem Grunde Porphyri Petrowitsch.
+
+»Ja.«
+
+»Wann denn?«
+
+»Gestern abend.«
+
+Porphyri Petrowitsch schwieg, als überlege er etwas.
+
+»Ihre Sachen konnten in keiner Weise verloren gehen,« fuhr er ruhig und
+kalt fort. »Ich erwarte Sie schon seit langem.«
+
+Und als wäre nichts vorgefallen, schob er sorgsam einen Aschbecher
+Rasumichin zu, der unbarmherzig die Asche von seiner Zigarette auf den
+Teppich streute. Raskolnikoff zuckte zusammen, aber Porphyri schien ihn
+nicht anzublicken, noch immer um Rasumichins Zigarette besorgt.
+
+»Was? Du hast ihn erwartet! Wußtest du denn, daß auch er dort versetzt
+hatte?« rief Rasumichin aus.
+
+»Ihre beiden Sachen, der Ring und die Uhr, waren _bei ihr_ in einem und
+demselben Stück Papier eingewickelt, und auf dem Papier war mit
+Bleistift deutlich Ihr Name vermerkt, ebenso auch das Datum, wann sie
+sie von Ihnen erhalten hatte ...«
+
+»Wie genau Sie sind! ...« lächelte ein wenig ungeschickt Raskolnikoff
+und versuchte, ihm in die Augen zu sehen, er konnte sich aber nicht
+enthalten, hinzuzufügen:
+
+»Ich sage das nur deshalb, weil wahrscheinlich sehr viele Pfandgeber
+waren ... so daß es Ihnen doch schwer fallen mußte, sich aller zu
+erinnern ... Sie aber erinnern sich im Gegenteil an alles so deutlich,
+und ... und ...«
+
+»Es war dumm! Schwach! Warum habe ich es hinzugefügt!«
+
+»Alle Pfandgeber sind jetzt schon bekannt, so daß Sie der einzige sind,
+der sich noch nicht meldete,« antwortete Porphyri Petrowitsch mit einem
+kaum merklichen Anfluge von Spott.
+
+»Ich war nicht ganz gesund.«
+
+»Auch davon habe ich gehört. Habe sogar gehört, daß Sie von etwas sehr
+mitgenommen waren. Sie sind auch jetzt noch etwas bleich!«
+
+»Ich bin gar nicht bleich ... im Gegenteil, ich bin ganz gesund!«
+schnitt ihn grob und böse Raskolnikoff ab, plötzlich seinen Ton
+verändernd.
+
+Die Wut pochte in ihm und er konnte sie nicht unterdrücken. »Und in der
+Wut werde ich mich versprechen!« durchzuckte es ihn von neuem. »Und
+warum quälen sie mich! ...«
+
+»Nicht ganz gesund!« hub Rasumichin an. »Wie er aufschneidet! Bis
+gestern noch phantasierte er und war bewußtlos ... Du kannst es mir
+glauben, Porphyri, er konnte kaum mehr auf den Füßen stehen, und
+trotzdem, als wir, Sossimoff und ich, gestern uns nur auf einen
+Augenblick entfernten, -- zog er sich an, lief heimlich weg und irrte
+irgendwo fast bis Mitternacht herum, und das, sage ich dir, ganz im
+Fieber, kannst du dir so etwas vorstellen! Ein ganz merkwürdiger Fall!«
+
+»Und geschah es wirklich ganz im Fieber? Sagen Sie mal?« Mit einer
+weibischen Bewegung schüttelte Porphyri Petrowitsch den Kopf.
+
+»Ah, Unsinn! Glauben Sie ihm nicht! Übrigens, Sie glauben es ja auch
+sowieso nicht!« entschlüpfte es Raskolnikoff in seiner Wut.
+
+Aber Porphyri Petrowitsch schien diese seltsamen Worte überhört zu
+haben.
+
+»Wie konntest du dann weggehen, wenn du nicht im Fieber warst?«
+ereiferte sich Rasumichin. »Warum bist du weggegangen? Wozu? ... Und
+warum gerade heimlich? Sag, warst du damals bei gesundem Verstande?
+Jetzt, wo die ganze Gefahr vorbei ist, sage ich es dir offen!«
+
+»Ich war ihrer gestern überdrüssig geworden,« wandte sich rasch
+Raskolnikoff an Porphyri Petrowitsch mit einem dreisten,
+herausfordernden Lächeln, »und ich lief von ihnen fort, mir eine Wohnung
+zu mieten, damit sie mich nicht wiederfinden sollten, und habe einen
+Haufen Geld mitgenommen. Herr Sametoff hat das Geld gesehen. Und sagen
+Sie, Herr Sametoff, war ich gestern vernünftig oder im Fieber,
+entscheiden Sie unseren Streit!«
+
+Er hätte in diesem Augenblicke Sametoff erwürgen können. Dessen Blick
+und sein Schweigen waren ihm äußerst peinlich.
+
+»Meiner Ansicht nach redeten Sie sehr vernünftig und sogar schlau, Sie
+waren bloß sehr reizbar,« erklärte Sametoff trocken.
+
+»Und heute sagte mir Nikodim Fomitsch,« bemerkte Porphyri Petrowitsch,
+»er hätte Sie gestern noch sehr spät in der Wohnung eines überfahrenen
+Beamten getroffen ...«
+
+»So nehmen wir diesen Fall her!« begann Rasumichin, »warst du nicht
+verrückt bei diesem Beamten? Das letzte Geld hat er der Witwe für die
+Beerdigung gegeben! Und, wenn du helfen wolltest, -- konntest du ihr
+fünfzehn oder zwanzig Rubel geben und wenigstens drei Rubel für dich
+behalten, du schenktest ihnen aber alle fünfundzwanzig.«
+
+»Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, was du noch nicht
+weißt? Darum war ich gestern auch so freigebig ... Herr Sametoff weiß,
+daß ich einen Schatz gefunden habe! ... Entschuldigen Sie, bitte,«
+wandte er sich mit bebenden Lippen an Porphyri Petrowitsch, »daß wir Sie
+mit solchem kleinlichen Geschwätz eine halbe Stunde belästigen. Sie sind
+unserer überdrüssig, ja?«
+
+»Erlauben Sie, im Gegenteil, im Ge--gen--teil! Wenn Sie wüßten, wie Sie
+mich interessieren! Es ist amüsant, zuzusehen und zuzuhören ... und ich
+bin, offen gesagt, so froh, daß Sie endlich einmal gekommen sind ...«
+
+»Gib aber doch wenigstens Tee! Die Kehle trocknet einem ein!« rief
+Rasumichin aus.
+
+»Eine ausgezeichnete Idee! Vielleicht beteiligen Sie sich alle. Willst
+du aber nicht ... etwas Wesentlicheres vor dem Tee haben?«
+
+»Nein, laß gut sein!«
+
+Porphyri Petrowitsch ging hinaus, um Tee zu bestellen.
+
+Die Gedanken drehten sich wie im Wirbelwinde in Raskolnikoffs Kopfe. Er
+war aufs äußerste gereizt.
+
+»Das schönste ist, daß sie sich nicht mal verbergen und nicht einmal den
+Anstand wahren wollen! Aus welchem Grunde aber sprach er, wenn er mich
+gar nicht kennt, mit Nikodim Fomitsch über mich? Also wollen sie nicht
+mal verbergen, daß sie wie eine Koppel Hunde mich verfolgen! Sie speien
+mir ganz offen ins Gesicht!« Er zitterte vor Wut. »Schlagt doch offen zu
+und spielt nicht wie die Katze mit der Maus. Das ist doch geschmacklos.
+Porphyri Petrowitsch, das erlaube ich dir einfach nicht! ... Ich stehe
+auf und schleudere allen die ganze Wahrheit ins Gesicht und Sie werden
+wenigstens sehen, wie ich Sie verachte!« Er holte schwer Atem. »Wenn mir
+aber dies alles nur so vorkommt? Wenn dies aber bloß ein Spiel meiner
+Phantasie ist und ich mich irre, aus Unerfahrenheit mich ärgere und
+meine gemeine Rolle nicht gut spiele? Vielleicht ist alles ohne jede
+Absicht? Ihre Worte sind alle gewöhnlich, aber etwas liegt doch in ihnen
+... All dieses kann stets gesagt werden, aber etwas ist doch dabei.
+Warum sagte er einfach -- >bei ihr?< Warum fügte Sametoff hinzu, daß ich
+schlau gesprochen habe? Warum reden sie in solch einem Tone? Ja ... der
+Ton ... Aber Rasumichin saß doch auch hier, warum fiel ihm nichts auf?
+Diesem naiven Holzklotze fällt eben nie etwas auf! Ich habe wieder
+Fieber! ... Zwinkerte mir Porphyri Petrowitsch vorhin zu oder nicht? Es
+war sicher nichts; warum sollte er mir zuzwinkern? Wollen sie meine
+Nerven reizen, oder führen sie mich an der Nase herum? Entweder ist
+alles ein Phantasiespiel oder sie wissen es! Sogar Sametoff ist dreist
+... Ist Sametoff wirklich dreist? Sametoff hat sich's über Nacht
+überlegt. Ich ahnte es doch, daß er es sich überlegen wird! Er benimmt
+sich wie zu Hause, ist aber zum ersten Male hier. Porphyri betrachtet
+ihn nicht als seinen Gast, sitzt mit dem Rücken zu ihm. Sie stecken
+unter einer Decke! Sie stecken unbedingt meinetwegen unter einer Decke!
+Sie haben sicher vor unserem Kommen über mich gesprochen! ... Wissen sie
+etwas von der Wohnung gestern? Mag es schneller herauskommen! ... Als
+ich sagte, daß ich gestern weggelaufen wäre, mir eine Wohnung zu mieten,
+ließ er es gelten, erfaßte nicht die Gelegenheit ... Mit der Wohnung
+habe ich's fein angedeutet, -- es kann mir später nützen! ... Im Fieber
+war es, kann ich sagen! ... Ha--ha--ha! Er weiß alles über den gestrigen
+Abend! Von der Ankunft der Mutter wußte er nicht! ... Und die Hexe hat
+auch das Datum mit Bleistift vermerkt! ... Ihr lügt, ich ergebe mich
+nicht! Das sind doch keine Tatsachen, bloß Phantasiegebilde! Nein, rückt
+mal mit Tatsachen heraus! Auch der Besuch der Wohnung ist keine
+Tatsache, sondern Fieber, -- ich weiß, was ich ihnen sagen muß ...
+Wissen sie, daß ich in der Wohnung war? Ich gehe nicht fort, ehe ich es
+nicht erfahre! Warum bin ich hergekommen? Daß ich mich jetzt ärgere, das
+ist vielleicht eine Tatsache! Wie reizbar ich bin! Vielleicht aber ist
+es auch gut; es ist die Rolle eines Kranken ... Er betastet mich. Er
+wird mich verwirren wollen. Warum bin ich überhaupt gekommen?«
+
+Dies alles fuhr ihm durch den Kopf wie ein Blitz.
+
+Porphyri Petrowitsch kehrte bald zurück. Er war auf einmal vergnügter
+geworden.
+
+»Mein Kopf brummt von dem gestrigen Abend bei dir, Bruder ... und ich
+bin ganz zerschlagen,« begann er in einem ganz anderen Tone und wandte
+sich lachend an Rasumichin. »War es interessant? Ich verließ euch doch
+gestern bei dem interessantesten Punkte. Wer siegte?«
+
+»Niemand, selbstverständlich. Wir kamen später zu den ewigalten Fragen,
+schwebten in höheren Regionen.«
+
+»Was meinst du, Rodja, worauf sie gestern zu sprechen kamen, -- gibt es
+oder gibt es keine Verbrecher? Ich sag dir, sie schwatzten das Blaue vom
+Himmel herunter!«
+
+»Was ist da Merkwürdiges dran? Eine gewöhnliche soziale Frage,«
+antwortete Raskolnikoff zerstreut.
+
+»Die Frage war nicht so formuliert,« bemerkte Porphyri Petrowitsch.
+
+»Nein, nicht ganz so, das ist wahr,« pflichtete Rasumichin wie
+gewöhnlich eilig und sich ereifernd bei. »Sieh, Rodion, höre mich an und
+sage dann deine Meinung. Es wäre mir lieb. Ich wollte gestern geradezu
+aus der Haut fahren, ich wartete auf dich, denn ich hatte ihnen gesagt,
+daß du kommen wirst ... Es begann mit der Anschauung der Sozialisten.
+Die Anschauung ist bekannt, -- das Verbrechen ist ein Protest gegen die
+anormale soziale Einrichtung, und -- mehr nichts, keine andern Gründe
+wurden zugelassen, -- nichts mehr! ...«
+
+»Da schwindelst du schon!« rief Porphyri Petrowitsch. Er wurde sichtbar
+belebter und lachte alle Augenblicke, indem er Rasumichin ansah, der
+dadurch noch mehr in Hitze kam.
+
+»Sonst wurde nichts zugelassen!« unterbrach ihn Rasumichin voll Eifer,
+»ich schwindle nicht! ... Ich will dir ihre Bücher zeigen, -- an allem
+soll die sogenannte >gute Gesellschaft schuld sein< -- und weiter
+nichts! Das ist ihre Lieblingsphrase! Und daraus geht hervor, daß, wenn
+die Gesellschaft normal eingerichtet sein wird, mit einem Male auch alle
+Verbrecher verschwinden werden, weil es nichts mehr geben wird, dagegen
+zu protestieren, und alle werden auf einmal gerecht werden. Die Natur
+wird nicht in Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die Natur
+hat keinen Platz! Bei ihnen wird die Menschheit nicht von selbst sich in
+eine normale Gesellschaft verwandeln, indem sie den historischen,
+lebendigen Entwicklungsgang durchmacht, sondern im Gegenteil, ein
+soziales System, irgendeinem mathematischen Kopfe entsprungen, soll
+sofort die ganze Menschheit verändern und im Nu sie gerecht und
+sündenlos machen, ohne jeden historischen und lebendigen
+Entwicklungsgang, ohne jeglichen lebendigen Prozeß! Darum hassen sie
+auch so instinktiv die Geschichte, -- >in ihr kommen bloß
+Scheußlichkeiten und Dummheiten vor<, -- und alles wird bloß durch
+Dummheit allein erklärt! Darum lieben sie auch nicht den lebendigen
+Lebensprozeß, -- sie brauchen keine lebendige Seele. Eine lebendige
+Seele wird Leben verlangen, eine lebendige Seele will nicht einem
+Mechanismus gehorchen, eine lebendige Seele ist mißtrauisch, eine
+lebendige Seele ist rückschrittlich! Und bei ihnen kann man die Seele
+aus Kautschuk machen, tut nichts, daß sie Leichengeruch hat, -- sie ist
+dafür nicht lebendig, ohne Willen, eine Sklavenseele und wird sich nicht
+empören. Und im Resultate kommt es darauf hinaus, daß sich alles nur um
+das Zusammensetzen von Ziegelsteinen und um die Lage der Korridore und
+der Zimmer in der kommunistischen Kolonie dreht! Die kommunistische
+Kolonie ist fertig, sie verlangt Leben, hat ihren Lebensprozeß noch
+nicht abgeschlossen, es ist zu früh für sie, auf den Kirchhof zu kommen!
+Mit der Logik allein kann man nicht die Natur überspringen! Die Logik
+will drei Fälle voraussetzen, und es gibt ihrer eine Million! Soll man
+die ganze Million Fälle abschneiden und alles bloß zur Frage des
+Komforts konzentrieren? Die leichteste Lösung der Aufgabe! Sie ist
+verlockend einfach und man braucht nicht zu denken! Und das ist die
+Hauptsache -- man braucht nicht zu denken! Das ganze Lebensgeheimnis
+findet auf zwei Druckbogen Platz!«
+
+»Wie es dich gepackt hat, du schlugst fest die Trommel! Man muß dich
+festhalten,« lachte Porphyri Petrowitsch. »Stellen Sie sich vor,« wandte
+er sich an Raskolnikoff, »so war es auch gestern abend, und das in einem
+Zimmer, angefüllt mit sechs Mann, die er dazu noch vorher mit Punsch
+bewirtet hat, -- können Sie sich so was vorstellen? Nein, Bruder, du
+schwindelst, -- >die Gesellschaft< hat bei einem Verbrechen viel zu
+bedeuten; das kann ich dir bestätigen.«
+
+»Ich weiß es selbst, daß sie viel zu bedeuten hat, aber sage mir, --
+wenn ein Vierzigjähriger ein Mädchen von zehn Jahren vergewaltigt, --
+hat ihn etwa die Gesellschaft, die Umgebung dazu gezwungen?«
+
+»Ja, im strengen Sinne vielleicht auch die Gesellschaft,« bemerkte
+Porphyri Petrowitsch mit merkwürdiger Wichtigkeit, »ein Verbrechen an
+einem kleinen Mädchen kann man sehr, sehr gut durch >die Gesellschaft<
+erklären.«
+
+Rasumichin geriet nun fast in Wut.
+
+»Nun, willst du, so werde ich dir sofort beweisen,« brüllte er »daß du
+weiße Wimpern einzig und allein darum hast, weil der Turm von Iwan
+Weliki fünfundsiebzig Meter hoch ist, und ich will es dir klar, genau,
+fortschrittlich, und sogar mit einem liberalen Anfluge beweisen! Ich
+übernehme es! Nun, willst du mit mir wetten?«
+
+»Ich nehme die Wette an! Wollen wir mal hören, wie er es beweisen will!«
+
+»Ja, du stellst dich bloß so an, zum Teufel!« rief Rasumichin aus,
+sprang von seinem Stuhle und wehrte mit der Hand ab. »Nun, lohnt es sich
+mit dir zu sprechen? Er tut dies nur absichtlich, du kennst ihn noch
+nicht, Rodion! Auch gestern war er auf ihrer Seite, bloß, um sie alle
+anzuführen. Und was er gestern alles sagte, oh Gott! Und die waren um
+ihn froh! ... Er kann in dieser Weise zwei Wochen aushalten. Im vorigen
+Jahre erzählte er uns aus irgendeinem Grunde, daß er ins Kloster gehe,
+-- zwei Monate blieb er dabei! Vor kurzem wollte er uns aufbinden, daß
+er heiraten würde, und daß alles schon zur Hochzeit bereit sei. Sogar
+einen neuen Anzug hatte er sich bestellt. Wir fingen schon an, ihm zu
+gratulieren. Keine Braut, nichts war da, -- alles Phantasiespiel!«
+
+»Da hast du wieder geschwindelt! Den Anzug hatte ich vorher bestellt!
+Wegen des neuen Anzuges kam es mir auch in den Sinn, euch alle
+anzuführen!«
+
+»Können Sie sich wirklich so verstellen?« fragte Raskolnikoff
+nachlässig.
+
+»Und Sie glauben es nicht? Warten Sie, auch Sie will ich anführen --
+ha--ha--ha! Nein, hören Sie, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Bei
+allen diesen Fragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleinen Mädchen erinnere
+ich mich plötzlich, -- übrigens habe ich mich stets dafür interessiert,
+-- an einen Aufsatz von Ihnen, -- >Über Verbrechen ...< oder wie er
+heißt, ich habe den Titel vergessen, ich erinnere mich nicht genau an
+ihn. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in dem >Periodischen
+Worte< zu lesen.«
+
+»Meinen Aufsatz? In dem >Periodischen Worte?<« fragte verwundert
+Raskolnikoff, »ich habe tatsächlich vor einem halben Jahre, als ich die
+Universität verließ, einen Aufsatz geschrieben, aber ich habe ihn damals
+der Zeitung >Das wöchentliche Wort< und nicht dem >Periodischen<
+übergeben.«
+
+»Er ist aber im >Periodischen< erschienen.«
+
+»Das >Wöchentliche Wort< hörte damals auf zu erscheinen, darum druckte
+man ihn auch nicht ...«
+
+»Das ist richtig; und das >Wöchentliche Wort< verschmolz mit dem
+>Periodischen< und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten
+dort. Sie wußten es nicht?«
+
+Raskolnikoff wußte tatsächlich nichts davon.
+
+»Erlauben Sie, Sie können doch Geld für den Aufsatz verlangen! Was Sie
+für ein Mensch sind! Sie leben so einsam, daß Sie selbst von solchen
+Dingen, die Sie doch direkt angehen, keine Ahnung haben.«
+
+»Bravo, Rodja! Auch ich wußte nichts,« rief Rasumichin aus. »Ich gehe
+heute noch in die Lesehalle und verlange die Nummer. Vor zwei Monaten
+war es! Welches Datum? Na, einerlei, ich werde ihn schon finden! Das ist
+mal eine Sache! Und er sagte nichts davon!«
+
+»Woher haben Sie zu wissen bekommen, daß der Aufsatz von mir ist? Er ist
+nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.«
+
+»Zufällig, und auch erst in diesen Tagen. Durch den Redakteur; ich kenne
+ihn ... Ich war sehr interessiert.«
+
+»Ich betrachtete, soweit ich mich erinnere, den psychologischen Zustand
+eines Verbrechers während des ganzen Vorganges.«
+
+»Ja, und Sie behaupteten, daß die Vollbringung eines Verbrechens stets
+von einer Krankheit begleitet wird. Sehr, sehr originell, aber ... mich
+interessierte eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein
+gewisser Gedanke, der zum Schlusse vorkommt, den Sie aber leider nur
+unklar andeuteten ... Wenn Sie sich entsinnen, es ist da angedeutet, daß
+in der Welt offenbar Menschen existieren, die tun können ... das heißt
+nicht bloß können, sondern volles Recht dazu haben, allerhand
+Scheußlichkeiten und Verbrechen zu vollbringen, und daß für sie das
+Gesetz nicht geschrieben ist.«
+
+Raskolnikoff lächelte über die starke absichtliche Verdrehung seiner
+Idee.
+
+»Wie? Was? Ein Recht auf Verbrechen? Aber doch nicht aus dem Grunde,
+weil die Gesellschaft schuld ist?« erkundigte sich Rasumichin voll
+Schrecken.
+
+»Nein, nein, nicht aus dem Grunde,« antwortete Porphyri Petrowitsch.
+»Die ganze Sache dreht sich darum, daß in seinem Aufsatze die Menschen
+in >gewöhnliche< und >ungewöhnliche< eingeteilt werden. Die Gewöhnlichen
+müssen in Gehorsam leben und haben kein Recht, ein Gesetz zu
+überschreiten, weil sie -- eben Gewöhnliche sind. Und die Ungewöhnlichen
+haben das Recht, allerhand Verbrechen zu vollbringen und in jeder Weise
+das Gesetz zu verletzen, und das, weil sie Ungewöhnliche sind. So
+scheint es mir in Ihrem Aufsatze zu stehen, wenn ich nicht irre?«
+
+»Aber wie ist denn das? Es kann nicht sein, daß es so gemeint ist!«
+murmelte Rasumichin zweifelnd.
+
+Raskolnikoff lächelte wieder. Er hatte sofort verstanden, wie die Sache
+stand und worauf man ihn bringen wollte; er entsann sich der Stelle und
+beschloß, die Herausforderung anzunehmen.
+
+»Es steht nicht ganz so in meinem Aufsatze,« begann er schlicht und
+bescheiden. »Übrigens, ich muß gestehen, daß Sie ihn nahezu richtig
+wiedergegeben haben, und wenn Sie es wünschen, auch vollkommen richtig
+...« Es paßte ihm anscheinend, zuzugeben, daß der Gedanke vollkommen
+richtig wiedergegeben war. »Der Unterschied besteht einzig darin, daß
+ich gar nicht behauptete, daß die ungewöhnlichen Menschen unbedingt
+allerhand Scheußlichkeiten vollbringen müssen und dazu verpflichtet
+sind, wie Sie es sagen. Ich glaube auch, daß man einen solchen Aufsatz
+in der Presse nicht zugelassen hätte. Ich habe einfach angedeutet, daß
+ein >ungewöhnlicher< Mensch das Recht habe ... das heißt kein
+offizielles Recht, sondern in sich selbst das Recht trage, seinem
+Gewissen zu gestatten ... einige Hindernisse zu überschreiten, und
+einzig in dem Falle, wenn die Erfüllung seiner Idee, -- die zuweilen
+vielleicht für die ganze Menschheit heilbringend ist, -- dieses
+verlangt. Sie beliebten zu sagen, daß mein Aufsatz nicht deutlich sei;
+ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Ich irre mich
+vielleicht nicht, wenn ich annehme, daß Sie es wünschen, gut. Meine
+Ansicht geht dahin, -- wenn die Entdeckungen von Newton und Kepler,
+infolge irgendwelcher Kombinationen, in keiner Weise der Menschheit
+anders bekannt werden konnten als durch den Verlust des Lebens von
+einem, zehn, hundert und mehr Menschen, die der Erfindung störend waren,
+oder ihr als ein Hindernis im Wege standen, so hätte Newton das Recht
+gehabt und wäre sogar verpflichtet gewesen ... diese zehn oder hundert
+Menschen zu beseitigen, um seine Erfindungen der ganzen Menschheit
+bekannt zu machen. Daraus läßt sich übrigens gar nicht schließen, daß
+Newton das Recht hatte, jeden beliebigen, den ersten besten zu ermorden
+oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Weiter entwickelte ich --
+soweit ich mich erinnern kann -- in meinem Aufsatze, daß alle ... nun,
+nehmen wir zum Beispiel die Gesetzgeber und Führer der Menschheit,
+angefangen von den allerältesten Lykurg, Solon bis Mahomet, Napoleon und
+so weiter herauf: alle waren ohne Ausnahme Verbrecher, schon dadurch
+allein, daß sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft
+heilig geehrte und von den Vätern übernommene Gesetz verletzten, -- und
+sie schraken sicher nicht vor dem Blutvergießen zurück, wenn ihnen nur
+das Blut, -- und es war zuweilen ganz unschuldiges und tapfer für das
+alte Gesetz vergossenes Blut -- helfen konnte. Es ist sogar auffallend,
+daß der größte Teil dieser Wohltäter und Führer der Menschheit besonders
+grausame Blutvergießer waren. Mit einem Worte, ich ziehe den Schluß, daß
+auch alle, nicht bloß die Großen, sondern auch die kaum über das Maß
+hervortretenden Menschen, das heißt, die auch nur eine geringe Fähigkeit
+haben, etwas Neues zu sagen, unbedingt ihrer Natur nach mehr oder
+weniger Verbrecher sein müssen. Anders würde es ihnen schwer fallen, aus
+dem Gleise herauszukommen; und im Gleise zu bleiben können sie gar nicht
+wollen, wiederum ihrer Natur nach, und meiner Ansicht nach sind sie
+sogar verpflichtet, es nicht zu wollen. Mit einem Worte, Sie sehen, daß
+bis dato etwas besonders Neues nicht in dem Aufsatze steht. Das wurde
+schon tausendmal gedruckt und gelesen. Was meine Einteilung der Menschen
+in gewöhnliche und ungewöhnliche anbetrifft, gebe ich zu, daß sie ein
+wenig willkürlich ist, aber ich klammere mich auch nicht an genaue
+Zahlen. Ich glaube nur an meinen Hauptgedanken. Er besteht gerade darin,
+daß die Menschen infolge eines Naturgesetzes überhaupt in zwei Gattungen
+zerfallen, -- eine niedrige, die gewöhnlichen, das heißt sozusagen das
+Material, das einzig zur Weitererzeugung dient, und eigentliche
+Menschen, das heißt solche, die die Begabung oder das Talent haben, in
+ihrem Kreise ein neues Wort zu sagen. Selbstverständlich gibt es hier
+endlose Unterabteilungen, aber die bezeichnenden Merkmale beider
+Gattungen sind ziemlich scharf, -- die erste Gattung, das heißt das
+Material, besteht, im allgemeinen gesagt, aus Menschen, die ihrer Natur
+nach konservativ und gesittet sind, in Gehorsam leben und es lieben,
+gehorsam zu sein. Meiner Ansicht nach sind sie auch verpflichtet,
+gehorsam zu sein, denn das ist ihre Bestimmung und dabei ist entschieden
+nichts Erniedrigendes für sie. Die zweite Gattung, -- die überschreiten
+alle das Gesetz, sind Zerstörer oder neigen dazu, je nach ihren
+Fähigkeiten. Die Verbrechen dieser Menschen sind selbstverständlich
+relativ und verschieden; meistens verlangen sie die Zerstörung des
+Gegenwärtigen im Namen eines Besseren. Wenn er aber seiner Idee wegen,
+-- sagen wir -- über eine Leiche schreiten oder Blut vergießen muß, so
+kann er, meine ich, innerlich von seinem Gewissen aus sich die Erlaubnis
+geben, über diese Leiche hinwegzuschreiten, -- das heißt, je nach der
+Idee und ihrem Umfange, -- halten Sie das fest! Nur in diesem Sinne
+spreche ich auch in meinem Aufsatze über ihr Recht auf Verbrechen. Sie
+entsinnen sich doch, daß wir mit einer juristischen Frage anfingen.
+Übrigens, es ist nicht wert, sich viel aufzuregen, -- die Menge erkennt
+fast nie dieses Recht für sie an, sie läßt sie hinrichten und hängen --
+mehr oder weniger -- und erfüllt dadurch vollkommen richtig ihre
+konservative Bestimmung, jedoch mit dem Unterschiede, daß dieselbe Menge
+in den folgenden Generationen die Hingerichteten auf das Piedestal
+stellen und sie anbeten wird -- mehr oder weniger. Die erste Gattung ist
+immer der Herr der Gegenwart, die zweite -- der Herr der Zukunft. Die
+ersten bewahren die Welt und vermehren sie der Zahl nach; die zweiten
+bewegen die Welt und führen sie zum Ziele. Wie die einen, so haben auch
+die anderen das vollkommen gleiche Recht, zu existieren. Mit einem
+Worte, in meinem Aufsatze haben alle gleich großes Recht und -- _vive la
+guerre éternelle_{[1]}, -- bis zum Neuen Jerusalem, versteht sich!«
+
+»Also, Sie glauben trotzdem an Neu-Jerusalem?«
+
+»Ich glaube daran,« antwortete Raskolnikoff fest. Indem er dies sagte,
+blickte er zu Boden, wie er auch während seiner langen Rede auf einen
+Punkt des Teppiches geblickt hatte.
+
+»Und, und glauben Sie auch an Gott? Entschuldigen Sie meine Neugier.«
+
+»Ich glaube an ihn,« wiederholte Raskolnikoff und hob die Augen zu
+Porphyri Petrowitsch empor.
+
+»Und, und glauben Sie an die Auferstehung des Lazarus?«
+
+»Ich glau--be. Warum wollen Sie das wissen?«
+
+»Glauben Sie buchstäblich daran?«
+
+»Buchstäblich.«
+
+»So, so ... ich fragte bloß aus Neugier. Entschuldigen Sie. Aber
+erlauben Sie, -- ich kehre zu dem Gesagten zurück, -- jene werden doch
+nicht immer hingerichtet, manche ganz im Gegenteil ...«
+
+»Triumphieren während ihres Lebens? Oh ja, manche erreichen es auch
+während ihrer Lebenszeit, und dann ...«
+
+»Beginnen sie selbst hinzurichten?«
+
+»Wenn es nötig ist, und wissen Sie, eigentlich meistenteils. Ihre
+Bemerkung war treffend.«
+
+»Danke. Aber sagen Sie bitte, wie soll man diese Ungewöhnlichen von den
+Gewöhnlichen unterscheiden? Gibt es etwa bei der Geburt solche Merkmale?
+Ich meine, daß hier mehr Klarheit, sozusagen mehr äußerliche Genauigkeit
+sein müßte, -- entschuldigen Sie bei mir die natürliche Besorgnis eines
+praktischen und loyalen Menschen, aber könnte man hier nicht zum
+Beispiel eine besondere Kleidung einführen, irgend etwas tragen,
+irgendwie sie kennzeichnen? ... Denn, gestehen Sie selbst, wenn eine
+Verwechslung stattfindet, und einer aus der einen Gattung sich
+einbildet, daß er zu der anderen Gattung gehöre und anfängt >alle
+Hindernisse zu beseitigen<, wie Sie sich sehr treffend ausdrückten, so
+kann dabei ...«
+
+»Oh, das kommt sehr oft vor! Ihr letzter Einwurf ist noch besser als der
+vorige ...«
+
+»Danke sehr ...«
+
+»Keine Ursache; aber ziehen Sie doch in Betracht, daß ein Irrtum nur
+seitens der ersten Gattung, das heißt der >gewöhnlichen< Menschen, wie
+ich sie vielleicht sehr unglücklich genannt habe, möglich ist. Trotz
+ihrer angeborenen Neigung zum Gehorsam lieben es sehr viele von ihnen,
+aus einem gewissen, lebhaften Naturell, das auch einer Kuh nicht versagt
+ist, sich einzubilden Fortschrittsmänner, >Zerstörer<, zu sein und
+glauben es mit einem neuen Worte erreicht zu haben, und sie tun
+vollkommen aufrichtig. Und die tatsächlich Neuen bemerken sie darüber
+sehr oft nicht, verachten sie sogar als rückschrittliche und
+untergeordnete Menschen. Meiner Ansicht nach aber kann hier keine große
+Gefahr vorliegen, denn sie erreichen nie viel im Leben. Für ihre
+Verblendung könnte man sie zuweilen züchtigen, um sie an ihren Platz zu
+erinnern, aber auch nicht mehr; man braucht aber dabei oftmals keinen
+Vollstrecker, sie werden sich selbst züchtigen, weil sie sehr
+wohlgesittet sind, -- manche erweisen einander diesen Dienst, andere
+aber tun es eigenhändig ... Sie legen sich dabei allerhand öffentliche
+Bußen auf, -- es macht sich das hübsch und wirkt belehrend: mit einem
+Worte, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen ... Für sie besteht ein
+Gesetz.«
+
+»Nun, in diesem Punkte haben Sie mich wenigstens etwas beruhigt, aber da
+haben wir noch einen bösen Punkt, -- sagen Sie mir bitte, gibt es viele
+solche Leute, die das Recht haben, andere zu morden, sogenannte
+>Ungewöhnliche<? Ich bin selbstverständlich bereit, mich vor Ihnen zu
+beugen, aber Sie müssen doch selbst zugeben, daß es ängstlich ist, wenn
+es viele von der Art gäbe?«
+
+»Oh, regen Sie sich auch in diesem Punkte nicht auf,« fuhr Raskolnikoff
+in demselben Tone fort, »Menschen mit neuen Gedanken, sogar solche, die
+nur einigermaßen befähigt sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt
+ungewöhnlich wenige geboren, sogar merkwürdig wenig. Eines ist mir klar,
+daß die Ordnung für das Entstehen und Gedeihen aller dieser Kategorien
+und Subkategorien sehr genau und sicher durch irgendein Naturgesetz
+bestimmt ist. Dieses Gesetz ist uns selbstverständlich unbekannt, aber
+ich glaube, daß es existiert und späterhin vielleicht auch einmal
+bekannt werden wird. Die ungeheure Menge Menschen, das Material
+existiert bloß in der Welt, um schließlich durch irgendeine Anstrengung,
+durch einen geheimnisvollen Vorgang, durch eine Kreuzung von
+Geschlechtern und Gattungen sich zusammen zu fassen und einen einzigen
+-- sagen wir von tausend -- einigermaßen selbständigen Menschen in die
+Welt zu setzen. Mit einer noch größeren Selbständigkeit wird vielleicht
+nur ein einziger von zehntausend geboren, -- ich spreche bildlich. Mit
+einer noch größeren von hunderttausend ein einziger. Geniale Menschen
+von Millionen und große Genies, die Vollender der Menschheit, kommen
+vielleicht zur Welt nach dem Ableben von vielen tausend Millionen
+Menschen. Mit einem Worte, ich habe keinen Blick in die Retorte
+geworfen, in der dies alles vorgeht. Aber ein bestimmtes Gesetz
+existiert unbedingt und muß existieren; hier kann es keinen Zufall
+geben.«
+
+»Ja, sagt einmal, scherzt ihr etwa beide?« rief Rasumichin endlich aus.
+»Führt ihr einander an der Nase herum oder nicht? Sie sitzen und treiben
+miteinander Spaß! Meinst du es ernst, Rodja?«
+
+Raskolnikoff erhob sein bleiches und fast trauriges Gesicht zu ihm und
+antwortete nichts. Und merkwürdig erschien Rasumichin, im Vergleiche zu
+diesem stillen und traurigen Gesichte, der offene, zudringliche,
+gereizte und unhöfliche, beißende Spott von Porphyri Petrowitsch.
+
+»Nun, Bruder, wenn es tatsächlich ernst ist, so ... Du hast gewiß recht,
+wenn du sagst, daß dies nicht neu sei und allem, was wir tausendmal
+gelesen und gehört haben, gleiche. Aber was tatsächlich originell in
+alledem ist, -- und in der Tat dir zu meinem Entsetzen allein gehört,
+ist der Punkt, daß du trotzdem Blutvergießen dem Gewissen nach
+gestattest und es -- entschuldige mich, -- sogar mit so einem Fanatismus
+tust ... In diesem also besteht auch der Hauptgedanke deines Aufsatzes.
+Diese Erlaubnis, dem Gewissen nach Blut zu vergießen, das ... das ist
+meiner Meinung nach schrecklicher als eine offizielle Erlaubnis, Blut zu
+vergießen, sozusagen eine gesetzliche ...«
+
+»Vollkommen richtig, -- es ist schrecklicher,« pflichtete Porphyri
+Petrowitsch bei.
+
+»Nein, du hast dich von irgend etwas hinreißen lassen! Das muß ein
+Irrtum sein. Ich will den Aufsatz lesen ... Du hast dich bestimmt
+hinreißen lassen! Du kannst nicht so denken ... Ich will es lesen.«
+
+»Im Aufsatze steht dies alles nicht, es ist dort bloß angedeutet,« sagte
+Raskolnikoff.
+
+»So, so,« Porphyri Petrowitsch rückte auf seinem Stuhle hin und her,
+»mir ist es jetzt ziemlich klar, wie Sie belieben Verbrechen zu
+betrachten, aber ... entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit, -- ich
+belästige Sie zu sehr, schäme mich selbst darüber, -- aber sehen Sie, --
+Sie haben mich vorhin sehr beruhigt über die Möglichkeit einer
+Verwechslung der beiden Kategorien, aber ... mich quälen nun allerhand
+praktische Fälle! Nehmen wir an, irgendein Mann oder Jüngling bildet
+sich plötzlich ein, er sei Lykurg oder Mahomet ... ein Zukünftiger,
+verstehen Sie, und -- beginnt nun alle Hindernisse zu beseitigen ... Es
+steht ihm, sagt er sich, ein langer Weg bevor und für diesen Weg braucht
+er Geld ... so beginnt er sich das Geld zu verschaffen ... wissen Sie?«
+
+Sametoff prustete plötzlich vor Lachen; Raskolnikoff würdigte ihn nicht
+eines Blickes.
+
+»Ich muß zugeben,« antwortete er ruhig, »daß solche Fälle in der Tat
+vorkommen müssen. Dümmere und besonders eitle Menschen fallen darauf
+herein; insbesondere die Jugend.«
+
+»Sehen Sie. Nun, was soll da geschehen?«
+
+»Ja, was denn,« lächelte ein wenig Raskolnikoff, »ich bin doch daran
+nicht schuld. So ist es einmal und wird immer so bleiben. Er« -- er wies
+auf Rasumichin -- »sagte soeben, daß ich Blutvergießen gestatte. Was ist
+denn dabei? Die Gesellschaft ist doch mit Verbannung, Gefängnissen,
+Untersuchungsrichtern, Zuchthäusern genug gesichert, -- wozu denn sich
+beunruhigen? Sucht den Dieb! ...«
+
+»Nun, und wenn wir ihn finden?«
+
+»Fort mit ihm.«
+
+»Das ist sehr logisch. Nun, und wie steht es mit dem Gewissen?«
+
+»Was kümmert Sie das?«
+
+»Doch, aus Humanität.«
+
+»Wer ein Gewissen hat, mag darunter leiden, wenn er seinen Irrtum
+einsieht. Das ist auch eine Strafe für ihn, -- außer der Zwangsarbeit.«
+
+»Nun, und die tatsächlich Genialen,« fragte Rasumichin mit düsterem
+Gesichte, »die nämlich, denen das Recht gegeben ist zu morden, die
+sollen gar nicht, auch nicht wegen des vergossenen Blutes leiden?«
+
+»Warum sagst du: sollen? Es gibt hier weder eine Erlaubnis, noch ein
+Verbot. Mag er leiden, wenn ihm das Opfer leid tut ... Leiden und
+Schmerz hängen immer mit einer weiten Erkenntnis und einem tiefen Herzen
+zusammen. Die wirklich großen Menschen müssen auf Erden großes Leid
+empfinden,« fügte er plötzlich nachdenklich, nicht im Tone des
+Gespräches, hinzu.
+
+Er hob die Augen auf, blickte alle sinnend an, lächelte und nahm seine
+Mütze. Er war im Vergleiche mit seinem Eintritt zu ruhig, und er fühlte
+es auch. Alle erhoben sich.
+
+»Nun, schelten Sie mich oder nicht, ärgern Sie sich über mich oder
+nicht, aber ich kann es nicht unterlassen,« sagte Porphyri Petrowitsch
+wieder, »erlauben Sie mir noch eine kleine Frage -- ich belästige Sie
+sehr, -- nur eine einzige kleine Idee möchte ich aussprechen, bloß um es
+nicht zu vergessen ...«
+
+»Gut, sagen Sie Ihre kleine Idee.« Raskolnikoff stand ernst und bleich
+in Erwartung vor ihm.
+
+»Ja, sehen Sie ... ich weiß wirklich nicht, wie ich mich glücklich
+ausdrücken soll ... die Idee ist zu gelungen ... ist psychologisch ...
+Sehen Sie, als Sie Ihren Aufsatz schrieben, -- da war es doch nicht ganz
+ohne, he--he--he--, -- daß Sie sich selbst, -- nun, sagen wir, ein
+bißchen vielleicht, -- auch für einen >ungewöhnlichen< Menschen hielten,
+der ein neues Wort -- in Ihrem Sinne, versteht sich, -- sagt ... War es
+nicht so?«
+
+»Sehr möglich,« antwortete Raskolnikoff verächtlich. Rasumichin machte
+eine Bewegung.
+
+»Und wenn es so ist, würden Sie in diesem Falle sich entschließen, --
+nun, sagen wir, wegen irgendwelcher Fehlschläge und beschränkter
+Verhältnisse oder auch um irgendwie die Menschheit zu fördern, -- über
+ein Hindernis hinweg zu schreiten? ... Nun, zum Beispiel, zu morden und
+zu rauben? ...«
+
+Und wieder schien er ihm plötzlich mit dem linken Auge zuzuzwinkern und
+lachte unhörbar, -- genau wie vorhin.
+
+»Wenn ich auch über eines hinweg schreiten würde, so würde ich es Ihnen
+sicher nicht sagen,« antwortete Raskolnikoff mit herausfordernder
+hochmütiger Verachtung.
+
+»Ach was, ich interessiere mich doch in rein literarischer Hinsicht, um
+eigentlich Ihren Aufsatz mehr zu verstehen ...«
+
+»Jetzt wird er deutlich und unverschämt!« dachte Raskolnikoff voll
+Widerwillen.
+
+»Gestatten Sie mir gütigst zu bemerken,« antwortete er trocken, »daß ich
+mich weder für einen Mahomet noch für einen Napoleon halte ... für keine
+von solchen Persönlichkeiten, also kann ich, da ich keiner von denen
+bin, Ihnen auch keine befriedigende Erklärung geben, wie ich handeln
+würde.«
+
+»Nun, aber bitte, wer hält sich jetzt in Rußland nicht für einen
+Napoleon?« sagte Porphyri Petrowitsch plötzlich mit großer Familiarität.
+
+Sogar im Tone seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches.
+
+»Möglicherweise hat auch ein künftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna
+in der vorigen Woche mit dem Beile erschlagen?« platzte Sametoff heraus.
+
+Raskolnikoff schwieg und blickte unverwandt und fest Porphyri
+Petrowitsch an. Rasumichins Gesicht verfinsterte sich. Ihm war schon
+vorher etwas aufgefallen. Er blickte zornig um sich. Eine Minute
+düsteren Schweigens verging. Raskolnikoff wandte sich, um wegzugehen.
+
+»Sie wollen schon fortgehen?« sagte Porphyri Petrowitsch freundlich und
+reichte ihm außerordentlich liebenswürdig die Hand. »Ich freue mich
+sehr, sehr über Ihre Bekanntschaft. Und was Ihre Bitte anbetrifft, seien
+Sie ohne Sorge. Schreiben Sie nur so, wie ich Ihnen sagte. Oder noch
+besser, kommen Sie selber einmal zu mir ... vielleicht in diesen Tagen
+... morgen ... ich werde gegen elf Uhr da sein. Wir wollen dann alles
+besorgen ... uns auch etwas unterhalten ... Sie, als einer der letzten,
+die dort gewesen waren, könnten uns vielleicht etwas mitteilen ...«
+
+»Sie wollen mich offiziell, mit allem Zubehör, verhören?« fragte
+Raskolnikoff scharf.
+
+»Warum denn? Vorläufig ist das gar nicht nötig. Sie haben das falsch
+verstanden. Sehen Sie, ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen und ...
+und habe schon mit allen Pfandgebern gesprochen ... manche Aussagen habe
+ich zu Protokoll genommen ... und Sie, als der letzte ... Ja, a propos!«
+rief er plötzlich, sich über etwas freuend, »ich erinnere mich jetzt,
+was ist denn mit mir! ...« wandte er sich an Rasumichin. »Siehst du, du
+hast mir von diesem Nikolai die Ohren vollgeblasen ... nun, ich weiß
+auch selbst, ich weiß,« wandte er sich an Raskolnikoff, »daß der Bursche
+unschuldig ist, aber was ist da zu machen, ich mußte auch Dmitri
+belästigen ... ja, die Sache ist nun die, -- als Sie damals die Treppe
+hinaufgingen ... erlauben Sie, -- Sie waren doch in der achten Stunde
+dort?«
+
+»Ja, in der achten,« antwortete Raskolnikoff und empfand es im selben
+Momente unangenehm, da er dies doch nicht zu sagen brauchte.
+
+»Also, als Sie die Treppe in der achten Stunde hinaufgingen, haben Sie
+da nicht im zweiten Stock, in einer offenstehenden Wohnung -- erinnern
+Sie sich? -- zwei Arbeiter oder wenigstens einen von ihnen gesehen? Sie
+strichen dort an, haben Sie sie nicht bemerkt? Das ist sehr, sehr
+wichtig für die beiden! ...«
+
+»Anstreicher? Nein, ich habe sie nicht gesehen ...« antwortete
+Raskolnikoff langsam und wie in seiner Erinnerung suchend, dabei spannte
+er unter schweren Qualen sein ganzes Wesen an, um alsbald die gestellte
+Falle zu erkennen und nichts zu übersehen. »Nein, ich habe sie nicht
+gesehen und eine offenstehende Wohnung auch nicht bemerkt ... aber ich
+erinnere mich -- (er hatte die Falle jetzt erkannt und triumphierte) --
+daß im vierten Stock ein Beamter aus der Wohnung auszog ... gerade
+gegenüber Aljona Iwanowna ... ich erinnere mich dessen ... erinnere mich
+klar ... Soldaten trugen ein Sofa hinaus und preßten mich dabei an die
+Wand ... Anstreicher, nein, deren erinnere ich mich nicht ... und eine
+offenstehende Wohnung habe ich nirgends gesehen. Ja, nirgends ...«
+
+»Ja, was ist denn das!« rief plötzlich Rasumichin, als sei er zu sich
+gekommen und hätte es sich überlegt, »ja, die Anstreicher arbeiteten
+doch am Tage des Mordes dort und er war drei Tage vorher dort? Was
+fragst du denn?«
+
+»Ach! Ich habe es verwechselt!« schlug sich Porphyri Petrowitsch vor die
+Stirn. »Zum Teufel, ich verliere noch den Verstand durch diese Sache!«
+wandte er sich wie entschuldigend an Raskolnikoff. »Uns ist es so
+wichtig, zu erfahren, ob man jemand in der achten Stunde in der Wohnung
+gesehen hat und da bildete ich mir ein, daß Sie es auch sagen könnten
+... ich habe es rein verwechselt!«
+
+»Man muß eben aufmerksamer sein,« bemerkte Rasumichin grimmig.
+
+Die letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesagt. Porphyri Petrowitsch
+begleitete sie außerordentlich liebenswürdig bis zur Türe. Beide traten
+finster und verdrießlich auf die Straße hinaus und redeten einige
+Schritte kein Wort. Raskolnikoff tat einen tiefen Atemzug.
+
+
+ VI.
+
+»... Ich glaube nicht daran! Ich kann es nicht glauben!« wiederholte
+Rasumichin bestürzt und versuchte mit aller Kraft die Einwände
+Raskolnikoffs zu widerlegen.
+
+Sie näherten sich schon den »Möblierten Zimmern« von Bakalejeff, wo
+Pulcheria Alexandrowna und Dunja sie seit langem erwarteten. Rasumichin
+blieb alle Augenblicke im Eifer des Gespräches stehen, verwirrt und
+schon dadurch allein aufgeregt, daß sie zum erstenmale _darüber_ klar
+gesprochen hatten.
+
+»Du glaubst es nicht!« antwortete Raskolnikoff mit einem kalten und
+nachlässigen Lächeln. »Du hast nach deiner Gewohnheit nicht acht gehabt,
+aber ich wog jedes Wort ab.«
+
+»Du bist argwöhnisch, darum legtest du auch jedes Wort auf die Wage ...
+Hm ... in der Tat, ich gebe zu, der Ton von Porphyri war ziemlich
+merkwürdig; besonders aber dieser Schuft Sametoff! ... Du hast recht,
+etwas war an ihm, -- aber warum? Warum?«
+
+»Er hat sich's über Nacht überlegt.«
+
+»Aber im Gegenteil, im Gegenteil! Wenn sie diesen hirnlosen Gedanken
+wirklich hätten, so würden sie mit allen Kräften ihn zu verbergen suchen
+und ihre Karten verdeckt halten, um dich später plötzlich zu fangen ...
+Jetzt aber ist es unverschämt und unvorsichtig!«
+
+»Wenn sie Tatsachen, das heißt wirklich Tatsachen oder einen
+einigermaßen begründeten Verdacht hätten, dann würden sie wirklich
+versuchen, ihr Spiel zu verbergen, -- in der Hoffnung, noch mehr zu
+gewinnen und ... hätten übrigens auch längst eine Haussuchung
+vorgenommen! Aber sie haben keine Tatsache, keine einzige, -- alles ist
+Phantasie, alles hat zwei Seiten, sie haben nur im allgemeinen eine
+Idee, -- so versuchen sie durch Unverschämtheit zu verwirren. Vielleicht
+aber ist er auch wütend darüber, daß er keine Tatsachen hat, und aus
+Ärger läßt er sich gehen. Vielleicht aber hat er auch damit einen Zweck
+verfolgt ... Er scheint ein kluger Mann zu sein ... Er wollte mich
+vielleicht erschrecken damit, daß er etwas weiß ... Hier, Bruder, liegt
+eine eigene Psychologie ... Übrigens aber, ist es gemein, dies alles zu
+erklären. Laß es!«
+
+»Und beleidigend, beleidigend! Ich verstehe dich! Aber ... da wir schon
+einmal deutlich darüber reden -- und es ist gut, daß wir endlich klar
+darüber sprechen können, ich freue mich darüber, -- so will ich dir
+jetzt offen gestehen, daß ich lange schon bei ihnen diesen Gedanken, in
+dieser ganzen Zeit gemerkt habe, selbstverständlich in einer kaum
+merkbaren, in einer schleichenden Form. Warum aber? Wie können sie es
+wagen? Wo liegen bei ihnen die Gründe? Wenn du wüßtest, wie ich wütend
+war! Wie, -- aus dem Grunde, weil da ein armer Student ist,
+heruntergekommen durch große Armut und Hypochondrie, am Vorabend einer
+schrecklichen Krankheit, verbunden mit Fieberwahn, die vielleicht längst
+in ihm saß, -- merk dir das! -- ein argwöhnischer, ehrgeiziger Mensch,
+der seinen Wert kennt und der sechs Monate in einem Winkel gesessen und
+niemand gesehen hat; er steht in Lumpen und in Stiefeln ohne Sohlen vor
+allerhand Polizisten und leidet unter ihren Schmähungen; dazu kommt noch
+eine unerwartete Schuld, ein nicht eingelöster Wechsel von Hofrat
+Tschebaroff, dumpfer Farbengeruch, dreißig Grad Wärme, stickige Luft,
+eine Menge Menschen, die Erzählung von der Ermordung einer Person, bei
+der er am Vorabend war, und dies alles -- auf leeren Magen! Ja, wie soll
+man dabei nicht ohnmächtig werden! Und darauf, darauf wird alles
+begründet! Zum Teufel! Ich verstehe, daß es einen ärgert, aber an deiner
+Stelle, Rodja, würde ich ihnen allen ins Gesicht lachen, oder noch
+besser, ihnen allen ordentlich in die Fratze spucken, ich würde noch ein
+paar Dutzend Ohrfeigen verteilen, selbstverständlich in kluger Weise,
+wie man sie stets geben muß, und würde damit die Sache abschließen.
+Pfeif darauf! Halt dich fest! Es ist eine Schande!«
+
+»Er hat es gut dargestellt,« dachte Raskolnikoff.
+
+»Pfeif darauf? Und morgen ist wieder Verhör!« sagte er bitter. »Soll ich
+mich etwa in Verhandlungen mit ihnen einlassen? Ich ärgere mich schon,
+daß ich mich gestern in dem Restaurant bis zu Sametoff erniedrigt habe
+...«
+
+»Zum Teufel! Ich will selbst zu Porphyri gehen! Und ich will ihn schon
+_in verwandtschaftlicher Weise_ vorkriegen; er soll mir alles haarklein
+erzählen. Und Sametoff ...«
+
+»Endlich kommt er auf ihn!« dachte Raskolnikoff.
+
+»Halt!« rief Rasumichin und packte ihn plötzlich an der Schulter, »halt!
+Du hast geschwindelt! Ich habe es mir überlegt, du hast geschwindelt!
+Wieso ist das eine Falle? Du sagst, daß die Frage über die Anstreicher
+eine Falle war? Denk doch nach, -- wenn du _es_ getan hättest, hättest
+du es zugegeben, daß du gesehen hast, wie die Wohnung gemalt wurde ...
+und die Arbeiter? Im Gegenteil, -- du hättest gesagt, ich habe nichts
+gesehen, wenn du es auch gesehen hättest! Wer zeugt denn gegen sich
+selbst?«
+
+»Wenn ich _es_ getan hätte, so würde ich unbedingt gesagt haben, daß ich
+wie die Anstreicher, so auch die Wohnung gesehen habe,« antwortete
+Raskolnikoff unwillig und mit sichtlichem Ekel.
+
+»Ja, warum gegen sich selbst aussagen?«
+
+»Weil nur Bauern oder ganz unerfahrene Neulinge beim Verhör offen und
+alles nacheinander leugnen. Ein einigermaßen gebildeter und schlauer
+Mann versucht unbedingt und nach Möglichkeit alle äußeren,
+unverfänglichen Tatsachen zu bestätigen; er sucht bloß andere Gründe
+anzuführen, bringt seine eigene besondere und unerwartete Erklärung
+hinein, die eine vollkommen andere Bedeutung gibt und alles in einem
+anderen Lichte erscheinen läßt. Porphyri konnte gerade damit rechnen,
+daß ich unbedingt in dieser Weise antworten und sicher sagen würde, daß
+ich sie gesehen habe, nur der Wahrscheinlichkeit halber, und dabei
+irgend etwas zur Erklärung hinzufügen würde.«
+
+»Er hätte dir sofort gesagt, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter dort
+gewesen sein konnten, und daß also du gerade am Tage des Mordes, um acht
+Uhr, dort gewesen bist. Er hätte dich mit dieser Kleinigkeit gefangen.«
+
+»Er rechnete auch damit, daß ich keine Zeit haben werde, es mir zu
+überlegen und mich beeilen würde, wahrheitsgetreuer zu antworten und
+dabei vergessen würde, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter da sein
+konnten.«
+
+»Wie kann man aber das vergessen?«
+
+»Sehr leicht! Auf solche geringfügigen Dinge fallen am ehesten schlaue
+Menschen herein. Je schlauer ein Mensch ist, um so weniger ahnt er, daß
+man ihn bei etwas Einfachem ertappen würde. Den schlauesten Menschen muß
+man gerade mit dem Einfachsten verwirren. Porphyri ist gar nicht so
+dumm, wie du denkst ...«
+
+»Er ist nach alledem ein Schuft!«
+
+Raskolnikoff konnte sich des Lachens nicht erwehren. Aber im selben
+Augenblicke erschien ihm seine eigene Lust und die Begeisterung, mit der
+er seine letzte Erklärung abgegeben hatte, überaus sonderbar; das ganze
+vorangehende Gespräch hatte er mit einem düsteren Widerwillen, nur unter
+dem Zwange der Situation geführt.
+
+»Ich bekomme noch Geschmack daran!« dachte er.
+
+Jedoch gleich darauf wurde er unruhig, als hätte ihn ein unerwarteter
+und beunruhigender Gedanke überrascht. Seine Unruhe wuchs. Sie waren
+schon am Eingange zu den möblierten Zimmern von Bakalejeff.
+
+»Geh allein hinein,« sagte plötzlich Raskolnikoff, »ich komme sofort
+zurück.«
+
+»Wohin willst du? Wir sind ja schon da!«
+
+»Ich muß, ich muß; ich habe etwas zu tun ... ich komme nach einer halben
+Stunde wieder ... Sage es ihnen.«
+
+»Wie du willst, ich begleite dich aber!«
+
+»Was, willst auch du mich quälen!« rief er mit solcher bitteren
+Gereiztheit und solcher Verzweiflung im Blicke, daß Rasumichin
+fassungslos wurde.
+
+Er blieb eine Weile auf der Außentreppe stehen und sah finster zu, wie
+jener schnell in der Richtung nach seiner Wohnung dahinschritt.
+Schließlich biß er die Zähne zusammen, ballte die Faust, schwur sich
+selbst, daß er heute noch den ganzen Porphyri wie eine Zitrone
+ausquetschen würde, und ging die Treppe hinauf, um Pulcheria
+Alexandrowna, die durch ihre lange Abwesenheit schon aufgeregt war, zu
+beruhigen.
+
+Als Raskolnikoff bei seinem Hause anlangte, waren seine Schläfen mit
+Schweiß bedeckt und er atmete schwer. Er eilte die Treppe hinauf, trat
+in seine nicht abgeschlossene Wohnung und hakte sofort die Türe zu. Dann
+stürzte er erschreckt und wie wahnsinnig zu der Ecke, zu dem Loche
+hinter den Tapeten, wohin er damals die Sachen gelegt hatte, steckte die
+Hand hinein und scharrte einige Minuten aufs höchste erregt in dem Loche
+und untersuchte alle Ecken und Falten der Tapete. Als er nichts fand,
+stand er auf und holte tief Atem. Als er sich vorhin der Treppe von
+Bakalejeff näherte, war es ihm plötzlich in den Sinn gekommen, daß
+irgendeine Sache, eine Kette oder ein Manschettenknopf etwa, oder auch
+ein Stück Papier, in dem sie eingewickelt waren, mit einem Vermerk von
+der Hand der Alten auf irgendeiner Spalte liegen geblieben sein konnte
+und als ein unerwarteter und unabwendbarer Beweis vor ihnen auftauchen
+konnte.
+
+Er stand, wie in Nachdenken versunken und ein sonderbares, demütiges,
+halb sinnloses Lächeln umspielte seine Lippen. Er nahm seine Mütze und
+ging langsam hinaus. Seine Gedanken irrten umher. Nachdenklich trat er
+unter das Tor.
+
+»Da ist der Herr selbst!« rief eine laute Stimme; er erhob den Kopf.
+
+Der Hausknecht stand an der Türe seiner Kammer und zeigte auf einen
+nicht sonderlich großen Mann, der wie ein Kleinbürger aussah, und der
+mit einem Mantel, einem Schlafrock ähnlich, und einer Weste bekleidet
+war und von weitem eine große Ähnlichkeit mit einem Weibe hatte. Sein
+Kopf, mit einer fettigen Mütze bedeckt, hing nach vorne, die ganze
+Gestalt schien gekrümmt. Sein schlaffes, runzeliges Gesicht deutete auf
+ein Alter über fünfzig; die kleinen verschwommenen Augen blickten
+finster, ernst und mißvergnügt drein.
+
+»Was soll's?« fragte Raskolnikoff und trat zu dem Hausknechte.
+
+Der Kleinbürger wendete seine Augen zu ihm und blickte ihn unter der
+Stirn hervor durchdringend, aufmerksam und andauernd an; dann wandte er
+sich um und ging, ohne ein Wort gesagt zu haben, zum Tore auf die Straße
+hinaus.
+
+»Ja, was ist denn das?« rief Raskolnikoff.
+
+»Dieser da fragte, ob hier ein Student wohne, nannte Ihren Namen, und
+bei wem Sie wohnen. Sie kamen gerade, ich zeigte Sie ihm, nun ist er
+fortgegangen. Das ist komisch.«
+
+Der Hausknecht hatte auch gewisse Bedenken, er dachte eine kleine Weile
+nach, drehte sich aber um und ging in seine Kammer.
+
+Raskolnikoff stürzte dem Kleinbürger nach und erblickte ihn sofort, wie
+er auf der anderen Seite der Straße gleichmäßig und nicht eilig, mit zu
+Boden gerichteten Augen und anscheinend nachdenklich dahinschritt. Er
+holte ihn bald ein, ging eine Weile hinter ihm; schließlich trat er
+neben ihn und blickte ihm von der Seite ins Gesicht. Der Kleinbürger
+bemerkte ihn sofort und schaute ihn schnell von oben bis unten an, ließ
+aber wieder die Augen sinken, und in dieser Weise gingen sie eine
+Strecke nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen.
+
+»Haben Sie nach mir gefragt ... beim Hausknecht?« sagte Raskolnikoff
+endlich, aber nicht sehr laut.
+
+Der Kleinbürger gab ihm keine Antwort und blickte ihn nicht an. Wieder
+gingen sie stumm dahin.
+
+»Ja, warum ... kommen Sie und fragen ... und schweigen jetzt ... ja, was
+ist denn das?« Raskolnikoffs Stimme stockte und die Worte kamen ihm
+schwer über die Lippen.
+
+Der Kleinbürger erhob diesmal die Augen und sah mit einem drohenden,
+finsteren Blicke Raskolnikoff an. »Mörder!« sagte er plötzlich mit
+leiser, aber klarer und deutlicher Stimme ...
+
+Raskolnikoff ging neben ihm weiter. Seine Füße wurden plötzlich
+schrecklich schwach, im Rücken fühlte er Kälte und sein Herz schien auf
+einen Augenblick still zu stehen; dann fing es an zu klopfen, als wollte
+es sich losreißen. So gingen sie etwa hundert Schritte nebeneinander und
+wieder vollkommen stumm.
+
+Der Kleinbürger blickte ihn nicht an.
+
+»Was fällt Ihnen ein ... was ... wer ist ein Mörder?« murmelte
+Raskolnikoff kaum hörbar.
+
+»_Du_ bist ein Mörder,« sagte jener, noch deutlicher und
+bedeutungsvoller und blickte mit dem Lächeln eines haßerfüllten
+Triumphes in das bleiche Gesicht Raskolnikoffs und seine erloschenen
+Augen.
+
+Sie kamen zu einer Straßenkreuzung. Der Kleinbürger bog links in eine
+Straße ein und ging weiter, ohne sich umzusehen. Raskolnikoff blieb
+stehen und sah ihm lange nach. Er sah, wie jener nach fünfzig Schritten
+ungefähr sich umwandte und ihn, der immer noch unbeweglich auf derselben
+Stelle stand, anblickte. Man konnte nicht sehen, aber Raskolnikoff
+schien es, als hätte er auch diesmal sein kaltes, haßvolles und
+triumphierendes Lächeln gehabt.
+
+Mit langsamen, schweren Schritten, mit zitternden Knien und fröstelnd
+kehrte Raskolnikoff zurück und ging in sein Zimmer hinauf. Er nahm seine
+Mütze ab und legte sie auf den Tisch hin und stand etwa zehn Minuten
+unbeweglich daneben. Dann legte er sich völlig ermattet auf das Sofa und
+streckte sich mit einem schwachen, krankhaften Stöhnen aus; seine Augen
+waren geschlossen. So lag er eine halbe Stunde.
+
+Er dachte an nichts. Es waren wohl Gedanken oder Fetzen von Gedanken da,
+Vorstellungen, ohne Ordnung und Zusammenhang, -- Gesichter von Menschen,
+die er noch als Kind gesehen hatte, oder denen er irgendwo nur ein
+einziges Mal begegnet war, und an die er sich nie mehr erinnert hatte,
+-- der Turm der W.schen Kirche, ein Billard, Zigarrengeruch in einem
+Tabaksladen im Kellergeschosse, eine Kneipe, eine Küchentreppe, ganz
+dunkel, ganz mit Unrat begossen und mit Eierschalen bedeckt, und
+irgendwo ertönte das Sonntagsgeläute der Glocken ... Die Gegenstände
+wechselten und drehten sich wie im Wirbelwinde. Manche gefielen ihm
+sogar und er wollte sich an ihnen festklammern, aber sie erloschen, es
+bedrückte ihn innerlich etwas, aber nicht sehr stark. Zuweilen war es
+sogar gut ... Ein leichtes Frösteln blieb und selbst das war fast
+angenehm. Er hörte die eiligen Schritte Rasumichins und seine Stimme, er
+schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Türe
+und blieb eine Weile auf der Schwelle, wie unschlüssig, stehen. Dann
+trat er leise in das Zimmer und ging vorsichtig zu dem Sofa. Man hörte
+Nastasja flüstern.
+
+»Laß ihn; mag er schlafen; er kann nachher essen.«
+
+»Das ist wahr,« antwortete Rasumichin.
+
+Beide gingen leise hinaus und machten die Türe zu. Noch eine halbe
+Stunde verging. Raskolnikoff öffnete die Augen, legte sich wieder auf
+den Rücken und steckte die Hände unter den Kopf ...
+
+»Wer ist er? Wer ist dieser wie aus der Erde hervorgewachsener Mensch?
+Wo war er und was hat er gesehen? Er hat alles gesehen, das ist
+zweifellos. Wo war er damals und von wo sah er es? Warum erscheint er
+erst jetzt, wie aus der Erde gestiegen? Und wie konnte er es sehen, --
+ist es denn möglich? ... Hm ...« fuhr Raskolnikoff fort, erstarrend und
+zusammenfahrend, »aber das Etui, das Nikolai hinter der Türe gefunden
+hat, -- war denn das nicht auch möglich? Beweise? Ein Hunderttausendstel
+übersieht man, -- und der Beweis wächst zu einer ägyptischen Pyramide!
+Eine Fliege ist vorbeigeflogen, sie hat es gesehen! Aber ist es denn
+möglich?«
+
+Und er fühlte mit Ekel, wie er plötzlich schwach, physisch schwach
+geworden war.
+
+»Ich hätte es wissen müssen,« dachte er mit einem bitteren Lächeln, »und
+wie durfte ich, indem ich mich kannte und ahnte, wie ich sein würde, ein
+Beil nehmen und mit Blut mich besudeln. Ich war verpflichtet, es vorher
+zu wissen ... Ach! Ich wußte es doch vorher!« ...
+
+Zuweilen blieb er unbeweglich an irgendeinem Gedanken haften.
+
+»Nein, die Menschen sind nicht so gemacht; ein wahrer Herrscher, dem
+alles erlaubt ist, zerstört Toulon, veranstaltet eine Abschlachtung in
+Paris, vergißt eine Armee in Ägypten, verbraucht eine halbe Million
+Menschen im russischen Feldzuge und wird in Wilna durch ein Wortspiel
+damit fertig; und ihm stellt man nach dem Tode Standbilder auf, -- somit
+ist auch alles erlaubt. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht aus
+Fleisch und Blut, sondern aus Eisen!«
+
+Ein plötzlicher Nebengedanke brachte ihn fast zum Lachen.
+
+»Napoleon, Pyramiden, Waterloo, -- und eine magere Beamtenwitwe,
+Wucherin, mit einer roten Truhe unter dem Bett, -- nun, wie soll das --
+sagen wir selbst Porphyri Petrowitsch -- verdauen können! ... Wie sollen
+sie es auch verdauen! ... Die Ästhetik wird sie hindern. >Will ein
+Napoleon,< werden sie sagen, >unter das Bett zu einer Alten kriechen!<
+Ach, Unsinn! ...« Ab und zu fühlte er, daß er phantasiere, -- er verfiel
+dann einer fieberhaften verzückten Stimmung.
+
+»Die Alte ist Unsinn!« dachte er und wühlte eifrig und heftig seine
+Gedankengänge weiter:
+
+»Daß es diese Alte war, war vielleicht ein Irrtum, aber die Hauptsache
+liegt nicht an ihr. Die Alte war nur eine Krankheit ... ich wollte
+schneller darüber hinweg schreiten ... ich habe nicht einen Menschen
+getötet, ich habe ein Prinzip getötet! Das Prinzip habe ich wohl
+getötet, bin aber nicht darüber hinweg geschritten, ich bin auf dieser
+Seite geblieben ... Ich habe bloß verstanden, zu töten. Auch das habe
+ich nicht mal verstanden, wie es sich zeigt ... Prinzip? Warum hat
+vorhin der Dummkopf Rasumichin die Sozialisten gescholten? Sie sind
+fleißige Leute und arbeitsam; sie beschäftigen sich mit dem >allgemeinen
+Glück<. Nein, mir ist das Leben einmal gegeben und nie kommt es wieder;
+ich will nicht auf das >allgemeine Glück< warten. Ich will auch selbst
+leben, sonst lieber gar nicht. Was denn? Ich konnte nicht an einer
+hungrigen Mutter vorbeigehen und meinen Rubel in der Erwartung des
+>allgemeinen Glücks< in der Tasche festhalten. >Ich trage<, konnte ich
+sagen, >einen kleinen Stein bei zum allgemeinen Glück, und darum habe
+ich Seelenruhe.< Ha--ha--ha! Warum seid ihr an mir vorbeigegangen? Ich
+lebe doch bloß einmal, ich will doch auch ... Ach was, ich bin eine
+ästhetische Laus und mehr nicht,« fügte er hinzu und lachte plötzlich
+wie ein Irrsinniger. »Ja, ich bin tatsächlich eine Laus,« fuhr er fort,
+indem er sich voll Schadenfreude an den Gedanken klammerte, sich
+hineinbohrte, mit ihm spielte und sich mit ihm amüsierte, »und schon aus
+dem Grunde allein, weil ich erstens jetzt darüber räsonniere, daß ich
+eine Laus bin, und zweitens, weil ich einen ganzen Monat die allgütige
+Vorsehung belästige, indem ich sie als Zeuge anrief, daß ich es nicht
+meines Fleisches und meiner Lust willen unternehme, sondern ein
+prächtiges und herrliches Ziel im Auge habe, -- ha--ha--ha! Drittens,
+weil ich mir vorgenommen hatte, möglichst Gerechtigkeit bei der
+Ausführung walten zu lassen und Gewicht und Maß, wie auch Berechnung
+einzuhalten, -- von allen Läusen wählte ich die allernutzloseste und
+beschloß, nachdem ich sie ermordet haben würde, genau so viel zu nehmen,
+als ich zum ersten Schritt brauche, -- nicht mehr und nicht weniger ...
+und das übrige würde also laut dem Vermächtnis dem Kloster zugefallen
+sein ... ha--ha--ha! Und zu guter Letzt bin ich selber eine Laus,« fügte
+er mit Zähneknirschen hinzu, »weil ich vielleicht selbst noch schlimmer
+und abscheulicher bin als die getötete Laus, und weil ich im voraus
+ahnte, daß ich mir dies sagen würde, nachdem ich sie ermordet haben
+würde! Kann ich denn mit diesem Entsetzen irgend etwas vergleichen! Oh,
+Trivialität! Oh, Gemeinheit! ... Oh, wie ich den >Propheten< zu Pferde
+mit einem Säbel in der Hand begreife, -- Allah befiehlt und die
+>zitternden< Kreaturen sollen gehorchen! Der >Prophet< ist
+tausendmal im Rechte, wenn er irgendwo mitten in der Straße eine
+aus--ge--zeich--ne--te Batterie aufstellt und auf Unschuldige und
+Schuldige schießt, ohne sich herabzulassen, eine Erklärung abzugeben!
+Gehorcht, zitternde Kreaturen und -- wünscht nichts, denn -- ihr _habt_
+nichts zu wünschen! ... Oh, um nichts in der Welt, um keinen Preis will
+ich der Alten verzeihen!« Sein Haar war mit Schweiß bedeckt, die
+bebenden Lippen waren trocken und der unbewegliche Blick auf die
+Zimmerdecke gerichtet.
+
+»Mutter und Schwester, -- wie ich sie geliebt habe! Warum hasse ich sie
+jetzt? Ja, ich hasse sie, hasse sie physisch, ich kann sie nicht mehr
+neben mir ertragen ... Vorhin ging ich zur Mutter hin und küßte sie, ich
+erinnere mich dessen ... Sie zu umarmen und denken zu müssen, wenn sie
+es wüßte, so ... soll ich ihr es sagen? Man kann mir das zutrauen ...
+Hm! Sie muß ebenso sein wie ich ...« fügte er hinzu, mühsam seinen
+Gedanken verfolgend, als kämpfe er mit dem ihn packenden Fieber. »Oh,
+wie ich jetzt diese Alte hasse! Ich könnte sie noch einmal ermorden,
+wenn sie zu sich käme! Arme Lisaweta! Warum kam sie hinzu? ...
+Sonderbar, warum ich an sie fast gar nicht denke, als hätte ich sie
+nicht ermordet! ... Lisaweta! Ssonja! Ihr armen sanften Geschöpfe mit
+euren sanften Augen ... Ihr Lieben! ... Warum weinen sie nicht? Warum
+stöhnen sie nicht? ... Sie geben alles hin ... blicken sanft und still
+... Ssonja, Ssonja! Stille Ssonja! ...«
+
+Er verlor das Bewußtsein; merkwürdig erschien es ihm, daß er sich nicht
+entsann, wie er auf die Straße gekommen. Es war schon später Abend. Die
+Dämmerung nahm zu, der volle Mond leuchtete immer heller und heller;
+aber die Luft war besonders dumpf. Menschen gingen in Haufen in den
+Straßen; Handwerker und Geschäftsleute wanderten nach Hause; andere
+gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und stehendem Wasser.
+Raskolnikoff schritt traurig und sorgenvoll dahin, -- er erinnerte sich
+sehr gut, daß er zu irgendeinem Zwecke aus dem Hause gegangen sei und
+daß er etwas tun sollte und sich dabei beeilen müßte, was es aber war,
+-- hatte er vergessen. Plötzlich blieb er stehen und sah, daß auf der
+anderen Seite der Straße, auf dem Fußwege, ein Mann stand und ihm mit
+der Hand winkte. Er ging über die Straße zu ihm hin, da wandte sich
+dieser Mann um, ging weiter, als wäre nichts gewesen, mit gesenktem
+Kopfe, ohne sich umzuwenden und ohne merken zu lassen, daß er ihn
+gerufen habe. »Ja, hatte er mich auch gerufen?« dachte Raskolnikoff und
+ging ihm nach. Kaum zehn Schritte entfernt von ihm, erkannte er ihn
+plötzlich -- und erschrak; es war der Kleinbürger von vorhin, im selben
+Schlafrocke und ebenso gekrümmt. Raskolnikoff folgte ihm von weitem;
+sein Herz klopfte; sie bogen in eine Gasse ein, -- der Kleinbürger
+wandte sich noch immer nicht um.
+
+»Weiß er, daß ich ihm folge?« dachte Raskolnikoff. Der Kleinbürger trat
+in das Tor eines großen Hauses. Raskolnikoff ging schnell zu dem Tore
+hin, um hineinzusehen, ob er sich nicht umschaue und ihn rufen würde.
+Und in der Tat, als der Kleinbürger durch das Tor geschritten war und
+schon in den Hof trat wandte er sich wieder um und schien ihm wieder zu
+winken. Raskolnikoff durchschritt sofort das Tor, aber der Kleinbürger
+war nicht mehr auf dem Hofe. Also muß er hier die erste Treppe
+hinaufgegangen sein. Raskolnikoff stürzte ihm nach. Ein paar Treppen
+höher vernahm man gleichmäßige, nicht eilige Schritte. Sonderbar, die
+Treppe kam ihm bekannt vor! Hier im ersten Stock ist ein Fenster; durch
+die Scheiben schimmert traurig und geheimnisvoll der Mond; da ist auch
+der zweite Stock. Oh! Das ist dieselbe Wohnung, in der die Arbeiter
+anstrichen ... Wie hatte er das Haus nicht sofort wiedererkennen können?
+Die Schritte des vorangehenden Menschen waren verhallt, »er ist also
+stehen geblieben oder hat sich irgendwo versteckt«. Da ist der dritte
+Stock; soll ich weitergehen? Und welch eine Stille hier herrscht, es ist
+zum Fürchten ... Er ging jedoch höher hinauf. Das Geräusch seiner
+eigenen Schritte erschreckte und beunruhigte ihn. Mein Gott, wie dunkel
+es ist! Der Kleinbürger hat sich sicher irgendwo in einer Ecke
+versteckt. Ah! Die Wohnung ist weit offen; er dachte nach und trat ein.
+Im Vorzimmer war es sehr dunkel und leer, keine Menschenseele, als hätte
+man alles fortgebracht; leise, auf den Fußspitzen ging er in die
+Wohnstube hinein, -- das ganze Zimmer war hell vom Mondenschein
+überflutet; alles war hier wie vorher, -- die Stühle standen da, der
+Spiegel, das gelbe Sofa und die eingerahmten Bilder. Der große, runde,
+kupferrote Mond blickte durch die Fensterscheiben hinein. »Diese Stille
+kommt vom Monde,« dachte Raskolnikoff, »er gibt jetzt sicher ein Rätsel
+auf.« Er stand und wartete, wartete lange, und je stiller der Mond war,
+um so stärker klopfte sein Herz, es tat ihm sogar weh. Und immer noch
+diese Stille. Plötzlich ertönte ein kurzes trockenes Knacken, als hätte
+man einen Holzspan zerbrochen und wieder wurde alles still. Eine
+aufgewachte Fliege stieß im Fluge an die Scheibe und summte kläglich. Im
+selben Augenblicke entdeckte er in der Ecke zwischen einem kleinen
+Schrank und dem Fenster, wie es ihm schien, einen an der Wand hängenden
+Pelzmantel. »Warum hängt da ein Pelzmantel?« dachte er, »er war doch
+früher nicht da ...« Er trat sehr leise heran und erriet; daß hinter dem
+Pelzmantel sich jemand versteckt hielt. Er schob vorsichtig mit der Hand
+den Mantel zur Seite und entdeckte einen Stuhl, und auf dem Stuhle in
+der Ecke saß die Alte, ganz zusammengekauert und mit gesenktem Kopfe, so
+daß er das Gesicht gar nicht sehen konnte, aber sie war es. Er stand
+eine Weile vor ihr; »sie fürchtet sich!« dachte er; zog dann leise das
+Beil aus der Schlinge und versetzte der Alten einen Schlag auf den Kopf
+und noch einen zweiten. Aber merkwürdig, -- sie rührte sich nicht bei
+den Schlägen, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, beugte sich über sie
+und begann sie zu betrachten, da ließ sie den Kopf noch mehr sinken. Er
+beugte sich dann fast zu Boden und blickte ihr von unten ins Gesicht; er
+sah sie an und erstarrte, -- die Alte saß und lachte, -- sie schüttelte
+sich vor Lachen, ein leises, unhörbares Lachen, sie hielt aus
+Leibeskräften an sich, damit er es nicht hören solle. Da schien es ihm,
+als würde die Tür zum Schlafzimmer ein wenig geöffnet, und auch da
+schien man zu lachen und zu flüstern. Die Wut übermannte ihn, -- er
+begann aus voller Kraft der Alten auf den Kopf zu schlagen, aber mit
+jedem Schlage hörte man immer stärker das Lachen und Flüstern im
+Schlafzimmer, und die Alte schüttelte sich nur so vor Lachen. Er stürzte
+hinaus, da war das ganze Vorzimmer schon voll von Menschen, die Tür zu
+der Treppe war weit geöffnet und auf dem Flure, auf der Treppe und dort
+unten standen Menschen, Kopf an Kopf, und blickten alle auf ihn, sie
+waren alle still, sie schienen auf etwas zu warten und schwiegen! ...
+Sein Herz krampfte sich, die Füße ließen sich nicht mehr bewegen, waren
+wie angewachsen ... Er wollte schreien und -- wachte auf.
+
+Er holte schwer Atem, -- aber merkwürdig, der Traum schien sich immer
+noch fortzusetzen, -- seine Tür war weit geöffnet und auf der Schwelle
+stand ein völlig unbekannter Mann und betrachtete ihn aufmerksam.
+
+Raskolnikoff hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet und schloß sie
+auch sofort wieder. Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. »Ist
+das noch der Traum oder nicht?« dachte er und hob kaum merklich die
+Wimpern, um zu sehen, -- der Unbekannte stand auf derselben Stelle und
+blickte ihn weiter unverwandt an. Auf einmal trat er vorsichtig über die
+Schwelle, schloß leise die Türe hinter sich zu, ging an den Tisch und
+wartete eine Weile, -- während dieser Zeit wandte er kein Auge von
+Raskolnikoff ab, -- er setzte sich leise auf einen Stuhl neben das Sofa
+hin; seinen Hut stellte er auf den Boden neben sich, stützte sich mit
+beiden Händen auf seinen Stock und legte das Kinn auf die Hände. Man
+konnte sehen, daß er sich anschickte, lange zu warten. Soweit
+Raskolnikoff durch die blinzelnden Wimpern sehen konnte, war dieser Mann
+nicht mehr jung, und hatte einen dichten, hellblonden, fast weißen Bart.
+
+Es vergingen etwa zehn Minuten. Es war noch hell, aber der Abend nahte
+schon. Im Zimmer herrschte eine vollkommene Stille. Sogar von der Treppe
+drang kein Ton herein. Bloß eine große Fliege summte und schlug sich im
+Fluge an die Fensterscheibe. Dies wurde endlich unerträglich. --
+Raskolnikoff erhob sich plötzlich und setzte sich auf das Sofa hin.
+
+»Nun sagen Sie, was wünschen Sie?«
+
+»Sehen Sie, ich wußte es doch, daß Sie nicht schlafen, sondern sich bloß
+den Anschein geben,« antwortete der Unbekannte eigentümlich und lachte
+ruhig. »Erlauben Sie mich Ihnen vorzustellen: Arkadi Iwanowitsch
+Sswidrigailoff ...«
+
+
+
+
+ Vierter Teil
+
+
+ I.
+
+»Ist das etwa die Fortsetzung des Traumes?« dachte Raskolnikoff noch
+einmal.
+
+Er betrachtete vorsichtig und mißtrauisch den unerwarteten Besucher.
+
+»Sswidrigailoff? Welch ein Unsinn! Es kann nicht sein!« sagte er
+schließlich laut und zweifelnd.
+
+Der Besucher schien über diesen Ausruf gar nicht erstaunt zu sein.
+
+»Ich bin zu Ihnen aus zwei Gründen gekommen, -- erstens wollte ich Sie
+persönlich kennenlernen, da ich längst über Sie sehr Interessantes und
+Vorteilhaftes gehört habe; zweitens aber bilde ich mir ein, daß Sie sich
+vielleicht nicht weigern werden, mir bei einem Vorhaben zu helfen, das
+besonders die Interessen Ihrer Schwester Awdotja Romanowna betrifft.
+Mich allein, ohne Empfehlung, wird sie vielleicht jetzt nicht mal ins
+Haus lassen infolge eines Vorurteiles; mit Ihrer Hilfe rechne ich
+darauf.«
+
+»So rechnen Sie schlecht,« unterbrach ihn Raskolnikoff.
+
+»Ihre Angehörigen sind doch erst gestern angekommen, erlauben Sie mir
+die Frage?«
+
+Raskolnikoff antwortete nicht.
+
+»Ja, gestern, ich weiß es. Ich bin selbst erst seit vorgestern hier.
+Doch, was soll ich Ihnen weiter sagen, Rodion Romanowitsch; ich halte es
+für überflüssig, mich zu rechtfertigen, nur eins lassen Sie mich
+bemerken, -- habe ich denn tatsächlich etwas verbrochen, wenn man alles
+ohne Vorurteile, mit ruhiger Vernunft betrachtet?«
+
+Raskolnikoff betrachtete ihn immer noch schweigend.
+
+»Der Umstand, daß ich in meinem Hause ein wehrloses, junges Mädchen
+verfolgt und >sie mit meinen abscheulichen Anerbieten beleidigt habe<,
+soll ein Verbrechen sein? Ich komme Ihnen zuvor. -- Denken Sie doch
+daran, daß ich auch nur ein Mensch bin, _et nihil humanum_ ... mit einem
+Worte, daß ich auch fähig bin, Reize zu empfinden und zu lieben, -- was
+sicher nicht mit unserem Wollen geschieht, sondern in unserer Natur
+liegt, und damit läßt sich alles auf die allernatürlichste Weise
+erklären. Die Frage ist nur die, bin ich ein Scheusal oder selbst ein
+Opfer? Nun, und wenn ich das Opfer bin? Und sehen Sie, indem ich dem
+Gegenstande meiner Liebe anbot, mit mir nach Amerika oder in die Schweiz
+zu fliehen, empfand ich dabei die allerehrerbietigsten Gefühle und
+glaubte uns zum gegenseitigen Glück zu verhelfen! ... Der Verstand dient
+doch der Leidenschaft, und ich richtete mich selbst dabei zugrunde, das
+müssen Sie doch auch in Betracht ziehen! ...«
+
+»Darum handelt es sich gar nicht,« unterbrach ihn Raskolnikoff voll
+Widerwillen. »Sie sind mir einfach widerlich, ob Sie schuldig sind oder
+nicht, und man will mit Ihnen nichts zu tun haben, man jagt Sie fort und
+so gehen Sie doch Ihrer Wege! ...«
+
+Sswidrigailoff lachte laut auf.
+
+»Aber Sie sind ... man kann Sie nicht verwirren!« sagte er und lachte
+offen heraus, »ich dachte es schlau angefangen zu haben, aber es gelang
+nicht, Sie stellten sich gleich auf den richtigsten Standpunkt.«
+
+»Ja, und Sie wollen auch in diesem Augenblicke schlau sein.«
+
+»Was wäre dabei? Nun, was wäre dabei?« wiederholte Sswidrigailoff und
+lachte weiter. »Es ist doch _bonne guerre_{[4]}, wie man es nennt und
+eine höchst erlaubte Schlauheit! ... Aber Sie haben mich unterbrochen;
+ich wiederhole noch einmal, ob es so oder anders gekommen wäre, es wären
+keine Unannehmlichkeiten vorgefallen, wenn nicht noch der Auftritt im
+Garten hinzugekommen wäre. Marfa Petrowna ...«
+
+»Marfa Petrowna, sagt man, haben Sie auch ins Grab gebracht?« unterbrach
+ihn schroff Raskolnikoff.
+
+»Sie haben auch davon gehört? Wie sollten Sie es übrigens nicht zu hören
+bekommen ... Hier weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll,
+obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung im höchsten Maße ruhig
+ist. Glauben Sie ja nicht, daß ich irgend etwas dabei fürchte; dies
+alles ist in völliger Ordnung und mit Genauigkeit geprüft worden, -- die
+ärztliche Untersuchung hat einen Herzschlag nachgewiesen, der infolge
+sofortigen Badens nach einem reichlichen Mittagessen erfolgt ist, wobei
+fast eine ganze Flasche Wein geleert wurde, und anderes konnte nicht
+festgestellt werden ... Nein, sehen Sie, ich habe eine Zeitlang,
+besonders im Eisenbahnwagen auf dem Wege hierher nachgedacht, ob ich zu
+diesem ... Unglück irgendwie, moralisch, durch Reizung oder etwas
+ähnliches, nicht beigetragen habe? Ich bin zu dem Resultate gekommen,
+daß dies positiv nicht der Fall sein konnte.«
+
+Raskolnikoff lachte.
+
+»Warum fällt es Ihnen denn noch ein, sich so zu beunruhigen?«
+
+»Worüber lachen Sie denn? Denken Sie doch nach, -- ich habe sie nur
+zweimal mit der Reitgerte geschlagen, ohne daß Spuren zu sehen waren ...
+Halten Sie mich, bitte, nicht für frivol; ich weiß sehr wohl, daß das
+schändlich von mir war ... und so weiter; aber ich weiß auch sicher, daß
+Marfa Petrowna vielleicht froh war über meinen, sagen wir, Mangel an
+Beherrschung. Die Geschichte mit Ihrer Schwester war bis zum letzten
+Tropfen erschöpft. Marfa Petrowna sah sich gezwungen, den dritten Tag
+schon zu Hause zu sitzen; sie hatte nichts, womit sie sich im Städtchen
+zeigen konnte, und außerdem war sie allen mit diesem Briefe -- über das
+Vorlesen dieses Briefes haben Sie doch gehört, -- lästig geworden. Da
+kamen ihr diese zwei Schläge mit der Reitgerte wie vom Himmel geschickt,
+-- ihr erstes war, sofort den Wagen vorfahren zu lassen! ... Ich spreche
+nicht mal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen sehr, sehr
+angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der zur Schau getragenen
+Entrüstung! Diese Fälle kommen bei allen vor. -- Der Mensch liebt es im
+allgemeinen sehr, beleidigt zu sein; haben Sie das noch nicht bemerkt?
+Bei Frauen aber ist dies besonders der Fall. Man kann so weit gehen und
+sagen, daß sie sich damit gern die Zeit vertreiben.«
+
+Einen Augenblick dachte Raskolnikoff aufzustehen und wegzugehen, um
+dadurch diesem Besuche ein Ende zu machen. Eine gewisse Neugier aber und
+vielleicht Berechnung hielten ihn für eine Weile zurück.
+
+»Sie prügeln wohl gerne?« fragte er ihn zerstreut.
+
+»Nein, nicht besonders,« antwortete Sswidrigailoff ruhig. »Und mit Marfa
+Petrowna habe ich mich fast nie geprügelt. Wir lebten in großer
+Eintracht und sie war stets mit mir zufrieden. Die Gerte habe ich in den
+sieben Jahren nur zweimal gebraucht, wenn man ein drittes Mal, das
+übrigens sehr zweifelhaft ist, nicht mitzählt; das erste Mal war es zwei
+Monate nach unserer Heirat, gleich nach der Ankunft auf dem Gut, und nun
+der jetzige, letzte Fall. Sie dachten schon, ich sei so ein Scheusal,
+Rückschrittler und Anhänger der Leibeigenschaft? He--he--he ... Ja,
+nebenbei gesagt, -- erinnern Sie sich nicht, Rodion Romanowitsch, wie
+vor einigen Jahren, noch zu Zeiten der wohltätigen Pressefreiheit, man
+einen Edelmann -- ich habe seinen Namen vergessen, -- der eine Deutsche
+im Eisenbahnwagen verprügelte, öffentlich an den Pranger stellte,
+erinnern Sie sich noch? Es war im selben Jahre, glaube ich, als die
+>Egyptischen Nächte< öffentlich vorgetragen wurden und ein Skandal
+passierte, erinnern Sie sich jetzt? >Schwarze Augen! Oh, wo bist du,
+goldene Zeit unserer Jugend! ...< So, und hier haben Sie meine Meinung,
+-- für den Herrn, der die Deutsche verprügelte, habe ich keine
+Sympathie, denn warum soll man in der Tat ... mit dem sympathisieren!
+Hierbei kann ich nicht umhin zu bemerken, daß zuweilen sich solche
+anregende >Deutsche< finden, und daß es keinen einzigen Fortschrittler,
+wie es mir scheint, gibt, der für sich vollkommen garantieren könnte.
+Von diesem Standpunkte hatte damals niemand die Sache betrachtet,
+indessen aber ist er der eigentlich humane Standpunkt wahrhaftig, so ist
+es!«
+
+Nachdem er das gesagt hatte, lachte Sswidrigailoff von neuem.
+Raskolnikoff war es klar, daß dieser Mensch, der sich etwas fest
+vorgenommen hatte, darauf bestimmt lossteuerte.
+
+»Sie haben jedenfalls einige Tage nacheinander mit niemandem
+gesprochen?« fragte er ihn.
+
+»Das könnte stimmen. Warum? Sie wundern sich wohl, daß ich so gesprächig
+bin.«
+
+»Nein, ich wundere mich, daß Sie so vernünftig reden.«
+
+»Weil ich mich durch die Grobheit Ihrer Zwischenfragen nicht gekränkt
+fühlte? Ist es so? Ja ... warum sollte ich gekränkt sein? Wie man mich
+fragte, so antwortete ich auch,« fügte er mit wunderbarer Gutmütigkeit
+hinzu. »Ich interessiere mich fast für nichts, bei Gott,« fuhr er fort,
+wie sinnend. »Ich bin besonders jetzt mit nichts beschäftigt ...
+Übrigens ist es begreiflich, wenn Sie denken, ich wollte mich bei Ihnen
+einschmeicheln und um so mehr, weil ich ein Anliegen, wie ich selbst
+erklärte, an Ihre Schwester habe. Aber ich will Ihnen offen sagen, --
+mir ist es langweilig, besonders seit diesen drei Tagen, so daß ich mich
+auf Ihre Gesellschaft freute ... Seien Sie mir aber nicht böse, Rodion
+Romanowitsch, Sie kommen mir aber selbst sehr merkwürdig vor. Fassen Sie
+es auf wie Sie wollen, aber es ist etwas an Ihnen und gerade jetzt,
+nicht nur in diesem Augenblicke, sondern überhaupt jetzt ... Nun, nun,
+ich will nicht mehr davon reden, verziehen Sie nur nicht gleich die
+Stirn! Ich bin doch nicht solch ein Bär, wie Sie glauben.«
+
+Raskolnikoff blickte ihn finster an.
+
+»Sie sind vielleicht gar kein Bär,« sagte er. »Mir scheint es sogar, Sie
+gehören zur guten Gesellschaft oder Sie verstehn wenigstens bei
+Gelegenheit auch ein anständiger Mann zu sein.«
+
+»Ich interessiere mich auch nicht besonders für irgend wessen Meinung
+über mich,« antwortete Sswidrigailoff trocken, mit einem Anfluge von
+Hochmut, »und warum soll man nicht fade sein, wenn diese Art unserem
+Lande so geläufig ist und ... und wenn man noch eine natürliche Neigung
+dazu hat,« fügte er hinzu und lachte wieder.
+
+»Ich habe gehört, daß Sie hier viele Bekannte haben. Sie sind doch nicht
+ohne das, was man >Verbindungen< nennt. Wozu haben Sie mich denn nötig,
+wenn nicht zu einem bestimmten Zwecke?«
+
+»Ganz richtig, ich habe Bekannte hier,« fuhr Sswidrigailoff fort, ohne
+die Hauptfrage zu beantworten, »ich habe auch einige getroffen; ich
+wandre schon den dritten Tag herum, erkenne manche selbst wieder und
+mich scheint man auch wiederzuerkennen. Ich bin anständig angezogen und
+werde für keinen armen Menschen gehalten; uns hat die Aufhebung der
+Leibeigenschaft nicht berührt, -- uns sind Wälder und Wiesen geblieben,
+das Einkommen ist demnach nicht vermindert worden. Aber ... ich will
+meine Beziehungen nicht pflegen, auch früher waren sie mir langweilig.
+Ich gehe nun den dritten Tag herum und gebe mich nicht zu erkennen ...
+Dazu kommt noch diese Stadt! Sagen Sie mir bitte, wie ist sie
+entstanden! Eine Stadt von Beamten und allerhand Seminaristen! Ich habe
+wirklich früher vieles nicht bemerkt, als ich vor acht Jahren mich hier
+herumtrieb ... Ich setzte alle meine Hoffnungen nur noch ganz allein auf
+die Anatomie, bei Gott!«
+
+»Was für eine Anatomie?«
+
+»Nun, ich hoffe auf alle diese Klubs und französischen Restaurants und
+vielleicht noch auf den Fortschritt, -- nun, der möge nach unserem Tode
+kommen,« fuhr er fort, ohne wieder die Frage zu beachten. »Und was ist
+das für ein Vergnügen, Falschspieler zu sein?«
+
+»Waren Sie denn auch Falschspieler?«
+
+»Warum denn auch nicht? Wir waren eine ganze Gesellschaft vor acht
+Jahren und eine höchst anständige; wir vertrieben uns die Zeit, und
+wissen Sie, es waren alles Menschen mit guten Umgangsformen, es waren
+Dichter und reiche Leute darunter. Ja, und überhaupt bei uns in der
+russischen Gesellschaft trifft man bei denen, die schon Prügel bekommen
+haben, die allerbesten Umgangsformen, -- haben Sie es noch nicht
+gemerkt? Ich bin auf dem Lande ein wenig heruntergekommen. Und trotzdem
+wollte mich damals ein Griechenkerl aus Njeschin wegen Schulden ins
+Gefängnis einsperren lassen. Da tauchte Marfa Petrowna auf, handelte ein
+wenig und löste mich für dreißigtausend Silberlinge aus -- im ganzen
+schuldete ich siebzigtausend. Wir traten in den gesetzlichen Ehestand
+und sie brachte mich sofort auf ihr Gut, als habe sie einen Schatz
+gehoben. Sie war um fünf Jahre älter als ich. Liebte mich sehr. Sieben
+Jahre habe ich dort gelebt. Und stellen Sie sich vor, sie hatte ihr
+ganzes Leben das Dokument in Händen, es war auf einen fremden Namen über
+diese dreißigtausend von mir ausgestellt, so daß, wenn ich
+beabsichtigte, mich gegen sie zu empören, -- ich sofort ins Loch
+gekommen wäre. Und sie hätte es getan! Bei Frauen ist alles möglich.«
+
+»Und wäre das Dokument nicht vorhanden gewesen, so wären Sie auch
+sicherlich schon lange ausgekniffen?«
+
+»Ich weiß nicht, was ich Ihnen da sagen soll. Dieses Dokument genierte
+mich fast gar nicht. Ich hatte keine Lust, irgendwohin zu reisen, und
+Marfa Petrowna riet mir selbst ein paarmal eine Auslandsreise, als sie
+merkte, daß ich mich langweile. Wozu aber? Im Auslande war ich vorher
+gewesen und da war es mir immer langweilig. Eigentlich langweilte ich
+mich nicht, aber sehen Sie, man sieht die Sonne untergehen, ringsum ist
+das Meer -- die Bucht von Neapel, und es wird einem traurig zumute. Am
+unangenehmsten ist es, daß man tatsächlich Sehnsucht nach Hause bekommt.
+Nein, in der Heimat ist es besser, -- hier schiebt man die Schuld immer
+den andern zu und nimmt sich selbst in Schutz. Ich würde mich vielleicht
+jetzt gegebenenfalls an einer Expedition nach dem Nordpol beteiligen,
+denn -- _j'ai le vin mauvais_{[5]}, es widert mich an, zu trinken, und
+außer dem Wein bleibt mir nichts übrig. Man sagt, daß Berg am Sonntag im
+Jussupoffschen Garten in einem großen Ballon aufsteigen will und
+Mitreisende gegen eine bestimmte Bezahlung auffordert, ist das wahr?«
+
+»Was, Sie wollen wohl mitfliegen?«
+
+»Ich? Nein ... so ...« murmelte Sswidrigailoff und wurde wirklich
+nachdenklich.
+
+»Was ist mit dem nur los?« dachte Raskolnikoff.
+
+»Nein, das Dokument genierte mich nicht,« fuhr Sswidrigailoff sinnend
+fort. »Ich verließ freiwillig nicht das Gut. Ja und es wird bald ein
+Jahr, seit Marfa Petrowna mir zu meinem Namenstage dieses Dokument
+zurückgab und außerdem mir noch eine nennenswerte Summe schenkte. Sie
+hatte ein schönes Vermögen. >Sehen Sie, wie ich Ihnen vertraue, Arkadi
+Iwanowitsch<, wahrhaftig, so sagte sie. Sie glauben nicht, daß sie so
+gesagt hat? Wissen Sie, ich bin auf dem Lande ein anständiger Hauswirt
+geworden; man kennt mich im ganzen Umkreise. Ich ließ mir auch Bücher
+kommen. Marfa Petrowna fand es zuerst gut, später aber fürchtete sie
+immer, ich könnte mich durch zu vieles Lesen überanstrengen.«
+
+»Sie vermissen Marfa Petrowna, wie es scheint, sehr?«
+
+»Ich? Vielleicht. Wahrhaftig, vielleicht. Ja, nebenbei gesagt, glauben
+Sie an Gespenster?«
+
+»Was für Gespenster?«
+
+»An gewöhnliche Gespenster!«
+
+»Sie glauben daran?«
+
+»Vielleicht, vielleicht auch nicht, _pour vous plaire_{[6]} ... Das
+heißt eigentlich, glaube ich ...«
+
+»Erscheinen sie bei Ihnen etwa?«
+
+Sswidrigailoff blickte ihn sonderbar an.
+
+»Marfa Petrowna geruht mich zu besuchen,« sagte er und verzog seinen
+Mund zu einem merkwürdigen Lächeln.
+
+»Was heißt es, sie geruht Sie zu besuchen?«
+
+»Ja, sie ist schon dreimal dagewesen. Zum erstenmal sah ich sie am Tage
+der Beerdigung, eine Stunde nach ihrem Begräbnis. Das war am Tage vor
+meiner Abreise. Das zweitemal war es vorgestern auf der Reise, am frühen
+Morgen auf der Station Malaja Wischera, und zum dritten Male heute, vor
+zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich abgestiegen bin; ich war allein.«
+
+»Sehen Sie sie im wachen Zustande?«
+
+»Vollkommen. Alle dreimal im wachen Zustande. Sie tritt herein, spricht
+einen Augenblick und geht durch die Tür hinaus, stets durch die Türe.
+Man kann es sogar hören.«
+
+»Ich habe es mir gleich gedacht, daß mit Ihnen unbedingt irgend etwas
+dieser Art vorgehen muß!« sagte plötzlich Raskolnikoff und staunte im
+selben Augenblicke, daß er das gesagt hatte. Er war in großer Aufregung.
+
+»So, so? Sie haben es sich gedacht?« fragte Sswidrigailoff verwundert.
+»Ist es möglich? Sagte ich nicht, daß es zwischen uns einen gemeinsamen
+Punkt geben muß.«
+
+»Das haben Sie nie gesagt!« antwortete scharf und außer sich
+Raskolnikoff.
+
+»Habe ich es nicht gesagt?«
+
+»Nein!«
+
+»Mir war, als hätte ich es gesagt. Als ich vorhin eintrat und sah, daß
+Sie mit geschlossenen Augen liegen und sich bloß schlafend stellten, da
+sagte ich mir, >er ist derselbe!<«
+
+»Was heißt das -- er ist derselbe? Was meinen Sie damit?« rief
+Raskolnikoff aus.
+
+»Was ich meine? Wirklich, ich weiß es nicht ...« murmelte Sswidrigailoff
+offenherzig und scheinbar selbst verwirrt vor sich hin. Sie schwiegen
+etwa eine Minute und blickten einander unablässig an.
+
+»Das ist alles Unsinn!« rief Raskolnikoff ärgerlich. »Was sagt sie Ihnen
+denn, wenn sie erscheint?«
+
+»Sie? Stellen Sie sich vor, sie spricht über die geringsten
+Kleinigkeiten und mögen Sie sich über mich wundern oder nicht, -- gerade
+das ärgert mich. Das erstemal, als sie erschien, -- wissen Sie, ich war
+müde nach der Totenmesse und dem Begräbnis und dem Essen und war in
+meinem Schreibzimmer allein geblieben, hatte mir eine Zigarre angesteckt
+und war in Gedanken versunken, -- da trat sie also durch die Türe ein
+und sagte: >Arkadi Iwanowitsch, Sie haben heute bei all dem Trubel
+vergessen, die Uhr im Speisezimmer aufzuziehen.< Diese Uhr habe ich
+tatsächlich all die sieben Jahre jede Woche selbst aufgezogen, und wenn
+ich es vergessen hatte, erinnerte sie mich stets daran. Am anderen
+Morgen war ich schon auf der Reise hierher. Ich komme am frühen Morgen
+auf einer Station an, hatte die Nacht nur wenig geschlummert, fühlte
+mich zerschlagen, die Augen waren müde, und als ich mir eine Tasse
+Kaffee nahm, sah ich plötzlich, wie sich Marfa Petrowna neben mich mit
+einem Kartenspiel in der Hand hinsetzte. >Soll ich Ihnen nicht die
+Karten legen, Arkadi Iwanowitsch?< fragte sie mich. Sie war eine
+Meisterin im Kartenlegen. Nein, ich werde es mir nie verzeihen, daß ich
+mir die Karten nicht legen ließ. Ich lief im Schrecken fort, es war auch
+höchste Zeit, denn es wurde zum Abfahren geläutet. Heute sitze ich nun
+nach einem sehr schlechten Essen aus einer Stadtküche mit schwerem Magen
+da und rauche, -- da erscheint wieder Marfa Petrowna sehr geputzt, in
+einem neuen grünen Seidenkleide mit einer sehr langen Schleppe. >Guten
+Tag, Arkadi Iwanowitsch!< sagte sie. >Wie gefällt Ihnen mein Kleid?
+Anisja kann es nicht so gut machen.< Anisja, wissen Sie, ist unsere
+Schneiderin auf dem Lande, eine frühere Leibeigene, hat ihr Handwerk in
+Moskau erlernt, -- ein hübsches Mädel. Also, Marfa Petrowna steht vor
+mir und zeigt sich von allen Seiten. Ich besah mir das Kleid und blickte
+ihr dann aufmerksam ins Gesicht. >Was ist es für ein Vergnügen, Marfa
+Petrowna, wegen solcher Kleinigkeiten zu mir zu kommen und mich zu
+belästigen.< -- >Ach, mein Gott, man darf Sie auch nicht mal fragen!<
+Und ich sagte ihr, um sie zu necken: >Ich will mich verheiraten, Marfa
+Petrowna.< -- >Das kann man von Ihnen erwarten, Arkadi Iwanowitsch; Sie
+legen damit nicht viel Ehre ein, da Sie kaum Ihre Frau beerdigt haben
+und schon heiraten wollen. Und wenn Sie noch gut gewählt hätten, so aber
+-- ich weiß es -- werden weder Sie selbst, noch Ihre Auserwählte es gut
+haben.< Darauf ging sie hinaus mit rauschender Schleppe. Ist das nicht
+alles Unsinn?«
+
+»Ich glaube, das sind alles ausgedachte Lügen?« erwiderte Raskolnikoff.
+
+»Ich lüge selten,« antwortete Sswidrigailoff sinnend und als hätte er
+die Grobheit der Frage gar nicht gemerkt.
+
+»Haben Sie nie vorher Gespenster gesehen?«
+
+»Nein, ich habe wohl ein einziges Mal im Leben vor sechs Jahren ein
+Gespenst gesehen. Ich hatte einen Diener Filka; gerade, als man ihn
+beerdigt hatte, rief ich in der Zerstreutheit: >Filka, die Pfeife!< und
+er kam herein und ging zu dem Pfeifenständer. Ich saß und dachte, >er
+wird sich wohl rächen wollen<, denn vor seinem Tode hatten wir uns
+ordentlich gezankt. >Wie, wagst du<, sagte ich zu ihm, >zu mir mit einem
+zerrissenen Ellenbogen zu kommen, -- hinaus, Hallunke!< Er wandte sich
+um, ging hinaus und erschien nie mehr. Ich habe es Marfa Petrowna nicht
+erzählt. Ich wollte für ihn eine Totenmesse abhalten lassen, aber
+genierte mich.«
+
+»Gehen Sie zu einem Arzte!«
+
+»Ich weiß auch ohne Sie, daß ich nicht gesund bin, obwohl ich wahrhaftig
+nicht weiß, wo es mir fehlt; meiner Ansicht nach bin ich sicher fünfmal
+gesünder als Sie. Ich habe Sie jedoch nicht danach gefragt. Ich habe Sie
+vielmehr gefragt, glauben Sie, daß es Gespenster gibt?«
+
+»Nein, ich kann um nichts in der Welt daran glauben!« rief Raskolnikoff
+wütend aus.
+
+»Wie spricht man von solchem Falle gewöhnlich?« murmelte Sswidrigailoff
+vor sich hin, sah dabei zur Seite und hatte ein wenig den Kopf gesenkt.
+»Die einen sagen, -- du bist krank, und das, was sich dir vorstellt, ist
+ein nicht existierender Wahn. Das ist aber doch unlogisch. Ich gebe zu,
+daß Gespenster nur Kranken erscheinen, aber das beweist doch bloß, daß
+die Gespenster niemand anderen als Kranken erscheinen können, jedoch
+nicht, daß sie an und für sich nicht existieren.«
+
+»Gewiß, sie existieren auch nicht!« bestand Raskolnikoff gereizt auf
+seiner Ansicht.
+
+»Nicht? Sie meinen es?« fuhr Sswidrigailoff langsam fort und blickte ihn
+an. »Nun, man kann es auch so betrachten, -- Sie müssen mir helfen, --
+Gespenster sind sozusagen Teile und Stückchen aus anderen Welten, ihr
+Anfang. Ein gesunder Mensch braucht sie selbstverständlich nicht zu
+sehn, denn ein Gesunder ist der meist irdische Mensch und soll also der
+Ordnung und Vollständigkeit wegen nur das gegenwärtige Leben leben. Nun,
+wenn er aber erkrankt und wenn die normale irdische Ordnung im
+Organismus ein wenig ins Wanken geraten ist, beginnt sich sofort die
+Möglichkeit einer anderen Welt zu zeigen, und je stärker er erkrankt, um
+so mehr gibt es für ihn Berührungspunkte mit dieser Welt, bis er, wenn
+er schließlich stirbt, in die andere Welt übergeht. Ich habe darüber
+seit langem nachgedacht. Wenn Sie an ein zukünftiges Leben glauben, so
+können Sie auch an diesen Gedanken glauben.«
+
+»Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben,« sagte Raskolnikoff.
+
+Sswidrigailoff saß nachdenklich da.
+
+»Wenn es aber dort drüben nur Spinnen oder dergleichen gibt,« sagte er
+rasch.
+
+»Er ist verrückt,« dachte Raskolnikoff.
+
+»Uns erscheint immer die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen
+kann, als etwas ungeheuer Großes. Aber warum soll sie denn unbedingt
+ungeheuer groß sein? Und schließlich stellen Sie sich vor, anstatt
+dessen wird dort ein kleines Zimmer sein, ähnlich einer Badestube auf
+dem Lande; verräuchert, in allen Ecken Spinnen, und das wird die ganze
+Ewigkeit sein. Wissen Sie, ich stelle sie mir zuweilen in dieser Art
+vor.«
+
+»Und stellen Sie sich tatsächlich nichts tröstlicheres und gerechteres
+vor, als dieses!« rief Raskolnikoff aufgeregt.
+
+»Gerechteres? Woher wissen wir es, vielleicht _ist_ dies auch gerecht;
+und wissen Sie, _ich_ würde es unbedingt so einrichten!« antwortete
+Sswidrigailoff und lächelte unbestimmt.
+
+Es überlief Raskolnikoff bei dieser abscheulichen Antwort kalt.
+Sswidrigailoff erhob den Kopf, blickte ihn aufmerksam an und lachte
+plötzlich laut auf.
+
+»Nein, bedenken Sie bloß,« rief er aus, »vor einer halben Stunde hatten
+wir einander noch nicht gesehen, hielten uns für Feinde, hatten eine
+Angelegenheit auszutragen; wir ließen die Sache fallen und verwirren uns
+in diese Ideen! Nun, habe ich nicht die Wahrheit gesagt, daß wir von
+_einem_ Stamme sind?«
+
+»Tun Sie mir den Gefallen,« fuhr Raskolnikoff gereizt fort, »erklären
+Sie sich schneller und teilen Sie mir mit, warum Sie mir die Ehre
+erwiesen haben, mich zu besuchen ... und ... und ich habe Eile, habe
+keine Zeit, ich will fortgehen ...«
+
+»Bitte, bitte. Ihre Schwester Awdotja Romanowna heiratet Herrn Peter
+Petrowitsch Luschin?«
+
+»Können Sie nicht jede Frage über meine Schwester vermeiden und ihren
+Namen unerwähnt lassen? Ich begreife nicht, wie Sie es wagen, in meiner
+Gegenwart ihren Namen auszusprechen, wenn Sie tatsächlich Sswidrigailoff
+sind.«
+
+»Ich bin doch gekommen, um über sie zu sprechen, wie soll ich denn ihren
+Namen nicht erwähnen?«
+
+»Gut. Reden Sie, aber schnell!«
+
+»Ich bin überzeugt, daß Sie sich Ihre Meinung über diesen Herrn Luschin,
+einen Verwandten meiner Frau, schon gebildet haben, wenn Sie ihn nur
+eine halbe Stunde gesehen oder irgend etwas Sicheres und Genaues über
+ihn gehört haben. Er paßt nicht für Awdotja Romanowna. Meiner Ansicht
+nach bringt sich Awdotja Romanowna hier sehr großmütig und uneigennützig
+zum Opfer für ... für ihre Familie. Mir schien es, auf Grund all dessen,
+was ich über Sie gehört habe, daß Sie Ihrerseits sehr zufrieden sein
+würden, wenn diese Heirat ohne Verletzung der Interessen nicht
+zustandekommen würde. Jetzt aber, nachdem ich Sie persönlich
+kennengelernt habe, bin ich davon sogar überzeugt.«
+
+»Ihrerseits ist dies alles sehr naiv, entschuldigen Sie, ich wollte
+sagen, frech,« erwiderte Raskolnikoff.
+
+»Das heißt, Sie sagen damit, daß ich für meinen eigenen Nutzen sorge.
+Seien Sie ruhig, Rodion Romanowitsch, wenn ich meine eigenen Vorteile im
+Auge haben würde, so hätte ich mich nicht so offen ausgesprochen, ich
+bin doch nicht ganz dumm. In dieser Beziehung will ich Ihnen eine
+psychologische Merkwürdigkeit offenbaren. Vorhin sagte ich, als ich
+meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, daß ich selbst ein Opfer
+dieser Liebe sei. Nun, mögen Sie wissen, daß ich jetzt gar keine Liebe
+mehr, absolut gar keine empfinde, so daß ich mich über mich selbst
+wundere, denn ich hatte doch tatsächlich so empfunden ...«
+
+»Aus Müßiggang und Unsittlichkeit,« unterbrach ihn Raskolnikoff.
+
+»Ich bin wirklich ein Nichtstuer und Wüstling. Aber, Ihre Schwester hat
+so viele Vorzüge, daß ich einem gewissen Eindrucke unterliegen mußte.
+Doch das ist alles Unsinn, wie ich es selbst jetzt auch einsehe.«
+
+»Haben Sie es seit langem eingesehen?«
+
+»Ich habe es schon früher gemerkt, mich aber vorgestern im Augenblicke
+meiner Ankunft in Petersburg endgültig davon überzeugt. Übrigens, in
+Moskau noch stellte ich mir vor, daß ich nur reise, um mit Herrn Luschin
+in Konkurrenz zu treten und um Awdotja Romanownas Hand anzuhalten.«
+
+»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber tun Sie mir den
+Gefallen, sich kürzer zu fassen und direkt auf den Zweck Ihres Besuches
+überzugehen. Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...«
+
+»Mit größtem Vergnügen. Als ich hier angekommen war und mich
+entschlossen hatte, jetzt eine ... Reise anzutreten, wollte ich einige
+notwendige Anordnungen vorher treffen. Meine Kinder sind bei der Tante
+geblieben und sind reich; mich persönlich brauchen sie nicht. Was für
+ein Vater wäre ich auch? Ich habe mir selbst nur das genommen, was mir
+Marfa Petrowna vor einem Jahre geschenkt hatte. Für mich reicht es.
+Entschuldigen Sie, ich komme sofort zur Sache selbst. Vor meiner Reise,
+die vielleicht bald verwirklicht wird, will ich aber mit Herrn Luschin
+abrechnen. Nicht etwa, daß ich ihn gar nicht ausstehen kann, aber um
+seinetwillen entstand der Streit mit Marfa Petrowna, nachdem ich
+erfahren hatte, daß sie diese Heirat eingeleitet hat. Ich möchte jetzt,
+durch Ihre Vermittlung, Awdotja Romanowna sehen und meinetwegen in Ihrer
+Anwesenheit ihr erklären, daß sie von seiten des Herrn Luschin nicht nur
+nicht den geringsten Vorteil, sondern sicher eine unbedingte
+Enttäuschung erfahren wird. Dann möchte ich, nachdem ich sie wegen aller
+Unannehmlichkeiten um Entschuldigung gebeten habe, mir die Erlaubnis
+einholen, ihr zehntausend Rubel anzubieten, um ihr in dieser Weise den
+Bruch mit Herrn Luschin zu erleichtern; ich bin überzeugt, daß sie sich
+gegen einen Bruch mit ihm nicht sträubt, wenn sich nur eine Möglichkeit
+bietet.«
+
+»Sie sind aber tatsächlich, tatsächlich verrückt!« rief Raskolnikoff,
+mehr erstaunt als ärgerlich. »Wie können Sie sich unterstehen, so zu
+sprechen!«
+
+»Ich wußte es, daß Sie mich anschreien werden, aber trotzdem ich nicht
+reich bin, kann ich vollkommen über diese zehntausend Rubel verfügen,
+ich brauche sie gar nicht. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht annehmen
+will, werde ich sie vielleicht in der dümmsten Art verwenden. Das ist
+das eine. Mein Gewissen ist vollkommen ruhig, ich biete sie ohne
+jeglichen Hintergedanken an. Nun zweitens. Glauben Sie es, oder glauben
+Sie es nicht, später werden Sie und Awdotja Romanowna es erfahren. Die
+ganze Sache dreht sich doch darum, daß ich tatsächlich Mühe und
+Unannehmlichkeiten Ihrer verehrten Schwester verursacht habe; und da ich
+eine aufrichtige Reue empfinde, wünsche ich von Herzen, -- mich nicht
+etwa loskaufen und die Unannehmlichkeiten bezahlen, sondern einfach ihr
+etwas Vorteilhaftes aus dem Grunde zu erweisen, weil ich doch
+schließlich kein Privilegium habe, nur Böses zu tun. Wenn sich in meinem
+Anerbieten eine winzige Spur von Berechnung fände, so würde ich ihr doch
+nicht bloß zehntausend anbieten, da ich vor fünf Wochen ihr viel mehr
+angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht sehr, sehr bald ein junges
+Mädchen heiraten, folglich muß dadurch der ganze Verdacht, daß ich gegen
+Awdotja Romanowna etwas im Schilde führe, fortfallen. Zum Schlusse
+möchte ich noch sagen, daß Awdotja Romanowna, indem sie Herrn Luschin
+heiratet, dasselbe Geld nimmt, nur von anderer Seite ... Ärgern Sie
+bitte sich nicht, Rodion Romanowitsch, überlegen Sie es sich ruhig und
+kaltblütig ...«
+
+Sswidrigailoff war, während er dies sagte, selbst außerordentlich
+kaltblütig und ruhig.
+
+»Ich bitte Sie, zu Ende zu kommen,« sagte Raskolnikoff. »Jedenfalls ist
+es unverzeihlich frech.«
+
+»Keineswegs. Demnach könnte ein Mensch einem anderen in dieser Welt nur
+Böses zufügen und hat im Gegenteil kein Recht wegen leerer
+konventioneller Formalitäten, ihm ein bißchen Gutes zu erweisen. Das ist
+unsinnig. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und diese Summe Ihrer
+Schwester laut Testament hinterlassen hätte, würde sie sich auch dann
+weigern, sie anzunehmen?«
+
+»Sehr möglich.«
+
+»Nein, das glaube ich nicht. Übrigens, wenn sie nein sagt, mag es dabei
+bleiben, zehntausend aber sind unter Umständen eine angenehme Sache. In
+jedem Falle bitte ich Sie, Awdotja Romanowna das Gesagte mitzuteilen.«
+
+»Nein, ich werde es ihr nicht mitteilen.«
+
+»In diesem Falle, Rodion Romanowitsch, werde ich gezwungen sein, eine
+persönliche Zusammenkunft herbeizuführen, also auch sie belästigen.«
+
+»Und wenn ich es ihr mitteilen werde, wollen Sie dann von einer
+persönlichen Zusammenkunft absehen?«
+
+»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll. Einmal möchte ich
+sie doch gerne sehen.«
+
+»Hoffen Sie nicht darauf!«
+
+»Schade. Sie kennen mich noch nicht. Vielleicht werden wir uns
+näherkommen.«
+
+»Sie meinen, daß wir einander näherkommen werden?«
+
+»Warum denn nicht?« sagte Sswidrigailoff lächelnd, stand auf und nahm
+seinen Hut. »Nicht, daß es mir Spaß machte, Sie zu belästigen, und als
+ich hierher ging, rechnete ich nicht mit dieser Möglichkeit, obwohl mir
+Ihr Gesicht schon vorhin, heute morgen, auffiel ...«
+
+»Wo haben Sie mich heute früh gesehen?« fragte Raskolnikoff voll Unruhe.
+
+»Zufällig ... Mir kommt es immer vor, als wäre etwas in Ihnen, was
+meinem Wesen entspricht ... Regen Sie sich nicht auf, ich bin nicht
+aufdringlich; ich bin mit Falschspielern gut ausgekommen, war dem
+Fürsten Sswirbei, einem entfernten Verwandten und Würdenträger, nicht
+zur Last gefallen, habe es verstanden, Frau Prilukoff ins Album ein
+Gedicht über die Raphaelsche Madonna zu schreiben, habe mit Marfa
+Petrowna sieben Jahre auf einem Fleck verlebt, in früheren Zeiten im
+Hause Wjasemski auf dem Heumarkte geschlafen und werde nun vielleicht
+mit Berg im Luftballon aufsteigen.«
+
+»Nun, schon gut. Erlauben Sie mir die Frage, wollen Sie bald Ihre Reise
+antreten?«
+
+»Welch eine Reise?«
+
+»Von der Sie sprachen ... Sie sagten es doch selbst.«
+
+»Ach ja! ... in der Tat, ich sprach von der Reise ... Nun, das ist eine
+große Frage ... Wenn Sie aber wüßten, wonach Sie mich soeben fragten!«
+fügte er hinzu und lachte laut und kurz. »Ich werde vielleicht anstatt
+zu reisen, mich verheiraten. Man freit mir eine Braut.«
+
+»Hier?«
+
+»Ja.«
+
+»Wann haben Sie denn dazu Zeit gefunden?«
+
+»Mit Awdotja Romanowna jedoch möchte ich sehr gern einmal
+zusammentreffen. Ich bitte Sie in allem Ernst. Nun, auf Wiedersehen, ach
+... ja! Ich hätte bald vergessen, Rodion Romanowitsch! Teilen Sie bitte
+Ihrer Schwester mit, daß sie im Testamente Marfa Petrownas mit
+dreitausend Rubeln bedacht ist. Das ist absolut richtig. Marfa Petrowna
+hat es eine Woche vor ihrem Tode angeordnet, und zwar in meiner
+Anwesenheit. Nach zwei oder drei Wochen kann Awdotja Romanowna auch das
+Geld erhalten.«
+
+»Sagen Sie die Wahrheit?«
+
+»Die volle Wahrheit. Teilen Sie es ihr mit. Nun, Ihr Diener. Ich wohne
+nicht sehr weit von Ihnen.«
+
+Beim Weggehen stieß Sswidrigailoff in der Tür mit Rasumichin zusammen.
+
+
+ II.
+
+Es war schon fast acht Uhr; beide eilten zu Bakalejeff, um früher als
+Luschin da zu sein.
+
+»Wer war denn das?« fragte Rasumichin, als sie auf die Straße
+hinaustraten.
+
+»Es war Sswidrigailoff, derselbe Gutsbesitzer, in dessen Hause meine
+Schwester als Gouvernante Kränkungen dulden mußte. Weil er ihr
+nachstellte, verließ sie das Haus, von seiner Frau Marfa Petrowna
+hinausgejagt. Dieselbe Marfa Petrowna hat nachher Dunja um Verzeihung
+gebeten und ist jetzt plötzlich gestorben. Vorhin sprachen wir von ihr.
+Ich weiß nicht warum, aber ich fürchte diesen Menschen sehr. Er reiste
+sofort nach der Beerdigung seiner Frau hierher, ist sehr sonderbar und
+hat sich zu etwas entschlossen ... Er scheint etwas zu wissen ... Man
+muß Dunja vor ihm schützen ... und das wollte ich dir auch sagen, hörst
+du?«
+
+»Schützen! Was kann er denn gegen Awdotja Romanowna vorhaben? Nun, ich
+danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst ... Wir wollen sie schützen!
+... Wo lebt er?«
+
+»Ich weiß es nicht.«
+
+»Warum hast du ihn nicht gefragt? Ach, schade! Ich werde es übrigens
+bald erfahren!«
+
+»Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikoff nach einigem Schweigen.
+
+»Nun ja, ich habe ihn mir gemerkt; gut gemerkt!«
+
+»Hast du ihn wirklich gesehen? Deutlich gesehen?« wiederholte
+Raskolnikoff.
+
+»Freilich, ich erinnere mich seiner deutlich; unter tausend erkenne ich
+ihn wieder, ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.«
+
+Sie schwiegen wieder.
+
+»Hm ... das ist gut ...« murmelte Raskolnikoff. »Sonst, weißt du ...
+dachte ich ... mir scheint es manchmal, als wenn es eine Einbildung von
+mir wäre.«
+
+»Was meinst du damit? Ich verstehe dich nicht ganz.«
+
+»Ihr sprecht doch alle davon,« fuhr Raskolnikoff fort und verzog den
+Mund zu einem Lächeln, »daß ich verrückt sei; mir schien es nun
+augenblicklich, als ob ich tatsächlich verrückt sei und bloß ein
+Gespenst gesehen habe.«
+
+»Was fällt dir ein?«
+
+»Wer weiß es denn! Vielleicht bin ich wahrhaftig verrückt, und alles,
+was in diesen Tagen vorgefallen ist, geschah vielleicht nur in meiner
+Einbildung ...«
+
+»Ach, Rodja! Man hat dich wieder aufgeregt! ... Ja, was sagte er denn,
+warum kam er?«
+
+Raskolnikoff antwortete nicht, Rasumichin sann eine Weile nach.
+
+»Nun, höre mir zu,« begann er. »Ich war bei dir gewesen, da schliefst
+du. Dann aßen wir zu Mittag und ich ging nachher zu Porphyri. Sametoff
+war noch immer da. Ich wollte anfangen mit ihm zu sprechen, aber es kam
+nichts heraus. Ich konnte nie in richtiger Weise beginnen. Sie schienen
+auch nicht zu begreifen und wollten nichts begreifen und waren gar nicht
+beschämt. Ich führte Porphyri zum Fenster hin und begann zu sprechen,
+aber es kam wieder nichts dabei heraus, -- er blickte zur Seite und ich
+blickte zur Seite. Schließlich streckte ich ihm die Faust drohend
+entgegen und sagte, daß ich ihn in verwandtschaftlicher Weise
+zerschmettern werde. Er sah mich bloß an und sagte nichts. Ich ließ die
+Sache fallen und ging weg, das ist alles. Sehr dumm, nicht wahr. Mit
+Sametoff redete ich kein Wort. Siehst du aber, -- ich dachte anfangs,
+ich habe die Sache verschlimmert, aber wie ich die Treppe hinunterstieg,
+kam mir, nein besser, erleuchtete mich der Gedanke, warum beunruhigen
+wir uns eigentlich? Wenn dir wenigstens eine Gefahr drohen würde oder
+etwas ähnliches in Aussicht wäre, nun, dann wäre es verständlich! Was
+geht es aber dich an? Du hast mit der Sache nichts zu tun, also pfeife
+auf sie; wir werden noch später über sie lachen und ich würde an deiner
+Stelle sie noch mystifizieren. Wie sie sich nachher schämen werden!
+Pfeif darauf; wir können sie auch nachher verprügeln, jetzt aber wollen
+wir über sie lachen!«
+
+»Du hast recht, versteht sich!« antwortete Raskolnikoff.
+
+»Aber was wirst du morgen sagen?« dachte er sofort.
+
+Sonderbar, bis jetzt war ihm noch nie der Gedanke gekommen, »was wird
+Rasumichin denken, wenn er es erfährt?« Und bei diesem Gedanken blickte
+Raskolnikoff ihn gespannt an. An dem jetzigen Berichte Rasumichins über
+seinen Besuch bei Porphyri hatte er weniger Interesse, -- seit der Zeit
+war vieles verschwunden und hinzugekommen! ...
+
+Im Korridor stießen sie mit Luschin zusammen, -- er war punkt acht Uhr
+erschienen und suchte das Zimmer, so daß alle drei zugleich eintraten,
+ohne aber einander anzublicken und ohne sich zu grüßen. Die jungen Leute
+gingen sofort in die Stube hinein, Peter Petrowitsch verblieb aus
+Anstand eine Weile im Vorzimmer und nahm den Mantel ab. Pulcheria
+Alexandrowna ging ihm sofort entgegen, um ihn an der Schwelle zu
+empfangen. Dunja begrüßte den Bruder.
+
+Peter Petrowitsch trat ein und verneigte sich ziemlich liebenswürdig,
+aber auch mit besonderer Zurückhaltung vor den Damen. Er sah aus, als
+wäre er ein wenig verwirrt und als ob er sich noch nicht gefaßt hätte.
+Pulcheria Alexandrowna, auch ein wenig aufgeregt, beeilte sich sofort,
+alle um einen Tisch, auf dem ein Samowar brannte, zu placieren. Dunja
+und Luschin setzten sich einander gegenüber zu beiden Seiten des
+Tisches. Rasumichin und Raskolnikoff kamen Pulcheria Alexandrowna
+gegenüber zu sitzen, -- Rasumichin neben Luschin, Raskolnikoff neben der
+Schwester.
+
+Es trat Schweigen ein. Peter Petrowitsch zog langsam ein
+Batisttaschentuch hervor, das nach Parfüm duftete und schneuzte sich mit
+der Miene eines tugendhaften, in seiner Würde gekränkten Menschen, der
+fest entschlossen ist, Erklärungen zu verlangen. Im Vorzimmer war ihm
+der Gedanke gekommen, -- den Mantel nicht abzunehmen und fortzugehen und
+dadurch die Damen streng und nachdrücklich zu bestrafen, um sie mit
+einem Male ihr Unrecht fühlen zu lassen. Aber er konnte sich nicht dazu
+entschließen. Außerdem liebte er keine Ungewißheit, und hier galt es,
+festzustellen, aus welchem Grunde sein Befehl so offensichtlich nicht
+befolgt wurde, es mußte irgend etwas Besonderes sein, und so war es
+besser abzuwarten; zu strafen war immer Zeit genug, es lag ja in seinen
+Händen.
+
+»Ich hoffe, die Reise ist glücklich abgelaufen?« wandte er sich im
+offiziellen Tone an Pulcheria Alexandrowna.
+
+»Gottlob ja, Peter Petrowitsch.«
+
+»Sehr angenehm zu hören. Und Awdotja Romanowna ist auch nicht ermüdet?«
+
+»Ich bin jung und stark und werde nicht müde, aber für Mama war es sehr
+schwer gewesen,« antwortete Dunetschka.
+
+»Was ist da zu machen; die Entfernungen in unserm Lande sind groß. Groß
+ist das sogenannte >Mütterchen Rußland< ... Ich aber konnte beim besten
+Willen Sie gestern nicht empfangen. Ich hoffe jedoch, daß alles ohne
+Aufregung gut verlaufen ist?«
+
+»Ach nein, Peter Petrowitsch, wir waren sehr mutlos,« beeilte sich
+Pulcheria Alexandrowna mit besonderer Betonung zu bemerken, »und wenn
+uns nicht Gott selbst Dmitri Prokofjitsch gestern gesandt hätte, so
+wären wir sehr verlassen gewesen. Das ist er, Dmitri Prokofjitsch
+Rasumichin,« fügte sie hinzu, ihn Luschin vorstellend.
+
+»Ich hatte schon das Vergnügen ... gestern,« murmelte Luschin und sah
+Rasumichin dabei feindselig von der Seite an, sein Gesicht verdüsterte
+sich und er schwieg.
+
+Peter Petrowitsch gehörte zu den Leuten, die in der Gesellschaft
+außerordentlich liebenswürdig sind und auf Liebenswürdigkeit besonderen
+Anspruch erheben, die aber auch sofort, wenn das geringste nicht nach
+ihrem Geschmack ist, alle ihre guten Eigenschaften verlieren und eher
+Mehlsäcken als gewandten und die Gesellschaft belebenden Kavalieren
+gleichen. Alle verstummten wieder eine Weile, -- Raskolnikoff schwieg
+hartnäckig und Awdotja Romanowna wollte das Schweigen nicht vorzeitig
+unterbrechen. Rasumichin hatte nichts zu sagen, so daß Pulcheria
+Alexandrowna wieder unruhig wurde.
+
+»Marfa Petrowna ist gestorben, Sie haben es wohl gehört?« begann sie zu
+einem ihrer Hauptaushilfemittel greifend.
+
+»Ich habe es gehört. Ich wurde sofort benachrichtigt und bin sogar jetzt
+gekommen, Ihnen mitzuteilen, daß Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff
+unverzüglich nach der Beerdigung seiner Gattin nach Petersburg abgereist
+ist. So lauten wenigstens die sichersten Nachrichten, die ich empfangen
+habe.«
+
+»Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunja voll Unruhe und wechselte mit
+der Mutter einen Blick.
+
+»Ja, es ist ganz sicher und er kommt selbstverständlich nicht ohne
+Absichten, wenn man die Eile der Abreise und überhaupt die
+vorangegangenen Umstände in Betracht zieht.«
+
+»Mein Gott! Will er etwa auch hier Dunetschka nicht in Ruhe lassen?«
+rief Pulcheria Alexandrowna aus.
+
+»Mir scheint es, weder Sie noch Awdotja Romanowna brauchen sich
+besonders aufzuregen, wenn Sie natürlich nicht selbst mit ihm in
+Verbindung treten wollen. Was mich anbetrifft, so werde ich nach ihm
+forschen und mich erkundigen, wo er abgestiegen ist ...«
+
+»Ach, Peter Petrowitsch, Sie werden nicht glauben, wie Sie mich jetzt
+erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn bloß
+zweimal gesehen, er erschien mir schrecklich, fürchterlich! Ich bin
+überzeugt, daß er die Ursache von Marfa Petrownas Tode ist.«
+
+»Darüber läßt sich nichts sagen. Ich habe genaue Nachrichten. Ich
+bestreite nicht, daß er vielleicht den Gang der Dinge sozusagen durch
+den moralischen Einfluß von Kränkungen beschleunigt habe; denn im Urteil
+über sein Benehmen und überhaupt über seinen sittlichen Charakter bin
+ich mit Ihnen völlig einig. -- Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und
+was Marfa Petrowna ihm hinterlassen hat, darüber werde ich in kürzester
+Zeit erfahren, aber hier, in Petersburg, wird er selbstverständlich,
+wenn er nur einigermaßen Mittel besitzt, sofort seinen alten
+Gewohnheiten nachgehen. Er ist der verdorbenste und in Lastern
+verkommenste Mensch seines Geschlechts. Ich habe einen triftigen Grund
+anzunehmen, daß Marfa Petrowna, die das Unglück hatte, sich in ihn zu
+verlieben und ihn vor acht Jahren von Schulden befreite, auch in anderer
+Hinsicht ihm geholfen hat, -- einzig und allein dank ihrer Bemühungen
+und Opfer wurde eine kriminelle Sache mit einem Beigeschmack von
+tierischer und sozusagen phantastischer Roheit vertuscht, für die er mit
+größter Wahrscheinlichkeit nach Sibirien geschickt worden wäre. Sehen
+Sie, so ist dieser Mensch, wenn Sie es wissen wollen.«
+
+»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Petrowna aus.
+
+Raskolnikoff hörte aufmerksam zu.
+
+»Sagen Sie die Wahrheit, daß Sie darüber genaue Nachrichten besitzen?«
+fragte Dunja streng und nachdrücklich.
+
+»Ich erzähle bloß das, was ich selbst, als Geheimnis, von der
+verstorbenen Marfa Petrowna gehört habe. Ich muß bemerken, daß diese
+Sache vom juristischen Standpunkte sehr dunkel ist. Hier lebte und
+scheint noch jetzt eine gewisse Rößlich zu leben, eine Ausländerin, eine
+kleine Wucherin, die aber sich auch mit anderen Geschäften abgibt. Zu
+dieser Rößlich stand seit langem Herr Sswidrigailoff in gewissem sehr
+nahem und geheimnisvollem Verhältnisse. Bei der Rößlich wohnte eine
+entfernte Verwandte, eine Nichte, glaube ich, ein taubstummes Mädchen
+von fünfzehn oder vierzehn Jahren, die diese Rößlich grenzenlos haßte,
+der sie jedes Stück Brot vorwarf und die sie sogar unmenschlich schlug.
+Eines Tages wurde dieses Mädchen auf dem Boden erhängt aufgefunden. Es
+wurde festgestellt, daß sie mit Selbstmord geendet hatte. Nach den
+gewöhnlichen Formalitäten wurde die Sache abgeschlossen, später aber
+lief eine Denunziation ein, daß das Kind von Herrn Sswidrigailoff ...
+grausam mißhandelt worden sei. Es ist wahr, die Sache war sehr dunkel,
+die Denunziation stammte von einer anderen Deutschen, einem
+verwerflichen Frauenzimmer, die kein Vertrauen genoß; schließlich ergab
+es sich dank den Bemühungen und dem Gelde Petrownas, daß im Grunde
+genommen gar keine Denunziation eingelaufen sei; alles beschränkte sich
+auf ein Gerücht. Aber dieses Gerücht war bedeutsam genug. Sie, Awdotja
+Romanowna, haben sicher auch von der Geschichte mit dem Diener Filka
+gehört, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, an
+Mißhandlungen gestorben ist.«
+
+»Ich habe im Gegenteil gehört, daß dieser Filka sich selbst erhängt
+habe.«
+
+»Das stimmt, aber die ununterbrochenen Verfolgungen und Strafen des
+Herrn Sswidrigailoff haben ihn gezwungen oder besser gesagt, zum
+Selbstmorde getrieben.«
+
+»Davon weiß ich nichts,« antwortete Dunja trocken, »ich habe bloß eine
+sehr sonderbare Geschichte gehört, -- dieser Filka war ein Hypochonder,
+ein Philosoph, die Menschen sagten von ihm, er habe zu viel gelesen, und
+er hat sich eher wegen der Spötteleien, als wegen der Schläge von Herrn
+Sswidrigailoff erhängt. Als ich dort im Hause war, behandelte er die
+Leute gut, und die Leute liebten ihn sogar, obwohl sie ihm an dem Tode
+Filkas die Schuld gaben.«
+
+»Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie auf einmal geneigt sind, ihn zu
+entschuldigen,« bemerkte Luschin und verzog den Mund zu einem
+zweideutigen Lächeln. »Er ist in der Tat ein schlauer Mensch und für
+Damen verführerisch, wofür Marfa Petrowna, die eines eigentümlichen
+Todes gestorben ist, als trauriges Beispiel dient. Ich wollte bloß Ihnen
+und Ihrer Frau Mutter mit meinem Ratschlage einen Dienst erweisen,
+in Anbetracht seiner neuen und zweifellos bevorstehenden
+Annäherungsversuche. Was mich anbetrifft, so bin ich fest überzeugt, daß
+dieser Mensch selbstverständlich wieder im Schuldgefängnisse
+verschwinden wird. Marfa Petrowna hat nie und nimmer die Absicht gehabt,
+irgend etwas auf seinen Namen zu übertragen, weil sie die Kinder im Auge
+hatte, und wenn sie ihm etwas hinterlassen hat, so ist es höchstens das
+Notwendigste, kaum nennenswert und was für einen Menschen von seinen
+Gewohnheiten auch nicht ein Jahr ausreicht.«
+
+»Peter Petrowitsch, ich bitte Sie,« sagte Dunja, »hören wir auf, von
+Herrn Sswidrigailoff zu sprechen. Es macht mich schwermütig.«
+
+»Er war soeben bei mir,« sagte plötzlich Raskolnikoff, zum ersten Male
+sein Schweigen brechend.
+
+Von allen Seiten ertönten Ausrufe und alle wandten sich an ihn. Sogar
+Peter Petrowitsch wurde aufgeregt.
+
+»Vor anderthalb Stunden, als ich schlief, kam er herein, weckte mich auf
+und stellte sich vor,« fuhr Raskolnikoff fort. »Er war ziemlich
+ungezwungen und lustig und hofft sicher, daß ich mit ihm in nähere
+Beziehungen treten werde. Unter anderem bittet er sehr um eine
+Zusammenkunft mit dir, Dunja, und bat mich, der Vermittler dieser
+Zusammenkunft zu sein. Er will dir ein Anerbieten machen; worin dies
+besteht, hat er mir mitgeteilt. Außerdem teilte er mir positiv mit, daß
+Marfa Petrowna Zeit gefunden hat, eine Woche vor ihrem Tode, dir, Dunja,
+dreitausend Rubel zu vermachen, und daß du dieses Geld in sehr kurzer
+Zeit erhalten kannst!«
+
+»Gott sei Dank!« rief Pulcheria Alexandrowna und schlug ein Kreuz. »Bete
+für sie, Dunja, bete!«
+
+»Das ist tatsächlich wahr?« entschlüpfte es Luschin.
+
+»Nun und weiter?« drängte Dunja.
+
+»Dann sagte er, daß er selbst nicht reich sei und das ganze Vermögen
+seinen Kindern, die jetzt bei der Tante sind, zufällt. Er sagte auch,
+daß er irgendwo nicht weit von mir abgestiegen sei, wo aber -- das weiß
+ich nicht, ich habe ihn nicht gefragt ...«
+
+»Aber, was will er denn Dunetschka anbieten?« fragte die erschrockene
+Pulcheria Alexandrowna. »Hat er es dir gesagt?«
+
+»Ja, er hat es gesagt.«
+
+»Was ist es denn?«
+
+»Ich will es nachher sagen.« Raskolnikoff verstummte und wandte sich zu
+seinem Glase Tee.
+
+Peter Petrowitsch sah auf seine Uhr.
+
+»Ich muß in einer notwendigen Angelegenheit weggehen und werde dann
+nicht stören,« fügte er mit merklich gekränkter Miene hinzu und erhob
+sich halb vom Stuhle.
+
+»Bleiben Sie, Peter Petrowitsch,« sagte Dunja, »Sie hatten doch die
+Absicht, den ganzen Abend hier zu verbringen. Außerdem schrieben Sie
+selbst, daß Sie wünschen, über etwas mit Mama zu sprechen.«
+
+»Das ist richtig, Awdotja Romanowna,« sagte Peter Petrowitsch mit
+Nachdruck, setzte sich wieder hin, behielt aber den Hut in der Hand,
+»ich wollte tatsächlich mit Ihnen und mit Ihrer verehrten Frau Mutter,
+und sogar über sehr wichtige Punkte, sprechen. Aber, wie Ihr Bruder in
+meiner Gegenwart sich über einige Angebote Herrn Sswidrigailoffs nicht
+näher erklären kann, so wünschte ich auch nicht und kann nicht ... in
+Gegenwart von anderen ... über einige äußerst wichtige Punkte sprechen.
+Außerdem ist meine Haupt- und eindringlichste Bitte nicht erfüllt worden
+...« Luschin nahm eine bittre Miene an und schwieg würdevoll.
+
+»Ihre Bitte, daß mein Bruder bei unserer Zusammenkunft nicht zugegen
+wäre, ist einzig auf mein Verlangen nicht erfüllt worden,« sagte Dunja.
+»Sie schrieben, daß Sie von meinem Bruder beleidigt worden sind; ich
+denke, daß sich dies sofort aufklären läßt und Sie beide werden sich
+vertragen. Und wenn Rodja Sie tatsächlich beleidigt hat, so _muß_ und
+_wird_ er Sie um Entschuldigung bitten.«
+
+Peter Petrowitsch wurde sofort kouragierter.
+
+»Es gibt gewisse Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten
+Willen nicht vergessen kann. In allem gibt es eine Grenze, die zu
+überschreiten gefährlich ist; denn, _ist_ sie einmal überschritten, so
+ist es unmöglich, zurückzukehren.«
+
+»Ich sprach eigentlich nicht darüber, Peter Petrowitsch,« unterbrach ihn
+Dunja ein wenig ungeduldig, »verstehn Sie mich so, daß die ganze Zukunft
+jetzt davon abhängt, ob dieses alles sich möglichst schnell aufklären
+und erledigen wird oder nicht? Ich sage offen, daß ich anders es nicht
+ansehen kann, und wenn Sie mich nur ein wenig schätzen, so muß die ganze
+Geschichte, wie schwer es auch sein mag, heute noch beigelegt werden.
+Ich wiederhole Ihnen, wenn mein Bruder die Schuld trägt, wird er um
+Verzeihung bitten.«
+
+»Ich bin erstaunt, daß sie die Frage so stellen, Awdotja Romanowna,«
+wurde Luschin immer mehr gereizt, »wenn ich Sie schätze und sozusagen
+verehre, brauche ich doch gleichzeitig nicht jeden aus Ihrer Familie
+besonders gern zu haben. Wenn ich auf den glücklichen Besitz ihrer Hand
+Anspruch erhebe, brauche ich doch nicht gleichzeitig Verpflichtungen zu
+übernehmen, die unvereinbar ...«
+
+»Ach, lassen Sie diese Empfindlichkeit, Peter Petrowitsch,« unterbrach
+ihn Dunja mit Wärme, »und seien Sie der kluge und edle Mensch, für den
+ich Sie stets gehalten habe und halten will. Ich habe Ihnen ein großes
+Versprechen gegeben, ich bin Ihre Braut geworden; vertrauen Sie doch mir
+in dieser Sache und glauben Sie mir, ich werde die Kraft haben,
+unparteiisch zu urteilen. Der Umstand, daß ich die Rolle eines Richters
+übernehme, ist für meinen Bruder ebenso eine Überraschung wie für Sie.
+Als ich ihn heute nach dem Empfang Ihres Briefes aufforderte, unbedingt
+zu unserer Zusammenkunft zu kommen, habe ich ihm nichts von meinen
+Absichten mitgeteilt. Verstehn Sie doch, daß, wenn Sie sich nicht
+vertragen, ich zwischen Ihnen beiden wählen muß, -- entweder Sie oder
+ihn. So ist die Frage, wie von seiner, so auch von Ihrer Seite gestellt.
+Ich will und darf mich nicht in der Wahl irren. Ihretwegen muß ich mit
+meinem Bruder brechen; meines Bruders wegen muß ich mit Ihnen brechen.
+Ich will und kann jetzt sicher erfahren, -- ist er mir wirklich ein
+Bruder? Und von Ihnen, ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen und
+Sie mir ein Gatte sein können?«
+
+»Awdotja Romanowna,« sagte Luschin verletzt. »Ihre Worte sind für mich
+zu bedeutungsvoll, ich will sogar sagen, kränkend, in Anbetracht der
+Stellung, die ich die Ehre habe Ihnen gegenüber einzunehmen. Ich spreche
+schon gar nicht von der kränkenden und sonderbaren Gegenüberstellung
+zwischen mir ... und einem aufgeblasenen Jüngling, aber in Ihren Worten
+geben Sie mir die Möglichkeit zu, das mir gegebene Versprechen zu
+brechen. Sie sagen, >entweder Sie, oder er<? also zeigen Sie damit, wie
+wenig ich für Sie bedeute ... ich kann dies bei den Beziehungen ... und
+Umständen, die zwischen uns bestehen, nicht zulassen.«
+
+»Wie!« flammte Dunja auf. »Ich stelle Ihre Interessen auf eine Stufe mit
+allem, was mir im Leben bis jetzt teuer war, was bis jetzt mein _ganzes_
+Leben ausmachte, und Sie sind gekränkt, daß ich Sie _zu wenig_ schätze!«
+
+Raskolnikoff lächelte schweigend und höhnisch, Rasumichin war empört;
+Peter Petrowitsch aber ließ die Erwiderung nicht gelten, er wurde im
+Gegenteil mit jedem Worte immer zudringlicher und gereizter, als hätte
+er daran Geschmack gefunden.
+
+»Die Liebe zum künftigen Lebensgefährten, zum Manne, muß die Liebe zum
+Bruder überwiegen,« sagte er sentenziös, »in jedem Falle aber kann ich
+nicht auf ein und derselben Stufe stehn ... Aber obwohl ich vorhin
+bestimmt sagte, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders nicht wünsche, alles
+zu erklären, und nicht sagen könne, weswegen ich hierhergekommen bin,
+habe ich jetzt trotzdem die Absicht, mich an Ihre verehrte Frau Mutter
+zu wenden, um eine notwendige Aufklärung über einen sehr wichtigen und
+mich beleidigenden Punkt zu erhalten. Ihr Sohn,« wandte er sich an
+Pulcheria Alexandrowna, »hat mich gestern in Gegenwart des Herrn
+Rassudkin« ... (»Nicht wahr, der Name ist doch richtig, ich habe Ihren
+Namen vergessen, entschuldigen Sie,« verbeugte er sich höflich vor
+Rasumichin) »durch die Verdrehung eines Gedankens von mir, den ich Ihnen
+einmal in einem Privatgespräch bei einer Tasse Kaffee mitteilte,
+beleidigt. Mein Gedanke war, daß die Heirat mit einem armen Mädchen, das
+schon die Sorgen des Lebens erfahren hat, meiner Ansicht nach vom
+Standpunkte der Ehe aus vorteilhafter sei, als mit einem, das im
+Überflusse lebt, weil es in moralischer Hinsicht nützlicher sei. Ihr
+Sohn hat absichtlich den Sinn meiner Worte äußerst entstellt und mich
+böswilliger Absichten beschuldigt, indem er sich meiner Ansicht nach auf
+Ihren eigenen Brief stützte. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn es
+Ihnen, Pulcheria Alexandrowna, möglich wäre, mich vom Gegenteil zu
+überzeugen und mich dadurch sehr zu beruhigen. Teilen Sie mir mit, in
+welchen Ausdrücken Sie meine Worte in Ihrem Briefe an Rodion
+Romanowitsch wiedergegeben haben?«
+
+»Ich entsinne mich nicht,« sagte Pulcheria Alexandrowna verwirrt, »ich
+habe sie aber wiedergegeben, wie ich sie selbst verstanden hatte. Ich
+weiß nicht, wie Rodja es Ihnen erzählt hat ... Vielleicht hat er auch
+einiges übertrieben.«
+
+»Ohne Ihren Anstoß konnte er sie nicht übertreiben.«
+
+»Peter Petrowitsch,« erwiderte Pulcheria Alexandrowna voll Würde, »der
+Beweis, daß ich und Dunja Ihre Worte nicht in sehr schlechtem Sinne
+aufgefaßt haben, ist, daß wir _hier_ sind.«
+
+»Das war gut, Mama!« sagte Dunja lobend.
+
+»Also, auch daran bin ich schuld!« bemerkte Luschin gekränkt.
+
+»Sehen Sie, Peter Petrowitsch, Sie beschuldigen immer Rodion, Sie selbst
+aber haben vorhin in dem Briefe über ihn die Unwahrheit geschrieben,«
+fügte Pulcheria Alexandrowna ermutigt hinzu.
+
+»Ich erinnere mich nicht, daß ich irgendeine Unwahrheit geschrieben
+hätte.«
+
+»Sie haben geschrieben,« sagte Raskolnikoff scharf, ohne sich zu Luschin
+umzuwenden, »daß ich gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen
+gegeben habe, wie es in der Tat war, sondern seiner Tochter, die ich
+nebenbei gesagt niemals vor dem gestrigen Tage gesehen habe. Sie haben
+dies geschrieben, um mich mit meinen Verwandten zu entzweien, und haben
+auch aus dem Grunde sich in abscheulichen Ausdrücken über den
+Lebenswandel des jungen Mädchen geäußert, das Sie nicht einmal kennen.
+Das sind alles gemeine Klatschereien.«
+
+»Entschuldigen Sie, mein Herr,« antwortete Luschin zitternd vor Wut, »in
+meinem Briefe habe ich mich über Ihre Eigenschaften und Handlungen
+einzig aus dem Grunde geäußert, um die Bitte Ihrer Schwester und Mutter
+zu erfüllen und ihnen zu beschreiben, wie ich Sie gefunden und welch
+einen Eindruck Sie auf mich gemacht haben. Was das in meinem Briefe
+Erwähnte anbetrifft, so zeigen Sie mir wenigstens eine unwahre Zeile,
+das heißt, daß Sie das Geld nicht verbraucht haben und daß in dieser
+wenn auch unglücklichen Familie keine unwürdigen Personen sich
+befinden?«
+
+»Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen nicht den kleinen
+Finger dieses unglücklichen Mädchens wert, auf das Sie einen Stein
+werfen.«
+
+»Nun, können Sie sich auch entschließen, sie in die Gesellschaft Ihrer
+Mutter und Schwester einzuführen?«
+
+»Ich habe es schon getan, wenn Sie es wissen wollen. Ich habe sie heute
+neben meine Mutter und Dunja gesetzt.«
+
+»Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
+
+Dunetschka errötete; Rasumichin zog die Augenbrauen zusammen. Luschin
+lächelte höhnisch und hochmütig.
+
+»Sie belieben selbst zu sehen, Awdotja Romanowna,« sagte er, »daß hier
+keine Verständigung möglich ist. Ich hoffe jetzt, daß diese Sache
+abgetan und ein für allemal aufgeklärt ist. Ich will mich entfernen, um
+die weitere angenehme Zusammenkunft der Verwandten und die Mitteilung
+von Geheimnissen nicht zu stören.« Er erhob sich vom Stuhle und nahm
+seinen Hut. »Beim Weggehen erlaube ich mir zu bemerken, daß ich hoffe,
+künftig von ähnlichen Begegnungen und sozusagen Ausgleichsversuchen
+befreit zu sein. Sie, verehrte Pulcheria Alexandrowna, möchte ich
+besonders bitten, um so mehr, als auch mein Brief an Sie und nicht an
+andere adressiert war.«
+
+Pulcheria Alexandrowna fühlte sich gekränkt.
+
+»Was, wollen Sie uns ganz in Ihre Macht nehmen, Peter Petrowitsch? Dunja
+hat uns den Grund gesagt, warum Ihr Wunsch nicht erfüllt worden ist, --
+sie hatte gute Absichten damit verfolgt. Ja, und Sie schreiben mir, als
+ob Sie mir zu befehlen hätten. Sollen wir denn jeden Ihrer Wünsche als
+Befehl ansehen? Ich will Ihnen im Gegenteil sagen, daß Sie jetzt uns
+gegenüber besonders delikat und nachgiebig sein sollten, weil wir alles
+im Stich gelassen haben und im Vertrauen zu Ihnen hierhergereist sind,
+also auch uns sowieso fast in Ihrer Gewalt befinden.«
+
+»Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und besonders im
+gegenwärtigen Augenblick nicht, wo Ihnen über die von Marfa Petrowna
+nachgelassenen dreitausend Rubel Mitteilung zukam, was Ihnen sehr
+willkommen zu sein scheint, wie man nach dem neuen Tone, in dem Sie mit
+mir sprechen, annehmen kann,« fügte er höhnisch hinzu.
+
+»Nach dieser Bemerkung zu urteilen, haben Sie tatsächlich auf unsere
+Hilflosigkeit gerechnet,« sagte Dunja gereizt.
+
+»Jetzt wenigstens kann ich dies nicht mehr, und ich möchte besonders
+nicht die Mitteilung der geheimnisvollen Angebote von Arkadi Iwanowitsch
+Sswidrigailoff stören, mit denen er Ihren Bruder betraut hat, und die
+für Sie, wie ich sehe, eine wichtige und vielleicht auch sehr angenehme
+Überraschung sind.«
+
+»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
+
+Rasumichin konnte nicht mehr auf dem Stuhle sitzen.
+
+»Und du schämst dich jetzt nicht, Schwester?« fragte Raskolnikoff.
+
+»Ich schäme mich, Rodja,« sagte Dunja. »Peter Petrowitsch, gehen Sie
+hinaus!« wandte sie sich zu ihm, bleich vor Zorn.
+
+Mit einem solchen Ende hatte Peter Petrowitsch nicht gerechnet. Er hatte
+zu sehr auf sich selbst, auf seine Macht und die Hilflosigkeit seiner
+Opfer gebaut. Aber er glaubte es auch jetzt noch nicht. Er erbleichte
+und seine Lippen zitterten.
+
+»Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt zu dieser Türe hinausgehe mit einem
+solchen Abschiede, so -- bedenken Sie es -- kehre ich nie mehr zurück.
+Überlegen Sie es sich gut! Mein Wort ist unerschütterlich.«
+
+»Welch eine Frechheit!« rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem
+Platze, »ich will gar nicht, daß Sie zurückkehren!«
+
+»Wie! Also so steht es!« rief Luschin aus, der bis zum letzten
+Augenblicke an solchen Ausgang nicht geglaubt hatte, und der nun
+vollkommen den Faden verlor, »also, so ist es gemeint! Aber wissen Sie
+auch, Awdotja Romanowna, daß ich dagegen protestieren könnte.«
+
+»Welch ein Recht haben Sie, in solcher Weise mit ihr zu sprechen!« trat
+Pulcheria Alexandrowna hitzig ein. »Wie können Sie protestieren? Und was
+für Rechte haben Sie? Und soll ich Ihnen, solch einem, meine Dunja
+geben? Gehen Sie, verlassen Sie uns! Wir sind selbst schuld, daß wir auf
+solch eine ungerechte Sache eingingen und am meisten ich ...«
+
+»Sie haben mich doch, Pulcheria Alexandrowna,« ereiferte sich Luschin in
+seiner Wut, »durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt
+lossagen ... und endlich ... endlich haben Sie mich dadurch sozusagen in
+Unkosten gestürzt ...«
+
+Diese letzte Anmaßung war dem Charakter von Peter Petrowitsch so
+entsprechend, daß Raskolnikoff, bleich vor Zorn und Anstrengung an sich
+zu halten, sich nicht enthalten konnte und -- laut auflachte. Pulcheria
+Alexandrowna aber war außer sich.
+
+»In Unkosten? In was für Unkosten? Meinen Sie etwa damit unseren Koffer?
+Es hat doch ein Schaffner ihn umsonst hergeschafft. Mein Gott, wir haben
+Sie gebunden! Besinnen Sie sich doch, Peter Petrowitsch, Sie haben uns
+an Händen und Füßen gebunden und nicht wir Sie!«
+
+»Genug, Mama, bitte, genug!« bat Awdotja Romanowna. »Peter Petrowitsch,
+tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie!«
+
+»Ich gehe sofort, aber noch ein letztes Wort!« sagte er, völlig außer
+sich. »Ihre Mutter scheint vollkommen vergessen zu haben, daß ich mich
+entschlossen hatte, trotz den Gerüchten in der Stadt, die im ganzen
+Umkreise über Ihren Ruf verbreitet waren, Sie zu heiraten. Indem ich
+Ihretwegen die öffentliche Meinung nicht beachtete und Ihren Ruf
+herstellte, konnte ich sicher sehr auf eine Vergeltung hoffen und sogar
+Ihre Dankbarkeit verlangen ... Und jetzt erst sind mir die Augen
+geöffnet worden! Ich sehe selbst, daß ich sehr übereilt gehandelt habe,
+indem ich der öffentlichen Stimme keine Beachtung schenkte ...«
+
+»Ja, hat er denn zwei Köpfe!« rief Rasumichin aus, sprang vom Stuhle auf
+und schickte sich schon an, ihm einen Denkzettel zu geben.
+
+»Sie sind ein gemeiner und böser Mensch!« sagte Dunja.
+
+»Kein Wort mehr! Keine Bewegung!« rief Raskolnikoff und hielt Rasumichin
+zurück; dann trat er dicht an Luschin heran.
+
+»Gehen Sie sofort hinaus!« sagte er leise und deutlich, »und kein Wort
+mehr, sonst ...«
+
+Peter Petrowitsch blickte ihn einige Sekunden mit bleichem vor Wut
+verzogenem Gesichte an, wandte sich um und ging hinaus, und sicher hat
+selten jemand soviel Haß auf einen andern in seinem Herzen
+davongetragen, wie dieser Mann gegen Raskolnikoff. Ihn und nur ihn
+allein machte er für alles verantwortlich. Merkwürdig, daß er sich, als
+er schon die Treppe hinabstieg, immer noch einbildete, daß die Sache
+vielleicht nicht ganz verloren und bei den Damen wenigstens sogar »sehr
+leicht« ins Geleise zu bringen sei.
+
+
+ III.
+
+Die Hauptsache war, daß er bis zum letzten Augenblicke einen derartigen
+Ausgang gar nicht erwartet hatte. Er spielte bis zum letzten Momente den
+Überlegenen, ohne auch nur die Möglichkeit zu ahnen, daß zwei arme und
+schutzlose Frauen sich seiner Macht entziehen könnten. Zu dieser
+Überzeugung trugen seine Eitelkeit und sein übermäßiges Selbstbewußtsein
+viel bei, das man am besten Selbstverliebtheit nennen kann. Peter
+Petrowitsch, der sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet hatte,
+hatte die krankhafte Angewohnheit, sich selbst mit Wohlgefallen zu
+betrachten, schätzte seinen Verstand und seine Fähigkeiten hoch ein, ja,
+er besah sogar zuweilen, wenn er allein war, sein Gesicht mit Liebe im
+Spiegel. Am meisten in der Welt aber liebte und schätzte er sein Geld,
+das er durch Arbeit und allerhand Machinationen erworben hatte, -- es
+stellte ihn nach seinem Dafürhalten auf gleiche Stufe mit allem, was
+höher war als er.
+
+Indem er voll Bitterkeit Dunja daran erinnerte, daß er sich entschlossen
+hatte, sie, trotz der schlechten Gerüchte über sie, zu heiraten, sprach
+Peter Petrowitsch vollkommen aufrichtig, er empfand eine tiefe
+Entrüstung über solch einen »schwarzen Undank«. Als er aber damals um
+Dunja anhielt, war er schon von der Sinnlosigkeit aller dieser
+Klatschgeschichten völlig überzeugt, die von Marfa Petrowna selbst
+öffentlich widerrufen und schon längst vom ganzen Städtchen, das Dunja
+warm in Schutz nahm, vergessen waren. Er würde es selber jetzt nicht
+geleugnet haben, daß er alles damals schon gewußt hatte. Aber trotzdem
+rechnete er seinen Entschluß, Dunja zu sich zu erheben, hoch an und
+hielt ihn für eine große Tat. Indem er dies gegen Dunja aussprach,
+drückte er einen geheimen längst gehegten Gedanken aus, an dem er mehr
+als einmal sich selber erbaut hatte, und er konnte es nicht begreifen,
+daß die anderen seine große Tat nicht mit gleicher Bewunderung ansahen.
+Als er damals Raskolnikoff einen Besuch machte, kam er mit den Gefühlen
+eines Wohltäters, der sich anschickt, die Früchte seiner Taten zu ernten
+und schmeichelhaftes Lob zu hören. Auch jetzt, als er die Treppe
+hinabstieg, hielt er sich selbstverständlich für im höchsten Grade
+gekränkt und verkannt.
+
+Dunja hatte er einfach nötig; es war ihm undenkbar, auf sie zu
+verzichten. Lange schon, seit einigen Jahren, träumte er mit Behagen von
+einer Heirat, aber er sparte fortwährend noch mehr Geld und wartete. Er
+dachte mit Begeisterung in seinen geheimsten Träumen an ein
+wohlgesittetes und armes (sie mußte unbedingt arm sein) Mädchen, das
+jung, sehr hübsch, aus guter Familie, gebildet, sehr eingeschüchtert
+sein mußte, das außerordentlich viel Unglück durchgemacht hatte und das
+sich vor ihm vollkommen beugen würde, an ein solches Mädchen, das ihr
+ganzes Leben lang ihn als ihren Retter ansehen, ihn verehren, sich ihm
+unterordnen und ihn, nur ihn allein bewundern würde. Wieviel Szenen,
+wieviel wonnige Episoden hatte er sich in der Phantasie über dieses
+verführerische und reizende Thema ausgemalt, wenn er in aller Stille von
+der Arbeit ausruhte! Und siehe da, der Traum von so viel Jahren wurde
+fast ganz zur Wirklichkeit, -- die Schönheit und die Bildung Awdotja
+Romanownas hatten ihn überrascht, und ihre hilflose Lage reizte ihn aufs
+äußerste. Hier war mehr noch vorhanden, als er geträumt hatte; er hatte
+ein stolzes, charakterfestes, tugendhaftes Mädchen getroffen, das an
+Erziehung und Bildung höher stand, als er selber (das fühlte er), und
+solch ein Wesen wird ihm ihr ganzes Leben wegen seiner großen Tat
+sklavisch dankbar sein und in Verehrung sich vor ihm in den Staub
+werfen, er aber wird grenzenlos und unbedingt über sie herrschen ... Als
+hätte es so sein müssen, hatte er sich kurz vorher nach langem Wägen und
+Warten entschlossen, seine Laufbahn zu ändern und in einen größeren
+Wirkungskreis überzugehen, um gleichzeitig allmählich in die höhere
+Gesellschaft, an die er lange schon mit Sehnsucht gedacht hatte,
+hineinzukommen ... Mit einem Worte, er entschloß sich, es in Petersburg
+zu versuchen. Er wußte, daß man durch Frauen sehr viel machen konnte.
+Der Zauber einer reizenden, tugendhaften und gebildeten Frau konnte
+wunderbar seinen Weg ebnen, Leute an ihn heranziehen, ihm einen
+Glorienschein verleihen ... und nun war alles zerstört! Dieser
+plötzliche abscheuliche Bruch traf ihn wie ein Donnerschlag. Aber es war
+ein schlechter Spaß, war Unsinn! Er hat doch nur ein bißchen
+übertrieben; er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich auszusprechen, er
+hatte bloß gescherzt, ließ sich ein wenig gehen, und es hat so ein
+ernstes Ende genommen! Und schließlich, er liebte doch Dunja in seiner
+Weise, er herrschte schon über sie in seinen Träumen, -- und nun
+plötzlich dieses! ... Nein! Morgen, morgen schon muß alles wieder
+ausgeglichen, aufgeklärt und gutgemacht werden, Hauptsache war -- diesen
+aufgeblasenen Milchbart, der an allem Schuld war, zu vernichten. Mit
+Unbehagen dachte er plötzlich an Rasumichin ... aber er beruhigte sich
+gleich -- »es fehlte gerade noch, daß auch er auf eine Stufe mit ihm
+gestellt würde!« Wen er aber tatsächlich allen Ernstes fürchtete -- war
+Sswidrigailoff ... Mit einem Worte, es standen viel Mühe und Sorgen
+bevor ...
+
+ * * * * *
+
+»Nein, ich, ich bin am meisten schuld!« sagte Dunja, umarmte und küßte
+die Mutter, »ich habe mich von seinem Gelde verlocken lassen, aber ich
+schwöre dir, Bruder, -- ich konnte nicht glauben, daß er so unwürdig
+ist. Hätte ich ihn vorher erkannt, hätte ich mich um alles in der Welt
+nicht verlocken lassen! Klage mich nicht an, Bruder!«
+
+»Gott hat uns gerettet! Gott hat uns gerettet!« murmelte Pulcheria
+Alexandrowna, aber wie unbewußt, als hätte sie noch nicht ganz
+begriffen, was vorgefallen war.
+
+Alle freuten sich, und nach fünf Minuten lachten sie sogar. Zuweilen
+erblaßte Dunetschka ein wenig und verzog die Augenbrauen bei der
+Erinnerung an das Vorgefallene. Pulcheria Alexandrowna konnte es nicht
+begreifen, daß sie sich auch freute; der Bruch mit Luschin war ihr heute
+früh noch als ein schreckliches Unglück erschienen. Rasumichin aber war
+entzückt. Er wagte noch nicht ganz sein Entzücken zu äußern, aber er
+bebte am ganzen Körper wie im Fieber, als hätte sich eine zentnerschwere
+Last von seinem Herzen gelöst. Jetzt hat er das Recht, ihnen sein ganzes
+Leben hinzugeben, ihnen zu dienen ... und noch mehr. -- Aber sofort
+jagte er ängstlich alle Zukunftsgedanken fort, er fürchtete sich vor
+seiner Phantasie. Nur Raskolnikoff allein saß auf demselben Platze, fast
+düster und zerstreut. Er, der am meisten auf den Bruch mit Luschin
+bestanden hatte, schien sich jetzt am allerwenigsten für das
+Vorgefallene zu interessieren. Dunja dachte unwillkürlich, daß er immer
+noch sehr böse auf sie sei, und Pulcheria Alexandrowna betrachtete ihn
+ängstlich.
+
+»Was hat dir denn Sswidrigailoff gesagt?« trat Dunja an ihn heran.
+
+»Ach ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
+
+Raskolnikoff erhob den Kopf.
+
+»Er will dir unbedingt zehntausend Rubel schenken und äußert dabei den
+Wunsch, dich einmal in meiner Gegenwart zu sehen.«
+
+»Sie zu sehen! Um keinen Preis in der Welt!« rief Pulcheria
+Alexandrowna, »und wie wagt er es, ihr Geld anzubieten!«
+
+Darauf teilte Raskolnikoff ziemlich trocken sein Gespräch mit
+Sswidrigailoff mit, wobei er von dem Erscheinen Marfa Petrownas als
+Gespenst nichts erwähnte, um nicht zu weit zu gehen, und weil er einen
+Widerwillen empfand, irgendeine Unterhaltung, außer der notwendigsten,
+zu führen.
+
+»Was hast du ihm geantwortet?« fragte Dunja.
+
+»Ich sagte zuerst, daß ich dir keine Mitteilung machen wolle. Darauf
+erklärte er mir, daß er dann selbst mit allen Mitteln versuchen werde,
+dich zu sehen. Er beteuerte, daß seine Leidenschaft zu dir eine Torheit
+gewesen sei und daß er jetzt dir gegenüber nichts mehr empfinde ... Er
+will nicht, daß du Luschin heiratest ... Er sprach überhaupt verworren.«
+
+»Wie erklärst du ihn dir, Rodja? Wie ist er dir erschienen?«
+
+»Ich muß gestehen, daß ich mir nicht so ganz klar über ihn bin. Er
+bietet zehntausend an, sagt aber selbst, er sei nicht reich. Er erklärt,
+daß er irgendwohin reisen will, und nach zehn Minuten vergißt er, daß er
+darüber gesprochen hat. Plötzlich sagt er auch, daß er heiraten will und
+daß man ihm schon eine Braut freit ... Sicher hat er Absichten und am
+wahrscheinlichsten -- schlimme ... Aber wieder ist es sonderbar
+anzunehmen, daß er so dumm die Sache anfassen würde, wenn er dir
+gegenüber schlimme Absichten hätte ... Ich habe selbstverständlich
+dieses Geld in deinem Namen ein für allemal ausgeschlagen. Überhaupt
+erschien er mir sehr eigentümlich und ... sogar ... mit Anzeichen von
+Geistesstörung. Ich kann mich jedoch auch irren; er kann einfach
+geschwindelt haben. Der Tod von Marfa Petrowna scheint aber einen
+Eindruck auf ihn gemacht zu haben ...«
+
+»Gott schenke ihrer Seele Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna, »ich will
+ewig, ewig für sie zu Gott beten! Nun, wie würde es mit uns jetzt
+stehen, Dunja, ohne diese dreitausend Rubel! Mein Gott, sie sind wie vom
+Himmel geschickt! Ach, Rodja, wir hatten ja am Morgen im ganzen noch
+drei Rubel, und ich überlegte mit Dunetschka die ganze Zeit, wie wir am
+schnellsten irgendwo die Uhr versetzen könnten, um bloß nicht von diesem
+... zu fordern, bis es ihm selbst in den Sinn kommt.«
+
+Dunja hatte das Anerbieten Sswidrigailoffs zu stark überrascht. Sie
+stand die ganze Zeit in Gedanken versunken.
+
+»Er hat irgend etwas Schreckliches im Sinn!« sagte sie fast im
+Flüstertone zu sich selbst und schauderte.
+
+Raskolnikoff bemerkte diese maßlose Furcht.
+
+»Ich glaube, ich werde ihn noch einmal sehen,« sagte er zu Dunja.
+
+»Wir wollen ihn beobachten! Ich werde ihn finden!« rief Rasumichin
+energisch. »Ich will mein Auge nicht von ihm lassen! Rodja hat es mir
+erlaubt. Er hat mir selbst vorhin gesagt: Beschütze die Schwester! Und
+wollen Sie es auch erlauben, Awdotja Romanowna?«
+
+Dunja lächelte und reichte ihm die Hand, aber die Sorge verließ nicht
+ihr Gesicht. Pulcheria Alexandrowna blickte sie schüchtern an; die
+dreitausend Rubel hatten sie sichtlich beruhigt.
+
+Nach einer Viertelstunde waren alle in lebhaftester Unterhaltung. Sogar
+Raskolnikoff hörte einige Zeit aufmerksam zu, obwohl er sich nicht am
+Gespräch beteiligte.
+
+Rasumichin redete in einem fort.
+
+»Und warum, warum sollen Sie abreisen!« ergoß er sich mit Wonne in einer
+begeisterten Rede, »und was wollen Sie in dem Städtchen machen? Und die
+Hauptsache, Sie leben alle hier zusammen, und der eine besucht den
+anderen, ... braucht ihn sehr, verstehen Sie mich! So versuchen Sie es
+wenigstens eine Weile ... Mich nehmen Sie als Ihren Freund, als
+Kompagnon, und ich versichere Sie, wir wollen ein ausgezeichnetes
+Unternehmen gründen. Hören Sie, ich will Ihnen alles genau erklären, --
+das ganze Projekt mit allen Details! Schon heute Morgen, als noch nichts
+vorgefallen war, kam es mir in den Sinn ... Sehen Sie, die Sache besteht
+aus folgendem, -- ich habe einen Onkel, -- ich will Sie mit ihm bekannt
+machen, ein ausgezeichneter und verehrungswürdiger alter Herr, -- und
+dieser Onkel hat ein Vermögen von tausend Rubel, er selbst lebt von
+seiner Pension und leidet keine Not. Fast zwei Jahre schon quält er
+mich, daß ich diese tausend Rubel für ihn anlegen und ihm sechs Prozent
+dafür zahlen soll. Ich weiß ja, wie der Hase läuft, -- er will mir
+einfach helfen; im vorigen Jahre aber brauchte ich es nicht, in diesem
+Jahre jedoch wartete ich bloß auf seine Ankunft und habe mich
+entschlossen, es anzunehmen. Sie geben dann das zweite Tausend von Ihren
+drei, und sehen Sie, das genügt für den Anfang, und wir verbünden uns.
+Was machen wir aber damit?«
+
+Und nun begann Rasumichin sein Projekt zu entwickeln und redete viel
+darüber, wie wenig fast alle unsere Buchhändler und Verleger von ihrer
+Sache verstehen, darum seien sie auch gewöhnlich schlechte Verleger,
+während anständige Buchausgaben sich sicher bezahlt machten und einen
+zuweilen bedeutenden Nutzen abwürfen. Von der Tätigkeit eines Verlegers
+träumte also Rasumichin; er hatte schon zwei Jahre für andere gearbeitet
+und beherrschte drei europäische Sprachen recht gut, wenn er auch vor
+sechs Tagen Raskolnikoff erklärt hatte, daß er im Deutschen »schwach«
+sei, aber das tat er, um ihn zu bewegen, die Hälfte der
+Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen. Er log
+damals, und Raskolnikoff wußte, daß er log.
+
+»Warum denn sollen wir unseren eigenen Vorteil versäumen, wenn wir
+plötzlich eines der Hauptmittel besitzen, -- und zwar eigenes Geld?«
+ereiferte sich Rasumichin. »Gewiß, man muß viel arbeiten, aber wir
+wollen arbeiten, Sie, Awdotja Romanowna, ich, Rodion ... manche
+Buchausgaben rentieren jetzt prächtig! Und die Hauptunterlage des
+Unternehmens besteht darin, daß wir wissen werden, was gerade übersetzt
+werden muß. Wir wollen übersetzen und verlegen und lernen, alles
+zusammen. Jetzt kann ich nützlich sein, denn ich habe darin Erfahrung.
+Es sind bald zwei Jahre, seit ich bei den Verlegern herumlaufe, und ich
+kenne alle ihre Schliche; es ist keine Hexerei, glauben Sie mir! Und
+warum soll man nicht nach dem Bissen greifen! Ich kenne selbst und
+bewahre es als ein Geheimnis, zwei oder drei solcher Werke; für den
+Gedanken allein, sie zu übersetzen und zu verlegen, kann man hundert
+Rubel für jedes Buch nehmen, und das eine Werk, die Idee allein schon,
+gebe ich nicht um fünfhundert Rubel. Was meinen Sie, wenn ich es jemand
+mitteilen würde, so ein Holzklotz täte vielleicht noch daran zweifeln.
+Und was die geschäftlichen Dinge -- Druckerei, Papier, Verkauf --
+anbetrifft, so überlassen Sie dies mir. Ich kenne alle Schliche! Wir
+wollen mit kleinem anfangen und großes erreichen; wenigstens ernähren
+können wir uns und erhalten in jedem Falle unser Geld zurück.«
+
+Dunjas Augen leuchteten.
+
+»Was Sie vorbringen, gefällt mir sehr, Dmitri Prokofjitsch,« sagte sie.
+
+»Ich verstehe hiervon gar nichts,« sagte Pulcheria Alexandrowna,
+»vielleicht ist es auch gut, aber Gott weiß. Es ist neu und unbekannt.
+Gewiß müssen wir hierbleiben, wenigstens eine Zeitlang ...«
+
+Sie blickte Rodja an.
+
+»Was meinst du, Bruder?« sagte Dunja.
+
+»Ich meine, daß er einen sehr guten Gedanken hat,« antwortete er. »Von
+einer Firma muß man selbstverständlich vorher nicht träumen, aber fünf
+oder sechs Bücher kann man tatsächlich mit zweifellosem Erfolg verlegen.
+Ich kenne auch selbst ein Werk, das unbedingt gehen wird. Und daß er die
+Sache zu leiten versteht, unterliegt keinem Zweifel, -- er versteht die
+Sache ... Übrigens habt ihr noch Zeit, euch zu besprechen ...«
+
+»Hurra!« rief Rasumichin. »Warten Sie, hier im selben Hause und bei
+denselben Wirtsleuten ist eine Wohnung frei. Sie ist ganz abgeschlossen,
+hat mit diesen Zimmern keine Verbindung und besteht aus drei möblierten
+Stuben, der Preis ist mäßig. Die können Sie fürs erste nehmen. Die Uhr
+will ich für Sie morgen versetzen und Ihnen das Geld bringen und das
+weitere wird sich finden. Die Hauptsache aber ist, daß Sie alle drei
+zusammen leben können, auch Rodja mit Ihnen. Wohin willst du denn,
+Rodja?«
+
+»Wie, Rodja, gehst du schon fort?« fragte Pulcheria Alexandrowna
+erschreckt.
+
+»In solch einem Augenblick!« rief Rasumichin.
+
+Dunja blickte den Bruder mit mißtrauischem Erstaunen an. Er hielt die
+Mütze in den Händen und schickte sich an, wegzugehen.
+
+»Ihr tut ja, als ob ihr mich beerdigen oder auf ewig Abschied nehmen
+müßtet,« sagte er eigentümlich.
+
+Er wollte lächeln, aber dieses Lächeln gelang ihm schlecht.
+
+»Wer weiß, vielleicht sehen wir uns auch zum letztenmal,« fügte er
+unvermutet hinzu.
+
+Er wollte es bloß denken, doch die Worte entschlüpften ihm.
+
+»Um Gottes willen, was ist mit dir!« rief die Mutter aus.
+
+»Wohin willst du gehen, Rodja?« fragte ihn Dunja in angstvollem Tone.
+
+»Ich muß jetzt fortgehen,« antwortete er unklar, als sei er im Zweifel,
+was er sagen wollte.
+
+In seinem bleichen Gesichte drückte sich eine feste Entschlossenheit
+aus.
+
+»Ich wollte sagen ... als ich hierher ging ... ich wollte Ihnen, Mama
+... und dir, Dunja, sagen, daß es besser sei, wenn wir uns für eine
+Zeitlang trennen. Ich fühle mich nicht wohl, ich bin unruhig ... ich
+will später wiederkommen, ich werde von selbst kommen, wenn ... es mir
+möglich sein wird. Ich denke an euch und liebe euch ... Doch laßt mich!
+Laßt mich allein! Ich habe es so beschlossen, schon früher ... Ich habe
+es bestimmt beschlossen ... Was mit mir auch geschieht, ob ich zugrunde
+gehen werde oder nicht, ich will allein sein. Vergeßt mich ganz und gar.
+Es ist so am besten. Erkundigt euch auch nicht nach mir. Wenn es nötig
+sein wird, komme ich von selbst oder ... ich rufe euch. Vielleicht wird
+noch alles gut! ... Jetzt aber sagt euch von mir los, wenn ihr mich
+liebt ... Sonst muß ich euch hassen, ich fühle es ... Lebt wohl!«
+
+»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.
+
+Die Mutter und die Schwester waren furchtbar erschrocken; Rasumichin
+ebenfalls.
+
+»Rodja, Rodja! Versöhne dich mit uns, wir wollen wieder wie früher
+sein!« rief die arme Mutter aus.
+
+Er wandte sich langsam der Türe zu und ging langsam hinaus. Dunja holte
+ihn ein.
+
+»Bruder! Was tust du deiner Mutter an!« flüsterte sie, und ihr Blick
+leuchtete vor Empörung.
+
+Er schaute sie schwermütig an.
+
+»Es hat nichts zu bedeuten, ich komme, ich werde kommen!« murmelte er
+halblaut, als ob er sich nicht völlig bewußt sei, was er sagen wollte,
+und ging aus dem Zimmer.
+
+»Gefühlloser, böser Egoist!« rief Dunja.
+
+»Er ist ver--rückt und nicht gefühllos! Er ist geistesgestört! Sehen Sie
+es denn nicht? Sonst sind Sie gefühllos! ...« flüsterte Rasumichin ihr
+zu und drückte stark ihre Hand.
+
+»Ich komme sofort!« wandte er sich an die erstarrte Pulcheria
+Alexandrowna und lief aus dem Zimmer. Raskolnikoff erwartete ihn am Ende
+des Korridors.
+
+»Ich wußte, daß du mir nachgehen wirst,« sagte er. »Gehe zu ihnen zurück
+und bleibe bei ihnen ... Sei auch morgen bei ihnen ... und stets. Ich
+komme ... vielleicht ... wenn ich kann. Leb wohl!«
+
+Und ohne ihm die Hand zu reichen, ging er weiter.
+
+»Ja, wohin gehst du? Was ist mit dir? Was ist geschehen? Kann man denn
+so! ...« murmelte Rasumichin fassungslos.
+
+Raskolnikoff blieb noch einmal stehen.
+
+»Ich sage dir ein für allemal, -- frage mich nicht und über nichts. Ich
+habe dir nichts zu antworten ... Komme nicht zu mir. Vielleicht komme
+ich selbst hierher ... Laß mich ... sie aber _verlasse nicht_. Verstehst
+du?«
+
+Es war ziemlich dunkel auf dem Korridor, sie standen unter einer
+spärlich brennenden Lampe. Eine Minute blickten sie einander schweigend
+an. Rasumichin erinnerte sich sein ganzes Leben dieser Minute. Der
+brennende und starre Blick Raskolnikoffs schien mit jedem Momente sich
+zu verstärken und drang in seine Seele und in sein Bewußtsein. Da zuckte
+Rasumichin zusammen. Ein fürchterliches Etwas trat zwischen sie ... Ein
+Gedanke, spürbar wie ein Hauch; ein schauerlicher gräßlicher Gedanke von
+beiden gedacht, von beiden verstanden ... Rasumichin wurde bleich wie
+ein Toter.
+
+»Verstehst du jetzt?« sagte Raskolnikoff plötzlich mit schmerzlich
+verzogenem Gesichte. »Kehre zurück, gehe zu ihnen,« fügte er sofort
+hinzu, drehte sich schnell um und verließ das Haus.
+
+Ich will nicht beschreiben, was an diesem Abend bei Pulcheria
+Alexandrowna geschah, wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie
+beruhigte, wie er schwur, daß man Rodja in seiner Krankheit Ruhe geben
+müsse, wie er schwur, daß Rodja unbedingt kommen würde, daß er jeden Tag
+herkommen würde, daß er sehr, sehr aufgeregt sei, daß man ihn nicht
+reizen dürfe; wie er, Rasumichin, auf ihn aufpassen werde, ihm einen
+guten Arzt, den besten, ein ganzes Konsilium verschaffen werde ... Mit
+einem Worte, Rasumichin wurde an diesem Abend ihr Sohn und Bruder. --
+
+
+ IV.
+
+Raskolnikoff aber ging direkt zu dem Hause am Kanal, wo Ssonja wohnte.
+Es war ein dreistöckiges Haus, alt und grün angestrichen. Er suchte den
+Hausknecht auf und erhielt von ihm die ungefähre Auskunft, wo der
+Schneider Kapernaumoff wohne. Er fand in einer Ecke auf dem Hofe einen
+Eingang zu einer schmalen, dunklen Treppe, er stieg zum zweiten Stock
+hinauf und kam auf eine Galerie, die das Haus auf der Hofseite umgab.
+Während er in der Dunkelheit und voll Ungewißheit, wo der Eingang zu
+Kapernaumoff sein könne, herumirrte, öffnete sich plötzlich drei
+Schritte von ihm eine Türe; er griff mechanisch nach ihr.
+
+»Wer ist da?« fragte eine weibliche Stimme ängstlich.
+
+»Ich bin es ... komme zu Ihnen,« antwortete Raskolnikoff und trat in ein
+winziges Vorzimmer ein. Hier brannte auf einem durchgesessenen Stuhle
+ein Licht in einem kupfernen Leuchter.
+
+»Sie sind es! Oh, Gott!« rief Ssonja mit schwacher Stimme und blieb wie
+versteinert stehen.
+
+»Wo geht es in Ihr Zimmer? Hier?«
+
+Raskolnikoff suchte nicht ihren Blick und ging schnell in ihr Zimmer
+hinein.
+
+Nach einer Minute kam auch Ssonja mit dem Lichte, stellte es hin und
+blieb vor ihm stehen, vollkommen verwirrt, in einer unbeschreiblichen
+Aufregung und sichtbar erschrocken durch seinen unerwarteten Besuch.
+Eine Röte stieg in ihr bleiches Gesicht, und Tränen traten in ihre Augen
+... Es war ihr schwer zumute, sie schämte sich auch, und doch war es ihr
+lieb ... Raskolnikoff wandte sich schnell von ihr ab und setzte sich auf
+einen Stuhl neben dem Tisch. Er fand Zeit, einen flüchtigen Blick auf
+das Zimmer zu werfen.
+
+Es war ein großes Zimmer, aber außerordentlich niedrig, das einzige
+Zimmer, das Kapernaumoffs vermieteten; in der Wand links war eine
+verschlossene Tür, die zu ihnen führte. Auf der entgegengesetzten Seite,
+rechts in der Wand, befand sich noch eine Tür, die immer verschlossen
+war. Hinter ihr war eine andere Wohnung unter einer anderen Nummer.
+Ssonjas Zimmer glich einer Scheune, hatte die Gestalt eines
+unregelmäßigen Vierecks, was ihm etwas Eigentümliches verlieh. Die eine
+Wand mit drei Fenstern, die auf den Kanal hinausgingen, durchschnitt das
+Zimmer etwas schief, wodurch die eine Ecke sehr spitz war und in der
+Tiefe verlief, so daß man bei schwacher Beleuchtung sie nicht gut
+überschauen konnte; die andere Ecke war wieder häßlich stumpf. In diesem
+ganzen Zimmer waren fast gar keine Möbel. In einer Ecke rechts war ein
+Bett, neben ihm näher zur Türe ein Stuhl. An derselben Wand, wo das Bett
+war, standen an der Türe gegen die fremde Wohnung ein einfacher Tisch,
+bedeckt mit einem blauen Tischtuche und daneben zwei geflochtene Stühle.
+An der entgegengesetzten Wand, in der Nähe der spitzen Ecke, befand sich
+eine kleine Kommode aus einfachem Holze, verloren wie in einer Wüste.
+Das war das ganze Mobiliar. Die gelblichen, abgerissenen und
+beschmutzten Tapeten waren an allen Ecken schwarz geworden; im Winter
+mußte es hier feucht und dunstig sein. Die Armut war offensichtlich;
+selbst am Bette waren keine Gardinen angebracht.
+
+Ssonja blickte schweigend ihren Besucher an, der so aufmerksam und
+ungeniert ihr Zimmer betrachtete und begann vor Angst zu zittern, als
+stände sie vor einem Richter, der über ihr Schicksal entscheiden sollte.
+
+»Ich komme spät ... Es ist wohl schon elf Uhr?« fragte er sie und erhob
+noch immer nicht die Augen zu ihr.
+
+»Ja,« murmelte Ssonja. »Ach, ja, es ist soviel!« beeilte sie sich zu
+sagen, als wäre es ein Ausweg, »soeben schlug bei dem Hauswirte die Uhr
+... und ich habe die Schläge gezählt ... Es ist soviel.«
+
+»Ich komme zum letztenmal zu Ihnen,« fuhr Raskolnikoff düster fort,
+obwohl es doch zum erstenmal war, daß er hier war, »ich werde Sie
+vielleicht nicht mehr sehen ...«
+
+»Reisen Sie ... fort?«
+
+»Ich weiß es nicht ... alles hängt von morgen ab ...«
+
+»Also, Sie werden morgen nicht bei Katerina Iwanowna sein?« bebte
+Ssonjas Stimme.
+
+»Ich weiß es nicht. Alles hängt von morgen früh ab ... Aber darum
+handelt es sich nicht, ich bin gekommen, Ihnen ein paar Worte zu sagen
+...«
+
+Er erhob seinen nachdenklichen Blick zu ihr auf und bemerkte jetzt erst,
+daß er saß, während sie noch immer vor ihm stand.
+
+»Warum stehen Sie denn? Setzen Sie sich doch,« sagte er mit veränderter
+Stimme leise und weich.
+
+Sie setzte sich. Er blickte sie freundlich, fast mitleidig eine Minute
+an.
+
+»Wie mager Sie sind! Sehen Sie nur Ihre Hand! Ganz durchsichtig. Diese
+Finger, wie bei einer Toten.«
+
+Er nahm ihre Hand. Ssonja lächelte schwach.
+
+»Ich war immer so,« sagte sie.
+
+»Auch, als Sie zu Hause lebten?«
+
+»Ja.«
+
+»Ach, selbstverständlich ja!« sagte er abgerissen, und sein
+Gesichtsausdruck und der Ton seiner Stimme veränderten sich wieder.
+
+Er blickte sich noch einmal um.
+
+»Sie mieteten das Zimmer von Kapernaumoff?«
+
+»Ja ...«
+
+»Diese wohnen dort hinter der Türe?«
+
+»Ja ... Sie haben auch ein solches Zimmer.«
+
+»Sie leben alle in einem Zimmer?«
+
+»Ja, in einem Zimmer.«
+
+»Ich würde mich nachts in Ihrem Zimmer fürchten,« bemerkte er düster.
+
+»Die Wirtsleute sind sehr gut, sehr freundlich,« antwortete Ssonja, die
+immer noch nicht zu sich gekommen schien und seine Bemerkung nicht
+verstanden hatte, »und alle Möbel und alles ... alles gehört den
+Wirtsleuten. Sie sind sehr gut, und die Kinder kommen auch oft zu mir
+...«
+
+»Die stotternden?«
+
+»Ja ... Er stottert auch und ist dazu auch lahm. Und die Frau auch ...
+Das heißt, sie stottert nicht so sehr, sie spricht bloß nicht alles aus.
+Sie ist sehr gut. Er ist früher Leibeigener gewesen. Und sie haben
+sieben Kinder ... und bloß der Älteste stottert, die anderen sind nur
+immer krank ... stottern nicht ... Woher wissen Sie das aber?« fügte sie
+ein wenig verwundert hinzu.
+
+»Ihr Vater hat es mir damals erzählt. Er hat mir auch alles über Sie
+erzählt ... Auch davon, wie Sie um sechs Uhr fortgingen und um neun
+zurückkamen, auch, wie Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien
+gelegen hat.«
+
+Ssonja wurde verlegen.
+
+»Mir schien es, als hätte ich ihn heute gesehen,« flüsterte sie
+unentschlossen.
+
+»Wen?«
+
+»Den Vater. Ich ging in die Straße dort, nebenan, an der Ecke in der
+zehnten Stunde, und er schien vor mir zu gehen, ganz, als wäre er es.
+Ich wollte eben zu Katerina Iwanowna hingehen ...«
+
+»Waren Sie spazieren gegangen?«
+
+»Ja,« flüsterte Ssonja abgerissen, wurde wieder verlegen und senkte die
+Augen.
+
+»Katerina Iwanowna hat Sie doch wohl geschlagen, als Sie beim Vater
+lebten?«
+
+»Ach nein, wie kommen Sie darauf, nein, nein!« Ssonja blickte ihn voll
+Schrecken an.
+
+»Also, Sie lieben sie?«
+
+»Sie? Warum denn nicht!« sagte Ssonja klagend und faltete mit leidendem
+Ausdruck die Hände. »Ach! Sie ... Wenn Sie nur wüßten. Sie ist ja ganz
+wie ein Kind ... Ihr Verstand ist ja wie gestört ... vor lauter Kummer.
+Und wie sie klug war ... wie großmütig ... wie gut! Sie wissen nichts,
+nichts ... ach!«
+
+Ssonja sagte dies wie in Verzweiflung, aufgeregt, darunter leidend und
+händeringend. Ihre bleichen Wangen erröteten wieder und in ihren Augen
+drückte sich eine tiefe Qual aus. Man sah, daß in ihr sehr vieles durch
+seine Worte wachgerufen worden war und daß sie gern etwas äußern und
+sagen und für Katerina Iwanowna eintreten wollte. Ein _unerschöpfliches_
+Mitleid, wenn man sich so ausdrücken darf, lag in ihrem Gesichte.
+
+»Sie soll mich geschlagen haben! Ja, wie kommen Sie dazu! Oh, Gott, sie
+mich schlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre dabei!
+Was wäre dabei! Sie wissen nichts, gar nichts ... Sie ist so
+unglücklich, ach, wie unglücklich sie ist! Und sie ist krank ... Sie
+sucht Gerechtigkeit ... Sie ist rein. Sie glaubt so daran, daß in allem
+Gerechtigkeit sein müsse und verlangt sie ... Und Sie können sie quälen,
+sie wird nichts Ungerechtes tun. Sie merkt selbst nicht, wie unmöglich
+es ist, daß es unter den Menschen gerecht zugehe und ist reizbar ... Sie
+ist wie ein Kind, wie ein Kind! Sie ist gerecht, gerecht!«
+
+»Und was wird mit Ihnen geschehen?«
+
+Ssonja blickte ihn fragend an.
+
+»Die Last ist doch auf Ihren Schultern geblieben. Es ist wahr, auch
+früher lag alles auf Ihren Schultern, und der Verstorbene kam auch zu
+Ihnen mit seinen Bitten, um zu einem Gläschen zu kommen. Aber was wird
+jetzt werden?«
+
+»Ich weiß es nicht,« erwiderte Ssonja traurig.
+
+»Werden sie dort bleiben?«
+
+»Ich weiß nicht, sie sind der Wirtin die Wohnung schuldig; und die
+Wirtin hat heute gesagt, ich hörte es, daß sie ihr kündigen will;
+Katerina Iwanowna jedoch sagte schon, daß sie auch selbst keinen
+Augenblick länger dort bleiben will.«
+
+»Aus welchem Grunde ist sie denn so tapfer? Hofft sie auf Sie?«
+
+»Ach, nein, sagen Sie nicht so etwas ... Wir leben zusammen, gehören
+zueinander,« Ssonja wurde wieder erregt und selbst gereizt, genau wie
+wenn ein Kanarienvogel oder ein anderer kleiner Vogel böse wird. »Ja,
+was soll sie denn tun? Was denn, was soll sie tun?« fragte sie, sich
+ereifernd und erregt. »Und wie, wie lange sie heute geweint hat! Ihr
+Verstand ist gestört, haben Sie es nicht gemerkt? Er ist gestört; bald
+regt sie sich wie ein Kind darüber auf, ob morgen auch alles anständig
+sei, die Speisen und alles da sei ... bald ringt sie die Hände, speit
+Blut, weint und schlägt die Stirne gegen die Wand aus lauter
+Verzweiflung. Dann wird sie wieder ruhiger, hofft auf Sie, -- sagt, daß
+Sie ihr ein Helfer sein werden und daß sie bei irgend jemand Geld leihen
+und nach ihrer Heimatsstadt mit mir reisen wird; sie will dort eine
+Pension für junge Mädchen aus guter Familie errichten, mich als
+Aufseherin anstellen, und ein ganz neues, schönes Leben soll für uns
+beginnen; sie küßt mich, umarmt und tröstet mich und glaubt fest an die
+Ausführung ihres Planes. Sie glaubt so stark an diese Träume. Kann man
+ihr denn da widersprechen? Und sie wusch, säuberte und besserte heute
+den ganzen Tag alles aus; hat selbst mit ihren schwachen Kräften eine
+Wanne ins Zimmer hereingeschleppt, geriet dabei außer Atem und fiel auf
+das Bett hin. Wir sind heute am frühen Morgen mit ihr in den Läden
+gewesen, um Poletschka und Lene Stiefel zu kaufen, denn die ihrigen sind
+ganz zerrissen, da reichte das Geld nach der Berechnung nicht aus, es
+fehlte noch sehr viel. Und sie hat so hübsche Stiefelchen ausgesucht,
+denn sie hat Geschmack, Sie glauben nicht ... Sie fing dort selbst in
+dem Laden, in Gegenwart der Verkäufer, zu weinen an, da das Geld nicht
+ausreichte ... Ach, wie leid es einem tat, sie zu sehen.«
+
+»Dann ist es begreiflich, daß Sie ... so leben,« sagte Raskolnikoff mit
+bitterem Lächeln.
+
+»Und tut es Ihnen denn nicht auch leid? Nicht auch weh?« fuhr Ssonja
+wieder fort. »Ich weiß doch, Sie haben selbst Ihr letztes abgegeben,
+ohne je wieder etwas davon zu sehen. Und wenn Sie erst alles wüßten, oh,
+Gott! Und wie oft, wie oft habe ich sie zu Tränen gereizt! In der
+vorigen Woche noch! Ach, ich ... Genau eine Woche vor seinem Tode. Ich
+habe grausam gehandelt! Und wie oft, wie oft war ich es! Ach, wie es weh
+tut, ich wurde heute den ganzen Tag daran erinnert!«
+
+Ssonja rang in schmerzlicher Erinnerung die Hände, während sie sprach.
+
+»Sie wollen grausam sein?«
+
+»Ja, ich, ich bin es! Ich kam damals hin,« fuhr sie weinend fort, »als
+der Verstorbene zu mir sagte, >lies mir vor, Ssonja,< sagte er, >mein
+Kopf tut mir etwas weh, lies mir vor ... hier ist ein Buch<, er hatte
+irgendein Buch von Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff erhalten; er
+wohnt auch dort und hat immer solche spaßige Bücher. Und ich sagte, >ich
+muß gehen<, wollte ihm also nicht vorlesen. Ich war hauptsächlich zu
+ihnen gekommen, um Katerina Iwanowna die Kragen zu zeigen, hübsche, neue
+und ausgewählte Kragen und Manschetten, die mir Lisaweta, eine
+Händlerin, billig besorgt hatte. Und Katerina Iwanowna gefielen sie
+sehr, sie legte einen Kragen um, besah sich im Spiegel, und sie gefielen
+ihr sehr. >Schenk sie mir, Ssonja,< sagte sie, >bitte schenk sie mir.<
+Sie hatte bitte gesagt, und sie wollte sie so gern haben. Wann soll sie
+aber die Kragen umlegen? Sie dachte nur an die frühere, glücklichere
+Zeit. Sie sah sich im Spiegel, betrachtete sich mit Wohlgefallen und hat
+doch keine passenden Kleider, gar keine Sachen dazu, -- wer weiß, wie
+viele Jahre schon! Und niemals wird sie etwas von jemand erbitten, --
+sie ist stolz und gibt eher das letzte fort, nun aber hatte sie mich
+gebeten, -- so hatten ihr die Kragen gefallen! Mir aber tat es leid sie
+wegzugeben. >Wozu brauchen Sie sie, Katerina Iwanowna<, sagte ich, so
+direkt: wozu? Das hätte ich ihr nicht sagen dürfen. Sie blickte mich
+schmerzlich an und wurde sehr traurig, daß ich sie ihr abgeschlagen
+hatte, und es war so traurig anzusehen ... Nicht der Kragen wegen,
+sondern weil ich es ihr abgeschlagen habe, ich hatte doch ... Ihnen ist
+dies doch gleichgültig!«
+
+»Haben Sie diese Händlerin Lisaweta gekannt?«
+
+»Ja ... Sie auch?« fragte Ssonja ihn mit einigem Erstaunen.
+
+»Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht im höchsten Grade, sie wird bald
+sterben,« sagte Raskolnikoff nach einigem Schweigen, ohne auf ihre Frage
+zu antworten.
+
+»Ach nein, nein, nein!« Und Ssonja ergriff unbewußt seine beiden Hände,
+als ob es an ihm läge, dies zu verhindern und als könnte sie das von ihm
+erflehen.
+
+»Es ist doch besser, wenn sie stirbt!«
+
+»Nein, es ist nicht, es ist gar nicht besser!« wiederholte sie
+erschrocken und ohne Überlegung.
+
+»Und was wird aus den Kindern? Sie werden sie sicher zu sich nehmen?«
+
+»Ach, ich weiß es nicht!« rief Ssonja fast in Verzweiflung aus und faßte
+sich an den Kopf.
+
+Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Male ihr aufgetaucht war und
+daß sie ihn immer wieder abgewiesen hatte.
+
+»Und wenn Sie noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten krank werden und man
+Sie ins Krankenhaus schafft, was dann?« drang er erbarmungslos weiter in
+sie.
+
+»Ach, wie ist es möglich! Das kann doch nicht sein!« und Ssonjas Gesicht
+verzog sich in furchtbarem Schrecken.
+
+»Wieso kann es nicht sein?« fuhr Raskolnikoff mit einem harten Lächeln
+fort. »Sie sind doch nicht davor geschützt? Was wird dann mit jenen
+geschehen? Sie werden auf die Straße alle zusammen gehen, Katerina
+Iwanowna wird husten und betteln und mit der Stirn an die Wand schlagen,
+wie heute, und die Kinder werden weinen ... Dann wird sie hinfallen, man
+bringt sie zur Wache, nachher ins Krankenhaus, nachher wird sie sterben,
+und was wird aus den Kindern ...«
+
+»Ach nein! ... Gott wird es nicht zulassen!« entrang es sich der
+zusammengeschnürten Brust Ssonjas.
+
+Sie hörte ihm ängstlich zu, blickte ihn flehend an und faltete in
+stummer Bitte die Hände, als hinge alles von ihm ab. Raskolnikoff stand
+auf und begann im Zimmer auf- und abzugehen. Es vergingen Minuten.
+Ssonja stand mit gesenktem Kopfe und herabhängenden Händen da in
+unsäglichem Leid.
+
+»Kann man nicht sparen? Einen Notgroschen sammeln?« fragte er und blieb
+vor ihr stehen.
+
+»Nein,« flüsterte Ssonja.
+
+»Versteht sich, nein! Haben Sie es aber auch schon versucht?« fragte er
+spöttisch.
+
+»Ich habe es versucht.«
+
+»Und es gelang nicht! Nun, das ist ja selbstverständlich! Was ist da
+noch zu fragen!«
+
+Und er wanderte wieder im Zimmer auf und nieder. Es verstrich wieder
+eine Weile.
+
+»Sie erhalten nicht jeden Tag Geld?«
+
+Ssonja wurde noch mehr betreten, und wieder stieg ihr das Blut ins
+Gesicht.
+
+»Nein,« flüsterte sie mit qualvoller Anstrengung.
+
+»Mit Poletschka wird sicher dasselbe geschehen,« sagte er plötzlich.
+
+»Nein, nein! Das darf nicht sein, unmöglich!« rief sie laut, vollkommen
+verzweifelt, als hätte man ihr einen Stich ins Herz gegeben. »Gott, Gott
+wird so was Schreckliches nicht zulassen! ...«
+
+»Bei Ihnen läßt er es doch zu.«
+
+»Nein, nein! Gott wird sie schützen! ...« wiederholte sie ganz außer
+sich.
+
+»Ja, vielleicht gibt es gar keinen Gott,« antwortete Raskolnikoff mit
+einem Anflug von Schadenfreude, lachte und blickte sie an. Ssonjas
+Gesicht verzerrte sich krampfhaft. Mit einem unbeschreiblichen Vorwurf
+schaute sie ihn an, wollte etwas sagen, konnte aber nichts
+herausbringen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte dann
+bitterlich.
+
+»Sie sagen, Katerina Iwanownas Verstand sei gestört. Ihr eigener ist
+auch gestört,« sagte er nach einigem Schweigen.
+
+Es vergingen wieder etwa fünf Minuten, während er schweigend auf und ab
+ging, ohne sie anzublicken. Endlich trat er an sie heran; seine Augen
+funkelten. Er packte sie mit beiden Händen an den Schultern und sah in
+ihr weinendes Gesicht. Seine Augen hatten einen heißen, trockenen,
+durchdringenden Blick, und seine Lippen bebten vor Erregung ...
+Plötzlich beugte er sich nieder, warf sich auf den Boden und küßte ihren
+Fuß. Ssonja fuhr entsetzt vor ihm zurück, wie vor einem Irrsinnigen. Er
+sah wirklich ganz wie ein Irrsinniger aus.
+
+»Was ist mit Ihnen, was tun Sie? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und
+ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
+
+Er stand sofort auf.
+
+»Ich habe mich nicht vor dir verneigt, sondern vor dem ganzen
+menschlichen Leiden,« sagte er mit eigentümlichem Ton und ging zum
+Fenster hin. »Höre,« setzte er hinzu, als er nach einem Augenblick zu
+ihr zurückkam, »ich habe vorhin zu einem bösen Menschen gesagt, daß er
+deinen kleinen Finger nicht wert sei ... und daß ich meiner Schwester
+heute eine Ehre erwiesen habe, indem ich sie neben dich hingesetzt habe
+...«
+
+»Ach, was haben Sie gesagt! Und in ihrer Gegenwart?« rief Ssonja
+erschrocken aus. »Neben mir zu sitzen! Eine Ehre! Ja, ich bin doch ...
+ehrlos ... Ach, warum haben Sie das gesagt?«
+
+»Nicht wegen deiner Ehrlosigkeit und Sünde habe ich es von dir gesagt,
+sondern wegen deines großen Leides. Daß du eine große Sünderin bist, ist
+wahr,« fügte er fast entzückt hinzu, »und am meisten bist du dadurch
+eine Sünderin, weil du dich _umsonst_ getötet und verkauft hast. Ist das
+nicht entsetzlich! Ist es nicht entsetzlich, daß du in diesem Schmutze
+lebst, den du so haßt und gleichzeitig es selbst weißt, -- man braucht
+dir nur die Augen zu öffnen -- daß du niemandem damit hilfst und
+niemanden dadurch rettest! Ja, sage mir doch endlich,« fuhr er fast in
+Wut fort, »wie kannst du solche Schande und solche Gemeinheit mit deinen
+anderen besten und heiligsten Gefühlen in dir vereinigen? Es wäre doch
+gerechter, tausendmal gerechter und vernünftiger, sich mit dem Kopfe
+voran ins Wasser zu stürzen und allem ein Ende zu machen!«
+
+»Und was wird mit ihnen allen geschehen?« fragte Ssonja mit schwacher
+Stimme, blickte ihn leidend an, zeigte aber über seinen Vorschlag gar
+kein Erstaunen. Raskolnikoff blickte sie eigentümlich an.
+
+Er hatte alles in ihrem Blicke gelesen. Auch sie hatte tatsächlich schon
+selbst diesen Gedanken gehabt. Vielleicht hatte sie sich in der
+Verzweiflung oft und ernstlich überlegt, dem Leben schneller ein Ende zu
+machen, so daß sie jetzt gar nicht über seinen Vorschlag erstaunt war.
+Sie hatte selbst die Härte seiner Worte nicht empfunden, auch den Sinn
+seiner Vorwürfe und seine besondere Ansicht über ihre Schande hatte sie
+nicht erfaßt, das konnte er sehen. Er aber begriff vollkommen, wie
+grauenhaft und schmerzlich sie schon seit langem der Gedanke an ihre
+ehrlose und schmachvolle Lage gequält hatte. Was aber war es, was konnte
+es sein, -- dachte er, -- das ihren Entschluß, mit einem Schlage allem
+ein Ende zu machen, aufhielt? Jetzt erst verstand er völlig, was für sie
+diese armen, kleinen verwaisten Kinder und diese beklagenswerte
+halbverrückte Katerina Iwanowna mit ihrer Schwindsucht und mit ihrer
+Verzweiflung bedeuteten.
+
+Aber ebenso klar war es ihm, daß Ssonja mit ihrem Charakter und ihrer
+Bildung, die sie doch immerhin genossen hatte, in keinem Falle weiter in
+dieser Lage aushalten konnte. Und dennoch blieb die Frage offen, -- wie
+hatte sie so lange, zu lange schon, in dieser Lage aushalten können,
+ohne den Verstand zu verlieren, wenn sie nicht die Kraft besaß, sich ins
+Wasser zu stürzen? Gewiß, er begriff, daß Ssonjas Lage eine häufige
+Erscheinung in der Gesellschaft war, und unglücklicherweise bei weitem
+keine einzelne Ausnahme. Aber dieser Umstand selbst, ihre Bildung und
+ihr ganzes vorheriges Leben hätten sie doch sofort beim ersten Schritt
+auf diesem widerwärtigen Wege töten müssen. Was hielt sie denn? Doch
+nicht die Unzucht? Diese ganze Schande hatte sie offenbar nur mechanisch
+berührt; die echte Unzucht war noch mit keinem Tropfen in ihr Herz
+gedrungen; er sah es; sie stand völlig rein vor ihm da ...
+
+»Sie hat drei Wege,« dachte er, »entweder sich in den Kanal zu stürzen,
+ins Irrenhaus zu kommen oder ... oder sich schließlich wirklich dem
+Laster zu ergeben, das den Verstand betäubt und das Herz versteinert«.
+
+Der letzte Gedanke war ihm am widerwärtigsten; aber er war schon zu sehr
+Skeptiker, er war jung, abstrakt und somit grausam, darum mußte er auch
+glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt das Laster, am
+allerwahrscheinlichsten sei.
+
+»Aber ist es denn möglich,« rief er innerlich aus, »soll sich auch
+dieses Wesen, das sich noch die Reinheit des Herzens bewahrt hat, bewußt
+in diesen abscheulichen stinkenden Schlamm hinabziehen lassen? Hat diese
+Erniedrigung schon begonnen und konnte sie etwa dieses Leben schon aus
+diesem Grunde leben, weil das Laster ihr nicht mehr widerwärtig
+erschien? Nein, nein, es kann nicht sein!« rief er bei sich aus, wie
+vorhin Ssonja laut gerufen, »nein, vom Wasser hielt sie bis jetzt der
+Gedanke an die Sünde zurück und an _jene_ ... Wenn sie aber bis jetzt
+den Verstand nicht verloren hat ... aber wer sagt es denn, daß sie den
+Verstand noch nicht verloren hat? Ist sie denn bei gesundem Verstande?
+Kann man denn so reden, wie sie es tut? Kann man denn bei gesundem
+Verstande so urteilen, wie sie es tut? Kann man denn so über dem
+Abgrunde, über dem stinkenden Schlamm sitzen und in der Gefahr, jeden
+Augenblick hineingezogen zu werden, trotzdem mit den Händen sich gegen
+die Mahnungen wehren und sich die Ohren zuhalten? Was, erwartet sie etwa
+ein Wunder? Sicher, so ist es. Sind dies nicht Anzeichen von
+Geistesstörung?«
+
+Er blieb hartnäckig bei diesem Gedanken stehen. Dieser Ausweg gefiel ihm
+sogar besser, als jeder andere. Er begann sie aufmerksamer zu
+betrachten.
+
+»Also du betest sehr oft zu Gott, Ssonja?« fragte er sie.
+
+Ssonja schwieg, er stand neben ihr und wartete auf die Antwort.
+
+»Was wäre ich denn ohne Gott?« flüsterte sie schnell und energisch,
+indem sie ihn flüchtig mit funkelnden Augen anblickte und seine Hand
+stark drückte.
+
+»Ja, es ist so, wie ich gedacht!« sagte er zu sich.
+
+»Und was tut Gott dir dafür?« fragte er sie weiter ausforschend.
+
+Ssonja schwieg lange, als könnte sie nicht antworten. Ihre schwache
+Brust hob und senkte sich in heftiger Aufregung.
+
+»Schweigen Sie! Fragen Sie nicht! Sie sind es nicht wert ...« rief sie
+plötzlich und sah ihn streng und zornig an.
+
+»Es ist so! Es ist so!« wiederholte er hartnäckig vor sich hin.
+
+»Alles tut er!« flüsterte sie schnell und schlug wieder die Augen
+nieder.
+
+»Das ist ihr Ausweg! Das ist die Lösung!« entschied er bei sich und
+betrachtete sie mit gesteigertem Interesse.
+
+Mit einem neuen, eigentümlichen, fast krankhaften Gefühle schaute er in
+dieses bleiche magere und regelmäßig eckige Gesichtchen, diese sanften
+blauen Augen, die mit so einem Feuer, mit so einem strengen energischen
+Blick leuchten konnten, diesen kleinen Körper, der vor Empörung und Zorn
+noch bebte, und dies alles erschien ihm noch merkwürdiger und
+unfaßlicher.
+
+»Sie ist närrisch! Sie hat den religiösen Wahnsinn!« wiederholte er für
+sich.
+
+Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal, wenn er auf und ab ging, hatte
+er es bemerkt; jetzt nahm er es und sah es sich an. Es war das Neue
+Testament in russischer Übersetzung. Das Buch, in Leder gebunden, war
+alt und viel gebraucht.
+
+»Woher hast du es?« rief er. Sie stand immer noch auf derselben Stelle,
+drei Schritte vom Tische entfernt.
+
+»Man hat es mir gebracht,« antwortete sie unwillig und ohne ihn
+anzublicken.
+
+»Wer hat es dir gebracht?«
+
+»Lisaweta hat es gebracht, ich habe sie darum gebeten.«
+
+»Lisaweta! Wie seltsam!« dachte er.
+
+Alles erschien ihm bei Ssonja mit jeder Minute merkwürdiger,
+wunderlicher. Er holte das Buch zum Lichte und begann darin zu blättern.
+
+»Wo steht hier die Geschichte vom armen Lazarus?« fragte er.
+
+Ssonja blickte unverwandt zu Boden und antwortete nicht. Sie stand ein
+wenig abgewandt vom Tische.
+
+»Von der Auferstehung des Lazarus, wo ist es? Suche es mir, Ssonja.«
+
+Sie sah ihn mit einem Seitenblick an.
+
+»Nicht dort ... im vierten Evangelium steht es ...« flüsterte sie
+streng, ohne sich ihm zu nähern.
+
+»Suche es und lies es mir vor,« sagte er, setzte sich, stützte die
+Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Hand legend, blickte düster zur
+Seite und bereitete sich vor zuzuhören.
+
+»Nach drei Wochen ist sie im städtischen Irrenhause! Ich werde
+vielleicht selbst auch dort sein, wenn es nicht noch schlimmer enden
+wird,« murmelte er vor sich hin.
+
+Ssonja trat unschlüssig an den Tisch, nachdem sie das sonderbare
+Verlangen Raskolnikoffs mißtrauisch gehört hatte. Sie nahm das Buch.
+
+»Haben Sie es denn nicht gelesen?« fragte sie und blickte ihn unter der
+Stirn hervor an. Ihre Stimme wurde immer ernster und ernster.
+
+»Vor langer Zeit ... Als ich noch zur Schule ging. Lies!«
+
+»Und haben Sie es nicht in der Kirche gehört?«
+
+»Ich ... bin nie in der Kirche gewesen. Gehst du oft hin?«
+
+»N--nein,« flüsterte Ssonja.
+
+Raskolnikoff lächelte.
+
+»Ich verstehe ... Du wirst wohl morgen auch nicht zur Beerdigung des
+Vaters hineingehen?«
+
+»Ich werde hingehen. Ich war auch in der vorigen Woche in der Kirche ...
+habe eine Totenmesse halten lassen.«
+
+»Für wen?«
+
+»Für Lisaweta. Man hat sie mit einem Beile erschlagen.«
+
+Seine Nerven wurden immer reizbarer. Der Kopf begann ihm zu schwindeln.
+
+»Warst du mit Lisaweta befreundet?«
+
+»Ja ... Sie war gerecht ... sie kam ... selten ... sie konnte nicht. Wir
+lasen zusammen und ... sprachen. Sie wird Gott schauen!«
+
+Eigentümlich klangen für ihn diese Worte aus der Bibel und wieder erfuhr
+er eine Neuigkeit, -- sie hatte mit Lisaweta geheimnisvolle
+Zusammenkünfte gehabt und beide waren religiös wahnsinnig.
+
+»Man kann hier selbst geisteskrank werden! Es steckt an!« dachte er.
+
+»Lies!« rief er plötzlich hartnäckig und gereizt.
+
+Ssonja war noch immer unentschlossen. Ihr Herz klopfte. Sie wagte nicht
+ihm vorzulesen. Er sah mit Qual die »unglückliche Geisteskranke« an.
+
+»Wozu denn? Sie glauben doch nicht daran? ...« flüsterte sie leise und
+mit stockendem Atem.
+
+»Lies! Ich will es haben!« bestand er. »Du hast doch auch Lisaweta
+vorgelesen.«
+
+Ssonja schlug das Buch auf und suchte die Stelle. Ihre Hände zitterten,
+die Stimme versagte. Zweimal begann sie und konnte über das erste Wort
+nicht hinwegkommen.
+
+»Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus, von Bethanien ...« sagte sie
+endlich mit Anstrengung, aber bei dem dritten Worte zitterte plötzlich
+ihre Stimme und brach ab, wie eine zu straff gespannte Saite. Der Atem
+versagte ihr und die Brust schnürte sich zusammen.
+
+Raskolnikoff begriff zum Teil, warum Ssonja sich nicht entschließen
+konnte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so entschiedener
+und gereizter bestand er darauf. Er verstand zu gut, wie schwer es ihr
+jetzt fiel, alles _eigene_ preiszugeben und zu enthüllen. Er hatte
+begriffen, daß diese Gefühle tatsächlich ihr wahres und vielleicht seit
+langer Zeit gehegtes _Geheimnis_ bildeten, vielleicht schon seit der
+Jugendzeit, schon in der Familie, neben dem unglücklichen Vater und der
+vor Kummer wahnsinnig gewordenen Stiefmutter, mitten unter den hungrigen
+Kindern, ihrem häßlichen Geschrei und den fortwährenden Vorwürfen. Aber
+gleichzeitig erkannte er, und zwar mit Sicherheit, daß sie trotz ihres
+Grams und ihrer Furcht, in dem sie jetzt vorzulesen begann, doch gern,
+sehr gern es tat und zwar vor ihm, damit er es höre und unbedingt
+_jetzt_ -- mochte kommen, was da wolle! ... Er hatte das in ihren Augen
+gelesen und es aus ihrer verzückten Erregung entnommen! ... Sie überwand
+sich, unterdrückte den Krampf im Halse, der ihr die Stimme am Anfange
+benommen hatte, und fuhr fort, aus dem elften Kapitel des Evangeliums
+St. Johannis vorzulesen. So kam sie bis zum 19. Vers: »Und viele Juden
+waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder.
+Als Martha nun hörete, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria
+aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: Herr, wärest du
+hiergewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch,
+daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.«
+
+Hier blieb sie wieder stehn, in schamhafter Vorahnung, daß ihre Stimme
+zittern und versagen würde ... »Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll
+auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen
+wird in der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin
+die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob
+er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird
+nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: (und wie mit
+Schmerz atemholend, las Ssonja deutlich und voller Kraft, als lege sie
+selbst öffentlich ein Glaubensbekenntnis ab):
+
+>Herr, ja, ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die
+Welt gekommen ist.<«
+
+Sie hielt einen Moment inne, erhob schnell zu _ihm_ die Augen, überwand
+sich aber rasch und las weiter. Raskolnikoff saß und hörte unbeweglich
+zu, ohne sich umzuwenden, den Ellbogen auf den Tisch gestützt und zur
+Seite blickend. Sie las bis zum 32. Vers:
+
+»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sahe ihn, fiel sie zu seinen Füßen
+und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht
+gestorben. Als Jesus sie sahe weinen und die Juden auch weinen, die mit
+ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst. Und sprach:
+Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und siehe es.
+Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er
+ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem
+Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht
+stürbe?«
+
+Raskolnikoff wandte sich zu ihr um und sah sie mit Erregung an, -- ja,
+es ist so! Sie zitterte am ganzen Körper in wahrem, wirklichem Fieber.
+Er hatte es erwartet. Sie näherte sich den Worten über das größte und
+unerhörte Wunder, und das Gefühl eines großen Triumphes erfaßte sie.
+Ihre Stimme wurde klingend wie Metall; Triumph und Freude klangen darin
+und stärkten sie. Die Zeilen verwischten sich, weil es vor ihren Augen
+dunkel wurde, aber sie kannte auswendig, was sie las. Bei dem letzten
+Vers: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat ...« ließ sie die
+Stimme sinken und gab heiß und leidenschaftlich den Zweifel, den Vorwurf
+und Tadel der ungläubigen, blinden Juden wieder, die gleich darauf, nach
+einer Minute, wie vom Donner getroffen, niederfallen, schluchzen und
+glauben werden ... »Auch er, er -- ebenfalls verblendet und ungläubig,
+wird es gleich hören, auch er wird glauben, ja, ja, gleich, jetzt
+gleich,« durchzuckte es sie und sie bebte in freudiger Erwartung.
+
+»Jesus aber ergrimmete abermals in ihm selbst und kam zum Grabe. Es war
+aber eine Kluft und ein Stein daraufgelegt. Jesus sprach: Hebet den
+Stein ab. Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr,
+er stinket schon; denn er ist vier Tage gelegen.«
+
+Sie betonte energisch das Wort -- _vier_.
+
+»Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest,
+du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein ab, da
+der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: Vater,
+ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich
+allezeit erhörest; sondern um des Volkes Willen, das umher stehet, sage
+ich es, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte,
+rief er mit lauter Stimme: Lazare, komme heraus! _Und der Verstorbene
+kam heraus_ ...« (Laut und verzückt las sie es, zitternd und fröstelnd,
+als sähe sie es mit eigenen Augen.)
+
+»Gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Angesicht
+verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf
+und laßt ihn gehen.«
+
+»_Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus
+tat, glaubten an ihn._«
+
+Weiter las sie nicht und konnte auch nicht lesen, sie schloß das Buch
+und stand schnell vom Stuhle auf. »Das ist alles über die Auferstehung
+des Lazarus,« flüsterte sie abgerissen und streng und blieb unbeweglich,
+zur Seite gekehrt, stehen, ohne zu wagen und als schäme sie sich, die
+Augen zu ihm zu erheben. Ihr fieberhaftes Frösteln dauerte noch an. Der
+Lichtstumpf begann in dem schiefen Leuchter auszugehen und beleuchtete
+trübe in diesem armseligen Zimmer den Mörder und die Dirne, die so
+sonderbar beim Lesen des ewigen Buches zusammengekommen waren. Es
+vergingen fünf Minuten oder noch mehr.
+
+»Ich bin gekommen, um über eine Angelegenheit mit dir zu sprechen,«
+sagte Raskolnikoff plötzlich laut und mit düsterem Gesichte, stand auf
+und trat an Ssonja heran. Sie erhob schweigend die Augen zu ihm. Sein
+Blick war besonders streng und drückte eine wilde Entschlossenheit aus.
+
+»Ich habe heute meine Verwandten verlassen,« sagte er, »meine Mutter und
+Schwester. Ich werde nicht mehr zu ihnen gehen. Ich habe mit allem dort
+gebrochen.«
+
+»Warum?« fragte ihn Ssonja bestürzt. Ihre Begegnung mit seiner Mutter
+und Schwester hatte in ihr einen ungewöhnlichen, wenn auch ihr selbst
+nicht klaren Eindruck hinterlassen. Die Mitteilung von seinem Bruche mit
+ihnen hörte sie fast mit Entsetzen.
+
+»Ich habe jetzt dich allein,« fügte er hinzu. »Gehen wir zusammen ...
+Ich bin zu dir gekommen. Wir sind beide verflucht und so wollen wir auch
+beide zusammengehen!«
+
+Seine Augen leuchteten. »Wie ein Wahnsinniger!« dachte Ssonja.
+
+»Wohin sollen wir gehen?« fragte sie voll Angst und trat unwillkürlich
+einen Schritt zurück.
+
+»Woher soll ich es wissen? Ich weiß nur eins, daß wir einen und
+denselben Weg haben, das weiß ich sicher, -- und weiter nichts. Ein und
+dasselbe Ziel.«
+
+Sie blickte ihn an und verstand nichts. Sie begriff nur eins, daß er
+furchtbar, grenzenlos unglücklich sei.
+
+»Niemand von ihnen wird etwas verstehn, wenn du zu ihnen sprechen
+wirst,« fuhr er fort, »ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich,
+darum bin ich auch zu dir gekommen.«
+
+»Ich begreife nicht ...« flüsterte Ssonja.
+
+»Du wirst später begreifen. Hast du denn nicht ebenso gehandelt. Auch du
+bist hinüber geschritten ... du hast es vermocht. Du hast Hand an dich
+gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... _dein Leben_, das ist
+einerlei! Du hättest im Geist und in der Vernunft leben können und wirst
+auf dem Heumarkte enden ... Auch du kannst es nicht aushalten, und wenn
+du _allein_ bleibst, wirst du den Verstand verlieren, wie ich auch. Du
+bist schon jetzt wie geistesgestört; also müssen wir zusammengehen, ein
+und denselben Weg! Gehen wir ihn also!«
+
+»Warum? Warum sagen Sie das?« sagte Ssonja eigentümlich berührt und tief
+erregt durch seine Worte.
+
+»Warum? Weil es so nicht bleiben darf -- das ist der Grund! Man muß doch
+endlich ernst und offen es bedenken, und nicht wie ein Kind weinen und
+ausrufen, daß Gott es nicht zulassen wird! Nun, was wird geschehen, wenn
+man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Die da ist nicht
+bei Verstand und hat Schwindsucht, wird bald sterben und was soll aus
+den Kindern werden? Wird denn Poletschka nicht auch zugrunde gehen? Hast
+du denn nicht hier Kinder an allen Ecken gesehen, die ihre Mütter
+betteln schicken? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter leben und in
+welcher Umgebung. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist
+ein siebenjähriger lasterhaft und ein Dieb. Und die Kinder sind doch
+Ebenbilder Christi. >Ihrer ist das Himmelreich.< Er hat geboten, sie zu
+achten und zu lieben, sie sind das künftige Menschengeschlecht ...«
+
+»Was soll, was soll ich denn tun?« wiederholte Ssonja nervös weinend und
+händeringend.
+
+»Was tun? Ein für allemal das, was nötig ist, abbrechen und weiter
+nichts, -- und das Leiden auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht?
+Du wirst es nachher verstehen ... Freiheit und Macht, hauptsächlich
+Macht! Über alle zitternde Kreaturen und über den ganzen Ameisenhaufen!
+... Das ist das Ziel! Denk daran! Das ist mein Geleitwort dir auf den
+Weg! Vielleicht spreche ich mit dir zum letzten Male. Wenn ich morgen
+nicht zu dir komme, wirst du selbst von allem hören, und dann erinnere
+dich meiner jetzigen Worte. Und irgendwann, nachher, nach Jahren, mit
+der Zeit, wirst du auch vielleicht verstehn, was sie bedeuteten. Wenn
+ich aber morgen zu dir komme, will ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet
+hat. Leb wohl!«
+
+Ssonja fuhr vor Schreck zusammen.
+
+»Ja, wissen Sie denn, wer sie ermordet hat?« fragte sie und erstarrte
+vor Entsetzen und blickte ihn wild an.
+
+»Ich weiß es und will es sagen ... Dir, nur dir allein! Ich habe dich
+gewählt. Ich werde nicht kommen zu dir, um Verzeihung zu bitten, ich
+will es bloß sagen. Ich habe dich seit langem gewählt, um es dir zu
+sagen, damals noch, als dein Vater über dich erzählte, und ich dachte
+daran, als Lisaweta noch lebte. Leb wohl. Gib mir nicht die Hand.
+Morgen!«
+
+Er ging hinaus. Ssonja sah ihm wie einem Geistesgestörten nach; aber
+auch sie selbst war wie verrückt und fühlte es. Der Kopf schwindelte
+ihr.
+
+»Mein Gott, wie weiß er es, wer Lisaweta ermordet hat? Was bedeuteten
+diese Worte? Es ist furchtbar!«
+
+Aber _ein_ Gedanke kam ihr nicht in den Sinn. Durchaus nicht! ...
+
+»Oh, er muß furchtbar unglücklich sein! ... Er hat Mutter und Schwester
+verlassen. Warum? Was ist vorgefallen? Und was für Absichten hat er? Was
+hat er zu ihr gesagt? Er hat ihren Fuß geküßt und gesagt ... gesagt ...
+ja, er hat es deutlich gesagt, daß er ohne sie nicht mehr leben kann ...
+Oh, Gott!«
+
+Ssonja verbrachte in Fieber und Träumen die ganze Nacht. Sie sprang
+zuweilen auf, weinte, rang die Hände und bald verfiel sie wieder in
+Fieberträume und sie träumte von Poletschka, Katerina Iwanowna,
+Lisaweta, von Vorlesen aus dem Evangelium und von ihm ... ihm mit dem
+bleichen Gesicht, mit den funkelnden Augen ... Er küßt ihr die Füße,
+weinte ... Oh, Gott!
+
+Hinter der Türe rechts, hinter derselben Türe, die das Zimmer Ssonjas
+von der Wohnung von Gertrude Karlowna Rößlich abteilte, war ein
+Durchgangszimmer, seit langem unbewohnt, das zu der Wohnung der Frau
+Rößlich gehörte und das zu vermieten war, worauf die Zettel an dem Tore
+und an den Scheiben der Fenster, die zum Kanal hinausgingen, hinwiesen.
+Ssonja war seit langem gewöhnt, dieses Zimmer als unbewohnt zu
+betrachten. Indessen aber hatte in dem leeren Zimmer die ganze Zeit an
+der Türe Herr Sswidrigailoff gestanden und heimlich gelauscht. Als
+Raskolnikoff fortgegangen war, blieb er stehn, dachte nach, ging auf den
+Fußspitzen in sein Zimmer, das an das leere grenzte, holte dort einen
+Stuhl und stellte ihn leise an die Türe, die zu Ssonjas Zimmer führte.
+Das Gespräch erschien ihm amüsant und bedeutungsvoll und hatte ihm sehr
+gefallen, -- hatte ihm so gefallen, daß er einen Stuhl hinbrachte, um
+künftig, zum Beispiel morgen schon, nicht wieder der Unannehmlichkeit
+ausgesetzt zu sein, eine ganze Stunde stehen zu müssen, sondern sich's
+bequemer zu machen, um in jeder Beziehung völlig befriedigt zu werden.
+
+
+ V.
+
+Als Raskolnikoff am anderen Morgen, punkt elf Uhr, in das Haus des
+--schen Polizeireviers, in die Abteilung des Untersuchungsrichters
+eingetreten war und gebeten hatte, ihn Porphyri Petrowitsch anzumelden,
+war er verwundert, wie lange man ihn warten ließ, -- es vergingen
+mindestens zehn Minuten, ehe man ihn rief. Seiner Berechnung nach mußte
+man sich sofort auf ihn stürzen. Er stand indessen im Wartezimmer, es
+gingen Menschen an ihm vorüber, die offenbar sich gar nicht für ihn
+interessierten. In dem anderen Zimmer, das einer Kanzlei glich, saßen
+und schrieben einige Schreiber, und es war ersichtlich, daß niemand auch
+eine Ahnung davon hatte, -- wer und was Raskolnikoff sei? Mit unruhigem
+und mißtrauischem Blicke beobachtete er alles umher, und suchte, -- ob
+nicht neben ihm irgendeine Wache stehe, und ob er keinen geheimnisvollen
+Wink sähe, bestimmt, auf ihn acht zu geben, daß er nicht entrinne? Aber
+nichts von alledem, -- er sah bloß sorgenvolle Kanzleigesichter und
+einige andere Leute, und niemand kümmerte sich um sein Kommen und Gehen.
+Immer mehr befestigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser
+geheimnisvolle Mensch von gestern, dieses Gespenst, das aus der Erde
+hervorgestiegen schien, tatsächlich alles wußte und alles gesehen hatte,
+-- man ihm, Raskolnikoff, nicht erlauben würde, jetzt so dazustehen und
+ruhig abzuwarten? Und würde man auf ihn bis elf Uhr gewartet haben, bis
+es ihm selbst eingefallen wäre, zu erscheinen? Es zeigte sich also, daß
+dieser Mensch entweder noch nichts mitgeteilt hatte, oder ... oder er
+einfach nichts wußte und mit seinen eigenen Augen nichts gesehen hatte,
+-- ja, und wie konnte er es auch gesehen haben? -- und schließlich war
+alles, was gestern mit ihm, Raskolnikoff, vorgefallen war, nichts als
+eine Wahnerscheinung, die seine gereizte und kranke Einbildung
+übertrieben hatte. Diese Vermutung hatte ja gestern schon während der
+stärksten Aufregungen und der Verzweiflung in ihm sich zu befestigen
+angefangen. Nachdem er sich dies alles jetzt noch einmal überlegt hatte
+und sich zu einem neuen Kampfe anschickte, fühlte er plötzlich, daß er
+zittre, -- und eine Empörung erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß er aus
+Furcht vor dem verhaßten Porphyri Petrowitsch zittere. Am
+schrecklichsten für ihn war es, mit diesem Menschen wieder
+zusammenzutreffen; er haßte ihn über alle Maßen, grenzenlos, und
+fürchtete direkt, seinen Haß irgendwie zu offenbaren. Seine Empörung
+über sich selbst war so stark, daß das Zittern sofort aufhörte; er
+schickte sich an, mit einer kalten und frechen Miene hineinzugehen und
+versprach sich selbst, möglichst viel zu schweigen, zu beobachten und
+zuzuhören und dieses Mal um jeden Preis seine krankhafte gereizte Natur
+zu überwinden. In diesem Augenblicke rief man ihn zu Porphyri
+Petrowitsch hinein.
+
+Es traf sich, daß in diesem Momente Porphyri Petrowitsch in seinem
+Arbeitszimmer allein war. Sein Arbeitszimmer war weder klein, noch groß;
+es standen darin ein großer Schreibtisch vor einem Divan, der mit
+Wachstuch bezogen war, ein Schrank in einer Ecke und einige Stühle, --
+alles gehörte dem Staate und war aus gelbem poliertem Holze. In einer
+Ecke der Hinterwand oder besser gesagt der Scheidewand, war eine
+verschlossene Türe, -- also, mußten hinter dieser Wand sich noch andere
+Zimmer befinden. Nach Raskolnikoffs Eintritt schloß Porphyri Petrowitsch
+sofort die Türe, durch die er eingetreten war, und sie waren allein. Er
+begrüßte seinen Besuch mit sichtlich fröhlichstem und freundlichstem
+Ausdruck, und erst nach einigen Minuten merkte Raskolnikoff aus einigen
+Anzeichen eine gewisse Bestürztheit, als sei er plötzlich aus dem
+Konzept gebracht, oder als hatte man ihn auf etwas Verstecktem und
+Geheimem ertappt.
+
+»Ah, Verehrtester! Da sind Sie ja ... in unserer Gegend ...« begann
+Porphyri Petrowitsch und streckte ihm beide Hände entgegen. »Nun, nehmen
+Sie Platz, Väterchen! Oder vielleicht haben Sie es nicht gern, daß man
+Sie Verehrtester und ... Väterchen nennt, -- sozusagen _tout
+court_{[7]}? Halten Sie es bitte nicht für familiär ... Bitte, hierher
+auf den Divan.«
+
+Raskolnikoff setzte sich, ohne die Augen von ihm zu wenden.
+
+»Ja unserer Gegend,« Entschuldigung wegen Familiarität, das französische
+»_tout court_{[7]}« und dergleichen mehr, dies alles waren
+charakteristische Anzeichen. »Er hat mir beide Hände entgegengestreckt,
+hat aber keine Hand gereicht, hat sie rechtzeitig zurückgezogen,« dachte
+er mißtrauisch. Beide beobachteten einander, aber kaum begegneten sich
+ihre Blicke, als sie beide mit Blitzesschnelle sie voneinander
+abwandten.
+
+»Ich habe Ihnen diese Anmeldung ... über die Uhr gebracht ... hier haben
+Sie es. Ist es richtig geschrieben, oder soll ich es umschreiben?«
+
+»Was? Die Anmeldung? Ja, so ... machen Sie sich keine Sorge, es ist
+richtig,« sagte Porphyri Petrowitsch, als hätte er Eile, und erst
+nachdem er das gesagt hatte, nahm er das Schriftstück und sah es durch.
+»Ja, es ist richtig. Mehr ist auch nicht nötig,« bestätigte er noch
+einmal schnell und legte das Papier auf den Tisch.
+
+Nach einer Minute, als er schon von etwas anderem sprach, nahm er es
+wieder in die Hand und legte es in seinen Schreibtisch.
+
+»Ich glaube, Sie sagten gestern, daß Sie wünschten, mich ... in aller
+Form ... über meine Bekanntschaft mit dieser ... Ermordeten zu fragen?«
+begann wieder Raskolnikoff. »Nun, warum habe ich >ich glaube< gesagt?«
+durchfuhr es ihn. »Warum beunruhige ich mich denn so, daß ich dieses
+>ich glaube< hinzugefügt habe?« kam ihm alsbald ein zweiter Gedanke. Und
+plötzlich empfand er, daß seine Zweifelsucht, nur bei der Berührung mit
+Porphyri Petrowitsch, nur nach zwei Worten, nur von zwei Blicken, in
+einem einzigen Augenblick schon ins Ungeheure gestiegen sei ... und daß
+dies sehr gefährlich sei, -- seine Nerven wurden gereizt, die Erregung
+steigerte sich. »Es ist ein Unglück! Ein Unglück! ... Ich werde mich
+wieder versprechen.« --
+
+»Ja, ja, ja! Haben Sie keine Sorge! Es hat Zeit, hat Zeit!« murmelte
+Porphyri Petrowitsch und ging vor dem Tische auf und ab, wie
+absichtslos. Bald eilte er zu dem Fenster, bald zum Schreibtisch, bald
+zu dem anderen Tisch, bald mied er den mißtrauischen Blick
+Raskolnikoffs, bald blieb er plötzlich stehen und sah ihm unverwandt ins
+Gesicht. Sonderbar erschien dabei seine kleine, dicke und runde Gestalt,
+die wie ein Gummiball überall hinrollte und sofort von den Wänden und
+den Ecken absprang.
+
+»Wir haben Zeit, wir haben Zeit! ... Rauchen Sie? Haben Sie was zu
+rauchen? Bitte, hier ist eine Zigarette,« fuhr er fort und reichte dem
+Besucher Zigaretten ... »Wissen Sie, ich empfange Sie hier, meine
+Wohnung aber ist hier hinter der Zwischenwand ... freie Dienstwohnung,
+ich wohne jetzt noch in meiner alten, eigenen. Man mußte hier einige
+kleine Reparaturen vornehmen. Jetzt ist alles fast in Ordnung ... eine
+freie Dienstwohnung ist eine schöne Sache? Meinen Sie nicht?«
+
+»Ja, es ist eine schöne Sache,« antwortete Raskolnikoff und blickte ihn
+fast spöttisch an.
+
+»Eine schöne Sache, eine schöne Sache ...« wiederholte Porphyri
+Petrowitsch, als ob er an etwas ganz anderes denke, »ja! eine schöne
+Sache!« rief er zum Schlusse laut, erhob plötzlich die Augen zu
+Raskolnikoff und blieb zwei Schritte vor ihm stehen.
+
+Diese fortwährende dumme Wiederholung, daß eine Dienstwohnung eine
+schöne Sache sei, widersprach sehr dem ernsten sinnenden und
+rätselhaften Blicke, mit dem er jetzt seinen Besuch anstarrte.
+
+Dies aber reizte noch mehr die Wut Raskolnikoffs, so daß er eine
+spöttische und ziemlich unvorsichtige Herausforderung nicht unterdrücken
+konnte.
+
+»Sie wissen doch,« sagte er unerwartet, indem er ihn fast dreist
+anblickte, und als empfände er einen Genuß von seiner Dreistigkeit, »daß
+es eine juristische Regel, ein juristischer Kniff mancher
+Untersuchungsrichter ist, -- zuerst von weitem her mit Kleinigkeiten,
+oder auch mit etwas Ernstem aber Fernliegendem zu beginnen, um den zu
+Verhörenden sozusagen zu ermutigen, oder besser gesagt, abzulenken,
+seine Vorsicht einzuschläfern, um ihn nachher plötzlich und unversehens
+mit einer verhängnisvollen und gefährlichen Frage zu betäuben, habe ich
+recht? Das wird, glaube ich, in allen Lehrbüchern und Vorschriften bis
+heute als unfehlbarer Kunstgriff festgehalten.«
+
+»Es ist richtig ... und Sie meinen, daß ich es mit der freien
+Dienstwohnung bei Ihnen versucht habe ... ah?«
+
+Als Porphyri Petrowitsch dies gesagt hatte, kniff er die Augen zusammen
+und blinzelte ihm zu; etwas Lustiges und Schlaues huschte über sein
+Gesicht, die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, die Augen wurden
+schmäler, die Gesichtszüge erweiterten sich, und plötzlich brach er in
+ein nervöses langandauerndes Lachen aus, das seinen ganzen Körper
+erschütterte, dabei sah er Raskolnikoff unentwegt in die Augen.
+Raskolnikoff zwang sich in das Lachen einzustimmen. Als aber Porphyri
+Petrowitsch sah, daß auch er lache, brach er in ein Gelächter aus, daß
+ihm das Blut zu Kopf stieg. Raskolnikoffs Widerwillen überwog seine
+Vorsicht, -- er hörte auf zu lachen, sein Gesicht verfinsterte sich und
+er sah Porphyri Petrowitsch lange und voll Haß an während dieses
+anhaltenden und wie absichtlich nicht aufhörenden Lachens. Übrigens war
+die Unvorsichtigkeit beiderseits -- es war doch klar, daß Porphyri
+Petrowitsch über seinen Besucher lachte und daß er über dessen
+unverhohlenen Mißmut sich nicht im geringsten kümmerte. Das aber war für
+Raskolnikoff sehr wichtig -- er hatte begriffen, daß Porphyri
+Petrowitsch auch vorhin sich gar nicht verlegen gefühlt hatte, daß im
+Gegenteil er, Raskolnikoff, wahrscheinlich in eine Falle geraten sei,
+daß es hier etwas gab, was er nicht ahnte, daß vielleicht schon alles
+vorbereitet sei, um sich im nächsten Augenblick zu zeigen und ihn zu
+überrumpeln ...
+
+Er ging gerade auf das Ziel los, stand von seinem Platze auf und nahm
+seine Mütze.
+
+»Porphyri Petrowitsch,« begann er gereizt, aber entschlossen, »Sie
+äußerten gestern den Wunsch, daß ich zu einem Verhöre herkommen sollte.«
+(Er betonte besonders das Wort _Verhör_.) »Ich bin gekommen, und wenn
+Sie etwas wünschen, fragen Sie mich, sonst aber gestatten Sie mir,
+wegzugehen. Ich habe keine Zeit, denn ich habe zu tun ... Ich muß zu der
+Beerdigung eines Beamten, der überfahren worden ist und von dem ... Sie
+auch ... schon wissen ...« fügte er hinzu, ärgerte sich aber sofort, daß
+er das hinzugefügt hatte und wurde noch gereizter. »Ich bin des Ganzen
+überdrüssig, hören Sie, und seit langem schon ... ich bin zum Teil auch
+deshalb krank gewesen ... mit einem Worte,« schrie er fast, als er
+fühlte, daß die Phrase über seine Krankheit sehr überflüssig war, »mit
+einem Worte, -- belieben Sie mich entweder zu fragen oder zu entlassen,
+und zwar sofort ... und wenn Sie mich fragen wollen, dann nicht anders,
+als nach der gesetzlichen Form! Anders werde ich es nicht erlauben, und
+darum sage ich Ihnen einstweilen, leben Sie wohl, da wir jetzt beide
+nichts miteinander zu schaffen haben.«
+
+»Mein Gott! Ja, was ist mit Ihnen? Ja, worüber soll ich Sie denn
+fragen,« sagte auf einmal Porphyri Petrowitsch aufgeregt, indem er
+sofort den Ton und seine Miene änderte und aufhörte zu lachen, »bitte,
+regen Sie sich doch nicht auf,« bemühte er sich um Raskolnikoff, bald
+nötigte er ihn, seinen Platz wieder einzunehmen, bald lief er im Zimmer
+umher, »es hat Zeit, es hat Zeit und alles sind doch bloß Kleinigkeiten!
+Ich bin im Gegenteil so froh, daß Sie endlich zu mir gekommen sind ...
+Ich empfange Sie als meinen Gast. Und dieses verfluchte Lachen bitte ich
+Sie zu entschuldigen, Väterchen, Rodion Romanowitsch. -- Rodion
+Romanowitsch, so ist doch Ihr Vatername, nicht wahr? ... Ich bin ein
+nervöser Mensch. Sie haben mich durch Ihre witzige Bemerkung stark zum
+Lachen gebracht; zuweilen schüttelt es mich wirklich, als wäre ich aus
+Kautschuk, und das dauert manchmal eine halbe Stunde ... Ich neige zum
+Lachen. Bei meiner Statur fürchte ich dadurch einmal einen Schlaganfall
+zu bekommen. Ja, setzen Sie sich doch, warum stehn Sie? ... Bitte,
+setzen Sie sich, Väterchen, sonst denke ich, daß Sie mir böse sind ...«
+
+Raskolnikoff schwieg, hörte zu und beobachtete ihn, noch immer zornig
+und mit düsterem Gesichte. Er nahm Platz, legte aber die Mütze nicht aus
+der Hand.
+
+»Ich will Ihnen, Väterchen Rodion Romanowitsch, von mir selbst etwas
+sagen, um Ihnen meinen Charakter sozusagen zu erklären,« fuhr Porphyri
+Petrowitsch fort, indem er im Zimmer hin und her eilte und wie vorhin
+den Blick seines Gastes zu meiden schien. »Wissen Sie, ich bin ein alter
+Junggeselle, ohne weltmännische Art und ohne Beziehungen, außerdem ein
+abgetaner Mensch, der schon über die Reife hinaus und in Samen
+geschossen ist ... Und Rodion Romanowitsch, haben Sie nicht auch schon
+beobachtet, daß bei uns, das heißt bei uns in Rußland, und meistens in
+unseren Petersburger Kreisen, wenn zwei kluge Menschen zusammenkommen,
+die einander noch nicht gut kennen, aber sich sozusagen gegenseitig
+achten, wie wir jetzt zusammengekommen sind, so können sie kaum vor
+Ablauf einer halben Stunde ein Gesprächsthema finden, -- sie sitzen,
+starren einander an und genieren sich. Alle haben einen Gesprächsstoff,
+Damen zum Beispiel ... Leute aus der großen Welt zum Beispiel haben
+immer ein Thema zur Unterhaltung, _c'est de rigueur_{[8]}. Die Leute
+aber aus den mittleren Schichten, das heißt denkende Menschen, wie wir,
+-- sind alle verlegen und nicht gesprächig. Woher kommt das, Väterchen?
+Haben wir keine gemeinsamen Interessen, oder sind wir zu ehrlich und
+wollen einander nicht betrügen, ich weiß es nicht? Ah? Wie meinen Sie?
+Legen Sie doch bitte die Mütze fort, es sieht so aus, als wollten Sie
+gleich fortgehen, das ist wirklich peinlich ... Ich freue mich im
+Gegenteil sehr, daß Sie hier sind ...«
+
+Raskolnikoff legte die Mütze weg, verhielt sich aber schweigend und
+hörte ernst und mit düsterem Gesichte dem leeren und verworrenen
+Geschwätz von Porphyri Petrowitsch zu.
+
+»Will er tatsächlich mit seinem dummen Geschwätz meine Aufmerksamkeit
+ablenken?« dachte er.
+
+»Ich kann Ihnen leider keinen Kaffee anbieten, es geht hier nicht an;
+doch warum soll man sich nicht fünf Minuten mit einem guten Bekannten
+zerstreuen,« redete Porphyri Petrowitsch ohne Unterbrechung fort, »und
+wissen Sie, alle diese dienstlichen Pflichten ... aber seien Sie bitte,
+Väterchen, nicht böse, daß ich in einem fort auf und ab gehe;
+entschuldigen Sie, Väterchen, ich fürchte sehr, Sie zu kränken, Bewegung
+aber tut mir einfach nötig. Ich sitze die ganze Zeit und bin sehr froh,
+so fünf Minuten herumgehen zu können ... Hämorrhoiden ... ich will mich
+durch Gymnastik behandeln; man erzählt, daß Staatsräte, wirkliche
+Staatsräte und sogar Geheimräte, sehr gern ab und zu über die Schnur
+springen; ja, ja, die Wissenschaft in unserem Jahrhundert ... leistet
+viel ... Und diese dienstlichen Pflichten, Verhöre und diese ganzen
+Formalitäten ... Sie erwähnten, Väterchen, soeben etwas von Verhören ...
+ja, wissen Sie, Väterchen Rodion Romanowitsch, diese Verhöre verwirren
+zuweilen den Verhörer selbst mehr als den zu Verhörenden ... Das haben
+Sie, Väterchen, sehr richtig und witzig soeben bemerkt« (Raskolnikoff
+hatte gar keine derartige Bemerkung gemacht). -- »Man wird konfus!
+Wirklich, man wird konfus, und immer hat man ein und dasselbe, immer ein
+und dasselbe, es geht in einer Leier so fort! Die Reform ist im Anzuge,
+wir werden wenigstens einen anderen Titel erhalten, he--he--he! Und was
+unser Verfahren, über das Sie vorhin so gelungen sprachen, anbetrifft,
+so bin ich ganz Ihrer Meinung. Aber, sagen Sie bitte, welcher
+Angeklagte, und wäre es der dümmste Bauer, wüßte nicht, daß man zuerst
+anfängt, ihn durch nebensächliche Fragen einzuschläfern, wie Sie
+treffend bemerkten, um ihn dann plötzlich mit einem Schlage zu betäuben,
+he--he--he! ihn zu betäuben, nach Ihrem glücklichen Ausdruck!
+He--he--he! Also, Sie dachten tatsächlich, daß ich es bei Ihnen mit der
+Dienstwohnung versuchen wollte ... he, he! Sie sind ein spöttischer
+Mensch! Also, ich werde nicht mehr darüber reden! Ach ja, beiläufig, das
+eine Wort zieht ja das andere nach, und ein Gedanke ruft den andern, --
+Sie haben vorhin auch die gesetzliche Form erwähnt, wissen Sie, in bezug
+auf das Verhör ... Wozu denn eine gesetzliche Form? Die Form ist, wissen
+Sie, in vielen Fällen ein Unsinn. Manchesmal ist es vorteilhafter, in
+aller Freundschaft miteinander zu sprechen. Die Form läuft nie davon,
+darin gestatte ich mir Sie zu beruhigen; ja, und was ist eigentlich die
+Form, frage ich Sie? Die gesetzliche Form darf nicht bei jedem Schritt
+den Untersuchungsrichter hemmen. Die Arbeit eines Untersuchungsrichters
+ist doch sozusagen freie Kunst in ihrer Art, oder etwas Ähnliches ...
+he! he!«
+
+Porphyri Petrowitsch machte für einen kurzen Augenblick eine Pause. Er
+redete in einem fort, ohne zu ermüden, bald sinnloses und inhaltloses
+Zeug, bald machte er plötzlich rätselhafte Anspielungen und verlor sich
+von neuem in sinnloses Geschwätz. Er lief schon fast im Zimmer herum und
+bewegte immer schneller und schneller seine dicken kurzen Beine; blickte
+dabei die ganze Zeit zu Boden, hatte die rechte Hand auf dem Rücken und
+machte mit der linken allerhand Bewegungen, die jedesmal nur wenig mit
+seinen Worten übereinstimmten. Raskolnikoff bemerkte plötzlich, daß er
+ein paarmal neben der Tür stehen blieb und zu lauschen schien ...
+
+»Wartet er etwa auf etwas?« dachte er.
+
+»Und Sie sind vollkommen im Rechte,« begann von neuem Porphyri
+Petrowitsch und blickte heiter und mit ungewöhnlicher Treuherzigkeit
+Raskolnikoff an, was jenen zu vermehrter Achtsamkeit veranlaßte. »Sie
+haben tatsächlich recht, daß Sie über die Rechtsformen sich so lustig
+machen, he--he! Diese tiefsinnigen psychologischen Kunstgriffe -- einige
+natürlich nur -- sind äußerst lächerlich, ja und vielleicht nutzlos,
+wenn sie durch die gesetzliche Form zu sehr beschränkt sind. Ja ... ich
+komme wieder auf die gesetzliche Form zurück, -- also, wenn ich den
+einen oder den anderen sozusagen für den Verbrecher halte, oder besser
+gesagt, ihn im Verdacht habe, in irgendeiner mir übertragenen
+Angelegenheit ... Sie bereiten sich doch vor, Jurist zu werden, Rodion
+Romanowitsch?«
+
+»Ja, ich wollte es werden ...«
+
+»Nun, da möchte ich Ihnen sozusagen ein Beispiel für die Zukunft
+anführen, -- das heißt, glauben Sie nicht, daß ich es wage, Sie zu
+belehren, -- Sie lassen doch selber große Artikel über Verbrechen
+drucken! Nein, ich will Ihnen nur, als eine Tatsache, ein Beispiel
+erwähnen, -- also falls ich den einen oder den anderen für den
+Verbrecher halten sollte, fragt es sich, soll ich ihn vor der Zeit
+beunruhigen, wenn ich auch Beweise gegen ihn habe? Den einen muß ich zum
+Beispiel schneller verhaften, ein anderer aber hat einen ganz anderen
+Charakter, wirklich, -- warum soll man ihm denn nicht gestatten, in der
+Stadt herumzuspazieren -- he--he--he! Nein, ich sehe, daß Sie nicht ganz
+verstehn, ich will es Ihnen deutlicher erklären, -- wenn ich ihn zum
+Beispiel zu früh einsperre, so gebe ich ihm vielleicht dadurch eine
+moralische Stütze, sozusagen, he--he! Sie lachen?« (Raskolnikoff dachte
+gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Zähnen und
+wandte seinen glühenden Blick von den Augen Porphyri Petrowitschs nicht
+ab.) »Das kann bei dem einen Subjekt genau das richtige sein, denn die
+Menschen sind verschieden, und da muß vor allem die Praxis entscheiden.
+Sie werden jetzt einwenden -- und die Beweise! Ja, nehmen wir an, es
+sind Beweise da, aber Beweise haben doch meistenteils, Väterchen, zwei
+Seiten, und ich bin doch Untersuchungsrichter, also auch nur ein
+schwacher Mensch, und ich gestehe, daß ich die Untersuchung sozusagen
+mathematisch klarstellen möchte, und solch einen Beweis zu erbringen
+wünsche, daß es so klar wäre, wie zweimal zwei vier ist! Daß es einer
+klaren unbestreitbaren Tatsache gleiche! Wenn ich ihn aber vor der Zeit
+einsperre, -- und wäre ich fest überzeugt, daß er es ist, -- so kann ich
+mich selbst vielleicht der Mittel berauben, ihn weiter zu überführen,
+und warum? Weil ich ihm sozusagen eine bestimmte Lage gebe, ihn
+sozusagen psychologisch bestimme und festlege, und da wird er sich vor
+mir in seine Schale verkriechen, -- er wird endlich begreifen, daß er
+Gefangener ist. Man erzählt sich, daß kluge Leute in Sebastopol sofort
+nach der Schlacht bei Alma schreckliche Angst hatten, daß der Feind
+gleich darauf einen offenen Sturm auf Sebastopol machen und die Stadt
+einnehmen würde; als sie aber sahen, daß der Feind eine regelrechte
+Belagerung vorzog und die erste Parallele zog, da haben sich die klugen
+Leute ordentlich gefreut und sich beruhigt, -- die Sache zieht sich
+wenigstens noch zwei Monate hin, denn es dauert ein Endchen, ehe sie
+durch eine regelrechte Belagerung die Stadt einnehmen können. Sie lachen
+wieder, Sie glauben wieder nicht? Sie sind selbstverständlich auch im
+Recht. Sie sind im Recht, Sie sind im Recht! Ich bin mit Ihnen
+einverstanden, es sind alles Einzelfälle; der angeführte Fall steht
+tatsächlich vereinzelt da! Aber sehen Sie, lieber Rodion Romanowitsch,
+man muß dabei folgendes nicht außer acht lassen, -- es gibt doch keinen
+allgemeinen Fall, einen solchen, auf den alle rechtlichen Formen und
+Regeln passen, nach dem sie berechnet und in Bücher eingetragen sind,
+aus dem bloßen Grunde, weil jede Tat, jedes Verbrechen, zum Beispiel
+sofort, kaum daß es in Wirklichkeit geschehen ist, sich in einen
+vollkommenen Einzelfall verwandelt und zuweilen in einen solchen, der
+einem früheren ganz und gar nicht ähnlich ist. Zuweilen passieren in
+dieser Hinsicht ganz komische Sachen. Wenn ich nun einen Herrn ganz
+allein lasse, ihn nicht festnehme und nicht beunruhige, aber er soll
+jede Stunde und jeden Augenblick wissen oder wenigstens ahnen, daß ich
+alles weiß, sein ganzes Geheimnis, Tag und Nacht ihn beobachten lasse,
+über ihn rastlos wache, und wenn er sich bewußt unter ewigem Verdachte
+und in ewiger Angst fühlt, -- bei Gott, da wird er nicht aus und ein
+wissen, er wird tatsächlich selbst kommen und wird vielleicht noch etwas
+tun, was dem Zweimalzwei bestimmt ähnlich sein wird, was sozusagen wie
+ein mathematisches Exempel aussieht, -- und das ist sehr angenehm. Das
+kann auch mit einem plumpen Bauern geschehen, aber um so mehr mit
+unsereinem, einem modern gebildeten und nach einer bestimmten Richtung
+entwickelten Menschen! Denn, mein Lieber, es ist sehr wichtig zu wissen,
+in welcher Richtung ein Mensch entwickelt ist. Und die Nerven, die
+Nerven, die haben Sie ganz vergessen! Die sind doch heutzutage krank,
+schlecht und gereizt! ... Und die Galle, -- wieviel Galle sie alle
+haben! Das ist ja, will ich Ihnen nur sagen, in manchen Fällen eine
+Fundgrube in ihrer Art! Und warum soll ich beunruhigt sein, daß er
+ungefesselt in der Stadt herumgeht? Mag er, mag er vorläufig spazieren
+gehen; ich weiß auch ohnedem, daß er mein Opfer ist und niemals von mir
+fortläuft! Ja, und wohin soll er auch fliehen, he--he! Ins Ausland etwa?
+Ein Pole wird ins Ausland fliehen, aber nicht er, um so mehr, da ich ihn
+beobachte und Maßregeln ergriffen habe. Soll er ins Innere des
+Vaterlandes etwa fliehen? Dort leben aber Bauern, echte, ungewaschene
+Russen; da wird ein modern entwickelter Mensch eher das Gefängnis
+vorziehen, als mit solchen Ausländern, wie es unsere Bauern sind, leben,
+he--he--he! Aber das ist Unsinn, sind reine Äußerlichkeiten. Was heißt,
+-- er wird fliehen! Das ist formell gemeint, es ist nicht die
+Hauptsache; er wird mir nicht entfliehen, nicht, weil er nirgends
+hinfliehen könnte, -- er wird mir _psychologisch_ nicht entfliehen,
+he--he! Was sagen Sie zu dem Ausdruck? Er wird dem Naturgesetze nach mir
+nicht entfliehen, wenn er auch irgendwohin fliehen könnte. Haben Sie
+einen Schmetterling vor einem Lichte gesehen? Nun, er wird auch so die
+ganze Zeit um mich, wie um ein Licht, herumflattern; die Freiheit wird
+ihm unlieb werden, er wird nachdenklich werden, sich verwirren, sich
+selbst wie in ein Netz verwickeln und sich zu Tode zappeln! ... Nicht
+das allein, -- er wird mir selbst irgendein mathematisches Exempel, wie
+Zweimalzwei, bringen, -- wenn ich ihm bloß genügend Zeit dazu lasse ...
+Und er wird die ganze Zeit, wird die ganze Zeit mich umkreisen und immer
+kleinere und kleinere Kreise ziehen und -- bardautz! Er wird mir direkt
+in den Mund fliegen und ich werde ihn verschlucken, und das ist aber
+sehr angenehm, he--he--he! Sie glauben nicht?«
+
+Raskolnikoff antwortete nicht, er saß bleich und unbeweglich und sah die
+ganze Zeit Porphyri Petrowitsch starr ins Gesicht.
+
+»Die Lehre ist gut!« dachte er erschauernd. »Das ist nicht mehr ein
+Spiel, wie die Katze mit der Maus, wie es gestern der Fall war. Und er
+zeigt mir doch nicht nutzlos seine Macht und ... souffliert mir; er ist
+dazu zu klug ... Er verfolgt einen anderen Zweck, aber was für einen?
+He, es ist Unsinn, Bruder, du willst mir nur Furcht einjagen und spielst
+den Schlauen! Du hast keine Beweise und der Mann von gestern existiert
+gar nicht! Du willst mich bloß verwirren, vorzeitig reizen und in diesem
+Zustande auf mich losschlagen, aber nein, du schlägst vorbei! Aber
+warum, warum souffliert er mir in dieser Weise? ... Rechnet er etwa mit
+meinen kranken Nerven! ... Nein, Bruder, das wird dir nicht gelingen,
+obwohl du etwas vorbereitet hast ... Nun, wollen wir mal sehen, was du
+da vorbereitet hast.«
+
+Und er nahm alle Kräfte zusammen, um sich auf eine furchtbare und
+unbekannte Katastrophe gefaßt zu machen. Zuweilen fühlte er einen
+heftigen Drang, sich auf Porphyri Petrowitsch zu stürzen und ihn auf der
+Stelle zu erwürgen. Als er hereintrat, fürchtete er sich vor dieser Wut.
+Er fühlte, daß seine Lippen trocken waren, sein Herz klopfte und daß der
+Schaum vor dem Munde eingetrocknet war. Er beschloß trotzdem zu
+schweigen. Er begriff, daß das die beste Taktik in seiner Situation sei,
+weil er nicht bloß keine Gelegenheit hatte, sich zu versprechen, sondern
+im Gegenteil durch sein Schweigen den Gegner reizen konnte, und jener
+vielleicht noch sich selbst verraten würde. Er hoffte wenigstens darauf.
+
+»Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sie meinen, daß ich Ihnen
+unschuldige Späße erzähle,« sagte Porphyri Petrowitsch, indem er
+lustiger wurde, vor Vergnügen ununterbrochen kicherte und wieder im
+Zimmer herumwanderte. »Sie haben selbstverständlich ein Recht dazu. Gott
+hat mir so eine Gestalt verliehen, daß sie nur lächerliche Gedanken bei
+anderen erregt; bin der Possenreißer, aber ich will nur eins sagen und
+wiederhole noch einmal, entschuldigen Sie mich alten Mann, Väterchen
+Rodion Romanowitsch, -- Sie sind noch ein junger Mann, sozusagen in der
+Jugendblüte, und schätzen darum am höchsten, wie überhaupt die Jugend,
+den menschlichen Verstand. Schärfe des Verstandes und abstrakte
+Vernunftschlüsse ziehen Sie an. Das ist genau, wie mit dem früheren
+österreichischen Hofkriegsrat, soweit ich über Kriegsereignisse urteilen
+kann, -- auf dem Papier hatten sie Napoleon geschlagen und gefangen
+genommen, haben in ihrem Arbeitszimmer alles in der scharfsinnigsten
+Weise ermessen und berechnet, und zuguterletzt ergibt sich General Mack
+mit seiner ganzen Armee, he--he--he! Ich sehe, ich sehe, Väterchen
+Rodion Romanowitsch, Sie lachen über mich, daß so ein Zivilist, wie ich,
+Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführt. Ja, was soll ich tun, ich
+habe einmal diese Schwäche, liebe alles Militärische und lese sehr gern
+alle diese Kriegsrelationen ... ich habe entschieden in der Wahl meines
+Berufes gefehlt. Ich sollte als Militär dienen, gewiß, zum Napoleon
+hätte ich es nicht gebracht, höchstens bis zum Major, he--he--he! Nun,
+ich will Ihnen jetzt die volle Wahrheit in bezug auf _den Einzelfall_
+sagen, mein Lieber. Wirklichkeit und Natur, mein Herr, sind wichtige
+Dinge und machen zuweilen die allerglänzendste Berechnung zuschanden!
+He, hören Sie auf mich, einen alten Mann, ich spreche im Ernst. Rodion
+Romanowitsch,« -- (indem er dies sagte, schien der kaum
+fünfunddreißigjährige Porphyri Petrowitsch tatsächlich gealtert zu sein,
+-- sogar seine Stimme hatte sich verändert und sie schien wie verfallen)
+-- »und außerdem bin ich aufrichtig ... Bin ich nicht aufrichtig? Was
+meinen Sie? Mir scheint, ich bin es im vollen Maße, -- teile Ihnen
+solche Dinge umsonst mit, und verlange dafür gar keine Belohnung,
+he--he--he! Nun, also, ich fahre fort, -- Scharfsinn ist meiner Meinung
+nach ein prächtiges Ding; er ist sozusagen eine Zierde der Natur und ein
+Trost des Lebens, und kann solche Kunststücke produzieren, daß zuweilen
+ein armer Untersuchungsrichter beim besten Willen sie nicht erraten
+kann, der zudem von seiner eigenen Phantasie geleitet wird, wie es oft
+genug vorkommt, denn er ist auch nur ein Mensch! Aber die Natur hilft
+dem armen Untersuchungsrichter, das ist das Unglück! Daran aber denkt
+die von ihrem Scharfsinn hingerissene Jugend nicht, >die über alle
+Hindernisse hinwegschreitet<, -- wie Sie sich scharfsinnig und trefflich
+auszudrücken beliebten. Er wird -- nehmen wir es an -- lügen, das heißt,
+der Mensch, _der Einzelfall_, der Inkognito, und wird ausgezeichnet und
+in der schlauesten Weise lügen; nun müßte er, sollte man meinen,
+triumphieren und die Früchte seines Scharfsinnes genießen, aber es kommt
+ein Krach, -- bei der interessantesten, skandalösesten Stelle fällt er
+in Ohnmacht. Angenommen, es kann von Krankheit und zuweilen von der
+dumpfen Luft in einem Zimmer kommen, aber trotzdem! Trotzdem ist der
+Gedanke gegeben! Er hat unvergleichlich gelogen, hat aber nicht
+verstanden, mit der Natur zu rechnen. Darin aber lag die Tücke! Ein
+anderes Mal läßt er sich von der Lebhaftigkeit seines Scharfsinnes
+hinreißen, beginnt einen Menschen, der ihn im Verdacht hat, zum Narren
+zu halten, erbleicht, wie absichtlich, wie im Scherze, aber erbleicht
+_schon zu natürlich_, so daß es zu sehr wirklichem Erbleichen gleicht,
+und wieder ist der Gedanke gegeben! Wenn ihm auch der Betrug zum ersten
+Male gelingt, aber über Nacht denkt jener nach und überlegt es sich
+anders, wenn er nicht dumm ist. Und so geschieht es auf Schritt und
+Tritt! Das ist noch nichts, -- er beginnt sich selbst vorzudrängen,
+beginnt sich hineinzumischen, wo man ihn nicht fragt, spricht in einem
+fort über Dinge, über die er im Gegenteil schweigen müßte, läßt
+allerhand Allegorien vom Stapel, he--he!, kommt selbst und fragt, warum
+man ihn so lange nicht festnimmt, he--he--he! und das kann auch mit dem
+scharfsinnigsten Menschen, mit einem Psychologen und Literaten,
+passieren! Die Natur ist ein Spiegel, der durchsichtigste Spiegel! Sieh
+hinein und betrachte dich, ja so ist es! Ja, warum sind Sie so blaß
+geworden, Rodion Romanowitsch, ist es für Sie hier zu dumpf, soll ich
+nicht das Fenster aufmachen?«
+
+»Oh, bemühen Sie sich, bitte, nicht,« -- rief Raskolnikoff aus und
+lachte plötzlich laut, -- »bitte, bemühen Sie sich nicht.«
+
+Porphyri Petrowitsch blieb vor ihm stehen, wartete eine Weile und
+stimmte dann in das Lachen ein. Raskolnikoff erhob sich vom Diwan und
+brach plötzlich seinen Lachanfall ab.
+
+»Porphyri Petrowitsch!« -- sagte er laut und deutlich, obwohl er kaum
+auf den zitternden Füßen stehen konnte, -- »ich sehe endlich klar, daß
+Sie mich positiv im Verdacht haben, diese Alte und ihre Schwester
+Lisaweta ermordet zu haben. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß ich all
+dessen längst überdrüssig bin. Wenn Sie finden, daß Sie ein Recht haben,
+mich gesetzlich zu verfolgen, so verfolgen Sie mich, zu arretieren, so
+arretieren Sie mich. Aber ich erlaube nicht, daß man mir ins Gesicht
+lacht und mich quält ...«
+
+Seine Lippen zitterten plötzlich, die Augen loderten vor Wut und die bis
+jetzt gemäßigte Stimme schwoll an. »Ich erlaube es nicht!« rief er
+plötzlich und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch, --
+»hören Sie, Porphyri Petrowitsch? Ich erlaube es nicht!«
+
+»Ach, mein Gott, was ist Ihnen!« rief Porphyri Petrowitsch, offenbar
+völlig erschreckt; -- »Väterchen! Rodion Romanowitsch! Lieber! Was ist
+mit Ihnen?«
+
+»Ich erlaube es nicht!« -- rief Raskolnikoff noch einmal.
+
+»Leise, Väterchen! Man könnte es hören und herkommen! Und, was wollen
+wir ihnen dann sagen, bedenken Sie!« -- flüsterte Porphyri Petrowitsch
+entsetzt und näherte sein Gesicht dem Raskolnikoffs.
+
+»Ich erlaube es nicht, ich erlaube es nicht!« -- wiederholte
+Raskolnikoff mechanisch, aber plötzlich ganz leise.
+
+Porphyri Petrowitsch wandte sich schnell um und lief, um das Fenster zu
+öffnen.
+
+»Frische Luft hereinlassen! und etwas Wasser müssen Sie trinken, mein
+Lieber, es ist ja ein Anfall!« -- und er wollte zur Türe stürzen, um
+nach Wasser zu schicken, fand jedoch hier selbst in einer Ecke eine
+volle Karaffe.
+
+»Da, Väterchen, trinken Sie,« -- flüsterte er, mit der Karaffe zu ihm
+eilend, -- »vielleicht hilft es ...«
+
+Die Angst und selbst die Teilnahme von Porphyri Petrowitsch waren so
+natürlich, daß Raskolnikoff verstummte und mit Neugier ihn betrachtete.
+Das Wasser nahm er nicht an.
+
+»Rodion Romanowitsch! Lieber! Ja, in dieser Weise werden Sie noch den
+Verstand verlieren, ich versichere Sie! Ach! Trinken Sie! Trinken Sie
+wenigstens etwas!«
+
+Er zwang ihn doch, das Glas Wasser in die Hand zu nehmen. Raskolnikoff
+führte es mechanisch an die Lippen, besann sich aber und stellte es mit
+Widerwillen auf den Tisch.
+
+»Ja, Sie haben einen kleinen Anfall gehabt! In dieser Weise werden Sie,
+mein Lieber, wieder, wie früher schon, krank,« -- begann mit
+freundschaftlicher Teilnahme Porphyri Petrowitsch, und anscheinend noch
+fassungslos. -- »Mein Gott! Ja, wie kann man sich so wenig schonen?
+Gestern war Dmitri Prokofjitsch bei mir gewesen, -- ich gebe zu, ich
+habe einen schlimmen, böswilligen Charakter, -- aber was sie alles für
+Schlüsse daraus ziehen ... Mein Gott! Er kam gestern zu mir, als Sie
+fortgegangen waren, wir saßen beim Mittagessen, er redete und redete,
+ich staunte bloß ... kam er etwa in Ihrem Auftrage? Ja, so setzen Sie
+sich doch, Väterchen, nehmen Sie Platz um Christi willen!«
+
+»Nein, er kam nicht in meinem Auftrage! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen
+gehen und warum er zu Ihnen gehen würde,« -- antwortete Raskolnikoff
+scharf.
+
+»Sie wußten es?«
+
+»Ich wußte es. Nun, was ist denn dabei?«
+
+»Ja, Väterchen, Rodion Romanowitsch, ich weiß noch ganz andere Dinge von
+Ihnen; ich weiß alles! Ich weiß auch, wie Sie, als es dunkelte, in der
+Nacht _eine Wohnung zu mieten_ gingen, an der Glocke klingelten, und
+nach dem Blut fragten, und die Arbeiter und die Hausknechte verwirrt
+machten. Ich verstehe auch Ihre damalige Seelenstimmung ... aber Sie
+werden sich in dieser Weise um den Verstand bringen, bei Gott! Werden
+zugrundegehen! Eine starke, edle Entrüstung kocht in Ihnen gegen die
+empfangenen Kränkungen, zuerst vom Schicksal, dann von den
+Polizeibeamten, darum stürzen Sie auch hierhin und dorthin, um sozusagen
+schneller alle zum Sprechen zu bringen, und um allem mit einem Male ein
+Ende zu machen, denn dieser Unsinn und dieser ganze Verdacht ist Ihnen
+zum Überdruß. Ist es nicht so? Habe ich die Stimmung erraten? ... Und in
+dieser Weise werden Sie nicht allein zugrunde gehen, sondern ziehen auch
+unseren Rasumichin hinein, er ist doch dafür ein _zu guter_ Mensch, Sie
+wissen es ja selbst. Bei Ihnen ist es eine Krankheit, bei ihm Tugend ...
+die Krankheit könnte auch ihn anstecken ... Ich will Ihnen, Väterchen,
+wenn Sie sich beruhigt haben, etwas erzählen ... aber setzen Sie sich
+doch um Christi willen, Väterchen! Bitte, ruhen Sie sich aus, Sie sehen
+blaß aus, ja, setzen Sie sich doch!« Raskolnikoff setzte sich hin, das
+Zittern ging vorüber, und sein ganzer Körper begann zu glühen. Mit
+tiefem Erstaunen und aufmerksam hörte er dem erschrockenen und
+freundschaftlich um ihn bemühten Porphyri Petrowitsch zu. Aber er
+glaubte keinem einzigen seiner Worte, obwohl er eine seltsame Neigung
+empfand zu glauben. Die unerwarteten Worte Porphyri Petrowitsch' über
+die Wohnung hatten ihn äußerst bestürzt. -- »Wie, er weiß also von der
+Wohnung?« -- dachte er plötzlich, -- »und erzählt es mir selbst!«
+
+»Ja, in unserer Gerichtspraxis gab es einmal einen fast ähnlichen Fall,
+auch einen psychopathischen, krankhaften Fall,« -- fuhr Porphyri
+Petrowitsch schnell fort, -- »da hat auch einer einen Mord sich
+zugedichtet und wie, -- eine ganze Halluzination führte er an, brachte
+Tatsachen, erzählte einzelne Umstände, verwirrte alle und machte jeden
+konfus, und aus welchem Grunde? Er selbst war völlig ohne Absicht und
+Wissen mit die Ursache an dem Morde, und als er erfuhr, daß er den
+Mördern Veranlassung zu ihrer Tat gegeben hatte, wurde er schwermütig
+und tiefsinnig, hatte Erscheinungen, verlor ganz den Verstand und
+bildete sich ein, daß er selbst der Mörder sei! Aber der Senat klärte
+schließlich die Sache auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und
+in Pflege gegeben. Dank dem Senate! Ach, ja, ja! Ja, wie soll es mit
+Ihnen enden, Väterchen? In dieser Weise kann man leicht an Nervenfieber
+erkranken, wenn man solche Anwandlungen hat, seine Nerven zu reizen,
+nachts die Klingel zu ziehen und nach Blut zu fragen! Ich habe diese
+ganze Psychologie in der Praxis studiert. In dieser Weise packt es einen
+Menschen zuweilen, aus dem Fenster oder von einem Turme zu springen, und
+es ist eine verführerische Empfindung. Ebenso ist es auch mit dem
+Klingelziehen ... Es ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, Sie sind
+krank! Sie vernachlässigen Ihre Krankheit zu sehr. Sie sollten zu einem
+erfahrenen Arzt hingehen, der Dicke kann Ihnen doch nicht viel nützen!
+... Sie haben Fieberwahn! Sie tun alles nur im Fieberwahne! ...«
+
+Auf einen Augenblick drehte sich alles vor Raskolnikoffs Augen.
+
+»Ist es möglich,« -- schwirrte es in seinem Kopfe, -- »ist es möglich,
+daß er auch jetzt lügt? Es ist undenkbar, unmöglich!« -- er stieß diesen
+Gedanken von sich, da er fühlte, in welchen Grad von Zorn und Raserei
+ihn derselbe bringen müßte, und daß er vor Wut den Verstand verlieren
+könne.
+
+»Das war nicht im Fieberwahn, das war im wachen Zustande!« -- rief er
+aus und spannte alle Kräfte seines Verstandes an, um das Spiel Porphyri
+Petrowitsch' zu durchschauen. -- »Im wachen Zustande, bei vollem
+Verstande! Hören Sie?«
+
+»Ja, ich verstehe und höre es! Sie sagten auch gestern, daß es nicht im
+Fieberwahne war, Sie betonten sogar, daß es nicht im Fieberwahne war!
+Ich begreife alles, was Sie sagen! Ach! ... Hören Sie doch, Rodion
+Romanowitsch, mein lieber Mensch, ziehen Sie doch diesen Umstand in
+Erwägung. Wenn Sie tatsächlich in dieser verfluchten Sache schuldig oder
+irgendwie darin verwickelt wären, würden Sie dann -- ich bitte Sie --
+selbst betonen, daß Sie dies alles nicht im Fieberwahne, sondern im
+Gegenteil bei vollem Verstande getan haben? Und es ganz besonders
+betonen, mit einer besonderen Hartnäckigkeit es betonen, -- wäre es denn
+möglich, wäre es denkbar, ich bitte Sie? Meiner Meinung nach würden Sie
+das Gegenteil behaupten. Wenn Sie kein reines Gewissen hätten, so müßten
+Sie unbedingt betonen, -- daß Sie es unbedingt im Fieberwahne getan
+haben! Ist es nicht so? Meine Annahme ist doch richtig?«
+
+Etwas Heimtückisches klang in dieser Frage. Raskolnikoff wich vor
+Porphyri Petrowitsch zurück, der sich zu ihm gebeugt hatte, und
+betrachtete ihn schweigend, starr und voller Zweifel.
+
+»Oder nehmen wir den Fall mit Rasumichin, das heißt, ob er gestern aus
+freien Stücken kam zu sprechen, oder ob Sie ihn dazu gebracht haben? Ja,
+Sie müßten unbedingt gesagt haben, daß er aus eigenem Antriebe gekommen
+war, und verheimlichen, daß er es in Ihrem Auftrage getan hat! Sie aber
+verheimlichen es nicht! Sie betonen gerade, daß er in Ihrem Auftrage
+hier gewesen war!«
+
+Raskolnikoff hatte es niemals betont. Ein Schauer durchzog seinen
+Rücken.
+
+»Sie lügen wieder,« -- sagte er langsam und schwach, und seine Lippen
+verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln, -- »Sie wollen mir wieder
+zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel kennen und alle meine Antworten im
+voraus wissen,« -- sagte er und fühlte selbst nicht, daß er seine Worte
+nicht mehr genügend erwog, -- »Sie wollen mir Furcht einjagen ... oder
+Sie lachen einfach über mich ...«
+
+Er fuhr fort, ihn starr anzusehen, als er dies sagte, und wieder
+leuchtete eine grenzenlose Wut in seinen Augen auf.
+
+»Sie lügen alles!« -- rief er aus. -- »Sie wissen selbst ausgezeichnet,
+daß der beste Ausweg für einen Verbrecher ist, nach Möglichkeit nichts
+zu verheimlichen, was man nicht verheimlichen kann. Ich glaube Ihnen
+nicht!«
+
+»Wie spitzfindig Sie sind!« -- kicherte Porphyri Petrowitsch, -- »man
+wird mit Ihnen, Väterchen, nicht fertig; eine Art Monomanie steckt tief
+in Ihnen. Also, Sie glauben mir nicht? Ich sage Ihnen aber, daß Sie mir
+schon glauben, daß Sie mir schon zu einem Viertel glauben, und ich will
+mein Möglichstes tun, daß Sie mir noch ganz und gar glauben werden, denn
+ich habe Sie wirklich gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.«
+
+Raskolnikoffs Lippen bebten.
+
+»Ja, ich wünsche Ihnen Gutes, sage ich Ihnen noch einmal,« -- fuhr er
+fort, und faßte Raskolnikoff leicht und freundschaftlich am Arm, ein
+wenig über dem Ellbogen, -- »ich will es Ihnen auch noch einmal sagen,
+-- achten Sie auf Ihre Krankheit. Außerdem sind auch Ihre allernächsten
+Verwandten jetzt angekommen; denken Sie auch an die. Sie sollen sie
+pflegen und hüten, und Sie erschrecken sie bloß ...«
+
+»Was geht das Sie an? Woher wissen Sie es? Warum interessieren Sie sich
+in dieser Weise für mich? Also, Sie beobachten mich und wollen es mir
+zeigen?«
+
+»Väterchen! Ich habe es doch von Ihnen, von Ihnen selbst erfahren! Sie
+merken nicht mal, daß Sie in Ihrer Erregung mir selbst alles und anderen
+auch erzählen. Auch von Dmitri Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern
+viele interessante Details erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen,
+ich sage aber, daß Sie durch Ihren Argwohn, trotz Ihres ganzen
+Scharfsinnes, den gesunden Blick für die Dinge verlieren. Nun, nehmen
+wir, zum Beispiel, wieder das Klingelziehen, -- solch eine Krankheit,
+diese Tatsache, -- es ist doch eine ganze Tatsache, -- liefere ich Ihnen
+ohne weiteres aus, ich, der Untersuchungsrichter! Und Sie sehen darin
+gar nichts? Nun, sagen Sie, wenn ich nur einen kleinen Verdacht auf Sie
+hätte, würde ich so handeln können? Ich müßte im Gegenteil Ihren Argwohn
+zuerst einschläfern und nicht mal zeigen, daß ich diese Tatsache schon
+kenne, ich müßte Sie in entgegengesetzter Richtung ablenken, um Sie
+plötzlich, wie mit einem Schlage auf den Kopf, mit der Frage zu
+betäuben, -- >was suchten Sie -- würde ich fragen, -- um zehn Uhr
+abends, oder es kann auch elf Uhr gewesen sein, in der Wohnung der
+Ermordeten? Warum haben Sie an der Klingel gezogen? Und warum fragten
+Sie nach dem Blute? Warum machten Sie die Hausknechte konfus und
+forderten sie auf, auf das Polizeibureau, zum Revieraufseher,
+mitzugehen?< Sehen Sie, in dieser Weise müßte ich handeln, wenn ich den
+winzigsten Verdacht gegen Sie hätte. Ich müßte Sie in aller Form
+verhören, eine Haussuchung bei Ihnen vornehmen und Sie möglicherweise
+auch arretieren ... Also kann ich doch keinen Verdacht gegen Sie hegen,
+wenn ich anders gehandelt habe! Sie haben aber den gesunden Blick
+verloren und sehen gar nichts, wiederhole ich!«
+
+Raskolnikoff zuckte zusammen, so daß Porphyri Petrowitsch es zu deutlich
+bemerkte.
+
+»Sie lügen alles!« -- rief er aus, -- »ich kenne Ihre Absichten nicht,
+aber Sie lügen ... Vorhin haben Sie nicht in diesem Sinne gesprochen und
+ich kann mich nicht irren ... Sie lügen!«
+
+»Ich lüge?« -- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch, sich scheinbar
+ereifernd, behielt jedoch das lustigste und spöttischste Aussehen bei,
+als kümmerte es ihn wenig, welch eine Meinung Herr Raskolnikoff über ihn
+habe. -- »Ich lüge? ... Und wie habe ich vorhin Ihnen gegenüber
+gehandelt, ich, der Untersuchungsrichter? Ich habe Ihnen selbst alle
+Mittel zur Verteidigung genannt und ausgeliefert, habe selbst Ihnen die
+ganze Psychologie erklärt, habe Krankheit, Fieberwahn, Kränkungen,
+Melancholie und Polizeibeamte und dergleichen mehr erwähnt! Ah!
+He--he--he! Obwohl -- nebenbei gesagt, -- alle diese psychologischen
+Mittel zur Verteidigung, Ausflüchte und Ausreden äußerst unstichhaltig
+sind und zwei Seiten haben. >Ich war krank, hatte Fieberträume, war im
+Wahne, erinnere mich nicht<, -- alle diese Ausreden sind ja richtig,
+aber es fragt sich, Väterchen, warum in der Krankheit und im Fieberwahne
+immer solche Vorstellungen auftauchen und nicht andere? Es können einem
+doch auch andere Vorstellungen erscheinen? Ist es nicht so? He--he--he!«
+
+Raskolnikoff blickte ihn stolz und voll Verachtung an.
+
+»Mit einem Worte,« -- sagte er laut und eindringlich, indem er aufstand
+und dabei Porphyri Petrowitsch ein wenig zur Seite stieß -- »mit einem
+Worte, ich will endgültig wissen, ob Sie mich frei von jedem Verdacht
+finden oder _nicht_? Sagen Sie es, Porphyri Petrowitsch, sagen Sie es
+mir positiv, endgültig, und schnell, sofort!«
+
+»Das ist eine Geschichte! Ist das eine Plage mit Ihnen,« -- rief
+Porphyri Petrowitsch mit vollkommen lustiger, schlauer und gar nicht
+bewegter Miene, -- »ja, wozu wollen Sie es wissen, wozu wollen Sie so
+vieles wissen, wenn man noch nicht einmal begonnen hat, Sie in
+irgendeiner Weise zu belästigen? Sie sind wie ein Kind, dem man Feuer in
+die Hand geben soll! Warum beuunruhigen Sie sich in dieser Weise? Warum
+drängen Sie sich uns auf, aus welchen Gründen? Ah? He--he--he!«
+
+»Ich wiederhole Ihnen,« -- rief Raskolnikoff in blinder Wut, -- »daß ich
+es länger nicht ertragen kann ...«
+
+»Was denn? Die Ungewißheit?« -- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch.
+
+»Höhnen Sie nicht! Ich will es nicht haben! Ich sage Ihnen, ich will es
+nicht! ... Ich kann und will es nicht! ... Hören Sie! Hören Sie!« --
+rief er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch.
+
+»Stiller, leiser! Man könnte es hören! Ich warne Sie in allem Ernst, --
+schonen Sie sich. Ich scherze nicht!« -- sagte Porphyri Petrowitsch im
+Flüstertone, aber diesmal lag in seinem Gesichte nicht mehr der frühere
+weibisch gutmütige und erschrockene Ausdruck; im Gegenteil, er _befahl_
+es streng, mit zusammengezogenen Augenbrauen und ließ alle
+Geheimnistuerei und Zweideutigkeit fallen. Das dauerte jedoch nur einen
+kurzen Augenblick. Der bestürzte Raskolnikoff geriet in die höchste Wut,
+und doch, merkwürdig, -- wie hypnotisiert gehorchte er wieder dem
+Befehle, leiser zu sprechen.
+
+»Ich lasse mich nicht quälen!« -- flüsterte er, wie vorhin, indem er
+sofort voll Schmerz und Haß einsah, daß er dem Befehle gehorchen mußte,
+und geriet bei diesem Gedanken in immer größere Wut, -- »arretieren Sie
+mich, lassen Sie bei mir Haussuchung halten, aber handeln Sie nach
+gesetzlicher Form und spielen Sie nicht mit mir! Wagen Sie es nicht ...«
+
+»So regen Sie sich doch nicht wieder wegen der gesetzlichen Form auf,«
+-- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch mit dem früheren schlauen Lächeln
+und betrachtete scheinbar Raskolnikoff mit Vergnügen, -- »Väterchen, ich
+habe Sie doch in aller Gemütlichkeit, in aller Freundschaft eingeladen!«
+
+»Ich will nicht Ihre Freundschaft, ich pfeife darauf! Hören Sie? Und
+jetzt nehme ich meine Mütze und gehe fort. Nun, was willst du jetzt
+sagen, wenn du mich arretieren willst?«
+
+Er nahm seine Mütze und ging zu der Türe.
+
+»Wollen Sie nicht noch die Überraschung sehen, die ich für Sie habe?«
+kicherte Porphyri Petrowitsch, faßte ihn wieder am Arme und hielt ihn an
+der Türe zurück. Er wurde sichtlich wieder lustiger und lebhafter, was
+Raskolnikoff ganz außer sich brachte.
+
+»Was für eine Überraschung? Was ist es?« -- fragte er, stehen bleibend
+und Porphyri Petrowitsch erschreckt anblickend.
+
+»Die Überraschung sitzt hier hinter der Türe, he--he--he!« -- er zeigte
+mit dem Finger auf die verschlossene Tür in der Scheidewand, die in
+seine Amtswohnung führte. -- »Ich habe sie dort eingeschlossen, damit
+sie nicht fortläuft.«
+
+»Was sagen Sie? Wo? Was? ...« -- Raskolnikoff trat an die Türe und
+wollte sie öffnen, jedoch sie war verschlossen.
+
+»Sie ist verschlossen, den Schlüssel habe ich!«
+
+Und er zog aus seiner Tasche einen Schlüssel hervor und zeigte ihn ihm.
+
+»Du lügst!« -- schrie Raskolnikoff, ohne sich noch einen weiteren Zwang
+aufzuerlegen,-- »du lügst, verfluchter Hanswurst!« Er stürzte sich auf
+Porphyri Petrowitsch, der sich zwar zur Türe zurückgezogen hatte, aber
+keineswegs aus Furcht.
+
+»Ich merke alle deine Absichten, alle! -- Du lügst und neckst mich,
+damit ich mich verraten soll.«
+
+»Ja, mehr kann man sich doch nicht verraten, als Sie es tun, Väterchen
+Rodion Romanowitsch. -- Sie haben ja einen Anfall von Tobsucht. Schreien
+Sie nicht so, ich rufe sonst nach Hilfe.«
+
+»Du lügst, nichts wird geschehen! Rufe deine Leute! Du weißt, daß ich
+krank bin und willst mich wütend machen, damit ich mich verraten soll,
+das ist deine Absicht! Nein, zeige mir Tatsachen! Ich habe alles
+begriffen! Ich weiß, du hast keine Tatsachen, du hast bloß elende,
+nichtige Vermutungen von Sametoff! ... Du kanntest meinen Charakter,
+wolltest mich in rasende Wut bringen, und dann mich plötzlich mit
+Priestern und Delegierten überrumpeln ... Du wartest auf sie? Ah! Was
+wartest du? Wo? komm doch mit ihnen!«
+
+»Was für Delegierte sollte ich haben, Väterchen? Was dem Menschen nicht
+alles einfällt! In dieser Weise kann man doch gar nicht nach der
+gesetzlichen Form handeln, wie Sie meinen, Sie kennen diesen
+gesetzlichen Weg überhaupt nicht, mein Lieber ... Die gesetzliche Form
+läuft nicht davon, Sie werden es noch selbst sehen ... --« murmelte
+Porphyri Petrowitsch und lauschte an der Türe.
+
+In diesem Augenblicke hörte man wirklich im anderen Zimmer in der Nähe
+der Türe einen Lärm.
+
+»Ah, sie kommen!« -- rief Raskolnikoff aus, -- »du hast nach ihnen
+geschickt! ... Die hast du erwartet! Hast auf sie gerechnet ... Nun,
+komme mit ihnen allen, mit den Delegierten, Zeugen ... komme mit was du
+willst! Ich bin bereit! Bin bereit!«
+
+Aber in diesem Momente trat ein merkwürdiges Ereignis ein, für den
+gewöhnlichen Gang der Dinge so unerwartet, daß weder Raskolnikoff noch
+Porphyri Petrowitsch einen solchen Ausgang erwartet hatte.
+
+
+ VI.
+
+Raskolnikoffs Erinnerung an diesen Moment war in späterer Zeit folgende:
+
+Das Geräusch hinter der Türe verstärkte sich und die Türe wurde ein
+wenig geöffnet.
+
+»Was soll das?« -- rief Porphyri Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch
+gesagt ...«
+
+Einen kurzen Augenblick erfolgte keine Antwort, jedoch man merkte, daß
+hinter der Türe einige Leute standen, die jemanden zurückzuhalten
+schienen.
+
+»Was ist denn los?« -- wiederholte Porphyri Petrowitsch beunruhigt.
+
+»Man hat den Arrestanten Nikolai gebracht,« -- ertönte eine Stimme.
+
+»Es ist nicht nötig! Fort mit ihm! Soll warten! ... Weshalb hat man ihn
+hierher gebracht? Was ist das für eine Unordnung!« -- rief Porphyri
+Petrowitsch, zur Türe stürzend.
+
+»Ja, er ...,« -- begann dieselbe Stimme und brach plötzlich ab.
+
+Nicht länger als zwei Sekunden währte ein regelrechter Kampf, als jemand
+mit aller Kraft zurückgestoßen wurde, und darauf ein sehr bleicher Mann
+direkt in das Arbeitszimmer von Porphyri Petrowitsch eintrat.
+
+Dieser Mensch sah sehr eigentümlich aus. Er blickte vor sich hin, ohne
+von seiner Umgebung etwas zu merken. In seinen Augen funkelte eine
+Entschlossenheit, Totenblässe bedeckte sein Gesicht, als hätte man ihn
+zum Schafott gebracht. Seine blutleeren Lippen zuckten.
+
+Er war gekleidet wie ein Mann aus dem Volke, war noch sehr jung, von
+mittlerem Wuchse, hager, mit rund beschnittenen Haaren und feinen,
+herben Gesichtszügen. Der von ihm unerwartet Zurückgestoßene, ein
+Gefängniswärter, stürzte als erster ihm ins Zimmer nach und packte ihn
+an den Schultern. Nikolai zog seinen Arm zurück und riß sich abermals
+von ihm los.
+
+In der Türe drängten sich die Neugierigen. Manche von ihnen wollten
+eintreten. Alles das geschah in einem Augenblick.
+
+»Fort, es ist zu früh! Warte, bis ich dich rufen lasse! ... Warum hat
+man ihn schon jetzt hergebracht?« murmelte ärgerlich Porphyri
+Petrowitsch, ganz außer sich.
+
+Da warf sich Nikolai auf die Knie nieder.
+
+»Was ist mir dir?« -- rief Porphyri Petrowitsch erstaunt.
+
+»Ich bin schuldig! Ich bin der Sünder! Ich bin der Mörder!« -- sagte
+plötzlich Nikolai, stockend, aber mit ziemlich lauter Stimme.
+
+Ein Schweigen, als wären alle erstarrt, trat ein; der eskortierende
+Soldat wich zurück und trat nicht mehr an Nikolai heran, er ging
+mechanisch zur Türe und blieb dort unbeweglich stehen.
+
+»Was sagst du?« -- rief Porphyri Petrowitsch, aus seiner Erstarrung
+erwachend.
+
+»Ich ... bin der Mörder ...,« -- wiederholte Nikolai nach kurzem
+Schweigen.
+
+»Wie ... du ... wie ... Wen hast du ermordet?«
+
+Porphyri Petrowitsch war sichtbar betreten.
+
+Nach einer kurzen Pause antwortete Nikolai wieder.
+
+»Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna habe ich ... mit
+dem Beile ... erschlagen. Eine Verblendung kam über mich ... --« fügte
+er plötzlich hinzu und verstummte von neuem, immer noch auf den Knien
+liegend.
+
+Porphyri Petrowitsch stand nachdenklich da; als er wieder zu sich kam,
+winkte er mit den Händen den ungebetenen Zeugen, fortzugehen. Sie
+verschwanden sogleich und die Türe wurde zugemacht. Dann blickte er
+Raskolnikoff an, der in einer Ecke stand und Nikolai verstört ansah, er
+ging auf ihn zu, blieb jedoch auf halbem Wege wieder stehen, betrachtete
+ihn nochmals, wandte dann seinen Blick Nikolai zu, und so besah er beide
+abwechselnd, bis er sich plötzlich auf Nikolai stürzte, von einem
+Gedanken gepackt.
+
+»Was kommst du mir mit deiner Verblendung daher?« -- rief er ihm wütend
+zu. -- »Ich habe doch noch gar nicht gefragt, ob eine Verblendung über
+dich gekommen ist oder nicht ... sage mir, hast du gemordet?«
+
+»Ich bin der Mörder ... ich mache das Bekenntnis ...« -- sagte Nikolai.
+
+»Ach was! Und womit hast du gemordet?«
+
+»Mit einem Beile. Ich hatte es mir vorher besorgt.«
+
+»Nur langsam, nicht so schnell! Du allein?«
+
+Nikolai verstand die Frage nicht.
+
+»Hast du allein gemordet?«
+
+»Allein. Dmitri ist unschuldig und ganz unbeteiligt.«
+
+»Eile nicht so mit Dmitri! ...«
+
+»Wie bist du denn damals die Treppe hinuntergelaufen? Die Hausknechte
+haben doch euch beide zusammen gesehen?«
+
+»Ich bin absichtlich ... damals ... mit Dmitri hinuntergelaufen,« --
+antwortete Nikolai schnell als hätte er sich vorher vorbereitet.
+
+»Ja, da haben wir's wieder!« rief Porphyri Petrowitsch wütend aus, --
+»er glaubt selbst nicht, was er sagt!« -- murmelte er scheinbar vor sich
+hin und bemerkte im selben Augenblick Raskolnikoff wieder.
+
+Er war so stark mit Nikolai beschäftigt, daß er für eine kurze Zeit die
+Anwesenheit Raskolnikoffs offenbar vergessen hatte. Er wurde verlegen
+...
+
+»Rodion Romanowitsch, Väterchen! Entschuldigen Sie mich, es geht nicht
+an ... bitte ... Sie haben hier nichts zu tun ... ich bin auch selbst
+... Sie sehen, welch eine Überraschung! ... Bitte! ...«
+
+Er nahm ihn bei der Hand und zeigte auf die Türe.
+
+»Das haben Sie nicht erwartet?« -- sagte Raskolnikoff, der die Sache
+selbst noch nicht begriff, jedoch seine Fassung wiedergefunden hatte.
+
+»Auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Wie Ihre Hand zittert!
+He--he--he!«
+
+»Auch Sie zittern, Porphyri Petrowitsch.«
+
+»Ja, ich zittere auch; hätte das nie für möglich gehalten! ...«
+
+Sie standen beide schon an der Türe. Porphyri Petrowitsch wartete mit
+Ungeduld auf Raskolnikoffs Hinausgehen.
+
+»Und Ihre Überraschung, wollen Sie sie mir nicht zeigen?« -- sagte
+Raskolnikoff höhnisch.
+
+»Sie fangen schon wieder so an, während Ihnen die Zähne noch ordentlich
+klappern, he--he! Sie sind ein eigener Mensch! Nun, auf Wiedersehen.«
+
+»Es wäre besser, _Lebewohl_ zu sagen!«
+
+»So Gott will, so Gott will!« -- murmelte Porphyri Petrowitsch mit einem
+schiefen Lächeln.
+
+Als Raskolnikoff durch die Kanzlei ging, bemerkte er, daß viele ihn
+aufmerksam anblickten. Im Vorzimmer sah er unter der Menge die beiden
+Hausknechte aus _jenem_ Hause, die er damals in der Nacht mit zum
+Polizeiaufseher gehen hieß. Sie standen und warteten. Kaum hatte er die
+Treppe erreicht, als er die Stimme Porphyri Petrowitschs hinter sich
+vernahm. Er kehrte sich um und bemerkte, daß dieser ihm ganz außer Atem
+nachkam.
+
+»Nur ein Wort noch, Rodion Romanowitsch, über die Sache ... nun, wie
+Gott will! aber dennoch muß ich Sie über einiges der Form wegen fragen
+... so sehen wir uns noch, nicht wahr?«
+
+Und Porphyri Petrowitsch blieb lächelnd vor ihm stehen.
+
+»Nicht wahr?« -- fügte er noch einmal hinzu.
+
+Man hatte den Eindruck, daß er noch etwas sagen wollte, aber es erfolgte
+nichts.
+
+»Ich bitte Sie, Porphyri Petrowitsch, mich zu entschuldigen wegen des
+vorhin Vorgefallenen ... ich habe mich hinreißen lassen,« -- begann
+Raskolnikoff, vollkommen gefaßt und dem unwiderstehlichen Wunsche
+nachgebend, sich wichtig zu tun.
+
+»Hat nichts zu sagen, hat nichts auf sich,« -- fiel Porphyri Petrowitsch
+fast freudig ein. -- »Auch ich selbst ... ich habe einen gehässigen
+Charakter, ich gebe es zu, ich gebe es zu! Wir werden uns ja
+wiedersehen. Wenn Gott will, werden wir uns sehr bald wiedersehen! ...«
+
+»Und dann einander endgültig kennenlernen?« -- fiel Raskolnikoff ein.
+
+»Und dann einander endgültig kennenlernen,« -- pflichtete ihm Porphyri
+Petrowitsch bei, kniff die Augen zusammen und sah ihn durchdringend an.
+-- »Jetzt eilen Sie zum Namenstage?«
+
+»Zur Beerdigung.«
+
+»Ja, richtig, zur Beerdigung! Schonen Sie Ihre Gesundheit vor allem,
+Ihre Gesundheit ...«
+
+»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen meinerseits wünschen soll!« --
+fiel Raskolnikoff ein, der schon die Treppe hinabstieg und sich wieder
+zu Porphyri Petrowitsch umwandte, -- »ich möchte Ihnen >guten Erfolg<
+wünschen, aber Ihr Amt ist zu eigenartig!«
+
+»Wieso denn, eigenartig?« -- Porphyri Petrowitsch spitzte die Ohren,
+obwohl er sich schon umgekehrt hatte, um fortzugehen.
+
+»Warum denn nicht; diesen armen Nikolai haben Sie wahrscheinlich auch
+ordentlich psychologisch in Ihrer Weise gequält und gemartert, bis er
+gestanden hat; haben ihm wahrscheinlich Tag und Nacht vorinspiriert, --
+>du bist der Mörder, du bist der Mörder ...<, und jetzt, wo er es
+eingestanden hat, werden Sie ihn wieder anders vorkriegen. Jetzt heißt
+es: >Du lügst, du bist nicht der Mörder! Du kannst es nicht sein! Du
+glaubst nicht an deine eigenen Worte!< Nun, ist Ihr Amt nicht komisch?«
+
+»He--he--he! Sie haben es also gehört, daß ich zu Nikolai gesagt habe,
+er glaube nicht an seine eigenen Worte?«
+
+»Warum sollte ich es nicht gehört haben?«
+
+»He--he! Sie sind scharfsinnig, sehr scharfsinnig! Sie bemerken alles!
+Sie haben einen ausgezeichneten lebhaften Verstand! Und erwischen immer
+die komischeste Seite ... he--he! Sagt man nicht, von den
+Schriftstellern hatte Gogol am ausgeprägtesten diese Eigenschaft.«
+
+»Ja, Gogol.«
+
+»Ja, Gogol ... Auf angenehmes Wiedersehen!«
+
+»Auf angenehmes Wiedersehen!«
+
+Raskolnikoff ging direkt nach Hause. Er war zuletzt so verwirrt und
+konfus geworden, daß er, als er nach Hause kam, sich auf das Sofa warf
+und erst eine Viertelstunde ausruhen mußte, ehe er versuchen konnte,
+seine Gedanken einigermaßen zu sammeln. Den Fall mit Nikolai wollte er
+gar nicht einmal erörtern, er fühlte eine mächtige Erregung in sich, und
+fühlte, daß in dem Geständnis Nikolais etwas Unerklärliches und
+Seltsames war; er war jetzt noch nicht imstande, dies alles zu fassen.
+Das Geständnis Nikolais war eine unbestreitbare Tatsache. Die Folgen
+dieser Tatsache wurden ihm sofort klar, -- die Lüge mußte sich
+offenbaren und dann nahm man _ihn_ wieder vor. Aber bis dahin war er
+wenigstens frei, er muß nun unbedingt irgend etwas für sich tun, denn
+die Gefahr war unvermeidlich.
+
+Jedoch, in welcher Weise? Die Lage begann sich zu klären. Während er
+sich im allgemeinen des ganzen Auftrittes bei Porphyri Petrowitsch
+entsann, durchlief es ihn eiskalt. Gewiß kannte er noch nicht alle
+Absichten Porphyri Petrowitschs, konnte alle seine Berechnungen vorhin
+nicht enträtseln. Doch ein Teil des Spieles war offenbar;
+selbstverständlich konnte niemand besser als er selbst verstehen, wie
+schrecklich für ihn dieser »Schachzug« im Spiele Porphyri Petrowitschs
+sei. Noch ein wenig, und er hätte sich vollkommen verraten. Indem
+Porphyri Petrowitsch die Empfindlichkeit seines Charakters erkannt hatte
+und vom ersten Augenblick richtig eingeschätzt und durchschaut hatte,
+handelte er sehr entschlossen, und fast mit sicherem Erfolge. Es war
+nicht zu bestreiten, daß Raskolnikoff sich schon stark kompromittiert
+hatte, doch bis zu _Tatsachen_ war es noch nicht gekommen; dies alles
+war nur relativ. Faßte er jedoch jetzt auch alles richtig auf? Irrte er
+sich nicht? Zu welchem Resultate wollte heute Porphyri Petrowitsch
+kommen? Hatte er heute wirklich etwas vorbereitet? Und was war es?
+Wartete er wirklich auf etwas oder nicht? Wie würden sie sich heute
+getrennt haben, wenn der unerwartete Vorfall mit Nikolai nicht
+eingetreten wäre?
+
+Porphyri Petrowitsch hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt; es war
+selbstverständlich von ihm riskiert, aber er hatte es doch getan, und --
+hatte alles aufgedeckt, wie es Raskolnikoff schien, -- wenn Porphyri
+Petrowitsch wirklich mehr gehabt hätte, würde er es auch aufgedeckt
+haben. Was war nur diese »Überraschung«? War es etwa Fopperei? Hatte sie
+eine Bedeutung oder nicht? Konnte sich darunter etwas, das einer
+Tatsache, einem positiven Beweis glich, verbergen? Vielleicht der Mann
+von gestern? Wo ist er hinverschwunden? Wo war er heute? Wenn Porphyri
+Petrowitsch etwas Positives hatte, so hing es sicher mit dem Manne von
+gestern zusammen ... Er saß auf dem Sofa, hatte den Kopf tief sinken
+lassen, stützte sich auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit beiden
+Händen. Ein nervöses Zittern durchlief immer noch seinen ganzen Körper.
+Schließlich stand er auf, nahm seine Mütze in die Hand, dachte eine
+Weile nach und ging zur Türe.
+
+Ein Gefühl, daß er wenigstens heute sich in Sicherheit fühlen könne,
+rief fast Freude in seinem Herzen wach, -- er wollte jetzt schnell zu
+Katerina Iwanowna gehen. Zur Beerdigung kam er selbstverständlich zu
+spät, zum Essen langte es noch und er würde dort Ssonja sehen.
+
+Er blieb stehen, sann nach und ein schmerzliches Lächeln zeigte sich auf
+seinen Lippen.
+
+»Heute! Heute!« -- wiederholte er vor sich, -- »ja, heute noch! Es muß
+so sein ...«
+
+Er wollte gerade die Türe öffnen, als sie auch schon von außen geöffnet
+wurde. Er erzitterte und sprang zurück. Sie öffnete sich langsam und
+leise, und die Gestalt -- des Mannes von gestern kam zum Vorschein.
+
+Der Mann blieb auf der Schwelle stehen, sah Raskolnikoff schweigend an
+und machte einen Schritt in das Zimmer. Er war genau wie gestern
+gekleidet, er hatte die gleiche gebückte Gestalt, nur in seinem Gesicht
+und im Blick war eine große Veränderung vorgegangen, -- er sah traurig
+drein, und nachdem er eine Weile dagestanden hatte, seufzte er tief. Es
+fehlte bloß, daß er die Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur
+Seite beugte, um völlig einem Weibe zu ähneln.
+
+»Was wünschen Sie?« -- fragte Raskolnikoff.
+
+Der Mann schwieg und verneigte sich auf einmal tief, so tief, daß er mit
+einem Finger der rechten Hand den Boden berührte.
+
+»Was ist mit Ihnen?« -- rief Raskolnikoff aus.
+
+»Verzeihen Sie,« -- sagte leise der Mann.
+
+»Was soll ich verzeihen?«
+
+»Meine bösen Gedanken.«
+
+Sie blickten einander an.
+
+»Es quälte mich. Als Sie damals kamen, vielleicht berauscht, und die
+Hausknechte aufforderten, mit auf die Polizei zu gehen und nach dem Blut
+fragten, quälte es mich, daß man die Sache so ohne weiteres ließ und Sie
+für einen Betrunkenen ansah. Und es quälte mich so stark, daß ich den
+Schlaf verlor. Und da ich mich Ihrer Adresse erinnerte, bin ich gestern
+hierher gekommen und habe den Hausknecht gefragt ...«
+
+»Wer ist hergekommen?« -- unterbrach ihn Raskolnikoff und da erinnerte
+er sich wieder.
+
+»Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.«
+
+»Also, Sie sind aus jenem Hause?«
+
+»Ja, ich stand damals mit den anderen am Tore, erinnern Sie sich nicht?
+Ich habe dort seit langem eine Werkstatt. Ich bin Kürschner,
+Kleinbürger, arbeite zu Hause ... Am meisten aber quälte es mich ...«
+
+Und Raskolnikoff erinnerte sich auf einmal klar der ganzen Szene von
+vorgestern am Tore; er entsann sich, daß außer den Hausknechten dort
+noch einige Menschen, darunter auch Frauen, gestanden hatten. Er
+erinnerte sich einer Stimme, die vorschlug, ihn auf die Polizei zu
+bringen. Auf das Gesicht des Sprechenden konnte er sich nicht entsinnen
+und erkannte ihn auch jetzt nicht, aber er wußte noch, daß er ihm damals
+geantwortet und sich nach ihm umgewandt habe ...
+
+Also, das war die Lösung des ganzes Schreckens von gestern. Am
+furchtbarsten war ihm der Gedanke, daß er dadurch fast zugrunde gegangen
+wäre, eines solch _nichtigen_ Verhängnisses wegen sich fast zugrunde
+gerichtet hätte. Also, außer des Besuches in der Wohnung und des
+Gespräches über das Blut konnte dieser Mensch gar nichts erzählen. So
+hatte auch Porphyri Petrowitsch gar nichts, keine Tatsachen, nichts
+Positives, nichts außer diesem _Fieberwahn_, und außer der
+_Psychologie_, die ihre _zwei Seiten_ hat. Wenn keine Tatsachen mehr
+auftauchen -- und sie dürfen nicht mehr auftauchen, dürfen, dürfen
+nicht, -- was ... was kann man ihm anhaben? Wodurch kann man ihn denn
+endgültig überführen, selbst wenn sie ihn auch arretieren würden? So hat
+Porphyri Petrowitsch erst jetzt, soeben erst von der Wohnung erfahren,
+und vorher nichts davon gewußt.
+
+»Haben Sie es heute Porphyri Petrowitsch gesagt ... daß ich dort gewesen
+war?« -- rief er aus, von einer neuen Idee überrascht.
+
+»Was für einem Porphyri Petrowitsch?«
+
+»Dem Untersuchungsrichter.«
+
+»Ja, ich habe es gesagt. Die Hausknechte gingen damals nicht hin, und da
+ging ich denn.«
+
+»Heute?«
+
+»Ich war einen Augenblick früher da, als Sie kamen. Ich habe alles mit
+angehört, alles, und wie er Sie peinigte.«
+
+»Wo? Was? Wann?«
+
+»Ich saß die ganze Zeit bei ihm hinter der Wand.«
+
+»Wie? Also Sie waren die Überraschung? Ja, wie konnte es denn zugehen?
+Erlauben Sie!«
+
+»Als ich sah,« -- begann der Kleinbürger, -- »daß die Hausknechte trotz
+meiner Worte nicht hingehen wollten, weil es, wie sie sagten, schon spät
+sei und er vielleicht böse würde, daß sie in so später Stunde noch
+daherkämen, quälte es mich, ich verlor den Schlaf und begann mich zu
+erkundigen. Und nachdem ich mich gestern erkundigt hatte, ging ich heute
+hin. Als ich zum erstenmal kam, war er noch nicht da, als ich nach einer
+Stunde wieder kam, empfing er mich nicht, und als ich zum drittenmal da
+war, -- ließ man mich zu ihm. Ich erzählte ihm alles, wie es war, er
+lief im Zimmer herum und schlug sich mit der Faust vor die Brust. >Was
+macht ihr mit mir,< -- sagte er, -- >ihr Räuber? Hätte ich das gewußt,
+ich würde ihn mit einer Eskorte geholt haben!< Dann lief er aus dem
+Zimmer, rief jemand und begann in einer Ecke mit ihm zu sprechen, dann
+kam er wieder zu mir, frug mich aus, schimpfte mich und machte auch sich
+Vorwürfe. Ich teilte ihm alles mit, sagte auch, daß Sie gestern nicht
+gewagt hätten, mir auf meine Worte zu antworten, und daß Sie mich nicht
+erkannt hätten. Da begann er wieder herumzulaufen, sich vor die Brust zu
+schlagen und zu ärgern. Als man aber Sie anmeldete, sagte er, -- >nun,
+krieche hinter die Wand, sitze dort, rühr dich nicht, was du auch hören
+solltest<, und brachte mir selbst einen Stuhl dorthin und schloß mich
+ein; >vielleicht werde ich dich noch ausfragen<, sagte er. Als man aber
+Nikolai hineingeführt hatte, ließ er mich hinaus, nachdem Sie gegangen
+waren. >Ich werde noch einmal nach dir schicken,< sagte er >und werde
+dich fragen ...<«
+
+»Und hat er Nikolai in deiner Gegenwart verhört?«
+
+»Als er Sie hinausgeleitet und mich hinausgelassen hatte, begann er
+Nikolai zu verhören.«
+
+Der Kleinbürger hielt inne und verneigte sich plötzlich noch einmal tief
+und berührte wieder mit einem Finger den Boden.
+
+»Verzeihen Sie mir die Beschuldigung und meine Bosheit.«
+
+»Gott vergebe dir,« -- antwortete Raskolnikoff, und kaum hatte er es
+gesagt, verneigte sich der Kleinbürger wieder vor ihm, aber diesmal
+nicht bis zum Boden, drehte sich um und verließ das Zimmer.
+
+»Alles hat zwei Seiten, jetzt hat alles zwei Seiten,« -- wiederholte
+Raskolnikoff und ging mutiger als je aus dem Zimmer.
+
+»Ha, jetzt wollen wir noch kämpfen!« -- sagte er mit einem bösen
+Lächeln, als er die Treppe hinabstieg. Das böse Lächeln war für ihn
+selbst bestimmt; er erinnerte sich seines »Kleinmutes« mit Verachtung
+und Beschämung.
+
+
+
+
+ Fünfter Teil
+
+
+ I.
+
+Der Morgen, der auf die für Peter Petrowitsch Luschin verhängnisvolle
+Erklärung mit Dunetschka und Pulcheria Alexandrowna folgte, verfehlte
+seine ernüchternde Wirkung auch auf Luschin nicht. Er mußte zu seinem
+größten Leidwesen allmählich das Ereignis als eine vollzogene und
+unwiderrufliche Tatsache ansehen, das ihm noch gestern als Phantom, als
+Unmöglichkeit erschienen war. Die schwarze Schlange der verletzten
+Eigenliebe hatte die ganze Nacht an seinem Herzen genagt. Nachdem er das
+Bett verlassen hatte, besah er sich sofort im Spiegel. Er fürchtete, daß
+die Galle ihm übergelaufen sei. Aber es war alles vorläufig in bester
+Ordnung, und als Peter Petrowitsch sein edles, weißes und in der letzten
+Zeit voller gewordenes Antlitz erblickte, tröstete er sich für einen
+Augenblick in der festen Überzeugung, irgendwo anders eine Braut, und
+vielleicht eine noch bessere, zu finden. Er wies den Gedanken alsbald
+von sich und spie energisch aus, wodurch er ein stilles, aber
+sarkastisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Stubengenossen
+Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff hervorrief. Peter Petrowitsch
+bemerkte dieses Lächeln und beschloß sofort, es seinem jungen Freunde
+heimzuzahlen. Es hatte sich in letzter Zeit noch mehr angesammelt. Seine
+Wut vergrößerte sich, als es ihm noch bewußt wurde, daß es ganz unnötig
+gewesen war, Andrei Ssemenowitsch sein gestriges Erlebnis mitzuteilen.
+Das war der zweite Fehler, den er gestern im Eifer, in überflüssiger
+Aufregung, in Gereiztheit gemacht hatte ... Zudem folgte nun diesen
+ganzen Morgen, wie absichtlich, eine Unannehmlichkeit der anderen. Sogar
+im Senate hatte er einen Mißerfolg in der Sache, die er vertrat. Ganz
+besonders aber hatte ihn der Hauswirt gereizt, von dem er in Anbetracht
+seiner baldigen Heirat eine Wohnung gemietet hatte und die er auf eigene
+Rechnung reparieren ließ. Dieser Wirt, irgendein reichgewordener
+deutscher Handwerker, weigerte sich, den soeben abgeschlossenen Vertrag
+rückgängig zu machen und verlangte die volle Bezahlung der im Vertrage
+genannten Entschädigungssumme, obgleich ihm Peter Petrowitsch eine
+nahezu völlig renovierte Wohnung zurückgab. Ebenso wollte man auch in
+dem Möbelgeschäfte keinen einzigen Rubel von der Anzahlungssumme für die
+gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückgeben.
+»Ich kann mich doch nicht der Möbel wegen verheiraten!« -- knirschte
+Peter Petrowitsch mit den Zähnen, und gleichzeitig durchfuhr ihn noch
+einmal eine verzweifelte Hoffnung. -- »Ja, ist denn wirklich alles
+unwiderruflich verloren und abgetan? Kann man es denn nicht noch einmal
+versuchen?« Der Gedanke an Dunetschka traf verführerisch sein Herz. Es
+war ihm ein Augenblick voller Qual, und hätte jetzt gleich der bloße
+Wunsch Raskolnikoff töten können, Peter Petrowitsch hätte unverzüglich
+diesen Wunsch geäußert.
+
+»Mein Fehler war auch der, daß ich ihnen kein Geld gab,« -- dachte er,
+als er traurig in die Stube von Lebesjätnikoff zurückkehrte, -- »und
+warum bin ich, zum Kuckuck, so ein Jude geworden? Hier war es nicht
+angebracht! Ich dachte sie in Not zu halten und sie so weit zu bringen,
+daß sie mich als ihre Vorsehung betrachten müßten, und es kam so anders
+... Pfui! ... Nein, ich hätte ihnen während dieser Zeit, sagen wir,
+anderthalbtausend zur Aussteuer geben müssen, allerhand Geschenke,
+Nähkästchen, Necessaires, Stoffe und anderen Schund, und die Sache war
+gut, war sicher! Man hätte mir nicht so leicht absagen können! Sie
+gehören zu den Leuten, die es unbedingt für ihre Pflicht gehalten
+hätten, im Falle einer Aufhebung der Verlobung die Geschenke und das
+Geld zurückzugeben; und das würde ihnen schwer gefallen sein und hätte
+ihnen leid getan! Auch das Gewissen würde sie geplagt haben; wie kann
+man, hätten sie sich gesagt, plötzlich einen Menschen verjagen, der bis
+jetzt so freigebig und zartfühlend war? ... Ich habe einen schweren
+Fehler begangen!« Peter Petrowitsch knirschte mit den Zähnen und nannte
+sich einen Dummkopf, -- selbstverständlich nur bei sich. Als er zu
+dieser Folgerung gekommen war, kehrte er noch wütender und gereizter
+nach Hause zurück, als er fortgegangen war. Die Vorbereitungen für das
+Essen in Katerina Iwanownas Zimmer zum Angedenken an den Verstorbenen
+nahmen teilweise seine Neugier in Anspruch. Er hatte schon gestern
+einiges über dieses Essen gehört; es schwebte ihm selbst vor, als hätte
+man auch ihn eingeladen; allein bei seinen eigenen Sorgen hatte er all
+dem keine Beachtung geschenkt. Er beeilte sich, sich bei Frau
+Lippewechsel näher zu erkundigen, die während der Anwesenheit Katerina
+Iwanownas auf dem Friedhofe für das Arrangement sorgte, und erfuhr, daß
+das Gedächtnismahl feierlich sein würde. Fast alle Mitbewohner, sogar
+auch solche, die der Verstorbene nicht gekannt hatte, waren eingeladen;
+Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff war auch, ungeachtet seines
+kürzlichen Streites mit Katerina Iwanowna, eingeladen. Auch er selbst,
+Peter Petrowitsch, sei geladen und würde mit großer Ungeduld erwartet,
+weil er der vornehmste Gast von allen sei. Amalie Iwanowna war
+ebenfalls, trotz aller vorgefallenen Unannehmlichkeiten, mit großer Ehre
+eingeladen, und mühte sich jetzt selbst ab, um alle häuslichen
+Anordnungen zu treffen; sie fühlte sich sehr wichtig dabei, sie war
+festlich geputzt, wennschon in Trauer, sie hatte ein ganz neues seidenes
+Kleid an und war nicht wenig stolz darauf. Alle diese Tatsachen und
+Mitteilungen brachten Peter Petrowitsch auf einen Gedanken; etwas
+nachdenklich ging er in sein, das heißt in Andrei Ssemenowitsch
+Lebesjätnikoffs Zimmer. Unter anderem hatte er erfahren, daß unter den
+Eingeladenen auch Raskolnikoff sei.
+
+Andrei Ssemenowitsch blieb diesen ganzen Morgen aus einem bestimmten
+Grunde zu Hause. Zwischen diesem Herrn und Peter Petrowitsch herrschten
+eigentümliche, teilweise auch natürliche Beziehungen, -- Peter
+Petrowitsch verachtete und haßte ihn von dem Tage an, als er sich bei
+ihm einquartierte, über alle Maßen, gleichzeitig ihn ein wenig
+fürchtend. Er war bei ihm nach seiner Ankunft in Petersburg nicht bloß
+aus übertriebener Sparsamkeit abgestiegen; obwohl dies wohl der
+Hauptgrund war, gab es noch eine andere Ursache. Schon in der Provinz
+hatte er von Andrei Ssemenowitsch, seinem früheren Zögling, gehört, als
+einem der ersten jungen Progressisten, der sogar eine bedeutende Rolle
+in gewissen interessanten und vielbesprochenen Kreisen spiele. Das
+überraschte Peter Petrowitsch. Diese mächtigen, alles wissenden, alles
+verachtenden und alle entlarvenden Kreise jagten schon lange Peter
+Petrowitsch einen besonderen, wenn auch ganz unbestimmten Schrecken ein.
+Er selbst konnte sich, zumal er in der Provinz lebte, in keiner Weise
+einen annähernd genauen Begriff davon machen. Er hatte, wie viele
+andere, gehört, daß es besonders in Petersburg Progressisten,
+Nihilisten, Enthüller und dergleichen mehr gebe, aber er übertrieb
+gleich vielen, und verdrehte den Sinn und die Bedeutung dieser
+Benennungen bis ins Absurde. Am meisten fürchtete er, schon seit einigen
+Jahren, _Enthüllungen_, und dies war die hauptsächliche Ursache seiner
+beständigen übertriebenen Unruhe, besonders wenn er daran dachte, seine
+Tätigkeit nach Petersburg zu verlegen. In dieser Hinsicht war er, wie
+man sagt, _verschreckt_, wie zuweilen kleine Kinder verschreckt sind.
+Vor einigen Jahren in der Provinz, als er eben seine Laufbahn begonnen
+hatte, erlebte er zwei Fälle schlimmer Enthüllungen für zwei ziemlich
+bedeutende Persönlichkeiten der Gouvernementsbehörde, zu denen er sich
+bis dahin gehalten und die ihn protegierten. Der eine Fall endete für
+den Kompromittierten mit besonderem Eklat, der zweite wäre fast noch
+schlimmer abgelaufen. Aus diesem Grunde hatte Peter Petrowitsch
+beschlossen, sich sofort nach der Ankunft in Petersburg zu erkundigen,
+wie die Sache eigentlich sei, und falls nötig, vorzubeugen und sich bei
+»unserer jungen Generation« einzuschmeicheln. Dabei rechnete er auf
+Andrei Ssemenowitsch, und er hatte schon gelernt, wie beim Besuche
+Raskolnikoffs, bestimmte Phrasen aus fremder Quelle wiederzugeben ...
+
+Gewiß, es gelang ihm bald, Andrei Ssemenowitsch als einen
+außerordentlich flachen, einfältigen und unbedeutenden Menschen zu
+erkennen. Dies hatte aber keineswegs den Glauben Peter Petrowitschs
+erschüttert oder ihn sicherer gemacht. Selbst wenn er sich überzeugt
+hätte, daß alle Progressisten eben solche Dummköpfe wären, auch dann
+würde sich seine Unruhe nicht gelegt haben. Alle Lehren, Gedanken,
+Systeme, mit denen Andrei Ssemenowitsch sich sofort auf ihn gestürzt
+hatte, interessierten ihn ganz und gar nicht. Er hatte sein eigenes
+Ziel. Er wollte bloß schnell, unverzüglich erfahren, was _hier_ vorginge
+und wie? Hatten _diese Leute_ einen Einfluß oder nicht? Würden sie ihn
+kompromittieren, wenn er dies oder jenes unternähme, oder nicht? Und
+wenn sie einen kompromittierten, fragt es sich, was würden sie dabei im
+Auge haben? Worauf richteten sich jetzt eigentlich die Enthüllungen? Und
+weiter, -- konnte man sich nicht ihnen in irgendeiner Weise anschließen
+und sie irreführen, wenn sie tatsächlich Einfluß haben sollten? Sollte
+man es tun oder nicht? Könnte man nicht, zum Beispiel, durch ihre
+Vermittlung seine Karriere fördern? Mit einem Worte, es standen hunderte
+von Fragen vor ihm.
+
+Andrei Ssemenowitsch war ein kraftloser und skrophulöser Mann von
+kleinem Wuchse, der bei irgend jemand bedienstet war; er war auffallend
+blond und hatte einen Kotelettenbart, auf den er sehr stolz war. Seine
+Augen waren fast immer entzündet. Er hatte ein ziemlich weiches Herz, in
+seinen Reden lag etwas sehr Selbstbewußtes, ja zuweilen etwas
+außerordentlich Herausforderndes -- was im Vergleiche zu seiner kleinen
+Gestalt fast stets lächerlich wirkte. Amalie Iwanowna rechnete auch ihn
+zu ihren angesehensten Mietern, da er nicht trank und sein Zimmer
+pünktlich bezahlte. Alles in allem war Andrei Ssemenowitsch wirklich
+etwas dumm. Er hatte sich den Progressisten und »unserer jungen
+Generation« leidenschaftlich zugesellt. Es war einer aus der bunt
+zusammengesetzten Legion flacher Menschen, verfehlter Existenzen und
+Halbgebildeten, die nichts ordentliches gelernt hatten, die sich an die
+modernste gangbarste Idee heranmachen, um sie sofort zu verflachen und
+um alles in einem Nu zu verzerren, auch wenn sie selbst in der
+aufrichtigsten Weise ihr dienen.
+
+Übrigens konnte Lebesjätnikoff, ungeachtet seiner Gutmütigkeit, seinen
+Stubengenossen und früheren Vormund Peter Petrowitsch nicht leiden. Es
+kam das wie von ungefähr und beruhte auf Gegenseitigkeit. Trotz seiner
+Beschränktheit begann Andrei Ssemenowitsch allmählich zu merken, daß ihn
+Peter Petrowitsch beschwindelte und im geheimen verachtete, und daß er
+nicht der »Rechte« war. Er versuchte, ihm Fouriers System und Darwins
+Theorie darzulegen, aber Peter Petrowitsch begann, besonders in der
+letzten Zeit, sarkastisch zuzuhören und sogar zu schelten. Peter
+Petrowitsch fühlte instinktiv heraus, daß Lebesjätnikoff nicht bloß ein
+flacher und ziemlich beschränkter Mensch, sondern auch ein Prahlhans
+sei, und daß er keine bedeutenden Verbindungen in seinem eigenen Kreise
+hatte, sondern sich nur mit fremden Federn schmückte; mehr noch, -- daß
+er nicht mal seine eigene Sache, _die Propaganda_, ordentlich verstand,
+weil er zu konfus redete, und ein solcher konnte doch kein Ankläger
+sein! Nebenbei wollen wir noch bemerken, daß Peter Petrowitsch in diesen
+anderthalb Wochen, besonders aber im Anfange, sehr gern die
+merkwürdigsten Absichten von Andrei Ssemenowitsch sich beilegen ließ,
+das heißt, er wies sie nicht zurück und erwiderte auch nichts, z. B.,
+wenn Andrei Ssemenowitsch ihm die Bereitwilligkeit zuschrieb, die
+künftige und baldige Gründung einer neuen »_Kommune_« irgendwo in der
+nächsten Nähe zu fördern, oder z. B. Dunetschka nicht hinderlich zu
+sein, wenn es ihr im ersten Monate nach der Hochzeit einfallen sollte,
+sich einen Geliebten anzuschaffen, oder auch seine künftigen Kinder
+nicht taufen zu lassen und dergleichen mehr. Peter Petrowitsch
+widersprach nicht, seiner Gewohnheit nach, wenn ihm diese Eigenschaften
+zugeschrieben wurden, und ließ es zu, daß man ihn dafür lobte, -- so
+angenehm war ihm jedes Lob.
+
+Peter Petrowitsch, der an diesem Morgen einige fünfprozentige
+Staatspapiere gewechselt hatte, saß am Tische und zählte das Papiergeld
+und die Kupons nach. Andrei Ssemenowitsch, der fast nie Geld hatte, ging
+im Zimmer auf und ab und gab sich den Anschein, als betrachte er diesen
+Haufen Geld gleichgültig und geringschätzig. Peter Petrowitsch konnte um
+nichts in der Welt glauben, daß Andrei Ssemenowitsch so viel Geld
+gleichgültig war, und jener wiederum dachte voll Bitterkeit, daß Peter
+Petrowitsch wirklich fähig sei, in dieser Weise von ihm zu denken, und
+sich möglicherweise freue, ihn, seinen jungen Freund, mit den
+aufgebauten Päckchen von Papiergeld zu reizen und zu verhöhnen, indem er
+ihn an seine Unbedeutendheit und den zwischen ihnen bestehenden Abstand
+erinnerte.
+
+Andrei Ssemenowitsch fand ihn heute ungewöhnlich gereizt und
+unaufmerksam, trotzdem er ihm sein Lieblingsthema über die Errichtung
+einer neuen eigenartigen »Kommune« auseinandergesetzt hatte. Die kurzen
+Erwiderungen und Bemerkungen, die Peter Petrowitsch inmitten seiner
+Berechnungen machte, zeugten von einer sehr deutlichen und beabsichtigt
+spöttischen Unhöflichkeit. Aber der »humane« Andrei Ssemenowitsch
+schrieb die Stimmung von Peter Petrowitsch dem gestrigen Bruche mit
+Dunetschka zu und brannte vor Verlangen, schneller dieses Thema zu
+berühren, -- er hätte etwas Fortschrittliches und Propagandistisches für
+ihn, was seinen ehrenwerten Freund trösten und »sicher« seiner weiteren
+Entwicklung von Nutzen sein müßte.
+
+»Was ist das für ein Gedächtnismahl, das diese ... die Witwe da
+arrangiert?« -- fragte plötzlich Peter Petrowitsch, Andrei Ssemenowitsch
+bei der interessantesten Stelle unterbrechend.
+
+»Als ob Sie das nicht selbst wüßten; ich habe doch gestern mit Ihnen
+über dieses Thema gesprochen und Ihnen meine Gedanken über all diese
+Gebräuche entwickelt ... Sie hat Sie ja auch eingeladen, ich habe es
+gehört, als Sie gestern selbst mit ihr sprachen ...«
+
+»Ich hätte keineswegs erwartet, daß diese bettelarme, dumme Person all
+das Geld zu einem Gedächtnismahl verplempern wird, das sie von diesem
+andern Dummkopf ... Raskolnikoff erhalten hat. Ich war erstaunt, als ich
+beim Durchgehen sah, -- was für Vorbereitungen gemacht sind ... Wein ist
+aufgestellt! ... Es sind allerhand Menschen geladen, -- weiß der Teufel,
+was das bedeuten soll!« -- fuhr Peter Petrowitsch fort, der absichtlich
+dieses Gespräch anfing. -- »Was? Sie sagen, man hatte auch mich
+geladen?« -- fügte er plötzlich hinzu und erhob den Kopf. -- »Wann war
+denn das? Ich erinnere mich gar nicht. Ich will übrigens nicht hingehen.
+Was soll ich dort? Ich habe mit ihr gestern bloß im Vorbeigehen über die
+Möglichkeit gesprochen, daß sie, als die arme Witwe eines Beamten,
+seinen Jahresgehalt als eine einmalige Unterstützung erhalten könnte.
+Sollte sie mich deswegen vielleicht eingeladen haben? He--he!«
+
+»Ich habe auch nicht die Absicht hinzugehen,« -- sagte Lebesjätnikoff.
+
+»Das fehlte noch, wo Sie sie eigenhändig verprügelt haben. Das ist doch
+begreiflich, Sie müßten sich schämen, he--he--he!«
+
+»Wer hat verprügelt und wen?« -- fragte Lebesjätnikoff aufgebracht und
+errötete.
+
+»Sie, Sie haben doch Katerina Iwanowna vor einem Monat verprügelt! Ich
+habe es gestern gehört ... Da haben wir die Prinzipien! ... Also die
+Frauenfrage hinkt auch. He--he!«
+
+Und Peter Petrowitsch setzte wie getröstet seine Berechnungen fort.
+
+»Das ist alles Unsinn und Verleumdung!« -- brauste Lebesjätnikoff auf,
+der ungern an diese Geschichte erinnert wurde, -- »das war gar nicht der
+Fall! Es war ganz anders ... Sie haben es nicht richtig gehört; alles
+ist Klatscherei! Ich habe mich damals nur verteidigt. Sie stürzte sich
+zuerst auf mich ... Sie hat mir fast meinen Backenbart ausgerissen ...
+ich hoffe denn doch, daß jedem Menschen erlaubt ist, seine Person zu
+verteidigen. Außerdem gestatte ich niemand, mir Gewalt anzutun ... Aus
+Prinzip. Denn das ist schon Despotismus. Was sollte ich denn tun, --
+etwa alles ruhig mir gefallen lassen? Ich habe sie bloß zurückgestoßen
+...«
+
+»He--he--he!« kicherte Luschin boshaft weiter.
+
+»Sie sticheln mich nur, weil Sie selbst geärgert wurden und nun böse
+darüber sind ... Das ist doch Unsinn und hat gar nichts, rein gar nichts
+mit der Frauenfrage zu tun! Sie haben das nicht richtig aufgefaßt; ich
+denke sogar, wenn man annimmt, daß die Frau in allem dem Manne gleich
+sei, selbst in der physischen Kraft, wie man schon behauptet, so muß
+hier erst recht Gleichheit herrschen. Gewiß, ich habe es mir nachher
+überlegt, daß es so eine Frage überhaupt nicht geben soll, weil
+Prügeleien sowieso nicht stattfinden sollen. In der künftigen
+Gesellschaft wird dies undenkbar sein ... es wäre doch sonderbar, eine
+Gleichberechtigung zum Prügeln anzustreben. So dumm bin ich nicht ...
+obwohl Prügeleien übrigens auch vorkommen können ... ich will sagen,
+nachher nicht vorkommen werden, jetzt aber noch vorkommen ... pfui! zum
+Teufel! Mit Ihnen wird man ganz konfus! Ich gehe nicht zu diesem Essen,
+nicht weil diese Unannehmlichkeit passiert ist, ich gehe vielmehr aus
+Prinzip nicht hin, um nicht bei einem so schändlichen Brauch wie einer
+Gedächtnisfeier mitzutun; ja, das ist der Grund! Man könnte eigentlich
+hingehen, um sich darüber lustig zu machen ... Nur schade, daß keine
+Priester da sein werden. Sonst würde ich unbedingt hingehen.«
+
+»Mit anderen Worten: Gastliches Salz und Brot essen und gleich darauf es
+ebenso beschimpfen wie die, die Sie eingeladen haben. So ist es doch
+gemeint?«
+
+»Durchaus nicht beschimpfen, nur protestieren. Ich gehe mit bester
+Absicht hin. Ich kann indirekt die Entwicklung und die Propaganda
+fördern. Jeder Mensch ist verpflichtet, andere zu fördern und auf sie zu
+wirken, je kräftiger er es tut, desto besser ist es vielleicht. Ich kann
+eine Idee bringen, einen Samen ausstreuen ... Aus diesem Samen wird eine
+Tat entstehen. Womit hätte ich da gekränkt? Anfangs fühlen sie sich
+vielleicht gekränkt, nachher aber werden sie selbst einsehen, daß es
+ihnen nur von Nutzen war. Bei uns beschuldigte man eine Zeitlang
+Terebjewa, -- dieselbe, die jetzt in der Kommune ist, -- weil sie, als
+sie sich von ihrer Familie lossagte und ... sich einem hingab, ihrer
+Mutter und ihrem Vater geschrieben hatte, sie wolle nicht mehr in
+Vorurteilen leben und gehe eine illegale Ehe ein; man fand es
+rücksichtslos, so mit den Eltern umzugehen, und meinte, sie hätte es
+ihnen schonender und milder beibringen sollen. Meiner Ansicht nach ist
+dies alles Unsinn, man soll gar nicht so mild sein, im Gegenteil, ganz
+im Gegenteil, man soll erst recht scharf protestieren. Nehmen wir zum
+Beispiel die Warentz; sie hat sieben Jahre mit ihrem Manne
+zusammengelebt, hat ihn und ihre zwei Kinder verlassen und ihrem Manne
+in einem Briefe die Wahrheit gesagt. -- >Ich habe eingesehen, daß ich
+mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde Ihnen nie vergeben, daß
+Sie mich betrogen haben, indem Sie mir verheimlichten, daß noch eine
+andere gesellschaftliche Einrichtung, nämlich die Kommune existiert. Ich
+habe es vor kurzem durch einen großmütigen Mann erfahren, dem ich mich
+auch hingegeben habe, und mit ihm zusammen begründe ich eine Kommune.
+Ich sage Ihnen dies offen, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu
+betrügen. Tun Sie, was Sie für gut halten. Hoffen Sie nicht, mich
+zurückzuerobern, es ist zu spät. Ich wünsche Ihnen alles Glück.< So muß
+man schreiben!«
+
+»Nicht wahr, diese Terebjewa ist doch die, von der Sie erzählten, daß
+sie in der dritten illegalen Ehe lebe?«
+
+»Richtig betrachtet, erst in der zweiten! Aber mag sie auch in der
+vierten oder fünfzehnten Ehe leben, was ist dabei! Und wenn ich jemals
+bedauerte, daß mein Vater und meine Mutter gestorben sind, so ist es
+sicher jetzt der Fall. Ich habe schon ein paarmal gedacht, wie ich sie
+mit meinem Protest aufrütteln würde, wenn sie noch am Leben wären! Ich
+hätte absichtlich alles so eingerichtet ... Ich hätte es ihnen gezeigt!
+Ich hätte sie staunen gemacht! Es ist wirklich schade, daß ich niemanden
+habe!«
+
+»Um ihn erstaunen zu machen? He--he! Nun, gut!« -- unterbrach ihn Peter
+Petrowitsch, -- »sagen Sie mir lieber, Sie kennen doch die Tochter des
+Verstorbenen, ein zartes, unbedeutendes Ding! Ist es wahr, was man von
+ihr erzählt, hm?«
+
+»Und was wäre dabei? Meiner Meinung, das heißt meiner persönlichen
+Überzeugung nach ist es die normale Lage der Frau. Warum denn nicht? Das
+heißt _distinguons_{[9]}. In der gegenwärtigen Gesellschaft gilt das
+nicht als normal, weil es eine gezwungene Lage ist, in der künftigen
+Gesellschaft ist sie vollkommen normal, weil sie freiwillig sein wird.
+Ja, auch jetzt hatte sie das Recht dazu, -- sie litt Not und das war ihr
+Fond, sozusagen ihr Kapital, über das sie vollkommenes Recht hat zu
+verfügen. Selbstverständlich werden in der künftigen Gesellschaft keine
+Fonds mehr nötig sein, ihre Rolle wird in anderer Hinsicht bestimmt,
+harmonisch und vernünftig bedingt sein. Was Ssofja Ssemenowna persönlich
+anbetrifft, so betrachte ich ihre Handlungen als einen energischen und
+personifizierten Protest gegen die gesellschaftliche Einrichtung und
+achte sie deswegen um so höher, ja ich freue mich ihrer Handlungsweise!«
+
+»Man hat mir aber doch erzählt, daß gerade Sie sie gezwungen haben, von
+hier auszuziehen!«
+
+Lebesjätnikoff wurde wütend.
+
+»Das ist wieder eine Klatscherei!« -- schrie er. -- »Die Sache verhält
+sich ganz und gar nicht so! Das ist absolut nicht so gewesen! Katerina
+Iwanowna hat damals alles geschwindelt, weil sie nichts davon verstanden
+hat! Ich habe mich gar nicht an Ssofja Ssemenowna herangemacht! Ich habe
+sie bloß gefördert, vollkommen ohne Hintergedanken, und versuchte in ihr
+den Protest zu erwecken ... Mir war es bloß um den Protest zu tun, und
+außerdem konnte Ssofja Ssemenowna sowieso nicht mehr hier bleiben!«
+
+»Luden Sie sie in die Kommune ein?«
+
+»Sie machen sich immer lustig über mich, doch ohne Erfolg, erlaube ich
+mir zu bemerken. Sie verstehen gar nichts davon. Solche Rollen gibt es
+in einer Kommune nicht. Darum wird gerade eine Kommune gegründet, damit
+solche nicht mehr existieren sollen. In einer Kommune wird ihr Stand
+sein jetziges Wesen völlig verändern, und was hier dumm ist, wird dort
+vernünftig sein, was jetzt bei den gegenwärtigen Verhältnissen
+unnatürlich ist, wird dort vollkommen natürlich sein. Alles hängt davon
+ab, in welcher Umgebung und in welcher Gesellschaft ein Mensch lebt. Der
+Mensch selbst ist nichts. Mit Ssofja Ssemenowna stehe ich noch jetzt auf
+gutem Fuße, was Ihnen als Beweis dienen kann, daß sie mich nie als ihren
+Feind und Beleidiger angesehen hat. Ja! Ich schlage ihr jetzt vor, in
+eine Kommune einzutreten, aber auf einer ganz anderen Basis! Was
+erscheint Ihnen wieder lächerlich? Wir wollen eine eigene Kommune, eine
+besondere Kommune auf viel breiteren Grundlagen begründen, als alle
+früheren. Wir sind in unseren Überzeugungen weiter gegangen. Wir
+negieren mehr! Wenn Dobroljuboff[10] aus dem Grabe steigen würde, möchte
+ich mit ihm diskutieren! Und Belinski[11] würde ich übel zurichten!
+Vorläufig aber fahre ich fort, Ssofja Ssemenowna zu fördern! Sie ist
+eine herrliche, herrliche Natur!«
+
+»Nun, und Sie benutzen auch die herrliche Natur, ah? He--he!«
+
+»Nein, nein! Oh, nein! Im Gegenteil!«
+
+»Nun, nun im Gegenteil! He--he--he! Was Sie nicht sagen!«
+
+»Glauben Sie mir doch! Warum soll ich es vor Ihnen verheimlichen, ich
+bitte Sie? Im Gegenteil, mir erscheint es selbst merkwürdig, -- sie ist
+mir gegenüber besonders ängstlich, keusch und schamhaft!«
+
+»Und Sie fördern sie selbstverständlich ... he--he! Beweisen ihr, daß
+diese ganze Schamhaftigkeit Unsinn ist? ...«
+
+»Gott bewahre, durchaus nicht! Oh, wie gemein, wie dumm -- verzeihen Sie
+es mir -- Sie das Wort >Förderung< verstehen! Nichts, rein gar nichts
+verstehen Sie! Oh, mein Gott, wie Sie noch ... unreif sind! Wir
+erstreben Freiheit für die Frau, und Sie haben bloß das eine im Sinn ...
+Ich lasse die Frage über Keuschheit und weibliche Schamhaftigkeit
+vollkommen beiseite, als Dinge, die an und für sich nutzlos und voller
+Vorurteile sind, aber ich verstehe sie vollkommen und lasse ihre
+Keuschheit mir gegenüber gelten, weil darin -- ihr Wille, ihr ganzes
+Recht besteht. Wenn sie selbst zu mir sagen würde: -- >Ich will dich
+haben<, -- könnte ich mich eines großen Erfolges rühmen, weil das
+Mädchen mir sehr gefällt. Gegenwärtig behandelt sie gewiß niemand
+höflicher und zuvorkommender und mit größerer Achtung ihrer Würde, als
+ich ... Ich warte und hoffe -- und weiter nichts!«
+
+»Schenken Sie ihr besser etwas. Ich wette, daß Sie daran noch nicht
+gedacht haben.«
+
+»Sie verstehen nichts, gar nichts; ich habe es Ihnen schon oft gesagt!
+Gewiß, ihre Lage ist derart, aber hier ist noch eine andere Frage! Eine
+ganz andere Frage! Sie verachten sie einfach. Wenn Sie eine Tatsache
+sehen, die Sie irrtümlicherweise für verachtungswürdig halten,
+verweigern Sie einem menschlichen Wesen eine humane Betrachtung. Sie
+wissen noch gar nicht, was sie für eine Natur ist! Mir tut es nur sehr
+leid, daß sie in der letzten Zeit fast gänzlich aufgehört hat zu lesen
+und keine Bücher von mir mehr nimmt. Früher hat sie sich öfters Bücher
+geholt. Es ist auch schade, daß sie trotz ihrer Energie und
+Entschlossenheit, zu protestieren, -- die sie schon einmal bewiesen hat,
+immer noch wenig Selbständigkeit, sozusagen Unabhängigkeit, wenig
+Verneinung besitzt, um sich endgültig von einigen Vorurteilen und ...
+Dummheiten loszureißen. Und ungeachtet dessen, daß sie manche Fragen
+ausgezeichnet begreift. Sie hat z. B. glänzend die Frage über das
+Handküssen verstanden, das heißt, daß der Mann das Gesetz der Gleichheit
+mit der Frau überschreitet, wenn er ihr die Hand küßt. Über diese Frage
+wurde bei uns debattiert und ich habe es ihr sofort mitgeteilt. Auch für
+Assoziationen der Arbeiter in Frankreich zeigt sie Interesse. Jetzt
+erörterte ich mit ihr die Frage des ungehinderten Zutritts in alle
+Wohnungen der künftigen Gesellschaft.«
+
+»Was ist das?«
+
+»In letzter Zeit wurde über die Frage debattiert, ob ein Mitglied der
+Kommune das Recht habe, zu jeder Zeit in das Zimmer eines anderen
+Mitgliedes, sei es ein Mann oder eine Frau, eintreten darf ..., und es
+wurde beschlossen, daß er das Recht dazu habe ...«
+
+»Wenn aber der oder die in diesem Augenblicke mit einem natürlichen
+Bedürfnisse beschäftigt ist, he--he!«
+
+Andrei Ssemenowitsch wurde böse.
+
+»Sie reden immer über dasselbe, über die verfluchten >Bedürfnisse<!« --
+rief er voll Haß aus, -- »pfui, wie ärgere ich mich, wie bin ich wütend,
+daß ich damals, als ich Ihnen das System erklärte, so vorzeitig diese
+verfluchten Bedürfnisse erwähnte! Zum Teufel! Das ist immer der Stein
+des Anstoßes für Ihresgleichen, am schlimmsten ist es, daß sie es zur
+Zielscheibe ihrer Witzeleien machen, ehe sie erfahren, wie die Sache
+ist! Als wären sie im Rechte! Als könnten Sie sich etwas darauf
+einbilden! Pfui! Ich habe immer behauptet, daß man diese ganze Frage
+Neulingen erst am Schlusse darstellen kann, wenn sie schon von dem
+System überzeugt sind, wenn sie schon entwickelt und auf dem richtigen
+Wege sich befinden. Ja, und sagen Sie mir bitte, was finden Sie
+Häßliches und Verachtungswürdiges, z. B. an einer Mistgrube? Ich bin der
+erste, der bereit ist, alle beliebigen Mistgruben zu reinigen! Da ist
+noch nicht mal etwas Selbstaufopferndes dabei. Es ist einfach eine
+Arbeit, eine edle, für die Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder
+andern wert ist, nur bedeutend höher steht, als zum Beispiel die
+Tätigkeit irgendeines Rafael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.«
+
+»Und edler vor allem, edler ist, -- he--he!«
+
+»Was heißt edel? Ich verstehe solche Ausdrücke bei der Feststellung von
+menschlicher Tätigkeit nicht. >Edel<, >großmütig< -- Unsinn, Dummheiten,
+alte Worte voller Vorurteile, die ich verneine! Alles, was der
+Menschheit _von Nutzen_ ist, ist auch edel. Ich verstehe nur das eine
+Wort, -- _nützlich_! Kichern Sie, soviel Sie wollen, es ist doch so!«
+
+Peter Petrowitsch lachte laut. Er hatte seine Berechnungen abgeschlossen
+und das Geld eingesteckt. Ein Teil davon blieb noch auf dem Tische
+liegen. Die Frage »über Mistgruben« hatte schon ein paarmal, trotz ihrer
+ganzen Flachheit, zur Folge gehabt, daß es zwischen Peter Petrowitsch
+und seinem jungen Freunde zu Mißverständnissen und Uneinigkeiten
+gekommen war. Die ganze Dummheit war, daß Andrei Ssemenowitsch sich
+tatsächlich ärgerte. Luschin fand nur eine Zerstreuung darin, heute
+jedoch wollte er Lebesjätnikoff ärgern.
+
+»Sie sind wegen Ihres gestrigen Mißerfolges wütend und suchen Streit,«
+-- platzte endlich Lebesjätnikoff heraus, der trotz seiner
+»Unabhängigkeit« und aller seiner »Proteste« nicht wagte, Peter
+Petrowitsch entgegenzutreten und noch immer aus früheren Jahren her
+gewohnt war, Respekt zu beobachten.
+
+»Sagen Sie mir lieber,« -- unterbrach ihn Peter Petrowitsch hochmütig
+und ärgerlich, -- »können Sie ... oder besser gesagt, sind Sie
+tatsächlich so gut mit der erwähnten jungen Person bekannt, daß Sie sie
+sofort, auf einen Augenblick, in dieses Zimmer bitten können? Ich
+glaube, sie sind schon alle vom Friedhofe zurückgekehrt ... Ich höre
+Schritte ... Ich möchte diese Person einen Augenblick sehen.«
+
+»Wozu denn?« fragte verwundert Lebesjätnikoff.
+
+»Ich möchte sie sehen. Heute oder morgen verlasse ich diese Wohnung und
+möchte ihr noch etwas mitteilen ... Ich bitte Sie übrigens, während der
+Unterredung hier zu bleiben. Es ist besser. Sonst könnten Sie, Gott weiß
+noch was, denken.«
+
+»Ich denke mir gar nichts dabei ... Ich habe nur gefragt, und wenn Sie
+etwas vorhaben, so gibt's nichts Leichteres, als sie hierher zu bitten.
+Ich will sofort hingehen. Und ich will Sie, seien Sie überzeugt, nicht
+stören.«
+
+Und wirklich, nach etwa fünf Minuten kehrte Lebesjätnikoff mit
+Ssonjetschka zurück. Sie trat äußerst verwundert und schüchtern ein. In
+solchen Fällen war sie stets schüchtern und fürchtete neue Gesichter und
+neue Bekanntschaften, schon als Kind fürchtete sie sich davor und
+wieviel mehr noch jetzt ... Peter Petrowitsch begrüßte sie »freundlich
+und höflich,« und mit einem Anflug von Vertraulichkeit, die bei solch
+einem ehrenwerten und soliden Menschen, wie er, einem jungen und in
+gewissem Sinne _interessanten_ Wesen gegenüber, seiner Meinung nach, gut
+angebracht war. Er beeilte sich, sie »zu ermutigen,« und bot ihr einen
+Platz ihm gegenüber am Tische an. Ssonja setzte sich hin, sah sich um,
+-- sah Lebesjätnikoff an, das auf dem Tisch liegende Geld, blickte
+wieder zu Peter Petrowitsch und wandte die Augen nicht mehr von ihm ab.
+Lebesjätnikoff ging zur Türe, Peter Petrowitsch aber stand auf, gab
+Ssonja ein Zeichen, sitzen zu bleiben und hielt Lebesjätnikoff zurück.
+
+»Ist Raskolnikoff dort? Ist er gekommen?« fragte er ihn im Flüstertone.
+
+»Raskolnikoff? Er ist da. Warum? Ja, er ist da ... Er ist soeben
+gekommen, ich habe ihn gesehen ... Was ist mit ihm?«
+
+»Nun, dann bitte ich Sie inständig, hier bei uns zu bleiben und mich
+nicht allein mit diesem ... Fräulein zu lassen. Es ist eine ganz
+unbedeutende Sache, aber man kann, weiß Gott, was daraus schließen. Ich
+will nicht, daß es Raskolnikoff _dort_ erzählt ... Verstehen Sie, was
+ich meine?«
+
+»Ich verstehe, ich verstehe!« -- begriff plötzlich Lebesjätnikoff. --
+»Ja, Sie haben recht ... Nach meiner persönlichen Überzeugung gehen Sie
+in Ihren Befürchtungen zu weit, aber ... Sie haben dennoch recht. Bitte,
+ich bleibe. Ich will mich hier ans Fenster stellen und will Sie nicht
+stören ... Meiner Ansicht nach haben Sie recht ...«
+
+Peter Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, setzte sich Ssonja gegenüber,
+blickte sie aufmerksam an und gab sich ein außergewöhnlich solides und
+sogar ein wenig strenges Aussehen, als möchte er dadurch sagen, -- »du
+sollst dir nichts dabei denken, Verehrteste.« Ssonja wurde ganz
+verlegen.
+
+»Zuerst bitte ich Sie, Ssofja Ssemenowna, mich bei Ihrer verehrten Frau
+Mutter zu entschuldigen ... Es ist doch richtig? Katerina Iwanowna nimmt
+die Stelle einer Mutter bei Ihnen ein?« -- begann er sehr würdevoll und
+ziemlich freundlich.
+
+Man merkte, daß er die freundschaftlichsten Absichten hatte.
+
+»Ja, sie vertritt mir die Mutter,« -- antwortete Ssonja hastig und
+ängstlich.
+
+»Nun, also entschuldigen Sie mich bei ihr, daß ich durch
+unvorhergesehene Umstände gezwungen bin, abzusagen und zu dem Essen
+nicht erscheinen kann, trotz der angenehmen Einladung Ihrer Frau
+Mutter.«
+
+»Ich will es sagen; ihr sofort sagen,« -- und Ssonjetschka sprang hastig
+vom Stuhle auf.
+
+»Das ist _noch_ nicht alles,« -- hielt sie Peter Petrowitsch zurück und
+lächelte über ihre Einfalt und Unkenntnis von Anstand, -- »Sie kennen
+mich wenig, liebe Ssofja Ssemenowna, wenn Sie meinen, daß ich wegen
+dieser unbedeutenden, mich allein angehenden Ursache jemanden wie Sie
+persönlich bemüht und gebeten hätte, zu mir zu kommen. Ich habe noch ein
+anderes Anliegen.«
+
+Ssonja setzte sich wieder hastig hin. Die bunten Banknoten, die auf dem
+Tische lagen, flimmerten wieder vor ihren Augen, sie wandte schnell ihr
+Gesicht von ihnen ab und erhob die Augen zu Peter Petrowitsch; es kam
+ihr auf einmal höchst unanständig vor, besonders weil _sie_ es war,
+fremdes Geld anzublicken. Sie heftete ihren Blick auf den goldenen
+Kneifer in der linken Hand Peter Petrowitschs, und auf den großen,
+massiven, wertvollen Ring mit einem gelben Stein an seinem Mittelfinger,
+-- aber schnell wandte sie die Augen auch davon ab, und da sie nicht
+wußte, wohin sie sehen sollte, blickte sie wieder Peter Petrowitsch
+unverwandt ins Gesicht. Nachdem er noch würdevoller, als vorhin, eine
+Weile geschwiegen hatte, fuhr er fort:
+
+»Es traf sich, daß ich gestern im Vorübergehen einige Worte mit der
+unglücklichen Katerina Iwanowna wechselte. Ein paar Worte genügten, um
+zu erfahren, daß sie sich in einem -- unnatürlichen Zustande befindet,
+-- wenn man sich so ausdrücken kann ...«
+
+»Ja ... in einem unnatürlichen,« -- pflichtete Ssonja hastig ihm bei.
+
+»Oder einfacher und verständlicher gesagt, -- in einem kranken
+Zustande.«
+
+»Ja, einfacher und verständ... ja, sie ist krank.«
+
+»Nicht wahr, das stimmt. Aus dem Gefühle der Humanität, und ... und
+sozusagen, des Mitleides möchte ich meinerseits, ihr unvermeidliches und
+unglückliches Schicksal voraussehend, irgendwie ihr nützlich sein. Es
+scheint mir, daß die ganze arme Familie jetzt auf Ihnen allein lastet.«
+
+»Erlauben Sie mir zu fragen,« -- stand Ssonja plötzlich auf, -- »was
+haben Sie ihr gestern von der Möglichkeit einer Pension gesagt? Sie
+sagte mir, daß Sie es übernommen hätten, ihr eine Pension zu bewirken.
+Ist das wahr?«
+
+»Keineswegs, und sogar in gewisser Beziehung ein Unsinn. Ich habe nur
+von einer einmaligen Unterstützung, als der Witwe eines im Dienste
+gestorbenen Beamten, erwähnt, -- wenn Protektion da sei, -- aber wie mir
+scheint, hat Ihr verstorbener Vater nicht nur die gesetzliche Frist
+nicht ausgedient, sondern hatte in der letzten Zeit gar nicht im
+staatlichen Dienste gestanden. Mit einem Worte, es konnte Hoffnung, wenn
+auch eine ziemlich zweifelhafte, da sein, denn im Grunde genommen, gibt
+es in diesem Falle keine Rechte auf eine Unterstützung, sondern im
+Gegenteil ... So, sie dachte schon an eine Pension, he--he--he! Eine
+flinke Dame!«
+
+»Ja, an eine Pension ... Sie ist leichtgläubig und gut, und aus Güte
+glaubt sie alles und ... und ... sie hat so einen Verstand ... Ja ...
+entschuldigen Sie,« -- sagte Ssonja und stand wieder auf, um
+fortzugehen.
+
+»Erlauben Sie, Sie haben mich nicht zu Ende gehört.«
+
+»Ja, ich habe nicht zu Ende gehört,« -- murmelte Ssonja.
+
+»Also, setzen Sie sich.«
+
+Ssonja wurde furchtbar verlegen und setzte sich, zum dritten Male.
+
+»Nachdem ich ihre Lage mit den unglücklichen kleinen Kindern sehe,
+möchte ich, -- wie ich schon gesagt habe -- irgendwie nach meinen
+Kräften nützlich sein, das heißt, was man nach Kräften nennt, nicht
+mehr. Man könnte zum Beispiel eine Sammlung veranstalten oder sozusagen
+eine Verlosung ... oder etwas dieser Art, -- wie es auch stets in
+ähnlichen Fällen von den Nächststehenden oder auch Fremden, überhaupt
+von Menschen, die helfen möchten, arrangiert wird. Darüber hatte ich die
+Absicht, mit Ihnen zu reden. Man könnte es tun.«
+
+»Ja, es wäre gut ... Gott wird Sie dafür ...« stammelte Ssonja und
+blickte Peter Petrowitsch unverwandt an.
+
+»Man könnte es, aber ... darüber können wir nachher ... das heißt, man
+könnte gleich heute den Anfang machen. Wir wollen uns noch einmal am
+Abend sehen, es besprechen und sozusagen die Grundlagen festsetzen.
+Kommen Sie so gegen sieben Uhr zu mir. Ich hoffe, daß Andrei
+Ssemenowitsch sich daran beteiligen wird ... Aber ... hier gibt es einen
+Umstand, der vorher und genau erwähnt werden muß. Deshalb habe ich Sie,
+Ssofja Ssemenowna, auch hierher bemüht. Meine Ansicht geht nämlich
+dahin, daß man Katerina Iwanowna selbst kein Geld in die Hände geben
+darf, ja daß es gefährlich ist; der Beweis dafür liegt in dem heutigen
+Gedächtnismahl. Ohne eine trockene Rinde Brot zu morgen und ... Stiefel,
+und andere nötigen Dinge zu haben, -- wird heute Rum und Madeira und ...
+Kaffee eingekauft. Ich habe es im Vorbeigehen gesehen. Morgen hängt
+wieder alles bis auf das letzte Stück Brot an Ihnen, und das ist
+unsinnig. Darum muß die Sammlung nach meiner persönlichen Ansicht so vor
+sich gehen, daß die unglückliche Witwe von dem Gelde nichts wissen darf,
+nur Sie allein würden es zu wissen bekommen. Ist das nicht richtiger?«
+
+»Ich weiß es nicht. Sie ist nur heute so ... nur einmal im Leben ... sie
+wollte so gern sein Gedächtnis feiern, ihm die Ehre erweisen ... Sie ist
+sonst sehr klug. Aber, wie Sie wollen, und ich werde Ihnen sehr, sehr,
+sehr ... und sie werden Ihnen sehr ... Gott wird Ihnen ... und die
+Waisen ...«
+
+Ssonja sprach nicht zu Ende und weinte.
+
+»So. Nun, also behalten Sie es im Auge, jetzt aber belieben Sie zur
+Unterstützung Ihrer Verwandten fürs erste eine meinen Kräften
+angemessene Summe von mir entgegenzunehmen. Ich möchte ausdrücklich
+wünschen, daß mein Name dabei nicht genannt wird. Bitte ... da ich
+sozusagen selbst Sorgen habe, bin ich nicht imstande, mehr ...«
+
+Und Peter Petrowitsch streckte Ssonja einen Zehnrubelschein entgegen,
+wobei er ihn peinlich aufrollte. Ssonja nahm den Schein in Empfang,
+errötete, sprang auf, murmelte etwas und begann sich eilig zu
+verabschieden. Peter Petrowitsch begleitete sie feierlich bis zur Türe.
+Sie sprang aus dem Zimmer, ganz erregt und abgequält und kehrte zu
+Katerina Iwanowna in größter Verlegenheit zurück.
+
+Während dieses Vorganges stand Andrei Ssemenowitsch bald am Fenster,
+bald ging er im Zimmer herum und wollte das Gespräch nicht unterbrechen.
+Als Ssonja fortgegangen war, trat er auf Peter Petrowitsch zu und
+reichte ihm feierlich die Hand.
+
+»Ich habe alles gehört und alles _gesehen_,« sagte er und betonte
+besonders das letzte Wort. »Das ist edel, das heißt, ich wollte sagen,
+human! Sie wollten keinen Dank, ich habe es gesehen! Und obwohl ich,
+offen gestanden, prinzipiell mit der privaten Wohltätigkeit nicht
+sympathisieren kann, weil sie nicht bloß das Übel nicht vertilgt,
+sondern es nur noch mehr stärkt, muß ich gestehn, daß ich Ihre Handlung
+mit Vergnügen gesehen habe, -- ja, ja, mir gefällt es.«
+
+»Oh, das ist Unsinn!« murmelte Peter Petrowitsch ein wenig erregt und
+blickte aufmerksam Lebesjätnikoff an.
+
+»Nein, es ist kein Unsinn! Ein Mann, der wie Sie durch den gestrigen
+Vorfall beleidigt und geärgert ist, und gleichzeitig fähig ist, an das
+Unglück von anderen zu denken, -- ein solcher Mensch ist ... obwohl er
+durch seine Handlungen einen sozialen Fehler begeht, -- dennoch ... der
+Achtung würdig! Ich habe es sogar von Ihnen, Peter Petrowitsch, nicht
+erwartet, um so mehr, nach Ihren Begriffen ... oh, wie Ihre Begriffe
+Ihnen noch hinderlich sind! Wie Sie, zum Beispiel, dieser gestrige
+Mißerfolg aufregt!« rief der gute kleine Andrei Ssemenowitsch aus und
+fühlte wieder eine stärkere Sympathie für Peter Petrowitsch, »und wozu,
+wozu brauchen Sie unbedingt diese Ehe, diese _gesetzliche_ Ehe, lieber,
+edler Peter Petrowitsch? Warum brauchen Sie unbedingt diese
+_Gesetzlichkeit_ in der Ehe? Nun, wenn Sie wollen, schlagen Sie mich,
+aber ich freue mich, freue mich, daß diese Ehe nicht zustande gekommen
+ist, daß Sie frei sind, daß Sie noch nicht ganz für die Menschheit
+verloren sind, ich freue mich ... So, jetzt habe ich mich
+ausgesprochen!«
+
+»Weil ich in Ihrer illegalen Ehe keine Hörner tragen und fremde Kinder
+züchten will, aus diesem Grunde brauche ich die gesetzliche Ehe,« sagte
+Luschin, nur um etwas zu sagen.
+
+Er war besonders besorgt und nachdenklich.
+
+»Kinder? Sie sagen Kinder?« fuhr Andrei Ssemenowitsch auf wie ein
+Kampfroß, das das Signal gehört hatte, »Kinder -- das ist eine soziale
+Frage und eine Frage von größter Wichtigkeit, das gebe ich zu, aber die
+Kinderfrage wird sich anders lösen. Einige verwerfen vollkommen die
+Kinder, wie alles, was mit Familie zu tun hat. Wir wollen über die
+Kinder nachher reden und wollen uns jetzt mit den Hörnern beschäftigen.
+Ich muß Ihnen gestehen, daß das mein schwacher Punkt ist. Dieser üble
+Husarenausdruck, der Ausdruck eines Puschkins ist im künftigen Lexikon
+undenkbar. Ja, und was sind Hörner? Oh, welch eine Verirrung! Was für
+Hörner? Wozu Hörner? Welch ein Unsinn! Im Gegenteil, in der illegalen
+Ehe können sie gar nicht existieren! Die Hörner sind nur die natürliche
+Folge jeder gesetzlichen Ehe, sozusagen, ihre Korrektur, ein Protest, so
+daß sie in diesem Sinne keineswegs erniedrigend sind ... Und wenn ich
+irgendwann, -- diesen Unsinn einmal angenommen, -- gesetzlich
+verheiratet sein sollte, so würde ich mich sogar über diese verfluchten
+Hörner freuen; ich würde dann meiner Frau sagen, -- >mein Freund, ich
+habe dich bis jetzt bloß geliebt, jetzt aber achte ich dich auch, weil
+du verstanden hast, zu protestieren!< Sie lachen! Das kommt davon, weil
+Sie nicht imstande sind, sich von den Vorurteilen loszureißen! Zum
+Teufel, ich begreife doch, worin gerade die Unannehmlichkeit besteht,
+wenn man in gesetzlicher Ehe betrogen wird, -- aber das ist doch bloß
+eine niederträchtige Folge einer niederträchtigen Tatsache, wo beide
+Teile erniedrigt sind. Wenn aber die Hörner einem offen aufgesetzt
+werden, wie in der illegalen Ehe, dann existieren sie nicht mehr, sie
+sind undenkbar und verlieren sogar die Benennung Hörner. Im Gegenteil,
+Ihre Frau wird Ihnen bloß beweisen, wie sie Sie schätzt, indem sie Sie
+für unfähig hält, ihrem Glücke im Wege zu sein und Sie für so reif
+betrachtet, daß Sie wegen ihres neuen Mannes an ihr keine Rache nehmen
+werden. Zum Teufel, ich träume zuweilen, daß, wenn ich mich verheiraten
+würde, pfui! wenn ich heiraten würde, -- ob illegal, ob gesetzlich, das
+ist einerlei, -- würde ich selbst zu meiner Frau einen Liebhaber
+bringen, wenn sie sich noch keinen angeschafft hätte, und würde ihr
+sagen, -- >mein Freund, ich liebe dich, aber ich wünsche auch, daß du
+mich achtest, -- bitte, hier hast du ihn!< Ist das nicht das Richtige?«
+
+Peter Petrowitsch hörte zu und lachte, aber ohne besondere Begeisterung.
+Er hörte fast nicht zu. Er überlegte sich etwas ganz anderes, und
+Lebesjätnikoff merkte es auch schließlich. Peter Petrowitsch war
+aufgeregt, rieb sich die Hände und dachte nach. Das alles kam Andrei
+Ssemenowitsch später erst zum Bewußtsein.
+
+
+ II.
+
+Es würde schwer fallen, genau die Gründe anzuführen, aus welchen die
+Idee dieses sinnlosen Gedächtnismahles in dem verstörten Gehirn von
+Katerina Iwanowna entstanden war. Es waren beinahe zehn Rubel von dem
+Gelde daraufgegangen, das ihr Raskolnikoff eigentlich zur Beerdigung
+Marmeladoffs gegeben hatte. Vielleicht hielt sich Katerina Iwanowna dem
+Verstorbenen gegenüber verpflichtet, sein Andenken »wie es sich gehört«
+zu ehren, damit alle Mitbewohner und besonders Amalie Iwanowna wissen
+sollten, daß er »nicht nur gar nicht schlechter als sie, vielleicht weit
+besser war,« und daß niemand von ihnen das Recht hatte, sich über ihn zu
+stellen. Vielleicht hatte hierzu jener besondere _Stolz der Armen_ am
+meisten beigetragen, aus dem viele bei gewissen gesellschaftlichen
+Gebräuchen, die, wie es einmal ist, für alle und jeden verbindlich sind,
+ihre letzten Kräfte anspannen und die letzten Spargroschen ausgeben, um
+bloß »nicht schlechter, als andere« zu sein, und damit die anderen nicht
+darüber »reden« können. Es war auch sehr möglich, daß Katerina Iwanowna
+das Verlangen hatte, gerade in diesem Falle, namentlich in dem
+Augenblicke, wo sie scheinbar von aller Welt verlassen war, allen diesen
+»unbedeutenden und schlimmen Mietern« zu zeigen, daß sie nicht nur
+Lebensart hatte und sich auf Empfänge verstand, sondern daß sie gar
+nicht zu solch einem Lose bestimmt war, daß sie »in einem feinen, ja in
+dem aristokratischen Hause eines Obersten« erzogen war, und daß sie
+durchaus nicht dazu erzogen war, die Diele selbst zu fegen und des
+Nachts Kinderlumpen zu waschen. Diese Anfälle von Stolz und Eitelkeit
+suchen zuweilen die ärmlichsten und unterdrücktesten Menschen heim und
+verwandeln sich oft bei ihnen in ein gereiztes, unüberwindliches
+Bedürfnis. Katerina Iwanowna gehörte eigentlich nicht zu den
+Unterdrückten, man konnte sie durch Umstände töten, aber sie moralisch
+_unterdrücken_, das heißt, sie einschüchtern und ihren Willen
+unterwerfen, -- konnte man nicht. Außerdem sagte Ssonjetschka mit gutem
+Grunde, daß ihr Verstand verstört sei. Man konnte es freilich nicht
+positiv und endgültig sagen, doch in letzter Zeit, in dem letzten Jahre,
+wurde ihr armer Kopf zu stark gequält, als daß er nicht zum Teil
+gelitten hätte. Und eine stark fortgeschrittene Schwindsucht trägt auch,
+wie die Ärzte sagen, zu einer Geistesstörung bei.
+
+_Weine_ in Mehrzahl und verschiedene Sorten gab es freilich nicht,
+ebenso fehlte auch _Madeira_, -- das war übertrieben, Wein war aber da.
+Es gab Branntwein, Rum und Lissaboner, alles von der schlechtesten
+Sorte, aber in genügender Menge. Von Speisen waren außer Kutje drei oder
+vier Gerichte vorhanden, alles aus der Küche von Amalie Iwanowna, dazu
+wurden zwei Samowars aufgestellt für Tee und Punsch, die nach dem Essen
+gereicht werden sollten. Katerina Iwanowna hatte alles selbst
+eingekauft, als Hilfe hatte sie einen Mieter mitgehabt, einen kläglichen
+Polen, der weiß Gott warum bei Frau Lippewechsel wohnte. Er hatte sich
+sofort zu Katerina Iwanownas Verfügung gestellt, lief den ganzen
+gestrigen Tag und den ganzen heutigen Morgen Hals über Kopf und mit
+heraushängender Zunge herum und war besonders bemüht, daß man dies auch
+bemerken solle. Wegen jeder Kleinigkeit kam er zu Katerina Iwanowna
+gelaufen, war ihr sogar in die Kaufläden nachgegangen, nannte sie
+fortwährend »Pani Chorunschina« und wurde ihr zuletzt bis zum Überdrusse
+langweilig, obwohl sie zuerst behauptet hatte, daß sie ohne diesen
+»bereitwilligen und großmütigen« Menschen vollkommen verloren wäre.
+Katerina Iwanowna hatte die Eigenschaft in ihrem Charakter, den ersten
+Besten, der ihr in den Weg lief, mit den hellsten und schönsten Farben
+zu schmücken, ihn so zu loben, daß mancher sich schämte, allerhand
+Umstände, die gar nicht existierten, zu seinem Preise zu erfinden,
+selbst daran vollkommen aufrichtig und ehrlich zu glauben, und dann
+plötzlich, mit einem Male, sich enttäuscht zu fühlen, alles abzubrechen,
+den Menschen zu beschimpfen und hinauszuschmeißen, den sie noch vor
+einigen Stunden buchstäblich angebetet hatte. Von Natur aus hatte sie
+einen heiteren, fröhlichen und friedfertigen Charakter, infolge des
+ununterbrochenen Unglücks und Mißerfolges begann sie geradezu _rasend_
+zu wünschen und zu verlangen, daß alle in Frieden und Freude leben
+sollten und anders _nicht leben dürfen_, und der geringste Mißklang im
+Leben, die allerkleinsten Mißerfolge brachten sie sofort in Wut, und sie
+fing an, unmittelbar nach den stärksten Hoffnungen und Phantasien ihr
+Schicksal zu verfluchen, alles, was ihr unter die Hände geriet, zu
+zerreißen und fortzuwerfen und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.
+Amalie Iwanowna hatte plötzlich in Katerina Iwanownas Augen eine
+ungewöhnliche Bedeutung und außergewöhnliche Achtung errungen,
+vielleicht einzig aus dem Grunde, weil dieses Gedächtnismahl vorbereitet
+wurde und weil Amalie Iwanowna von ganzem Herzen bereit war, an allen
+Besorgungen teilzunehmen. Sie hatte es übernommen, den Tisch zu decken,
+die Wäsche, das Geschirr und alles übrige herzugeben und in ihrer Küche
+das Essen zuzubereiten. Katerina Iwanowna überließ ihr alles und ging
+auf den Friedhof. Und wirklich war alles aufs beste hergerichtet, -- der
+Tisch war ziemlich reinlich gedeckt, das Geschirr, Gabeln, Messer,
+Gläser, Weingläser, Tassen -- all dieses paßte nicht zusammen, war von
+den verschiedenen Mietern zusammengeborgt, aber alles stand zur
+bestimmten Stunde auf seinem Platze, und Amalie Iwanowna, im Vollgefühle
+ihrer gut besorgten Aufgabe, begrüßte die Zurückkehrenden mit einem
+gewissen Stolze; sie war sehr geputzt in einer Haube mit neuen
+Trauerbändern und im schwarzen Kleide. Dieser Stolz, obwohl berechtigt,
+mißfiel aus irgendeinem Grunde Katerina Iwanowna, »als hätte man in der
+Tat ohne Amalie Iwanowna nicht verstanden, den Tisch zu decken«! Auch
+die Haube mit den neuen Bändern erregte ihr Mißfallen, --
+»möglicherweise ist diese dumme Deutsche noch darauf stolz, daß sie die
+Wirtin ist und sich aus Gnade bereit erklärt hat, den armen Mietern zu
+helfen? Aus Gnade? Bitte sehr! Bei Katerina Iwanownas Papa, der Oberst
+und beinahe Gouverneur war, wurde zuweilen der Tisch für vierzig
+Personen gedeckt, so daß irgend eine Amalie Iwanowna oder besser gesagt
+Ludwigowna, dort nicht mal in die Küche zugelassen worden wäre ...«
+Katerina Iwanowna beschloß aber, ihre Gefühle nicht vor der Zeit zu
+äußern, obgleich sie sich im Herzen fest vorgenommen hatte, Amalie
+Iwanowna heute noch unbedingt abzutrumpfen und sie an ihren richtigen
+Platz zu erinnern, sonst würde die sich Gott weiß was einbilden;
+vorläufig behandelte sie sie bloß kalt. Eine andere Unannehmlichkeit
+hatte auch teilweise zu der Gereiztheit von Katerina Iwanowna
+beigetragen, -- zu der Beerdigung war, außer dem Polen, von den
+Geladenen fast niemand erschienen, der aber hatte Zeit genug, auf den
+Friedhof zu laufen; zu dem Gedächtnismahle dagegen waren nur die
+Unansehnlichsten und Armen gekommen, viele sogar nicht ganz nüchtern,
+sozusagen das Pack. Die älteren und angesehensten waren, wie
+absichtlich, ferngeblieben, als hätten sie sich alle verabredet. Peter
+Petrowitsch Luschin zum Beispiel, man kann sagen, der solideste von
+allen Mietern, war nicht erschienen, während Katerina Iwanowna schon
+gestern aller Welt, das heißt Amalie Iwanowna, Poletschka, Ssonjetschka
+und dem Polen, erzählt hatte, daß dieser edelste und großmütigste Mann
+mit besten Verbindungen und von sehr großem Vermögen, ein früherer
+Freund ihres ersten Mannes, der in dem Hause ihres Vaters verkehrt habe,
+ihr versprochen hätte, alle Mittel in Bewegung zu setzen, um ihr eine
+bedeutende Pension zu verschaffen. Wir wollen hierbei bemerken, daß,
+wenn Katerina Iwanowna mit Verbindungen und Vermögen anderer Leute
+prahlte, sie es vollkommen uneigennützig, sozusagen aus übervollem
+Herzen tat, nur aus dem Vergnügen allein, den Gelobten noch mehr zu
+preisen und ihm einen größeren Wert zu verleihen. Nächst Luschin und
+wahrscheinlich »seinem Beispiele folgend« war auch »dieser üble,
+schändliche Lebesjätnikoff« nicht erschienen. Was bildet sich denn
+dieser ein? Man hatte ihn bloß aus Gnade und weil er in einem Zimmer mit
+Peter Petrowitsch lebte und sein Bekannter war, eingeladen; es wäre
+peinlich für ihn gewesen, nicht eingeladen zu sein. Auch eine feine Dame
+mit ihrer Tochter, »einer überreifen alten Jungfer,« die erst seit zwei
+Wochen bei Amalie Iwanowna lebten, waren nicht erschienen; sie hatten
+sich trotz ihres kurzen Aufenthaltes hier schon einige Male über den
+Lärm und das Geschrei in Marmeladoffs Zimmer, besonders, wenn der
+Verstorbene betrunken nach Hause gekommen war, beklagt. Das hatte
+Katerina Iwanowna durch Amalie Iwanowna erfahren, wenn diese sich mit
+Katerina Iwanowna zankte, ihr drohte, sie und die ganze Familie
+hinauszujagen, und dabei aus vollem Halse schrie, daß sie »anständige
+Mieter, deren Fußtritt Sie nicht mal wert sind,« beunruhige. Katerina
+Iwanowna hatte absichtlich beschlossen, diese Dame und ihre Tochter,
+deren »Fußtritt sie angeblich nicht wert sei,« einzuladen, und um so
+mehr, weil jene bei zufälligen Begegnungen sich hochmütig abwandte, --
+damit sie wisse, daß man hier »edler denkt und fühlt und sie, ohne sich
+des Bösen zu erinnern, einlade,« und damit sie sehen sollten, daß
+Katerina Iwanowna nicht gewohnt sei, in solchen Verhältnissen zu leben.
+Es war unbedingt vorausgesetzt, ihnen allen bei Tische zu erklären und
+zu erwähnen, daß ihr verstorbener Vater beinahe Gouverneur gewesen sei,
+und gleichzeitig indirekt zu verstehen zu geben, daß es überflüssig
+wäre, sich bei Begegnungen abzuwenden, und daß es äußerst dumm wäre.
+Ebenso war der dicke Oberstleutnant, eigentlich war er Stabskapitän
+außer Dienst, nicht erschienen, es stellte sich heraus, daß er seit dem
+gestrigen Morgen vor Trunkenheit »ohne Hinterbeine« war. Mit einem
+Worte: es waren bloß erschienen, -- der Pole, dann ein häßlicher
+schweigsamer Kanzlist, in einem stark glänzenden Frack, mit Finnen im
+Gesichte und einem widerlichen Geruche und noch ein tauber und fast
+erblindeter alter Mann, der einst in einem Postamt gedient hatte und den
+jemand seit undenkbaren Zeiten und aus unbekannten Gründen bei Amalie
+Iwanowna untergebracht hatte. Es war auch ein betrunkener
+verabschiedeter Leutnant, eigentlich ein Proviantmeister, erschienen mit
+einem höchst unanständigen lauten Lachen, und: »stellen Sie sich vor,«
+ohne Weste! Einer von den Gästen setzte sich direkt an den Tisch, ohne
+sogar Katerina Iwanowna zu begrüßen, und zuguterletzt tauchte eine
+Person im Schlafrocke auf, da sie keine Kleider besaß, aber das war so
+unanständig, daß es den Bemühungen von Amalie Iwanowna und dem Polen
+gelang, ihn hinauszuexpedieren. Der Pole hatte übrigens noch zwei andere
+Polen mitgebracht, die niemals bei Amalie Iwanowna gewohnt hatten, und
+die niemand vorher in ihrem Hause gesehen hatte. Dies alles reizte
+Katerina Iwanowna in höchstem Grade. »Für wen waren schließlich denn
+alle Vorbereitungen getroffen?« Man hatte sogar die Kinder, um an Platz
+zu gewinnen, nicht am Tische untergebracht, der das ganze Zimmer
+einnahm, sondern für sie in der hinteren Ecke auf einem Kasten gedeckt,
+wobei die beiden kleineren auf einer Bank saßen, Poletschka aber, als
+die Erwachsene, mußte auf sie aufpassen, sie füttern und ihnen »wie
+Kindern aus feinem Hause« die Näschen putzen. Mit einem Worte, Katerina
+Iwanowna glaubte alle mit doppelter Würde und sogar mit Hochmut begrüßen
+zu müssen. Manche blickte sie besonders streng an und bat sie von oben
+herab, sich an den Tisch zu setzen. Da sie aber aus irgendeinem Grunde
+meinte, Amalie Iwanowna für alle Nichterschienenen verantwortlich machen
+zu müssen, begann sie plötzlich, sie äußerst nachlässig zu behandeln,
+was jene sofort merkte und dadurch sehr pikiert wurde. Solch ein Anfang
+deutete auf kein gutes Ende. Endlich hatten alle Platz genommen.
+Raskolnikoff trat fast in demselben Augenblick ein, als sie von dem
+Friedhofe zurückkehrten. Katerina Iwanowna war überaus erfreut, ihn zu
+sehen, erstens, weil er der einzige »gebildete« von allen Gästen war und
+»wie bekannt, nach zwei Jahren in der hiesigen Universität einen
+Lehrstuhl einnehmen werde,« und zweitens, weil er sofort und ehrerbietig
+sich entschuldigte, daß er trotz seines Wunsches zu der Beerdigung nicht
+hatte kommen können. Sie stürzte sich buchstäblich auf ihn, setzte ihn
+bei Tisch neben sich zur linken Hand, zur rechten saß Amalie Iwanowna,
+und wandte sich ununterbrochen an Raskolnikoff, trotz ihrer beständigen
+Unruhe und Sorge, daß das Essen auch richtig herumgereicht wurde und
+alle erhielten, trotz des qualvollen Hustens, der sie alle Augenblicke
+unterbrach und peinigte, und der sich in diesen letzten zwei Tagen
+besonders verstärkt zu haben schien. Sie beeilte sich, ihm halb
+flüsternd alle angesammelten Gefühle und ihre ganze gerechte Entrüstung
+über das mißlungene Gedächtnismahl mitzuteilen, wobei die Entrüstung oft
+unabsichtlich und ohne jede Berechnung, einem ausgelassenen Lachen über
+die versammelten Gäste, besonders aber über die Wirtin, Platz machte.
+
+»An allem ist dieser Kuckuck schuld. Sie wissen, wen ich meine, -- die
+dort, dort!« und Katerina Iwanowna wies mit dem Kopfe auf die Wirtin.
+»Sehen Sie sie an, -- sie hat die Augen aufgesperrt, fühlt, daß wir über
+sie reden, kann aber nichts verstehn. Pfui, so eine Eule! Ha--ha--ha!
+... Kche--kche--kche!« hustete sie. »Und was will sie mit ihrer Haube!
+Kche--kche--kche! Haben Sie gemerkt, sie möchte gern, daß alle Gäste
+meinen sollen, sie beschütze mich und erweise mir mit ihrem Hiersein
+eine Ehre. Ich habe sie gebeten, wie man eine anständige Person bittet,
+bessere Leute, und zwar die Bekannten des Verstorbenen, einzuladen, und
+sehen Sie, wen sie hergebracht hat, -- allerhand Narren! Schmutzfinke!
+Sehen Sie nur diesen da mit dem unreinen Teint, -- das ist doch eine
+Rotznase auf zwei Beinen! Und diese Polen ... ha--ha--ha!
+Kche--kche--kche! Niemand, niemand hat sie vorher hier gesehen, auch ich
+nicht. Wozu sind die gekommen, frage ich Sie? Wie hübsch sie sitzen,
+nebeneinander. -- Pan, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen zu,
+»haben Sie genug vorgelegt? Nehmen Sie noch? Trinken Sie Bier! Wollen
+Sie nicht Schnaps? Sehen Sie, -- er ist aufgesprungen und verbeugt sich,
+sehen Sie, sehen Sie, -- sie sind wahrscheinlich sehr hungrig, die
+Armen! Tut nichts, mögen sie essen! Sie lärmen wenigstens nicht, aber
+... aber ich fürchte ... für die silbernen Löffel der Wirtin! ... Amalie
+Iwanowna!« wandte sie sich plötzlich an die Wirtin laut, »ich sage Ihnen
+im voraus, falls Ihre Löffel gestohlen werden, übernehme ich keine
+Verantwortung! Ha--ha--ha!« lachte sie, wandte sich wieder an
+Raskolnikoff, wies wieder auf die Wirtin und freute sich über ihre
+Bemerkung. »Sie hat es nicht verstanden, sie hat wieder nichts
+verstanden! Sehen Sie, wie sie mit aufgesperrtem Munde dasitzt, -- wie
+eine echte Eule, eine Eule mit neuen Bändern, ha--ha--ha!«
+
+Das Lachen verwandelte sich von neuem in einen unerträglichen Husten,
+der minutenlang anhielt. Auf ihrem Taschentuch zeigte sich Blut, und
+Schweißtropfen traten auf die Stirne. Sie zeigte Raskolnikoff schweigend
+das Blut, und kaum hatte sie sich erholt, flüsterte sie mit roten
+Flecken auf den Wangen ihm lebhaft wieder zu.
+
+»Sehen Sie, ich habe ihr einen sehr heiklen Auftrag gegeben, diese Dame
+und ihre Tochter einzuladen. Sie wissen doch, von wem ich spreche? Hier
+mußte man in der zartesten Weise, in der geschicktesten Art handeln, sie
+war aber so ungeschickt, daß diese angereiste dumme Person, dieses
+aufgeblasene Geschöpf, diese unbedeutende Provinzmadam, sie die Witwe
+irgendeines Majors, die sich hier um eine Pension bemüht und bei den
+Behörden deswegen herumläuft ... und die mit ihren fünfundfünfzig Jahren
+sich schminkt und färbt ... was allgemein bekannt ist ... daß dieses
+Geschöpf nicht nur sich für zu gut hielt, hier zu erscheinen, sondern
+sich nicht einmal entschuldigen ließ, wie es in diesen Fällen doch die
+gewöhnlichste Höflichkeit verlangt! Ich kann nicht begreifen, warum auch
+Peter Petrowitsch nicht gekommen ist? Und wo ist Ssonja? Wo ist sie nur
+hingegangen? Ah, da ist sie ja! Ssonja, wo warst du? Merkwürdig, daß du
+sogar am Beerdigungstage deines Vaters so unpünktlich bist. Rodion
+Romanowitsch, sie soll sich neben Sie setzen. Hier ist dein Platz,
+Ssonjetschka ... nimm, was dir gefällt. Nimm von dem Fisch, er ist gut.
+Hat man den Kindern auch etwas gegeben? Poletschka, habt ihr alles?
+Kche--kche--kche! Nun, gut. Sei ein artiges Kind, Lene und du, Kolja,
+zapple nicht mit den Beinen, sitz, wie ein anständiges Kind sitzen muß.
+Was sagst du, Ssonjetschka?«
+
+Ssonja beeilte sich sofort, ihr die Entschuldigung von Peter Petrowitsch
+mitzuteilen und versuchte so laut zu sprechen, daß es alle hören
+konnten, gebrauchte gewählte und ehrerbietige Ausdrücke, die sie
+absichtlich Peter Petrowitsch andichtete. Sie fügte hinzu, daß Peter
+Petrowitsch sie besonders gebeten habe, mitzuteilen, daß er
+unverzüglich, sobald es ihm nur möglich sei, herkommen würde, um in
+_geschäftlichen Angelegenheiten_ allein mit Katerina Iwanowna zu
+sprechen und zu verabreden, was man jetzt und künftig unternehmen könnte
+und dergleichen mehr.
+
+Ssonja wußte, daß dies Katerina Iwanowna friedlicher stimmen und
+beruhigen würde, sie würde sich dadurch geschmeichelt fühlen und ihr
+Stolz würde befriedigt sein. Sie setzte sich neben Raskolnikoff, den sie
+hastig begrüßte und flüchtig, doch voll Interesse anblickte. Während der
+folgenden Zeit vermied sie aber ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen.
+Sie war zerstreut, obwohl sie die ganze Zeit Katerina Iwanowna im Auge
+behielt, um ihre Wünsche zu erraten. Weder sie, noch Katerina Iwanowna
+waren in Trauer, da sie keine Kleider hatten; Ssonja hatte ein
+dunkelbraunes Kleid an und Katerina Iwanowna ihr einziges, ein
+dunkelgestreiftes Kattunkleid. Die Mitteilung über Peter Petrowitsch
+verbreitete sich rasch. Als Katerina Iwanowna mit Würde Ssonja angehört
+hatte, erkundigte sie sich ebenso würdevoll, wie es Peter Petrowitsch
+gehe? Dann _flüsterte_ sie hörbar Raskolnikoff zu, daß es für einen
+angesehenen und soliden Menschen, wie Peter Petrowitsch, unmöglich
+gewesen wäre, in solch eine »ungewöhnliche Gesellschaft« zu kommen,
+trotz der großen Anhänglichkeit an ihre Familie und der alten
+Freundschaft mit ihrem Papa.
+
+»Sehen Sie, darum bin ich auch Ihnen, Rodion Romanowitsch, so sehr
+dankbar, daß Sie trotz solcher Umgebung Salz und Brot von mir nicht
+verschmäht haben,« fügte sie fast laut hinzu, »übrigens bin ich
+überzeugt, daß nur die besondere Freundschaft zu meinem armen
+Verstorbenen Sie veranlaßt hat, Ihr Wort zu halten.«
+
+Sie blickte noch einmal voll Stolz und Würde ihre Gäste an und
+erkundigte sich plötzlich mit besonderer Fürsorge laut über den Tisch
+hinüber bei dem tauben alten Manne, »ob er nicht mehr vom Braten nehmen
+möchte und ob er Lissaboner bekommen habe?« Der Alte antwortete nicht
+und konnte lange nicht begreifen, wonach man ihn frage, obwohl seine
+Nachbarn aus Scherz ihn anzustoßen begannen. Er blickte nur mit offenem
+Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch mehr
+hervorrief.
+
+»Ist das ein Holzklotz! Sehen Sie doch nur! Wozu hat man den hierher
+gebracht? Was Peter Petrowitsch anbetrifft, so war ich stets seiner
+sicher,« fuhr Katerina Iwanowna fort, Raskolnikoff zu erzählen, »so
+gleicht er selbstverständlich nicht ...« wandte sie sich laut und scharf
+und mit äußerst strenger Miene zu Amalie Iwanowna, daß sie darüber
+erschrak, »so gleicht er nicht jenen aufgedonnerten Madams mit ihren
+Schleppen, die bei meinem Papa nicht mal als Köchinnen ihren Dienst
+verrichten gedurft hätten, und denen mein verstorbener Mann nur deshalb
+die Ehre erwiesen hatte, sie zu empfangen, weil er eine unerschöpfliche
+Güte hatte.«
+
+»Ja, er liebte eins zu trinken, ja, er liebte es und trank auch!« rief
+plötzlich der verabschiedete Proviantmeister und leerte das zwölfte Glas
+Schnaps.
+
+»Mein verstorbener Mann hatte diese Schwäche, das wissen alle,« stürzte
+sich Katerina Iwanowna plötzlich auf ihn, »aber er war ein guter und
+edler Mensch, der seine Familie liebte und achtete; nur das eine war
+schlimm, daß er in seiner Güte allerhand verdorbenen Leuten zu sehr
+traute und weißgott mit wem trank, sogar mit solchen, die seine
+Stiefelsohle nicht wert waren! Stellen Sie sich vor, Rodion
+Romanowitsch, man fand in seiner Tasche einen Pfefferkuchenhahn, -- er
+ging total betrunken heim, und dachte doch an seine Kinder.«
+
+»Einen Ha--hn? Sie belieben zu sagen -- ei--nen Hahn?« rief der
+Proviantmeister.
+
+Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie dachte über etwas
+nach und seufzte.
+
+»Sie meinen auch sicher, wie alle, daß ich zu streng zu ihm war,« fuhr
+sie fort, sich an Raskolnikoff wendend. »Das ist nicht richtig! Er hat
+mich geachtet, er hat mich sehr, sehr geachtet! Er war eine gute Seele.
+Und zuweilen tat er mir so leid! Er saß manchmal in der Ecke und sah
+mich an, da tat er mir so leid, ich wollte zu ihm freundlich sein,
+dachte mir aber, wenn ich jetzt freundlich zu ihm bin, betrinkt er sich
+wieder. Nur mit Strenge konnte man ihn einigermaßen davon zurückhalten.«
+
+»Ja, es ist vorgekommen, daß er an den Haaren gezerrt wurde, es ist
+vorgekommen, öfters,« brüllte wieder der Proviantmeister und leerte noch
+ein Glas.
+
+»Es wäre angebracht, manche Dummköpfe nicht nur an den Haaren zu zerren,
+sondern mit einem Besenstiel zu verprügeln. Ich rede jetzt nicht von dem
+Verstorbenen!« trumpfte Katerina Iwanowna den Proviantmeister ab.
+
+Die roten Flecken auf ihren Wangen traten immer stärker hervor und ihre
+Brust hob sich. Nur wenig fehlte und ein Skandal begann. Viele
+kicherten; das wäre ihnen offenbar sehr angenehm gewesen. Man begann den
+Proviantmeister zu stoßen und ihm etwas zuzuflüstern. Man wollte beide
+aufeinander hetzen.
+
+»Erlau--ben Sie mir zu fragen, wen Sie damit meinten,« begann der
+Proviantmeister wieder, »wessen Ehre ... haben Sie soeben ... Übrigens,
+es ist unnötig! Unsinn! Eine Witwe! Eine arme Witwe! Ich verzeihe ...
+Ich passe!« und er goß sich wieder Schnaps ein.
+
+Raskolnikoff hörte schweigend, voll Widerwillen zu. Er nahm nur aus
+Höflichkeit, rührte kaum die Stücke an, die ihm Katerina Iwanowna alle
+Augenblicke auf den Teller legte und aß bloß, um sie nicht zu kränken.
+Er blickte Ssonja aufmerksam an. Ssonja aber wurde immer unruhiger und
+besorgter; sie ahnte, daß das Gedächtnismahl kein friedliches Ende
+nehmen werde und beobachtete voll Angst die sich steigernde Gereiztheit
+von Katerina Iwanowna. Sie wußte, daß sie der Hauptgrund war, warum die
+beiden zugereisten Damen so verachtungsvoll mit der Einladung Katerina
+Iwanownas umgegangen waren. Sie hatte von Amalie Iwanowna selbst gehört,
+daß die Mutter allein schon durch die Einladung beleidigt worden war und
+die Frage gestellt hatte, »wie sie es verantworten könne, ihre Tochter
+neben _diese Person_ zu setzen?« Ssonja ahnte, daß Katerina Iwanowna
+dies irgendwie erfahren habe, und eine Kränkung Ssonjas bedeutete für
+Katerina Iwanowna mehr, als eine persönliche, mehr als eine Kränkung
+ihrer Kinder, ihres Papas, mit einem Worte, es war für sie eine tödliche
+Beleidigung, und Ssonja wußte, daß Katerina Iwanowna sich nicht eher
+beruhigen werde, »bis sie diesen geputzten Krähen bewiesen hätte, daß
+sie beide ...« und dergleichen mehr. Wie absichtlich, hatte in diesem
+Augenblicke jemand vom anderen Ende des Tisches Ssonja einen Teller
+zugesandt, worauf zwei Herzen, durchbohrt mit einem Pfeile, aus Brot
+geknetet waren. Katerina Iwanowna flammte auf und bemerkte sofort laut
+über den ganzen Tisch weg, daß der Absender sicher »ein betrunkener
+Esel« sei. Amalie Iwanowna, die auch etwas Schlimmes ahnte, und
+gleichzeitig durch den Hochmut Katerina Iwanownas im tiefsten Innern
+gekränkt war, begann ohne jede Veranlassung, nur um die unangenehme
+Stimmung der Gesellschaft abzulenken und gleichzeitig um ihr Ansehen in
+aller Augen zu heben, zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr »Karl aus
+der Apotheke« eines Nachts in einer Droschke nach Hause fuhr und der
+Kutscher ihn ermorden wollte, daß Karl ihn sehr, sehr gebeten habe, ihn
+nicht zu ermorden, »die Hände gefaltet und geweint hätte und so
+erschrocken wäre und daß die Angst sein Herz durchbohrt hätte«. Katerina
+Iwanowna bemerkte aber lächelnd, daß Amalie Iwanowna keine russischen
+Anekdoten erzählen solle. Jene fühlte sich dadurch noch mehr gekränkt
+und erwiderte, daß ihr Vater in Berlin ein sehr, sehr bedeutender Mann
+gewesen sei und daß er »immer die Hände in die Taschen steckte«. Die
+lachlustige Katerina Iwanowna konnte ein lautes Lachen nicht
+unterdrücken, so daß Amalie Iwanowna die letzte Geduld verlor und kaum
+mehr sich beherrschen konnte.
+
+»Das ist mal eine Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna Raskolnikoff zu und
+wurde fast heiter gestimmt, »sie wollte sagen, daß er die Hände in den
+Taschen hatte, sie brachte es aber so heraus, als ob er ein Langfinger
+gewesen wäre, ha--ha! Haben Sie auch schon bemerkt, daß alle diese
+Ausländer in Petersburg, hauptsächlich aber die Deutschen, die
+irgendwoher zu uns kommen, dümmer sind, als wir? Sie müssen doch
+zugeben, daß man nicht erzählen kann, daß >Karls Herz aus Angst
+durchbohrt sei,< und daß er -- so eine Memme! -- anstatt den Kutscher zu
+knebeln, die >Hände gefaltet, geweint und sehr gebeten hat<. Ach, so ein
+Holzklotz! Und sie glaubt noch, daß dies sehr rührend sei und ahnt
+nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist dieser betrunkene
+Proviantmeister noch bei weitem klüger als sie; man sieht, daß er ein
+Bruder Liederlich ist und das bißchen Verstand vertrunken hat, diese
+andere aber tut so ordentlich, sitzt ernst da ... Sehen Sie nur, wie sie
+nun die Augen aufreißt. Sie ist böse! Ärgert sich! Ha--ha--ha!
+Kche--kche--kche!«
+
+Als Katerina Iwanowna so lustig geworden war, kam sie auf allerhand
+Dinge und erzählte plötzlich, wie sie mit Hilfe der in Aussicht
+gestellten Pension unbedingt in ihrer Heimatsstadt T... eine Anstalt für
+junge Mädchen aus besseren Ständen errichten werde. Katerina Iwanowna
+hatte dies Raskolnikoff noch nicht selbst mitgeteilt und sie ließ sich
+auf sehr ausführliche, verlockende Einzelheiten ein. Auf rätselhafte
+Weise tauchte plötzlich in ihren Händen dasselbe »Ehrendiplom« auf, von
+dem der verstorbene Marmeladoff in der Schenke Raskolnikoff schon
+erzählt und dabei erwähnt hatte, daß Katerina Iwanowna, seine Gattin,
+bei der Entlassung aus dem Stift mit einem Shawl »vor dem Gouverneur und
+den übrigen hohen Personen« getanzt habe. Dieses Ehrendiplom mußte
+offenbar Katerina Iwanowna jetzt als Zeugnis dienen, daß sie auch ein
+Recht dazu habe, eine Erziehungsanstalt zu gründen, es war hauptsächlich
+mit der Absicht hervorgeholt und in der Nähe aufbewahrt worden, um
+endgültig »den beiden aufgedonnerten Krähen,« wenn sie zu dem
+Gedächtnismahle gekommen wären, den Hochmut zu nehmen, und um ihnen
+deutlich zu beweisen, daß Katerina Iwanowna aus einem sehr feinen Hause
+stamme, »man kann sogar sagen, aus einem aristokratischen Hause« und die
+Tochter eines Obersten und sicher mehr sei, als manche Abenteurerin, die
+in der letzten Zeit so überhand nahmen. Das Ehrendiplom ging sofort von
+Hand zu Hand unter den betrunkenen Gästen, was Katerina Iwanowna nicht
+hinderte, weil darin tatsächlich _en toutes lettres_{[10]} bemerkt war,
+daß sie die Tochter eines Hofrats und Ritters pp. sei, folglich in der
+Tat beinahe die Tochter eines Obersten. Katerina Iwanowna, einmal
+entflammt, begann unverzüglich über alle Einzelheiten des künftigen
+schönen und ruhigen Lebens in T... sich zu verbreiten, -- über die
+Gymnasiallehrer, die sie auffordern würde, in ihrer Anstalt Unterricht
+zu geben, über einen ehrenwerten, alten Herrn, einen Franzosen Mangot,
+der Katerina Iwanowna noch im Stifte in französischer Sprache
+unterwiesen hatte, und der jetzt in T... sein Leben beschloß und sicher
+für einen angemessenen Preis zu ihr kommen werde. Endlich kam sie auch
+auf Ssonja zu sprechen, »die zusammen mit Katerina Iwanowna nach T...
+reisen und dort in allem ihr behilflich sein solle«. Aber hier prustete
+jemand am andern Ende des Tisches vor Lachen. Katerina Iwanowna gab sich
+sofort den Anschein, als beachte sie nicht das Lachen am anderen Ende
+des Tisches, erhob absichtlich die Stimme und begann mit Begeisterung
+über die unzweifelhaften Vorzüge von Ssofja Ssemenowna als ihrer Stütze
+zu reden, ȟber ihre Sanftmut, Geduld, Selbstaufopferung, edlen Sinn und
+ihre Bildung,« wobei sie Ssonja auf die Wange tätschelte, aufstand und
+sie ein paarmal innig küßte. Ssonja errötete und Katerina Iwanowna brach
+plötzlich in Weinen aus, nannte sich selbst »eine nervenschwache dumme
+Person, die ziemlich angegriffen sei, und daß es Zeit sei, ein Ende zu
+machen, da alle gegessen hätten und daß jetzt Tee kommen könne«. Da
+riskierte Amalie Iwanowna, gänzlich verschnupft, daß sie an der ganzen
+Unterhaltung nicht den geringsten Anteil genommen hatte, und daß man sie
+gar nicht angehört hatte, den letzten Versuch und erlaubte sich mit
+unterdrücktem Ärger, Katerina Iwanowna eine äußerst sachliche und
+tiefsinnige Bemerkung zu machen, daß man nämlich in der künftigen
+Pensionsanstalt besonders auf die reine Wäsche der jüngeren Mädchen
+achthaben müsse, und daß unbedingt eine tüchtige Dame da sein müsse, um
+darauf aufzupassen, und zweitens darauf, daß die jungen Mädchen heimlich
+in der Nacht keine Romane lesen könnten. Katerina Iwanowna, wirklich
+angegriffen und sehr müde, und des Gedächtnismahls überdrüssig, schnitt
+Amalie Iwanowna schroff das Wort mit der Bemerkung ab, daß sie »Unsinn
+quatsche« und nichts verstehe; daß die Sorge um die Wäsche Sache der
+Kastellanin sei und nicht der Vorsteherin einer Anstalt für junge
+Mädchen aus besseren Ständen, und was das Lesen von Romanen anbetrifft,
+sei ihre Bemerkung einfach unanständig, und sie bitte sie endlich zu
+schweigen. Amalie Iwanowna ward rot und antwortete geärgert, daß sie es
+nur gut gemeint hätte, und daß sie für die Wohnung schon lange kein Geld
+erhalten habe. Katerina Iwanowna zeigte ihr sofort den ihr zukommenden
+Platz, indem sie sagte, daß Amalie Iwanowna lüge, wenn sie behaupte, es
+nur gut gemeint zu haben, weil sie schon gestern, als der Verstorbene
+noch auf der Bahre lag, sie wegen der Wohnungsmiete gequält habe. Darauf
+erwiderte Amalie Iwanowna mit großartiger Konsequenz, daß sie jene Damen
+eingeladen hätte, aber daß die Damen darum nicht gekommen seien, weil
+sie feine Damen seien und zu unfeinen Damen nicht gehen könnten.
+Katerina Iwanowna hielt ihr sofort unter die Nase, daß sie, solch ein
+Schmutzfink, gar nicht beurteilen könne, was in Wahrheit fein sei.
+Amalie Iwanowna konnte das nicht vertragen und erklärte sofort, daß »ihr
+Vater aus Berlin ein sehr, sehr wichtiger Mann gewesen sei, beide Hände
+in die Taschen gesteckt habe und immer nur -- puff! puff! gemacht habe«!
+Und um ihren Vater augenscheinlicher vorzustellen, sprang Amalie
+Iwanowna vom Stuhle auf, steckte ihre beiden Hände in die Taschen, blies
+die Wangen auf und begann mit dem Munde unbestimmte Töne, die -- puff!
+puff! ähnelten, hervorzubringen, unter lautem Lachen von allen Mietern,
+die Amalie Iwanowna absichtlich durch ihren Beifall reizten, weil sie
+eine Prügelei voraussahen. Jenes nun konnte wiederum Katerina Iwanowna
+nicht vertragen und sie sagte unverzüglich und laut, daß Amalie Iwanowna
+vielleicht nie einen Vater gehabt habe, daß Amalie Iwanowna einfach eine
+betrunkene Estin aus Petersburg sei und sicher irgendwo früher als
+Köchin gedient habe, vielleicht aber auch etwas schlimmeres gewesen sei.
+Amalie Iwanowna wurde krebsrot und kreischte, daß Katerina Iwanowna
+vielleicht keinen Vater gehabt habe, daß sie aber einen Vater aus Berlin
+gehabt und er einen langen Rock getragen und immer -- puff! puff! --
+gemacht habe! Katerina Iwanowna bemerkte mit Verachtung, daß ihre
+Herkunft allen bekannt sei, und daß in diesem Ehrendiplom gedruckt sei,
+daß ihr Vater Oberst war, daß aber der Vater von Amalie Iwanowna -- wenn
+sie überhaupt einen Vater gehabt habe -- sicher ein Este aus Petersburg
+war und Milch verkauft habe; am wahrscheinlichsten aber sei, daß sie gar
+keinen Vater gehabt habe, weil es bis jetzt noch nicht festzustellen
+sei, wie der Vatername von Amalie Iwanowna laute, ob Iwanowna oder
+Ludwigowna? Da geriet Amalie Iwanowna ganz außer sich, schlug mit der
+Faust auf den Tisch, fing an zu kreischen, daß sie Amalie Iwanowna und
+nicht Ludwigowna heiße, daß der Name ihres Vaters Johann sei und daß er
+Dorfschulze gewesen war und daß der Vater von Katerina Iwanowna niemals
+Dorfschulze gewesen sei. Katerina Iwanowna erhob sich von ihrem Stuhle
+und bemerkte streng, scheinbar mit ruhiger Stimme, -- obwohl sie ganz
+bleich war und ihre Brust schwer atmete, -- daß, wenn sie noch einmal
+wagen werde, ihren dreckigen Vater mit ihrem Papa auf gleiche Stufe zu
+stellen, sie ihr die Haube von ihrem Kopfe herunterreißen und mit den
+Füßen zertreten werde. Als Amalie Iwanowna das hörte, begann sie im
+Zimmer herumzulaufen und schrie aus allen Kräften, daß sie die Wirtin
+sei und daß Katerina Iwanowna sofort das Zimmer räumen solle; dann
+raffte sie die silbernen Löffel vom Tische zusammen. Es erhob sich ein
+Lärm und Getöse; die Kinder weinten. Ssonja stürzte zu Katerina Iwanowna
+hin, um sie zurückzuhalten, als aber Amalie Iwanowna etwas von
+»Sittenkontrolle« schrie, stieß Katerina Iwanowna Ssonja von sich, eilte
+auf Amalie Iwanowna zu, um ihre Drohung bezüglich der Haube sofort wahr
+zu machen. In diesem Augenblicke öffnete sich die innere Tür und auf der
+Schwelle erschien Peter Petrowitsch Luschin. Er blieb stehen und warf
+einen strengen und aufmerksamen Blick auf die ganze Gesellschaft.
+Katerina Iwanowna stürzte zu ihm hin.
+
+
+ III.
+
+»Peter Petrowitsch!« rief sie. »Schützen Sie mich! Sagen Sie dieser
+dummen Kreatur, daß sie eine gebildete Dame im Unglück nicht in dieser
+Weise behandeln dürfe, daß es ein Gericht gibt ... ich werde zu dem
+Generalgouverneur gehen ... Sie wird zur Verantwortung gezogen werden
+... Gedenken Sie der Gastfreundschaft bei meinem Vater, schützen Sie die
+Waisen!«
+
+»Erlauben Sie, meine Dame ... Erlauben Sie, erlauben Sie,« wehrte Peter
+Petrowitsch ab. »Ich hatte gar nicht die Ehre, Ihren Herrn Vater gekannt
+zu haben, wie Sie wohl wissen werden ... erlauben Sie, meine Dame!«
+Jemand lachte laut. »Und an Ihren ewigen Zänkereien mit Amalie Iwanowna
+teilzunehmen, habe ich nicht die Absicht ... Ich bin in eigener
+Angelegenheit hergekommen ... und möchte sofort mit Ihrer Stieftochter,
+Ssofja ... Iwanowna ... nicht wahr, so heißt sie ... sprechen. Erlauben
+Sie, daß ich zu ihr gehe ...«
+
+Und Peter Petrowitsch machte einen kleinen Bogen um Katerina Iwanowna
+und ging in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Ssonja befand.
+
+Katerina Iwanowna blieb auf demselben Fleck stehen, wie vom Donner
+gerührt. Sie konnte nicht begreifen, wie Peter Petrowitsch die
+Gastfreundschaft ihres Papas leugnen konnte. Nachdem sie sich einmal
+dies in den Kopf gesetzt hatte, glaubte sie auch schon selber heilig und
+fest daran. Auch der geschäftliche, trockene Ton Peter Petrowitschs ...
+in dem Verachtung, ja etwas Drohendes lag, machte sie bestürzt. Bei
+seinem Erscheinen waren alle allmählich stiller geworden. Abgesehen
+davon, daß dieser »nüchterne und ernste« Mensch von der ganzen
+Versammlung scharf abstach, merkte man, daß er aus einem wichtigen
+Anlasse hergekommen war, daß eine ungewöhnliche Ursache ihn solch eine
+Gesellschaft aufzusuchen veranlaßt hatte, und daß es jetzt wohl etwas
+geben werde. Raskolnikoff, der neben Ssonja stand, wich zur Seite, um
+Peter Petrowitsch vorbei zu lassen; Luschin schien ihn gar nicht bemerkt
+zu haben. Nach einem Augenblick erschien Lebesjätnikoff auf der
+Schwelle; er trat nicht in das Zimmer herein, sondern blieb mit einem
+besonderen Interesse dort stehen; er hörte zu, wie einer, der etwas
+nicht begreift.
+
+»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber es ist eine wichtige
+Angelegenheit,« bemerkte Peter Petrowitsch im allgemeinen, »ich freue
+mich, ein größeres Publikum zu haben. Amalie Iwanowna, ich bitte Sie
+sehr, als Wirtin dieser Wohnung, mein folgendes Gespräch mit Ssofja
+Iwanowna aufmerksam anzuhören. Ssofja Iwanowna,« fuhr er fort, sich
+direkt an die äußerst erstaunte und im voraus erschrockene Ssonja
+wendend, »von meinem Tische, in dem Zimmer meines Freundes Andrei
+Ssemenowitsch Lebesjätnikoff ist mit Ihrem Weggehen eine Reichsbanknote
+im Werte von hundert Rubel, die mir gehörte, verschwunden. Wenn Sie auf
+irgendeine Weise es wissen und uns zeigen, wo die Banknote sich jetzt
+befindet, so versichere ich Ihnen mit meinem Ehrenworte und rufe alle
+als Zeugen auf, daß die Sache damit erledigt sein wird. Im
+entgegengesetzten Falle werde ich gezwungen sein, sehr ernste Maßregeln
+zu ergreifen, und dann ... klagen Sie sich selbst an.«
+
+Ein peinliches Schweigen trat im Zimmer ein. Sogar die weinenden Kinder
+verstummten. Ssonja stand totenblaß da, sah Luschin an und konnte nichts
+antworten. Sie schien ihn immer noch nicht zu verstehen. Es vergingen
+einige Sekunden.
+
+»Nun, wie ist's?« fragte Luschin und blickte sie scharf an.
+
+»Ich weiß nicht ... Ich weiß nichts ...« sagte endlich Ssonja mit
+schwacher Stimme.
+
+»Nicht? Sie wissen nichts?« fragte Luschin sie noch einmal und schwieg
+wieder. »Denken Sie nach, Mademoiselle,« begann er dann streng, aber als
+rede er ihr immer noch im Guten zu, ȟberlegen Sie es sich, ich bin
+bereit, Ihnen noch einige Zeit zum Überlegen zu geben. Sehen Sie, --
+wenn ich nicht so fest überzeugt wäre, so hätte ich selbstverständlich
+bei meiner Erfahrenheit nicht riskiert, Sie in dieser direkten Weise zu
+beschuldigen; denn für eine solche öffentliche und direkte, aber falsche
+oder nur auch irrtümliche Beschuldigung kann ich selbst zur
+Verantwortung gezogen werden. Ich weiß es. Heute Morgen wechselte ich,
+zu meinen eigenen Zwecken, einige fünfprozentige Staatspapiere in der
+nominellen Summe von dreitausend Rubel. Die Berechnung ist in meinem
+Notizbuche eingetragen. Nach Hause gekommen, begann ich, -- mein Zeuge
+ist Andrei Ssemenowitsch, -- das Geld zu zählen, und nachdem ich
+zweitausend und dreihundert Rubel aufgezählt hatte, steckte ich sie in
+meine Brieftasche und die Brieftasche in die Seitentasche meines Rockes.
+Auf dem Tische blieben fünfhundert Rubel in Banknoten liegen und unter
+ihnen drei Noten zu je hundert Rubel. In diesem Augenblick kamen Sie --
+auf meine Bitte hin -- und die ganze Zeit waren Sie äußerst verlegen, so
+daß Sie dreimal mitten im Gespräch aufstanden und sich aus irgendeinem
+Grunde beeilten, fortzugehen, obgleich unsere Unterredung noch nicht
+beendet war. Andrei Ssemenowitsch kann dies alles bestätigen.
+Wahrscheinlich werden Sie selbst, Mademoiselle, nicht ablehnen,
+zuzugeben, daß ich Sie durch Andrei Ssemenowitsch nur aus dem einzigen
+Grunde rufen ließ, um mit Ihnen über die schlimme und hilflose Lage
+Ihrer Verwandten Katerina Iwanowna, zu der ich zum Gedächtnismahl nicht
+kommen konnte, zu sprechen und Ihnen vorzuschlagen, wie es von Nutzen
+wäre, zu ihren Gunsten irgend etwas, wie eine Sammlung, eine Verlosung
+oder ähnliches, zu veranstalten. Sie haben mir gedankt und sogar Tränen
+vergossen -- ich erzähle alles, wie es war, um Sie erstens an alles zu
+erinnern, und zweitens, um Ihnen zu zeigen, daß meinem Gedächtnisse
+nicht das Geringste entschwunden ist. Darauf nahm ich vom Tische einen
+Zehnrubelschein und überreichte ihn Ihnen, als vorläufige Unterstützung
+für Ihre Verwandten. Das alles hat Andrei Ssemenowitsch gesehen. Dann
+begleitete ich Sie zur Türe, -- Sie waren immer noch sehr verlegen. Ich
+blieb mit Andrei Ssemenowitsch allein, unterhielt mich mit ihm etwa zehn
+Minuten, und Andrei Ssemenowitsch ging bald hinaus. Ich wandte mich von
+neuem zu dem Tische, wo das Geld lag, mit der Absicht, es nachzuzählen
+und es, wie ich vorher schon beschlossen hatte, gesondert aufzuheben. Zu
+meiner Verwunderung fehlte von den übrigen eine Banknote von hundert
+Rubel. Bitte, überlegen Sie es sich, -- Andrei Ssemenowitsch kann ich in
+keinem Falle in Verdacht haben, ich würde mich selbst bei diesem
+Gedanken schämen. Bei der Berechnung konnte ich mich auch nicht irren,
+denn eine Minute vor Ihrem Kommen hatte ich alles nachgezählt und die
+Summe richtig gefunden. Sie müssen selbst zugeben, daß, wenn ich Ihrer
+Verlegenheit, Ihrer Eile wegzugehen und des Umstandes denke, daß Sie die
+Hände eine Weile auf dem Tische hatten, und wenn ich schließlich Ihre
+gesellschaftliche Lage und die mit ihr verknüpften Gewohnheiten in
+Betracht zog, ich sozusagen zu meinem Entsetzen und gegen meinen Willen
+_gezwungen_ war, bei diesem Verdachte stehen zu bleiben, -- der sicher
+grausam, aber -- gerechtfertigt ist! Ich füge hinzu und wiederhole, --
+daß trotz meiner ganzen _klaren_ Überzeugung ich vollkommen verstehe,
+daß dennoch in meiner jetzigen Beschuldigung ein gewisses Risiko für
+mich liegt. Aber, ich habe es nicht unterlassen; ich bin gegen Sie
+aufgetreten und will Ihnen auch sagen warum, -- einzig und allein, meine
+Dame, auf Grund Ihres schwärzesten Undankes! Wie? Ich fordere Sie aus
+Interesse für Ihre ärmste Verwandte auf, ich überlasse Ihnen eine meinen
+Kräften entsprechende Gabe von zehn Rubel, und Sie danken mir gleich
+darauf, auf der Stelle, für alles mit dieser Handlung! Nein, das ist
+nicht mehr schön! Eine Lehre ist notwendig! Denken Sie nach; noch mehr,
+ich bitte Sie, als Ihr aufrichtiger Freund, -- denn einen besseren
+Freund können Sie in diesem Augenblicke nicht haben, -- besinnen Sie
+sich! Sonst werde ich unbarmherzig sein! Nun, also!«
+
+»Ich habe nichts von Ihnen genommen,« -- flüsterte Ssonja entsetzt, --
+»Sie gaben mir zehn Rubel, bitte, nehmen Sie sie wieder, hier.«
+
+Ssonja zog ihr Taschentuch aus der Tasche hervor, suchte den Knoten,
+löste ihn, nahm einen Zehnrubelschein heraus und streckte ihn Luschin
+entgegen.
+
+»Und die übrigen hundert Rubel wollen Sie nicht gestehen?« -- sagte er
+vorwurfsvoll und eindringlich, ohne den Schein zu nehmen.
+
+Ssonja blickte ringsum. Alle schauten sie mit schrecklichen, strengen,
+spöttischen und haßerfüllten Gesichtern an. Sie blickte Raskolnikoff an
+... er stand mit gekreuzten Armen an der Wand und sah sie mit einem
+brennenden Blick an.
+
+»Oh, Gott!« -- entrang es Ssonja.
+
+»Amalie Iwanowna, man muß die Polizei benachrichtigen, und darum bitte
+ich Sie sehr, vorläufig nach dem Hausknecht zu schicken,« -- sagte
+Luschin leise und freundlich.
+
+»Gott der Barmherzige! Ich wußte, daß sie es gestohlen hat!« -- schlug
+Amalie Iwanowna die Hände zusammen.
+
+»Sie wußten es?« -- fiel Luschin ein, -- »also hatten Sie auch früher
+wenigstens gewisse Gründe, solches zu glauben. Ich bitte Sie,
+verehrteste Amalie Iwanowna, sich an Ihre Worte zu erinnern, die
+übrigens in Gegenwart von Zeugen ausgesprochen sind.«
+
+Von allen Seiten erhob sich plötzlich lautes Reden. Alle rührten sich.
+
+»Wie -- wie!« -- rief plötzlich Katerina Iwanowna, zu sich gekommen, und
+stürzte zu Luschin, -- »wie! Sie beschuldigen sie des Diebstahls?
+Ssonja? Ach, ihr Schufte, ihr Schufte!«
+
+Und sie eilte zu Ssonja und umarmte sie fest mit ihren hageren Armen.
+
+»Ssonja! Wie durftest du von ihm zehn Rubel nehmen! Oh, du Dumme! Gib
+sie her! Gib mir sofort diese zehn Rubel -- da haben Sie sie!«
+
+Katerina Iwanowna entriß Ssonja das Papier, zerknüllte es und warf es
+direkt Luschin ins Gesicht. Der Papierknäuel traf ihn ins Auge und fiel
+auf die Diele nieder. Amalie Iwanowna beeilte sich, das Geld aufzuheben.
+Peter Petrowitsch wurde böse.
+
+»Halten Sie diese Verrückte!« -- rief er.
+
+In diesem Augenblicke erschienen in der Türe neben Lebesjätnikoff noch
+einige Gesichter, zwischen denen auch die der beiden zugereisten Damen
+hervorguckten.
+
+»Wie! Verrückt? Ich soll verrückt sein? Dummkopf!« -- schrie Katerina
+Iwanowna. -- »Du bist selbst ein Dummkopf, du Rechtsverdreher,
+niederträchtiger Mensch! Ssonja, Ssonja soll von ihm Geld genommen
+haben! Ssonja soll eine Diebin sein! Sie wird dir noch Geld geben,
+Dummkopf!« -- Und Katerina Iwanowna lachte hysterisch. -- »Habt ihr
+schon so einen dummen Kerl gesehen?« -- wandte sie sich nach allen
+Seiten und zeigte auf Luschin. -- »Wie! Auch du!« -- sie erblickte die
+Wirtin, -- »auch du, Wurstmacherin, bestätigst, daß sie gestohlen hat,
+du gemeines preußisches Hühnerbein in Krinoline! Ach, ihr! Ach, ihr! Ja,
+sie hat das Zimmer nicht verlassen, und als sie von dir, Schuft,
+zurückkam, hatte sie sich hier neben Rodion Romanowitsch hingesetzt! ...
+Untersucht sie doch! Wenn sie nirgendwo hingegangen war, muß doch das
+Geld bei ihr sein! Suche, suche, suche doch! Wenn du aber nichts
+findest, dann, lieber Freund, wirst du bestraft! Zu Seiner Majestät, zu
+Seiner Majestät, zum Zaren selbst laufe ich hin, werfe mich dem
+Barmherzigen zu Füßen, sofort, heute noch! Ich bin verwaist! Man wird
+mich zulassen! Du denkst, man wird mich nicht zu ihm lassen? Du lügst,
+ich komme hin! Ich komme zu ihm hin! Du hast darauf gerechnet, daß sie
+schüchtern ist? Du hast darauf gehofft? Ich aber, Bruder, bin dafür
+kühn! Du wirst dein Spiel verlieren! Suche doch! Suche, suche, nun suche
+doch!«
+
+Und Katerina Iwanowna zerrte Luschin in Wut zu Ssonja.
+
+»Ich bin bereit und trage die Verantwortung ... aber nehmen Sie sich
+zusammen, meine Dame, nehmen Sie sich zusammen. Ich sehe zu gut, daß Sie
+kühn sind! ... Das ... das ... das geht nicht an!« -- murmelte Luschin,
+-- »das muß in Gegenwart der Polizei ... obwohl, übrigens, auch jetzt
+genügend Zeugen vorhanden sind ... Ich bin bereit ... Aber in jedem
+Falle ist es für einen Mann peinlich ... des Geschlechtes wegen ... Wenn
+Amalie Iwanowna helfen würde ... obwohl, übrigens, die Sache nicht so
+gehandhabt wird ... Das geht nicht an!«
+
+»Wenn Sie wünschen! Mag wer da will sie untersuchen!« -- schrie Katerina
+Iwanowna. -- »Ssonja, wende deine Taschen um! Da! da! Sieh, Scheusal,
+diese Tasche ist leer, hier lag das Taschentuch, die Tasche ist leer,
+siehst du! Da ist die andere Tasche, da, da! Siehst du! Siehst du!«
+
+Und Katerina Iwanowna wandte, nein besser gesagt, riß die beiden
+Taschen, eine nach der anderen mit dem Futter hervor. Aber aus der
+zweiten, rechten Tasche sprang plötzlich ein Stück Papier hervor,
+beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel zu den Füßen Luschins hin.
+Alle hatten es gesehen, manche schrien. Peter Petrowitsch bückte sich,
+hob das Stück Papier mit zwei Fingern von der Diele auf, hielt es so,
+daß alle sehen konnten und faltete es auseinander. Es war ein
+Hundertrubelschein, dreimal zusammengefaltet. Peter Petrowitsch
+umschrieb mit seiner Hand einen Bogen und zeigte allen den Schein.
+
+»Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!« -- heulte Amalie
+Iwanowna, -- »Sie müssen nach Sibirien! Hinaus!«
+
+Von allen Seiten ertönten Ausrufe. Raskolnikoff schwieg, ohne die Augen
+von Ssonja abzuwenden, nur selten und schnell blickte er Luschin an.
+Ssonja stand auf derselben Stelle, wie bewußtlos, -- sie schien nicht
+einmal verwundert zu sein. Plötzlich aber überzog eine Röte ihr ganzes
+Gesicht; sie schrie auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
+
+»Nein, ich war es nicht! Ich habe nichts genommen! Ich weiß von nichts!«
+-- rief sie mit einem herzzerreißenden Schrei und stürzte zu Katerina
+Iwanowna.
+
+Jene umfaßte sie und preßte sie fest an sich, als wolle sie mit eigener
+Brust sie vor allen schützen.
+
+»Ssonja! Ssonja! Ich glaube es nicht! Siehst du, ich glaube es nicht!«
+-- rief Katerina Iwanowna, trotz des Augenscheins, und schüttelte sie in
+ihren Armen, wie ein Kind, küßte sie unzählige Male, erfaßte ihre Hände
+und küßte sie inbrünstig. -- »Du sollst es genommen haben? Ja, wie dumm
+die Menschen sind! Oh, Gott! Ihr dummen, dummen Leute!« -- rief sie,
+sich an alle wendend, -- »ja, ihr wißt noch gar nicht, ihr wißt nicht,
+was das für ein Herz, was das für ein Mädchen ist! Sie soll es genommen
+haben, sie! Ja, sie wird barfüßig gehen, sie wird ihr letztes Kleid
+ausziehen und es verkaufen, und euch es abgeben, wenn ihr es braucht, --
+so ist sie! Sie hat den gelben Schein genommen, weil meine, meine Kinder
+vor Hunger umkamen, sie hat sich unseretwegen verkauft! ... Ach, der
+Verstorbene, der Verstorbene! Siehst du? Siehst du? Da hast du deine
+Gedächtnisfeier! Oh, Gott! Ja, schützt sie doch, was steht ihr alle!
+Rodion Romanowitsch! Warum treten Sie nicht für sie ein? Glauben Sie
+auch etwa daran? Ihr seid ihres kleinen Fingers nicht wert, ihr alle,
+alle, alle! Oh, Gott! Schütze du sie doch endlich!«
+
+Das Weinen der armen, schwindsüchtigen, verlassenen Katerina Iwanowna
+schien einen starken Eindruck auf alle Anwesenden gemacht zu haben. Es
+war so viel Klägliches, so viel Leidendes in diesem vor Schmerz
+verzogenen, eingetrockneten, schwindsüchtigen Gesichte, in diesen
+geborstenen, blutbedeckten Lippen, in dieser heiser schreienden Stimme,
+in diesem Schluchzen und Weinen, das dem Weinen von Kindern glich, in
+diesem vertrauensvollen, kindlichen und gleichzeitig verzweifelten
+Flehen um Schutz, daß alle die Unglückliche zu bedauern schienen. Sogar
+Peter Petrowitsch schien es sofort leid zu tun.
+
+»Meine Dame! Meine Dame!« -- rief er mit eindringlicher Stimme, -- »Sie
+berührt diese Tatsache nicht! Niemand wird es wagen, Sie der Absicht
+oder der Teilnahme zu beschuldigen, um so mehr, als Sie es selbst
+entdeckt haben, indem Sie die Tasche umwandten, -- Sie haben dies nicht
+vorausgesehen. Ich bin bereit, es sehr, sehr zu bedauern, sollte die
+äußerste Armut Ssofja Ssemenowna dazu bewogen haben, aber warum wollten
+Sie, Mademoiselle, es nicht eingestehen? Fürchten Sie die Schande? Der
+erste Schritt? Sie sind wahrscheinlich bestürzt? Es ist begreiflich,
+sehr begreiflich ... Aber warum läßt man sich auf solche Sachen ein!
+Meine Herrschaften!« wandte er sich an alle Anwesenden, -- »meine
+Herrschaften! Weil ich Bedauern und Mitleid habe, bin ich bereit, es
+sogar jetzt, trotz der empfangenen persönlichen Beleidigungen, zu
+verzeihen. Möge Ihnen, Mademoiselle, die jetzige Schande als eine Lehre
+für die Zukunft dienen,« -- wandte er sich an Ssonja, -- »ich aber
+unterlasse alle weiteren Schritte und erledige hiermit die Sache.
+Genug!«
+
+Peter Petrowitsch blickte Raskolnikoff von der Seite an. Ihre Blicke
+trafen sich. Der flammende Blick Raskolnikoffs wollte ihn zu Asche
+verbrennen. Katerina Iwanowna schien nichts mehr gehört zu haben, sie
+umarmte und küßte Ssonja wie wahnsinnig. Auch die Kinder hatten Ssonja
+von allen Seiten mit ihren Händchen umfaßt und Poletschka, die nicht
+ganz verstand, was vor sich ging, schien vollkommen in Tränen zu
+ertrinken, sie krümmte sich vor lauter Schluchzen und verbarg ihr
+hübsches, von Tränen geschwollenes Gesichtchen an Ssonjas Schulter.
+
+»Ist das gemein!« -- ertönte plötzlich eine laute Stimme in der Türe.
+
+Peter Petrowitsch blickte sich schnell um.
+
+»Welch eine Gemeinheit!« -- wiederholte Lebesjätnikoff und blickte ihm
+unverwandt in die Augen. Peter Petrowitsch zuckte zusammen. Alle hatten
+es bemerkt. Nachher erinnerten sie sich dessen. Lebesjätnikoff trat in
+das Zimmer.
+
+»Und Sie haben es gewagt, mich als Zeugen anzurufen?« -- sagte er und
+trat an Peter Petrowitsch heran.
+
+»Was bedeutet das, Andrei Ssemenowitsch? Worüber sprechen Sie?« --
+murmelte Luschin.
+
+»Das bedeutet, daß Sie ... ein Verleumder sind, das bedeuten meine
+Worte!« -- sagte Lebesjätnikoff eifrig und blickte ihn streng mit seinen
+kurzsichtigen, kleinen Augen an.
+
+Er war furchtbar böse. Raskolnikoff starrte ihn an, als fange er jedes
+Wort auf. Wieder trat ein Schweigen ein. Peter Petrowitsch war bestürzt,
+besonders im ersten Momente.
+
+»Wenn Sie mir ...« -- begann er stotternd, -- »ja, was ist mit Ihnen?
+Sind Sie bei Verstand?«
+
+»Ich bin bei Verstand, Sie aber sind ... ein Gauner! Ach, wie ist das
+gemein! Ich hörte die ganze Zeit zu, ich wartete immer absichtlich, um
+alles zu verstehen, denn offen gestanden, alles ist mir bis jetzt noch
+nicht ganz klar ... Aber warum haben Sie dies alles getan -- ich
+verstehe es nicht!«
+
+»Ja, was habe ich denn getan? Hören Sie doch auf, in Ihren unsinnigen
+Rätseln zu sprechen! Oder haben Sie vielleicht zu viel getrunken?«
+
+»Sie gemeiner Mensch, Sie trinken vielleicht, ich nicht. Ich trinke
+nicht mal Schnaps, weil es gegen meine Überzeugungen ist. Denken Sie
+sich, _er selbst_ hat mit eigenen Händen diesen Hundertrubelschein
+Ssofja Ssemenowna gegeben, -- ich habe es gesehen, war Zeuge, ich kann
+es beschwören! Er, er hat es getan!« -- wiederholte Lebesjätnikoff, sich
+an alle und jeden einzelnen wendend.
+
+»Sind Sie verrückt geworden oder nicht, Sie Milchbart?« -- kreischte
+Luschin, -- »sie hat doch selbst in Ihrer Gegenwart ... sie hat doch
+selbst soeben in Gegenwart aller bestätigt, -- daß sie außer den zehn
+Rubel nichts von mir erhalten hat. Wie konnte ich es denn ihr
+überreichen?«
+
+»Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!« -- rief Lebesjätnikoff, --
+»und obwohl es gegen meine Überzeugungen ist, bin ich doch bereit,
+gleich vor Gericht jeden beliebigen Eid zu leisten, denn ich habe es
+gesehen, wie er ihn ihr heimlich zusteckte! Ich Dummkopf aber dachte,
+daß Sie es ihr aus gutem Herzen zusteckten! Während Sie sich von ihr an
+der Türe verabschiedeten, als sie sich umwandte und Sie ihr die eine
+Hand reichten, steckten Sie mit der anderen, mit der linken Hand ihr
+heimlich das Papier in die Tasche hinein. Ich habe es gesehen! Ich habe
+es gesehen!«
+
+Luschin erbleichte.
+
+»Was lügen Sie da vor!« -- rief er ihm frech zu, -- »ja, und wie konnten
+Sie vom Fenster aus das Papier bemerken! Sie haben es geträumt ... Sie,
+mit Ihren kurzsichtigen Augen. Sie phantasieren!«
+
+»Nein, ich habe es nicht geträumt! Und obwohl ich weit stand, habe ich
+alles, alles gesehen, und obgleich man vom Fenster aus tatsächlich
+schwer ein Stück Papier unterscheiden kann, -- hier sagen Sie die
+Wahrheit, -- wußte ich doch bestimmt, daß es ein Hundertrubelschein war,
+denn als Sie Ssofja Ssemenowna den Zehnrubelschein gaben, -- ich habe es
+selbst gesehen, -- nahmen Sie gleichzeitig vom Tische einen
+Hundertrubelschein. Ich habe es gesehen, weil ich in diesem Augenblicke
+in der Nähe war und weil mir sofort dabei ein Gedanke durch den Sinn
+fuhr, weiß ich genau, daß Sie diesen Schein in der Hand hielten. Sie
+haben ihn zusammengefaltet und hielten ihn die ganze Zeit in der Faust.
+Ich vergaß es später, als Sie aber aufstanden, legten Sie den Schein aus
+der rechten in die linke Hand und ließen ihn beinahe fallen; da besann
+ich mich darauf, weil mir wieder derselbe Gedanke durch den Sinn fuhr,
+und zwar, daß Sie heimlich ihr eine Wohltat erweisen wollen. Sie können
+sich vorstellen, wie ich nun beobachtete, -- und da sah ich auch, wie es
+Ihnen glückte, ihn in ihre Tasche zu stecken. Ich habe es gesehen, habe
+es gesehen und werde schwören!« Lebesjätnikoff geriet fast außer Atem.
+Von allen Seiten ertönten allerhand Ausrufe, die meistens Erstaunen
+bedeuteten, aber in manchen brach auch ein drohender Ton durch. Alle
+drängten sich um Peter Petrowitsch. Katerina Iwanowna stürzte zu
+Lebesjätnikoff hin.
+
+»Andrei Ssemenowitsch! Ich habe mich in Ihnen geirrt! Schützen Sie sie!
+Sie allein treten für sie ein! Sie ist eine Waise, Gott hat Sie gesandt!
+Andrei Ssemenowitsch, mein Lieber, Väterchen!«
+
+Und Katerina Iwanowna, fast ganz außer sich, warf sich vor ihm auf die
+Knie hin.
+
+»Blödes Zeug!« -- brüllte Luschin, rasend vor Wut, -- »Sie reden blödes
+Zeug, mein Herr ... >Ich vergaß es, besann mich, vergaß< -- was soll das
+heißen! Also, ich soll ihr den Schein absichtlich zugesteckt haben?
+Wozu? Zu welchem Zwecke? Was habe ich gemein mit dieser ...«
+
+»Wozu? Das ist es ja, was ich selbst nicht begreife, das aber ist
+sicher, daß ich die Wahrheit erzähle! Ich irre mich nicht, Sie
+niederträchtiger Mensch, Sie Verbrecher; ich entsinne mich, daß mir
+sofort damals die Frage in den Sinn kam, und zwar, als ich Ihnen dankte
+und Ihnen die Hand drückte. Warum haben Sie es ihr heimlich in die
+Tasche gesteckt? Das heißt warum heimlich? Vielleicht bloß aus dem
+Grunde, weil Sie es vor mir verbergen wollten, da Sie wissen, daß ich
+entgegengesetzter Ansicht bin und die Privatwohltätigkeit, als nicht
+radikal heilend, verneine? Nun, und ich kam zu der Überzeugung, daß Sie
+sich in der Tat vor mir schämen, solch einen Haufen Geld fortzugeben,
+und außerdem meinte ich, daß Sie ihr vielleicht eine Überraschung
+bereiten und sie in Staunen setzen wollten, wenn sie in ihrer Tasche
+volle hundert Rubel finden wird. Denn manche Wohltäter lieben es sehr,
+ihre Wohltaten so anzubringen, -- das weiß ich. Ich dachte auch, daß Sie
+sie auf die Probe stellen wollen, das heißt, ob sie, wenn sie es
+gefunden hat, kommen würde, um sich zu bedanken! Ich hatte auch den
+Gedanken, daß Sie jeden Dank vermeiden möchten, damit ... nun, wie man
+es sagt ... damit die rechte Hand nicht wüßte ... kurz, wie man es sagt
+... Nun, mir kamen so viele Gedanken in den Sinn, daß ich beschloß, mir
+alles nachher genauer zu überlegen, ich hielt es auch für unzart, Ihnen
+zu zeigen, daß ich Ihr Geheimnis kenne. Mir kam aber der Gedanke, daß
+Ssofja Ssemenowna möglicherweise das Geld verlieren könnte, ehe sie es
+selbst bemerkt hat. Darum beschloß ich, hierher zu kommen, sie
+herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß man ihr einen Hundertrubelschein
+in ihre Tasche gesteckt hat. Auf dem Wege hierher ging ich zuerst in das
+Zimmer der Damen Kobyljätnikoff hinein, um ihnen die >allgemeinen
+Ergebnisse der positiven Methode< zu überbringen und ihnen besonders den
+Artikel von Piderit -- übrigens auch von Wagner -- zu empfehlen. Ich kam
+dann hierher, und hier ist diese schlimme Geschichte passiert. Sagen
+Sie, konnte ich, konnte ich alle diese Gedanken und Erwägungen gehabt
+haben, wenn ich tatsächlich nicht gesehen hätte, daß Sie ihr hundert
+Rubel in die Tasche gesteckt haben?«
+
+Als Andrei Ssemenowitsch seine langatmige Rede mit so einem logischen
+Abschluß beendet hatte, war er furchtbar ermüdet, und von seinem
+Gesichte rann der Schweiß. Er konnte nicht einmal ordentlich russisch
+sprechen, -- ohne jedoch eine andere Sprache zu kennen, -- so daß er mit
+einem Male vollkommen erschöpft und nach seiner Advokatentat ganz bleich
+war. Trotzdem hatte seine Rede eine außerordentliche Wirkung. Er hatte
+mit solch einer Heftigkeit und solch einer Überzeugung gesprochen, daß
+ihm alle offensichtlich glaubten. Peter Petrowitsch fühlte, daß seine
+Sache schlecht stehe.
+
+»Was geht es mich an, daß Ihnen allerhand dumme Fragen in den Kopf
+gekommen sind,« -- rief er aus. -- »Das ist kein Beweis! Sie konnten
+dies alles im Schlafe geträumt haben, das ist das ganze! Und ich sage
+Ihnen, daß Sie lügen, mein Herr! Sie lügen und verleumden mich aus Wut,
+und zwar aus Ärger, weil ich nicht bereit war, auf Ihre freigeistigen
+und gottlosen sozialen Ideen einzugehen, das ist es!«
+
+Aber diese Ausrede nützte Peter Petrowitsch nicht. Im Gegenteil, von
+allen Seiten vernahm man mißbilligendes Gemurmel.
+
+»Ah, damit kommst du!« -- rief Lebesjätnikoff. -- »Du lügst! Laß die
+Polizei holen, ich werde schwören! Eins kann ich bloß nicht begreifen,
+-- warum hat er so eine gemeine Handlung riskiert! Oh, gemeiner,
+niederträchtiger Mensch!«
+
+»Ich kann es erklären, warum er diese Handlung riskiert hat, und wenn es
+nötig ist, werde auch ich einen Eid ablegen!« -- sagte endlich
+Raskolnikoff mit fester Stimme und trat hervor.
+
+Er schien fest und ruhig. Allen wurde es klar bei seinem Anblicke, daß
+er tatsächlich wußte, um was es sich handle, und daß es zu einer Lösung
+gekommen war.
+
+»Jetzt ist mir alles vollkommen klar,« -- fuhr Raskolnikoff fort und
+wandte sich an Lebesjätnikoff. -- »Gleich am Anfange der Geschichte
+hatte ich den Verdacht, daß irgendein gemeiner Kniff dahinter stecke;
+ich schöpfte ihn infolge gewisser besonderer Umstände, die nur mir
+allein bekannt sind, und die ich sogleich allen erklären will, -- um sie
+dreht sich auch die ganze Sache. Sie, Andrei Ssemenowitsch, haben durch
+Ihr wertvolles Zeugnis mir alles endgültig erklärt. Ich bitte alle, alle
+zuzuhören. Dieser Herr,« -- er zeigte auf Luschin, -- »freite vor kurzem
+um ein junges Mädchen, und zwar um meine Schwester, Awdotja Romanowna
+Raskolnikowa. Nach seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich vorgestern
+bei unserem ersten Zusammentreffen mit mir überworfen, und ich habe ihn
+hinausgejagt, ich habe zwei Zeugen dafür. Dieser Mensch ist sehr boshaft
+... Vorgestern wußte ich noch gar nicht, daß er hier bei Ihnen, Andrei
+Ssemenowitsch, lebt, und daß er an demselben Tage, wo wir uns überworfen
+hatten, das heißt vorgestern, Zeuge war, wie ich, als Freund des
+verstorbenen Herrn Marmeladoff, seiner Gattin Katerina Iwanowna etwas
+Geld zur Beerdigung übergab. Er schrieb sofort an meine Mutter einen
+Brief und teilte ihr mit, daß ich das Geld nicht Katerina Iwanowna,
+sondern Ssofja Ssemenowna abgegeben hätte, wobei er in den
+niederträchtigsten Ausdrücken über ... über den Charakter Ssofja
+Ssemenownas sich äußerte, das heißt über die Art meiner Beziehungen zu
+Ssofja Ssemenowna. Dies alles tat er, wie Sie verstehen, in der Absicht,
+mich mit meiner Mutter und Schwester zu entzweien, indem er ihnen
+glaubhaft zu machen suchte, daß ich zu unanständigen Zwecken ihr letztes
+Geld, mit dem sie mich unterstützten, verprasse. Gestern abend stellte
+ich, in Gegenwart meiner Mutter und Schwester und in seiner Anwesenheit,
+die Wahrheit fest, ich bewies, daß ich das Geld Katerina Iwanowna zur
+Beerdigung und nicht Ssofja Ssemenowna überreicht habe, und daß ich
+vorgestern mit Ssofja Ssemenowna noch nicht bekannt war und sie sogar
+zum erstenmal gesehen habe. Dabei fügte ich hinzu, daß er, Peter
+Petrowitsch Luschin, mit allen seinen Vorzügen nicht mal des kleinen
+Fingers von Ssofja Ssemenowna, über die er sich so schlecht geäußert
+habe, wert sei. Auf seine Frage, ob ich Ssofja Ssemenowna neben meine
+Schwester hinsetzen würde, -- antwortete ich, daß ich es bereits am
+selben Tage getan hätte. Da er darüber böse wurde, daß meine Mutter und
+Schwester auf seine Verleumdungen hin sich mit mir nicht überwerfen
+wollten, begann er ihnen unverzeihliche Frechheiten zu sagen. Es kam zu
+einem endgültigen Bruche und man jagte ihn aus dem Hause. Dies alles war
+gestern abend vorgefallen. Ich bitte Sie jetzt um besondere
+Aufmerksamkeit, -- stellen Sie sich vor, wäre es ihm jetzt gelungen,
+Ssofja Ssemenowna des Diebstahls zu überführen, so hätte er doch damit
+meiner Schwester und Mutter bewiesen, erstens, daß er recht hatte mit
+seinen Verdächtigungen; zweitens, daß er mit vollkommenem Rechte darüber
+böse wurde, weil ich meine Schwester und Ssofja Ssemenowna auf gleiche
+Stufe gestellt habe, und drittens, daß er mit seinem Angriffe auf mich
+die Ehre meiner Schwester und seiner Braut verteidigte und in Schutz
+nahm. Mit einem Worte, er konnte mich durch dieses alles mit meinen
+Verwandten entzweien, und hoffte sicher, dadurch wieder bei ihnen zu
+Gnaden zu kommen. Ich rede schon gar nicht davon, daß er zugleich an mir
+persönlich Rache nahm, weil er Gründe hat anzunehmen, daß die Ehre und
+das Glück Ssofja Ssemenownas mir teuer sind. Das war seine ganze
+Berechnung! In dieser Weise fasse ich die Sache auf. Das ist der ganze
+Grund, und einen anderen kann es nicht geben!«
+
+So etwa schloß Raskolnikoff seine Rede, oft durch Ausrufe der Anwesenden
+unterbrochen, die sehr aufmerksam zuhörten. Aber trotz der
+Unterbrechungen sprach er scharf, ruhig, genau, klar und entschlossen.
+Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein strenges Gesicht
+machten auf alle einen ungewöhnlichen Eindruck.
+
+»Ja, so wird es gewesen sein, ja, so ist es!« -- pflichtete
+Lebesjätnikoff entzückt bei. -- »Es muß richtig sein, denn er hat mich
+gerade gefragt, als Ssofja Ssemenowna zu uns ins Zimmer eintrat, -- ob
+Sie hier wären? Ob ich Sie unter den Gästen von Katerina Iwanowna nicht
+gesehen hätte? Er rief mich aus diesem Grunde zum Fenster und fragte
+mich dort leise. Also war es für ihn von Wichtigkeit, daß Sie da sind!
+Das ist richtig, das stimmt!«
+
+Luschin schwieg und lächelte verächtlich. Er war aber sehr blaß
+geworden. Es schien, als überlege er sich, wie er sich aus der Affäre
+ziehen könne. Er hätte vielleicht gern alles mit Vergnügen im Stiche
+gelassen und wäre fortgegangen, aber es war unmöglich; es wäre
+gleichbedeutend gewesen mit einer Anerkennung der Wahrheit der
+angeführten Beschuldigung, daß er Ssofja Ssemenowna verleumdet hatte.
+Die Anwesenden waren zudem etwas angetrunken und zu erregt. Der
+Proviantmeister, der zwar nicht alles verstanden hatte, schrie am
+meisten und schlug einige für Luschin ziemlich peinliche Maßregeln vor.
+Es waren aber auch nicht Angetrunkene darunter; aus allen Zimmern hatten
+sich Menschen eingefunden. Die drei Polen waren furchtbar aufgebracht
+und riefen in einem fort »Pane Strolch!« ihm zu, wobei sie noch einige
+Drohungen in polnischer Sprache murmelten. Ssonja hörte mit Anstrengung
+zu, aber sie schien nicht alles zu begreifen, es war, als erwache sie
+aus einer Ohnmacht. Sie wendete ihre Augen nicht von Raskolnikoff ab,
+sie fühlte, daß er ihr einziger Schutz war. Katerina Iwanowna atmete
+schwer und heiser und schien schrecklich erschöpft zu sein. Am
+allerdümmsten stand Amalie Iwanowna da mit offenem Munde und begriff gar
+nichts. Sie begriff bloß, daß Peter Petrowitsch irgendwie ertappt sei.
+Raskolnikoff bat wieder ums Wort, aber man ließ ihn nicht zu Ende reden,
+-- alle schrien und drängten sich mit Geschimpfe und Drohungen um
+Luschin. Ihm aber wurde nicht bange. Als er sah, daß die Sache mit der
+Beschuldigung Ssonjas vollständig verspielt sei, ergriff er seine
+Zuflucht zur Dreistigkeit.
+
+»Erlauben Sie, meine Herrschaften, erlauben Sie, drängen Sie nicht so,
+lassen Sie mich durchgehen!« -- sagte er und zwängte sich durch die
+Menge hindurch, -- »und tun Sie mir den Gefallen und drohen Sie nicht.
+Ich versichere Sie, daß daraus nichts wird, daß Sie nichts tun werden,
+ich bin nicht von den Ängstlichen, im Gegenteil, meine Herrschaften, Sie
+werden noch zur Verantwortung gezogen dafür, daß Sie durch Gewalt eine
+Kriminalsache vertuscht haben. Die Diebin ist mehr als überführt, und
+ich werde sie gerichtlich belangen. Im Gerichte ist man nicht so blind
+und ... nicht betrunken, und wird nicht gleich zwei abgefeimten
+Gottesleugnern, Aufrührern und Freigeistern glauben, die mich aus
+persönlicher Rache beschuldigen, was sie selbst in ihrer Dummheit
+zugeben ... Erlauben Sie!«
+
+»Scheren Sie sich aus meinem Zimmer, ziehen Sie sofort aus. Zwischen uns
+ist alles aus! Und wenn ich denke, wie ich mich angestrengt und bemüht
+habe, ihm alles erklärt habe ... volle zwei Wochen ...«
+
+»Ich habe Ihnen, Andrei Ssemenowitsch, doch vorhin selbst gesagt, daß
+ich ausziehe, als Sie mich noch baten zu bleiben. Jetzt will ich bloß
+hinzufügen, daß Sie ein dummer Kerl sind. Ich wünsche Ihnen Ihren
+Verstand und Ihre halbblinden Augen zu kurieren. Erlauben Sie, meine
+Herrschaften!«
+
+Er drängte sich durch, aber der Proviantmeister wollte ihn nicht so
+leichten Kaufes, bloß mit Schimpfwörtern, herauslassen, -- er ergriff
+vom Tische ein Glas, holte aus und schleuderte es gegen Peter
+Petrowitsch, doch das Glas traf Amalie Iwanowna. Sie kreischte auf, der
+Proviantmeister verlor das Gleichgewicht und fiel schwer unter den
+Tisch. Peter Petrowitsch ging in sein Zimmer, und nach einer halben
+Stunde hatte er das Haus verlassen. Ssonja, schüchtern von Natur, wußte
+es längst, daß man sie leichter als jeden anderen zugrunde richten
+konnte, und daß jeder sie fast straflos beleidigen durfte. Trotzdem aber
+glaubte sie bis zu diesem Augenblick, daß man einem Unglück irgendwie,
+durch Vorsicht, Sanftmut, Nachgiebigkeit allen und jedem einzelnen
+gegenüber entgehen konnte. Ihre Enttäuschung war zu schwer. Sie konnte
+gewiß mit Geduld und ohne zu murren alles, -- auch dies letzte ertragen.
+Aber im ersten Augenblicke war es ihr doch zu schwer gefallen. Trotz
+ihres Triumphes und ihrer Rechtfertigung, -- als der erste Schreck und
+die erste Erstarrung vorüber waren, als sie alles deutlich und klar
+verstanden hatte, -- schnürte das Gefühl der Hilflosigkeit und Kränkung
+ihr qualvoll das Herz zusammen. Sie bekam einen nervösen Anfall und
+hielt es nicht länger aus, stürzte aus dem Zimmer und lief nach Hause.
+Das geschah fast unmittelbar, nachdem Luschin fortgegangen war. Als
+Amalie Iwanowna unter lautem Lachen der Anwesenden von dem Glase
+getroffen wurde, -- hatte sie genug davon, nur für andere zu büßen. Mit
+Gekreisch stürzte sie wie wahnsinnig auf Katerina Iwanowna zu und maß
+ihr die Schuld an allem bei.
+
+»Hinaus aus der Wohnung! Sofort! Marsch!« -- und mit diesen Worten
+begann sie alles, was ihr von den Sachen Katerina Iwanownas unter die
+Hände kam, auf die Diele zu werfen.
+
+Katerina Iwanowna, ohnedem fast halbtot und einer Ohnmacht nahe, sprang
+vom Bette, auf das sie in völliger Ermattung hingesunken war,
+schweratmend und bleich auf und stürzte sich auf Amalie Iwanowna. Der
+Kampf aber war zu ungleich; die letztere stieß sie, wie eine Feder, von
+sich.
+
+»Wie! Nicht genug, daß man mich gottlos verleumdet hat, -- auch diese
+Kreatur ist gegen mich! Wie! Am Tage der Beerdigung meines Mannes jagt
+man mich, nach meinem Festmahl, mit den Waisen auf die Straße hinaus!
+Ja, wohin soll ich denn!« -- sagte die arme Frau mit Schluchzen und
+beinahe erstickend. -- »Oh, Gott!« -- rief sie plötzlich mit funkelnden
+Augen, -- »gibt es denn keine Gerechtigkeit! Wen sollst Du denn
+schützen, wenn nicht uns verlassene Waisen? Aber wir wollen mal sehen?
+Es gibt noch in der Welt Recht und Wahrheit, es gibt sie noch, und ich
+will sie finden! Warte, du gottlose Kreatur! Poletschka, bleibe bei den
+Kindern, ich komme bald zurück. Wartet auf mich, meinetwegen auf der
+Straße! Wir wollen sehen, ob es in der Welt Gerechtigkeit gibt!«
+
+Katerina Iwanowna warf dasselbe grüne große Umlegetuch über den Kopf,
+das der verstorbene Marmeladoff in seiner Erzählung erwähnt hatte,
+drängte sich durch die unordentliche und betrunkene Menge der Mieter,
+die noch immer das Zimmer anfüllten, und lief mit Geheul und unter
+Tränen auf die Straße hinaus, -- mit der unbedingten Absicht, irgendwo
+sofort, unverzüglich und um jeden Preis Gerechtigkeit zu finden.
+Poletschka verkroch sich voller Angst mit den Kindern in einer Ecke; sie
+umschlang, am ganzen Körper zitternd, die beiden Kleinen und begann die
+Rückkehr der Mutter zu erwarten. Amalie Iwanowna lief aufgeregt im
+Zimmer herum, kreischte, klagte, schleuderte alles, was ihr in den Weg
+kam, auf die Diele und lärmte. Die Mieter schrien durcheinander, --
+einige besprachen das Geschehene, wie sie es verstanden, andere zankten
+sich und schimpften, einige wieder stimmten ein Lied an ...
+
+»Jetzt muß ich auch gehen!« -- dachte Raskolnikoff. -- »Nun, Ssofja
+Ssemenowna, wir wollen sehen, was Sie jetzt sagen werden!«
+
+Und er ging nach Ssonjas Wohnung.
+
+
+ IV.
+
+Raskolnikoff war ein tüchtiger und mutiger Fürsprecher Ssonjas gegen
+Luschin gewesen, trotzdem so viel eigener Schrecken und eigenes Leid auf
+seiner Seele lasteten. Weil er aber am Morgen so stark gelitten hatte,
+so war er gewissermaßen froh, seine Eindrücke, die ihm unerträglich
+wurden, zu ändern, ganz abgesehen davon, wieviel Persönliches und
+Herzliches in seinem Bestreben lag, für Ssonja einzutreten. Außerdem
+ging ihm die bevorstehende Zusammenkunft mit Ssonja nicht aus dem Sinn
+und beunruhigte ihn in manchen Augenblicken furchtbar, -- er _mußte_ ihr
+sagen, wer Lisaweta ermordet hat, fühlte die schreckliche Qual im voraus
+und suchte sich ihrer zu erwehren. Als er die Wohnung Katerina Iwanownas
+verließ und ausrief: -- »Nun, was werden Sie jetzt sagen, Ssofja
+Ssemenowna?« -- da befand er sich offenbar noch in einem äußerlich
+erregten Zustande der Rüstigkeit und Kampflust, der Freude über den eben
+errungenen Sieg. Aber das hielt nicht vor. Als er die Wohnung von
+Kapernaumoff erreicht hatte, empfand er eine plötzliche Erschlaffung und
+Furcht. Er blieb in Gedanken vor der Türe stehen und legte sich die
+sonderbare Frage vor, -- »muß ich denn sagen, wer Lisaweta ermordet
+hat?« Die Frage war sonderbar, denn er fühlte doch zugleich, daß es
+gesagt werden müsse, und jetzt gleich ohne den geringsten Aufschub. Er
+wußte selber nicht, warum; aber er _fühlte_ es, und dieses qualvolle
+Bewußtsein seiner Schwäche der Notwendigkeit gegenüber erdrückte ihn
+fast. Um nicht mehr zu überlegen und sich nicht mehr zu quälen, öffnete
+er schnell die Türe und schaute Ssonja von der Schwelle aus an. Sie saß
+auf den Tisch gestützt und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt; als
+sie Raskolnikoff erblickte, stand sie schnell auf und ging ihm entgegen,
+als hätte sie ihn erwartet.
+
+»Was wäre aus mir geworden ohne Sie!« -- sagte sie hastig, als sie in
+der Mitte des Zimmers mit ihm zusammentraf.
+
+Offenbar hatte sie ihn erwartet, um ihm dies zu sagen.
+
+Raskolnikoff ging zu dem Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem
+sie soeben aufgestanden war. Sie blieb zwei Schritte vor ihm stehen,
+genau wie gestern.
+
+»Nicht wahr, Ssonja?« -- sagte er und fühlte plötzlich, daß seine Stimme
+zittere, -- »die ganze Sache beruhte doch auf >der gesellschaftlichen
+Lage und auf den damit zusammenhängenden Gewohnheiten<. Haben Sie es
+vorhin verstanden?«
+
+Tiefes Leid zeigte sich auf ihrem Gesichte.
+
+»Sprechen Sie nicht mit mir, wie gestern!« -- unterbrach sie ihn. --
+»Bitte, fangen Sie nicht an. Es ist schon genug Qual ...«
+
+Sie lächelte schnell, aus Angst, daß ihm vielleicht der Vorwurf
+mißfallen könnte.
+
+»Es war dumm von mir, von dort wegzugehen. Was mag jetzt dort geschehen?
+Ich wollte soeben wieder hingehen, aber ich dachte, daß Sie vielleicht
+... kommen werden.«
+
+Er erzählte ihr, daß Amalie Iwanowna sie aus der Wohnung jage, und daß
+Katerina Iwanowna fortgelaufen sei, »Gerechtigkeit zu suchen«.
+
+»Ach, mein Gott!« -- erschrak Ssonja, -- »gehen wir schnell hin ...«
+
+Und sie ergriff ihre Mantille.
+
+»Ewig ein und dasselbe!« -- rief Raskolnikoff gereizt, -- »Sie denken
+bloß immer an die! Bleiben Sie bei mir.«
+
+»Und ... Katerina Iwanowna?«
+
+»Katerina Iwanowna wird Ihnen sicher nicht entgehen, sie wird selbst zu
+Ihnen kommen, wenn sie schon einmal das Haus verlassen hat,« -- fügte er
+mürrisch hinzu. -- »Wenn sie Sie nicht zu Hause antrifft, werden Sie
+doch wieder daran schuld sein ...«
+
+Ssonja setzte sich in qualvoller Unentschlossenheit auf einen Stuhl.
+Raskolnikoff schwieg, blickte zu Boden und überlegte.
+
+»Angenommen, Luschin habe es jetzt nicht gewollt,« -- begann er, ohne
+Ssonja anzublicken. -- »Wie, wenn er es gewollt hätte oder wenn es
+irgendwie in seinen Absichten gelegen wäre, -- so hätte er Sie ins
+Gefängnis gebracht, wenn nicht ich und Lebesjätnikoff zufällig dagewesen
+wären! Nicht?«
+
+»Ja,« -- antwortete sie mit schwacher Stimme, -- »ja!« -- wiederholte
+sie zerstreut und voll Unruhe.
+
+»Ich konnte doch wirklich verhindert sein! Und Lebesjätnikoff kam ganz
+zufällig hinzu.«
+
+Ssonja schwieg.
+
+»Nun, und wenn Sie ins Gefängnis gekommen wären, was dann? Erinnern Sie
+sich, was ich gestern sagte?«
+
+Sie antwortete wieder nicht. Raskolnikoff wartete eine Weile.
+
+»Ich dachte, Sie würden wieder schreien, -- >ach, sprechen Sie nicht,
+hören Sie auf!<« -- lachte Raskolnikoff, scheinbar gezwungen. -- »Was,
+Sie schweigen wieder?« -- fragte er nach einem Augenblick. -- »Man muß
+doch über etwas reden! Mir wäre es interessant zu erfahren, wie Sie
+jetzt eine >Frage<, wie Lebesjätnikoff sagt, lösen würden.« -- Er schien
+den Faden zu verlieren. -- »Nein, ich spreche in allem Ernst. Stellen
+Sie sich vor, Ssonja, daß Sie alle Absichten Luschins im voraus gewußt
+hätten, Sie hätten gewußt, daß dadurch Katerina Iwanowna und auch die
+Kinder völlig zugrunde gehen würden, auch Sie, als Dreingabe, -- Sie
+selber rechnen sich ja nicht, drum sage ich als _Dreingabe_ zu jenen.
+Poletschka ebenfalls ... denn ihr steht derselbe Weg bevor. Nun, also,
+-- wenn man Ihnen plötzlich dies alles zur Entscheidung übergeben hätte,
+-- soll er oder sollen jene am Leben bleiben, das heißt, soll Luschin am
+Leben bleiben und Scheußlichkeiten vollziehen oder soll Katerina
+Iwanowna sterben? Wie würden Sie entscheiden, wer von den beiden sollte
+sterben? Ich frage Sie!«
+
+Ssonja blickte ihn unruhig an, -- sie ahnte etwas besonderes in dieser
+unsicheren, weit ausgeholten Rede.
+
+»Ich hatte ein Vorgefühl, daß Sie so etwas fragen werden,« -- sagte sie
+und sah ihn forschend an.
+
+»Gut; mag sein, aber, wie soll es entschieden werden?«
+
+»Warum fragen Sie, was unmöglich zu beantworten ist?« -- sagte Ssonja
+mit Widerwillen.
+
+»Also, es ist besser, daß Luschin weiterlebt und Scheußlichkeiten
+verübt! Auch dieses haben Sie nicht gewagt zu entscheiden?«
+
+»Ja, ich kenne doch die Vorsehung Gottes nicht ... Und warum fragen Sie,
+was man nicht fragen darf? Wozu solche leere Fragen? Wie kann es
+vorkommen, daß dieses von meiner Entscheidung abhängen soll? Und wer hat
+mich hier zum Richter bestellt, wer leben soll und wer nicht leben
+soll?«
+
+»Wenn Gottes Vorsehung schon mitredet, da ist freilich nichts zu
+machen,« -- brummte Raskolnikoff finster.
+
+»Sagen Sie besser offen, was Sie wollen!« -- rief Ssonja gramvoll aus.
+-- »Sie haben wieder etwas im Sinn ... Sind Sie etwa nur gekommen, um
+mich zu quälen?«
+
+Sie hielt es nicht aus und weinte plötzlich bitter. Er sah sie mit
+düsterer Schwermut an. Es verging eine geraume Weile.
+
+»Du hast recht, Ssonja,« -- sagte er endlich leise.
+
+Er war plötzlich verändert; der gemachte dreiste und kraftlos
+herausfordernde Ton war verschwunden. Selbst seine Stimme war schwächer
+geworden. »Ich habe dir selbst gestern gesagt, daß ich kommen werde,
+nicht um Verzeihung zu bitten, habe aber beinahe schon damit begonnen
+... Von Luschin und Gottes Vorsehung habe ich meinetwegen gesprochen ...
+Ich habe damit um Verzeihung bitten wollen, Ssonja ...«
+
+Er wollte lächeln, aber er brachte es nur zu einem kraftlosen und wehen
+Versuch. Er ließ den Kopf sinken und bedeckte das Gesicht mit den
+Händen.
+
+Da zog in sein Herz ein eigentümliches Gefühl, wie das eines brennenden
+Hasses gegen Ssonja. Selber betroffen und erschrocken über dieses
+Gefühl, erhob er plötzlich den Kopf und blickte sie aufmerksam an, aber
+er begegnete ihrem unruhigen und qualvoll besorgten Blicke; und vor der
+Liebe in diesem Blick verschwand sein Haß wie ein Gespenst. Es war nicht
+also das; er hatte das eine Gefühl für das andere gehalten. Das
+bedeutete bloß, daß _der_ Augenblick gekommen war.
+
+Wieder bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und senkte den Kopf.
+Plötzlich erbleichte er, stand vom Stuhle auf, sah Ssonja an und setzte
+sich, ohne ein Wort gesagt zu haben, mechanisch auf ihr Bett hin.
+
+Dieser Moment war in seiner Empfindung jenem schrecklich ähnlich, als er
+hinter der Alten stand, das Beil aus der Schlinge schon hervorgezogen
+hatte und fühlte, daß »kein Augenblick mehr zu verlieren sei«.
+
+»Was ist Ihnen?« -- fragte Ssonja erschreckt.
+
+Er brachte kein Wort hervor. So hatte er sich das Geständnis nicht
+vorgestellt und begriff selbst nicht, was mit ihm jetzt vorging. Sie
+ging leise zu ihm hin, setzte sich neben ihn auf das Bett hin und
+wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Ihr Herz klopfte und
+stockte. Es wurde unerträglich; er wandte sein totenblasses Gesicht zu
+ihr; seine Lippen verzogen sich kraftlos in der Bemühung, etwas
+auszusprechen. Und Entsetzen drang in Ssonjas Herz.
+
+»Was ist Ihnen?« -- sagte sie und wich ein wenig von ihm zurück.
+
+»Nichts, Ssonja. Ängstige dich nicht ... Unsinn! Wirklich, wenn man es
+sich überlegt, -- ist es Unsinn,« -- murmelte er mit dem Aussehen eines
+besinnungslosen Fieberkranken. -- »Warum bin ich bloß gekommen, um dich
+zu quälen?« -- fügte er plötzlich hinzu, sie anblickend. -- »Wirklich.
+Wozu? Ich lege mir immer diese Frage vor, Ssonja ...«
+
+Er hatte sich vielleicht diese Frage vor einer Viertelstunde vorgelegt,
+jetzt aber sagte er es in völliger Kraftlosigkeit, kaum sich selber
+bewußt, und fühlte ein ständiges Frösteln im ganzen Körper.
+
+»Ach, wie Sie sich quälen!« -- sagte sie mit ihm leidend und betrachtete
+ihn.
+
+»Alles ist Unsinn! ... Höre, Ssonja,« -- er lächelte plötzlich, aber
+bleich und schwach, einen kurzen Moment -- »erinnerst du dich, was ich
+dir gestern sagen wollte?«
+
+Ssonja wartete voll Unruhe. --
+
+»Ich sagte, als ich fortging, daß ich vielleicht für immer von dir
+Abschied nehme, aber wenn ich heute käme, so wollte ich dir sagen ...
+wer Lisaweta ermordet hat.«
+
+Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper.
+
+»Nun, ich bin jetzt gekommen, es dir zu sagen.«
+
+»Haben Sie gestern tatsächlich es ...,« -- flüsterte Ssonja mit Mühe, --
+»woher wissen Sie es denn?« -- fragte sie ihn schnell, als wäre sie
+plötzlich zur Besinnung gekommen.
+
+Ssonja begann schwer zu atmen. Ihr Gesicht wurde immer bleicher und
+bleicher.
+
+»Ich weiß es.«
+
+Sie schwieg einen Augenblick.
+
+»Hat man _ihn_ gefunden?« -- fragte sie zaghaft.
+
+»Nein, man hat ihn nicht gefunden.«
+
+»Wie wissen Sie _es_ denn?« -- fragte sie wieder kaum hörbar und nach
+einem fast minutenlangen Schweigen.
+
+Er wandte sich zu ihr um und blickte sie scharf und unverwandt an.
+
+»Errate es,« -- sagte er mit dem früheren wehen und kraftlosen Lächeln.
+
+Ihren ganzen Körper schienen Krämpfe zu durchziehen. »Ja, Sie ... mich
+... warum ... ängstigen Sie mich so?« -- fragte sie, lächelnd, wie ein
+Kind.
+
+»Ich war doch wohl mit _ihm_ sehr gut bekannt ... wenn ich es weiß,« --
+fuhr Raskolnikoff fort und blickte ihr in einem fort ins Gesicht, als
+wäre er nicht imstande, die Augen abzuwenden, -- »er wollte diese
+Lisaweta ... nicht ermorden ... Er hat sie ... zufällig ermordet ... Er
+wollte die Alte ermorden ... wenn sie allein war ... und kam hin ... Da
+trat aber Lisaweta ein ... Er hat sie dann ... auch ermordet.«
+
+Wieder eine furchtbare Pause. Beide blickten die ganze Zeit einander an.
+
+»Also, du kannst es nicht erraten?« -- sagte er plötzlich mit einem
+Gefühle, als stürze er sich von einem Turme hinab.
+
+»N--nein,« flüsterte Ssonja kaum hörbar.
+
+»Sieh mal ordentlich her.«
+
+Und kaum hatte er es gesagt, als eine schon einmal gehabte Empfindung
+seine Seele erstarren ließ, -- er sah sie an und ihm war plötzlich, als
+erblickte er in ihrem Gesichte Lisawetas Ausdruck. So hatte sie
+ausgesehen, als er sich damals ihr mit dem Beile näherte und sie vor ihm
+mit vorgestreckter Hand, eine völlig kindliche Angst im Gesichte,
+zurückwich, genau, wie wenn kleine Kinder vor irgend etwas Angst
+bekommen, und unbeweglich und unruhig den sie ängstigenden Gegenstand
+anblicken, zurückweichen, die Händchen nach vorne strecken und sich
+anschicken, zu weinen. Fast dasselbe geschah jetzt auch mit Ssonja, --
+ebenso kraftlos, mit derselben Angst sah sie eine Weile ihn an,
+plötzlich streckte sie die linke Hand vor, stieß ihn ganz leicht mit den
+Fingern an die Brust, begann langsam vom Bette aufzustehen, wich immer
+mehr und mehr vor ihm zurück und ihr auf ihn gerichteter Blick wurde
+immer unbeweglicher. Ihr Entsetzen teilte sich plötzlich auch ihm mit,
+-- dieselbe Angst erschien auch in seinem Gesichte, -- er begann sie
+ebenso anzusehen und sogar fast mit demselben Lächeln eines geängsteten
+Kindes.
+
+»Hast du es erraten?« -- flüsterte er endlich.
+
+»Oh, Gott!« -- entrang sich ein furchtbarer Schrei ihrer Brust.
+
+Sie fiel kraftlos auf das Bett mit dem Gesichte auf das Kopfkissen hin.
+Aber nach einem Augenblicke erhob sie sich schnell, rückte zu ihm hin,
+erfaßte seine beiden Hände, drückte sie stark mit ihren dünnen Fingern
+und begann von neuem ihm unbeweglich, wie fest gebannt, ins Gesicht zu
+blicken. Mit diesem letzten verzweifelten Blick wollte sie die winzigste
+letzte Hoffnung für sich herauslesen und erspähen. Aber es war keine
+Hoffnung; kein Zweifel blieb nach, alles war _so_! Nachher sogar, wenn
+sie sich an diesen Augenblick entsann, war es ihr seltsam und
+merkwürdig, -- woraus hatte sie damals _sofort_ gesehen, daß es keinen
+Zweifel mehr gab? Es war doch keine Rede davon, daß sie z. B. ein
+Vorgefühl von etwas derartigem gehabt hatte? Nun aber schien es ihr,
+nachdem er es ihr kaum gesagt hatte, als habe sie wirklich _das_ alles
+geahnt.
+
+»Genug, Ssonja, genug! Quäle mich nicht!« -- bat er mit einem Ausdrucke
+schweren Leidens.
+
+Er hatte gar nicht, ganz und gar nicht gedacht, ihr in dieser Weise es
+zu sagen, aber es war so gekommen.
+
+Sie sprang, wie außer sich, auf, rang die Hände und ging bis zur Mitte
+des Zimmers, aber sie wandte sich schnell um, setzte sich wieder neben
+ihn hin, so daß ihre Schultern sich fast berührten. Plötzlich fuhr sie,
+wie durchbohrt, zusammen, schrie auf und stürzte, ohne zu wissen, was
+sie tat, vor ihm auf die Knie hin.
+
+»Was haben Sie, was haben Sie sich angetan!« -- sagte sie voll
+Verzweiflung, sprang von den Knien auf, warf sich ihm um den Hals,
+umarmte ihn und preßte ihn stark an sich.
+
+Raskolnikoff wich zurück und blickte sie mit einem traurigen Lächeln an.
+
+»Wie du sonderbar bist, Ssonja, -- du umarmst und küßt mich, nachdem ich
+dir _dieses_ gesagt habe. Du bist deiner selbst nicht bewußt.«
+
+»Nein, es gibt jetzt niemand in der ganzen Welt, der unglücklicher ist,
+als du!« -- rief sie, wie in Verzückung, ohne seine Bemerkung gehört zu
+haben, und dann weinte sie laut und krankhaft.
+
+Ein ihm seit langem unbekanntes Gefühl überflutete seine Seele und
+machte sie erweichen. Er sträubte sich nicht dagegen, -- zwei Tränen
+rollten aus seinen Augen und blieben an den Wimpern hängen.
+
+»Du wirst mich also nicht verlassen, Ssonja?« -- sagte er und blickte
+sie fast mit Hoffnung an.
+
+»Nein, nein. Nie und nimmer!« -- rief Ssonja aus, -- »ich werde dir
+folgen, ich werde dir überall hin folgen! Oh, Gott! ... Ach, ich
+Unglückliche! ... Und warum, warum habe ich dich nicht früher gekannt!
+Warum bist du nicht früher gekommen? Oh, Gott!«
+
+»Ich _bin_ doch gekommen.«
+
+»Jetzt! Oh, was ist jetzt zu tun! ... Zusammen, zusammen!« --
+wiederholte sie, wie bewußtlos, und umarmte ihn von neuem, -- »ich werde
+mit dir in die Zwangsarbeit nach Sibirien gehen!«
+
+Er zuckte zusammen, das frühere haßerfüllte und fast hochmütige Lächeln
+zeigte sich auf seinen Lippen.
+
+»Ich will vielleicht nicht einmal in die Zwangsarbeit gehen, Ssonja,« --
+sagte er.
+
+Ssonja blickte ihn schnell an.
+
+Nach dem ersten leidenschaftlichen und qualvollen Ausbruche des
+Mitgefühles für den Unglücklichen erschütterte sie wieder der
+schreckliche Gedanke an den Mord. In dem veränderten Tone seiner Worte
+spürte sie den Mörder. Sie blickte ihn erstaunt an. Sie wußte noch gar
+nichts, weder warum, noch wie, noch zu welchem Zwecke es geschehen war.
+Jetzt tauchten alle diese Fragen mit einem Male in ihrem Bewußtsein auf.
+Und wieder glaubte sie nicht, -- »er, er ein Mörder! Ja, ist es denn
+möglich?«
+
+»Was ist denn? Wo stehe ich denn?« -- sagte sie in tiefem Zweifel, als
+wäre sie noch nicht zu sich gekommen, -- »wie konnten, wie konnten Sie,
+_solch ein Mensch_ ... sich dazu entschließen ... Was war es denn!«
+
+»Doch wohl, um zu rauben. Höre auf, Ssonja!« -- antwortete er müde und
+fast ärgerlich.
+
+Ssonja stand wie betäubt, plötzlich aber rief sie aus: »Du warst
+hungrig! Du ... um der Mutter zu helfen? Ja?«
+
+»Nein, Ssonja, nein,« -- murmelte er, sich abwendend und ließ den Kopf
+sinken, -- »ich war nicht so hungrig ... ich wollte wohl der Mutter
+helfen, aber ... auch das ist nicht ganz richtig ... quäl mich nicht,
+Ssonja!«
+
+Ssonja schlug die Hände zusammen.
+
+»Ist es wirklich, ist es wirklich wahr! Oh, Gott, was ist das für eine
+Wahrheit? Wer kann denn daran glauben? ... Und wie, gaben Sie nicht
+selbst das Letzte fort, und haben ermordet, um zu rauben! Ah! ...« --
+rief sie plötzlich, -- »das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben
+haben ... dieses Geld ... oh, Gott, ist auch dieses Geld ...«
+
+»Nein, Ssonja,« -- unterbrach er sie hastig, -- »dieses Geld war nicht
+von dort, beruhige dich! Dieses Geld hat mir meine Mutter durch einen
+Kaufmann geschickt, und ich habe es erhalten, als ich krank war, am
+selben Tage, als ich es fortgegeben habe ... Rasumichin hat es gesehen
+... er hat es für mich empfangen ... dieses Geld war mein eigenes,
+gehörte wirklich mir.«
+
+Ssonja hörte ihm unentschlossen zu und versuchte mit allen Kräften etwas
+zu begreifen.
+
+»Und _jenes_ Geld ... ich weiß übrigens nicht mal, ob auch Geld da war,«
+-- fügte er leise und wie sinnend hinzu, -- »ich habe ihr damals einen
+Beutel aus Sämischleder vom Halse genommen ... einen dicken,
+vollgestopften Beutel ... ich habe aber nicht hineingeblickt;
+wahrscheinlich hatte ich keine Zeit ... Nun, und die Sachen, allerhand
+Manschettenknöpfe und Ketten, -- alle diese Sachen und den Beutel habe
+ich auf einem fremden Hofe, am W--schen Prospekt, unter einem Steine
+versteckt ... am andern Morgen noch ... Alles liegt jetzt noch dort ...«
+
+Ssonja hörte angestrengt zu.
+
+»Warum denn ... wenn Sie selbst sagten, um zu rauben, haben Sie doch
+nichts genommen?« -- fragte sie ihn schnell, nach einem letzten
+Strohhalme greifend.
+
+»Ich weiß es nicht ... ich habe mich noch nicht entschlossen, -- ob ich
+dieses Geld nehmen soll oder nicht,« -- sagte er wieder, wie sinnend,
+und plötzlich lächelte er schnell und kurz, -- »ach, welch eine Dummheit
+habe ich soeben gesagt!«
+
+Ssonja durchfuhr ein Gedanke, -- »ist er etwa verrückt?« Aber sie ließ
+ihn sofort fallen, -- »nein, hier ist etwas anderes«. Aber sie begriff
+gar nichts, rein gar nichts!
+
+»Weißt du, Ssonja,« -- sagte er plötzlich, wie in einer Eingebung, --
+»weißt du, was ich dir sagen will, -- wenn ich bloß darum ermordet
+hätte, weil ich hungrig war,« -- fuhr er fort, betonte jedes Wort und
+blickte sie rätselhaft, aber aufrichtig an, -- »so würde ich jetzt ...
+_glücklich_ sein! Das sollst du wissen!«
+
+»Und was läge, was läge dir daran,« -- rief er nach einem Augenblicke
+verzweifelt, -- »nun, was läge dir daran, wenn ich sofort zugeben würde,
+daß ich schlecht gehandelt habe! Nun, was liegt dir an diesem dummen
+Triumphe über mich? Ach, Ssonja, bin ich etwa deswegen jetzt zu dir
+gekommen?«
+
+Ssonja wollte etwas sagen, aber schwieg.
+
+»Darum bat ich dich auch gestern mit mir zu gehen, weil ich jetzt dich
+nur allein habe.«
+
+»Wohin gehen?« -- fragte Ssonja schüchtern.
+
+»Nicht um zu stehlen und um zu morden, gewiß, nicht dazu,« -- lächelte
+er mit Spott, -- »wir sind zu verschieden ... Und weißt du, Ssonja, ich
+habe erst jetzt, erst soeben begriffen, -- _wohin_ ich dich gestern rief
+mitzugehen! Gestern aber, als ich dich bat, wußte ich selbst nicht,
+wohin. Nur deshalb habe ich dich gebeten, nur deshalb bin ich gekommen,
+-- daß du mich nicht verlassest. Wirst du mich verlassen, Ssonja?«
+
+Sie drückte ihm fest die Hand.
+
+»Und warum, warum habe ich es ihr gesagt, warum habe ich es ihr
+mitgeteilt,« -- rief er nach einem Augenblick voll Verzweiflung aus und
+sah sie mit grenzenloser Qual an, -- »nun, erwartest du Erklärungen von
+mir, Ssonja, du sitzest und wartest, ich sehe es, -- und was soll ich
+dir sagen? Du wirst doch nichts davon verstehen und bloß ganz vor Leid
+vergehen ... meinetwegen! Nun weinst du und umarmst mich wieder, --
+warum umarmst du mich? Weil ich es selbst nicht ertrug und gekommen bin,
+es auf einen andern abzuwälzen, -- >leide auch du, mir wird es leichter
+sein!< Und kannst du solch einen Schuft lieben?«
+
+»Quälst du dich nicht auch?« -- rief Ssonja aus.
+
+Wieder überkam seine Seele das Gefühl von vorhin und machte sie auf
+einen Augenblick weich.
+
+»Ssonja, ich habe ein böses Herz, merk es dir, -- dadurch kann man
+vieles erklären. Ich bin auch darum hergekommen, weil ich böse bin. Es
+gibt solche, die nicht hergekommen wären. Ich aber bin ein Feigling und
+... ein Schuft! Aber ... mag sein! Dies alles ist nicht das ... Jetzt
+gilt es zu reden, ich weiß aber nicht, wo anfangen ...«
+
+Er hielt inne und sann nach.
+
+»Ach, wir sind beide zu verschiedene Leute!« -- rief er wieder aus, --
+»passen nicht zueinander. Und warum, warum bin ich hergekommen! Ich
+werde es mir nie verzeihen.«
+
+»Nein, nein, es ist gut, daß du gekommen bist!« -- rief Ssonja, -- »es
+ist besser, daß ich es weiß! Viel besser!«
+
+Er sah sie voll Schmerz an.
+
+»So war es tatsächlich!« -- sagte er, als hätte er überlegt. -- »Es war
+doch so! Siehst du, -- ich wollte ein Napoleon werden, und darum habe
+ich ermordet ... begreifst du es jetzt?«
+
+»N--nein,« -- flüsterte Ssonja naiv und schüchtern, -- »sprich nur ...
+sprich! Ich werde es verstehen, ich werde _für mich_ alles verstehen!«
+-- bat sie ihn.
+
+»Du wirst verstehen? Nun, gut, wir wollen sehen!«
+
+Er schwieg und überlegte lange.
+
+»Siehst du, -- ich habe mir einmal folgende Frage vorgelegt, -- wenn zum
+Beispiel an meiner Stelle Napoleon gewesen wäre, und wenn er, um seine
+Karriere zu beginnen, weder Toulon, noch Ägypten, noch den Übergang über
+den Montblanc gehabt hätte, wenn aber statt aller schönen und
+monumentalen Dinge eine lächerliche Alte, die Witwe eines kleinen
+Beamten gewesen wäre, die man zudem noch ermorden mußte, um aus ihrem
+Koffer Geld zu stehlen -- der Karriere wegen, verstehst du? -- hätte er
+sich dazu entschlossen, wenn es keinen anderen Ausweg gegeben hätte?
+Wäre er nicht schokiert gewesen, weil es zu wenig monumental und ...
+weil es sündhaft war? Ich sage dir, daß ich mich über diese >Frage<
+schrecklich lange abgequält habe, so daß ich mich furchtbar schämte, als
+ich endlich auf den Gedanken kam -- ganz plötzlich kam ich darauf --,
+daß es ihn nicht bloß nicht schokiert hätte, sondern ihm nicht einmal in
+den Sinn gekommen wäre, daß dies nicht monumental sei ... _er_ hätte gar
+nicht begriffen, warum man dabei schokiert sein sollte? Und wenn er
+keinen anderen Ausweg gehabt hätte, so würde er, aber ohne daß sie
+gemuckst hätte, gemordet haben, ohne langes Nachdenken! Nun, und da ließ
+ich ... das Beil fallen ... mordete ... nach diesem Beispiel ... Genau
+so ist es vor sich gegangen! Dir erscheint es lächerlich? Ja, Ssonja,
+das Lächerlichste ist dabei, daß es vielleicht genau so vorgefallen war
+...«
+
+Ssonja war es nicht lächerlich.
+
+»Sagen Sie es mir lieber ... ohne Beispiele,« -- bat sie noch
+schüchterner und leiser.
+
+Er wandte sich zu ihr um, blickte sie traurig an und ergriff ihre Hände.
+
+»Du hast wieder recht, Ssonja. Das ist alles Unsinn, ist leeres
+Geschwätz! Siehst du, -- du weißt doch, daß meine Mutter fast nichts
+hat. Meine Schwester hat zufällig eine Erziehung erhalten und ist
+verurteilt, sich als Gouvernante ihr Leben lang durchzuschlagen. All
+ihre Hoffnung war ich allein. Ich studierte, fand aber nicht genügenden
+Unterhalt und war gezwungen, zeitweilig die Universität zu verlassen.
+Und selbst wenn es sich weiter hingezogen hätte, konnte ich etwa in zehn
+oder zwölf Jahren -- und vorausgesetzt, daß meine Verhältnisse sich
+verbesserten, -- hoffen, Lehrer oder Beamter mit tausend Rubel Gehalt zu
+werden ...« -- Er sprach, als hätte er es auswendig gelernt. -- »Bis
+dahin wäre meine Mutter vor Sorgen und Kummer verkommen, und mir wäre es
+nicht gelungen, ihr ein ruhiges Leben zu schaffen, und meine Schwester
+... nun, mit der Schwester konnte noch Schlimmeres passiert sein! ...
+Ja, und was für ein Vergnügen ist es, das ganze Leben an allem
+vorbeigehen und von allem sich abwenden zu müssen, die Mutter zu
+vergessen und die Beleidigung der Schwester zum Beispiel, demütig zu
+ertragen? Wozu? Um sich andere anzuschaffen, nachdem man sie beerdigt
+hat, -- Frau und Kinder, um auch sie nachher ohne einen Groschen und
+ohne ein Stück Brot zu hinterlassen? So ... nun, da beschloß ich, mich
+des Geldes der Alten zu bemächtigen, es zu meinem Unterhalte an der
+Universität, ohne die Mutter mehr quälen zu müssen, und zu meinen ersten
+Schritten nach Beendigung des Studiums zu benutzen, -- und dies alles
+gleich groß und radikal auszuführen, um eine vollkommen neue Laufbahn
+beginnen und einen neuen unabhängigen Weg betreten zu können ... das ist
+alles ... selbstverständlich, schlecht war, daß ich die Alte ermordet
+habe ... und jetzt genug davon!«
+
+Völlig erschöpft schloß er seinen Bericht und ließ den Kopf sinken.
+
+»Ach, es war nicht das, nicht das,« -- rief Ssonja gramvoll aus, --
+»kann man denn so ... nein, es ist nicht richtig, es ist nicht so!«
+
+»Jetzt siehst du selbst, daß es nicht so war! ... Und ich habe doch
+aufrichtig berichtet, habe die Wahrheit gesagt!«
+
+»Was ist denn das für eine Wahrheit! Oh, Gott!«
+
+»Ich habe doch, Ssonja, bloß eine unnütze, häßliche, bösartige Laus
+ermordet.«
+
+»Wie, ein Mensch ist eine Laus?«
+
+»Ich weiß es auch selbst, daß es keine Laus ist,« -- antwortete er und
+blickte sie eigentümlich an. -- »Aber ich lüge, Ssonja,« -- fügte er
+hinzu, »es ist alles gelogen ... Es war nicht das; du sagst die
+Wahrheit. Es waren ganz andere, vollkommen andere Gründe! ... Ich habe
+seit langem mit niemand gesprochen, Ssonja ... Der Kopf tut mir jetzt so
+weh.«
+
+Seine Augen brannten in fieberhaftem Glanze. Er begann fast zu
+phantasieren; ein unruhiges Lächeln irrte um seine Lippen. Die ungeheure
+Erregung verbarg kaum die äußerste Schwäche. Ssonja begriff seine
+Selbstqual. Auch ihr begann der Kopf zu schwindeln. Und wie sonderbar er
+sprach, als sei alles selbstverständlich ... »aber wie denn ... Wie war
+es nur möglich? Oh, Gott!« Und sie rang in Verzweiflung die Hände.
+
+»Nein, Ssonja, es war nicht das!« -- begann er wieder, erhob plötzlich
+den Kopf, als hätte ihn eine andere Wendung der Gedanken überrascht und
+von neuem angeregt, -- »es war nicht das! Besser ... du stellst dir vor
+... ja! es ist wirklich besser! ... stell dir vor, daß ich ehrgeizig,
+neidisch, böse, niederträchtig, rachsüchtig bin ... nun ... und
+meinetwegen zum Irrsinn neige ... Mag alles gleich mitgerechnet werden!
+Davon, daß ich verrückt sei, sprach man schon früher, ich habe es wohl
+gemerkt! Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich auf der Universität selber
+meinen Unterhalt nicht finden konnte. Weißt du aber, daß ich es
+vielleicht doch hätte ermöglichen können? Meine Mutter hätte mir das
+Nötige fürs Studium geschickt, und Stiefel, Kleider und Essen hätte ich
+selbst verdient, sicher sogar! Es fanden sich Unterrichtsstunden für
+mich; man bot fünfzig Kopeken. Rasumichin arbeitet doch auch! Aber ich
+wurde böse und wollte es nicht. _Ich wurde böse_ -- das ist ein guter
+Ausdruck! Ich verkroch mich dann, wie eine Spinne, in meine Ecke. Du
+warst doch in meinem elenden Loche, hast es gesehen ... Aber weißt du
+auch, Ssonja, daß niedrige Decken und enge Zimmer die Seele und den
+Verstand bedrücken? Oh, wie ich dieses elende Loch haßte! Dennoch wollte
+ich nicht heraus! Ich wollte es absichtlich nicht! Tagelang ging ich
+nicht aus und wollte nicht arbeiten, wollte nicht mal essen und lag die
+ganze Zeit. Wenn mir Nastasja etwas brachte, -- aß ich, wenn sie nichts
+brachte, -- verging auch so der Tag; absichtlich, aus Bosheit, bat ich
+um nichts! Wenn ich nachts kein Licht hatte, lag ich im Dunkel, wollte
+aber nicht arbeiten, um ein Licht kaufen zu können. Ich mußte studieren,
+-- habe aber die Bücher verkauft; auf dem Tische bei mir, auf den
+Kollegheften und Notizen liegt jetzt fingerdick der Staub. Ich zog es
+vor, zu liegen und zu grübeln. Und ich dachte die ganze Zeit ... immer
+hatte ich solche Träume, allerhand seltsame Träume, es lohnt sich nicht,
+von ihnen zu sprechen! Dann aber begann es mir vorzuschweben, daß ...
+Nein, es ist nicht richtig! Ich erzähle wieder nicht in der richtigen
+Weise! Siehst du, -- ich fragte mich damals immer, warum bin ich so
+dumm, daß, wenn andere dumm sind, und wenn ich es sicher weiß, daß sie
+dumm sind, ich selbst nicht klüger sein will? Ich erkannte später,
+Ssonja, daß es zu lange dauern wird, wollte man warten, bis alle klug
+werden ... Ich erkannte auch, daß es niemals der Fall sein wird, daß die
+Menschen sich nicht verändern, daß niemand sie ändern kann, und daß es
+sich der Mühe nicht lohnt! Ja, es ist so! Das ist ihr Gesetz ... Das
+Gesetz, Ssonja! Es ist so! ... Und ich weiß jetzt, Ssonja, daß wer an
+Verstand und Geist stark und kräftig ist, der auch der Herrscher über
+sie ist! Wer viel wagt, der ist bei ihnen im Rechte! Wer auf das größere
+pfeifen kann, der ist bei ihnen auch Gesetzgeber, wer aber am meisten
+von allen wagen kann, der ist mehr im Rechte, als alle! In dieser Weise
+ist es bis jetzt vor sich gegangen und so wird es immer bleiben! Nur ein
+Blinder merkt es nicht!«
+
+Während Raskolnikoff dies sagte, sah er wohl Ssonja an, aber er kümmerte
+sich nicht mehr darum, ob sie ihn verstehen würde oder nicht. Das Fieber
+hatte ihn völlig gepackt. Er war in einem finstern Enthusiasmus. Er
+hatte in der Tat zu lange mit niemand gesprochen. Und Ssonja verstand,
+daß dieser finstere Katechismus sein Glaube und sein Gesetz geworden
+war.
+
+»Ich kam damals darauf, Ssonja,« -- fuhr er immer noch enthusiastisch
+fort, -- »daß die Macht bloß demjenigen gegeben wird, der es wagt, sich
+zu bücken und sie zu nehmen. Das ist das einzige, nur das allein, -- man
+muß wagen! Mir kam damals ein Gedanke, zum erstenmal im Leben, den
+niemand je vor mir gedacht hat. Niemand! Klar wie die Sonne erschien mir
+plötzlich der Gedanke: Warum hat bis jetzt kein einziger gewagt und wagt
+es nicht, wenn er an diesem ganzen Unsinn vorbeigeht, alles einfach am
+Schwanze zu packen und es zum Teufel zu werfen! Ich ... ich wollte _es
+wagen_ und tötete ... ich wollte bloß wagen, Ssonja, das ist der ganze
+Grund!«
+
+»Oh, schweigen Sie, schweigen Sie!« -- rief Ssonja und schlug die Hände
+zusammen. -- »Sie haben Gott verlassen und Gott hat Sie gestraft, hat
+Sie dem Teufel überliefert! ...«
+
+»Ja, Ssonja, -- als ich damals in der Dunkelheit lag und mir all das
+vorschwebte, da hat mich der Teufel versucht? Nicht wahr?«
+
+»Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslästerer; nichts, nichts
+begreifen Sie! Oh, Gott! Er wird nichts, nichts verstehen!«
+
+»Schweig, Ssonja, ich lache gar nicht, ich weiß es auch selbst, daß mich
+der Teufel zog. Schweig, Ssonja, schweig!« -- wiederholte er düster und
+beharrlich. -- »Ich weiß alles. Ich habe mir dies alles überlegt und
+zugeflüstert, als ich damals im Dunkeln lag ... Ich habe über dies alles
+mit mir selbst bis zum kleinsten Punkt gestritten und weiß alles, alles!
+Und mir war dies ganze Geschwätz damals so zum Überdruß, so zum
+Überdruß! Ich wollte alles vergessen und von neuem anfangen, Ssonja, und
+aufhören zu schwatzen! Und denkst du etwa, daß ich, wie ein Dummkopf,
+blindlings hingegangen bin? Ich bin, wie ein Kluger, hingegangen, und
+das hat mich auch zugrunde gerichtet! Und meinst du etwa, ich hätte zum
+Beispiel nicht gewußt, daß, _wenn_ ich überhaupt damit anfing, mich zu
+fragen und auszuhorchen, -- ob ich ein Recht auf Macht habe, -- ich
+schon deswegen dies Recht auf Macht _nicht_ hatte. Oder wenn ich mir die
+Frage vorlegte, -- ist der Mensch eine Laus? -- da war schon der Mensch
+_für mich_ keine Laus mehr, sondern war es eben für denjenigen, dem
+diese Frage _nicht_ in den Sinn kam, und der ohne Fragen auf sein Ziel
+losgeht ... Als ich mich soviel Tage abquälte, ob Napoleon es getan
+hätte oder nicht, -- da fühlte ich es doch deutlich, daß ich kein
+Napoleon war ... Ich habe die ganze Qual dieses ganzen Geschwätzes
+ertragen, Ssonja, und wollte sie ganz und gar von mir abschütteln, --
+ich wollte, Ssonja, ohne Kasuistik töten, meinetwegen, für mich allein
+töten! Ich wollte es nicht mal mir selbst vorlügen! Ich habe nicht darum
+getötet, um meiner Mutter zu helfen, -- das ist Unsinn! Ich habe nicht
+darum getötet, um Mittel und Macht zu erhalten, und dann ein Wohltäter
+der Menschheit zu werden. Unsinn! Ich habe einfach getötet; für mich,
+für mich ganz allein habe ich getötet; ob ich aber irgend wessen
+Wohltäter geworden wäre, oder ob ich mein ganzes Leben, wie eine Spinne,
+alle in mein Gewebe eingefangen und aus allen die Lebenssäfte ausgesaugt
+hätte, -- mußte mir in jenem Augenblicke vollkommen gleichgültig sein!
+... Und nicht um das Geld war es mir in erster Linie zu tun, Ssonja, als
+ich tötete; nicht das Geld war mir so wichtig, es war etwas ganz anderes
+... Ich weiß jetzt alles ... Verstehe mich, -- wenn ich vielleicht
+denselben Weg weitergegangen wäre, würde ich niemals mehr einen Mord
+begangen haben. Ich mußte etwas anderes erfahren, etwas anderes trieb
+mich dazu, -- ich mußte damals und schleunigst erfahren, ob ich eine
+Laus bin, wie alle, oder ein Mann? Bin ich imstande, hinwegzuschreiten
+oder nicht? Werde ich es wagen, mich zu bücken und die Macht aufzuheben
+oder nicht? Bin ich eine zitternde Kreatur oder habe ich _ein Recht_
+...«
+
+»Zu töten? Ein Recht zu töten?« -- schlug Ssonja die Hände zusammen.
+
+»Ach, Ssonja!« -- rief er gereizt aus, wollte ihr etwas erwidern,
+schwieg aber verächtlich. -- »Unterbrich mich nicht, Ssonja! Ich wollte
+mir bloß beweisen, -- daß der Teufel mich damals hinschleppte, mir aber
+nachher erklärte, daß ich kein Recht hatte, dort hinzugehen, weil ich
+eben so eine Laus bin, wie alle! Er hat seinen Spott mit mir getrieben,
+nun bin ich zu dir gekommen! Nimm den Gast auf! Wenn ich nicht eine Laus
+wäre, würde ich dann zu dir gekommen sein? Höre, -- als ich damals zu
+der Alten hinging, ging ich bloß, es _zu versuchen_ ... Nun weißt du
+es!«
+
+»Und haben getötet! Haben getötet!«
+
+»Wie habe ich getötet? Ermordet man denn in dieser Weise? Geht man denn
+so hin zu töten, wie ich damals ging! Ich will dir einmal erzählen, wie
+ich hinging ... Habe ich denn die Alte getötet? Ich habe mich getötet,
+und nicht die Alte! Da habe ich mich mit einem Schlage auf ewig
+getroffen! ... Und diese Alte hat der Teufel getötet, aber nicht ich ...
+Genug, genug, Ssonja, genug! Laß mich,« -- rief er plötzlich in
+krankhaftem Grame, -- »laß mich!«
+
+Er stützte sich auf seine Knie und umklammerte mit beiden Händen den
+Kopf.
+
+»Wie Sie leiden!« -- entrang sich Ssonja ein qualvoller Schrei.
+
+»Was soll ich jetzt tun, sprich!« -- fragte er, erhob plötzlich den Kopf
+und blickte sie mit einem vor Verzweiflung schrecklich verzerrten
+Gesichte an.
+
+»Was tun!« -- rief sie aus, sprang von ihrem Platze auf, und ihre Augen,
+die bis jetzt voll Tränen waren, funkelten plötzlich. -- »Steh auf!« --
+Sie packte ihn an den Schultern; er erhob sich und sah sie fast
+verwundert an. -- »Geh sofort, gleich, stell dich auf einen Kreuzweg
+hin, beuge dich, küß zuerst die Erde, die du besudelt hast, dann beuge
+dich vor der ganzen Welt, in allen vier Richtungen und sage allen laut:
+-- >ich habe getötet!< Dann wird dir Gott wieder Leben senden. Willst du
+gehen? Willst du gehen?« -- fragte sie ihn, am ganzen Körper zitternd,
+wie in einem Anfall, und faßte dabei seine beiden Hände und drückte sie
+stark und sah ihn mit feurigen Blicken an.
+
+Er war erstaunt, ja, durch ihre plötzliche Begeisterung bestürzt.
+
+»Du meinst die Zwangsarbeit, Sibirien, Ssonja? Daß ich mich selbst
+anzeigen soll?« -- fragte er finster.
+
+»Das Leiden auf sich nehmen und dadurch Erlösung finden, das sollst du.«
+
+»Nein! Ich gehe nicht zu ihnen, Ssonja.«
+
+»Wie wirst du aber leben, leben? Wie wirst du weiterleben?« -- rief
+Ssonja. -- »Ist es denn jetzt möglich? Und wie wirst du mit deiner
+Mutter sprechen? Oh, was wird, was wird jetzt mit ihnen geschehen! Ja,
+was sage ich! Du hast ja schon deine Mutter und Schwester verlassen. Du
+hast sie doch verlassen, sie verlassen. Oh, Gott!« -- rief sie, -- »er
+weiß ja alles selbst! Nun, wie kann man denn ohne einen Menschen
+weiterleben! Was wird jetzt mit dir werden!«
+
+»Sei kein Kind, Ssonja,« -- sagte er leise. -- »Welche Schuld habe ich
+vor ihnen? Wozu soll ich hingehen? Was soll ich ihnen sagen? Das sind
+alles bloß Gespenster ... Sie vertilgen selbst Millionen von Menschen
+und halten es noch für eine Tugend. Sie sind Gauner und Schufte, Ssonja!
+... Ich gehe nicht. Und was soll ich sagen, -- daß ich getötet und nicht
+gewagt habe, das Geld zu nehmen, daß ich es unter einem Stein versteckt
+habe?« -- fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. -- »Sie werden doch
+selbst über mich lachen, werden sagen, -- er ist ein Dummkopf, daß er es
+nicht genommen hat. Ein Feigling und ein Dummkopf! Sie werden nichts,
+gar nichts verstehen, Ssonja, und sie sind nicht wert, es zu verstehen.
+Wozu soll ich hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Ssonja ...«
+
+»Du wirst dich zu Tode quälen, zu Tode quälen,« -- wiederholte sie und
+streckte ihm in verzweifeltem Flehen die Hände entgegen.
+
+»Ich habe mich vielleicht _bloß_ verleumdet,« -- bemerkte er finster,
+wie sinnend, -- »vielleicht bin ich _doch_ ein Mensch und keine Laus,
+vielleicht habe ich mich übereilt verurteilt ... Ich will _noch_
+kämpfen.«
+
+Ein hochmütiges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
+
+»Solche Qual zu tragen! Und das ganze, ganze Leben hindurch! ...«
+
+»Ich werde mich gewöhnen ...,« -- sagte er düster und nachdenklich. --
+»Höre,« -- begann er nach einer Weile, -- »es ist genug geweint, jetzt
+ist Zeit, die Sache zu bedenken, -- ich bin gekommen, dir zu sagen, daß
+man mich jetzt sucht, mir nachstellt ...«
+
+»Ach!« -- rief Ssonja erschrocken aus.
+
+»Nun, warum schreist du? Du willst doch selbst, daß ich nach Sibirien
+gehe, jetzt aber erschrakst du? Eins aber will ich sagen, -- ich ergebe
+mich ihnen nicht. Ich will mit ihnen noch kämpfen, und sie werden mir
+nichts tun können. Sie haben keine wirklichen Beweise. Gestern war ich
+in großer Gefahr und dachte, daß ich schon verloren sei; heute hat es
+sich verbessert. Alle ihre Beweise haben zwei Seiten, das will sagen, --
+ich kann ihre Beschuldigungen zu meinen Gunsten verwenden, verstehst du?
+Und ich werde sie zu meinen Gunsten verwenden, denn ich habe es jetzt
+gelernt ... Ins Gefängnis aber wird man mich sicher sperren. Wenn nicht
+ein Zufall hinzugekommen wäre, hätte man mich vielleicht schon heute
+geholt; vielleicht geschieht es heute _noch_ ... Aber das tut nichts,
+Ssonja, -- ich werde eine Zeitlang sitzen und man wird mich freilassen
+... denn sie haben keinen einzigen wirklichen Beweis und werden ihn auch
+nicht bekommen, ich gebe mein Wort darauf. Mit dem aber, was sie
+besitzen, kann man einen Menschen nicht verurteilen. Nun, genug ... Ich
+sagte es bloß, damit du es weißt ... Mit meiner Mutter und Schwester
+will ich es so einzurichten versuchen, daß sie nicht daran glauben,
+damit sie nicht erschrecken ... Meine Schwester ist jetzt übrigens, wie
+es scheint, versorgt ... also auch meine Mutter ... Nun, das ist alles.
+Sei übrigens vorsichtig. Willst du zu mir ins Gefängnis kommen, wenn ich
+dort sein werde?«
+
+»Oh, ich werde, werde kommen!«
+
+Sie saßen nebeneinander, traurig und niedergeschlagen, als wären sie
+nach einem Sturme allein an einen einsamen Strand geschleudert worden.
+Er sah Ssonja an und fühlte ihre große Liebe, und seltsam, es fiel ihm
+plötzlich schwer und schmerzlich aufs Herz, daß er so geliebt wurde. Es
+war ein seltsames und furchtbares Gefühl! Als er zu Ssonja ging, empfand
+er, daß in ihr seine ganze Hoffnung und sein letzter Ausweg liege; er
+glaubte wenigstens einen Teil seiner Qualen abzuwälzen und jetzt, wo ihr
+ganzes Herz sich ihm zugewandt hatte, fühlte und erkannte er, daß er um
+vieles unglücklicher geworden war.
+
+»Ssonja,« -- sagte er, -- »komm lieber nicht zu mir, wenn ich im
+Gefängnis sein werde.«
+
+Ssonja antwortete nicht, sie weinte. Es vergingen ein paar Minuten.
+
+»Hast du ein Kreuz?« -- fragte sie plötzlich unerwartet, als sei es ihr
+eben eingefallen.
+
+Er verstand zuerst die Frage nicht.
+
+»Nein, du hast keins? -- Hier, nimm dieses Kreuz aus Zypressenholz. Ich
+habe ein anderes, kupfernes von Lisaweta. Ich habe mit Lisaweta
+getauscht, -- sie hat mir ihr Kreuz gegeben und ich ihr mein
+Heiligenbildchen. Ich will jetzt das Kreuz von Lisaweta tragen, dieses
+aber gebe ich dir. Nimm ... es gehört doch mir! Es ist doch mein Kreuz!«
+-- bat sie ihn, -- »wir werden doch zusammen gehen und leiden, also
+wollen wir auch zusammen das Kreuz tragen! ...«
+
+»Gib her!« sagte Raskolnikoff.
+
+Er wollte sie nicht betrüben, zog aber gleich wieder die Hand zurück,
+die er nach dem Kreuze ausgestreckt hatte.
+
+»Nicht jetzt, Ssonja. Lieber später,« -- fügte er hinzu, um sie zu
+beruhigen.
+
+»Ja, ja, es ist besser, es ist besser,« -- pflichtete sie ihm mit
+Begeisterung bei, -- »wenn du gehst, um das Leiden auf dich zu nehmen,
+dann legst du es um. Du kommst dann zu mir, ich werde es dir umhängen,
+wir wollen dann beten und beide gehen.«
+
+In diesem Augenblicke klopfte jemand dreimal an die Türe.
+
+»Ssofja Ssemenowna, kann ich hereinkommen?« -- ertönte eine sehr
+bekannte höfliche Stimme.
+
+Ssonja stürzte erschrocken zur Türe. Herr Lebesjätnikoff blickte in das
+Zimmer hinein.
+
+
+ V.
+
+Lebesjätnikoff sah aufgeregt aus.
+
+»Ich komme zu Ihnen, Ssofja Ssemenowna. Entschuldigen Sie ... Ich dachte
+mir, daß ich auch Sie treffen werde,« -- wandte er sich schnell an
+Raskolnikoff, -- »das heißt, ich dachte nichts ... in dieser Hinsicht
+... aber ich dachte ... Dort bei uns ist Katerina Iwanowna verrückt
+geworden,« -- schloß er plötzlich, zu Ssonja gewandt.
+
+Ssonja schrie auf.
+
+»Das heißt, es scheint wenigstens so ... Wir wissen nicht, was wir tun
+sollen, das ist es! Sie kam zurück ... man scheint sie irgendwo
+hinausgejagt, vielleicht auch geschlagen zu haben ... es scheint
+wenigstens so ... Sie war zu dem Vorgesetzten des verstorbenen Ssemjon
+Sacharytsch gelaufen, hatte ihn nicht zu Hause getroffen; er war bei
+einem anderen General zu Mittag geladen ... Und stellen Sie sich vor,
+sie lief dann dorthin, ... zu diesem anderen General, stellen Sie sich
+vor, -- sie bestand auf ihrem Verlangen, den Vorgesetzten von Ssemjon
+Sacharytsch zu sehen, und sie hat, wie es scheint, ihn von der Tafel
+rufen lassen. Sie können sich denken, was passiert ist. Man jagte sie
+selbstverständlich hinaus; sie erzählte, daß sie den General beschimpft
+und ihm sogar etwas ins Gesicht geschleudert habe. Das kann man ihr
+schon glauben ..., daß man sie nicht zur Polizei gebracht hat, --
+verstehe ich nicht! Jetzt erzählt sie es allen, auch Amalie Iwanowna,
+doch es ist schwer zu verstehen, was sie meint, denn sie schreit und
+wirft sich dabei mit dem Kopfe an die Wand ... Ach ja -- sie sagt und
+schreit, da sie jetzt von allen verlassen sei, jetzt wolle sie mit den
+Kindern auf die Straße gehen, die einen Leierkasten tragen sollen, die
+Kinder müßten singen und tanzen, auch sie würde singen und Geld
+einsammeln, und Tag für Tag wolle sie vor den Fenstern des Generals
+stehen ... >Mögen alle sehen,< sagt sie, >wie die edlen Kinder eines
+angesehenen Beamten als Bettler in den Straßen herumgehen müssen!< Sie
+schlägt die weinenden Kinder, Lene lehrt sie ein Lied singen, den Knaben
+tanzen und Poletschka ebenfalls; reißt alle Kleider entzwei; macht ihnen
+Mützen, wie die Gaukler sie haben; sie selbst will ein Becken tragen,
+darauf schlagen, an Stelle der Musik ... Uns will sie gar nicht anhören
+... Stellen Sie sich vor, wie soll das werden? Das geht doch nicht an!«
+
+Lebesjätnikoff hätte noch weiter gesprochen, aber Ssonja, die ihm mit
+angehaltenem Atem zugehört hatte, griff rasch nach ihrer Mantille und
+ihrem Hut, lief aus dem Zimmer und kleidete sich im Gehen an.
+Raskolnikoff ging ihr nach und Lebesjätnikoff folgte ihm.
+
+»Sie ist ganz gewiß verrückt geworden!« -- sagte er zu Raskolnikoff und
+trat mit ihm auf die Straße, -- »ich wollte nur Ssofja Ssemenowna nicht
+so erschrecken und sagte deshalb -- >es scheint<, aber es kann keinen
+Zweifel darüber geben. Man hört oft, daß bei Schwindsucht im Gehirn
+solche Knollen entstehen; schade, daß ich nicht Medizin studiert habe.
+Ich versuchte übrigens, sie zu überzeugen, aber sie will nichts hören.«
+
+»Haben Sie ihr von diesen Knollen gesprochen?«
+
+»Das heißt, eigentlich nicht von den Knollen. Sie würde es doch nicht
+verstanden haben. Ich sage aber, -- wenn man einen Menschen logisch
+überzeugen kann, daß er eigentlich keinen Grund hat, zu weinen, so hört
+er auch auf zu weinen. Das ist klar. Oder meinen Sie, daß er nicht
+aufhören wird?«
+
+»Dann wäre das Leben leicht,« -- antwortete Raskolnikoff.
+
+»Erlauben Sie, erlauben Sie bitte; gewiß, bei Katerina Iwanowna würde es
+ziemlich schwer fallen, sie verstände es nicht. Aber ist Ihnen nicht
+bekannt, daß in Paris schon ernste Versuche gemacht worden sind über die
+Möglichkeit, durch Anwendung von logischer Überredung Wahnsinnige zu
+heilen? Ein Professor dort, der vor kurzem gestorben ist, ein großer
+Gelehrter, hat sich ausgedacht, daß man sie in dieser Weise heilen kann.
+Sein Grundgedanke ist, daß bei den Wahnsinnigen eine besondere Störung
+im Organismus nicht vorgeht, und daß der Wahnsinn sozusagen ein
+logischer Fehler, ein Fehler der Urteilsfähigkeit, eine falsche Ansicht
+von Dingen ist. Er widerlegte allmählich den Kranken, und denken Sie
+sich, er soll Erfolge erzielt haben. Da er außerdem auch Duschen
+anwandte, so wurden die Erfolge dieser Behandlung bezweifelt ... Es
+scheint wenigstens so ...«
+
+Raskolnikoff hörte ihm längst nicht mehr zu. Als er an seinem Hause
+ankam, nickte er mit dem Kopfe Lebesjätnikoff zu und bog in den Torweg
+ein. Lebesjätnikoff kam zu sich, blickte sich um und lief weiter.
+
+Raskolnikoff trat in seine Kammer und blieb mitten darin stehen. Warum
+war er hierher zurückgekehrt? Er sah diese gelblichen, abgerissenen
+Tapeten, diesen Staub, sein Sofa an ... Vom Hofe drang ein hartes
+ununterbrochenes Klopfen; man schien Nägel einzuschlagen ... Er trat an
+das Fenster, hob sich auf den Zehen und blickte lange mit
+außerordentlicher Aufmerksamkeit im Hofe umher. Der Hof aber war leer
+und man sah die Klopfenden nicht. Links, im Seitengebäude war hie und da
+ein geöffnetes Fenster; auf den Fensterbrettern standen kleine Töpfe mit
+schwächlichen Geranien. Vor den Fenstern hing Wäsche ... Das ganze Bild
+kannte er auswendig. Er wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa.
+Noch nie, nie hatte er sich so furchtbar einsam gefühlt!
+
+Ja, er fühlte es noch einmal, daß er vielleicht Ssonja hassen werde, und
+zwar jetzt, wo er sie unglücklicher gemacht hatte.
+
+Warum war er zu ihr hingegangen? Um um ihre Tränen zu bitten? Warum
+mußte er so unbedingt ihr Leben verkümmern? Oh, welche Gemeinheit.
+
+»Ich bleibe allein!« -- sagte er plötzlich entschlossen, -- »und sie
+soll nicht ins Gefängnis zu mir kommen!«
+
+Nach etwa fünf Minuten erhob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Es
+war ein merkwürdiger Gedanke: -- »Vielleicht ist es in Sibirien
+tatsächlich besser.«
+
+Er erinnerte sich nicht, wie lange er in seinem Zimmer sich mit den
+einstürmenden unklaren Gedanken abgegeben hatte. Da öffnete sich
+plötzlich die Türe und Awdotja Romanowna trat herein. Sie blieb zuerst
+stehen und blickte ihn von der Schwelle an, so wie er gestern Ssonja
+angeblickt hatte; kam dann herein und setzte sich auf einen Stuhl, auf
+ihren gestrigen Platz, ihm gegenüber. Er sah sie schweigend und
+augenscheinlich gedankenlos an.
+
+»Sei mir nicht böse, Bruder, ich komme nur auf einen Augenblick,« --
+sagte Dunja.
+
+Der Ausdruck ihres Gesichtes war nachdenklich, aber nicht streng. Der
+Blick war klar und still. Er sah, daß auch sie mit Liebe zu ihm gekommen
+war.
+
+»Bruder, ich weiß jetzt alles, _alles_. Mir hat Dmitri Prokofjitsch
+alles erklärt und erzählt. Man verfolgt und quält dich mit einem dummen
+und schändlichen Verdacht! ... Dmitri Prokofjitsch hat mir gesagt, daß
+für dich keine Gefahr vorhanden sei, daß du dich unnütz mit solch einem
+Schrecken befassest. Ich denke nicht, wie er, ich _verstehe vollkommen_,
+wie alles in dir empört sein muß, und daß diese Empörung in dir für
+immer Spuren hinterlassen kann. Davor habe ich Angst. Ich verurteile
+dich nicht und darf dich nicht verurteilen, daß du uns verlassen hast,
+verzeih mir, daß ich dir dies vorgeworfen habe. Ich weiß selbst, daß
+auch ich von allen fortgehen würde, wenn ich solch einen großen Kummer
+hätte. Ich werde der Mutter _davon_ nichts sagen, will aber mit ihr
+immer über dich sprechen, und will in deinem Namen sagen, daß du sehr
+bald kommen wirst. Quäle dich nicht ihretwegen; _ich_ werde sie
+beruhigen; aber quäle auch sie nicht zu sehr, -- komm wenigstens noch
+einmal zu ihr; erinnere dich, daß sie unsere Mutter ist! Ich bin nur
+gekommen, um zu sagen,« -- Dunja stand auf, -- »daß, falls du irgendwie
+mich brauchen solltest und wenn es ... mein Leben gälte ... so rufe
+mich, ich werde kommen. Leb wohl!«
+
+Sie wandte sich schnell um und ging zur Türe.
+
+»Dunja!« -- rief Raskolnikoff, stand auf und ging zu ihr, -- »dieser
+Dmitri Prokofjitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.«
+
+Dunja errötete ein wenig.
+
+»Nun!« -- fragte sie nach einer Weile.
+
+»Er ist ein tüchtiger, fleißiger, ehrlicher Mensch und ist starker Liebe
+fähig ... Leb wohl, Dunja.«
+
+Dunja errötete, dann wurde sie unruhig.
+
+»Was ist dir, Bruder, trennen wir uns denn wirklich für immer, daß du
+mir ... solch ein Vermächtnis machst?«
+
+»Wie dem auch sei ... leb wohl ...«
+
+Er kehrte sich um und ging zum Fenster. Sie blieb eine Weile stehen, sah
+ihn sorgenvoll an und ging mit dem Gefühle der Angst hinaus.
+
+Er war ihr gegenüber nicht kälter! Es hatte einen Augenblick, in letzter
+Minute, gegeben, wo er die größte Lust verspürte, sie innig zu umarmen,
+von ihr _Abschied zu nehmen_ und ihr alles zu _sagen_, aber er wagte ihr
+nicht einmal die Hand zu reichen.
+
+»Sie würde vielleicht später noch erschauern bei dem Gedanken, daß ich
+sie umarmt habe, und würde sagen, daß ich ihr einen Kuß gestohlen
+hätte!«
+
+»Würde sie dies ertragen können oder nicht?« -- fügte er nach einigen
+Minuten hinzu. -- »Nein, sie würde es nicht ertragen können; eine
+_solche Natur_ nicht ...«
+
+Er dachte an Ssonja.
+
+Vom Fenster kam eine kühle Luft. Draußen war es nicht mehr hell. Er nahm
+seine Mütze und ging hinaus.
+
+Er konnte und wollte nicht auf seinen krankhaften Zustand achten. Aber
+diese ununterbrochenen Aufregungen und diese seelischen Erschütterungen
+konnten nicht ohne Folgen bleiben. Und wenn er noch nicht an einem
+heftigen Fieber daniederlag, so war es vielleicht darum, weil diese
+inneren ununterbrochenen Aufregungen ihn vorläufig noch aufrecht und bei
+Bewußtsein hielten.
+
+Er irrte ziellos herum. Die Sonne ging unter. Eine eigenartige Angst
+begann in der letzten Zeit seiner Seele sich zu bemächtigen. Es war kein
+bohrender oder brennender Schmerz; etwas Beständiges oder Bleibendes
+aber ging von ihm aus; die Ahnung einer Reihe endloser kalter, toter
+Jahre lag darinnen, einer Ewigkeit auf dem »ellenbreiten Raume«. In den
+Abendstunden war dieses Gefühl stärker und peinvoller.
+
+»Und mit diesen dummen, rein physischen Schwächen, die vom
+Sonnenuntergang abhängen konnten, soll man sich vor Dummheiten hüten! Da
+läuft man dann nicht bloß zu Ssonja hin, auch zu Dunja!« -- murmelte er
+haßerfüllt vor sich hin. Man rief ihn beim Namen. Er blickte sich um;
+Lebesjätnikoff eilte auf ihn zu.
+
+»Denken Sie, ich war bei Ihnen, ich suchte Sie. Stellen Sie sich vor,
+sie hat wirklich ihre Absicht ausgeführt und die Kinder mitgenommen. Ich
+habe sie mit Ssofja Ssemenowna nur mit Mühe gefunden. Sie selbst schlägt
+auf eine Pfanne, und läßt die Kinder tanzen. Die Kinder weinen. Sie
+bleiben an Straßenecken und vor Läden stehen. Das dumme Volk läuft ihnen
+nach. Wir wollen hingehen!«
+
+»Und Ssonja?« -- fragte Raskolnikoff unruhig und eilte Lebesjätnikoff
+nach.
+
+»Sie ist ganz außer sich. Nicht Ssofja Ssemenowna, sondern Katerina
+Iwanowna ist außer sich; aber auch Ssofja Ssemenowna ist außer sich.
+Katerina Iwanowna ist aber ganz und gar aufgelöst. Ich sage Ihnen, sie
+ist vollkommen verrückt. Man wird sie noch zur Polizei bringen. Sie
+können sich vorstellen, wie das erst auf sie wirken wird ... Jetzt sind
+sie am Kanal bei der N.schen Brücke, gar nicht weit von Ssofja
+Ssemenownas Wohnung.«
+
+Am Kanal, nicht weit von der Brücke und zwei Häuser von der Wohnung
+Ssonjas entfernt, hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt.
+Besonders Knaben und Mädchen liefen hin. Von der Brücke aus konnte man
+die heisere, überanstrengte Stimme von Katerina Iwanowna hören. Es war
+ein merkwürdiges Schauspiel, fähig, das Straßenpublikum zu fesseln.
+Katerina Iwanowna hatte ihr altes, abgetragenes Kleid an, einen Schal
+umgelegt und einen zerrissenen Strohhut auf; sie war tatsächlich ganz
+außer sich. Dabei war sie müde und rang nach Atem. Ihr abgehärmtes
+schwindsüchtiges Gesicht sah noch leidender aus; außerdem sieht ein
+Schwindsüchtiger draußen im Sonnenlicht stets kränklicher und mehr
+entstellt aus als zu Hause, -- ihr aufgeregter Zustand nahm kein Ende,
+sie wurde mit jedem Augenblicke gereizter. Bald stürzte sie sich auf die
+Kinder, schrie sie an, redete ihnen zu, lehrte sie auf der Straße in
+Gegenwart aller, wie sie tanzen und was sie singen sollten, begann ihnen
+zu erklären, warum dies nötig sei, geriet in Verzweiflung, daß sie nicht
+begreifen wollten, und schlug sie ... Dann stürzte sie wieder ins
+Publikum, -- wenn sie einen einigermaßen besser gekleideten Menschen
+entdeckte, der stehen blieb, um sich die Sache anzusehen, beeilte sie
+sich sofort, ihm zu erklären, daß es so weit, -- mit -- den Kindern »aus
+einem feinen, man kann sogar sagen aristokratischen Hause,« gekommen
+war. Wenn sie unter den Zuschauern Lachen oder ein freches Wort hörte,
+wandte sie sich sofort an die Dreisten und begann sie zu schelten.
+Einige lachten darüber, andere wieder schüttelten die Köpfe; aber allen
+war es interessant, die Wahnsinnige mit ihren erschrockenen Kindern
+anzusehen. Die Pfanne, die Lebesjätnikoff erwähnt hatte, war nicht da;
+Raskolnikoff sah sie wenigstens nicht. Katerina Iwanowna schlug den Takt
+nicht auf einer Pfanne, sondern mit ihren mageren Händen, wenn sie
+Poletschka zum singen und Lene und Kolja zum tanzen veranlaßte. Sie fing
+selbst an mitzusingen, wurde jedoch jedesmal beim zweiten Tone von einem
+quälenden Husten unterbrochen; dann wurde sie von neuem verzweifelt,
+fluchte ihrem Husten und weinte sogar. Am meisten brachte sie das Weinen
+und die Angst Koljas und Lenes auseinander. Sie hatte wirklich den
+Versuch gemacht, die Kinder aufzuputzen, wie Straßentänzer und Gaukler.
+Der Knabe hatte einen Turban aus rotem und weißem Stoff, damit er einem
+Türken ähnle. Für Lene reichte es zu einem Kostüm nicht aus; sie hatte
+nur ein rotes, gestricktes Käppchen des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch
+auf dem Kopfe und an dieses Käppchen war eine abgebrochene Straußfeder
+befestigt worden, die noch der Großmutter von Katerina Iwanowna gehört
+hatte und die bis jetzt, als ein altes Familienstück, im Koffer
+aufbewahrt wurde. Poletschka war in ihrem gewöhnlichen Kleidchen. Sie
+blickte schüchtern und weltvergessen die Mutter an, wich nicht von ihrer
+Seite, verbarg die Tränen, ahnend, daß die Mutter wahnsinnig geworden
+sei, und sah unruhig um sich. Die Straße und die Menschenmenge hatten
+sie äußerst erschreckt. Ssonja wich keinen Schritt von Katerina
+Iwanowna, weinte und flehte sie an, nach Hause zurückzukehren. Katerina
+Iwanowna aber blieb unerbittlich.
+
+»Höre auf, Ssonja, höre auf!« -- schrie sie hastig, außer Atem und
+hustend. -- »Du weißt selbst nicht, was du bittest, du bist wie ein
+Kind! Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich zu dieser vertrunkenen
+Deutschen nicht zurückkehren will. Mögen alle, ganz Petersburg sehen,
+wie die Kinder eines edlen Vaters, der sein ganzes Leben treu und
+redlich gedient hat, und man kann sagen, im Dienste gestorben ist,
+betteln gehen müssen.« -- Katerina Iwanowna hing schon an dieser
+Erfindung eigener Phantasie mit blindem Glauben. -- »Mag es nur dieser
+schändliche Kerl von einem General sehen. Ja, du bist dumm, Ssonja, --
+was sollen wir denn essen, sage mir? Wir haben dich genug gepeinigt, ich
+will es nicht mehr! Ach, Rodion Romanowitsch, Sie sind es!« -- rief sie
+aus, als sie Raskolnikoff erblickte, und stürzte zu ihm hin, --
+»erklären Sie bitte dieser dummen kleinen Person, daß wir nichts
+klügeres tun konnten! Sogar Leierkastenmänner verdienen, bei uns aber
+werden alle bemerken und erfahren, daß wir eine arme feine Familie und
+Waisen sind, die an den Bettelstab gebracht wurden, und dieser Kerl von
+einem General wird seine Stelle verlieren. Sie werden es sehen! Wir
+werden jeden Tag vor seinen Fenstern stehen, und wenn der Kaiser
+vorbeifahren wird, will ich mich auf die Knie werfen und auf die Kinder
+will ich zeigen und sagen: -- >Schütze sie, Vater!< Er ist der Vater
+aller Waisen, er ist barmherzig, er wird sie schützen, Sie werden es
+sehen, und diesen Kerl von einem General ... Lene! _Tenez vous
+droite!_{[11]} Du, Kolja, wirst sofort wieder tanzen. Was heulst du? Er
+heult wieder! Nun, warum fürchtest du dich, Dummköpfchen! Oh, Gott! Was
+soll ich mit ihnen tun, Rodion Romanowitsch! Wenn Sie wüßten, wie
+unvernünftig sie sind! Was soll man mit ihnen tun! ...«
+
+Und sie zeigte, fast weinend, was sie jedoch nicht hinderte,
+ununterbrochen und unaufhörlich zu reden, -- auf die schluchzenden
+Kinder. Raskolnikoff versuchte sie zu überreden, nach Hause zu gehen und
+sagte ihr sogar, in der Meinung auf ihre Eigenliebe zu wirken, daß es
+für sie unpassend sei, wie Leierkastenleute in den Straßen
+umherzuziehen, weil sie doch beabsichtigte, die Vorsteherin einer
+Pension für junge Mädchen aus besseren Ständen ...
+
+»Einer Pension für junge Mädchen, ha! ha! ha! Was weit herkommt, hat gut
+lügen -- sagt das Sprichwort!« -- rief Katerina Iwanowna aus; nach dem
+Lachen überfiel sie ein starker Husten, -- »nein, Rodion Romanowitsch,
+der Traum ist vorüber! Alle haben uns verlassen! ... Und dieser Kerl von
+einem General ... Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, ich habe ihm ein
+Tintenfaß an den Kopf geworfen, -- es stand gerade eins da, im
+Vorzimmer, neben dem Buche, wo alle ihre Namen eintragen, auch ich habe
+mich eingetragen, ich warf ihm das Tintenfaß an den Kopf und lief davon.
+Oh, gemeine, niederträchtige Menschen! Ich pfeife auf sie alle, ich will
+selbst die da füttern, will niemanden mehr anbetteln! Wir haben sie
+genug gequält!« -- und sie wies auf Ssonja. -- »Poletschka, wieviel
+haben wir eingesammelt, zeige mir mal! Wie? Bloß zwei Kopeken? Oh,
+schändliche Menschen! Sie geben nichts, laufen uns bloß mit
+ausgestreckter Zunge nach! Nun, was lacht dieser Holzklotz?« -- sie
+zeigte auf einen in der Menge. -- »Das kommt alles daher, weil Kolja so
+einfältig ist, man hat nur Schererei mit ihm! Was willst du, Poletschka?
+Sprich mit mir französisch, _parlez moi français_{[12]}. Ich habe dich
+doch gelehrt, du kennst doch einige Sätze! ... Wie kann man denn
+erkennen, daß ihr aus feiner Familie, wohlerzogene Kinder seid und keine
+Leierkastenleute. Wir machen doch kein Kasperletheater auf den Straßen,
+wir wollen eine schöne feine Romanze singen ... Ach ja! Was sollen wir
+denn singen? Ihr unterbrecht mich in einem fort, wir sind ... sehen Sie,
+Rodion Romanowitsch, wir sind hier stehen geblieben, um auszusuchen, was
+wir singen sollen, -- etwas, was auch Kolja vortanzen kann ... denn
+alles machen wir, Sie können es sich vorstellen, ohne Vorbereitungen.
+Wir wollen uns besprechen, um alles ordentlich durchzunehmen, dann gehen
+wir auf den Newski Prospekt, wo es bedeutend mehr Menschen aus der
+höchsten Gesellschaft gibt, die uns sofort bemerken werden. Lene kennt
+das Lied >Die Troika< ... Aber das kann man doch nicht immerwährend
+singen, die ganze Welt singt es ja! Wir müssen etwas viel Besseres
+singen ... Nun, was meinst du, Poletschka, du könntest doch der Mutter
+helfen! Ich erinnere mich an nichts mehr, ich habe alles vergessen! Ach,
+wollen wir doch französisch >_Cinq sous_<{[13]} singen! Ich habe es euch
+doch gelehrt! Und da es französisch ist, werden alle sofort sehen, daß
+ihr adlige Kinder seid, und das ist bedeutend rührender ... Wir könnten
+sogar >_Malbrough s'en va-t-en guerre!_{[14]}< singen, da es ein
+ausgesprochenes Kinderlied ist und in allen aristokratischen Häusern
+gesungen wird, wenn die Kinder zum Schlafen gebracht werden.«
+
+ _Malbrough s'en va-t-en guerre_
+ _Ne sait quand reviendra ..._{[14]}
+
+begann sie zu singen ... »Nein, es ist besser >_Cinq sous!_{[13]}< Nun,
+Kolja, stemme die Händchen in die Seiten, aber schneller, und du Lene,
+drehe dich in entgegengesetzter Richtung, ich werde mit Poletschka
+singen und in die Hände klatschen!
+
+ _Cinq sous, cinq sous_
+ _Pour monter notre ménage ..._{[15]}
+
+Kche--kche--kche!« (Und sie krümmte sich vor Husten.) »Bring dein Kleid
+in Ordnung, Poletschka, die Schultern sind entblößt,« bemerkte sie,
+zwischen dem Husten atemholend. -- »Ihr müßt euch jetzt besonders
+anständig und in feinem Tone benehmen, damit es alle sehen, daß ihr
+adlige Kinder seid. Ich habe damals gesagt, daß man die Taille länger
+und in doppelter Breite zuschneiden soll. Du kamst aber mit deinen
+Ratschlägen, Ssonja, -- es kürzer und kürzer zu machen, nun jetzt siehst
+du, ist das Kind völlig verunstaltet ... Ihr weint wieder! Ja, warum
+weint ihr Dummen! Kolja, fang schneller an, schneller, -- ach, wie dies
+Kind unerträglich ist! ...
+
+ _Cinq sous, cinq sous --_{[13]}
+
+Wieder ein Schutzmann! Nun, was willst du?«
+
+Es drängte sich ein Schutzmann durch die Menge. Gleichzeitig näherte
+sich ihr ein Herr im Dienstrocke und Mantel, ein höherer Beamter, mit
+einem Orden am Halsbande -- dieser Umstand war Katerina Iwanowna sehr
+erwünscht und hatte selbst Einfluß auf den Schutzmann, -- und
+überreichte ihr schweigend einen grünen Dreirubelschein. Sein Gesicht
+drückte aufrichtiges Mitleid aus. Katerina Iwanowna nahm das Geld und
+verbeugte sich höflich, fast förmlich.
+
+»Ich danke Ihnen, mein Herr,« begann sie von oben herab, »die Gründe,
+die uns gezwungen haben ... nimm das Geld, Poletschka. Du siehst, es
+gibt noch edle und großmütige Menschen, die sofort bereit sind, einer
+armen adligen Dame im Unglücke zu helfen. Sie sehen adlige Waisen vor
+sich, mein Herr, man kann sogar sagen, mit aristokratischsten
+Verbindungen ... Und dieser Kerl von einem General saß am Tische und aß
+Haselhühner ... stampfte mit den Füßen, weil ich ihn gestört habe ...
+>Eure Exzellenz,< sagte ich, >schützen Sie die Waisen, da Sie den
+verstorbenen Ssemjon Sacharytsch gut kannten,< sagte ich, >und weil der
+gemeinste aller Schufte seine leibliche Tochter an seinem Todestage
+verleumdet hat ...< Wieder kommt dieser Schutzmann! Schützen Sie mich!«
+rief sie dem Beamten zu, -- »was will dieser Schutzmann von mir? Wir
+sind schon vor einem weggelaufen ... Nun, was geht es dich an,
+Dummkopf!«
+
+»Es ist in den Straßen verboten. Machen Sie keinen Skandal!«
+
+»Du bist selbst ein Skandalmacher! Ich gehe herum, wie jeder
+Leierkastenmann, was geht es dich an?«
+
+»Zu einem Leierkasten muß man eine Erlaubnis haben. Sie sammeln aber in
+dieser Weise das Volk an. Wo wohnen Sie?«
+
+»Wie, Erlaubnis,« schrie Katerina Iwanowna. -- »Ich habe heute meinen
+Mann beerdigt, was ist da für eine Erlaubnis nötig!«
+
+»Bitte, beruhigen Sie sich, Madame,« begann der vornehme Beamte, »kommen
+Sie, ich will Sie begleiten ... Hier unter den Leuten ist es unpassend
+... Sie sind krank ...«
+
+»Mein Herr, mein Herr, Sie wissen gar nicht!« schrie Katerina Iwanowna,
+»wir wollen auf den Newski Prospekt gehen ... Ssonja, Ssonja! Wo ist sie
+denn? Sie weint auch! Was ist denn mit euch allen! ... Kolja, Lene,
+wohin geht ihr denn?« rief sie plötzlich im Schreck, »oh, die dummen
+Kinder! Kolja, Lene, ja, wohin laufen sie denn? ...«
+
+Als Kolja und Lene, bis aufs äußerste von der Menschenmenge und von der
+wahnsinnigen Mutter erschreckt, den Schutzmann erblickten, der sie
+nehmen und irgendwohin führen wollte, faßten sie einander wie auf
+Verabredung an den Händchen und liefen davon. Mit Geschrei und Weinen
+stürzte die arme Katerina Iwanowna ihnen nach, um sie einzuholen. Es war
+widerwärtig und traurig zu sehen, wie sie weinend und keuchend lief.
+Ssonja und Poletschka eilten ihr nach.
+
+»Bring sie zurück, bring sie zurück, Ssonja! Oh, die dummen, undankbaren
+Kinder! ... Polja! Fange sie ein ... Ich habe es doch für euch ...«
+
+Sie stolperte im vollen Laufe und fiel hin.
+
+»Sie hat sich blutig geschlagen! Oh, Gott!« rief Ssonja aus, sich über
+sie beugend.
+
+Alle liefen hin und drängten sich um sie. Raskolnikoff und
+Lebesjätnikoff waren als die ersten zur Stelle, der Beamte eilte auch
+hinzu und ihm folgte der Schutzmann, der etwas wie »Ach ja!« brummte und
+den Kopf schüttelte, in der Vorahnung, daß die Sache ihm viel zu
+schaffen machen würde.
+
+»Geht weiter, geht!« er jagte die Menschen, die umherstanden,
+auseinander.
+
+»Sie stirbt!« rief jemand.
+
+»Sie hat den Verstand verloren!« sagte ein anderer.
+
+»Gott schütze sie!« bemerkte eine Frau und schlug ein Kreuz. -- »Hat man
+den Jungen und das Mädel gekriegt? Ja, da bringt man sie, die älteste
+hat sie eingeholt ... Was ihnen nur einfiel!«
+
+Als man aber Katerina Iwanowna näher betrachtet hatte, sah man, daß sie
+sich gar nicht an den Steinen blutig geschlagen hatte, wie Ssonja
+angenommen, sondern daß das Blut, das den Fahrdamm besudelte, aus Brust
+und Mund kam.
+
+»Das kenne ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte leise zu Raskolnikoff
+und Lebesjätnikoff, »das ist Schwindsucht; das Blut stürzt hervor und
+man erstickt. Einer Verwandten von mir ist es jüngst ähnlich gegangen,
+ich habe es selbst gesehen, ein halbes Glas kam ... und so plötzlich ...
+Was soll man tun, sie wird gleich sterben.«
+
+»Bringt sie zu mir, hier in der Nähe!« flehte Ssonja, »ich wohne hier
+... in dem Hause, das zweite von hier ... Schnell, schnell! ...« wandte
+sie sich aufgeregt an alle. »Holt einen Arzt ... Oh Gott!«
+
+Dank der Bemühungen des Beamten ging die Sache glatt vor sich, sogar der
+Schutzmann half Katerina Iwanowna hinübertragen. Man brachte sie fast
+tot in Ssonjas Zimmer und legte sie auf das Bett. Das Blut hörte noch
+nicht auf zu fließen, aber Katerina Iwanowna kam langsam zu sich. In das
+Zimmer traten gleichzeitig außer Ssonja, Raskolnikoff und
+Lebesjätnikoff, der Beamte und der Schutzmann, nachdem er vorher die
+Menge auseinandergejagt hatte, von der einige bis zur Türe gefolgt
+waren. Poletschka kam auch mit Kolja und Lene, die zitterten und
+weinten; sie hielt sie an den Händen. Auch von Kapernaumoff kamen Leute,
+er selbst, lahm und krumm, von seltsamem Aussehen mit borstigen Haaren
+und Backenbart; seine Frau, die immer ein erschrockenes Aussehen hatte
+und einige ihrer Kinder mit offenem Munde und immer erstauntem,
+hölzernem Gesichtsausdruck. Unter diesem Publikum befand sich auch
+Sswidrigailoff. Raskolnikoff blickte ihn verwundert an, ohne zu
+begreifen, wie er hierher gekommen sei, da er sich seiner unter der
+Menge nicht entsann. Man sprach davon, einen Arzt und einen Priester
+holen zu lassen. Obwohl der Beamte Raskolnikoff auch zugeflüstert hatte,
+daß ein Arzt, wie es ihm schien, jetzt wohl überflüssig sei, sandte man
+doch nach ihm. Kapernaumoff lief selbst fort.
+
+Unterdessen war Katerina Iwanowna zu sich gekommen und das Blut hörte
+für eine Weile auf zu fließen. Sie sah unverwandt mit einem
+schmerzlichen und durchdringenden Blick auf die bleiche und bebende
+Ssonja, die ihr mit einem Taschentuche die Schweißtropfen auf der Stirn
+abtrocknete; schließlich bat sie, man möge sie aufrichten. Man setzte
+sie auf und stützte sie von beiden Seiten.
+
+»Wo sind die Kinder?« fragte sie mit schwacher Stimme. -- »Hast du sie
+gebracht, Polja? Oh, ihr dummen ... Warum lieft ihr fort ... Ach!«
+
+Blut bedeckte noch ihre trockenen Lippen. Sie blickte sich um.
+
+»Also, hier lebst du, Ssonja! Ich war nie bei dir gewesen ... jetzt erst
+bin ich dazu gekommen ...«
+
+Sie blickte sie unendlich traurig an.
+
+»Wir haben dich ausgesaugt, Ssonja ... Polja, Lene, Kolja, kommt her ...
+Da sind sie alle, Ssonja, nimm sie ... aus meiner Hand ... ich bin
+fertig! ... Das Fest ist aus! H--a ... Legt mich nieder und laßt mich
+wenigstens ruhig sterben ...«
+
+Man legte sie wieder auf die Kissen zurück.
+
+»Was? Einen Priester? ... Ist nicht nötig. Habt ihr einen überflüssigen
+Rubel? ... Ich habe keine Sünden! ... Gott muß mir auch ohnedem vergeben
+... Er weiß, wie ich gelitten habe! ... Und wenn er nicht vergibt, so
+ist es auch gut! ...«
+
+Ein unruhiges Phantasieren bemächtigte sich ihrer mehr und mehr.
+Zuweilen fuhr sie auf, blickte um sich, erkannte alle auf einen
+Augenblick, und das Bewußtsein schwand wieder. Sie atmete schwer und
+röchelnd.
+
+»Ich sagte ihm: >Ew. Exzellenz!< ...!« rief sie und holte nach jedem
+Worte Atem, »diese Amalie Ludwigowna ... ach! Lene, Kolja! Die Händchen
+in die Hüften, schneller, schneller, _glissez, glissez, pas de
+basque_!{[16]} Stampf mit den Füßchen ... Sei ein graziöses Kind.
+
+ Du hast Diamanten und Perlen ...
+
+Wie geht es weiter? Das sollten wir singen ...
+
+ Du hast die schönsten Augen
+ Mädchen, was willst du noch mehr? ...
+
+Das ist nicht ganz richtig! Was willst du noch mehr -- was sich dieser
+Holzklotz dabei gedacht hat? ... -- Ach ja, oder ein anderes Lied
+
+ In mittäglicher Glut ...
+
+Ach, wie ich es liebte ... Ich habe dieses Lied sehr geliebt,
+Poletschka! ...
+
+ In mittäglicher Glut im Tale Daghestans ...
+
+Weißt du, dein Vater sang es ... als Bräutigam noch ... Oh, die Tage!
+... Das sollten wir singen! Nun, wie heißt es denn ... ich habe es
+vergessen ... helft mir doch dabei ... wie heißt es denn?« -- Sie war in
+furchtbarer Erregung und versuchte aufzustehen. Mit schrecklicher,
+heiserer und überschnappender Stimme, bei jedem Worte außer Atem,
+schreiend und mit einer sich steigernden Angst begann sie zu singen:
+
+ »In mittäglicher Glut ... im Tale ... Daghestans ...
+ Mit Blei in der Brust ...
+
+Ew. Exzellenz!« schrie sie plötzlich herzzerreißend und in Tränen
+ausbrechend, »schützen Sie die Waisen! Eingedenk der Gastfreundschaft
+des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch! ... Man kann sogar sagen, aus
+einem aristokratischen ... Ha--a!« fuhr sie auf, zur Besinnung kommend
+und betrachtete alle mit Entsetzen, erkannte aber sofort Ssonja. --
+»Ssonja, Ssonja!« sagte sie sanft und freundlich, als wäre sie erstaunt,
+sie vor sich zu sehen, »Ssonja, liebe Ssonja, du bist auch hier?«
+
+Man richtete sie wieder auf.
+
+»Genug! ... Es ist Zeit! ... Lebwohl, Armselige! ... Die Stute ist
+abgehetzt! ... Zu Tode gehetzt!« rief sie verzweifelt und haßerfüllt aus
+und fiel mit dem Kopfe auf das Kissen zurück.
+
+Sie verlor von neuem das Bewußtsein, und ohne es wieder erlangt zu
+haben, fiel ihr blaßgelbes abgemagertes Gesicht nach hinten, der Mund
+öffnete sich, die Füße streckten sich krampfhaft aus. Sie stöhnte tief
+auf und starb.
+
+Ssonja warf sich auf die Leiche, faßte sie mit den Händen, lehnte den
+Kopf an die magere Brust der Verstorbenen und verharrte so lange.
+Poletschka fiel zu den Füßen der Mutter nieder und küßte sie laut
+schluchzend. Kolja und Lene, die noch nicht verstanden hatten, was
+geschehen war, aber etwas Schreckliches ahnten, faßten einander mit
+beiden Händen an den Schultern, starrten einander in die Augen und
+begannen zu schreien. Beide waren noch aufgeputzt, -- er im Turban, sie
+in dem Käppchen mit der Straußenfeder.
+
+Und wie kam das Ehrendiplom auf das Bett neben Katerina Iwanowna hin? Es
+lag neben dem Kissen, Raskolnikoff hatte es gesehen.
+
+Er ging zum Fenster. Lebesjätnikoff kam eilig zu ihm.
+
+»Sie ist gestorben!« sagte Lebesjätnikoff.
+
+»Rodion Romanowitsch, ich muß Ihnen ein paar wichtige Worte sagen,« trat
+Sswidrigailoff heran.
+
+Lebesjätnikoff trat ihm sofort seinen Platz ab und verschwand
+zartfühlend. Sswidrigailoff führte den erstaunten Raskolnikoff in eine
+abgelegene Ecke hin.
+
+»Diese ganze Schererei, das heißt die Beerdigung und alles übrige nehme
+ich auf mich. Wissen Sie, es kommt doch bloß auf das Geld an, und ich
+habe Ihnen doch gesagt, daß ich überflüssiges habe. Diese zwei
+Sprößlinge und diese Poletschka will ich in einer besseren Anstalt für
+Waisenkinder unterbringen und will für jeden bis zur Volljährigkeit
+fünfzehnhundert Rubel in eine Bank einzahlen, so daß Ssofja Ssemenowna
+vollkommen unbesorgt sein kann. Auch sie will ich aus dem Pfuhle
+herausziehen, denn sie ist ein gutes Mädchen, nicht wahr? Und so teilen
+Sie Awdotja Romanowna mit, daß ich ihre zehntausend in dieser Weise
+verbraucht habe.«
+
+»Welche Absichten verfolgen Sie bei diesen übergroßen Guttaten?« fragte
+Raskolnikoff.
+
+»Ach! Sie mißtrauischer Mensch!« lachte Sswidrigailoff. -- »Ich habe
+doch gesagt, daß dieses Geld bei mir überflüssig liegt. Einfach aus
+Menschlichkeit, das lassen Sie bei mir nicht gelten? Sie war doch keine
+>Laus< gewesen -- (er zeigte mit dem Finger auf die Ecke, wo die
+Verstorbene lag) -- wie irgendeine alte Wucherin. Gestehen Sie doch
+selbst, -- >soll Luschin tatsächlich weiterleben und Scheußlichkeiten
+verüben, oder sie sterben?< Und wenn ich nicht helfe, so muß doch
+Poletschka den nämlichen Weg gehen ...«
+
+Er sagte es spöttisch mit zugekniffenen Augen und ohne den Blick von
+Raskolnikoff abzuwenden. Raskolnikoff erbleichte, es durchzog ihn ein
+Schauer, als er seine eigenen Worte wieder hörte, die er zu Ssonja
+gesprochen hatte. Er fuhr zurück und blickte Sswidrigailoff fassungslos
+an.
+
+»Wo--woher ... wissen Sie?« flüsterte er, kaum atmend.
+
+»Ich wohne ja hier, hinter der Wand bei Madame Rößlich. Hier wohnt
+Kapernaumoff und dort Madame Rößlich, eine alte und sehr ergebene
+Bekannte von mir. Ich bin ihr Nachbar.«
+
+»Sie?«
+
+»Ja, ich,« fuhr Sswidrigailoff fort, sich vor Lachen schüttelnd, »und
+ich kann Sie auf Ehre versichern, lieber Rodion Romanowitsch, daß Sie
+mich kolossal interessiert haben. Ich habe doch gesagt, daß wir einander
+näher kommen werden, ich habe es Ihnen vorausgesagt, -- nun sind wir
+auch einander näher gekommen. Und Sie werden sehen, wie verträglich ich
+bin. Sie werden sehen, daß es sich mit mir noch leben läßt ...«
+
+
+
+
+ Sechster Teil
+
+
+ I.
+
+Für Raskolnikoff war eine merkwürdige Zeit angebrochen. -- Es war, als
+wäre plötzlich ein schwerer Nebel auf ihn herabgesunken und hätte für
+ihn eine undurchdringliche und tiefe Einsamkeit beschlossen. Als er
+später, lange nachher, sich dieser Zeit entsann, dachte er es sich so,
+daß sein Bewußtsein zeitweise sich verdunkelte und daß dies mit wenigen
+Unterbrechungen bis zur endgültigen Katastrophe gedauert hatte. Er war
+vollkommen überzeugt, daß er sich damals öfters geirrt haben müsse, zum
+Beispiel in der Zeit und der Dauer verschiedener Ereignisse. Wenigstens,
+als er sich späterhin auf dies oder jenes besinnen wollte und sich das
+Erinnerte zu erklären versuchte, erfuhr er vieles über sich selbst,
+indem er sich nach den Mitteilungen richtete, die er von anderen
+erhalten. So verwechselte er ein Ereignis z. B. mit einem anderen; ein
+anderes hielt er für die Folge eines Vorfalls, der nur in seiner
+Einbildung existierte. Zuweilen erfaßte ihn eine qualvolle Unruhe, die
+sich zu einem panischen Schrecken steigern konnte. Er entsann sich auch,
+daß es Minuten, Stunden, vielleicht sogar ganze Tage gab, die er im
+Gegensatz zu der Angst, in völliger Apathie verbrachte, -- eine Apathie,
+die dem schmerzhaft gleichgültigen Zustand Sterbender ähnlich war.
+Überhaupt trieb es ihn in diesen letzten Tagen, einem klaren und vollen
+Verständnis seiner Lage aus dem Wege zu gehen; alltägliche Dinge, die
+eine unverzügliche Erledigung verlangten, lasteten auf ihm; wie froh
+wäre er dagegen gewesen, von manchen Sorgen sich befreien und loslösen
+zu können, die im Falle ihrer Vernachlässigung ihm den völligen,
+unvermeidlichen Untergang bringen mußten.
+
+Am meisten beunruhigte ihn Sswidrigailoff, -- ja, man konnte sagen, daß
+Sswidrigailoff seine einzige Sorge war. Seit der Zeit, als er von
+Sswidrigailoff in Ssonjas Zimmer, in Katerina Iwanownas Todesstunde die
+drohenden und unzweideutigen Worte gehört hatte, schien der gewöhnliche
+Fluß seiner Gedanken gestört zu sein. Und obgleich ihn diese neue
+Tatsache äußerst beunruhigte, beeilte sich Raskolnikoff nicht, die Sache
+aufzuklären. Zuweilen, wenn er sich irgendwo in einem abgelegenen und
+menschenleeren Stadtteile, in einem kläglichen Restaurant an einem
+Tische allein in Gedanken versunken vorfand und sich kaum entsann, wie
+er hierher gekommen war, fiel ihm mit einem Male Sswidrigailoff ein, --
+er sah nur zu deutlich ein, daß er sich möglichst schnell mit diesem
+Menschen verständigen und zu einem Ende mit ihm kommen müsse. Einmal,
+als er vor die Stadt geraten war, bildete er sich sogar ein, daß er hier
+Sswidrigailoff erwarte, daß sie hier eine Zusammenkunft verabredet
+hätten. Ein anderes Mal erwachte er vor Tagesanbruch irgendwo auf der
+Erde im Gebüsch und begriff nicht, wie er hierhergekommen war. In den
+zwei, drei auf Katerina Iwanownas Tode folgenden Tagen hatte er ein
+paarmal Sswidrigailoff getroffen, fast immer in der Wohnung Ssonjas,
+wohin er ziellos, stets aber nur einen kurzen Augenblick gegangen war.
+Sie wechselten stets einige kurze Worte und berührten kein einziges Mal
+den Hauptpunkt, als wäre es zwischen ihnen so verabredet worden,
+vorläufig darüber zu schweigen. Die Leiche von Katerina Iwanowna lag
+noch im offenen Sarge. Sswidrigailoff gab die Anordnungen für die
+Beerdigung und sorgte für alles. Ssonja war auch sehr in Anspruch
+genommen. Bei der letzten Begegnung hatte Sswidrigailoff ihm mitgeteilt,
+daß er die Frage bezüglich der Kinder Katerina Iwanownas gelöst habe und
+sehr glücklich sei, daß dank einiger Verbindungen alle drei Waisen
+sofort in sehr anständige Anstalten untergebracht werden könnten und daß
+das für sie deponierte Geld viel dazu beigetragen habe, weil wohlhabende
+Waisen leichter als arme unterzubringen seien. Er redete auch über
+Ssonja, versprach Raskolnikoff in den nächsten Tagen selbst aufzusuchen,
+um sich mit ihm zu beraten, da in dieser Angelegenheit Notwendiges zu
+besprechen sei.
+
+Das Gespräch fand im Korridor, an der Treppe statt. Sswidrigailoff sah
+unverwandt Raskolnikoff in die Augen und fragte ihn nach einigem
+Schweigen mit gesenkter Stimme.
+
+»Was ist mit Ihnen, Rodion Romanowitsch, Sie sind so vollkommen
+verändert? Wirklich! Sie hören zu und schauen einen dabei an, scheinen
+aber nichts zu verstehen. Geben Sie acht auf sich. Wir wollen einmal
+miteinander sprechen; schade nur, daß ich jetzt so viel für andere und
+für mich selbst zu tun habe ... Ach, Rodion Romanowitsch,« fügte er
+unmittelbar hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft ... Vor
+allen Dingen!«
+
+Er trat zur Seite, um den eben heraufkommenden Priester und den Küster
+vorbeizulassen. Sie kamen, die Totenmesse zu halten. Sswidrigailoff
+hatte angeordnet, daß pünktlich zweimal am Tage Totenmessen abgehalten
+würden. Sswidrigailoff ging seinen Angelegenheiten nach und Raskolnikoff
+blieb eine Weile stehen, dachte nach und folgte dann dem Priester in
+Ssonjas Wohnung.
+
+Er blieb an der Türe stehen. Der Gottesdienst begann leise, andächtig,
+traurig. In dem Bewußtsein, sterben zu müssen und in der Empfindung der
+Gegenwart des Todes lag für ihn stets, von früher Kindheit an, etwas
+Schweres, Drückendes und Mystisches, und er hatte seit langem keiner
+Totenmesse mehr beigewohnt. Außerdem peinigte ihn noch ein anderes
+Gefühl. Er sah auf die Kinder, -- sie lagen alle vor dem Sarge auf den
+Knien und Poletschka weinte. Hinter ihnen stand Ssonja, still und
+schüchtern weinend und betete.
+
+»Sie hat mich in diesen Tagen kein einziges Mal angeblickt und mir noch
+kein Wort gesagt,« dachte Raskolnikoff. Die Sonne beleuchtete hell das
+Zimmer; der Weihrauch stieg in feinen Wolken empor; der Priester las
+»Gott schenke dir Ruhe ...« Raskolnikoff blieb während des ganzen
+Gottesdienstes. Als der Priester den Segen erteilte und sich
+verabschiedete, blickte er sich eigentümlich um. Nach Beendigung der
+Messe trat Raskolnikoff an Ssonja heran. Sie nahm plötzlich seine beiden
+Hände und lehnte den Kopf an seine Schulter. Diese kurze Bewegung
+überraschte ihn. Wie? war es möglich? -- Nicht der geringste Widerwille,
+nicht der geringste Ekel ihm gegenüber, nicht das leiseste Beben ihrer
+Hand. War das nicht eine grenzenlose Demütigung seines eigenen Ichs. In
+dieser Weise faßte er es auf. Ssonja sagte nichts und Raskolnikoff
+drückte ihr nur die Hand und ging fort. Ihm war schwer zumute. Hätte er
+in diesem Augenblicke irgendwohin gehen können, um völlig allein zu
+bleiben, und selbst fürs ganze Leben, er würde sich glücklich gepriesen
+haben. Trotzdem er in der letzten Zeit fast immer allein war, war er
+nicht imstande, ein Fürsichsein zu empfinden. Er ging öfters außerhalb
+der Stadt auf Landwegen herum, einmal sogar war er in einen Wald
+geraten, aber je einsamer der Ort war, desto stärker empfand er die
+beunruhigende Nähe von irgend etwas, das wohl nichts furchterweckendes,
+wohl aber etwas belästigendes war, so daß er jedesmal schneller in die
+Stadt zurückkehrte, sich unter die Menschen mischte, in Restaurants oder
+Schenken ging, den Trödelmarkt oder den Heumarkt aufsuchte. Hier ward es
+ihm leichter und hier fühlte er sich allein. Eines Tages war er in einer
+Schenke, wo man kurz vor Abend zu singen begann; er blieb eine ganze
+Stunde sitzen, hörte zu und erinnerte sich, daß ihm dies wohlgetan
+hatte. Zum Schluß aber wurde er wieder unruhig, als ob sein Gewissen
+wach würde. »Ich sitze hier und höre zu, wie gesungen wird, habe ich
+denn nichts anderes zu tun!« dachte er mit einemmale. Es wurde ihm bald
+klar, daß nicht dieser Umstand ihn allein beunruhige; es gab etwas
+anderes, das eine unverzügliche Lösung verlangte, was er aber sich weder
+klar vorstellen, noch durch Worte wiedergeben konnte. Alles verwickelte
+sich zu einem Knäuel. »Nein, es ist doch besser, einen Kampf zu führen!
+Mag Porphyri Petrowitsch wieder auftreten ... oder Sswidrigailoff ...
+Mag nun wieder eine Herausforderung, ein Angriff erfolgen ... Ja! Ja!«
+-- Er verließ die Schenke und lief fast nach Hause. Der Gedanke an Dunja
+und die Mutter jagte ihm plötzlich eine panische Angst ein.
+
+Es war in der Nacht, aber der Morgen graute schon, als er auf der
+Krestowski-Insel im Gebüsch fröstelnd vor Fieber erwachte; er ging nach
+Hause. Nach einigen Stunden Schlaf war das Fieber vorüber, er erwachte
+sehr spät, -- es war zwei Uhr nachmittags.
+
+Es kam ihm wieder in Erinnerung, daß Katerina Iwanowna heute beerdigt
+werden sollte, und er war froh, daß er nicht zugegen sein mußte.
+Nastasja brachte ihm etwas zu essen; er aß und trank mit großem Appetit,
+fast mit einem Heißhunger. Sein Kopf wurde frischer, er selbst ruhiger,
+als in diesen letzten drei Tagen. Er wunderte sich sogar flüchtig über
+die früheren Anfälle seiner panischen Angst. Da öffnete sich die Türe
+und Rasumichin trat herein.
+
+»Ah! Du ißt, so bist du auch nicht krank!« sagte Rasumichin, nahm einen
+Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikoff gegenüber. Er war
+aufgeregt und versuchte nicht, es zu verbergen und sprach mit sichtbarem
+Ärger, aber ohne sich zu überhasten und ohne die Stimme besonders zu
+erheben. Man konnte denken, daß ihn eine ganz bestimmte Absicht
+herführe. »Höre,« begann er entschlossen, »ich kehre mich den Teufel um
+euch alle und zwar, weil ich jetzt sehe, deutlich sehe, daß ich nichts
+davon verstehen kann; bitte, glaube nicht, daß ich gekommen bin, dich
+auszufragen. Ich pfeife darauf! Ich will es gar nicht wissen! Und wenn
+du mir jetzt selbst alles anvertrauen, alle eure Geheimnisse entdecken
+wolltest, ich würde sie vielleicht nicht mal anhören, ich pfeife auf
+alles und gehe fort. Ich bin nur gekommen, um persönlich und endgültig
+zu erfahren, ob es wahr ist, daß du verrückt bist? Siehst du, es besteht
+die Meinung über dich, -- irgendwo, das ist ja einerlei -- daß du
+möglicherweise verrückt bist, jedenfalls aber starke Anlagen dazu
+habest. Ich muß dir gestehen, ich selbst war stark geneigt, diese
+Meinung zu teilen, erstens wegen deiner dummen und zum Teil schmählichen
+Handlungen, die durch nichts erklärt werden können, und zweitens wegen
+deines kürzlichen Benehmens deiner Mutter und Schwester gegenüber. Nur
+ein Scheusal und ein Schuft, oder ein Wahnsinniger konnte sie in dieser
+Weise behandeln, wie du sie behandelt hast; folglich bist du wahnsinnig
+...«
+
+»Hast du sie lange nicht gesehen?«
+
+»Ich war soeben bei ihnen. Und du hast sie seit dieser Zeit nicht mehr
+gesehen? Sage mir bitte, wo treibst du dich herum, ich bin schon dreimal
+bei dir gewesen. Deine Mutter ist seit gestern ernstlich erkrankt. Sie
+wollte zu dir gehen; Awdotja Romanowna hielt sie davon ab; doch sie
+wollte auf nichts hören. >Wenn er krank ist,< sagte sie, >wenn sein
+Geist gestört ist, wer soll ihm denn helfen, wenn nicht die eigene
+Mutter?< So kamen wir alle hierher, denn wir konnten sie doch nicht
+allein gehen lassen. Bis zu deiner Tür haben wir sie gebeten, sich zu
+beruhigen. Wir traten in dein Zimmer, da warst du nicht da; hier, auf
+diesem Platz, hat sie gesessen. Sie saß über zehn Minuten da, wir
+standen schweigend in ihrer Nähe. Sie stand dann auf und sagte, -- >wenn
+er ausgeht, ist er gesund und hat die Mutter vergessen; es ist unpassend
+und eine Schande für eine Mutter, weiter noch an der Schwelle zu stehen
+und um Liebkosung, wie um ein Almosen zu betteln<. Sie kehrte nach Hause
+zurück, mußte sich zu Bett legen und liegt jetzt im Fieber. >Ich sehe,<
+sagte sie, >für die _Seine_ hat er Zeit.< Sie meinte mit der _Seinen_
+Ssofja Ssemenowna, deine Braut oder deine Geliebte, ich weiß es nicht.
+Ich ging sofort zu Ssofja Ssemenowna, denn ich wollte alles erfahren,
+Bruder; ich komme hin und sehe, -- ein Sarg steht dort, die Kinder
+weinen, Ssofja Ssemenowna probiert ihnen Trauerkleider an, du bist aber
+nicht da. Ich sah das alles an, entschuldigte mich und ging fort und
+habe Awdotja Romanowna alles erzählt. Alles ist Unsinn und es gibt gar
+keine >_Seine_,< also ist es ganz Wahnsinn. Doch jetzt sitzest du hier
+und frißt gekochtes Fleisch, als hättest du drei Tage nichts gegessen.
+Es ist wahr, Wahnsinnige essen auch und du hast kein Wort mit mir
+gesprochen, du bist aber ... nicht verrückt. Das kann ich beschwören.
+Unter keinen Umständen verrückt. Also, hol euch alle der Teufel, es
+steckt etwas dahinter, es gibt irgendein Geheimnis, und ich habe keine
+Lust, über eure Geheimnisse mir den Kopf zu zerbrechen. Ich bin bloß
+gekommen, zu schimpfen,« schloß er und stand auf, »mir Luft zu machen
+und nun weiß ich, was ich zu tun habe!«
+
+»Was willst du jetzt tun?«
+
+»Was geht es dich an, was ich jetzt tun will?«
+
+»Gib acht, du fängst zu trinken an!«
+
+»Woher ... woher weißt du das?«
+
+»Das ist leicht zu erraten!«
+
+Rasumichin schwieg eine Weile.
+
+»Du warst immer ein sehr vernünftiger Mensch und nie, niemals warst du
+verrückt,« bemerkte er plötzlich voll Eifer. »Das stimmt, -- ich werde
+anfangen zu trinken! Lebwohl!«
+
+Und er schickte sich an zu gehen.
+
+»Vorgestern, glaube ich, habe ich von dir mit der Schwester gesprochen,
+Rasumichin.«
+
+»Von mir! Ja ... wo konntest du sie denn vorgestern gesehen haben?«
+Rasumichin blieb stehen und wurde ein wenig blaß.
+
+Man konnte bemerken, wie sein Herzschlag langsamer und schwerer ging.
+
+»Sie war hierhergekommen, allein, saß hier und sprach mit mir.«
+
+»Sie!«
+
+»Ja, sie!«
+
+»Was hast du denn gesprochen ... ich will sagen, -- von mir?«
+
+»Ich sagte ihr, daß du ein sehr guter, ehrlicher und arbeitsamer Mensch
+seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, denn das weiß sie
+selbst.«
+
+»Sie weiß es selbst?«
+
+»Nun, und ob! Wohin ich auch reisen mag, was mit mir auch geschehen mag,
+-- du würdest bei ihnen, als ihre Vorsehung, bleiben. Ich übergab sie
+beide deiner Obhut, Rasumichin. Ich sage es, weil ich sehr gut weiß, wie
+du sie liebst und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt
+bin. Ich weiß auch, daß auch sie dich lieben kann und vielleicht sogar
+schon liebt. Jetzt beschließe selbst, wie es dir am besten erscheint, --
+ob du trinken willst oder nicht?«
+
+»Rodja ... Siehst du ... Nun ... Ach, Teufel! Wohin willst du aber
+gehen? Siehst du, wenn es ein Geheimnis ist, laß es! Aber ich ... ich
+werde das Geheimnis erfahren ... Und bin überzeugt, daß es sicher
+irgendein Unsinn und eine lächerliche Kleinigkeit ist, und daß du allein
+dir alles andere eingebrockt hast. Im übrigen aber bist du ein
+ausgezeichneter Mensch! Ein ausgezeichneter Mensch! ...«
+
+»Und ich wollte gerade hinzufügen, da hast du mich aber unterbrochen,
+daß du vorhin sehr gut und richtig geäußert hast, diese Geheimnisse
+nicht erfahren zu wollen. Laß es vorläufig sein, rege dich nicht auf. Du
+wirst alles rechtzeitig zu wissen bekommen und dann, wenn es nötig sein
+wird. Gestern hat ein Mann zu mir gesagt, daß die Menschen Luft
+brauchen, Luft, Luft! Ich will gleich zu ihm hingehen und erfahren, was
+er darunter versteht.«
+
+Rasumichin stand in Gedanken versunken, aufgeregt schien er über etwas
+nachzudenken.
+
+»Er ist ein politischer Verschwörer! Sicher! Und er steht vor einem
+entscheidenden Schritt, -- das ist auch sicher! Anders kann es nicht
+sein und ... Dunja weiß es ...« dachte er.
+
+»Also zu dir kommt Awdotja Romanowna,« sagte er und betonte jedes Wort,
+»und du selbst willst einen Menschen treffen, der da sagt, daß mehr Luft
+nötig sei, mehr Luft und ... und, also hängt auch dieser Brief ...
+irgendwie damit zusammen.«
+
+»Was für ein Brief?«
+
+»Sie hat einen Brief erhalten, heute; der hat sie sehr aufgeregt. Sehr.
+Fast zu sehr ... Als ich von dir zu sprechen anfing, -- bat sie mich zu
+schweigen. Dann ... dann sagte sie, daß wir uns vielleicht sehr bald
+trennen müßten, und begann mir für etwas heiß zu danken; ging darauf in
+ihr Zimmer und schloß sich ein.«
+
+»Sie hat einen Brief erhalten?« wiederholte Raskolnikoff nachdenklich.
+
+»Ja, einen Brief, und du weißt nichts davon? Hm!« Beide schwiegen eine
+Weile.
+
+»Lebwohl, Rodion. Ich, Bruder ... es gab eine Zeit ... übrigens aber,
+lebwohl; siehst du, es gab eine Zeit ... Nun, lebwohl! Ich muß auch
+gehen. Ich werde nicht trinken. Jetzt ist es nicht mehr nötig ... wird
+nicht gemacht!«
+
+Er hatte Eile, aber als er schon draußen war und die Türe fast
+geschlossen hatte, öffnete er sie plötzlich wieder und sagte, indem er
+zur Seite blickte:
+
+»Apropos! Erinnerst du dich dieses Mordes, der Sache, die Porphyri
+Petrowitsch führt, -- der Ermordung der Alten? Nun, du sollst wissen,
+daß der Mörder gefunden ist, er hat alles eingestanden und alle Beweise
+geliefert. Stell dir vor, es ist einer von denselben Arbeitern, den
+Anstreichern, die ich -- erinnerst du dich -- noch bei dir im Zimmer
+verteidigte. Kannst du es glauben, er hat diese ganze Szene mit der
+Schlägerei und dem Lachanfall auf der Treppe mit seinem Kameraden, als
+der Hausknecht und die zwei Zeugen hinaufgingen, -- absichtlich
+vorgeführt und zwar um jeden Verdacht von sich abzulenken. Welch eine
+Schlauheit, welch eine Geistesgegenwart in so einem jungen Hunde steckt!
+Es ist schwer zu glauben; er hat aber selbst die Sache aufgeklärt, alles
+selbst eingestanden! Und wie ich hereingefallen bin! Nun, meiner Ansicht
+nach ist er bloß ein Genie der Verstellung und Geschicklichkeit, ein
+Genie gegenüber juristischer Verhörskunst, -- folglich ist hier nichts
+staunenswertes! Kann es denn nicht auch solche Genies geben? Und weil er
+es nicht bis zu Ende durchgeführt, sondern eingestanden hat, aus dem
+Grunde glaube ich ihm noch mehr. Es ist überzeugender! ... Aber wie ich
+damals hereingefallen bin! Ich kletterte ja um ihretwillen an die Wände
+hinauf!«
+
+»Sage mir bitte, woher hast du es erfahren, und warum interessiert es
+dich so sehr?« fragte ihn Raskolnikoff sichtbar erregt.
+
+»Nun, was frägst du bloß! Warum sollte es mich nicht interessieren! Das
+ist auch eine Frage! ... Ich habe es unter anderem von Porphyri
+Petrowitsch erfahren. Übrigens, ich habe fast alles durch ihn erfahren.«
+
+»Von Porphyri Petrowitsch?«
+
+»Ja, von Porphyri Petrowitsch.«
+
+»Was ... was meint er?« fragte Raskolnikoff angstvoll.
+
+»Er hat es mir ausgezeichnet erklärt. Psychologisch erklärt, auf seine
+Weise.«
+
+»Er hat es dir erklärt? Er hat es dir selbst erklärt?«
+
+»Ja, selbst, selbst; lebwohl! Ich will dir später noch mehr erzählen,
+jetzt aber habe ich zu tun. Ja ... es gab eine Zeit, wo ich glaubte ...
+Nun, was ist da zu reden ... später davon ... Warum soll ich jetzt
+anfangen zu trinken. Du hast mich auch ohne Wein betrunken gemacht. Ich
+bin ja betrunken, Rodja! Ohne Wein bin ich betrunken; nun, aber lebwohl!
+Ich komme zu dir. Sehr bald.«
+
+Er ging hinaus.
+
+»Er ist, er ist ein politischer Verschwörer, das ist sicher, das steht
+fest!« sagte sich Rasumichin endgültig, indem er langsam die Treppe
+hinabstieg. »Und die Schwester hat er auch hineingezogen; das ist sehr,
+sehr begreiflich bei dem Charakter von Awdotja Romanowna. Sie haben
+Zusammenkünfte ... Und sie hat es mir auch angedeutet. Aus vielen ihrer
+Worte ... und Andeutungen ... und Anspielungen ergibt sich dies alles!
+Ja, wie kann man denn sonst diesen ganzen Wirrwarr erklären? Hm! Und ich
+dachte ... Oh, Gott, was ich gemeint habe. Ja, das war eine Verblendung
+und ich habe gefehlt vor ihm! Damals bei der Lampe im Korridor hat er
+mich verwirrt und verblendet! Pfui! Welch ein häßlicher, roher, gemeiner
+Gedanke von mir! Nikolai ist ein braver Bursche, daß er es eingestanden
+hat ... Und wie sich jetzt alles Vorhergegangene leicht erklären läßt!
+Seine Krankheit damals, alle seine sonderbaren Handlungen, auch früher
+schon, in der Universität noch, als er immer so düster und verschlossen
+war ... Aber was bedeutet jetzt dieser Brief? Hier steckt vielleicht
+auch etwas dahinter. Von wem ist dieser Brief? Ich habe einen Verdacht
+... Hm! Nein, ich will alles erfahren.«
+
+Da erinnerte er sich an Dunetschka, und sein Herz blieb ihm fast
+stillstehen. Er riß sich von seinen Gedanken los und lief weiter.
+
+ * * * * *
+
+Kaum war Rasumichin fortgegangen, so stand Raskolnikoff auf, wandte sich
+zum Fenster, ging von einer Ecke in die andere, als hätte er die Enge
+seiner Kammer vergessen, und ... setzte sich wieder auf das Sofa hin. Er
+schien ganz wie ausgewechselt zu sein; wieder -- hatte sich ein Ausweg
+gefunden!
+
+Ja, es hat sich ein Ausweg gefunden! sagte er sich. Alles war schon zu
+vollgestopft, es hatte angefangen, ihn qualvoll zu drücken, ein
+förmlicher Taumel hatte ihn überfallen. Seit dem Auftritte mit Nikolai
+bei Porphyri Petrowitsch vermeinte er, ohne einen Ausweg ersticken zu
+müssen. Nach Nikolai folgte am selben Tage der Auftritt bei Ssonja; er
+hatte ihn nicht so, wie er's sich vorgenommen, begonnen und durchgeführt
+... also hatte ihn die Schwäche plötzlich und vollständig übermannt! Mit
+einemmale! Er war ja doch damals mit Ssonja einverstanden, aus vollem
+Herzen einverstanden, daß er mit solch einer Sache auf der Seele allein
+nicht leben könne! Und Sswidrigailoff? Sswidrigailoff ist ein Rätsel ...
+Sswidrigailoff beunruhigt ihn, das ist wahr, aber nicht nach dieser
+Richtung hin. Mit Sswidrigailoff steht vielleicht auch ein Kampf bevor.
+Mit Sswidrigailoff gibt es vielleicht auch einen Ausweg, mit Porphyri
+Petrowitsch -- das ist freilich eine andere Sache.
+
+Aber Porphyri Petrowitsch hat selbst Rasumichin alles erklärt,
+_psychologisch_ ihm erklärt! Wieder fängt er mit seiner verfluchten
+Psychologie an! Porphyri Petrowitsch? Was, Porphyri Petrowitsch soll
+auch nur einen Augenblick geglaubt haben, daß Nikolai schuldig sei, --
+nach allem, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war, vor Nikolais
+Erscheinen, nach jenem Auftritt, Auge in Auge, für den man keine andere
+Erklärung finden konnte, außer _einer einzigen_? -- (Raskolnikoff war
+einigemal in diesen Tagen dieser Auftritt mit Porphyri Petrowitsch in
+der Erinnerung stückweise vorgeschwebt; sich des Auftritts in seiner
+ganzen Bedeutung zu erinnern, hätte er nicht ertragen können.) --
+Während dieser Szene hatten sie beide Worte gewechselt, waren Bewegungen
+und Gesten vorgekommen, Blicke getauscht, war einiges in einem Tone
+gesagt worden, und die ganze Szene hatte einen Charakter angenommen, daß
+auf keinen Fall ein Nikolai, -- den Porphyri Petrowitsch doch sofort
+beim ersten Worte und bei der ersten Bewegung richtig erkannt hatte, --
+die Grundlage seiner Überzeugung erschüttern konnte.
+
+Wie weit war es aber auch schon gekommen! Sogar Rasumichin hatte
+begonnen, Verdacht zu schöpfen! Die Szene im Korridor bei der Lampe ist
+an ihm nicht spurlos vorübergeglitten. Er ist doch zu Porphyri
+Petrowitsch hingelaufen ... Aber aus welchem Grunde will jener ihn
+irreführen? Was hat er für einen Zweck, Rasumichin auf Nikolai zu
+bringen? Er hat unbedingt etwas vor; er verfolgt damit bestimmte Zwecke,
+aber welcher Art sind sie? Es ist wahr, seit diesem Morgen ist viel Zeit
+vergangen, -- viel zu viel Zeit und von Porphyri Petrowitsch habe ich
+weder etwas gehört, noch gesehen. Das ist sicher kein gutes Zeichen ...
+
+Raskolnikoff nahm seine Mütze, versank in Gedanken und schickte sich an,
+das Zimmer zu verlassen. Es war der erste Tag, während dieser ganzen
+Zeit, daß er sich wenigstens bei gesundem Bewußtsein fühlte. »Ich muß
+dieser Sache mit Sswidrigailoff ein Ende machen,« -- dachte er, -- »um
+jeden Preis und möglichst schnell; er scheint zu erwarten, daß ich
+selbst zu ihm komme.« -- In diesem Augenblicke entstand in seinem
+bedrückten Herzen ein wilder Haß, daß er einen von beiden, --
+Sswidrigailoff oder Porphyri Petrowitsch hätte ermorden können. Er
+fühlte wenigstens, daß er, wenn nicht jetzt, so später, imstande sei, es
+zu tun. -- »Wir wollen sehen, wir wollen sehen,« wiederholte er vor
+sich. --
+
+Als er aber gerade die Türe zur Treppe öffnete, stieß er mit Porphyri
+Petrowitsch zusammen. Der kam zu ihm. Raskolnikoff war im ersten
+Augenblick erstarrt. Aber sonderbar, sein Staunen über Porphyris
+Erscheinen und sein Schrecken waren gering. Er zuckte bloß zusammen,
+sammelte sich aber sofort augenblicklich. »Vielleicht ist es die Lösung!
+Aber wie leise er gekommen war, wie eine Katze, ich habe ihn nicht
+gehört! Hat er etwa gelauscht?«
+
+»Sie haben diesen Besuch nicht erwartet, Rodion Romanowitsch,« rief
+Porphyri Petrowitsch lachend. »Wollte schon lange Sie aufsuchen; ging
+nun vorbei und dachte mir, -- warum soll ich nicht auf fünf Minuten
+hinaufgehen. Sie wollen ausgehen? Ich will Sie nicht aufhalten. Bloß auf
+eine Zigarette, wenn Sie gestatten.«
+
+»Ja, nehmen Sie Platz, Porphyri Petrowitsch, nehmen Sie bitte Platz,«
+Raskolnikoff bot seinem Besuche mit solch einer sichtlich zufriedenen
+und freundschaftlichen Miene einen Platz an, daß er über sich selbst
+verwundert gewesen wäre, wenn er sich hätte sehen können.
+
+Es war auch der letzte Rest seiner Kraft. So hegt ein Mensch eine halbe
+Stunde lang tödliche Angst vor dem Räuber, wenn aber das Messer ihm
+endgiltig an die Kehle gesetzt wird, schwindet die Angst. Er setzte sich
+Porphyri Petrowitsch gegenüber und blickte ihn, ohne die Augen für einen
+Moment abzuwenden, an. Porphyri Petrowitsch kniff die Augen zusammen und
+steckte sich eine Zigarette an.
+
+»Nun, sprich, sprich doch,« schien es aus dem Herzen Raskolnikoffs
+herauszurufen. -- »Nun, warum redest, warum redest du nicht?«
+
+
+ II.
+
+»Nehmen wir einmal die Zigaretten!« sagte endlich Porphyri Petrowitsch,
+nachdem er die Zigarette angesteckt und Atem geholt hatte, »sie sind
+schädlich, ganz und gar schädlich, ich kann sie aber nicht lassen! Ich
+huste, im Halse beginnt es zu kratzen und ich leide an Atemnot. Wissen
+Sie, ich bin ängstlich, war vor ein paar Tagen bei B. gewesen, -- er
+untersucht jeden Kranken, minimum, eine halbe Stunde; er lachte, als er
+mich sah, -- dann hat er mich beklopft und ausgehorcht und sagte unter
+anderem, daß Tabak für mich nicht gut sei, meine Lungen seien erweitert.
+Und, wie kann ich das Rauchen lassen? Wodurch soll ich es ersetzen? Ich
+trinke nicht, das ist das ganze Unglück, he--he--he, es ist ein Unglück,
+daß ich nicht trinke! Alles ist doch wie man's nimmt, Rodion
+Romanowitsch, wie man's nimmt!«
+
+»Was fängt er wieder mit seinem alten Kram an?« dachte Raskolnikoff voll
+Widerwillen. Die ganze letzte Szene stieg vor ihm auf und dasselbe
+Gefühl wie damals überflutete wie eine Welle sein Herz.
+
+»Ich war schon einmal bei Ihnen, vorgestern abend. Sie wissen es nicht?«
+fuhr Porphyri Petrowitsch fort und blickte sich im Zimmer um, »ich war
+in demselben Zimmer gewesen. Ich ging ebenso, wie heute, vorbei und
+dachte, -- ich will ihm mal eine Gegenvisite machen. Komme hierher, das
+Zimmer steht weit offen; ich sah mich um, wartete eine Weile, habe mich
+nicht mal Ihrem Dienstmädchen gemeldet -- und ging wieder fort. Sie
+schließen das Zimmer nicht ab?«
+
+Raskolnikoffs Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Porphyri Petrowitsch
+schien seine Gedanken zu erraten. »Ich bin gekommen, lieber Rodion
+Romanowitsch, Ihnen eine Erklärung zu geben. Ich bin Ihnen eine solche
+schuldig,« fuhr er mit einem Lächeln fort und schlug ihm mit der Hand
+leicht auf das Knie, aber zu gleicher Zeit nahm sein Gesicht einen
+ernsten und besorgten Ausdruck an, es schien, zu Raskolnikoffs
+Erstaunen, wie mit Trauer umflort. Er hatte noch nie bei Porphyri
+Petrowitsch solch einen Ausdruck gesehen und ihn auch nicht bei ihm
+vermutet. -- »Eine merkwürdige Szene hat sich das letzte Mal zwischen
+uns abgespielt, Rodion Romanowitsch. Ich gestehe, daß es vielleicht auch
+bei unserer ersten Zusammenkunft sonderbar hergegangen ist, aber damals
+... Nun, jetzt kommt es auf dasselbe hinaus! Hören Sie, ich habe eine
+große Schuld Ihnen gegenüber, ich fühle es. Erinnern Sie sich, wie wir
+uns trennten, -- bei Ihnen vibrierten die Nerven und zitterten die Knie,
+auch bei mir vibrierten die Nerven und zitterten die Knie. Und wissen
+Sie, es war auch zwischen uns damals nicht ganz anständig, nicht
+gentlemanlike zugegangen. Wir sind aber doch Gentlemen, das heißt in
+jedem Falle und vor allen Dingen Gentlemen; das ist im Auge zu behalten.
+Sie erinnern sich doch, wie weit es kam ... geradezu unanständig.«
+
+»Was ist mit ihm, für wen hält er mich denn?« fragte sich Raskolnikoff
+verwundert, indem er den Kopf erhob und Porphyri Petrowitsch aufmerksam
+anblickte.
+
+»Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß es besser für uns ist, jetzt in
+aller Offenheit zu verhandeln,« fuhr Porphyri Petrowitsch fort, seinen
+Kopf ein wenig zurückwerfend und die Augen senkend, als wünsche er nicht
+mehr durch seinen Blick sein früheres Opfer zu verwirren, und als
+verschmähe er seine frühere Methode und seine Kniffe; -- »ja, solche
+Verdächtigungen und solche Szenen dürfen nicht andauern. Uns hat damals
+Nikolai erlöst, sonst wüßte ich nicht, was alles zwischen uns passiert
+wäre. Dieser verfluchte Kleinbürger saß damals die ganze Zeit bei mir
+hinter der Scheidewand, -- können Sie es sich vorstellen? Sie wissen es
+sicher schon; es ist mir bekannt, daß er später bei Ihnen gewesen ist;
+das aber, was Sie damals annahmen, war nicht der Fall, -- ich hatte nach
+keinem Menschen geschickt und hatte damals auch keine Anordnungen
+getroffen! Sie werden mich fragen, warum ich keine Anordnungen getroffen
+hatte? Ja, wie soll ich es sagen, -- mich selbst hat dieses alles damals
+überfallen. Ich hatte kaum Zeit gefunden, die Hausknechte holen zu
+lassen, -- Sie haben die Hausknechte wahrscheinlich bemerkt, als Sie
+durch das Vorzimmer gingen. -- Ein Gedanke durchfuhr mich damals, wie
+ein Blitz, -- ich war, sehen Sie, Rodion Romanowitsch, damals so gut wie
+überzeugt. Warte, dachte ich mir, -- wenn ich auch vorläufig das eine
+versäume, so packe ich dafür das andere am Schwanz, -- will jedenfalls
+das meinige nicht versäumen. Sie sind von Natur aus sehr reizbar, Rodion
+Romanowitsch, sogar übermäßig reizbar bei allen anderen Grundzügen Ihres
+Charakters und Herzens, die ich mir schmeichle teilweise erkannt zu
+haben. Selbstverständlich konnte ich mir auch damals schon sagen, daß es
+nicht oft der Fall sei, daß ein Mensch plötzlich aufsteht und sein
+ganzes Geheimnis ausplaudert. Das kommt wohl vor, besonders, wenn einem
+Menschen die letzte Geduld reißt, aber jedenfalls immerhin selten. Ja,
+das konnte ich mir sagen. Ich dachte, wenn ich bloß ein Zipfelchen
+erwische! Meinetwegen ein ganz winziges Endchen, nur ein einziges, aber
+ein derartiges, daß man es fassen kann, daß es ein Ding ist und nicht
+immer bloß diese Psychologie. Dann dachte ich mir, wenn ein Mensch
+schuldig ist, so kann man jedenfalls etwas wesentliches von ihm
+erwarten; es ist selbst statthaft, auch auf ein ganz unerwartetes
+Resultat zu rechnen. Ich habe damals mit Ihrem Charakter gerechnet,
+Rodion Romanowitsch, am meisten mit Ihrem Charakter! Ich hoffte damals
+zu stark auf Sie selbst.«
+
+»Aber ... aber warum sprechen Sie jetzt in dieser Weise,« murmelte
+Raskolnikoff endlich, ohne seine eigene Frage sich zu überlegen. --
+»Worüber spricht er,« verlor er sich in Mutmaßungen, »hält er mich
+tatsächlich für unschuldig?«
+
+»Warum ich in dieser Weise spreche? Ich bin gekommen, Ihnen Erklärungen
+zu geben, halte es für meine heilige Pflicht. Ich will Ihnen alles bis
+aufs haarkleinste erzählen, wie alles war, diese ganze Geschichte der
+damaligen Verblendung. Ich habe Ihnen viel Leid zugefügt, habe Sie stark
+leiden lassen, Rodion Romanowitsch. Ich bin kein so großes Scheusal. Ich
+begreife auch, was es für einen niedergedrückten, aber stolzen,
+eigenartigen und ungeduldigen, besonders ungeduldigen Menschen heißt,
+dies alles ertragen zu müssen. Ich halte Sie in jedem Falle für einen
+edlen Menschen, mit großmütiger Veranlagung, obgleich ich nicht mit
+allen Ihren Überzeugungen einverstanden bin und ich halte es für meine
+Pflicht im voraus, offen und aufrichtig Ihnen das zu sagen, ich will Sie
+nicht betrügen. Nachdem ich Sie erkannt hatte, fühlte ich eine Neigung
+zu Ihnen. Sie werden wohl über meine Worte lachen? Und Sie haben ein
+Recht dazu. Ich weiß, daß Sie mich auf den ersten Blick schon nicht
+leiden konnten, und im Grunde genommen ist auch nichts an mir, warum man
+mich gern haben könnte. Fassen Sie es jedoch auf, wie Sie wollen, ich
+wünsche meinerseits mit allen Mitteln, diesen Eindruck von mir zu
+verwischen und Ihnen zu beweisen, daß auch ich ein Mensch mit einem
+Herzen und einem Gewissen bin. Und dies sage ich aufrichtig.«
+
+Porphyri Petrowitsch hielt würdevoll inne. Raskolnikoff fühlte den
+Andrang eines neuen Schreckens. Der Gedanke, daß Porphyri Petrowitsch
+ihn für unschuldig hielt, begann ihn zu peinigen.
+
+»Ich denke, es ist unnötig und überflüssig, alles der Reihenfolge nach
+zu erzählen, wie es damals begonnen hatte,« fuhr Porphyri Petrowitsch
+fort. »Ja, und es ist fraglich, ob ich imstande bin, es zu tun. Denn,
+wie soll man es genau erklären? Im Anfange tauchten Gerüchte auf.
+Darüber, was es für Gerüchte waren, und von wem sie stammten, und wann
+... und aus welchem Anlaß eigentlich Sie hineingezogen wurden, -- ist
+auch, denke ich, überflüssig zu erwähnen. Bei mir persönlich fing es mit
+einer Zufälligkeit, mit einer völlig unvorgesehenen Zufälligkeit an, die
+ebenso gut sein wie nicht sein konnte, -- was es aber war? Hm, ich
+denke, dies ist auch nicht zu erwähnen. Dies alles, wie die Gerüchte, so
+auch die Zufälligkeiten, schmolzen sich bei mir zu einem Gedanken
+zusammen. Ich muß offen gestehen, denn, wenn man schon einmal
+eingesteht, soll es auch alles sein, -- ich war der erste, der auf Sie
+damals kam. Die Vermerke der Alten auf den versetzten Sachen und
+dergleichen mehr sind, ich gebe es zu, alles Unsinn. In dieser Weise
+kann man hundert solche Dinge aufzählen. Ich hatte auch damals die
+Gelegenheit, die Szene auf dem Polizeibureau in allen ihren Einzelheiten
+zu erfahren, ebenfalls zufällig und nicht sozusagen im Vorbeigehen,
+sondern von einem besonders zuverlässigen Erzähler, der ohne es selbst
+zu ahnen, diese Szene vortrefflich aufgefaßt hatte. So reihte sich alles
+eins ans andere, gesellte sich eins zu dem andern, lieber Rodion
+Romanowitsch! Und wie sollte man da sich nicht nach einer bestimmten
+Richtung wenden? Aus hundert Kaninchen wird nie ein Pferd, aus hundert
+Verdachtsgründen kommt nie ein Beweis heraus, -- so lautet ein
+englisches Sprichwort, aber da rechnet man bloß mit dem Intellekte, man
+soll jedoch auch mit den Leidenschaften rechnen, denn ein
+Untersuchungsrichter ist doch auch nur ein Mensch. Ich erinnerte mich
+auch Ihrer Abhandlung in der Zeitschrift, über die ich mit Ihnen --
+erinnern Sie sich -- bei Ihrem ersten Besuch eingehend sprach. Ich habe
+damals gespottet, aber nur um von Ihnen mehr herauszulocken. Ich
+wiederhole, Sie sind ungeduldig und sehr krank, Rodion Romanowitsch. Daß
+Sie kühn, herausfordernd, ernst sind und ... vieles durchgedacht, vieles
+durchgedacht haben, das alles wußte ich längst. Alle diese Empfindungen
+kenne ich, und Ihre kleine Abhandlung habe ich wie etwas Wohlvertrautes
+gelesen. In schlaflosen Nächten und in Aufregungen mit wogendem und
+klopfendem Herzen, mit unterdrücktem Enthusiasmus ist diese Arbeit
+entstanden. Aber dieser unterdrückte, stolze Enthusiasmus in jungen
+Jahren ist gefährlich! Ich habe damals gespottet, will Ihnen aber jetzt
+sagen, daß ich überhaupt solche ersten, jugendlichen, hitzigen Versuche
+mit der Feder über alles das gewissermaßen als Amateur liebe. Ein Rauch,
+ein Nebel ist es, und im Nebel klingt eine Saite. Ihr Artikel ist
+unsinnig und phantastisch, aber darin schimmert solch eine
+Aufrichtigkeit, darin steckt ein jugendlicher und unbestechlicher Stolz,
+eine Kühnheit der Verzweiflung; es ist ein finsterer Artikel, und das
+ist seine Stärke. Ich las Ihren Artikel und legte ihn beiseite, und ...
+als ich ihn beiseite gelegt hatte, dachte ich schon damals, >nun, mit
+diesem Menschen geht es nicht so weiter!< Nun, sagen Sie mir jetzt, wie
+sollte man sich da nach all dem Vorangegangenen von dem Darauffolgenden
+nicht hinreißen lassen! Ach, mein Gott! Was sage ich denn jetzt?
+Behaupte ich denn jetzt etwas? Ich habe es mir damals bloß gemerkt. Was
+ist denn alles dabei, -- dachte ich? Es ist ja nichts, rein gar nichts,
+und vielleicht im höchsten Grade ein Nichts. Ja, und es ziemt sich ganz
+und garnicht für mich, den Untersuchungsrichter, mich so hinreißen zu
+lassen, -- ich habe doch Nikolai in den Händen, und mit Beweisen, -- es
+ist gleichgiltig, wie man darüber denkt, Beweise sind es in jedem Fall.
+Und er hat auch seine Psychologie; ich muß mich mit ihm beschäftigen,
+denn es handelt sich hier um Tod und Leben. Wozu erkläre ich Ihnen jetzt
+dies alles? Damit Sie es wissen und mich mit Ihrem Verstande und Herzen
+wegen meines damaligen bösen Benehmens nicht anklagen sollen. Es war
+nicht böse gemeint, ich sage es aufrichtig, he--he--he! Meinen Sie etwa,
+daß ich keine Haussuchung bei Ihnen vorgenommen hätte? Ich habe es
+getan, habe es getan, he--he--he, habe sie vorgenommen, als Sie krank im
+Bett lagen. Es war nicht offiziell und nicht von mir persönlich, aber in
+jedem Fall, sie wurde vorgenommen. Bis aufs letzte Haar wurde bei Ihnen
+in der Wohnung alles, sogar nach frischen Spuren, besehen, -- aber
+umsonst. Da dachte ich, -- jetzt kommt dieser Mensch zu mir, kommt
+selbst und sehr bald zu mir; wenn er schuldig ist, wird er unbedingt
+kommen. Ein anderer würde nicht kommen, dieser aber unbedingt. Und
+erinnern Sie sich, wie Herr Rasumichin sich Ihnen gegenüber zu
+versprechen begann? Das haben wir arrangiert, um Sie aufzuregen, darum
+haben wir absichtlich auch das Gerücht verbreitet, damit er sich Ihnen
+gegenüber verspreche, Herr Rasumichin aber ist so ein Mensch, der keine
+Entrüstung bei sich behalten kann. Herrn Sametoff fiel zuerst Ihr Zorn
+und Ihre offene Kühnheit auf; wie kann einer in einem Restaurant
+plötzlich herausplatzen, -- >ich habe ermordet!< Es ist zu kühn, es ist
+zu frech und wenn er schuldig ist, -- dachte ich, -- so ist er ein
+furchtbarer Gegner! In dieser Weise habe ich damals gedacht. Ich wartete
+auf Sie! Wartete mit größter Ungeduld, Sametoff haben Sie damals einfach
+niedergeschmettert und ... das ist ja das Fatale, daß diese ganze
+Psychologie zwei Seiten hat! Nun, ich erwarte also Sie und siehe, Gott
+schickt Sie selbst, -- Sie kommen! Mein Herz klopfte stark! Ach! Nun,
+warum mußten Sie damals kommen? Ihr Lachen, Ihr Lachen damals, als Sie
+hereinkamen, -- erinnern Sie sich -- ich erriet sofort alles, als sähe
+ich durch ein Glas; hätte ich aber auf Sie in dieser besonderen Art
+nicht gewartet, würde ich auch in Ihrem Lachen nichts gemerkt haben.
+Sehen Sie, was es heißt, in Stimmung zu sein. Und Herr Rasumichin
+damals, -- ach! und der Stein, der Stein, -- erinnern Sie sich -- der
+Stein, unter dem noch die Sachen versteckt sind? Mir war es, als sähe
+ich ihn irgendwo in einem Gemüsegarten. -- Sie hatten doch Sametoff
+schon davon erzählt und erwähnten ihn dann bei mir zum zweiten Male! Als
+Sie aber damals begannen, Ihren Artikel bis aufs einzelne durchzunehmen,
+als Sie sich näher darüber ausließen, -- da faßte ich jedes Ihrer Worte
+doppelt auf, als stecke noch ein anderes darunter! Nun, sehen Sie,
+Rodion Romanowitsch, in dieser Weise kam ich auch bis zu den letzten
+Schranken, und erst als ich mit der Stirn dagegen rannte, kam ich zur
+Besinnung. Nein, -- sagte ich mir -- was ist mit dir? Wenn man will, --
+sagte ich mir -- kann man dies alles bis zum letzten Punkte auf andere
+Weise erklären, und es wird immer noch natürlicher erscheinen. Es war
+eine Qual! Nein, -- dachte ich, -- wenn ich doch nur ein Zipfelchen
+erwischen könnte! ... Und als ich gar von diesem Klingelzeichen hörte,
+erstarrte ich, ein Frösteln packte mich. -- Jetzt ist das Zipfelchen da!
+dachte ich. Ich habe es! Da überlegte ich nicht mehr, wollte es einfach
+nicht mehr tun. Tausend Rubel hätte ich in diesem Augenblicke aus meiner
+eigenen Tasche hingegeben, um nur Sie _mit meinen eigenen Augen_ gesehen
+zu haben, -- wie Sie damals hundert Schritte neben dem Kleinbürger
+hingingen, nachdem er Ihnen ins Gesicht >Mörder!< gesagt hatte, und Sie
+nicht gewagt hatten, ihn irgend etwas, ganze hundert Schritte lang, zu
+fragen! ... Nun, und dieses Gefühl von Kälte im Rückenmark? War dieses
+Klingelzeichen auch im kranken Zustande, im halbbewußten Fieberwahne?
+Und da müssen Sie sich, Rodion Romanowitsch, nach alldem auch nicht
+wundern, daß ich damals mit Ihnen solche Scherze getrieben habe. Und
+warum kamen Sie selbst im selben Augenblicke? Es war, als hätte Sie
+jemand gestoßen, zu kommen, bei Gott, und wenn uns Nikolai nicht
+auseinander gebracht hätte, so ... erinnern Sie sich an Nikolai damals?
+Erinnern Sie sich seiner gut? Er kam, wie ein Blitz aus heiterm Himmel.
+Nun, und wie empfing ich ihn? Dem Blitze glaubte ich nicht das
+geringste, Sie geruhten es selbst zu sehen! Und noch mehr! Als Sie schon
+fortgegangen waren, und als er begann, sehr, sehr vernünftig manche
+Punkte zu beantworten, so daß ich selbst verwundert war, auch dann
+glaubte ich ihm noch nicht das geringste! Sehen Sie, was es heißt,
+felsenfest überzeugt zu sein. Nein -- dachte ich -- daran ist nichts zu
+machen! Nikolai ändert daran garnichts!«
+
+»Mir erzählte soeben Rasumichin, daß Sie auch jetzt Nikolai
+beschuldigen, und daß Sie Rasumichin selbst davon überzeugt hätten ...«
+
+Der Atem stockte ihm, und er beendete den Satz nicht. Er hörte mit
+unbeschreiblicher Erregung zu, wie ein Mensch, der ihn vollkommen
+durchschaut hatte, sich vor sich selbst verleugnete. -- Er fürchtete
+daran zu glauben und glaubte nicht. In den zweideutigen Worten suchte er
+gierig und haschte nach etwas Bestimmterem und Genauerem.
+
+»Herr Rasumichin!« rief Porphyri Petrowitsch wie erfreut über die Frage
+Raskolnikoffs, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. -- »He--he--he! Ja,
+Herrn Rasumichin mußte man auch abschieben, -- zu zweit ist es ein
+Vergnügen, der dritte soll wegbleiben. Herr Rasumichin soll aus dem
+Spiele bleiben, und ist außerdem ein fremder Mensch; er kam zu mir ganz
+blaß gelaufen ... Nun, Gott sei mit ihm, wozu sollen wir ihn in die
+Sache hereinbringen! ... Und was Nikolai betrifft, -- so sollen Sie
+wissen, was das für ein Subjekt ist, das heißt, wie ich ihn auffasse.
+Vor allen Dingen ist er noch das reine Kind, und nicht etwa eine
+ängstliche Natur, sondern er ist eine Art Künstler. Sie sollen sich
+nicht darüber lustig machen, daß ich ihn so darstelle. Er ist ein
+unschuldiger, reiner und für alles empfänglicher Mensch. Hat ein Herz,
+ist ein Phantast. Man sagt, daß er singen und tanzen kann und Märchen so
+zu erzählen versteht, daß Leute aus anderen Orten sich versammeln, um
+ihn zu hören. Auch zur Schule, zu den Abendkursen geht er, kann sich
+krank lachen, wenn man ihm den Finger zeigt, kann sich bewußtlos
+betrinken, nicht etwa aus Verdorbenheit, sondern gelegentlich, wenn man
+ihm zu trinken gibt, alles in kindlicher Weise. Er hat damals gestohlen,
+weiß es aber selbst nicht, denn nach seiner Ansicht -- >ist es doch kein
+Diebstahl, wenn er etwas auf der Erde gefunden hat?< Wissen Sie aber,
+daß er zu den Altgläubigen gehört, nein, eigentlich ist er kein
+Altgläubiger, sondern ein Sektierer; aus seiner Familie gehörten einige
+der Sekte >Bewegung< an, auch er selbst hat vor kurzem noch zwei Jahre
+auf dem Lande bei einem gottesfürchtigen Greis gelebt, um sich in den
+Grundsätzen der Religion zu festigen. Das alles habe ich von Nikolai und
+seinen Nachbarn aus dem Dorfe erfahren. Noch mehr! Er wollte Einsiedler
+werden! Er hatte die feste Absicht, betete nächtelang zu Gott, las in
+den alten >echten, wahren<[12] Büchern und hat vor lauter Lesen den
+Verstand verloren. Petersburg hat auf ihn einen starken Eindruck
+gemacht, besonders das weibliche Geschlecht, nun, und auch der Wein. Er
+ist empfänglich, hat den gottesfürchtigen Greis und alles vergessen. Ich
+habe erfahren, daß ihn hier ein Künstler lieb gewonnen hat, er ging zu
+ihm zu Besuch, da kam aber diese Geschichte dazwischen. Nun, er bekam
+Angst, -- und wollte sich erhängen! Wollte davonlaufen! Was soll man da
+tun bei dem Begriffe, den das Volk nun einmal von unserer Rechtspflege
+besitzt! Manchen erschrickt schon das Wort >vors Gericht gestellt zu
+werden<. Wer ist daran schuld! Wir wollen sehen, wie die Gerichtsreform
+wirken wird. Ach, möge es Gott bald geben! Nun, also, -- im Gefängnisse
+erinnerte er sich offenbar wieder des gottesfürchtigen Greises; auch die
+Bibel erschien wieder. Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, was es bei
+manchen von diesen Leuten bedeutet, >das Leiden auf sich zu nehmen<? Das
+bedeutet nicht etwa, für jemand anderen zu leiden, sondern einfach man
+soll >Leiden auf sich nehmen< und besonders gilt das, wenn die Behörden
+im Spiele sind. Zu meiner Dienstzeit noch saß im Gefängnisse ein ganzes
+Jahr ein äußerst stiller, ruhiger Arrestant, er las nächtelang auf dem
+Ofen liegend die Bibel, und verlor vor lauter Lesen den Verstand, wissen
+Sie, verlor ihn ganz und gar, so daß er eines schönen Tages ohne jede
+Veranlassung, ohne jeden Grund einen Ziegelstein packte und ihn auf den
+Vorgesetzten schleuderte. Ja, und wie tat er es, -- absichtlich
+schleuderte er den Stein eine Elle vorbei, um dem Vorgesetzten bloß
+keinen Schaden anzufügen! Nun, es ist ja bekannt, was mit einem
+Arrestanten geschieht, der bewaffneten Widerstand gegen seinen
+Vorgesetzten leistet, -- und da hatte er also >das Leiden auf sich
+genommen<! Ich habe nun den Verdacht, daß Nikolai auch >das Leiden auf
+sich nehmen< oder etwas derartiges tun will. Das weiß ich sicher, aus
+Tatsachen. Er weiß bloß selbst nicht, daß ich es weiß. Was -- geben Sie
+es etwa nicht zu, daß aus solch einem Volke phantastische Menschen
+hervortreten? Aber sicher auf Schritt und Tritt. Der gottesfürchtige
+Greis hat jetzt wieder bei ihm zu wirken begonnen, ist ihm besonders
+nach dem Selbstmordversuch in Erinnerung gekommen. Übrigens aber, er
+wird mir selbst alles erzählen, er wird zu mir kommen. Sie glauben, er
+wird es bis zu Ende aushalten können? Warten Sie nur, er wird seine
+Aussage noch zurücknehmen! Ich warte stündlich, daß er kommen wird, um
+seine Aussage zurückzunehmen. Ich habe diesen Nikolai liebgewonnen und
+will ihn genau ergründen. Und können Sie sich denken! He--he--he! Manche
+Punkte hat er mir ziemlich vernünftig beantwortet, hat offenbar die
+nötigen Mitteilungen erhalten und sich gut vorbereitet; nun, und bei
+anderen Punkten blamierte er sich mordsmäßig, wußte rein gar nichts,
+hatte keine Ahnung, und weiß selbst nicht mal, daß er nichts ahnt! Nein,
+Väterchen, Rodion Romanowitsch, mit dieser Sache hat Nikolai nichts zu
+tun! Es ist eine phantastische, finstere Sache, eine moderne Sache, ein
+Fall unserer Zeit, wo das menschliche Herz sich getrübt hat -- wo die
+Phrase zitiert wird, daß Blutvergießen >erfrischt<, wo von einem Leben
+in Komfort gepredigt wird. Hier -- sind Ideen aus Büchern, hier spricht
+ein durch Theorien gereiztes Herz, hier sieht man eine Entschlossenheit
+zum ersten Schritt, aber eine Entschlossenheit besonderer Art, -- er hat
+sich dazu entschlossen, wie man sich entschließt, von einem Felsen oder
+von einem Turme sich herabzustürzen, und ist zu dem Verbrechen nicht wie
+auf eigenen Füßen geschritten. Er hatte vergessen, die Türe hinter sich
+zu schließen und hat getötet, zwei Menschen getötet, nach der Theorie.
+Er hat getötet, aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen, was er aber
+zusammengerafft hat, steckte er unter einen Stein. Es genügte ihm nicht,
+daß er eine Qual durchgemacht hatte, als er hinter der Tür stand und an
+der Tür gerüttelt und an der Klingel gerissen wurde, -- nein, er geht
+noch einmal nachher in die leere Wohnung in halbbewußtem Zustande, um
+sich dieses Läuten in Erinnerung zu bringen, es verlangt ihn wieder,
+diese Kälte im Rücken zu spüren ... Nun ja, dies ist im kranken Zustande
+geschehen, aber noch eins, -- er hat ermordet, hält sich aber für einen
+ehrlichen Menschen, verachtet alle Leute, wandert als bleicher Engel
+herum, -- nein, was hat Nikolai damit zu tun, lieber Rodion
+Romanowitsch, nein, Nikolai ist es nicht!«
+
+Diese letzten Worte waren nach allem vorher Gesagten, das einem Aufgeben
+des früher Angenommenen so ähnlich war, zu unerwartet gekommen.
+Raskolnikoff erzitterte am ganzen Körper, wie vom Blitze getroffen.
+
+»Wer hat sie denn ... getötet ...« fragte er mit erstickender Stimme,
+ohne doch die Frage zurückhalten zu können. Porphyri Petrowitsch warf
+sich gegen die Stuhllehne zurück, wie aufs äußerste überrascht und
+erstaunt über diese Frage.
+
+»Wie, wer sie getötet hat? ...« wiederholte er, als traue er seinen
+Ohren nicht. -- »Ja, _Sie_ haben getötet, Rodion Romanowitsch! Sie haben
+getötet ...« fügte er fast im Flüstertone, aber bestimmt hinzu.
+
+Raskolnikoff sprang vom Sofa auf, stand einige Sekunden und setzte sich
+wieder, ohne ein Wort zu sagen. Über sein Gesicht ging ein krampfhaftes
+Zucken.
+
+»Die Lippe bebt wieder bei Ihnen, wie damals,« murmelte scheinbar voll
+Teilnahme Porphyri Petrowitsch. -- »Sie haben, Rodion Romanowitsch, mich
+nicht richtig verstanden,« fügte er nach einigem Schweigen hinzu, »darum
+sind Sie auch so überrascht. Ich bin gerade darum gekommen, um Ihnen
+alles zu sagen und die Sache offen mit Ihnen zu behandeln.«
+
+»Ich habe nicht getötet,« flüsterte Raskolnikoff, genau wie ein Kind im
+Schreck, wenn es auf frischer Tat ertappt wurde.
+
+»Nein, Sie haben es getan, Rodion Romanowitsch, Sie und niemand anders,«
+flüsterte Porphyri Petrowitsch streng und fest.
+
+Sie schwiegen beide und das Schweigen dauerte merkwürdig lange, etwa
+zehn Minuten. Raskolnikoff hatte sich auf den Tisch gestützt und fuhr
+schweigend mit den Fingern durch die Haare. Porphyri Petrowitsch saß
+still und wartete. Plötzlich blickte Raskolnikoff Porphyri Petrowitsch
+verächtlich an.
+
+»Sie kommen wieder mit der alten Weise, Porphyri Petrowitsch! Immer Ihre
+alte Taktik, -- wird es Ihnen in der Tat nicht langweilig?«
+
+»Ach, lassen Sie doch, was soll es denn für eine Taktik sein! Ja, wenn
+Zeugen zur Stelle wären; wir sprechen aber doch Auge in Auge. Sie sehen
+selbst, ich bin nicht dazu hergekommen, um Sie zu hetzen und zu
+umgarnen, wie ein flüchtiges Wild. Ob Sie gestehen oder nicht, -- in
+diesem Augenblicke ist es mir einerlei. Für meine Person bin ich auch
+ohne das überzeugt.«
+
+»Wenn die Sache so steht, warum sind Sie denn gekommen?« fragte
+Raskolnikoff gereizt. -- »Ich stelle Ihnen die frühere Frage, -- wenn
+Sie mich für den Schuldigen halten, warum sperren Sie mich nicht ins
+Gefängnis?«
+
+»Das ist doch einmal ein Wort! Darum will ich Ihnen diese Frage genau
+beantworten, -- erstens, Sie einfach ins Gefängnis zu sperren, ist für
+mich unvorteilhaft.«
+
+»Wieso unvorteilhaft? Wenn Sie überzeugt sind, so müssen Sie sogar ...«
+
+»Ach, was hat es denn zu sagen, daß ich überzeugt bin? Alles ist doch
+vorläufig ein Gedanke von mir, eine Einbildung. Ja und warum soll ich
+Sie dort _zur Ruhe_ setzen? Sie wissen das selbst, wenn Sie darauf
+drängen. Ich bringe zum Beispiel den Kleinbürger hin, um Sie zu
+überführen, Sie werden ihm aber sagen, -- bist du betrunken oder nicht?
+Wer hat dich mit mir zusammen gesehen? Ich habe dich einfach für einen
+Betrunkenen gehalten, und du warst es auch, -- was soll ich Ihnen darauf
+erwidern, umsomehr, als Ihre Worte überzeugender sind als seine, denn in
+seiner Aussage steckt nur eine psychologische Mutmaßung, -- das paßt
+aber zu seiner Fratze nicht mal, -- Sie aber treffen den Kernpunkt, denn
+der gemeine Kerl trinkt sehr stark und ist dafür bekannt. Und ich habe
+selbst Ihnen offen schon einigemal gesagt, daß diese Psychologie zwei
+Seiten hat, und daß die zweite Seite die größere Wahrscheinlichkeit für
+sich hat, und habe hinzugefügt, daß ich außer diesem vorläufig gar
+nichts gegen Sie in den Händen habe. Und obwohl ich Sie einsperren
+werde, und sogar selbst gekommen bin -- (was doch sicher nicht gang und
+gäbe ist) -- Ihnen im voraus alles mitzuteilen, trotzdem sage ich Ihnen
+offen -- (was wieder nicht gang und gäbe ist) -- daß dies für mich
+unvorteilhaft sein wird. Und zweitens, bin ich darum zu Ihnen gekommen
+...«
+
+»Und zweitens?« Raskolnikoff rang immer noch nach Atem.
+
+»Weil ich mich, wie ich Ihnen schon vorhin erklärte, für verpflichtet
+halte, Ihnen eine Erklärung abzugeben. Ich will nicht, daß Sie mich für
+ein Scheusal ansehen sollen, umsomehr, als ich zu Ihnen eine aufrichtige
+Neigung gefaßt habe, ob Sie mir glauben oder nicht. Und deswegen bin
+ich, drittens, gekommen, Ihnen den offenen und direkten Vorschlag zu
+machen -- sich selbst anzuzeigen und ein Geständnis abzulegen. Das ist
+für Sie das Gescheiteste, und auch für mich am vorteilhaftesten, -- dann
+bin ich die Sache los. Nun, war ich meinerseits offen oder nicht?«
+
+Raskolnikoff dachte einen Augenblick nach.
+
+»Hören Sie, Porphyri Petrowitsch, Sie sagen doch selbst, -- es ist nur
+auf Psychologie begründet, indessen aber ziehen Sie die Mathematik
+herein. Nun wie, wenn Sie sich selbst irren?«
+
+»Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe ein Endchen in
+der Hand. Das Endchen hatte ich auch damals erwischt; Gott hat es mir
+geschenkt!«
+
+»Was für ein Endchen?«
+
+»Das sage ich nicht, Rodion Romanowitsch. In jedem Falle aber habe ich
+jetzt nicht mehr das Recht, es hinauszuschieben; ich werde Sie
+verhaften. Also ziehen Sie dies in Betracht, -- für mich ist _es jetzt_
+gleichgültig, folglich tue ich es bloß um Ihretwillen. Bei Gott, es wird
+für Sie besser sein, Rodion Romanowitsch!«
+
+Raskolnikoff lächelte boshaft.
+
+»Es ist doch nicht bloß lächerlich, es ist unverschämt. Und mag ich
+schuldig sein, -- was ich noch gar nicht sage, -- nun, warum soll ich
+denn zu Ihnen mit einem freiwilligen Geständnis kommen, wenn Sie schon
+selbst sagen, daß ich dort bei Ihnen mich _zur Ruhe_ setzen werde?«
+
+»Ach, Rodion Romanowitsch, trauen Sie nicht ganz den Worten; vielleicht
+wird es auch nicht ganz >_zur Ruhe_< sein! Es ist doch bloß eine Theorie
+und zudem noch meine eigene, was für eine Autorität aber bin ich für
+Sie? Vielleicht verheimliche ich auch jetzt noch irgend etwas vor Ihnen.
+Ich kann Ihnen doch nicht alles offenbaren und zeigen. He--he! Außerdem,
+Sie fragen, welchen Vorteil Sie haben werden? Ja, wissen Sie auch, welch
+eine Strafermäßigung Sie erhalten werden? Wann werden Sie kommen, in
+welchem Augenblick? Überlegen Sie es sich doch bloß! In dem Momente, wo
+schon ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze
+Angelegenheit verwirrt hat! Und ich will, -- so wahr ein Gott ist --
+alles >dort< so einrichten und arrangieren, daß Ihr Geständnis wie
+vollkommen unerwartet erscheinen wird. Diese ganze Psychologie wollen
+wir ganz vernichten, allen Verdacht will ich in nichts verwandeln, so
+daß Ihr Verbrechen, wie eine Art Verblendung erscheinen wird, denn --
+offen gestanden, -- es war auch eine Verblendung. Ich bin ein ehrlicher
+Mensch, Rodion Romanowitsch, und werde mein Wort halten.«
+
+Raskolnikoff schwieg traurig und ließ den Kopf sinken; er dachte lange
+nach, plötzlich lächelte er wieder, aber sein Lächeln war diesmal schon
+sanft und traurig.
+
+»Ach, es ist nicht nötig!« sagte er, als ob er sich gar nicht mehr vor
+Porphyri Petrowitsch verberge. -- »Es lohnt sich nicht! Ich brauche gar
+nicht Ihre Strafermäßigung!«
+
+»Das fürchtete ich gerade!« rief Porphyri Petrowitsch innig und
+unwillkürlich, -- »das fürchtete ich gerade, daß Sie unsere Ermäßigung
+nicht brauchen.«
+
+Raskolnikoff blickte ihn traurig und eindringlich an.
+
+»Hören Sie, verschmähen Sie das Leben nicht!« fuhr Porphyri Petrowitsch
+fort. -- »Sie haben noch viel von ihm zu erwarten. Warum ist eine
+Strafermäßigung nicht nötig, warum nicht? Sie ungeduldiger Mensch!«
+
+»Was habe ich denn noch viel vor?«
+
+»Zu leben! Was sind Sie für ein Prophet, wissen Sie denn wie viel?
+Suchet und ihr werdet finden. Vielleicht hat Sie Gott hier geprüft. Ja,
+und nicht ewig wird doch die Kette angelegt ...«
+
+»Eine Ermäßigung wird sein ...« lachte Raskolnikoff.
+
+»Haben Sie etwa Furcht vor der Bourgeoisschande? Das ist wohl möglich,
+daß Sie dieses schreckt, und Sie wissen es vielleicht selbst nicht, --
+denn Sie sind noch jung! Aber Sie sollten sich wenigstens doch nicht
+fürchten oder etwa schämen, ein Geständnis abzulegen.«
+
+»Ach, ich pfeife darauf!« flüsterte Raskolnikoff verächtlich und mit
+Widerwillen, als ob er darüber auch nicht mehr reden wolle. Er war
+wieder aufgestanden, als ob er irgendwohin gehen wollte, setzte sich
+aber von neuem in sichtlicher Verzweiflung.
+
+»Da haben wir es -- ich pfeife darauf! Sie haben den Glauben verloren,
+und meinen auch, daß ich Ihnen grob schmeichle; haben Sie denn so lange
+gelebt? Verstehen Sie denn so viel davon? Haben sich eine Theorie
+ausgedacht, und schämen sich nun, daß nichts daraus wurde, und daß es zu
+wenig originell herauskam. Es nahm ein gemeines Ende, das ist wahr, aber
+Sie sind doch kein hoffnungsloser Schuft! Sie haben sich wenigstens
+nicht lange Sand in die Augen gestreut, Sie sind mit einem bis zu den
+äußersten Grenzen gegangen. Für wen halte ich Sie denn? Ich halte Sie
+für einen von der Sorte Menschen, denen man den Leib aufschlitzen kann,
+die aber ruhig dastehen und mit einem Lächeln auf ihre Peiniger blicken,
+-- wenn sie nur einen Glauben oder einen Gott gefunden haben. Nun, gehen
+Sie und finden Sie es und Sie werden leben. Außerdem müssen Sie schon
+längst eine Luftveränderung haben. Was, das Leiden ist auch eine gute
+Sache. Leiden Sie eine Zeit. Nikolai hat vielleicht auch recht, daß er
+Leiden sucht. Ich weiß, daß Sie noch nicht glauben können, -- grübeln
+Sie aber nicht zu viel; geben Sie sich einfach, ohne viel zu überlegen,
+dem Leben hin; seien Sie sicher, -- es bringt Sie an das Ufer und stellt
+Sie auf die Beine. An was für ein Ufer weiß ich nicht. Woher soll ich es
+auch wissen? Ich glaube nur daran, daß Sie noch viel zu leben haben. Ich
+weiß auch, daß Sie meine Worte jetzt wie eine auswendig gelernte Predigt
+auffassen; aber vielleicht werden Sie sich ihrer einmal später erinnern
+und sie werden Ihnen von Nutzen sein können. Aus diesem Grunde spreche
+ich auch. Es ist gut, daß Sie nur diese Alte ermordet haben. Wenn Sie
+aber sich eine andere Theorie ausgedacht hätten, so würden Sie
+vielleicht eine um hundert Millionen schlimmere Sache vollbracht haben!
+Man muß vielleicht noch Gott danken; woher wissen Sie es? Vielleicht
+behütet Sie Gott aus irgend einem Grunde. Sie sollten aber ein großes
+Herz haben und sich weniger fürchten. Ihnen ist bange vor der Größe
+dessen, was jetzt zu geschehen hat? Nein, in diesem Falle muß man sich
+schämen, bange zu sein. Wenn Sie einen solchen Schritt getan haben, so
+nehmen Sie sich auch jetzt zusammen. Darin liegt die ausgleichende
+Gerechtigkeit. Erfüllen Sie nun mal, was die Gerechtigkeit verlangt. Ich
+weiß, daß Sie nicht glauben, aber -- bei Gott -- das Leben wird Ihnen zu
+weiterem verhelfen. Nachher werden Sie es selbst gern haben. Sie
+brauchen jetzt bloß Luft, Luft und Luft!«
+
+Raskolnikoff zuckte zusammen.
+
+»Ja, wer sind Sie denn?« rief er aus. -- »Sind Sie etwa ein Prophet?
+Woher haben Sie diese hohe majestätische Ruhe, um mir superkluge
+Prophezeiungen vorzuorakeln?«
+
+»Wer ich bin? Ich bin ein abgetaner Mensch, mehr nicht. Ein Mensch, der
+vielleicht empfindet und Mitgefühl besitzt, vielleicht auch etwas weiß,
+aber schon vollkommen abgetan ist. Sie aber -- mit Ihnen steht es
+anders; Ihnen hat Gott das Leben vorbehalten; wer weiß, vielleicht geht
+bei Ihnen alles wie ein Dunst vorüber, nichts wird zurückbleiben. Nun,
+was ist denn dabei, daß Sie in eine andere Gattung von Menschen
+übergehen werden? Sie mit Ihrem Herzen sollten doch nicht den Komfort
+bedauern? Was ist denn dabei, daß man Sie vielleicht lange nicht mehr
+sehen wird? Hier handelt es sich nicht um die Zeit, sondern um Sie
+selbst. Werden Sie eine Sonne, und alle werden Sie sehen. Eine Sonne muß
+vor allen Dingen eine Sonne sein. Warum lächeln Sie wieder, -- daß ich
+solch ein Schiller bin? Und ich gehe eine Wette ein, Sie meinen, daß ich
+mich an Sie heranschmeichle! Nun, vielleicht schmeichle ich mich auch
+tatsächlich heran, he--he--he! Sie brauchen mir, Rodion Romanowitsch,
+meinetwegen kein Wort zu glauben, meinetwegen, glauben Sie auch niemals,
+-- ich habe schon so eine Art, gebe es zu; aber eins füge ich hinzu, --
+ob ich ein gemeiner und wie weit ich ein ehrlicher Mensch bin, können
+Sie, glaube ich, selbst beurteilen!«
+
+»Wann denken Sie mich zu verhaften?«
+
+»Nun, anderthalb oder zwei Tage kann ich Sie noch frei herumgehen
+lassen. Denken Sie nach, mein Lieber, beten Sie zu Gott. Ja, es ist
+vorteilhafter, -- bei Gott -- vorteilhafter.«
+
+»Wenn ich aber fliehen werde?« fragte Raskolnikoff mit einem sonderbaren
+Lächeln.
+
+»Nein, Sie werden nicht fliehen. Ein Bauer wird davonlaufen, ein
+moderner Sektierer wird fliehen -- ein Lakai, der von fremden Gedanken
+zehrt, dem man bloß eine Fingerspitze zu zeigen braucht und der an
+alles, was Sie wollen, sein Lebelang glauben wird. Sie aber glauben doch
+nicht mehr an Ihre Theorie, -- warum wollen Sie fliehen? Ja, und was
+wollen Sie in einem freiwilligen Exil? Im Exil ist es häßlich und
+schwer, Sie aber brauchen vor allen Dingen Leben und eine bestimmte
+Lage, eine entsprechende Luft, und gibt es für Sie im Exil die nötige
+Luft? Wenn Sie fliehen werden, kehren Sie selbst zurück. _Ohne uns
+können Sie nicht auskommen._ Und wenn ich Sie ins Gefängnis setze, --
+nun, Sie werden einen Monat sitzen, meinetwegen auch zwei oder drei, und
+dann werden Sie plötzlich, -- denken Sie an meine Worte, -- selbst zu
+mir kommen und gestehen, und möglicherweise für Sie selbst unerwartet.
+Sie werden selbst noch eine Stunde vorher nicht wissen, daß Sie ein
+Geständnis ablegen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie auf den
+Gedanken kommen werden, das Leiden auf sich zu nehmen. Sie glauben mir
+jetzt nicht auf mein bloßes Wort hin, Sie werden selbst aber darauf
+verfallen. Denn das Leiden, Rodion Romanowitsch, ist ein großes Ding;
+lassen Sie außer acht, daß ich fett und dick geworden bin, das tut
+nichts, ich weiß es dennoch; lachen Sie nicht darüber, -- im Leiden
+liegt eine tiefe Idee. Nikolai hat recht. Nein, Sie werden nicht
+davonlaufen, Rodion Romanowitsch.«
+
+Raskolnikoff stand von seinem Platz auf und nahm seine Mütze. Porphyri
+Petrowitsch erhob sich auch.
+
+»Sie wollen spazieren gehen? Der Abend wird schön werden, es möge nur
+kein Gewitter kommen. Es wäre zwar besser, wenn es frischer würde ...«
+
+Er nahm auch seine Mütze.
+
+»Porphyri Petrowitsch,« sagte Raskolnikoff mit strenger
+Eindringlichkeit, »bitte, setzen Sie sich nicht in den Kopf, daß ich
+Ihnen heute gestanden habe. Sie sind ein sonderbarer Mensch und ich habe
+Ihnen aus bloßer Neugier zugehört. Ich habe Ihnen aber nichts
+eingestanden ... Vergessen Sie es nicht.«
+
+»Nun gut, ich werde es nicht vergessen, -- sehen Sie nur, wie Sie
+zittern. Seien Sie ruhig, mein Lieber; Ihren Willen sollen Sie haben.
+Gehen Sie ein wenig spazieren; zu viel aber sollen Sie nicht gehen. Ich
+habe an Sie für jeden Fall noch eine kleine Bitte,« fügte er mit
+gesenkter Stimme hinzu, -- »eine peinliche, aber wichtige Bitte, -- wenn
+Sie, das heißt, für jeden Fall ... woran ich übrigens nicht glaube und
+Sie zu ähnlichem für ganz und gar nicht fähig halte, ... falls -- ich
+sage es bloß für jeden Fall -- Sie in diesen vierzig oder fünfzig
+Stunden Lust verspüren sollten, die Sache irgendwie anders, in einer
+phantastischen Weise aus der Welt zu schaffen, -- sagen wir, Hand an
+sich legen zu wollen ... es ist ja eine unsinnige Annahme, entschuldigen
+Sie bitte, -- hinterlassen Sie dann eine kurze aber genaue Mitteilung.
+Es brauchen bloß zwei Zeilen, zwei kurze Zeilen zu sein und erwähnen Sie
+auch den Stein; das wird anständiger sein. Nun, auf Wiedersehen ... Ich
+wünsche Ihnen gute Gedanken und die rechten Vorsätze!«
+
+Porphyri Petrowitsch ging gebückt hinaus, und vermied es, Raskolnikoff
+anzublicken. -- Raskolnikoff trat an das Fenster und wartete gereizt und
+ungeduldig, bis jener auf der Straße sein konnte und weitergegangen war.
+Dann verließ auch er selbst schnell das Zimmer.
+
+
+ III.
+
+Er eilte zu Sswidrigailoff. Was er von diesem Menschen erwartete, --
+wußte er selbst nicht. Er wußte nur das eine, daß der eine Macht über
+ihn hatte. Nachdem er dies einmal eingesehen hatte, konnte er sich nicht
+länger mehr beunruhigen und außerdem war jetzt die richtige Zeit
+gekommen. -- Auf dem Wege quälte ihn besonders die eine Frage, -- war
+Sswidrigailoff bei Porphyri Petrowitsch gewesen?
+
+Soweit er beurteilen konnte, und er hätte darauf schwören mögen, -- war
+er nicht dort gewesen! Er dachte wiederholt nach, rief den ganzen Besuch
+Porphyri Petrowitschs in seine Erinnerung zurück und überlegte: -- nein,
+er war nicht bei ihm gewesen, ganz gewiß nicht!
+
+Aber wenn er noch nicht dort gewesen war, würde er oder würde er nicht
+zu Porphyri Petrowitsch hingehen?
+
+Vorläufig schien es Raskolnikoff, als ob er nicht hingehen würde. Warum?
+Er konnte sich selber dies nicht erklären, aber wenn er es auch gekonnt
+hätte, so wollte er sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dies
+alles quälte ihn, und doch hatte er zugleich für etwas anderes
+Interesse. Es war erstaunlich und niemand würde es vielleicht geglaubt
+haben, -- um sein jetziges unumgängliches Schicksal war er wenig
+besorgt, er dachte nur zerstreut daran. Ihn quälte etwas anderes,
+anscheinend Wichtigeres, etwas Außergewöhnliches, -- das nur ihn selbst
+und niemand anderen betraf. Außerdem empfand er eine grenzenlose
+seelische Erschlaffung, obgleich sein Verstand an diesem Morgen besser
+arbeitete, als in allen diesen letzten Tagen.
+
+Und war es der Mühe wert, nach alledem, was vorgefallen war, diese neuen
+winzigen Bedrängnisse zu überwinden? War es der Mühe wert, zum Beispiel,
+zu intrigieren, damit Sswidrigailoff nicht zu Porphyri Petrowitsch
+hingehe; ihn zu studieren, auszukundschaften und Zeit zu verlieren für
+einen Sswidrigailoff?
+
+Oh, wie ihm dies alles langweilig war!
+
+Indessen eilte er aber doch zu Sswidrigailoff; erwartete er etwa von ihm
+etwas _neues_, oder Fingerzeige oder einen Ausweg? Man greift in der Not
+auch nach einem Strohhalm! Führte sie etwa jetzt das Schicksal oder ein
+Instinkt zusammen? Vielleicht war es bloß Müdigkeit, Verzweiflung,
+vielleicht brauchte er gar nicht Sswidrigailoff, sondern jemand anderen,
+und Sswidrigailoff war ihm nur in den Weg gelaufen. Ssonja? Ja, wozu
+sollte er jetzt zu Ssonja gehen? Wieder um ihre Tränen betteln? Ssonja
+war ihm jetzt schrecklich. In Ssonja stellte er sich ein unerbittliches
+Urteil, einen unwandelbaren Entschluß vor. Hier aber handelte es sich
+darum, entweder ihr oder sein Weg. Besonders im gegenwärtigen
+Augenblicke war er außerstande, sie zu sehen. Nein, es wäre besser,
+Sswidrigailoff auszuforschen, -- was wäre dabei? Er konnte sich nicht
+innerlich eingestehen, daß er tatsächlich jenen schon längst zu irgend
+etwas gebrauchte.
+
+Aber was konnte es zwischen ihnen beiden gemeinsames geben? Selbst eine
+Freveltat konnte sie beide nicht auf gleiche Stufe bringen. Dieser
+Mensch war ihm sehr unangenehm, offenbar äußerst verdorben, sicher aber
+schlau und unzuverlässig, und vielleicht auch bösartig. Von ihm wurde
+allerhand erzählt. Es war ja richtig, er hat sich der Kinder Katerina
+Iwanownas angenommen; aber wer weiß, zu welchem Zwecke und was es noch
+auf sich hatte? Dieser Mensch hatte stets seine Absichten und Pläne.
+
+In all diesen Tagen schwebte ständig Raskolnikoff noch ein Gedanke vor
+und beunruhigte ihn sehr, obwohl er ihn stets von sich zu weisen suchte;
+so schwer lastete dieser Gedanke auf ihm! Er dachte -- Sswidrigailoff
+hat die ganze Zeit sich mit ihm beschäftigt; Sswidrigailoff hat sein
+Geheimnis erfahren und hatte schon böse Absichten gegenüber Dunja. Man
+könnte doch fast mit Bestimmtheit sagen, daß _er sie noch haben_ werde.
+Und wenn er jetzt, nachdem er sein Geheimnis erfahren und so über ihn
+eine Macht erhalten hätte, sie als eine Waffe gegen Dunja benutzen
+wollte?
+
+Dieser Gedanke quälte ihn sogar im Traume, aber noch nie war er ihm so
+deutlich gekommen, wie jetzt. Und dieser Gedanke allein versetzte ihn in
+die äußerste Wut. Dann würde sich alles verändern, sogar seine eigene
+Lage, -- er muß dann sofort sein Geheimnis Dunetschka mitteilen. Er
+mußte sich vielleicht selbst verraten, um Dunetschka von einem
+unvorsichtigen Schritt abzuhalten. Und der Brief? Heute früh hatte
+Dunetschka einen Brief erhalten! Von wem in Petersburg kann sie Briefe
+empfangen? Etwa von Luschin? Es ist ja wahr, dort paßt Rasumichin auf,
+aber Rasumichin weiß doch nichts von alldem. Vielleicht muß er sich auch
+Rasumichin anvertrauen. Raskolnikoff dachte mit Widerwillen an diese
+Möglichkeit.
+
+Er beschloß endgültig, Sswidrigailoff in jedem Falle möglichst bald
+aufzusuchen. Gott sei Dank, hier handelt es sich nicht so sehr um die
+Einzelheiten, als um den Kernpunkt der Sache, -- aber wenn er, wenn er
+schon fähig war ... wenn Sswidrigailoff irgend etwas gegen Dunja
+vorhatte, -- so ...
+
+Raskolnikoff war während dieser ganzen Zeit, während dieses ganzen
+Monats so abgespannt geworden, daß er jetzt ähnliche Fragen nicht anders
+mehr lösen konnte, als bloß durch das eine, -- »dann töte ich ihn!« Das
+dachte er auch in diesem Augenblicke mit kalter Verzweiflung. Schwer
+bedrückte es sein Herz; er blieb mitten auf der Straße stehen und begann
+sich umzusehen, -- welchen Weg er ging und wohin er gekommen war? Er
+befand sich auf dem N.schen Prospekt, dreißig oder vierzig Schritte vom
+Heumarkt entfernt, den er passiert hatte. Der ganze zweite Stock eines
+Hauses linker Hand war von einem Restaurant eingenommen. Alle Fenster
+waren weit geöffnet; das Restaurant war, nach den vielen an den Fenstern
+sich bewegenden Gestalten zu urteilen, stark besetzt. Im Saale sang ein
+Chor, Lieder, Klarinetten und Geigen tönten und eine türkische Trommel
+lärmte. Man hörte auch das Gekreische einiger Weiber. Er wollte umkehren
+und begriff gar nicht, wie er auf den N.schen Prospekt gekommen war, als
+er plötzlich in einem der letzten offenen Fenster des Restaurants
+Sswidrigailoff erblickte, der dort hinter einem Teetisch mit einer
+Pfeife im Munde saß. Er erschrak, und sein Schrecken ward zum Entsetzen.
+Sswidrigailoff blickte ihn an und beobachtete ihn schweigend und wollte
+-- was Raskolnikoff ebenfalls betroffen machte, wie es schien,
+aufstehen, um leise und unbemerkt fortzugehen. Raskolnikoff gab sich
+sofort den Anschein, als hätte auch er ihn nicht bemerkt, und blickte in
+Gedanken versunken zur Seite, ohne aber ihn ganz aus dem Auge zu lassen.
+Sein Herz klopfte unruhig. Es war richtig, -- Sswidrigailoff wollte
+offenbar nicht gesehen werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und
+wollte sich verbergen; als er aber aufstand und den Stuhl zur Seite
+schob, hatte er wahrscheinlich gemerkt, daß Raskolnikoff auch ihn
+gesehen und beobachtet hatte. Es war etwas, was der Szene ihres ersten
+Zusammentreffens bei Raskolnikoff, während seines Schlafes, glich. Ein
+spöttisches Lächeln zeigte sich auf dem Gesichte Sswidrigailoffs. Beide
+wußten, daß sie einander gesehen und beobachtet hatten. Zuletzt lachte
+Sswidrigailoff laut auf.
+
+»Nun! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie wollen; ich bin hier!« rief er
+ihm aus dem Fenster zu.
+
+Raskolnikoff ging in das Restaurant hinauf. Er fand ihn in einem sehr
+kleinen Hinterzimmer mit einem Fenster, das an den großen Saal anstieß,
+in dem an etwa zwanzig kleinen Tischen beim greulichen Gebrüll eines
+Sängerchores Kaufleute, Beamte und andere Leute Tee tranken. Aus einer
+anderen Ecke vernahm man das Anprallen von Billardkugeln. Auf dem Tische
+vor Sswidrigailoff stand eine angebrochene Flasche Champagner und ein
+Glas, zur Hälfte mit Wein gefüllt. In dem kleinen Zimmer befanden sich
+außerdem ein Knabe, der eine kleine Drehorgel hatte, und ein kräftiges
+rotwangiges Mädchen, in einem gestreiften aufgebauschten Rocke und einem
+Tiroler Hütchen mit Bändern. Es war eine Sängerin, etwa achtzehn Jahre
+alt, die, trotz des Chorgesanges in dem anderen Zimmer, unter Begleitung
+der Drehorgel einen Gassenhauer mit ziemlich heiserer Kontrealtstimme
+sang ...
+
+»Nun, genug!« unterbrach Sswidrigailoff sie beim Eintritt Raskolnikoffs.
+
+Das Mädchen brach sofort ab und blieb in ehrerbietiger Erwartung stehen.
+Auch ihren Gassenhauer hatte sie mit einem ehrerbietigen und ernsten
+Ausdrucke im Gesichte gesungen.
+
+»He, Philipp, ein Glas!« rief Sswidrigailoff.
+
+»Ich werde keinen Wein trinken,« sagte Raskolnikoff.
+
+»Wie Sie wollen, aber ich habe das Glas nicht Ihretwegen bestellt.
+Trink, Katja! Heute brauche ich euch nicht mehr, geht!« -- Er goß ihr
+ein volles Glas Wein ein und legte einen Rubelschein für sie auf den
+Tisch.
+
+Katja leerte das Glas mit einem Male, wie die Frauen Wein trinken, das
+heißt, ohne das Glas abzusetzen und zwanzigmal schluckend, sie nahm dann
+den Schein, küßte Sswidrigailoff die Hand, was er sehr ernst zuließ und
+verließ das Zimmer, ihr folgte der Knabe mit der Drehorgel. Man hatte
+beide von der Straße heraufgeholt. Sswidrigailoff wohnte noch nicht
+einmal eine Woche in Petersburg und alles verkehrte schon mit ihm auf
+recht patriarchalischem Fuße. Auch der Kellner Philipp kannte ihn schon
+und bediente ihn unterwürfigst. Die Tür zum Saale wurde geschlossen,
+Sswidrigailoff war in diesem Zimmer wie bei sich zu Hause und verbrachte
+hier jedenfalls ganze Tage. Das Restaurant war schmutzig, schlecht und
+nicht einmal von mittlerer Sorte.
+
+»Ich wollte zu Ihnen gehen und suchte Sie,« begann Raskolnikoff, »bog
+aber unversehens vom Heumarkte zu dem N.schen Prospekt ab! Ich gehe nie
+diesen Weg und komme nie hierher. Ich nehme vom Heumarkte immer den Weg
+zur rechten Hand. Auch der Weg zu Ihnen führt hier nicht vorbei. Doch
+kaum als ich einbog, erblickte ich Sie sofort. Das ist seltsam!«
+
+»Warum sagen Sie nicht offen heraus, -- das ist ein Wunder!«
+
+»Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.«
+
+»Wie sonderbar all diese Leute beschaffen sind!« lachte Sswidrigailoff,
+»Sie wollen es nicht eingestehen, wenn Sie auch innerlich selbst an
+Wunder glauben! Sie sagen doch selbst, daß es -- >vielleicht< -- bloß
+ein Zufall ist. Und wie sie alle hier feig sind, eine eigene Meinung zu
+haben, können Sie sich gar nicht vorstellen, Rodion Romanowitsch. Ich
+meine nicht Sie. Sie haben eine eigene Meinung und fürchten sich nicht,
+sie zu haben. Darum haben Sie auch mein Interesse gefesselt.«
+
+»Sonst durch nichts?«
+
+»Aber das genügt doch.«
+
+Sswidrigailoff war offenbar in erregtem Zustande, doch nur ein klein
+wenig; von dem Wein hatte er nur ein halbes Glas getrunken.
+
+»Mir scheint es, Sie kamen schon zu mir, ehe Sie erfuhren, daß ich fähig
+bin, das zu haben, was Sie eine eigene Meinung nennen,« bemerkte
+Raskolnikoff.
+
+»Nun, damals war es eine andere Sache. Jeder hat seine eigenen Wege. Was
+aber das Wunder anbetrifft, muß ich Ihnen sagen, daß Sie anscheinend
+diese letzten zwei oder drei Tage verschlafen haben. Ich habe Ihnen
+selbst dieses Restaurant angegeben, und es war gar kein Wunder, daß Sie
+hierher kamen; ich habe Ihnen selbst den ganzen Weg beschrieben und
+Ihnen den Ort und die Stunden gesagt, wann man mich hier treffen kann.
+Erinnern Sie sich?«
+
+»Ich habe es vergessen,« antwortete Raskolnikoff verwundert.
+
+»Es scheint so. Zweimal habe ich es Ihnen gesagt. Die Adresse hat sich
+Ihrem Gedächtnisse mechanisch eingeprägt. Sie schlugen auch diesen Weg
+mechanisch ein, indessen streng der Adresse folgend, ohne es selbst zu
+wissen. Als ich es Ihnen damals sagte, glaubte ich nicht, daß Sie mich
+verstanden hatten. Sie verraten sich zu sehr, Rodion Romanowitsch. Noch
+eins: -- ich bin überzeugt, daß es in Petersburg viele Leute gibt, die
+im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist eine Stadt von Halbverrückten.
+Wenn wir die Wissenschaften mehr pflegten, so könnten Mediziner,
+Juristen und Philosophen, jeder auf seinem Spezialgebiete die
+wertvollsten Untersuchungen über Petersburg anstellen. Selten findet man
+so viel finstere, tiefeinschneidende und eigentümliche Einflüsse auf die
+Seele eines Menschen vor, wie in Petersburg. Was allein sind die
+klimatischen Einflüsse wert! Indessen ist es das administrative Zentrum
+von ganz Rußland, und sein Charakter muß sich in allem geltend machen.
+Aber es handelt sich jetzt nicht darum, sondern, daß ich Sie ein paarmal
+schon heimlich beobachtet habe. Sie verlassen Ihre Wohnung -- halten den
+Kopf nach oben. Nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn schon sinken und
+die Hände legen Sie auf den Rücken. Sie blicken vor sich und sehen
+offenbar weder vor sich etwas, noch neben sich. Schließlich beginnen Sie
+die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie
+zuweilen die eine Hand frei machen und deklamieren, endlich bleiben Sie
+mitten auf dem Wege lange stehen. Das ist nicht gut. Vielleicht
+beobachtet jemand Sie außer mir, und das ist nicht vorteilhaft. Mir ist
+es im Grunde genommen gleichgültig, und ich werde Sie nicht heilen, aber
+Sie verstehen mich sicher.«
+
+»Wissen Sie es, daß man mich beobachtet?« fragte Raskolnikoff und
+blickte ihn forschend an.
+
+»Nein, ich weiß nichts davon,« antwortete Sswidrigailoff, wie
+verwundert.
+
+»Nun, lassen wir meine Person aus dem Spiel,« murmelte Raskolnikoff mit
+verdüstertem Gesichte.
+
+»Gut, lassen wir Sie aus dem Spiel.«
+
+»Sagen Sie mir lieber, -- wenn Sie hierher gehen zu trinken und mir
+selbst diesen Ort zweimal genannt haben, damit ich hierher zu Ihnen
+kommen soll, warum versteckten Sie sich denn und wollten weggehen, als
+ich Sie von der Straße aus am Fenster sah? Ich habe es sehr gut
+gemerkt.«
+
+»He--he! Warum lagen Sie auf Ihrem Sofa mit geschlossenen Augen und
+stellten sich schlafend, während Sie doch gar nicht schliefen, als ich
+damals bei Ihnen auf der Schwelle stand? Ich habe es sehr gut bemerkt.«
+
+»Ich konnte ... Gründe haben ... Sie wissen es selbst.«
+
+»Auch ich konnte meine Gründe haben, obwohl Sie sie nicht erfahren
+werden.«
+
+Raskolnikoff setzte den rechten Ellenbogen auf den Tisch, stützte mit
+den Fingern der rechten Hand sein Kinn und starrte unverwandt
+Sswidrigailoff an. Er betrachtete eine Weile sein Gesicht, das auch
+früher ihn stets in Staunen gesetzt hatte. Es war ein auffallendes
+Gesicht, das einer Maske zu gleichen schien, -- weiß, rotwangig, mit
+roten, purpurroten Lippen, mit einem hellblonden Barte und noch ziemlich
+dichten hellblonden Haaren. Die Augen waren zu blau und ihr Blick zu
+schwer und unbeweglich. Es lag etwas äußerst Unangenehmes in diesem
+hübschen und für sein Alter viel zu jugendlichen Gesichte.
+Sswidrigailoffs Kleidung war elegant, leicht, sommerlich; besonders
+elegant war seine Wäsche. An einem Finger hatte er einen großen Ring mit
+einem kostbaren Stein.
+
+»Ja, soll ich mich denn auch mit Ihnen abgeben,« sagte Raskolnikoff
+plötzlich, indem er mit krampfhafter Ungeduld auf sein Ziel losging,
+»obgleich Sie vielleicht der gefährlichste Mensch sind, wenn Sie Lust
+bekommen sollten, mir zu schaden, aber ich will mich nicht mehr
+verstellen und Komödie spielen. Ich will Ihnen gleich zeigen, daß ich
+gar keinen großen Wert auf meine Person lege, wie Sie wahrscheinlich
+annehmen. Wissen Sie, ich bin gekommen, Ihnen offen zu erklären, wenn
+Sie noch Ihre frühere Absicht gegenüber meiner Schwester hegen, und wenn
+Sie zu diesem Zwecke irgend etwas von dem, was Ihnen in der letzten Zeit
+bekannt geworden ist, zu benutzen gedenken, -- ich Sie eher töten werde,
+bevor Sie mich ins Gefängnis bringen. Mein Wort ist sicher, -- Sie
+wissen, daß ich es zu halten imstande bin. Zweitens, wenn Sie mir irgend
+etwas zu sagen haben, -- denn es schien mir die ganze Zeit, als wollten
+Sie mir etwas mitteilen, -- tun Sie es schnell, denn die Zeit ist
+kostbar, und vielleicht ist es sehr bald zu spät.«
+
+»Was haben Sie denn für eine Eile?« fragte Sswidrigailoff und blickte
+ihn neugierig an.
+
+»Jeder hat seine eigenen Wege,« sagte Raskolnikoff finster und
+ungeduldig.
+
+»Sie haben mich selbst soeben gebeten, offen zu sein, und die erste
+Frage lehnen Sie schon ab, zu beantworten,« bemerkte Sswidrigailoff mit
+einem Lächeln.
+
+»Ihnen scheint es immer, daß ich irgend welche Zwecke verfolgen muß und
+darum betrachten Sie mich argwöhnisch. Nun, das ist in Ihrer Lage
+vollkommen begreiflich. Aber wie sehr ich auch wünsche, mit Ihnen in
+nähere Beziehungen zu kommen, werde ich mir doch nicht die Mühe machen,
+Sie vom Gegenteile zu überzeugen. Bei Gott, es ist nicht der Mühe wert,
+und ich hatte gar nicht die Absicht, mit Ihnen über irgend etwas
+besonderes zu sprechen.«
+
+»Wozu brauchten Sie mich dann? Sie scharwenzelten doch um mich herum?«
+
+»Ganz einfach, als ein interessantes Beobachtungsobjekt. Mir gefielen
+Sie durch das Phantastische Ihrer Lage, -- das ist der Grund. Außerdem
+sind Sie der Bruder einer Persönlichkeit, die mich sehr interessierte,
+und schließlich habe ich seinerzeit von derselben Persönlichkeit sehr
+viel und oft über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie einen großen
+Einfluß auf die Dame haben; ist denn das nicht genügend Grund?
+He--he--he! Ich muß übrigens gestehen, Ihre Frage ist für mich sehr
+kompliziert, und es fällt mir etwas schwer, Ihnen darauf zu antworten.
+Nun, zum Beispiel jetzt, -- Sie sind zu mir nicht bloß wegen der einen
+Angelegenheit gekommen, sondern auch wegen etwas ganz neuem? Es stimmt
+doch? Nicht wahr?« sagte Sswidrigailoff mit einem spöttischen Lächeln.
+-- »Nun, stellen Sie sich vor, daß ich selbst, noch auf der Reise
+hierher im Eisenbahnwagen, auf Sie rechnete, daß Sie mir auch etwas
+_neues_ sagen würden, und daß es mir gelingen würde, etwas von Ihnen zu
+entlehnen! Sehen Sie, wie reich wir sind!«
+
+»Was denn entlehnen?«
+
+»Ja, was soll ich Ihnen sagen? Weiß ich etwa, -- was es ist? Sehen Sie,
+in was für einem Restaurant ich die ganze Zeit hocke, und das ist mir
+höchst unangenehm, das heißt, eigentlich nicht, aber ich muß mich doch
+irgendwo hinhocken. Nun, und diese arme Katja -- haben Sie sie gesehen?
+... Wäre ich wenigstens ein Vielfresser oder ein Feinschmecker, Sie
+sehen aber selbst, was ich esse. -- (Er zeigte mit dem Finger in eine
+Ecke, wo auf einem Tischchen das Überbleibsel von einem entsetzlichen
+Beefsteak mit Kartoffeln stand.) -- Apropos, haben Sie zu Mittag
+gegessen? Ich habe etwas zu mir genommen und möchte nichts mehr. Wein,
+z. B., trinke ich gar nicht. Außer Champagner gar keinen Wein, und davon
+trinke ich auch den ganzen Abend ein einziges Glas, davon tut mir schon
+der Kopf weh. Ich habe ihn bloß bestellt, um mir auf die Beine zu
+helfen, denn ich will irgendwohin gehen, Sie sehen mich in einer
+besonderen Stimmung. Ich habe mich darum auch vorhin wie ein Schulbube
+versteckt, weil ich meinte, daß Sie mich stören werden; aber ich glaube
+-- (er zog seine Uhr hervor) -- ich kann mit Ihnen noch eine Stunde
+zusammen sein; es ist jetzt halb fünf. Glauben Sie mir, wenn ich
+wenigstens etwas wäre, sagen wir, Gutsbesitzer, Landwirt, oder Vater,
+ein Ulan, Photograph oder Journalist ... Aber nichts, ich habe gar keine
+Spezialität! Zuweilen ist mir das langweilig. Wirklich, ich glaubte, von
+Ihnen etwas neues zu hören.«
+
+»Ja, wer sind Sie denn eigentlich und warum sind Sie hierher gereist?«
+
+»Wer ich bin? Sie wissen doch, -- bin vom Adel, habe zwei Jahre in der
+Kavallerie gedient, mich dann hier in Petersburg herumgetrieben, habe
+Marfa Petrowna geheiratet und auf dem Lande gelebt. Da haben Sie meine
+Lebensbeschreibung!«
+
+»Sie sind wohl ein Spieler?«
+
+»Nein, ich bin kein Spieler. Ein Falschspieler ist kein Spieler.«
+
+»Waren Sie denn Falschspieler?«
+
+»Ja, ich war Falschspieler.«
+
+»Hat man Sie auch gefaßt?«
+
+»Es ist auch vorgekommen. Was ist dabei?«
+
+»Nun, Sie konnten doch gefordert werden ... Das bringt doch auch mehr
+Leben ins Dasein.«
+
+»Ich widerspreche Ihnen nicht und bin außerdem kein Meister im
+Philosophieren. Ich will Ihnen gestehen, daß ich mehr der Weiber wegen
+hierher gekommen bin.«
+
+»Nachdem Sie kaum Marfa Petrowna beerdigt hatten?«
+
+»Nun ja,« lächelte Sswidrigailoff mit einer frappanten Offenheit. --
+»Was ist dabei? Mir scheint, Sie finden etwas schlechtes darin, daß ich
+über die Weiber so rede.«
+
+»Das will wohl sagen, ob ich etwas schlechtes in der Unsittlichkeit
+finde oder nicht?«
+
+»In der Unsittlichkeit! Nun, Sie gehen zu weit! Übrigens aber will ich
+Ihnen zuerst im allgemeinen über die Frauen antworten. Wissen Sie, ich
+liebe gerade jetzt zu plaudern. Sagen Sie mir, wozu soll ich mich
+enthalten? Warum soll ich die Frauen lassen, wenn ich ein großer Freund
+davon bin? Sie sind doch wenigstens eine Beschäftigung.«
+
+»Also Sie rechnen hier bloß auf die Unsittlichkeit?«
+
+»Was ist dabei, ja, meinetwegen auf Unsittlichkeit. Wie Sie sich darauf
+versessen haben. Ich liebe aber wenigstens eine offene Frage. In dieser
+Unsittlichkeit ist etwas beständiges, in der Natur begründetes und der
+Phantasie nicht unterworfenes, etwas, das stets wie eine feurige Glut im
+Blute steckt, ewig anfeuert und das man lange nicht, auch mit den Jahren
+vielleicht nicht, so schnell auslöschen kann. Geben Sie doch selbst zu,
+ist das nicht eine Art von Beschäftigung?«
+
+»Wie soll man sich dabei freuen? Es ist eine Krankheit, und eine
+gefährliche.«
+
+»Ah, Sie kommen _damit_! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, wie
+auch alles, was über das Maß hinausgeht, -- und hier wird man unbedingt
+das Maß überschreiten, -- aber das ist doch, erstens, bei dem einen so,
+bei dem anderen anders, und zweitens, muß man eben wie in allem Maß
+einhalten; es ist Berechnung und eine gemeine dazu, aber was soll man
+tun? Wenn es dies nicht gäbe, müßte man sich möglicherweise erschießen.
+Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch verpflichtet ist, sich lieber zu
+langweilen, aber dennoch ...«
+
+»Könnten Sie sich erschießen?«
+
+»Aber, hören Sie!« erwiderte Sswidrigailoff mit Widerwillen. »Tun Sie
+mir den Gefallen und sprechen Sie nicht davon,« fügte er hastig hinzu
+und ohne jegliche Großtuerei, die sich in allen seinen früheren Worten
+ausprägte. Sogar sein Gesicht schien sich verändert zu haben. -- »Ich
+gestehe diese unverzeihliche Schwäche ein, aber was soll ich tun, -- ich
+fürchte den Tod und liebe nicht, daß man darüber spricht. Wissen Sie,
+ich bin teilweise Mystiker?«
+
+»Ah! Die Erscheinungen von Marfa Petrowna! Wie, kommt sie noch immer?«
+
+»Ach, erinnern Sie mich nicht daran; in Petersburg ist es noch nicht
+vorgekommen; und hol der Teufel die Erscheinungen!« rief er mit
+gereizter Miene aus. -- »Nein, wir wollen lieber über ... ja übrigens
+... Hm! Ach, ich habe zu wenig Zeit, kann nicht lange bei Ihnen bleiben,
+es ist schade! Ich hätte Ihnen etwas mitzuteilen.«
+
+»Was, ist es eine Frau, die Sie erwartet?«
+
+»Ja, eine Frau, ein ganz unerwarteter Zufall ... nein, ich meine nicht
+das.«
+
+»Nun, und die Schändlichkeit dieser ganzen Umgebung wirkt schon nicht
+mehr auf Sie? Sie haben schon die Kraft verloren, zu stoppen?«
+
+»Sie machen auch Ansprüche an Kraft? He--he! Sie haben mich soeben
+überrascht, Rodion Romanowitsch, obwohl ich im voraus wußte, daß es so
+kommen werde. Sie reden mit mir über Unsittlichkeit und über Ästhetik!
+Sie -- ein Schiller, Sie -- ein Idealist! Dies alles muß natürlich so
+sein, und man müßte erstaunt sein, wenn es anders wäre, aber trotzdem
+ist etwas merkwürdiges vor der Wirklichkeit ... Ach, schade, daß ich so
+wenig Zeit habe, Sie sind ein äußerst interessantes Subjekt! Ja,
+nebenbei gefragt, lieben Sie Schiller? Ich liebe ihn außerordentlich.«
+
+»Was Sie aber für ein Großtuer sind!« sagte Raskolnikoff mit einem
+gewissen Abscheu.
+
+»Ich bin es nicht, bei Gott!« antwortete Sswidrigailoff mit lautem
+Lachen, »aber ich will es nicht bestreiten, mag ich ein Großtuer sein;
+doch warum soll man auch nicht wichtigtun, wenn es harmlos ist. Ich habe
+sieben Jahre auf dem Lande bei Marfa Petrowna gelebt, schon darum freue
+ich mich zu plaudern, nachdem ich jetzt auf einen klugen Menschen wie
+Sie, -- auf einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen
+gestoßen bin, und außerdem habe ich dieses halbe Glas Wein getrunken und
+es ist mir ein bißchen zu Kopfe gestiegen. Die Hauptsache aber ist, daß
+es einen Umstand gibt, der mich sehr aufgerüttelt hat, den ich aber ...
+verschweigen werde. Wohin gehen Sie denn?« fragte Sswidrigailoff
+plötzlich erschrocken.
+
+Raskolnikoff machte Miene, sich zu erheben. Ihm wurde es schwer,
+beengend und peinlich, daß er hierher gekommen war. Von Sswidrigailoff
+hatte er die feste Meinung gewonnen, daß er der unbedeutendste und
+inhaltloseste Bösewicht der Welt sei.
+
+»Ach! Setzen Sie sich, bleiben Sie noch,« bat Sswidrigailoff, »und
+bestellen Sie sich doch wenigstens Tee. Bleiben Sie sitzen, ich will
+keinen Unsinn mehr, das heißt, über mich schwatzen. Ich will Ihnen etwas
+erzählen. Wollen Sie? Ich werde Ihnen erzählen, wie mich eine Frau, um
+in Ihrem Stile zu reden, >retten wollte<? Das wird sogar eine Antwort
+auf Ihre erste Frage sein, weil diese Dame -- Ihre Schwester ist. Darf
+ich erzählen? Wir schlagen auch die Zeit damit tot.«
+
+»Erzählen Sie, aber ich hoffe, Sie ...«
+
+»Oh, seien Sie ruhig! Außerdem kann Awdotja Romanowna sogar bei solch
+einem schlimmen und oberflächlichen Menschen, wie ich, bloß die höchste
+Achtung hervorrufen.«
+
+
+ IV.
+
+»Sie wissen vielleicht, -- ich habe es Ihnen übrigens selbst erzählt,«
+begann Sswidrigailoff, »daß ich hier im Schuldgefängnis wegen ungeheurer
+Schulden saß, ohne die geringste Aussicht, sie zu tilgen. Es lohnt sich
+nicht, die Einzelheiten zu erwähnen, wie mich damals Marfa Petrowna
+loskaufte; wissen Sie, bis zu welcher Bewußtlosigkeit eine Frau sich
+zuweilen verlieben kann? Sie war eine ehrliche, ziemlich kluge, obwohl
+vollkommen ungebildete Frau. Stellen Sie sich vor, daß diese
+eifersüchtige und ehrliche Frau nach vielen schrecklichen Wutausbrüchen
+und Vorwürfen sich entschlossen hatte, mit mir sozusagen einen Vertrag
+abzumachen, den sie während unserer Verheiratung erfüllte. Die Sache war
+die, daß sie bedeutend älter war als ich, und außerdem ständig eine
+Gewürznelke im Munde hatte. Ich hatte in meiner Seele trotz aller
+Gemeinheit so viel Ehrlichkeit, ihr offen zu erklären, daß ich ihr
+vollkommene Treue nicht halten könne. Dieses Geständnis versetzte sie in
+Wut, aber meine grobe Offenheit schien ihr in gewisser Weise gefallen zu
+haben. >Er will also selbst nicht betrügen,< dachte sie, >wenn er im
+voraus es in dieser Weise erklärt,< -- nun, und für eine eifersüchtige
+Frau ist es das wichtigste. Nach vielen Tränen kam zwischen uns
+folgender mündlicher Vertrag zustande, -- erster Punkt, ich werde Marfa
+Petrowna nie verlassen und stets ihr Mann bleiben; zweitens, ohne ihre
+Erlaubnis werde ich nirgendwohin verreisen; drittens, eine ständige
+Geliebte werde ich mir nie anschaffen; viertens, dagegen gestattet mir
+Marfa Petrowna, mir zuweilen eine von den Stubenmädchen auszusuchen,
+jedoch nicht anders, als mit ihrem geheimen Wissen; fünftens, Gott soll
+mich behüten, daß ich mich in eine Frau aus unserem Stande verliebe;
+sechstens, falls aber, was Gott verhüte, mich irgend eine große und
+ernste Leidenschaft heimsuchen sollte, muß ich mich Marfa Petrowna
+anvertrauen. In Bezug auf den letzten Punkt war Marfa Petrowna übrigens
+die ganze Zeit ziemlich ruhig; sie war eine kluge Frau, und folglich
+konnte sie mich nicht anders, als für einen liederlichen und
+lasterhaften Menschen, betrachten, der nicht imstande ist, sich
+ernstlich zu verlieben. Aber eine kluge Frau und eine eifersüchtige Frau
+sind zwei verschiedene Dinge, und das ist ein Unglück. Übrigens, um
+unparteiisch über einige Menschen urteilen zu können, muß man sich
+vorher von manchen voreingenommenen Ansichten und von der alltäglichen
+Gewöhnung an die uns umgebenden Menschen und Gegenstände lossagen. Ich
+habe ein Recht, auf Ihr Urteil mehr, als von jemanden anderen, zu
+hoffen. Vielleicht haben Sie schon sehr viel lächerliches und unsinniges
+über Marfa Petrowna gehört. In der Tat, sie hatte manche lächerliche
+Angewohnheit, aber ich will Ihnen offen sagen, daß ich die zahllosen
+Bekümmernisse, die ich ihr verursacht habe, aufrichtig bedauere. Das
+scheint für einen sehr anständigen _Oraison funèbre_{[17]} der
+zärtlichsten Frau von dem zärtlichsten Manne zu genügen. Bei unseren
+Streitigkeiten schwieg ich meistenteils und war nicht gereizt, und
+dieses gentlemanlike Benehmen erreichte fast stets das Ziel; es wirkte
+auf sie und gefiel ihr sogar; es gab auch Fälle, wo sie sogar auf mich
+stolz war. Aber Ihr Fräulein Schwester hat sie trotzdem nicht ertragen.
+Und wie war es möglich, daß sie riskiert hatte, solch eine Schönheit in
+ihr Haus als Gouvernante zu nehmen! Ich erkläre es mir dadurch, daß
+Marfa Petrowna eine feurige und empfängliche Frau war, und daß sie sich
+ganz einfach selbst in Ihre Schwester verliebt, -- buchstäblich verliebt
+hatte. Nun, und Awdotja Romanowna hat selbst den ersten Schritt getan,
+-- ob Sie mir glauben oder nicht? Können Sie sich denken, daß Marfa
+Petrowna sogar zuerst auf mich wegen meines ständigen Schweigens über
+Ihre Schwester böse wurde, weil ich mich gegen ihre ewigen und
+verliebten Lobsprüche auf Awdotja Romanowna gleichgültig verhielt? Ich
+begreife selbst nicht, was sie eigentlich wollte! Und selbstverständlich
+erzählte Marfa Petrowna alles, meine ganze Vergangenheit Awdotja
+Romanowna. Sie hatte die unglückliche Eigenschaft, allen unsere ganzen
+Familiengeheimnisse zu erzählen und vor allen ständig über mich zu
+klagen; wie sollte sie da solch eine neue und schöne Freundin damit
+verschonen? Ich nehme selbst an, daß zwischen ihnen kein anderes
+Gespräch geführt wurde, als über mich, und zweifellos bekam Awdotja
+Romanowna alle diese finsteren geheimnisvollen Märchen zu hören, die
+über mich im Umlauf sind ... Ich wette, daß Sie auch irgend etwas
+derartiges schon gehört haben.«
+
+»Ich habe etwas gehört. Luschin beschuldigte Sie, daß Sie sogar die
+Ursache des Todes eines Kindes waren. Ist es wahr?«
+
+»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich mit allen diesen
+Abgeschmacktheiten in Ruhe,« sagte Sswidrigailoff mit Abscheu und Ekel,
+»wenn Sie unbedingt wünschen, über diesen ganzen Unsinn näheres zu
+erfahren, will ich es Ihnen einmal erzählen, jetzt aber ...«
+
+»Man sprach auch von einem Diener auf Ihrem Gute und daß Sie angeblich
+auch die Ursache ...«
+
+»Tun Sie mir den Gefallen, genug davon!« unterbrach ihn Sswidrigailoff
+von neuem mit sichtbarer Ungeduld.
+
+»Ist das nicht derselbe Diener, der Ihnen nach seinem Tode die Pfeife
+stopfen wollte ... Sie haben mir noch selbst davon erzählt?« fuhr
+Raskolnikoff immer gereizter fort.
+
+Sswidrigailoff blickte Raskolnikoff aufmerksam an, und jenem schien es,
+daß in diesem Blicke, gleich einem Blitze, ein boshaftes Lächeln
+aufzuckte, Sswidrigailoff aber bemeisterte sich und antwortete sehr
+höflich:
+
+»Es ist derselbe. Ich sehe, daß auch dies alles Sie außerordentlich
+interessiert, und werde es für meine Pflicht halten, bei der ersten
+besten Gelegenheit Ihre Neugier in allen Punkten zu befriedigen. Zum
+Teufel! Ich sehe, daß ich tatsächlich jemand als eine romantische Person
+erscheinen kann. Beurteilen Sie selbst, wie dankbar ich der verstorbenen
+Marfa Petrowna sein muß, daß sie Ihrem Fräulein Schwester so viel
+Geheimnisvolles und Interessantes über mich erzählt hatte. Ich nehme mir
+nicht die Freiheit, über den Eindruck zu urteilen, aber in jedem Falle
+war es für mich vorteilhaft. Bei dem ganzen natürlichen Widerwillen
+Awdotja Romanownas gegen mich und trotz meines ständigen finsteren und
+abstoßenden Aussehens -- tat ich ihr endlich leid, tat ihr der verlorene
+Mensch leid. Wenn aber dem Herzen eines jungen Mädchens etwas _leid
+tut_, ist dies selbstverständlich für sie am gefährlichsten. Da bekommt
+man unbedingt Lust >zu retten<, aufzurütteln, zu überzeugen, zu edleren
+Zielen zu rufen und zu neuem Leben und neuer Tätigkeit zu erwecken, --
+nun, es ist bekannt, was man in dieser Art zusammenträumen kann. Ich
+habe sofort gemerkt, daß das Vögelchen selbst ins Netz fliegt, und habe
+mich meinerseits vorbereitet. Sie scheinen mir das Gesicht zu verziehen,
+Rodion Romanowitsch? Hat nichts auf sich, die Sache hat, wie Sie wissen,
+mit Kleinigkeiten geendet. -- Zum Teufel, wie viel Wein ich heute
+trinke! -- Wissen Sie, ich bedauerte immer von Anfang an, daß es Ihrer
+Schwester nicht vergönnt war, im zweiten oder dritten Jahrhundert
+unserer Zeitrechnung irgendwo als Tochter eines kleinen regierenden
+Fürsten oder eines Regenten oder eines Prokonsuls in Kleinasien zur Welt
+zu kommen. Sie würde zweifellos eine von jenen gewesen sein, die das
+Martyrium erduldet haben, und sie hätte sicher gelächelt, wenn man ihr
+die Brust mit glühenden Zangen gebrannt hätte. Sie hätte dies
+absichtlich auf sich genommen, im vierten oder fünften Jahrhundert aber
+würde sie in eine Wüste von Ägypten gegangen sein, hätte dort dreißig
+Jahre gelebt und sich von Wurzeln, Verzückung und Erscheinungen genährt.
+Sie dürstet bloß und verlangt darnach, irgend eine Marter für jemand auf
+sich zu nehmen, wenn man ihr aber diese Marter nicht geben wird, so
+springt sie möglicherweise zum Fenster hinaus. Ich habe etwas von einem
+Herrn Rasumichin gehört. Man sagt, er sei ein vernünftiger Bursche,
+worauf auch sein Familienname deutet, wahrscheinlich aus dem geistlichen
+Stande, nun mag er Ihre Schwester hüten. Mit einem Worte, mir scheint
+es, ich habe sie verstanden, was ich auch mir als eine Ehre anrechne.
+Damals aber, das heißt am Anfang der Bekanntschaft, wie Sie selbst
+wissen, ist man immer leichtsinniger und dümmer, sieht vieles im
+falschen Lichte, sieht nicht das richtige. Zum Teufel, warum ist sie
+auch so schön? Ich habe keine Schuld! Mit einem Worte, es begann bei mir
+mit einer sehr starken wollüstigen Neigung. Awdotja Romanowna ist
+unbeschreiblich und unerhört keusch. Merken Sie sich, ich teile Ihnen
+dieses als eine Tatsache über Ihre Schwester mit. Sie ist vielleicht bis
+zur Krankhaftigkeit keusch, trotz ihres ganzen großen Verstandes, und
+das wird ihr schaden. Bei uns tauchte ein Mädchen Parascha, die
+schwarzäugige Parascha auf, die man soeben von einem anderen Gute zu uns
+gebracht hatte, als Stubenmädchen, und die ich vorher nie gesehen hatte,
+-- sie war sehr hübsch, aber unglaublich dumm, -- sie weinte, erhob über
+den ganzen Hof ein Geheul und es passierte ein Skandal. Eines Tages
+suchte Awdotja Romanowna nach dem Essen mich absichtlich allein in einer
+Allee im Garten auf und _verlangte_ von mir mit blitzenden Augen, daß
+ich die arme Parascha in Ruhe lassen sollte. Das war beinahe unser
+erstes Gespräch zu zweien. Ich hielt es selbstverständlich für eine
+Ehre, ihrem Wunsche nachzukommen, versuchte mich überrascht, beschämt zu
+stellen, nun, mit einem Worte, ich spielte meine Rolle nicht übel. Es
+begannen Beziehungen, geheimnisvolle Gespräche, Moralpredigten, Bitten,
+Flehen, sogar Tränen, -- können Sie es glauben, sogar Tränen! Sehen Sie,
+wie stark und weit bei manchen jungen Mädchen die Leidenschaft
+Propaganda machen geht! Ich schob selbstverständlich alles auf mein
+Schicksal, stellte mich hin als einen nach Erleuchtung Hungernden und
+Dürstenden, und schließlich machte ich von dem größten und
+unerschütterlichen Mittel, Frauenherzen zu erobern, Gebrauch, von dem
+Mittel, das nie und nimmer trügt und das entschieden auf alle, ohne jede
+Ausnahme, wirkt. Es ist ein bekanntes Mittel -- die Schmeichelei. Es
+gibt nichts schwereres in der Welt, als offener Freimut, und nichts
+leichteres, als Schmeichelei. Wenn im Freimut bloß ein hundertster Teil
+des Tones falsch ist, so tritt sofort eine Dissonanz und nach ihr -- ein
+Skandal ein. Wenn aber in der Schmeichelei alles, bis zum geringsten
+Tone falsch ist, auch dann ist sie angenehm und wird mit Vergnügen
+angehört, und wenn auch mit grobem Vergnügen, so doch mit Vergnügen. Und
+mag die Schmeichelei noch so derb sein, so wird doch unbedingt
+wenigstens die Hälfte als Wahrheit geglaubt. Und das gilt für alle
+Entwicklungsstufen und Schichten der Gesellschaft. Sogar eine Vestalin
+kann man durch Schmeichelei verführen. Von gewöhnlichen Menschen lohnt
+sich nicht mal zu reden. Ich kann mich nicht ohne Lachen daran erinnern,
+wie ich einmal eine Dame, die ihrem Manne, ihren Kindern und ihren
+Tugenden ergeben war, verführt habe. Wie amüsant es war und wie wenig
+Arbeit es mir machte! Die Dame war tatsächlich tugendhaft, wenigstens in
+ihrer Art. Meine ganze Taktik bestand darin, daß ich jeden Augenblick
+von ihrer Keuschheit einfach erdrückt war und mich davor in den Staub
+warf. Ich schmeichelte ihr gottlos und kaum, wenn ich von ihr einen
+Händedruck, selbst einen Blick erhaschte, machte ich mir Vorwürfe, daß
+ich dies ihr mit Gewalt abgenötigt habe, daß sie sich dem widersetzt,
+sich dem so widersetzt habe, daß ich sicher nie etwas von ihr erlangt
+hätte, wenn ich selbst nicht so verdorben wäre, daß sie in ihrer
+Unschuld meine Arglist nicht vorgesehen habe und unabsichtlich, ohne es
+selbst zu wissen und zu ahnen, mir entgegengekommen wäre, und
+dergleichen mehr. Mit einem Worte, ich erreichte alles, meine Dame aber
+blieb im höchsten Grade davon überzeugt, daß sie unschuldig und keusch
+wäre und alle Pflichten und Schuldigkeiten erfüllt habe, daß sie aber
+zufällig gefallen war. Und wie böse wurde sie auf mich, als ich ihr zu
+guter Letzt erklärte, daß meiner aufrichtigen Überzeugung nach, sie
+ebenso, wie ich, einen Genuß gesucht habe. Die arme Marfa Petrowna war
+auch schrecklich empfänglich für Schmeichelei, wenn ich nur gewollt
+hätte, so hätte sie sicher ihr ganzes Vermögen auf meinen Namen noch bei
+ihren Lebzeiten umgeschrieben. -- Jedoch, ich trinke viel Wein und
+schwatze. -- Ich hoffe, Sie werden nicht böse werden, wenn ich jetzt
+erwähne, daß sich auch bei Awdotja Romanowna dasselbe Resultat zu zeigen
+begann. Ich war aber selbst dumm und ungeduldig und habe die ganze Sache
+verdorben. Awdotja Romanowna mißfiel furchtbar der Ausdruck meiner
+Augen, schon einige Male vorher, -- das eine Mal aber ganz besonders, --
+glauben Sie es? Mit einem Worte, in meinen Augen leuchtete immer stärker
+und unvorsichtiger ein gewisses Feuer, das sie bange machte und ihr
+schließlich verhaßt wurde. Die Einzelheiten lohnen sich nicht zu
+erzählen, aber wir kamen auseinander. Da machte ich wieder eine
+Dummheit. Ich begann in der gröbsten Weise alle diese Propaganda und
+Bekehrungen zu verhöhnen; Parascha erschien wieder auf der Bildfläche,
+und nicht allein sie, -- mit einem Worte, es begann ein Sodom. Ach,
+Rodion Romanowitsch, wenn Sie nur ein einziges Mal im Leben die Augen
+Ihrer Schwester gesehen hätten, wie sie zuweilen zu blitzen verstehen!
+Es tut nichts, daß ich jetzt betrunken bin und schon ein ganzes Glas
+Wein getrunken habe, ich sage die Wahrheit; ich versichere Sie, daß ich
+von diesem Blicke träumte; ich konnte schließlich nicht mehr das
+Rauschen ihres Kleides ertragen. Ich dachte in der Tat, daß ich die
+Fallsucht bekomme, nie habe ich es mir träumen lassen, daß ich so außer
+mir geraten könne. Mit einem Worte, es war notwendig Frieden zu
+schließen, aber es war schon unmöglich. Und stellen Sie sich vor, was
+ich dann tat? Bis zu welchem Stumpfsinn die rasende Wut einen Menschen
+bringen kann! Unternehmen Sie niemals etwas in rasender Wut, Rodion
+Romanowitsch. In der Annahme, daß Awdotja Romanowna im Grunde genommen
+bettelarm ist -- (ach, entschuldigen Sie, ich wollte nicht das sagen ...
+ist es aber nicht einerlei, wenn es nur einen Begriff wiedergibt?) --
+mit einem Worte, daß sie von ihrer Hände Arbeit lebt, -- daß sie ihre
+Mutter und Sie unterhalten muß -- (ach, zum Teufel, Sie verziehen wieder
+Ihr Gesicht ...) -- beschloß ich ihr mein ganzes Geld anzubieten, -- ich
+konnte damals etwa dreißigtausend realisieren, -- damit sie mit mir --
+nun, meinetwegen, -- hierher nach Petersburg fliehen solle. Es versteht
+sich, daß ich ihr dabei ewige Liebe, Seligkeit und dergleichen mehr
+geschworen habe. Können Sie mir glauben, daß ich damals so von ihr
+benommen war, daß, hätte sie zu mir gesagt, -- ermorde oder vergifte
+Marfa Petrowna und heirate mich, -- ich es sofort getan hätte! Alles
+aber endete mit der Ihnen schon bekannten Katastrophe, und Sie können
+sich selbst ausmalen, in was für eine Wut ich geriet, als ich erfuhr,
+daß Marfa Petrowna damals diese gemeine Schreiberseele Luschin
+aufgegabelt und beinahe die Heirat zustande gebracht hatte, -- was im
+Grunde genommen dasselbe gewesen wäre, was auch ich anbot. Ist es etwa
+nicht so? Ist es nicht dasselbe? Nicht wahr, es ist dasselbe? Ich merke,
+daß Sie mir zu aufmerksam zuhören ... interessierter junger Mann ...«
+
+Sswidrigailoff schlug voll Ungeduld mit der Faust auf den Tisch. Er war
+rot geworden. Raskolnikoff sah deutlich, daß das eine oder die
+anderthalb Glas Champagner, den er unmerklich in kleinen Schlucken
+getrunken hatte, krankhaft auf ihn gewirkt hatten, -- und beschloß diese
+Gelegenheit wahrzunehmen. Sswidrigailoff erschien ihm sehr verdächtig.
+
+»Nach all dem Gesagten bin ich völlig überzeugt, daß Sie auch hierher
+gereist sind, weil Sie meine Schwester im Auge haben,« sagte er zu
+Sswidrigailoff offen und ohne sich zu verstellen, um ihn nur noch mehr
+zu reizen.
+
+»Ach, lassen Sie es,« Sswidrigailoff schien sich plötzlich
+zusammenzunehmen, »ich habe Ihnen schon gesagt ... und außerdem kann
+Ihre Schwester mich gar nicht leiden.«
+
+»Ja, davon bin ich auch überzeugt, daß sie es nicht kann, aber es
+handelt sich jetzt nicht darum.«
+
+»Sind Sie wirklich überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?«
+Sswidrigailoff kniff die Augen zusammen und lächelte spöttisch. -- »Sie
+haben recht, sie liebt mich nicht, aber übernehmen Sie nie eine
+Gewährleistung in Dingen, die zwischen einem Manne und einer Frau oder
+zwischen einem Liebhaber und seiner Geliebten vorgefallen sind. Es gibt
+hier stets einen Winkel, der immer der ganzen Welt verborgen bleibt, und
+der nur den beiden bekannt ist. Übernehmen Sie die Gewährleistung, daß
+Awdotja Romanowna mich stets mit Widerwillen angeschaut hat?«
+
+»Ich merke aus einigen Ihrer Worte und Andeutungen während Ihrer
+Erzählung, daß Sie auch jetzt noch unbedingt Absichten gegen Dunja
+haben, und selbstverständlich gemeiner Natur.«
+
+»Wie! Mir sollten solche Worte und Andeutungen entschlüpft sein?« sagte
+erschreckt Sswidrigailoff und in der naivsten Weise, ohne dem Epitheton,
+der seinen Absichten beigelegt worden war, die geringste Beachtung zu
+schenken.
+
+»Auch jetzt entschlüpften sie Ihnen. Warum fürchten Sie sich so? Worüber
+erschraken Sie jetzt plötzlich?«
+
+»Ich soll mich fürchten und erschrocken sein? Soll ich etwa vor Ihnen
+erschrocken sein? Eher haben Sie Grund, mich zu fürchten, _cher
+ami_{[18]}. Ach, was für Unsinn ... Ich bin berauscht, ich sehe es;
+beinahe hätte ich mich wieder versprochen. Der Teufel soll den Wein
+holen! Heda, Wasser!«
+
+Er packte die Flasche und schleuderte sie ohne viel Federlesens zum
+Fenster hinaus. Philipp brachte ihm Wasser.
+
+»Dies alles ist Unsinn,« sagte Sswidrigailoff, indem er ein Handtuch
+anfeuchtete und es an den Kopf hielt, -- »ich kann Sie aber mit einem
+einzigen Worte zurückweisen und Ihren ganzen Verdacht zunichte machen.
+Wissen Sie zum Beispiel, daß ich heirate?«
+
+»Sie haben es mir schon erzählt!«
+
+»Habe ich es? Das hatte ich vergessen. Damals aber konnte ich es noch
+nicht mit Bestimmtheit sagen, denn ich hatte die Braut gar nicht
+gesehen; ich hatte bloß die Absicht. Jetzt aber habe ich schon eine
+Braut und die Sache ist beschlossen, und wenn ich bloß nicht etwas
+Unaufschiebbares zu tun hätte, würde ich Sie unbedingt und sofort zu
+einem Besuche dort mitnehmen, -- denn ich möchte Sie um Rat fragen. Ach,
+zum Teufel! Ich habe bloß zehn Minuten übrig. Sie sehen selbst nach der
+Uhr; ich will es Ihnen übrigens erzählen, denn meine Heirat ist auch
+eine interessante Sache, in ihrer Art, versteht sich, -- wohin wollen
+Sie? Wollen Sie wieder fortgehen?«
+
+»Nein, jetzt gehe ich schon nicht mehr fort.«
+
+»Sie wollen gar nicht fortgehen? Nun, wir wollen es sehen! Ich werde Sie
+mitnehmen und Ihnen die Braut zeigen, das ist wahr, aber bloß nicht
+jetzt; es ist bald Zeit für Sie zu gehen. Sie gehen nach rechts und ich
+nach links. Kennen Sie diese Rößlich? Ich meine, dieselbe Rößlich, bei
+der ich jetzt wohne, -- ah? Hören Sie? Nein, denken Sie sich, ich meine
+dieselbe, von der man erzählt, daß das kleine Mädchen damals im Winter
+... Nun, hören Sie! Hören Sie? Sie ist es auch, die mir diese Geschichte
+arrangiert hat; du langweilst dich, -- sagte sie, -- zerstreue dich ein
+wenig. Ich bin aber ein finsterer, langweiliger Mensch. Sie meinen, ich
+sei fröhlich? Nein, ich bin finster, -- ich füge niemandem Schaden zu,
+sitze in der Ecke, und zuweilen kann man mich drei Tage nicht zum Reden
+bringen. Die Rößlich ist eine Spitzbübin, sage ich Ihnen; sie hat dabei
+folgendes im Sinn, -- mir wird es überdrüssig werden, ich werde meine
+Frau verlassen und fortreisen, meine Frau wird dann ihr zufallen, und
+sie wird sie in unseren Kreisen und höher hinauf in Umsatz bringen. Sie
+sagte mir, -- es gibt solch einen gelähmten Vater, einen verabschiedeten
+Beamten, der im Sessel sitzt und das dritte Jahr die Beine nicht rühren
+kann; auch eine Mutter ist da, eine sehr vernünftige Dame; der Sohn
+dient irgendwo in der Provinz, hilft ihr aber nicht; die eine Tochter
+ist verheiratet, sucht aber die Eltern nicht mehr auf; die Eltern haben
+für zwei kleine Neffen zu sorgen -- da sie an ihren eigenen Sorgen nicht
+genug hatten, -- und haben ihre letzte Tochter, ohne daß sie den Kursus
+absolviert hat, aus der Schule genommen; sie werde nach einem Monat erst
+sechzehn Jahre alt, also könnte man sie auch nach einem Monat
+verheiraten. Ich sollte sie also heiraten. Wir fuhren hin; wie bei ihnen
+alles lächerlich zuging; ich stellte mich vor, -- Gutsbesitzer, Witwer,
+aus bekannter Familie, mit den und den Verbindungen, vermögend, -- nun,
+was ist dabei, daß ich fünfzig Jahre alt bin und jene nicht mal
+sechzehn? Wer achtet darauf? Nun, es ist doch verlockend, ah? Nicht
+wahr, es ist verlockend, ha! ha! ha! Sie sollten mich gesehen haben, wie
+ich mich mit dem Papa und der Mama unterhalten habe! Man müßte etwas
+dafür bezahlen, um mich nur damals gesehen zu haben. Sie kommt endlich,
+macht einen Knicks, nun, können Sie sich vorstellen, sie war noch in
+kurzem Kleidchen, eine noch unaufgebrochene Knospe, sie errötete,
+flammte wie die Morgenröte auf -- man hat ihr selbstverständlich alles
+mitgeteilt. Ich weiß nicht, wie Sie sich zu Frauengesichtern stellen,
+aber meiner Ansicht nach sind diese sechzehn Jahre, diese noch
+kindlichen Augen, diese Verlegenheit und Tränen der Beschämtheit --
+besser als jede Schönheit, und sie ist außerdem wie ein Bild. Hellblonde
+Haare, in kleinen Locken gekräuselt, volle, rote kleine Lippen, Füßchen
+-- mit einem Worte reizend! ... Nun, ich wurde also dort bekannt,
+erklärte, daß ich es infolge häuslicher Angelegenheiten eilig habe, und
+am anderen Tage, also vorgestern, erhielten wir den Segen. Seit dem
+Tage, wenn ich bloß hinkomme, nehme ich sie sofort auf meinen Schoß und
+lasse sie nicht herunter ... Nun, sie errötet, ich aber küsse sie alle
+Augenblicke; die Mama sagt ihr selbstverständlich, daß ich ihr Mann sei
+und daß es sich so gehöre, mit einem Worte, ich habe es dort
+ausgezeichnet. Und meine jetzige Lage als Bräutigam ist vielleicht auch
+besser, als die eines verheirateten Mannes. Hier ist, was man _la nature
+et la vérité_{[19]} nennt! Ha! Ha! Ich habe mich mit ihr ein paarmal
+unterhalten, -- das Mädel ist gar nicht dumm; zuweilen blickt sie mich
+so verstohlen an, -- daß es mich einfach durchschauert. Wissen Sie, sie
+hat ein Gesicht wie die Madonna von Raphael. Die Sixtinische Madonna hat
+doch ein phantastisches Gesicht, das Gesicht einer leidenden, im
+heiligen Wahne befangenen, ist Ihnen das nicht aufgefallen? Nun, sie hat
+ein Gesicht von dieser Art. Kaum hatte man uns den Segen erteilt, als
+ich am anderen Tage ihr für anderthalb Tausend Geschenke mitbrachte, --
+einen Brillantenschmuck, ein Perlenhalsband und einen silbernen
+Toilettenkasten für Damen -- von dieser Größe, mit allerhand Dingen
+darin, so daß ihr Gesichtchen, das Madonnengesichtchen, errötete. Ich
+setzte sie gestern auf meinen Schoß hin, habe es aber wahrscheinlich zu
+ungeniert getan, -- sie errötete ganz und gar und Tränen kamen zum
+Vorschein, sie wollte sich aber nicht verraten und brannte wie im
+Fieber. Alle gingen auf einen Augenblick, ich blieb mit ihr ganz allein
+zurück, plötzlich fiel sie mir -- zum ersten Male von selbst -- um den
+Hals, umarmte mich mit ihren Händchen, küßte mich und schwur, daß sie
+mir eine folgsame, treue und gute Frau sein werde, daß sie mich
+glücklich machen wolle, daß sie ihr ganzes Leben, jeden Augenblick ihres
+Lebens dazu verwenden und alles, alles opfern werde, dafür wünscht sie
+bloß _meine Achtung allein_ zu besitzen und weiter, -- sagte sie
+>brauche ich nichts, gar nichts, keine Geschenke.< Geben Sie selbst zu,
+daß ein derartiges Geständnis unter vier Augen von solch einem
+sechzehnjährigen Engel mit jungfräulicher Schamröte und enthusiastischen
+Tränen in den Augen anzuhören, -- ziemlich verlockend ist? Nicht wahr,
+es ist verlockend? Es ist doch etwas wert, ah? Nicht wahr? Nun ... nun
+hören Sie ... fahren wir zu meiner Braut hin ... aber nicht sofort!«
+
+»Mit einem Worte, dieser unerhörte Unterschied im Alter und in der
+Entwicklung erregt gerade in Ihnen die Wollust! Und Sie wollen sie
+tatsächlich heiraten?«
+
+»Wieso? Ich heirate sie unbedingt. Jeder sorgt für sich selbst, und am
+lustigsten von allen lebt der, welcher es am besten von allen versteht,
+sich selbst zu betrügen. Ha! ha! Haben Sie sich in die Tugend denn ganz
+vernarrt? Erbarmen Sie sich meiner, Väterchen, ich bin ein sündhafter
+Mensch. He! he! he!«
+
+»Sie haben doch die Kinder von Katerina Iwanowna untergebracht und
+versorgt. Übrigens ... übrigens Sie hatten dazu Ihre Gründe ... ich
+begreife jetzt alles.«
+
+»Kinder habe ich überhaupt gern, ich liebe Kinder sehr,« lachte
+Sswidrigailoff. -- »In dieser Hinsicht kann ich Ihnen sogar ein sehr
+interessantes Erlebnis erzählen, das auch jetzt noch nicht zu Ende ist.
+Am ersten Tage nach meiner Ankunft ging ich in all diesen Kloaken herum,
+nun -- nach sieben Jahren stürzte ich mich hinein. Sie haben
+wahrscheinlich gemerkt, daß ich keine Eile habe, den Verkehr mit den
+früheren Freunden und Bekannten aufzunehmen. Und ich will noch möglichst
+lange ohne sie auskommen. Wissen Sie, -- bei Marfa Petrowna auf dem
+Lande haben mich die Erinnerungen an alle diese geheimnisvollen Orte und
+Winkel, in denen einer vieles finden kann, der es kennt, bis zu Tode
+gequält. Hol der Teufel! Das Volk säuft, die gebildete Jugend geht vor
+Nichtstun in unmöglichen Träumen und Phantasien auf, wird vor lauter
+Theorien zum Krüppel; irgendwoher sind Juden herbeigeströmt und sammeln
+Geld, alles übrige aber ergibt sich der Unzucht. Von den ersten Stunden
+an wehte mich auch von dieser Stadt ein bekannter Geruch an. Ich geriet
+zu einem sogenannten Tanzabend, -- in einer entsetzlichen Kloake -- ich
+liebe aber gerade die Kloaken mit etwas Schmutz, -- und
+selbstverständlich wurde kankaniert, wie man eigentlich nirgends
+kankaniert, und wie man es zu meiner Zeit noch nicht tat. Ja, darin ist
+Fortschritt. Plötzlich sehe ich ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren,
+sehr nett angezogen, wie sie mit einem Subjekt tanzt; ein anderer, als
+ihr vis-a-vis. An der Wand auf einem Stuhle sitzt ihre Mutter. Sie
+können sich vorstellen, wie kankaniert wurde! Das Mädchen wurde
+beschämt, verlegen, errötete, schließlich faßte sie es als Kränkung auf
+und begann zu weinen. Das Subjekt erfaßt sie, fängt an sie
+herumzuschwenken und vor ihr zu tanzen, ringsum lachen alle und -- ich
+habe das Publikum in solchen Augenblicken gern, mag es auch ein
+kankanierendes Publikum sein, -- schreien, -- >Geschieht mit Recht! Man
+soll keine Kinder hierherbringen!< Nun, ich pfiff darauf und mich ging
+es auch nichts an, ob sie sich logisch oder unlogisch, diese Menschen
+da, trösteten! Ich hatte mir meinen Plan sofort zurechtgelegt, setzte
+mich neben die Mutter hin und begann damit, daß ich auch fremd wäre, daß
+hier alle so unerzogen wären, daß sie nicht verstünden, wahre Vorzüge zu
+unterscheiden und die gebührende Achtung zu bewahren. Ich gab zu
+verstehen, daß ich viel Geld hätte, schlug vor, in meinem Wagen sie nach
+Hause zu bringen. Ich geleitete sie nach Hause und wurde mit ihnen
+bekannt, sie sind soeben angekommen und leben in einem kleinen
+möblierten Zimmer. Man teilte mir mit, daß sie meine Bekanntschaft, wie
+sie, so auch die Tochter bloß als eine große Ehre auffassen könnten; ich
+erfuhr, daß sie weder Haus noch Hof haben, und daß sie gekommen sind, um
+in irgend einer Behörde eine Sache durchzuführen; ich bot ihnen meine
+Dienste und Geld an; ich erfuhr auch, daß sie irrtümlicherweise zu
+diesem Tanzabend hingefahren sind, in der Annahme, daß man dort
+tatsächlich tanzen lehre. Ich bot meinerseits an, zu der Erziehung des
+jungen Mädchens beizutragen, sie französischen Unterricht und
+Tanzstunden nehmen zu lassen. Man nimmt es mit Begeisterung auf, hält es
+für eine Ehre, und ich verkehre bei ihnen noch immer. -- Wollen Sie mit
+mir zu ihnen hinfahren? -- Aber nicht gleich.«
+
+»Lassen Sie, lassen Sie Ihre niederträchtigen, gemeinen Anekdoten, Sie
+verdorbener, gemeiner, wollüstiger Mensch!«
+
+»Sehen Sie mal den Schiller, unsern Schiller! _Où va-t-elle la vertu se
+nicher?_{[20]} Wissen Sie, ich will Ihnen absichtlich solche Dinge
+erzählen, um Sie aufschreien zu hören. Es ist ein Genuß!«
+
+»Und ob, bin ich mir denn jetzt nicht selbst lächerlich?« murmelte
+Raskolnikoff voll Wut.
+
+Sswidrigailoff lachte aus vollem Halse; schließlich rief er Philipp,
+bezahlte seine Rechnung und begann sich fertig zu machen.
+
+»Ich bin jetzt betrunken, _assez causé_!« sagte er, »es ist ein Genuß!«
+
+»Das glaube ich,« rief Raskolnikoff aus, sich auch erhebend, »ist es
+denn für einen abgebrühten Wüstling kein Genuß, von solchen Erlebnissen
+zu erzählen, -- wobei er sich schon wieder mit unerhörten Absichten von
+derselben Art trägt, -- außerdem unter diesen Umständen und vor solch
+einem Menschen, wie ich es bin, ... das muß ein Genuß sein ... Es muß
+ihn förmlich heiß machen.«
+
+»Und wenn die Sache so ist,« antwortete Sswidrigailoff ein wenig
+verwundert und betrachtete Raskolnikoff, »wenn dem so ist, so sind Sie
+auch selbst ein großer Zyniker. Sie enthalten wenigstens in sich ein
+ungeheures Material dazu. Sie können vieles verstehen, vieles ... und,
+Sie können auch vieles tun. Jedoch, genug darüber. Ich bedauere
+aufrichtig, daß ich mich nicht länger mit Ihnen unterhalten kann, aber
+Sie entgehen mir nicht ... Warten Sie nur ...«
+
+Sswidrigailoff verließ das Restaurant. Raskolnikoff folgte ihm.
+Sswidrigailoff war nicht sehr stark berauscht; der Wein war ihm bloß auf
+einen Augenblick zu Kopf gestiegen und der Rausch verschwand mit jedem
+Augenblick mehr. Er hatte etwas äußerst wichtiges vor und sein Gesicht
+verfinsterte sich. Eine Erwartung regte ihn augenscheinlich auf und
+beunruhigte ihn. In den letzten Minuten ihres Zusammenseins wurde er
+plötzlich gegen Raskolnikoff gröber und spöttischer. Raskolnikoff hatte
+alles gemerkt und war auch in Unruhe geraten. Sswidrigailoff schien ihm
+sehr verdächtig; er beschloß ihm nachzugehen.
+
+Sie gelangten auf das Trottoir.
+
+»Sie müssen nach rechts, ich aber nach links, oder vielleicht auch
+umgekehrt, also -- _adieu bon plaisir_{[21]}, auf freudiges
+Wiedersehen!«
+
+Und er ging nach rechts dem Heumarkte zu.
+
+
+ V.
+
+Raskolnikoff folgte ihm.
+
+»Was ist das!« rief Sswidrigailoff, »ich habe Ihnen doch gesagt ...«
+
+»Das bedeutet, daß ich Ihnen jetzt folgen werde.«
+
+»Wa--as?«
+
+Beide blieben stehen und blickten einander eine Minute lang an, als ob
+sie sich messen wollten.
+
+»Aus allen Ihren halbbetrunkenen Erzählungen,« sagte Raskolnikoff
+scharf, »habe ich eins _positiv_ entnommen, daß Sie nicht bloß Ihre
+niederträchtigen Pläne gegen meine Schwester nicht aufgegeben haben,
+sondern daß Sie sich mehr als je damit abgeben. Ich weiß, daß meine
+Schwester heute früh einen Brief empfangen hat. Sie konnten die ganze
+Zeit nicht ruhig sitzen ... Sie konnten gewiß irgend eine Frau auf der
+Straße aufgegabelt haben, aber das hat nichts zu sagen. Ich will mich
+persönlich überzeugen ...«
+
+Raskolnikoff hätte schwerlich sagen können, was er jetzt wünschte, und
+wovon er sich persönlich überzeugen wollte.
+
+»So! Wollen Sie, ich werde sofort die Polizei rufen?«
+
+»Rufen Sie die Polizei!«
+
+Wieder standen sie eine Minute lang einander gegenüber. Schließlich
+veränderte sich das Gesicht Sswidrigailoffs. Nachdem er sich überzeugt
+hatte, daß Raskolnikoff seine Drohung nicht fürchtete, nahm er plötzlich
+eine sehr lustige und freundliche Miene an.
+
+»Wie sonderbar Sie sind! Ich habe absichtlich mit Ihnen kein Wort über
+Ihre Sache gesprochen, obwohl mich selbstverständlich die Neugier plagt.
+Es ist eine phantastische Geschichte. Ich hätte es bis auf ein andermal
+verschoben, aber wirklich, Sie sind fähig, einen Toten zu reizen ...
+Nun, gehen wir, ich sage Ihnen aber im voraus, -- ich gehe jetzt bloß
+auf einen Augenblick nach Hause, um Geld zu holen; dann schließe ich die
+Wohnung ab, nehme eine Droschke und fahre für den ganzen Abend auf die
+Insel. Wollen Sie mir da folgen?«
+
+»Ich gehe vorläufig in die Wohnung mit, und auch nicht zu Ihnen, sondern
+zu Ssofja Ssemenowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht beim
+Begräbnis war.«
+
+»Tun Sie, wie Sie wünschen, aber Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause.
+Sie ist mit allen Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer sehr
+vornehmen alten Dame, zu einer alten Bekannten von mir aus früheren
+Zeiten, die Vorstandsmitglied von einigen Waisenanstalten ist. Ich habe
+diese Dame bezaubert, indem ich für alle drei Sprößlinge von Katerina
+Iwanowna Geld deponierte und außerdem den Anstalten eine Schenkung
+machte; schließlich erzählte ich ihr die Geschichte von Ssofja
+Ssemenowna, mit all ihren Einzelheiten, ohne etwas zu verheimlichen. Das
+machte einen unbeschreiblichen Eindruck. Darum wurde auch Ssofja
+Ssemenowna für heute noch in das --sche Hotel bestellt, wo, aus der
+Sommerfrische kommend, meine Dame einstweilen abgestiegen ist.«
+
+»Tut nichts, ich werde doch zu ihr gehen.«
+
+»Wie Sie wollen, ich bin Ihnen bloß kein Weggenosse; mir ist's einerlei.
+Wir sind gleich da. Sagen Sie mir, ich bin überzeugt, daß Sie mich aus
+dem Grunde so argwöhnisch betrachten, weil ich selbst so zartfühlend war
+und Sie bis jetzt mit Fragen nicht belästigt habe ... Sie verstehen
+mich? Ihnen erschien dies ungewöhnlich; ich gehe eine Wette ein, daß es
+so ist! Nun, da soll man noch zartfühlend sein.«
+
+»Und an der Türe horchen!«
+
+»Ah, Sie meinen damals!« lachte Sswidrigailoff, »ja, ich würde erstaunt
+sein, wenn Sie nach all dem vorher Gesagten dieses nicht erwähnt hätten.
+Ha! ha! Ich habe wohl einiges davon verstanden, was Sie damals ... dort
+... losgelassen und Ssofja Ssemenowna selbst erzählt haben, aber was ist
+es denn eigentlich? Ich bin vielleicht ein vollkommen zurückgebliebener
+Mensch und kann schon nichts mehr begreifen. Erklären Sie es mir um
+Gotteswillen, mein Lieber! Erleuchten Sie mich mit den allerneuesten
+Ideen!«
+
+»Sie konnten nichts gehört haben, Sie lügen!«
+
+»Ja, ich meine gar nicht dies, -- obwohl ich übrigens einiges auch
+gehört habe, -- nein, ich meine, daß Sie immer ächzen und stöhnen! Der
+Schiller in Ihnen wird alle Augenblicke rebellisch. Jetzt sagen Sie
+auch, man soll nicht an fremden Türen lauschen. Wenn das Ihre Meinung
+ist, so gehen Sie doch und sagen den Behörden, daß mit Ihnen solch ein
+Kasus geschehen ist, -- in der Theorie nur ist ein kleiner Irrtum
+unterlaufen. Wenn Sie aber überzeugt sind, daß man bei fremden Türen
+nicht lauschen darf, aber alte Weiber zu seinem Vergnügen umbringen
+kann, so fahren Sie schnell irgendwohin nach Amerika! Fliehen Sie,
+junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit dazu. Ich sage es Ihnen
+aufrichtig. Haben Sie etwa kein Geld? Ich will Ihnen zur Reise geben.«
+
+»Ich denke gar nicht daran,« unterbrach ihn Raskolnikoff mit
+Widerwillen.
+
+»Ich verstehe Sie; Sie brauchen sich übrigens keine Mühe zu geben, --
+wenn Sie nicht wollen, sprechen Sie doch nicht. Ich verstehe, was für
+Fragen in Ihnen auftauchen, -- etwa moralische? Die Bedenken eines
+Staatsbürgers und Menschen? Lassen Sie sie lieber fallen; wozu brauchen
+Sie jetzt diese Fragen und Bedenken? He--he--he! Darum, weil Sie immer
+noch Staatsbürger und Mensch sind? Wenn das der Fall ist, so sollten Sie
+sich auch nicht hineingemischt haben; Sie sollten dann auch so etwas
+nicht unternommen haben. Nun, erschießen Sie sich; was, oder Sie haben
+keine Lust dazu?«
+
+»Sie wollen mich, wie es mir scheint, absichtlich reizen, damit Sie mich
+jetzt loswerden ...«
+
+»Sie sind ein komischer Kauz, wir sind ja schon da, bitte steigen Sie
+die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Ssofja Ssemenowna,
+Sie sehen, es ist niemand da! Sie glauben nicht? Fragen Sie
+Kapernaumoff, sie gibt ihnen den Schlüssel ab. Da ist auch Madame de
+Kapernaumoff selbst. Was? Sie ist ein wenig taub. Ist fortgegangen?
+Wohin? Nun, Sie haben es jetzt gehört! Sie wird erst vielleicht spät am
+Abend zurückkehren. Nun, kommen Sie jetzt zu mir. Sie wollen doch auch
+zu mir kommen? Wir sind da. Madame Rößlich ist nicht zu Hause. Diese
+Frau hat ewig etwas vor, aber sie ist eine gute Frau, ich versichere Sie
+... sie würde Ihnen vielleicht von Nutzen sein, wenn Sie ein wenig
+vernünftig sein würden. Nun, Sie sehen, -- ich nehme aus dem
+Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier, -- sehen Sie, wie viel
+ich noch übrig habe! -- und dieses wandert heute noch zu einem Bankier.
+Haben Sie gesehen? Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Der
+Schreibtisch wird abgeschlossen, die Wohnung ebenfalls, und wir sind
+wieder auf der Treppe. Wollen wir eine Droschke nehmen? Ich fahre doch
+hinaus auf die Insel. Wollen Sie nicht ein Stück spazieren fahren? Ich
+nehme diese Droschke zur Jelagin-Insel, was? Sie wollen nicht? Haben
+doch nicht bis zu Ende ausgehalten? Fahren Sie mit, tut nichts. Es
+scheint, ein Regen zieht auf, tut nichts, wir lassen das Verdeck herab
+...«
+
+Sswidrigailoff saß schon im Wagen. Raskolnikoff kam zu der Überzeugung,
+daß sein Verdacht wenigstens in diesem Augenblicke ungerecht sei. Ohne
+ein Wort zu sagen, drehte er sich um und ging in der Richtung zum
+Heumarkte zurück. Hätte er sich wenigstens ein einziges Mal umgedreht,
+so würde er gesehen haben, wie Sswidrigailoff nach etwa hundert
+Schritten die Droschke fortschickte und sich auf dem Trottoir befand.
+Aber er konnte schon nichts mehr sehen und war um die Ecke eingebogen.
+Ein tiefer Abscheu zog ihn von Sswidrigailoff fort. »Und ich konnte nur
+einen Augenblick irgend etwas von diesem rohen Bösewicht, von diesem
+ekelhaften Wüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich aus.
+Freilich, Raskolnikoffs Urteil war übereilt und leichtsinnig. Es war
+etwas in der ganzen Art Sswidrigailoffs, was ihm wenigstens eine gewisse
+Originalität, wenn nicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine
+Schwester betraf, war Raskolnikoff dennoch fest überzeugt, daß
+Sswidrigailoff sie nicht in Ruhe lassen würde. Aber es wurde ihm jetzt
+zu schwer und unerträglich, an dies alles zu denken und es sich zu
+überlegen!
+
+Nach seiner Gewohnheit war er, als er allein geblieben war, schon nach
+den ersten zwanzig Schritten in tiefes Nachdenken versunken. Als er die
+Brücke betrat, blieb er plötzlich an dem Geländer stehen und begann in
+das Wasser zu blicken. Plötzlich stand Awdotja Romanowna hinter ihm.
+
+Er war ihr am Brückeneingange begegnet, war aber vorbeigegangen, ohne
+sie zu sehen. Dunetschka hatte ihn noch nie in dieser Weise auf der
+Straße gesehen und war sehr überrascht. Sie blieb stehen und wußte
+nicht, ob sie ihn anrufen solle oder nicht? Da bemerkte sie
+Sswidrigailoff, der eilig aus der Richtung des Heumarktes kam.
+
+Er schien sich ihr geheimnisvoll und vorsichtig zu nähern. Er betrat
+nicht die Brücke, sondern blieb seitwärts auf dem Fußsteig stehen und
+gab sich alle Mühe, daß Raskolnikoff ihn nicht bemerke. Dunja hatte er
+schon lange bemerkt und begann ihr Zeichen zu geben. Ihr schien es, als
+bäte er sie mit seinen Zeichen, den Bruder nicht anzurufen und ihn in
+Ruhe zu lassen.
+
+Dunja tat auch so. Sie ging still um den Bruder herum und näherte sich
+Sswidrigailoff.
+
+»Gehen wir schneller,« flüsterte ihr Sswidrigailoff zu. »Ich möchte
+nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft wisse. Ich sage
+Ihnen im voraus, daß ich mit ihm unweit von hier in einem Restaurant
+gesessen habe, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und ich wurde ihn mit
+Mühe los. Er weiß aus irgend einem Grunde von meinem Briefe an Sie und
+argwöhnt etwas. Sie haben ihm sicher nichts gesagt? Wenn Sie es aber
+nicht gesagt haben, wer dann?«
+
+»Jetzt sind wir schon um die Ecke,« unterbrach ihn Dunja, »jetzt kann
+mein Bruder uns nicht sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich mit Ihnen nicht
+weiter gehen werde. Sagen Sie mir alles gleich hier; man kann das alles
+auch auf der Straße sagen.«
+
+»Erstens kann man dies auf keinen Fall auf der Straße sagen; zweitens,
+müssen Sie auch Ssofja Ssemenowna anhören; drittens, will ich Ihnen
+einige Dokumente zeigen ... Nun und schließlich, wenn Sie nicht
+einverstanden sind, zu mir zu kommen, so weigere ich mich, irgend welche
+Erklärungen zu geben und gehe sofort weg. Dabei bitte ich Sie, nicht zu
+vergessen, daß das sehr interessante Geheimnis Ihres geliebten Bruders
+sich vollkommen in meinen Händen befindet.«
+
+Dunja blieb unentschlossen stehen und sah Sswidrigailoff mit einem
+durchbohrenden Blicke an.
+
+»Was fürchten Sie,« bemerkte er ruhig, »eine Stadt ist kein Dorf. Und im
+Dorfe schon haben Sie mir mehr Schaden, als ich Ihnen, zugefügt, hier
+aber ...«
+
+»Ist Ssofja Ssemenowna benachrichtigt?«
+
+»Nein, ich habe ihr kein Wort darüber gesagt und bin auch nicht ganz
+sicher, ob sie jetzt zu Hause ist. Sie ist aber wahrscheinlich zu Hause.
+Sie hat heute ihre Stiefmutter beerdigt, -- das ist kein Tag, an dem man
+Besuche macht. Vorläufig will ich mit niemanden über diese Sache reden
+und bereue sogar teilweise, daß ich Ihnen davon mitgeteilt habe. Die
+geringste Unvorsichtigkeit ist in diesem Falle einer Denunzierung
+gleich. Ich wohne hier in diesem Hause da, wir nähern uns schon meiner
+Wohnung. Das ist der Hausknecht von unserem Hause; der Hausknecht kennt
+mich sehr gut; da grüßt er auch; er sieht, daß ich mit einer Dame komme
+und hat sicher sich schon Ihr Gesicht gemerkt, das aber kann Ihnen von
+Nutzen sein, falls Sie sich sehr fürchten und mir mißtrauen.
+Entschuldigen Sie, daß ich so derb rede. Ich habe mir ein paar möblierte
+Zimmer gemietet. Ssofja Ssemenowna wohnt Wand an Wand neben mir, auch in
+einem möblierten Zimmer. Der ganze Stock ist bewohnt. Warum sollen Sie
+sich denn fürchten, wie ein Kind? Oder bin ich so furchterregend?«
+
+Sswidrigailoffs Gesicht verzog sich zu einem herablassenden Lächeln,
+aber es war ihm nicht lächerlich zumute. Sein Herz klopfte und der Atem
+stockte ihm in der Brust. Er sprach absichtlich lauter, um seine
+steigende Erregung zu verbergen, Dunja hatte gar nicht diese besondere
+Erregung bemerkt; sie war zu sehr durch seine Bemerkung gereizt, daß sie
+ihn fürchte wie ein Kind und daß er ihr so furchtbar sei.
+
+»Obwohl ich weiß, daß Sie ein Mensch ... ohne Ehre sind, fürchte ich
+mich doch gar nicht vor Ihnen. Gehen Sie voran,« sagte sie scheinbar
+ruhig, aber mit bleichem Gesichte.
+
+Sswidrigailoff blieb an Ssonjas Wohnung stehen.
+
+»Erlauben Sie mir, mich zu erkundigen, ob sie zu Hause ist ... Sie ist
+nicht da. Das ist ein Mißgeschick. Aber ich weiß, daß sie sehr bald
+zurückkehren wird. Wenn sie ausgegangen ist, so ist sie höchstens zu
+einer Dame wegen der Waisen. Ihre Mutter ist gestorben. Ich habe mich
+hier hineingemischt und Anordnungen getroffen. Wenn Ssofja Ssemenowna
+nach zehn Minuten nicht zurückkehren sollte, so schicke ich sie selbst
+zu Ihnen hin, wenn Sie wünschen, noch heute; und nun, das ist meine
+Wohnung. Das sind meine zwei Zimmer. Hinter der Türe wohnt meine Wirtin,
+Frau Rößlich. Jetzt blicken Sie bitte hierher, ich will Ihnen meine
+Hauptdokumente zeigen, -- aus meinem Schlafzimmer führt diese Tür in
+zwei vollkommen leere Zimmer, die zu vermieten sind. Das sind sie ...
+dieses müssen Sie etwas aufmerksam betrachten ...«
+
+Sswidrigailoff bewohnte zwei möblierte ziemlich geräumige Zimmer.
+Dunetschka sah mißtrauisch um sich, aber bemerkte nichts besonderes,
+weder in der Ausstattung noch in der Lage der Zimmer, obgleich man schon
+etwas bemerken konnte, zum Beispiel, daß Sswidrigailoffs Wohnung
+zwischen zwei anderen fast unbewohnten Wohnungen lag. Der Eingang zu ihm
+war nicht direkt vom Korridor aus, sondern durch zwei fast leere Zimmer
+der Wirtin. Vom Schlafzimmer aus zeigte Sswidrigailoff Dunetschka,
+nachdem er eine verschlossene Türe geöffnet hatte, eine andere leere
+Wohnung, die zu vermieten war. Dunetschka blieb auf der Schwelle stehen,
+ohne zu verstehen, warum man sie aufforderte, das anzusehen, aber
+Sswidrigailoff beeilte sich, eine Erklärung abzugeben.
+
+»Sehen Sie dieses zweite große Zimmer. Merken Sie sich diese Türe, sie
+ist verschlossen. Neben der Türe steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in
+beiden Zimmern. Ich habe ihn aus meiner Wohnung hierher gebracht, um
+bequemer zuzuhören. Gleich hinter dieser Tür steht der Tisch von Ssofja
+Ssemenowna; dort saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Ich aber
+lauschte hier, auf dem Stuhl sitzend, zwei Abende nacheinander und beide
+Male gegen zwei Stunden, -- und selbstverständlich konnte ich einiges
+erfahren, was meinen Sie?«
+
+»Sie haben gelauscht?«
+
+»Ja, ich habe gelauscht, jetzt wollen wir zu mir gehen; hier kann ich
+Ihnen keinen Platz anbieten.«
+
+Er führte Awdotja Romanowna in das erste Zimmer zurück, das ihm als
+Salon diente, und bat sie, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich ans
+andere Ende des Tisches hin, wenigstens zwei Meter von ihr entfernt,
+doch in seinen Augen leuchtete schon dasselbe Feuer, das einst
+Dunetschka so erschreckt hatte. Sie zuckte zusammen und blickte sich
+noch einmal mißtrauisch um. Ihre Bewegung war unwillkürlich; sie wollte
+offenbar ihr Mißtrauen nicht zeigen. Aber die Lage von Sswidrigailoffs
+Wohnung hatte sie schließlich überrascht. Sie wollte ihn fragen, ob
+wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, aber sie frug ... aus Stolz nicht.
+Außerdem war in ihrem Herzen ein anderer unermeßlich größerer Kummer,
+als die Angst für sich. Sie litt unerträglich.
+
+»Hier haben Sie Ihren Brief,« begann sie und legte den Brief auf den
+Tisch. -- »Ist es denn möglich, was Sie schreiben? Sie deuten ein
+Verbrechen an, das angeblich mein Bruder verübt hat. Sie deuten es zu
+klar an, Sie dürfen jetzt keine Ausreden gebrauchen. Sie sollen auch
+wissen, daß ich vor Ihnen schon von diesem dummen Märchen gehört habe,
+und keinem einzigen Worte davon glaube. Es ist ein niederträchtiger und
+lächerlicher Verdacht. Ich kenne die Geschichte, und wie und warum sie
+entstanden ist. Sie können keine Beweise haben. Sie haben versprochen,
+es mir zu beweisen, -- reden Sie doch! Aber Sie sollen im voraus wissen,
+daß ich Ihnen nicht glaube! Ich glaube nicht!«
+
+Dunetschka sagte dies sehr schnell, und auf einen Augenblick stieg ihr
+das Blut ins Gesicht.
+
+»Wenn Sie nicht glauben würden, könnte es denn passiert sein, daß Sie es
+riskiert hätten, allein zu mir herzukommen? Warum sind Sie denn
+gekommen? Aus bloßer Neugier?«
+
+»Quälen Sie mich nicht, sprechen Sie, sprechen Sie!«
+
+»Es ist nicht zu leugnen, daß Sie ein tapferes Mädchen sind. Bei Gott,
+ich dachte, daß Sie Herrn Rasumichin bitten werden, Sie hierher zu
+begleiten. Aber er war weder mit Ihnen noch in Ihrer Nähe, ich habe mich
+umgesehen, -- das ist kühn; Sie wollten also Rodion Romanowitsch
+schonen. Ach, alles ist an Ihnen göttlich ... Was Ihren Bruder
+anbetrifft, was soll ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn soeben selbst
+gesehen. Wie er aussieht?«
+
+»Ihre Gründe ruhen doch nicht darauf allein?«
+
+»Nein, nicht darauf, sondern auf seinen eigenen Worten. Er war zweimal
+nacheinander hierher zu Ssofja Ssemenowna gekommen. Ich habe Ihnen
+gezeigt, wo sie gesessen haben. Er hat ihr eine volle Beichte abgelegt.
+Er ist ein Mörder. Er hat eine alte Beamtenwitwe, eine Wucherin
+ermordet, bei der er auch selbst Sachen versetzt hatte; er hat auch ihre
+Schwester, eine Händlerin, dem Namen nach Lisaweta, ermordet, die
+zufällig während der Ermordung der Schwester eingetreten war. Er hat sie
+beide mit einem Beile, das er mitgebracht hatte, erschlagen. Er hatte
+sie getötet, um sie zu berauben, und hat auch geraubt, -- er hat Geld
+und einige Sachen genommen ... Er hat das alles selbst Wort für Wort
+Ssofja Ssemenowna mitgeteilt, die allein auch sein Geheimnis kennt, die
+aber an dem Morde weder durch Tat noch Wort teilgenommen hat und die im
+Gegenteil ebenso sich entsetzte, wie auch Sie jetzt. Seien Sie ruhig,
+sie wird ihn nicht verraten.«
+
+»Das kann nicht sein!« murmelte Dunetschka mit blassen trockenen Lippen;
+sie rang nach Atem, »es kann nicht sein, es gibt keinen, nicht den
+geringsten Grund, keinen Anlaß ... Das ist Lüge! Eine Lüge!«
+
+»Er hat geraubt, das ist der ganze Grund. Er hat Geld und Sachen
+genommen. Es ist wahr, er hat nach seinem eigenen Geständnis weder vom
+Gelde, noch von den Sachen einen Gebrauch gemacht, sondern sie irgendwo
+unter einem Stein versteckt, wo sie auch jetzt noch liegen. Aber
+deshalb, weil er nicht wagte, davon Gebrauch zu machen.«
+
+»Ja, ist es denn zu glauben, daß er stehlen, rauben konnte. Daß er bloß
+daran denken konnte?« rief Dunja und sprang von ihrem Stuhle auf. --
+»Sie kennen ihn doch, haben ihn gesehen? Kann er denn ein Dieb sein?«
+
+Es war, als flehe sie Sswidrigailoff an; sie hatte ihre ganze Furcht
+vergessen.
+
+»Hier gibt es, Awdotja Romanowna, tausende und Millionen von
+Kombinationen und Arten. Ein Dieb stiehlt, er weiß dafür auch selbst,
+daß er ein Schuft ist; ich hörte aber zum Beispiel von einem sehr
+anständigen Herrn, der die Post beraubt hatte; wer weiß, vielleicht
+glaubte er auch tatsächlich, daß er eine anständige Sache getan hat.
+Selbstverständlich hätte ich es auch selbst nicht geglaubt, ebenso wenig
+wie Sie, wenn es mir andere gesagt hätten. Meinen eigenen Ohren aber
+habe ich geglaubt. Er hat Ssofja Ssemenowna auch alle Gründe erklärt;
+aber auch sie hatte zuerst ihren Ohren nicht getraut, jedoch den Augen,
+ihren eigenen Augen hatte sie schließlich glauben müssen. Er hat ihr es
+doch persönlich mitgeteilt.«
+
+»Was waren es für ... Gründe?«
+
+»Es ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es spielt hierbei, wie
+soll ich es Ihnen erklären, eine Art Theorie mit, es ist dasselbe, warum
+ich zum Beispiel finde, daß eine einzelne Freveltat erlaubt ist, wenn
+der Hauptzweck gut ist. Ein einziges böses und hundert gute Werke! Es
+ist auch sicher für einen jungen Mann mit Vorzügen und unermeßlichem
+Ehrgeiz kränkend, zu wissen, daß seine ganze Karriere, die ganze
+Zukunft, seine Lebensziele sich anders gestalten würden, wenn er bloß
+dreitausend hätte; aber er hat sie eben nicht. Fügen Sie dazu, was ihn
+reizen mußte: der Hunger, die enge Wohnung, seine Lumpen, das starke
+Bewußtsein seiner großen sozialen Not und gleichzeitig die Lage seiner
+Schwester und Mutter. Am meisten aber Eitelkeit und Stolz, übrigens aber
+Gott weiß, vielleicht auch gute Eigenschaften ... Ich klage ihn nicht
+an, glauben Sie; ja und mich geht es auch nichts an. Er hatte auch
+hierbei eine eigene Theorie, -- eine annehmbare Theorie, -- nach der die
+Menschen in Material und besondere Menschen eingeteilt werden, d. h.
+solche Menschen, für die das Gesetz, dank ihrer hohen Veranlagung, nicht
+geschrieben ist, die vielmehr selbst Gesetze für die übrigen Menschen,
+für das Material, für den Kehricht geben. Es ist nicht übel, eine
+passable Theorie, -- _une théorie comme une autre_{[22]}. Vor allem hat
+ihn Napoleon begeistert, d. h., eigentlich noch mehr der Umstand, daß es
+genialen Menschen auf eine einzelne böse Tat nicht ankam, sondern daß
+sie ohne groß nachzudenken, darüber hinwegkamen. Es scheint mir, er hat
+sich eingebildet, auch ein genialer Mensch zu sein, -- das will sagen,
+er war davon eine Zeitlang überzeugt. Er hat sehr viel gelitten und
+leidet jetzt unter dem Gedanken, daß er verstanden hatte, sich eine
+Theorie auszudenken, aber nicht imstande war, ohne Nachdenken darüber
+hinwegzukommen und somit kein genialer Mensch sei. Und das ist für einen
+jungen Mann voll Ehrgeiz erniedrigend genug, in unserem Zeitalter
+besonders ...«
+
+»Und Gewissensbisse? Sie sprechen ihm also jedes sittliche Gefühl ab?
+Ja, ist es denn so?«
+
+»Ach, Awdotja Romanowna, jetzt hat sich bei ihm alles getrübt, d. h., er
+war übrigens wohl nie in völliger Ordnung. Die Russen sind überhaupt
+großangelegte Naturen, Awdotja Romanowna, sie sind ebenso großangelegt,
+wie ihr Land und haben eine äußerst starke Neigung zum Phantastischen,
+Extravaganten; es ist aber ein Unglück, großangelegt zu sein, ohne
+wirklich genial zu sein. Erinnern Sie sich, wie viel wir in dieser Art
+und über dieses Thema gesprochen haben, wenn wir Abends auf der Terrasse
+im Garten jedesmal nach dem Essen saßen. Sie haben mir auch dieses
+Großangelegtsein vorgeworfen. Wer weiß, vielleicht sprachen wir gerade
+in der Zeit darüber, als er hier lag und über dasselbe grübelte. Bei uns
+in der gebildeten Gesellschaft gibt es doch keine besonders heiligen
+Überlieferungen, Awdotja Romanowna, -- kommt wohl vor, daß sich jemand
+irgendwie es aus den Büchern zusammenstellt ... oder etwas aus alten
+Chroniken hervorholt. Aber das sind doch meistenteils Gelehrte und,
+wissen Sie, in ihrer Art alle Schlafmützen, so daß es sogar für einen
+Mann aus der Gesellschaft unpassend ist. Übrigens, meine Ansichten
+kennen Sie im allgemeinen, ich klage entschieden niemand an. Ich bin
+selbst Nichtstuer und halte mich daran. Wir haben ja mehr als einmal
+darüber gesprochen. Ich hatte sogar das Glück, Sie für meine Meinungen
+zu interessieren ... Sie sind sehr blaß, Awdotja Romanowna!«
+
+»Ich kenne seine Theorie. Ich habe seinen Artikel in der Zeitschrift
+über Menschen, denen alles erlaubt ist, gelesen ... Rasumichin hat ihn
+mir gebracht ...«
+
+»Herr Rasumichin? Den Artikel Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Gibt
+es solch einen Artikel? Ich wußte es nicht. Das ist interessant! Aber
+wohin wollen Sie denn, Awdotja Romanowna!«
+
+»Ich will Ssofja Ssemenowna sehen,« sagte Dunetschka mit schwacher
+Stimme. -- »Wie kann ich zu ihr kommen? Sie ist vielleicht
+zurückgekommen; ich will sie unbedingt sofort sehen. Mag sie ...«
+
+Awdotja Romanowna konnte nicht zu Ende sprechen; der Atem verging ihr
+buchstäblich.
+
+»Ssofja Ssemenowna wird vor Anbruch der Nacht nicht zurückkehren. Ich
+nehme es an. Sie mußte gleich zurückkommen, sonst kommt sie sehr spät
+...«
+
+»Ah, also du lügst! Ich sehe ... du hast gelogen ... du hast alles
+gelogen! ... Ich glaube dir nicht! Ich glaube nicht! Ich glaube nicht!«
+schrie Dunetschka in wahrer Wut und verlor vollkommen den Kopf.
+
+Sie fiel fast ohnmächtig auf einen Stuhl hin, den Sswidrigailoff sich
+beeilte, ihr unterzuschieben.
+
+»Awdotja Romanowna, was ist mit Ihnen, kommen Sie zu sich! Hier ist
+Wasser! Trinken Sie einen Schluck ...«
+
+Er bespritzte sie mit Wasser. Dunetschka fuhr zusammen und kam zu sich.
+
+»Es hat stark gewirkt!« murmelte Sswidrigailoff vor sich hin und sein
+Gesicht verdüsterte sich. -- »Awdotja Romanowna, beruhigen Sie sich!
+Vergessen Sie nicht, daß er Freunde hat. Wir werden ihn retten,
+herausreißen. Wenn Sie es wollen, bringe ich ihn ins Ausland? Ich habe
+Geld; in drei Tagen verschaffe ich einen Reisepaß. Und was das
+anbetrifft, daß er getötet hat, so wird er noch so viel Gutes tun, so
+daß dies alles sich ausgleichen wird; beruhigen Sie sich. Er kann noch
+ein großer Mann werden. Wie geht's mit Ihnen? Wie fühlen Sie sich?«
+
+»Sie böser Mensch! Er verspottet es noch. Lassen Sie mich ...«
+
+»Wohin? Wohin wollen Sie?«
+
+»Zu ihm. Wo ist er? Sie wissen es? Warum ist diese Tür verschlossen? Wir
+sind durch diese Tür hereingekommen und jetzt ist sie verschlossen. Wann
+haben Sie sie abschließen können?«
+
+»Man konnte doch nicht durch alle Zimmer schreien, was wir hier
+sprachen. Ich spotte gar nicht; ich bin bloß überdrüssig, diese Sprache
+zu führen. Nun, wohin wollen Sie in diesem Zustande gehen? Oder wollen
+Sie ihn verraten? Sie bringen ihn in Wut und er wird sich selbst
+anzeigen. Sie sollen wissen, daß man ihn schon verfolgt, daß man auf
+seine Spur gekommen ist. Sie werden ihn bloß verraten. Warten Sie, --
+ich habe ihn gesehen und mit ihm soeben gesprochen; man kann ihn noch
+retten. Warten Sie, setzen Sie sich, überlegen wir es zusammen. Ich habe
+Sie auch darum gerufen, um mit Ihnen allein darüber zu sprechen und
+alles gut zu überlegen. Ja, setzen Sie sich doch!«
+
+»Wie können Sie ihn retten? Kann man ihn denn retten?«
+
+Dunja setzte sich. Sswidrigailoff setzte sich neben sie.
+
+»Das alles hängt von Ihnen ab, von Ihnen, von Ihnen allein,« begann er
+mit funkelnden Augen, fast im Flüstertone, verwirrt und manche Worte vor
+Erregung nicht aussprechend.
+
+Dunja wich erschrocken vor ihm zurück. Er zitterte auch am ganzen
+Körper.
+
+»Sie ... ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet! Ich ... ich
+werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich werde ihn sofort ins
+Ausland senden, ich selbst nehme den Reisepaß, zwei Reisepässe. Den
+einen für ihn, den anderen für mich. Ich habe Freunde; ich habe
+Geschäftsleute an der Hand ... Wollen Sie? Ich will auch für Sie einen
+Reisepaß nehmen ... für Ihre Mutter ... wozu brauchen Sie Rasumichin?
+Ich liebe Sie auch ... Ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den
+Saum Ihres Kleides küssen, lassen Sie mich! Lassen Sie mich! Ich kann
+nicht hören, wie es rauscht. Sagen Sie zu mir, -- tue das, und ich will
+es tun! Ich will alles tun! Ich will das Unmöglichste tun! Woran Sie
+glauben, will ich auch glauben! Ich will alles, alles tun! Sehen Sie
+mich, sehen Sie mich nicht so an! Wissen Sie es auch, daß Sie mich töten
+...«
+
+Er fing selbst an zu phantasieren. Mit ihm war plötzlich etwas
+geschehen, als wäre es ihm zu Kopfe gestiegen. Dunja sprang auf und
+stürzte zur Türe.
+
+»Öffnen Sie! Öffnen Sie!« schrie sie durch die Türe, als riefe sie
+jemand zu Hilfe und rüttelte an der Türe. -- »Öffnen Sie doch! Ist denn
+niemand da!«
+
+Sswidrigailoff war aufgestanden und zur Besinnung gekommen. Ein
+boshaftes und spöttisches Lächeln zeigte sich langsam auf seinen noch
+bebenden Lippen.
+
+»Niemand ist dort zu Hause,« sagte er leise und mit Nachdruck, »die
+Wirtin ist fortgegangen, und es ist unnütze Mühe, so zu schreien, -- Sie
+regen sich bloß unnütz auf.«
+
+»Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Türe, sofort, du gemeiner
+Mensch!«
+
+»Ich habe den Schlüssel verloren und kann ihn nicht finden.«
+
+»Ah! Also das ist Gewalt!« rief Dunja aus, erblaßte wie der Tod und
+stürzte in eine Ecke, wo sie sich schleunigst mit einem Tischchen
+schützte, das ihr in die Hand fiel. Sie schrie nicht, aber sie bohrte
+sich mit den Blicken an ihren Peiniger fest und verfolgte scharf jede
+seiner Bewegungen. Sswidrigailoff rührte sich auch nicht vom Fleck und
+stand ihr gegenüber am anderen Ende des Zimmers. Er hatte sich gefaßt,
+wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war, wie früher, bleich. Ein
+spöttisches Lächeln verließ es nicht.
+
+»Sie sagten soeben >Gewalt<, Awdotja Romanowna. Wenn es Gewalt ist, so
+können Sie selbst begreifen, daß ich die nötigen Maßregeln getroffen
+habe. Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause; bis zu Kapernaumoffs ist es
+sehr weit, fünf leere Zimmer liegen dazwischen. Schließlich bin ich
+wenigstens doppelt so stark, als Sie, und außerdem brauche ich nichts zu
+befürchten, denn Sie können auch nachher sich nicht beklagen, -- Sie
+werden doch nicht Ihren Bruder verraten wollen? Ja, und Ihnen wird auch
+niemand glauben, -- warum ist denn ein junges Mädchen allein zu einem
+alleinstehenden Herrn gegangen? Wenn Sie also auch Ihren Bruder opfern,
+so beweisen Sie noch lange nichts, -- eine Gewalttat ist schwer zu
+beweisen, Awdotja Romanowna.«
+
+»Schuft!« flüsterte Dunja empört.
+
+»Wie Sie wünschen, merken Sie sich, ich habe es bloß als eine Mutmaßung
+ausgesprochen. Meiner persönlichen Überzeugung nach aber haben Sie
+vollkommen recht, -- eine Gewalttat ist eine Schändlichkeit. Ich sagte
+es bloß, um zu beweisen, daß Ihr Gewissen nichts verliert, wenn Sie ...
+wenn Sie sich sogar entschließen sollten, Ihren Bruder freiwillig zu
+retten, wie ich es Ihnen angeboten habe. Sie haben sich bloß den
+Umständen gefügt, meinetwegen auch der Gewalt nachgegeben, wenn es sich
+ohne dieses Wort nicht auskommen läßt. Denken Sie darüber nach; das
+Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter liegt in Ihren Händen. Ich will
+aber Ihr Sklave sein ... mein ganzes Leben ... ich will hier Ihre
+Entscheidung erwarten ...«
+
+Sswidrigailoff setzte sich auf das Sofa hin, etwa acht Schritte von
+Dunja entfernt. Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel an seinem
+unerschütterlichen Entschlusse. Außerdem kannte sie ihn ...
+
+Plötzlich holte sie aus ihrer Tasche einen Revolver hervor, spannte den
+Hahn und ließ die Hand mit dem Revolver auf den Tisch sinken.
+Sswidrigailoff sprang von seinem Platz auf.
+
+»Aha! So ist die Geschichte!« rief er verwundert aus und lächelte
+hämisch. »Nun, das ändert vollkommen die Sache! Sie erleichtern mir
+wesentlich die Sache, Awdotja Romanowna! Ja, woher haben Sie sich diesen
+Revolver verschafft? Etwa von Herrn Rasumichin? Bah! Der Revolver gehört
+ja mir! Ein alter Bekannter von mir! Und ich habe ihn damals so gesucht!
+... Unser Schießunterricht auf dem Lande, den ich die Ehre hatte, zu
+erteilen, ist nicht unnütz gewesen.«
+
+»Es ist nicht dein Revolver, sondern Marfa Petrownas, die du ermordet
+hast, du Bösewicht! Du hattest nichts eigenes in ihrem Hause. Ich nahm
+ihn, als ich zu ahnen begann, wozu du fähig bist. Wage bloß einen
+Schritt zu machen und ich schwöre dir, -- ich erschieße dich!«
+
+Dunja war außer sich. Den Revolver hielt sie bereit.
+
+»Nun, und Ihr Bruder? Ich frage aus Neugier?« sagte Sswidrigailoff und
+stand immer noch auf derselben Stelle.
+
+»Zeige ihn an, wenn du willst! Nicht vom Platze! Rühr dich nicht! Ich
+werde schießen! Du hast deine Frau vergiftet, ich weiß es, du bist
+selbst ein Mörder!«
+
+»Sind Sie fest davon überzeugt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?«
+
+»Du hast! Du hast mir es selbst angedeutet; du hast mir von Gift
+gesprochen ... ich weiß, du hast dir Gift verschafft ... Du hattest
+alles vorbereitet ... Du hast es unbedingt getan ... Schuft!«
+
+»Wenn es auch wahr wäre, so habe ich es doch deinetwegen ... du warst
+doch die Ursache!«
+
+»Du lügst! Ich habe dich stets, stets gehaßt ...«
+
+»Na, Awdotja Romanowna! Sie scheinen vergessen zu haben, wie Sie in der
+Hitze der Propaganda geneigter wurden und dahinschmolzen ... Ich habe es
+an den Augen gemerkt, erinnern Sie sich eines Abends, der Mond schien
+und eine Nachtigall trillerte?«
+
+»Du lügst!« in Dunjas Augen funkelte Wut, »du lügst, Verleumder!«
+
+»Ich lüge? Nun, meinetwegen, ich lüge. Ich habe gelogen. Frauen soll man
+an diese Dinge nicht erinnern.« -- Er lächelte halb. -- »Ich weiß, daß
+du schießen wirst, du schönes, wildes Tier! Nun, schieße doch!«
+
+Dunja erhob den Revolver und sah ihn totenblaß, mit kreidebleichen
+bebenden Lippen, mit großen schwarzen, feurig funkelnden Augen
+entschlossen an und wartete die erste Bewegung von ihm ab. Noch niemals
+hatte er sie so schön gesehen. Das Feuer, das in ihren Augen in dem
+Augenblick aufleuchtete, als sie den Revolver erhob, schien ihn
+verbrannt zu haben, und sein Herz zog sich schmerzlicher zusammen. Er
+tat einen Schritt und ein Schuß knallte. Die Kugel streifte seine Haare
+und traf die Wand hinter ihm. Er blieb stehen und lachte leise.
+
+»Eine Wespe hat gestochen! Sie zielt auf den Kopf ... Was ist das?
+Blut!« -- Er zog ein Taschentuch hervor, um das Blut abzuwischen, das
+ganz fein an seiner rechten Schläfe herunterrann; wahrscheinlich hatte
+die Kugel die Haut seines Schädels geritzt. Dunja ließ den Revolver
+sinken und sah Sswidrigailoff nicht etwa erschreckt, sondern stutzig an.
+Es war, als begreife sie selbst nicht, was sie getan hatte und was
+vorgegangen war!
+
+»Nun, das ging vorbei! Schießen Sie noch einmal, ich warte,« sagte
+Sswidrigailoff leise, finster lächelnd. »So kann ich Sie packen, ehe Sie
+den Hahn noch einmal aufspannen!«
+
+Dunetschka fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und erhob wieder den
+Revolver.
+
+»Lassen Sie mich!« sagte sie voll Verzweiflung. »Ich schwöre es Ihnen,
+ich werde von neuem schießen ... Ich ... werde Sie erschießen! ...«
+
+»Nun was ... auf drei Schritte muß man auch treffen können. Nun, wenn
+Sie aber mich nicht erschießen ... dann ...« -- Seine Augen funkelten
+und er trat noch zwei Schritte näher.
+
+Dunetschka drückte ab, -- die Waffe versagte!
+
+»Sie haben nicht gut geladen. Tut nichts! Sie haben noch eine Patrone
+drin. Bringen Sie es in Ordnung, ich will warten.«
+
+Er stand zwei Schritte vor ihr, wartete und sah sie voll wilder
+Entschlossenheit mit einem leidenschaftlichen und schweren Blicke an.
+Dunja begriff, daß er eher sterben würde, als daß er sie losließ. »Und
+sie ... wird ihn jetzt sicher auf zwei Schritte Entfernung töten! ...«
+
+Plötzlich schleuderte sie den Revolver fort.
+
+»Hat ihn fortgeworfen!« sagte Sswidrigailoff und holte tief Atem. Etwas
+schien mit einem Male sich von seinem Herzen losgelöst zu haben, und es
+war vielleicht nicht bloß die Last der Todesangst, -- es war auch
+fraglich, ob er sie in diesem Augenblicke empfunden hatte. Es war eine
+Erlösung von einem anderen, mehr kummervollen und düsteren Gefühle, das
+er selbst nicht in seiner ganzen Macht definieren konnte.
+
+Er trat an Dunja heran und legte still seinen Arm um ihre Taille. Sie
+widersetzte sich ihm nicht, aber sie blickte ihn, am ganzen Körper wie
+ein Blatt bebend, mit flehenden Augen an. Er wollte etwas sagen, seine
+Lippen aber verzogen sich bloß und er konnte nichts sprechen.
+
+»Laß mich!« sagte Dunja flehend.
+
+Sswidrigailoff zuckte zusammen, -- dieses _du_ war in einer anderen
+Weise, als vorhin, gesagt.
+
+»Also du liebst mich nicht?« fragte er leise.
+
+Dunja schüttelte verneinend den Kopf.
+
+»Und ... kannst auch nicht? ... Niemals?« flüsterte er verzweifelt.
+
+»Niemals!« antwortete Dunja im Flüstertone.
+
+Es war der Moment eines schrecklichen stummen Kampfes in Sswidrigailoffs
+Seele. Mit einem unaussprechlichen Blicke sah er sie an. Plötzlich zog
+er seine Hand zurück, wandte sich ab, ging schnell zum Fenster und
+stellte sich dort hin.
+
+Noch ein Augenblick verging.
+
+»Hier ist der Schlüssel zur Türe!« er nahm ihn aus der linken Tasche
+seines Mantels hervor und legte ihn auf den Tisch hinter sich, ohne
+Dunja anzublicken und ohne sich umzudrehen. -- »Nehmen Sie ihn; gehen
+Sie schnell fort! ...«
+
+Er sah starr zum Fenster hinaus.
+
+Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen.
+
+»Schneller! Schneller!« wiederholte Sswidrigailoff, ohne sich zu rühren
+und umzudrehen. Aber in diesem »schneller« klang deutlich ein
+schrecklicher Ton hindurch.
+
+Dunja begriff, erfaßte den Schlüssel, stürzte zur Türe, schloß sie eilig
+auf und sprang aus dem Zimmer. Nach einer Minute lief sie schon, wie
+wahnsinnig, ganz außer sich den Kanal entlang in der Richtung zu der
+X-schen Brücke.
+
+Sswidrigailoff blieb am Fenster noch etwa drei Minuten stehen, wandte
+sich endlich langsam um, warf einen Blick ins Zimmer und fuhr sich leise
+mit der Hand über die Stirn. Ein merkwürdiges Lächeln verzog sein
+Gesicht; es war ein klägliches, trauriges, schwaches Lächeln, ein
+Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das schon einzutrocknen begann,
+hatte seine Hand beschmutzt; er blickte das Blut zornig an; dann machte
+er ein Handtuch naß und wusch sich die Schläfe ab. Der Revolver, den
+Dunja von sich geworfen hatte und der zur Türe geflogen war, fiel ihm
+plötzlich in die Augen. Er hob ihn auf und besah ihn. Es war ein kleiner
+dreiläufiger Taschenrevolver alten Systems; es steckten noch zwei
+Patronen darin und eine Kapsel. Einmal konnte man noch daraus schießen.
+Er sann eine Weile nach, steckte den Revolver in die Tasche, nahm seinen
+Hut und ging hinaus.
+
+
+ VI.
+
+Diesen ganzen Abend bis zehn Uhr zog er in allerhand Wirtshäusern und
+Spelunken umher. Irgendwo traf er auch Katja, die einen anderen
+Gassenhauer sang, von einem »Schuft und Tyrannen,« der
+
+ »Fing Katja an zu küssen«.
+
+Sswidrigailoff gab Katja und dem Leiermann, den Chorsängern, den
+Kellnern und zwei Schreibern zu trinken. Diese Schreiber hatte er
+eigentlich bloß aufgefordert, weil sie beide schiefe Nasen besaßen, --
+die Nase des einen stand nach rechts, die des anderen nach links. Das
+hatte Sswidrigailoffs Aufmerksamkeit erregt. Zuletzt schleppten sie ihn
+in eine Gartenwirtschaft mit, wo er für sie das Eintrittsgeld bezahlen
+mußte. Dieser Garten bestand aus einer dünnen dreijährigen Tanne und
+drei Sträuchern. Das Restaurant war im Grunde genommen nur ein
+Ausschank, man konnte aber auch Tee erhalten und es standen einige grüne
+Tische und Stühle dort. Ein Chor minderwertiger Sänger und ein
+betrunkener Deutscher aus München, eine Art Clown, mit roter Nase, der
+aber aus irgend einem Grunde sehr niedergeschlagen war, amüsierten das
+Publikum. Die Schreiber fingen mit einigen anderen Schreibern einen
+Streit an und schickten sich schon an, handgreiflich zu werden.
+Sswidrigailoff wurde von ihnen zum Schiedsrichter gewählt. Er waltete
+über eine Viertelstunde seines Amtes, aber sie schrien derartig, daß es
+nicht die geringste Möglichkeit gab, irgend etwas zu verstehen. Am
+wahrscheinlichsten war die Sache so -- einer von ihnen hatte etwas
+gestohlen und hatte Zeit gefunden, es sofort an Ort und Stelle einem
+Juden zu verkaufen, der sich zufällig eingefunden hatte, aber er wollte
+das Geld mit seinem Kameraden nicht teilen; es ergab sich schließlich,
+daß der verkaufte Gegenstand ein Teelöffel war, der dem Restaurant
+gehörte; man vermißte dort den Löffel und die Sache begann eine
+unangenehme Wendung zu nehmen. Sswidrigailoff bezahlte den Löffel, erhob
+sich und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte
+während der ganzen Zeit keinen einzigen Tropfen Wein getrunken und hatte
+in der Gartenwirtschaft sich nur Tee bestellt, und das nur, um überhaupt
+etwas zu nehmen. Der Abend war schwül und düster. Gegen zehn Uhr hatte
+sich der Himmel mit dunklen Wolken überzogen; es fing an zu donnern und
+der Regen strömte nieder. Das Wasser fiel nicht in Tropfen, sondern
+peitschte in ganzen Strömen die Erde. Es folgte Blitz auf Blitz. Ganz
+durchnäßt kam Sswidrigailoff nach Hause, schloß sich ein, öffnete seinen
+Schreibtisch, nahm sein ganzes Geld an sich und zerriß einige Papiere.
+Er steckte darauf das Geld in die Tasche, wollte seine Kleider wechseln,
+aber nachdem er zum Fenster hinausgeblickt und dem Gewitter und dem
+Regen gelauscht hatte, tat er es doch nicht, ergriff seinen Hut und ohne
+seine Wohnung abzuschließen, ging er hinaus und direkt zu Ssonja. Sie
+war zu Hause.
+
+Sie war nicht allein; sie hatte die vier Kinder von Kapernaumoff um
+sich. Ssofja Ssemenowna gab ihnen Tee zu trinken. Sie begrüßte
+Sswidrigailoff schweigend und ehrerbietig, warf einen erstaunten Blick
+auf seine durchnäßten Kleider, sagte aber kein Wort. Die Kinder liefen
+sofort in unbeschreiblicher Furcht davon.
+
+Sswidrigailoff setzte sich an den Tisch und bat Ssonja, neben ihm Platz
+zu nehmen. Sie schickte sich schüchtern an, ihm zuzuhören.
+
+»Ssofja Ssemenowna, ich reise vielleicht nach Amerika,« sagte
+Sswidrigailoff, »und da wir uns wahrscheinlich zum letzten Male sehen,
+bin ich gekommen, einige Anordnungen zu treffen. Haben Sie heute diese
+Dame gesehen? Ich weiß, was sie Ihnen gesagt hat, Sie brauchen es mir
+nicht zu erzählen,« -- (Ssonja machte eine Bewegung und errötete.) --
+»Diese Leute haben eine bestimmte Manier. Was Ihre Schwestern und Ihren
+Bruder anbetrifft, so sind sie untergebracht und das ihnen zukommende
+Geld habe ich für jeden gegen Quittung in sicherer Hand deponiert.
+Nehmen Sie übrigens diese Quittungen für jeden Fall an sich. Nehmen Sie
+sie! Das ist also erledigt. Hier sind drei fünfprozentige Obligationen,
+im ganzen dreitausend Rubel. Nehmen Sie das für sich, für sich ganz
+allein, und mag es unter uns bleiben, damit niemand etwas davon erfährt.
+Das Geld wird Ihnen von Nutzen sein, denn, Ssofja Ssemenowna, ein Leben,
+wie Sie es bisher lebten, ist schlimm und Sie haben es nicht nötig.«
+
+»Sie haben mich mit so vielen Wohltaten überschüttet; auch die Waisen
+und die Verstorbene,« stammelte Ssonja, »wenn ich Ihnen bis jetzt so
+wenig gedankt habe, so ... halten Sie es nicht ...«
+
+»Aber bitte, es ist nicht der Rede wert.«
+
+»Und für dieses Geld danke ich Ihnen sehr, Arkadi Iwanowitsch, aber ich
+brauche es jetzt wirklich nicht. Ich kann immer für mich allein sorgen,
+halten Sie es nicht für Undank, -- wenn Sie schon gütig sind, so soll
+dieses Geld ...«
+
+»Ihnen, Ssofja Ssemenowna, Ihnen soll es gehören, und bitte ohne viele
+Worte, denn ich habe auch keine Zeit dazu. Es wird Ihnen sehr von Nutzen
+sein. Rodion Romanowitsch hat zwei Auswege, -- entweder eine Kugel durch
+den Kopf oder Sibirien.« -- (Ssonja blickte ihn wild an und erbebte.) --
+»Seien Sie ruhig, ich weiß alles von ihm selbst und bin kein Schwätzer;
+werde es niemand sagen. Sie haben gut daran getan, indem Sie ihm
+vorschlugen, -- er möge hingehen und sich selbst anzeigen. Das wird ihm
+bedeutend nützlicher sein. Nun, wenn der Ausweg Sibirien sein wird,
+werden Sie ihm doch folgen? Nicht wahr? Nicht wahr? Und dann wird Ihnen
+auch das Geld von Nutzen sein. Für ihn selbst werden Sie es brauchen,
+verstehen Sie? Indem ich es Ihnen überreiche, gebe ich es damit doch
+ihm. Außerdem haben Sie versprochen, auch die frühere Wirtin Amalie
+Iwanowna zu bezahlen; ich habe es gehört. Warum übernehmen Sie immer,
+Ssofja Ssemenowna, unüberlegt solche Verpflichtungen? Katerina Iwanowna
+war es doch dieser Deutschen schuldig geblieben, und nicht Sie, also
+sollten Sie auf die Deutsche pfeifen. In dieser Weise kann man auf der
+Welt nicht weiterkommen. Und wenn jemand morgen oder übermorgen nach mir
+fragen sollte, -- und man wird sich an Sie wenden, -- so erwähnen Sie
+nicht, daß ich jetzt bei Ihnen gewesen bin, und zeigen Sie in keinem
+Falle das Geld und sagen Sie niemandem, daß ich es Ihnen gegeben habe.
+Und jetzt auf Wiedersehen.« -- Er stand auf. -- »Grüßen Sie Rodion
+Romanowitsch. Nebenbei gesagt, -- übergeben Sie vorläufig das Geld
+meinetwegen Herrn Rasumichin zur Aufbewahrung. Kennen Sie Herrn
+Rasumichin? Sie kennen ihn sicher. Das ist ein kluger Bursche. Bringen
+Sie das Geld ihm morgen oder ... wenn Sie Zeit haben, hin. Vorläufig
+verstecken Sie es gut.« Er erhob sich.
+
+Ssonja sprang ebenfalls vom Stuhle auf und blickte ihn erschrocken an.
+Sie wollte etwas sagen, etwas fragen, aber sie wagte es nicht gleich und
+wußte auch nicht, wie sie es anfangen sollte.
+
+»... Wie, wollen Sie denn jetzt in solchem Regen ausgehen?«
+
+»Nun, ich will nach Amerika reisen und soll mich vor einem Regen
+fürchten, he! he! Leben Sie wohl, liebe Ssofja Ssemenowna! Leben Sie und
+leben Sie lange, Sie werden anderen von Nutzen sein. Ja ... sagen Sie
+bitte Herrn Rasumichin, daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie ihm, --
+Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff läßt Sie grüßen, -- mit diesen Worten
+sagen Sie es ihm. Sagen Sie es unbedingt.«
+
+Er ging fort und hinterließ Ssonja erstaunt und erschrocken in einer
+unklaren und drückenden Ahnung zurück.
+
+Man erfuhr später, daß er am selben Abend, in der zwölften Stunde, noch
+einen sehr exzentrischen und unerwarteten Besuch gemacht hatte. Der
+Regen hatte noch immer nicht aufgehört. Ganz durchnäßt, trat er zwanzig
+Minuten nach elf in die kleine Wohnung der Eltern seiner Braut ein. Mit
+großer Mühe hatte er sich Einlaß verschafft und zuerst alle in große
+Aufregung versetzt; aber Arkadi Iwanowitsch konnte, wenn er wollte, ein
+Mann von bezauberndem Benehmen sein, so daß die ursprüngliche, übrigens
+sehr naheliegende Annahme der Eltern der Braut, daß Arkadi Iwanowitsch
+wahrscheinlich sich irgendwo stark berauscht habe und seiner selbst
+nicht mächtig sei, -- von selbst zunichte wurde. Den gelähmten Vater
+rollte in einem Sessel die mitleidige Mutter der Braut selbst zu Arkadi
+Iwanowitsch herein und begann nach ihrer Gewohnheit mit weitausholenden
+Fragen. Diese Frau stellte nie direkte Fragen, sondern lächelte und rieb
+sich die Hände zuerst, dann aber, wenn sie etwas unbedingt erfahren
+wollte, wie z. B., -- wann Arkadi Iwanowitsch den Wunsch habe, die
+Hochzeit zu bestimmen, so begann sie mit den neugierigsten Fragen über
+Paris und das dortige Hofleben, um schließlich langsam bis zu ihrer
+Wohnung in Petersburg zu gelangen. Zu anderer Stunde wurde dies alles
+ruhig hingenommen, aber jetzt war Arkadi Iwanowitsch zu ungeduldig und
+wünschte kategorisch seine Braut zu sehen, obgleich man ihm schon bei
+seinem Eintritt erklärt hatte, daß sie schon schlafe. Die Braut erschien
+selbstverständlich, und Arkadi Iwanowitsch teilte ihr sofort mit, daß er
+wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit auf eine Zeit lang Petersburg
+verlassen müsse, und aus diesem Grunde ihr fünfzehntausend Rubel in
+allerhand Papieren mitgebracht habe; er bat sie, dies als ein Geschenk
+von ihm anzunehmen, da er schon längst die Absicht gehabt habe, ihr
+diese Kleinigkeit schon vor der Hochzeit zu überreichen. Ein besonderer
+logischer Zusammenhang zwischen dem Geschenk und der unverzüglichen
+Abreise und der Notwendigkeit, deswegen in der Nacht bei Regen
+herzukommen, zeigte sich in keiner Weise bei seinen Erklärungen, jedoch
+es verlief alles sehr gut. Sogar die unvermeidlichen Ausrufe von »ach«
+und »wie,« das Fragen und Staunen wurden rasch gemäßigt und
+zurückgehalten; dafür aber wurde eine überströmende Dankbarkeit an den
+Tag gelegt und sogar von den Tränen der vernünftigsten aller Mütter
+unterstützt. Arkadi Iwanowitsch stand auf, lachte, küßte die Braut,
+streichelte ihre Wangen, wiederholte noch einmal, daß er bald
+zurückkommen werde, und als er in ihren Augen eine zwar kindliche
+Neugier, aber zugleich eine sehr ernste stumme Frage bemerkte, sann er
+eine Weile nach, küßte sie zum zweitenmal und ärgerte sich darüber, daß
+das Geschenk unverzüglich zur Aufbewahrung der vernünftigsten aller
+Mütter übergeben werden würde. Er ging fort und hinterließ alle in einer
+ungewöhnlichen Aufregung. Aber die gutherzige Mama löste sofort im
+Flüstertone einige sehr wichtige Bedenken, und zwar, daß Arkadi
+Iwanowitsch ein Mann der großen Welt, ein Mann mit Unternehmungen und
+großen Verbindungen, ein reicher Mann sei; weiß Gott, was in seinem
+Kopfe vorgehe, er habe plötzlich den Entschluß gefaßt, abzureisen, habe
+eben plötzlich den Gedanken bekommen, das Geld gegeben, man soll sich
+nicht darüber wundern. Gewiß sei es merkwürdig, daß er ganz durchnäßt
+war, aber die Engländer seien z. B. noch exzentrischer, überhaupt alle
+Menschen aus der höchsten Gesellschaft achteten nicht darauf, was man
+von ihnen sagen werde, und genierten sich nicht. Vielleicht gehe er
+absichtlich in dieser Weise herum, um zu zeigen, daß er nichts fürchte.
+Die Hauptsache aber sei, niemand ein Wort davon zu sagen, denn Gott
+weiß, was dabei noch herauskommen könne, das Geld müsse sofort
+eingeschlossen werden, und sicher sei es das beste, daß das Mädchen in
+der Küche war und nichts gesehen habe, noch wichtiger sei es aber,
+nichts, gar nichts dieser Spitzbübin, dieser Rößlich davon zu sagen, und
+so ging es in gleicher Weise fort. Sie blieben bis zwei Uhr sitzen und
+flüsterten die ganze Zeit. Nur die Braut ging etwas früher schlafen,
+über die ganze Sache verwundert und ein wenig traurig.
+
+Sswidrigailoff wanderte indessen punkt zwölf Uhr über die K.sche Brücke
+in der Richtung nach dem --schen Stadtteil. Es hatte zu regnen
+aufgehört, jedoch der Wind wehte noch stark. Sswidrigailoff begann zu
+zittern, und einen Augenblick sah er mit einer auffallenden Neugier und
+fragend das schwarze Wasser der Kleinen Newa an. Als er so über das
+Wasser geneigt dastand, fühlte er auf einmal ein unangenehmes
+Kältegefühl, er drehte sich um und ging den X.schen Prospekt entlang. Er
+wanderte lange, fast eine halbe Stunde, durch diesen endlosen Prospekt,
+stolperte ein paarmal in der Dunkelheit auf dem hölzernen Trottoir und
+hörte nicht auf, etwas auf der rechten Seite der Straße aufmerksam zu
+suchen. Er hatte hier, fast am Ende des Prospekts kürzlich im
+Vorbeifahren ein hölzernes, aber geräumiges Gasthaus bemerkt, und sein
+Name, soweit er sich erinnern konnte, hatte etwas mit »Adrianopel« zu
+tun. Er hatte sich nicht getäuscht, -- dieses Gasthaus in dieser
+abgelegenen Gegend war so auffallend, daß es selbst in der Dunkelheit
+unmöglich übersehen werden konnte. Es war ein langes hölzernes,
+schwarzgewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunde noch Lichter
+brannten und ein gewisses Leben zu bemerken war. Er trat ein und fragte
+einen im Korridor stehenden, zerlumpten Kerl nach einem Zimmer. Der warf
+einen Blick auf Sswidrigailoff, nahm sich zusammen und führte ihn in ein
+dumpfes, enges Zimmer, das am Ende des Korridors an einer Ecke unter der
+Treppe lag. »Es ist kein anderes da, alle Zimmer sind besetzt.« Der Kerl
+blickte ihn fragend an.
+
+»Gibt es Tee?« fragte Sswidrigailoff.
+
+»Kann besorgt werden.«
+
+»Was gibt es noch?«
+
+»Kalbfleisch, Schnaps, Aufschnitt.«
+
+»Bring mir Kalbfleisch und Tee.«
+
+»Sonst keine Wünsche?« fragte der Kerl erstaunt.
+
+»Nichts mehr.«
+
+Der Kerl verschwand, ganz verwundert.
+
+»Das muß ein guter Ort sein,« dachte Sswidrigailoff, »wie kam mir das
+nicht in den Sinn. Ich habe wahrscheinlich auch das Aussehen eines
+Menschen, der irgendwo aus einem Café chantant kommt und auf dem Wege
+schon etwas erlebt hat. Es wäre interessant, zu erfahren, wer hier alles
+absteigt und übernachtet.«
+
+Er zündete ein Licht an und besah sich das Zimmer genauer. Es war eine
+ganz kleine Kammer, so niedrig, daß Sswidrigailoff beinahe an die Decke
+stieß, mit einem Fenster; ein sehr schmutziges Bett, ein einfacher,
+gestrichener Tisch und ein Stuhl nahmen fast den ganzen Raum ein. Die
+Wände hatten das Aussehen, als wären sie aus Brettern zusammengeschlagen
+und mit alten abgerissenen Tapeten beklebt worden, die so staubig und
+beschmutzt waren, daß man ihre Farbe, ursprünglich gelb, erraten mußte,
+das Muster aber nicht mehr unterscheiden konnte. Der eine Teil der Wand
+und der Decke war schräg abgeschnitten, wie man es gewöhnlich in
+Mansarden sieht, hier aber war es wegen der Treppe. Sswidrigailoff
+stellte das Licht auf den Tisch, setzte sich auf das Bett und versank in
+Gedanken. Aber ein eigentümliches und ununterbrochenes Flüstern im
+Nebenzimmer, das zuweilen fast in ein Schreien überging, lenkte seine
+Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Flüstern hatte seit dem Augenblicke, als
+er im Zimmer eingetreten war, nicht aufgehört. Er begann zu lauschen, --
+jemand schimpfte und machte einem anderen fast weinend Vorwürfe, man
+hörte nur eine Stimme; Sswidrigailoff stand auf, verdeckte mit der einen
+Hand das Licht und an der Wand zeigte sich sofort eine Ritze; er trat
+drauf zu und begann hindurchzusehen. In dem Zimmer, das ein wenig größer
+war, als das seine, befanden sich zwei Menschen. Einer von ihnen ohne
+Rock, mit einem lockigen Kopfe und rotem erregten Gesichte, stand in
+Rednerpose; er hatte die Beine auseinandergespreizt, um das
+Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich vor die Brust und warf dem
+anderen pathetisch vor, daß er ein Bettler sei und daß er nicht mal
+einen Rang habe, daß er ihn aus dem Schmutz herausgezogen habe, und daß
+er ihn, wenn er wolle, fortjagen könne und dies alles sehe der Finger
+Gottes allein. Der angeschnauzte Genosse saß auf einem Stuhl und hatte
+das Aussehen eines Menschen, der sehr gern niesen möchte, aber es
+absolut nicht fertig brachte. Er sah zuweilen mit einem trüben
+Schafsblicke den Redenden an, aber augenscheinlich hatte er keinen
+Begriff davon, worüber jener sprach und höchstwahrscheinlich hörte er es
+nicht einmal. Auf dem Tische brannte der Rest eines Lichtes, und eine
+fast leere Karaffe Branntwein mit Gläsern, Brot, Gurken und ein
+Teegeschirr standen darauf. Nachdem Sswidrigailoff dieses Bild
+aufmerksam betrachtet hatte, verließ er teilnahmslos die Ritze in der
+Wand und setzte sich wieder auf das Bett hin.
+
+Der Kerl, der mit Kalbfleisch und Tee gekommen war, konnte sich nicht
+enthalten, noch einmal zu fragen, ob nichts weiter gewünscht würde, und
+nachdem er wieder eine verneinende Antwort erhalten hatte, ging er
+endgültig aus dem Zimmer. Sswidrigailoff stürzte sich über den Tee, um
+sich zu erwärmen, und leerte ein Glas, essen konnte er nichts, da er den
+Appetit völlig verloren hatte. Er begann sichtlich zu fiebern. Er nahm
+seinen Mantel und Jacke ab, hüllte sich in die Decke ein und legte sich
+auf das Bett. Er ärgerte sich, -- »es wäre diesmal doch besser, gesund
+zu sein,« dachte er und lächelte bitter. Es war im Zimmer dumpf, das
+Licht brannte trübe, draußen heulte der Wind, irgendwo in einer Ecke
+nagte eine Maus, im ganzen Zimmer überhaupt roch es nach Mäusen und nach
+Leder. Er lag und träumte, -- ein Gedanke löste den anderen ab. Es
+schien, als wolle er seiner Phantasie eine bestimmte Richtung geben.
+»Hinter dem Fenster muß ein Garten sein,« -- dachte er, -- »Bäume
+rauschen; was ich in der Nacht nicht liebe, im Sturme und in der
+Dunkelheit bringt das Rauschen der Bäume ein unangenehmes Gefühl
+hervor!« Und er erinnerte sich, wie er vorhin im Vorbeigehen mit
+Widerwillen an den Petrowski-Park gedacht hatte. Dann tauchte in seiner
+Erinnerung auch die K.sche Brücke und die Kleine Newa auf, und wieder
+überrieselte es ihn kalt, wie vorhin, als er über das Wasser geneigt
+stand.
+
+»Ich habe niemals im Leben das Wasser, nicht mal auf Bildern, geliebt,«
+dachte er und lächelte über einen sonderbaren Gedanken. »Jetzt müßte mir
+doch diese ganze Ästhetik und der Komfort gleichgültig sein, aber nein,
+jetzt gerade werde ich wählerisch, wie ein Tier, das sich seine Stelle
+... in ähnlichem Falle aussucht. Ich sollte vorhin in den Petrowski-Park
+einbiegen! Ist mir aber zu dunkel, zu kalt erschienen, he! he! Als
+suchte ich angenehme Gefühle dabei! ... Ja, warum lösche ich das Licht
+nicht aus?« Und er löschte das Licht. »Meine Nachbarn haben sich auch
+schlafen gelegt,« dachte er, als er keinen Schein mehr durch die Ritze
+sah. -- »Nun, Marfa Petrowna, jetzt wäre es Zeit für Sie, zu erscheinen,
+-- es ist dunkel, der Ort sehr passend und ein origineller Augenblick.
+Jetzt werden Sie sicher nicht kommen ...«
+
+Es kam ihm auch in den Sinn, daß er vorhin, eine Stunde bevor Dunja in
+seiner Wohnung war, Raskolnikoff empfohlen hatte, sie der Obhut
+Rasumichins anzuvertrauen. »Ich habe es damals wirklich mehr gesagt, um
+mich selbst zu reizen, was Raskolnikoff auch erraten hat. Dieser
+Raskolnikoff ist ein feiner Kopf. Er hat vieles durchgemacht und kann
+mit der Zeit etwas Großes werden, wenn der Unsinn in ihm vergangen sein
+wird, jetzt aber hat er noch ein _zu großes_ Verlangen zu leben. In
+diesem Punkte sind alle diese Leute -- Feiglinge. Nun, mag ihn der
+Teufel holen, mag er tun, was er will, was geht es mich an.«
+
+Er konnte immer noch nicht einschlafen. Allmählich begann vor ihm das
+Bild von Dunetschka aufzutauchen, wie sie vorhin aussah, und ein Zittern
+fuhr durch seinen Körper. -- »Nein, das muß man jetzt schon lassen,«
+dachte er zu sich kommend, »ich muß an etwas anderes denken. Es ist
+sonderbar und lächerlich, -- ich habe niemals jemand stark gehaßt, habe
+auch niemals besonders gewünscht, an jemand Rache zu nehmen, das ist
+doch ein schlimmes Zeichen, ein schlimmes Zeichen! Habe auch nicht
+geliebt, mich herumzustreiten und war nie heftig gewesen, -- ist auch
+ein schlechtes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin versprochen, --
+pfui, Teufel! Sie hätte aus mir doch etwas machen können! ...«
+
+Er verstummte wieder und preßte die Zähne aufeinander, -- wieder
+erschien ihm Dunetschkas Bild, wie sie nach dem ersten Schuß erschrocken
+war, den Revolver sinken ließ und leichenblaß ihn ansah, so daß er sie
+zweimal hätte greifen können, ohne daß sie die Hand zur Gegenwehr hätte
+erheben können, wenn er selbst sie nicht daran erinnert hätte. Er
+erinnerte sich, wie sie ihm in diesem Augenblicke so leid tat, und wie
+sich sein Herz zusammengeschnürt hatte ... »Ah! Zum Teufel! Wieder diese
+Gedanken, man muß sie alle fallen lassen, ja, fallen lassen!«
+
+Er verfiel wieder in Schlaf, -- das fieberhafte Zittern ließ nach; da
+schien etwas unter der Decke über seine Hand und seinen Fuß zu laufen.
+Er zuckte zusammen, -- »pfui, Teufel, das ist ja eine Maus!« dachte er,
+»ich habe das Fleisch auf dem Tische stehen gelassen ...« Er wollte
+nicht die Decke abwerfen, aufstehen und frieren, da stach ihn schon
+wieder etwas am Fuße; er riß die Decke von sich und zündete das Licht
+an. Zitternd vor fieberhafter Kälte, bückte er sich, um im Bette
+nachzusuchen, -- es war nichts da; er schüttelte die Decke und plötzlich
+sprang eine Maus auf das Bettlaken. Er wollte sie fangen; die Maus aber
+sprang vom Bette nicht herunter, sondern lief im Zickzack nach allen
+Seiten hin, glitt ihm durch die Finger, lief über seine Hand und
+verschwand plötzlich unter dem Kissen; er warf das Kissen herunter und
+fühlte sogleich, wie sie ihm unter das Hemd sprang und auf seinem Rücken
+herumkrabbelte. Er erbebte nervös und erwachte. Im Zimmer war es dunkel,
+er lag wie vorhin in der Decke eingewickelt auf dem Bette, hinter dem
+Fenster heulte der Wind. »Wie schaurig!« dachte er ärgerlich. Er stand
+auf und setzte sich mit dem Rücken gegen das Fenster auf das Bett.
+»Lieber schlafe ich gar nicht,« beschloß er. Vom Fenster kam Kälte und
+Feuchtigkeit herein; ohne aufzustehen zog er die Decke über sich und
+hüllte sich ein. Das Licht steckte er nicht an. Er dachte an nichts und
+wollte auch an nichts denken; doch ein Phantasiegebilde nach dem andern
+stand vor ihm auf, abgerissene Gedanken ohne Anfang und Ende und ohne
+Zusammenhang schwebten ihm vor. Er verfiel in einen Halbschlummer. War
+es die Kälte oder die Dunkelheit, war es die Feuchtigkeit oder der Wind,
+der hinter dem Fenster heulte und die Bäume rüttelte, -- die in ihm eine
+hartnäckige phantastische Neigung und den Wunsch nach Blumen
+hervorriefen, -- mit Blumen beschäftigte sich seine Phantasie
+ausschließlich. Ihm schwebte ein reizendes Bild vor, -- ein lichter,
+warmer, beinahe heißer Tag, ein Festtag, ein Pfingsttag; ein reiches
+prachtvolles Landhaus, im englischen Geschmack, bewachsen mit duftenden
+Blumen, und umgeben von Blumenbeeten, die um das Haus sich herumzogen,
+eine Treppe, umrankt von Schlingpflanzen und umringt von Rosenbüschen;
+eine lichte kühle Treppe, bedeckt mit einem prächtigen Teppich und
+ringsum geziert mit seltenen Blumen in chinesischen Vasen. Er hatte auf
+den Fenstern Sträuße von weißen und zarten Narzissen in Glasvasen,
+gefüllt mit Wasser, bemerkt, die auf ihren hellgrünen, dicken und langen
+Stengeln starken aromatischen Duft verbreiteten. Er wollte sich gar
+nicht mehr von ihnen trennen, endlich stieg er aber doch die Treppe
+hinauf und trat in einen großen hohen Saal, und wieder standen hier
+überall auf den Fenstern, an der geöffneten Türe nach der Terrasse, auf
+der Terrasse selbst, Blumen über Blumen. Die Diele war mit frisch
+gemähtem, duftendem Heu bestreut, die Fenster waren geöffnet, eine
+frische leichte kühle Luft drang in das Zimmer, Vögel zwitscherten unter
+den Fenstern, und mitten im Saale auf einem mit weißem Atlas bezogenen
+Tische stand ein Sarg. Dieser Sarg war mit weißem Taft ausgeschlagen und
+mit weißen dichten Rüschen benäht. Girlanden aus Blumen umrankten ihn
+auf allen Seiten. Ganz in Blumen gebettet lag ein kleines Mädchen in
+weißem Tüllkleide; ihre wie aus Marmor gemeißelten Hände waren gefaltet
+und an die Brust gepreßt. Ihr aufgelöstes Haar, ein helles Blondhaar,
+war naß; ein Kranz aus Rosen umgab ihren Kopf. Das strenge und schon
+erstarrte Profil ihres Gesichts war auch wie aus Marmor gemeißelt, in
+dem Lächeln auf ihren blassen Lippen lag ein nicht kindliches
+grenzenloses Weh, eine stille, herzzerreißende Klage. Sswidrigailoff
+kannte dieses Mädchen; weder ein Gottesbild noch brennende Kerzen
+standen an diesem Sarge und man vernahm keine Gebete. Das kleine Mädchen
+war eine Selbstmörderin, -- sie hatte sich ertränkt. Sie war erst
+vierzehn Jahre alt und hatte schon ein gebrochenes Herz, sie war
+zugrunde gerichtet durch eine schändliche Tat, die dieses junge
+kindliche Bewußtsein mit Entsetzen erfüllt und überfallen, die ihre
+engelreine Seele mit unverdienter Schmach bedeckt hatte, und die ihr
+einen letzten Schrei der Verzweiflung entriß, der nicht erhört, sondern
+mit kaltem Herzen und harter Hand in einer dunklen Nacht, in tiefer
+Finsternis, in Kälte, in feuchtem Tauwetter unterdrückt wurde, als der
+Wind heulte.
+
+Sswidrigailoff kam zu sich, stand auf und trat an das Fenster. Er fand
+tastend den Riegel und öffnete es. Der Wind stürmte mit aller Kraft in
+sein enges Zimmer hinein und bedeckte mit einem Frosthauch sein Gesicht
+und die nur mit dem Hemde bedeckte Brust. Hinter dem Fenster war
+wirklich ein Garten und zwar ein Vergnügungsetablissement; am Tage
+traten wohl hier Sänger auf und es wurde an Tischen Tee serviert. Jetzt
+flogen Regentropfen von den Bäumen und Sträuchern zum Fenster herein,
+und es war eine Dunkelheit wie in einem Keller, so daß man kaum einige
+dunkle Flecken, die Gegenstände vorstellten, unterscheiden konnte.
+Sswidrigailoff hatte die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt und
+sich hinausgebeugt, und blickte nun schon fünf Minuten, ohne sich
+losreißen zu können, in diese Finsternis. Da ertönte in die Nacht hinein
+ein Kanonenschuß, ihm folgte ein zweiter. »Ah, das Signal! Das Wasser
+steigt!« dachte er. -- »Gegen Morgen wird das Wasser die Straßen
+überfluten und die Kellerwohnungen und die Gewölbe überschwemmen, die
+Kellerratten werden aus ihren Schlupfwinkeln hervorschwimmen und die
+Menschen werden in Wind und Regen, durchnäßt und schimpfend, ihren Kram
+in die oberen Stockwerke schleppen ... Um welche Zeit ist es nun?« --
+Und kaum hatte er so gedacht, als aus der Nähe, tickend und wie sich
+mächtig beeilend, eine Wanduhr drei Uhr schlug. -- »Aha, nach einer
+Stunde wird es schon hell werden! Warum soll ich länger warten? Ich will
+lieber sofort hier fort und direkt in den Petrowski-Park gehen; dort
+will ich mir ein großes Gebüsch aussuchen, mit Regentropfen so benetzt,
+daß, wenn man nur mit einer Schulter drankommt, Millionen von Tropfen
+den ganzen Kopf mir überströmen werden ...« Er trat vom Fenster zurück,
+schloß es, zündete das Licht an, zog seine Weste und den Mantel an,
+setzte den Hut auf und ging mit dem Lichte auf den Korridor hinaus, um
+in einer Kammer zwischen allerhand Kram und Lichtstumpfen den
+schlafenden Kerl aufzusuchen, ihm das Zimmer zu bezahlen und dann das
+Gasthaus zu verlassen. -- »Es ist der beste Augenblick, man könnte ihn
+nicht besser wählen!«
+
+Er ging lange in dem schmalen und langen Korridor herum, ohne jemand zu
+finden und wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen
+Ecke, zwischen einem alten Schrank und einer Türe, einen sonderbaren
+Gegenstand, anscheinend etwas Lebendes, erblickte. Er beugte sich mit
+dem Lichte darüber und sah ein Kind, -- ein kleines Kind, -- ein kleines
+Mädchen, nicht älter als fünf Jahre, in einem völlig durchnäßten
+Kleidchen, zitternd und weinend, daliegen. Sie schien vor Sswidrigailoff
+keine Furcht zu haben, blickte ihn mit ihren großen schwarzen Äuglein
+voll stillen Staunens an und schluchzte ab und zu, wie Kinder, die lange
+geweint, doch aufhören und sich getröstet haben. Das kleine Gesicht des
+Mädchens war bleich und abgemagert; sie war vor Kälte fast erstarrt,
+aber -- »wie war sie hierher gekommen? Sie mußte sich hier versteckt und
+die ganze Nacht nicht geschlafen haben?« Er begann sie auszufragen. Das
+Kind wurde plötzlich lebhaft und stammelte etwas sehr schnell in seiner
+kindlichen Sprache. Es kam darin etwas von »Mamachen« und das »Mama
+Ruten geben wird,« von einer Tasse, die sie zerschlagen habe, vor. Das
+Mädchen sprach ununterbrochen; einiges konnte man aus ihrer ganzen
+Erzählung herausfinden, -- daß sie nicht geliebt werde, daß ihre Mutter,
+eine ewig betrunkene Köchin, wahrscheinlich im Gartenhause selbst, sie
+zumeist prügele und ihr Schrecken eingejagt habe; daß das Mädchen der
+Mutter eine Tasse zerschlagen habe und so erschrocken wäre, daß sie seit
+gestern Abend weggelaufen sei; wahrscheinlich hatte sie sich lange auf
+dem Hofe im Regen versteckt, endlich sich ins Haus hineingeschlichen,
+sich hinter dem Schrank verkrochen und hatte hier in der Ecke, weinend
+und in Nässe, Dunkelheit und Angst davor zitternd, daß man sie tüchtig
+verprügeln würde, die ganze Nacht gesessen. Sswidrigailoff nahm sie auf
+die Arme, ging in sein Zimmer, setzte sie auf das Bett hin und begann
+sie auszukleiden. Ihre zerlöcherten Stiefel auf die nackten Füße
+angezogen, waren so feucht, als hätten sie die ganze Nacht in einer
+Pfütze gelegen. Nachdem er sie entkleidet hatte, legte er sie ins Bett,
+bedeckte und hüllte sie ganz bis zum Kopfe in die Decke. Sie schlief
+sofort ein. Nachdem er damit fertig war, versank er wieder in sein
+düsteres Nachdenken.
+
+»Was fällt mir auch ein, mich damit abzugeben!« dachte er plötzlich mit
+einem schweren und bitteren Gefühl. -- »Was für ein Unsinn!« Voll Ärger
+nahm er das Licht, um hinauszugehen und um jeden Preis den Kerl zu
+finden und schneller von hier wegzukommen. -- »Ach, so ein Mädel!«
+dachte er fluchend und öffnete schon die Türe, als er sich umkehrte, um
+noch einmal zu sehen, ob das Mädchen schlafe und wie sie schlafe? Er hob
+vorsichtig die Decke auf. Das Mädchen lag im festen und seligen Schlafe.
+Sie war unter der Decke warm geworden, und das Blut war wieder in ihre
+blassen Wangen gestiegen. Aber sonderbar, -- diese Röte war greller und
+auffallender, als sonst bei Kindern. »Das ist eine fieberhafte Röte,«
+dachte Sswidrigailoff, »das ist die Röte nach Weingenuß, es ist, als
+hätte man ihr ein ganzes Glas zu trinken gegeben. Ihre roten Lippen
+brennen, scheinen zu flammen, aber was ist das?« Ihm schien es
+plötzlich, als ob ihre langen schwarzen Wimpern zuckten und blinzelten,
+als ob sie sich erhöben, als ob unter ihnen ein schelmisches, scharfes,
+nicht in kindlicher Weise zwinkerndes Auge hervorblickte, als ob das
+Mädchen nicht schliefe, sich nur so anstelle. Ja, es war auch so, --
+ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, die Mundwinkel zucken, es
+ist, als ob sie das Lächeln noch zurückhalten wollte. Nun aber hört sie
+auf, sich zurückzuhalten, sie lacht schon, sie lacht deutlich; etwas
+Freches und Herausforderndes leuchtet in diesem gar nicht kindlichen
+Gesichte; das ist das Laster; das ist das Gesicht einer Kokotte, das
+freche Gesicht einer verkäuflichen französischen Kokotte. Jetzt öffnen
+sich, ohne jede Verstellung, die beiden Augen, -- sie ruhen auf ihm mit
+einem feurigen und schamlosen Blick, sie locken ihn, sie lachen ...
+Etwas unendlich Widerliches und Beleidigendes lag in diesem Lachen, in
+diesen Augen, in diesem ganzen schamlosen Gesichte des Kindes. »Wie!
+Eine fünfjährige!« flüsterte Sswidrigailoff mit wahrem Entsetzen. --
+»Was ... was ist denn das?« -- Nun wendet sie sich ihm mit dem
+brennenden Gesichtchen ganz zu, streckt die Arme aus ... »Ah,
+Verfluchte!« rief Sswidrigailoff voll Entsetzen und holte seine Hand zum
+Schlage aus ... Aber im selben Augenblick erwachte er.
+
+Er lag im Bette, eingehüllt in die Decke; das Licht war nicht angezündet
+und durch das Fenster leuchtete der volle Tag hinein.
+
+»Ein Albdrücken die ganze Nacht!« Er erhob sich zornig und fühlte, daß
+er ganz zerschlagen war; seine Knochen schmerzten ihn. Draußen war ein
+dichter Nebel und man konnte nichts unterscheiden. Die Uhr ging auf
+fünf; er hatte sich verschlafen! Er stand auf und zog seine Jacke und
+den Mantel an, die beide noch feucht waren. Er fühlte in der Tasche nach
+dem Revolver, zog ihn heraus und setzte die Kapsel zurecht; dann setzte
+er sich hin, nahm aus der Tasche ein Notizbuch hervor und schrieb auf
+der ersten Seite mit großer Schrift ein paar Zeilen. Er las sie nochmals
+durch, stützte sich auf den Tisch und sann nach. Der Revolver und das
+Notizbuch lagen neben seinem Ellbogen. Die erwachten Fliegen krochen auf
+den Kalbfleischstücken herum, die er nicht angerührt hatte und die auf
+dem Tische standen. Er schaute den Fliegen lange zu und versuchte mit
+der freien rechten Hand eine zu fangen. Er bemühte sich lange, konnte
+sie aber nicht kriegen. Als er sich zuletzt bei dieser interessanten
+Beschäftigung ertappte, kam er zu sich, fuhr zusammen, stand auf und
+ging entschlossen aus dem Zimmer. Nach einer Minute war er schon auf der
+Straße.
+
+Ein weißer dichter Nebel lag über der Stadt. Sswidrigailoff ging die
+klebrige schmutzige Straße in der Richtung der Kleinen Newa zu. Ihm
+schwebten das über Nacht stark gestiegene Wasser der Kleinen Newa, der
+Petrowski-Park, nasse Wege, feuchtes Gras, feuchte Bäume und Sträucher,
+und schließlich _jenes_ Gebüsch vor ... Voll Ärger begann er die Häuser
+zu betrachten, um an etwas anderes zu denken. Weder einen Menschen, noch
+eine Droschke traf er auf dem Wege. Trostlos und schmutzig sahen ihn die
+grellgelben hölzernen Häuschen mit den geschlossenen Fensterläden an.
+Kälte und Feuchtigkeit durchzogen seinen ganzen Körper und ihn begann zu
+frösteln. Zuweilen fiel sein Blick auf die Schilder der Kaufläden und
+Gemüsekeller, er las jedes aufmerksam. Der hölzerne Fußsteg war schon zu
+Ende. Er ging an einem großen steinernen Hause vorbei. Ein schmutziger
+durchfrorener Hund mit eingezogenem Schwanze lief ihm über den Weg. Ein
+total betrunkener Mann in einem Uniformmantel lag mit dem Gesichte nach
+unten quer über den Fußweg. Er betrachtete ihn und ging weiter. Ein
+hoher Feuerwehrturm zeigte sich linker Hand. -- »Bah!« dachte er, »das
+ist die beste Stelle, wozu der Petrowski-Park? Es geschieht wenigstens
+in Gegenwart eines offiziellen Zeugen ...« Er lächelte bei diesem neuen
+Gedanken und bog in die N.sche Straße ein. Hier stand ein großes Haus
+mit dem Turm. An dem mächtigen verschlossenen Tore des Hauses stand mit
+der Schulter daran gelehnt ein kleines Menschenkind in einen grauen
+Soldatenmantel eingehüllt und mit einem glänzenden Helm. Es schielte mit
+schlaftrunkenem Blick den herantretenden Sswidrigailoff an. Auf seinem
+Gesichte sah man den ewigen verdrießlichen Kummer, der sich ausnahmslos
+auf allen Gesichtern des jüdischen Volkes eingeprägt hat. Beide,
+Sswidrigailoff und der Soldat, betrachteten einander schweigend eine
+Weile. Dem Soldaten erschien es schließlich nicht in der Ordnung zu
+sein, daß ein Mann nicht betrunken drei Schritte vor ihm stehen blieb,
+ihn unverwandt anblickte und nichts sagte.
+
+»Was wollen Sie denn hier?« sagte er, ohne sich zu rühren und seine
+Stellung zu verändern.
+
+»Ja, nichts, Bruder, guten Tag!« antwortete Sswidrigailoff.
+
+»Hier ist kein Platz, stehen zu bleiben.«
+
+»Ich reise, Bruder, ins Ausland.«
+
+»Ins Ausland?«
+
+»Nach Amerika.«
+
+»Nach Amerika?«
+
+Sswidrigailoff zog den Revolver heraus und spannte den Hahn. Der Soldat
+zog die Augenbrauen nach oben.
+
+»Was, solche Scherze sind hier nicht am Platze!«
+
+»Warum denn nicht?«
+
+»Weil das kein Ort dazu ist.«
+
+»Nun, Bruder, das ist einerlei. Der Ort ist gut; wenn man dich fragen
+wird, antworte bloß, daß ich nach Amerika gereist bin.«
+
+Er legte den Revolver an seine rechte Schläfe an.
+
+»Man darf das nicht, hier ist nicht der Ort!« sagte der Soldat, und
+seine Augen erweiterten sich immer mehr.
+
+Sswidrigailoff drückte den Hahn ab.
+
+
+ VII.
+
+Am selben Tage um sieben Uhr näherte sich Raskolnikoff der Wohnung
+seiner Mutter und Schwester, -- jener Wohnung im Hause von Bakalejeff,
+wo sie Rasumichin untergebracht hatte. Der Treppeneingang war von der
+Straße aus. Je näher Raskolnikoff kam, desto mehr verlangsamte er seine
+Schritte, wie unschlüssig, ob er hineingehen solle oder nicht. Er wäre
+jedoch um keinen Preis umgekehrt; sein Entschluß war gefaßt. --
+»Außerdem ist es einerlei, sie wissen ja noch nichts,« dachte er, »und
+haben sich schon gewöhnt, mich als einen närrischen Kauz anzusehen ...«
+Seine Kleidung war schrecklich, -- ganz beschmutzt, zerrissen und
+zerknittert, weil er die ganze Nacht im Regen verbracht hatte. Sein
+Gesicht war vor Müdigkeit, durch das schlechte Wetter, aus physischer
+Ermattung und infolge eines beinahe vierundzwanzigstündigen Kampfes mit
+sich selbst ganz entstellt. Wo er diese ganze Nacht verbracht hatte,
+wußte Gott allein; aber sie hatte wenigstens seinen Entschluß
+herbeigeführt.
+
+Er klopfte an die Türe; die Mutter öffnete ihm. Dunetschka war nicht zu
+Hause. Auch das Dienstmädchen war um diese Zeit nicht da. Pulcheria
+Alexandrowna war zuerst ganz stumm vor freudigem Erstaunen, dann ergriff
+sie seine Hand und zog ihn ins Zimmer.
+
+»Nun, da bist du!« begann sie, und stockte vor Freude. -- »Sei nicht
+böse auf mich, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße, -- mit Tränen; ich
+lache ja und weine nicht. Du denkst, ich weine? Nein, ich freue mich,
+habe aber bloß so eine dumme Angewohnheit, daß mir dann die Tränen
+fließen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters, ich weine bei jeder
+Gelegenheit. Setz dich doch, mein Lieber, du bist wahrscheinlich müde,
+ich sehe es. Ach, wie du beschmutzt bist.«
+
+»Ich war gestern im Regen fort, Mama ...« begann Raskolnikoff.
+
+»Aber nein, nein!« unterbrach ihn Pulcheria Alexandrowna eifrig, »du
+meinst, ich will dich sofort ausfragen, nach meiner früheren
+weiberhaften Gepflogenheit, sei darüber beruhigt. Ich begreife doch, ich
+begreife alles, habe mich jetzt an die hiesigen Gebräuche gewöhnt, und
+sehe wirklich selbst ein, daß man hier gescheiter ist. Ich habe mir ein
+für allemal gesagt, wie kann ich deine Entschlüsse verstehen und von dir
+Rechenschaft verlangen? Du hast vielleicht Gott weiß was für Dinge und
+Pläne im Kopfe und dir kommen allerhand Gedanken; soll ich dich da immer
+anstoßen und fragen, worüber denkst du nach? Ich habe ... Ach, mein
+Gott, Ja, was laufe ich denn herum wie eine Besessene ... Just lese ich
+deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum dritten Male, Rodja; mir hat
+ihn Dmitri Prokofjitsch gebracht. Ich war sehr überrascht, als ich ihn
+las; so dumm bin ich, dachte ich, damit gibt er sich also ab, das ist
+die Lösung der Dinge. Er hat vielleicht neue Gedanken im Kopfe, er
+überlegt sie sich, ich aber quäle ihn und störe ihn. Ich lese den
+Artikel, mein Freund, und verstehe selbstverständlich nicht viel; es muß
+auch übrigens so sein, -- wie kann ich es auch verstehen.«
+
+»Zeigen Sie ihn mir, Mama.«
+
+Raskolnikoff nahm den Artikel in die Hand und blickte ihn flüchtig an.
+Wie sehr es auch seiner Lage und seinem Zustande widersprach, empfand er
+doch jenes eigentümliche und prickelnde süße Gefühl, das ein Verfasser,
+der sich zum ersten Male gedruckt sieht, empfindet, dazu sprachen auch
+seine dreiundzwanzig Jahre mit. Es dauerte einen Augenblick. Nachdem er
+einige Zeilen gelesen hatte, verdüsterte sich sein Gesicht und ein
+furchtbarer Gram preßte sein Herz zusammen. Sein ganzer seelischer Kampf
+in den letzten Monaten kam ihm mit einem Male ins Gedächtnis. Er warf
+mit Widerwillen und voll Ärger die Zeitung auf den Tisch.
+
+»Aber Rodja, wie dumm ich auch sein mag, ich kann doch verstehen, daß du
+sehr bald einer von den Ersten, wenn nicht der Erste unter unseren
+Gelehrten, sein wirst. Und man wagte zu denken, daß du den Verstand
+verloren hättest. Ha! ha! ha! Du weißt es nicht, aber man meinte es
+wirklich! Ach, dieses niedrige Gewürm, woher sollen sie auch begreifen,
+was Verstand haben heißt! Und Dunetschka glaubte auch fast daran -- was
+sagst du dazu! Dein verstorbener Vater hat ein paarmal etliches in
+Zeitschriften eingeschickt, -- zuerst Gedichte (ich habe noch das Heft
+der Gedichte, ich will es dir einmal zeigen) -- und nachher eine ganze
+Novelle, -- (ich hatte ihn gebeten, sie ins Reine schreiben zu dürfen)
+-- und trotzdem wir beide beteten, daß es angenommen würde, -- nahmen
+sie es doch nicht an! Rodja, vor sechs oder sieben Tagen, als ich deine
+Kleidung sah, wie du wohnst, was du ißt und wie du herumgehst, war ich
+ganz niedergeschlagen. Jetzt sehe ich, daß ich wieder einmal dumm war,
+denn wenn du Lust hast, kannst du dir alles auf einmal durch deinen
+Verstand und dein Talent verschaffen. Du willst es bloß vorläufig nicht
+und bist mit bedeutend wichtigeren Dingen beschäftigt ...«
+
+»Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?«
+
+»Nein, Rodja. Sie ist jetzt sehr oft nicht zu Hause, läßt mich viel
+allein. Dmitri Prokofjitsch kommt öfters zu mir, um zu plaudern und
+spricht immer von dir, ich bin ihm sehr dankbar dafür. Er liebt dich
+sehr und schätzt dich, mein Freund. Ich kann von deiner Schwester nicht
+gerade sagen, daß sie zu mir unehrerbietig wäre. Ich klage nicht. Sie
+hat ihren Charakter, wie ich den meinen; sie hat allerhand Geheimnisse
+vor mir; und ich habe vor euch keine Geheimnisse. Gewiß, ich bin fest
+überzeugt, daß Dunja klug ist und außerdem auch mich und dich liebt ...
+aber ich weiß wirklich nicht, wohin dies alles führen wird. Du hast mich
+glücklich gemacht, Rodja, weil du mich jetzt besucht hast, sie aber hat
+das versäumt; wenn sie zurückkommt, will ich auch ihr sagen, -- dein
+Bruder war hier, wo hast aber du die Zeit verbracht? Du sollst mich,
+Rodja, nicht verwöhnen; wenn du kannst, komm zu mir, wenn nicht, -- dann
+läßt sich eben nichts tun als warten. Ich werde trotzdem wissen, daß du
+mich liebst, und das genügt mir. Ich werde deine Schriften lesen, werde
+von allen über dich hören, und dann wirst du schon wieder einmal zu mir
+kommen und was kann ich mir besseres wünschen? Du bist doch jetzt auch
+gekommen, um die Mutter zu erfreuen, ich sehe es ...«
+
+Hier weinte plötzlich Pulcheria Alexandrowna.
+
+»Schon wieder weine ich! Achte nicht auf mich dumme Person! Ach, mein
+Gott, was sitze ich hier,« rief sie aus und fuhr von ihrem Platze auf,
+»ich habe doch Kaffee und biete dir nichts an! Siehst du, wie groß der
+Egoismus einer alten Frau ist. Sofort, sofort!«
+
+»Mama, lassen Sie es, ich will gleich wieder fortgehen. Ich bin nicht
+deswegen gekommen. Bitte, hören Sie mich an.«
+
+Pulcheria Alexandrowna trat schüchtern zu ihm.
+
+»Mama, was auch geschehen sollte, was Sie auch über mich hören sollten,
+was man Ihnen auch über mich sagen sollte, -- werden Sie mich dennoch
+ebenso lieben, wie jetzt?« fragte er sie aus vollem Herzen, als bedenke
+er seine Worte nicht und erwäge sie nicht.
+
+»Rodja, Rodja, was ist mit dir? Ja, wie kannst du nur so etwas fragen?
+Ja, wer wird mir denn etwas über dich sagen? Ich werde auch niemand
+glauben, mag kommen, wer da will, ich werde ihn hinausjagen.«
+
+»Ich bin gekommen, Ihnen zu sagen, daß ich Sie geliebt habe, und ich bin
+jetzt froh, daß wir allein sind, bin sogar froh, daß Dunetschka nicht zu
+Hause ist,« fuhr er in derselben Aufwallung fort, -- »ich bin gekommen,
+Ihnen offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich sein werden, Sie
+doch wissen sollen, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr liebt, als sich selbst,
+und daß alles, was Sie über mich gedacht haben, daß ich grausam sei und
+Sie nicht mehr liebe, alles nicht richtig ist. Ich werde nie aufhören,
+Sie zu lieben ... Nun, und genug; mir schien es, daß ich das sagen und
+damit beginnen müßte ...«
+
+Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn schweigend, preßte ihn an ihre Brust
+und weinte still.
+
+»Was mit dir ist, Rodja, weiß ich nicht,« sagte sie schließlich, »ich
+dachte die ganze Zeit, wir langweilen dich, jetzt aber sehe ich in
+meiner Weise, daß dir ein großer Kummer bevorsteht, worüber du dich
+grämst. Ich habe es schon lange gesehen, Rodja. Verzeih mir, daß ich
+darüber spreche; ich denke immer daran und schlafe des Nachts nicht.
+Diese Nacht hat auch deine Schwester die ganze Nacht in unruhigem
+Phantasieren verbracht und immer dich genannt. Ich habe einiges gehört,
+aber nichts verstanden. Den ganzen Morgen ging sie wie ein zu Tode
+Verurteilter herum, erwartete immer etwas, hatte Vorahnungen und nun ist
+es gekommen! Rodja, Rodja, wohin gehst du? Verreisest du etwa und
+wohin?«
+
+»Ich verreise.«
+
+»Ich dachte es mir! Ich kann doch mit dir reisen, wenn es nötig ist.
+Auch Dunja, sie liebt dich, sie liebt dich sehr, auch Ssofja Ssemenowna
+soll meinetwegen mit uns gehen, wenn es nötig ist; ich will sie gern an
+Tochterstatt aufnehmen, siehst du. Dmitri Prokofjitsch wird uns bei der
+Abreise helfen ... aber ... wohin ... reisest du?«
+
+»Leben Sie wohl, Mama.«
+
+»Wie! Heute schon!« rief sie in einem Ton aus, als verliere sie ihn auf
+ewig.
+
+»Ich kann nicht anders, es ist Zeit für mich, ich muß ...«
+
+»Und ich darf nicht mit dir gehen?«
+
+»Nein, knien Sie aber nieder und beten Sie für mich. Ihr Gebet wird
+vielleicht erhört.«
+
+»Laß mich dich bekreuzen, dich segnen! So, so! Oh, Gott, was tun wir!«
+
+Ja, er war froh, er war sehr froh, daß niemand da war, daß er mit der
+Mutter allein war. Es war, als wäre seit dieser ganzen schrecklichen
+Zeit sein Herz mit einem Male weich geworden. Er sank vor ihr hin, küßte
+ihre Füße und beide weinten, einander umarmend. Und sie wunderte sich
+nicht und fragte ihn nichts. Sie hatte schon lange begriffen, daß mit
+ihrem Sohne etwas Furchtbares vorgehe, und daß jetzt der schreckliche
+Augenblick für ihn gekommen war.
+
+»Rodja, mein Lieber, mein Erstgeborener,« sagte sie schluchzend, »du
+bist jetzt ebenso zu mir gekommen, wie du es als kleiner Junge tatest;
+hast mich umarmt und geküßt; als wir noch mit Vater lebten und uns
+kümmerlich durchschlugen, war es schon ein Trost für uns, daß du bei uns
+warst, als ich aber deinen Vater beerdigt hatte, -- wie oft haben wir
+uns da umarmt, genau so wie jetzt, und haben an seinem Grabe geweint.
+Daß ich aber lange schon weine, kommt davon, weil das Mutterherz dein
+Unglück ahnte. Als ich das erste Mal dich damals am Abend sah, --
+erinnerst du dich, -- als wir hier ankamen, habe ich alles an deinem
+Blicke allein erraten und mein Herz zuckte zusammen, heute aber, als ich
+dir öffnete und dich anblickte, dachte ich mir sofort, -- nun ist die
+Schicksalsstunde gekommen. Rodja, Rodja, du reisest doch nicht sofort
+ab?«
+
+»Nein.«
+
+»Du wirst noch einmal herkommen?«
+
+»Ja ... ich werde herkommen.«
+
+»Rodja, sei mir nicht böse, ich darf dich nicht ausfragen. Ich weiß, daß
+ich es nicht darf, aber sag mir bloß, nur zwei kleine Worte sage mir:
+Ist es weit, wohin du reist?«
+
+»Sehr weit.«
+
+»Was, hast du eine Anstellung dort oder ist es für deine Karriere
+wichtig?«
+
+»Was Gott gibt ... beten Sie nur für mich ...«
+
+Raskolnikoff ging zur Türe, aber sie hielt sich an ihm fest und sah ihm
+mit einem verzweifelten Blick in die Augen. Ihr Gesicht war vor
+Entsetzen entstellt.
+
+»Genug, Mama,« sagte Raskolnikoff und bereute tief, daß er auf den
+Gedanken gekommen war, herzukommen.
+
+»Es ist doch nicht für immer? Nicht für ewig? Du wirst doch noch
+herkommen, wirst du morgen kommen?«
+
+»Ich werde kommen, werde kommen, leben Sie wohl!«
+
+Er riß sich endlich los.
+
+Der Abend war frisch, warm und klar; das Wetter war seit dem Morgen
+schön geworden. Raskolnikoff ging eilig nach Hause. Er wollte allem bis
+zu Sonnenuntergang ein Ende machen. Bis dahin sollte ihn niemand sehen.
+Als er zu seiner Wohnung hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja sich vom
+Samowar abwandte, ihn unverwandt beobachtete und mit den Augen
+verfolgte. »Sollte etwa jemand bei mir sein?« dachte er. Voll
+Widerwillen dachte er an Porphyri Petrowitsch. Als er aber sein Zimmer
+erreicht und die Türe geöffnet hatte, erblickte er Dunetschka. Sie saß
+mutterseelenallein in tiefem Nachdenken und schien schon lange auf ihn
+zu warten. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschreckt
+vom Sofa und blieb aufgerichtet vor ihm stehen. Ihr Blick, unverwandt an
+ihm haftend, drückte Entsetzen und einen untilgbaren Kummer aus. Und an
+diesem Blicke merkte er sofort, daß sie alles wußte.
+
+»Soll ich zu dir hineinkommen oder fortgehen?« fragte er mißtrauisch.
+
+»Ich habe den ganzen Tag bei Ssofja Ssemenowna gesessen; wir haben dich
+beide erwartet. Wir dachten, daß du unbedingt dorthin kommen würdest.«
+
+Raskolnikoff trat in das Zimmer und setzte sich ermattet auf einen
+Stuhl.
+
+»Ich bin etwas schwach, Dunja; ich bin zu müde; ich möchte aber
+wenigstens in diesem Augenblicke mich völlig beherrschen.«
+
+Er warf ihr einen schnellen mißtrauischen Blick zu.
+
+»Wo warst du denn die ganze Nacht?«
+
+»Ich erinnere mich dessen nicht gut; siehst du, Schwester, ich wollte zu
+einem endgültigen Entschluß kommen und bin mehrere Male an der Newa hin-
+und hergegangen; dessen erinnere ich mich. Ich wollte dort ein Ende
+machen, aber ... konnte mich nicht entschließen ...« flüsterte er und
+blickte Dunja wieder mißtrauisch an.
+
+»Gott sei Dank! Und wie wir das fürchteten, -- ich und Ssofja
+Ssemenowna! Also, du glaubst noch ans Leben, -- Gott sei Dank, Gott sei
+Dank!«
+
+Raskolnikoff lächelte bitter.
+
+»Ich glaubte nicht daran, soeben aber habe ich die Mutter umarmt und mit
+ihr zusammen geweint; ich glaube nicht daran, aber ich habe sie gebeten,
+für mich zu Gott zu beten. Gott weiß, wie das alles vor sich geht,
+Dunetschka und ich begreife nichts.«
+
+»Du warst bei der Mutter? Du hast ihr es selbst gesagt?« rief Dunja
+entsetzt aus. -- »Hast du es gewagt, ihr zu sagen?«
+
+»Nein, ich habe ihr nichts ... mit Worten gesagt, aber sie hat vieles
+begriffen. Sie hat in der Nacht gehört, wie du phantasiert hast. Ich bin
+überzeugt, daß sie die Hälfte schon versteht. Ich habe vielleicht
+schlecht daran getan, daß ich zu ihr ging. Ich weiß auch nicht mal,
+warum ich zu ihr hingegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.«
+
+»Du ein gemeiner Mensch und bist doch bereit, das Leiden auf dich zu
+nehmen! Du gehst doch um zu leiden?«
+
+»Ich gehe. Sofort. Ja, um dieser Schande zu entgehen, wollte ich mich
+auch ins Wasser stürzen, Dunja, aber ich dachte, als ich schon über dem
+Wasser stand, wenn ich mich bisher für stark gehalten habe, so soll ich
+mich jetzt auch nicht vor der Schande fürchten,« sagte er. »Das ist der
+Stolz, Dunja?«
+
+»Ja, das ist der Stolz, Rodja.«
+
+Wie ein Feuer leuchtete es in seinen trüben Augen auf; ihm schien es
+eine Freude zu sein, daß er noch stolz sein konnte.
+
+»Meinst du aber nicht, Schwester, daß mir einfach vor dem Wasser bange
+war,« fragte er mit einem bitteren Lächeln und blickte ihr ins Gesicht.
+
+»Oh, Rodja, höre damit auf!« rief Dunja bitter aus.
+
+Etwa zwei Minuten dauerte das Schweigen. Er saß mit gesenktem Kopfe und
+sah zu Boden; Dunetschka stand am anderen Ende des Tisches und blickte
+ihn voll innerer Qual an.
+
+Plötzlich stand er auf.
+
+»Es ist spät, es ist Zeit. Ich gehe jetzt, mich anzuzeigen. Aber ich
+weiß nicht, warum ich gehe, mich anzuzeigen.«
+
+Große Tränen rollten über ihre Wangen.
+
+»Du weinst, Schwester, kannst du mir noch die Hand reichen?«
+
+»Und du hast daran zweifeln können?«
+
+Sie umarmte ihn innig.
+
+»Büßest du nicht schon zur Hälfte dein Verbrechen mit deinem Leid?« rief
+sie aus, drückte ihn fest an sich und küßte ihn.
+
+»Verbrechen? Was für ein Verbrechen?« rief er plötzlich in einem Anfalle
+von Wut, »etwa, weil ich eine scheußliche, bösartige Laus, eine alte
+Wucherin ermordet habe, die niemand braucht, für deren Ermordung einem
+vierzig Sünden vergeben werden müssen, die den Armen den letzten
+Blutstropfen aussaugte, -- und das soll ein Verbrechen sein? Ich denke
+gar nicht daran und denke nicht daran, es tilgen zu wollen. Und was
+kommen sie mir alle mit diesem Wort >Verbrechen, Verbrechen!< Jetzt erst
+sehe ich den ganzen Unsinn meiner Kleinmütigkeit klar, jetzt erst, wo
+ich mich schon entschlossen habe, diese unnötige Schande auf mich zu
+nehmen! Bloß aus Gemeinheit und aus Untauglichkeit habe ich mich dazu
+entschlossen, ja vielleicht auch aus Berechnung, wie dieser ... Porphyri
+Petrowitsch mir vorgeschlagen hat! ...«
+
+»Bruder, Bruder, was sagst du! Du hast aber doch Blut vergossen!« rief
+Dunja verzweifelt aus.
+
+»Das alle vergießen,« fiel er fast rasend ein, »das in der Welt wie ein
+Wasserfall fließt und immer geflossen ist, das wie Champagner vergossen
+wird, und für das man im Kapitol gekrönt und nachher Wohltäter der
+Menschheit genannt wird. Schau doch bloß näher zu und sieh es! Ich
+selbst wollte den Menschen Gutes und hätte hunderte, tausende gute Werke
+vollbracht, anstatt dieser einzigen Dummheit, die sogar keine Dummheit,
+sondern bloß eine Ungeschicktheit war, weil der gesamte Gedanke gar
+nicht so dumm war, wie er jetzt nach dem Mißlingen erscheint ... Beim
+Mißlingen erscheint alles dumm! ... Mit dieser Dummheit wollte ich mich
+bloß in eine unabhängige Stellung bringen, den ersten Schritt tun, die
+Mittel erhalten, und nachher würde alles durch einen verhältnismäßig
+unermeßlichen Nutzen ausgeglichen worden sein ... Aber ich, ich habe
+auch nicht mal den ersten Schritt ausgehalten, weil ich -- ein Schuft
+bin! Siehst du, so steht die Sache! Und dennoch kann ich eure Ansicht
+nicht teilen, -- wäre es mir gelungen, so würde man mich gekrönt haben,
+jetzt aber muß ich in die Falle!«
+
+»Aber das ist es doch nicht, ganz und gar nicht! Bruder, was sagst du
+nur!«
+
+»Ah! Nicht die richtige Form, die Form ist nicht ästhetisch genug! Nun,
+ich begreife entschieden nicht, -- warum es eine angesehenere Form sein
+soll auf die Menschen Bomben zu werfen, eine regelrechte Belagerung zu
+führen? Die Furcht vor dem Unästhetischen ist das erste Zeichen von
+Schwäche! ... Niemals, niemals habe ich es klarer als jetzt empfunden,
+und mehr als je begreife ich jetzt mein Verbrechen! Niemals, niemals war
+ich stärker und überzeugter, als jetzt!«
+
+Das Blut war in sein blasses, abgehärmtes Gesicht gestiegen. Als er die
+letzten Worte aussprach, begegnete zufällig sein Blick den Augen Dunjas
+und er sah darin soviel, soviel Qual seinetwegen, daß er unwillkürlich
+zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er trotz alledem diese zwei armen
+Frauen unglücklich gemacht hatte. Er war trotz alledem noch die Ursache
+dazu ...
+
+»Dunja, liebe Dunja! Wenn ich Schuld habe, vergib mir, obwohl man mir
+nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe. Lebwohl! Wir wollen uns nicht
+streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe
+dich an, ich muß noch zu jemandem hingehen ... Gehe sofort zur Mutter
+und setze dich zu ihr hin. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte
+größte Bitte an dich. Verlaß sie in dieser Zeit nicht; ich habe sie in
+Unruhe hinterlassen, die sie kaum überstehen wird, -- entweder stirbt
+sie oder sie verliert den Verstand. Bleib bei ihr! Rasumichin wird euch
+zur Seite stehen; ich habe es ihm gesagt ... Weine nicht um mich, -- ich
+werde versuchen, mutig und ehrlich das ganze Leben zu sein, obwohl ich
+ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde
+euch keine Schande machen, du wirst sehen; ich will noch beweisen ...
+jetzt, vorläufig auf Wiedersehen,« beeilte er sich zu sagen, als er in
+den Augen Dunjas wieder einen sonderbaren Ausdruck bei seinen letzten
+Worten und Versprechungen bemerkte. -- »Warum weinst du denn so? Weine
+nicht, weine nicht; wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach, ja!
+Warte, ich habe etwas vergessen! ...«
+
+Er trat an den Tisch, nahm ein dickes verstaubtes Buch, öffnete es und
+nahm ein kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der
+Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben
+war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das in ein Kloster gehen
+wollte. Eine Weile blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte
+Gesicht an, küßte das Bild und überreichte es Dunetschka.
+
+»Mit ihr habe ich viel _darüber_ gesprochen, mit ihr allein,« sagte er
+sinnend, »ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was nachher
+sich in so häßlicher Weise erfüllt hatte. Sei ruhig,« wandte er sich an
+Dunetschka, »sie war mit mir nicht einverstanden, so wenig wie du, und
+ich bin froh, daß sie nicht mehr lebt. Die Hauptsache, die Hauptsache
+ist, daß alles jetzt neu anhebt, daß alles entzwei brechen wird,« rief
+er plötzlich aus, wieder in seinen Gram zurückfallend, »alles, alles,
+bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es auch selbst? Man sagt, es sei
+nötig zu meiner Prüfung! Wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen?
+Wozu sind sie, werde ich etwa dann erdrückt von Qual und Stumpfheit in
+greisenhafter Schwäche nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit es besser
+empfinden, als ich es jetzt tue, und wozu soll ich dann noch leben?
+Warum gehe ich jetzt darauf ein, so zu leben? Oh, ich wußte, daß ich ein
+Schuft bin, als ich heute bei Tagesanbruch an der Newa stand!«
+
+Beide gingen schließlich hinaus. Es war Dunja schwül, aber sie liebte
+ihn! Sie ging von ihm, aber als sie etwa fünfzig Schritte gegangen war,
+wandte sie sich noch einmal um, um ihm nachzuschauen. Man konnte ihn
+noch sehen. Als er an die Ecke kam, wandte er sich ebenfalls um; zum
+letzten Male trafen sich ihre Blicke; als er aber bemerkte, daß sie ihm
+nachblickte, winkte er ihr ungeduldig und ärgerlich mit der Hand, daß
+sie weitergehen solle, und bog selbst schnell um die Ecke.
+
+»Ich bin böse, ich merke es,« dachte er und schämte sich seiner
+ärgerlichen Handbewegung. -- »Aber warum lieben sie mich so, wenn ich
+ihrer Liebe nicht wert bin! Oh, wäre ich allein und hätte mich niemand
+lieb, und hätte ich selbst niemals jemand geliebt! _Alles dieses wäre
+nicht gewesen!_ Ich gäbe viel darum, wenn ich wüßte, ob nach diesen
+kommenden fünfzehn, zwanzig Jahren meine Seele so gedemütigt sein wird,
+daß ich voll Ehrfurcht vor Menschen ächzen und klagen und mich bei jedem
+Worte Räuber nennen werde? Ja, es wird so kommen, wird kommen! Darum
+schicken sie mich auch jetzt nach Sibirien, sie wollen es haben ... Da
+laufen sie nun alle in den Straßen herum, und jeder unter ihnen ist
+schon seiner Natur nach ein Schuft und Räuber; schlimmer noch -- ein
+Idiot! Sollte man aber mich mit Sibirien verschonen, so würden sie alle
+vor edler Empörung überschäumen! Oh, wie ich sie alle hasse!«
+
+Er sann darüber nach, -- »auf welche Weise es kommen müsse, damit er
+zuletzt, ohne mit sich in Widerspruch zu geraten, demütiger würde! Warum
+denn auch nicht? Sicher wird es so werden. Werden ihn die zwanzig Jahre
+ununterbrochener Unterdrückung nicht endgültig brechen? Steter Tropfen
+höhlt den Stein. Und warum, wozu nach alledem noch leben, wozu gehe ich
+jetzt hin, wenn ich selbst weiß, daß alles genau so kommen wird, und
+nicht anders?«
+
+Er legte sich diese Frage vielleicht schon zum hundertsten Male seit
+gestern Abend vor, aber dennoch ging er hin.
+
+
+ VIII.
+
+Als er zu Ssonja eintrat, begann es schon zu dämmern. Ssonja hatte den
+ganzen Tag in schrecklicher Aufregung auf ihn gewartet; schon mit Dunja
+zusammen. Dunja war am frühen Morgen zu ihr gekommen, als sie sich der
+Worte von Sswidrigailoff erinnerte, daß Ssonja »darüber alles weiß«. --
+Wir wollen der Einzelheiten der Unterhaltung zwischen den beiden Frauen,
+ihrer Tränen und dessen, wie weit sie einander näher gekommen waren,
+nicht gedenken. Dunja hatte bei dieser Zusammenkunft wenigstens den
+Trost gefunden, daß ihr Bruder nicht allein sein werde -- zu ihr, zu
+Ssonja, war er zuerst mit seiner Beichte gegangen; in ihr hatte er einen
+Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; sie würde ihm auch
+überall folgen, wohin das Schicksal ihn führen sollte. Sie fragte auch
+nicht, aber sie wußte, daß es so kommen werde. Sie begegnete Ssonja
+sogar mit Ehrfurcht und machte sie zuerst dadurch ganz verwirrt. Ssonja
+war anfangs nahe daran, zu weinen; sie hielt sich für unwürdig, Dunja
+nur anzublicken. Das Bild Dunjas, als sie sich so aufmerksam und
+achtungsvoll bei ihrem ersten Zusammentreffen in Raskolnikoffs Wohnung
+von ihr verabschiedet, hatte sich seitdem für immer in ihrer Seele
+eingegraben, als einer der schönsten und höchsten Augenblicke in ihrem
+Leben.
+
+Dunetschka hatte es schließlich nicht mehr ausgehalten, sie war von
+Ssonja gegangen, um den Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie
+glaubte, daß er dorthin schließlich zuerst gehen würde. Als Ssonja
+allein geblieben war, begann sie sich mit dem Gedanken, daß er wirklich
+ein Leid sich antun würde, zu quälen. Dasselbe fürchtete auch Dunja.
+Aber beide übertrafen sich den ganzen Tag in dem Bestreben, einander zu
+überzeugen, daß es nicht der Fall sein könne, und waren ruhiger, solange
+sie beisammen waren. Jetzt aber, wo sie getrennt waren, dachte die eine
+wie die andere nur noch daran. Ssonja erinnerte sich, daß Sswidrigailoff
+ihr gestern gesagt hatte, Raskolnikoff habe nur zwei Wege, -- entweder
+Sibirien, oder ... Sie kannte zudem seinen Ehrgeiz, seinen Stolz, seine
+Eigenliebe und seinen Unglauben.
+
+»Kann nur der Kleinmut und die Furcht vor dem Tode ihn zwingen, zu
+leben?« dachte sie schließlich in Verzweiflung. Und die Sonne ging schon
+unter. Sie stand traurig vor dem Fenster und blickte unverwandt hinaus,
+-- aber man sah hier bloß die ungeweißte Grundmauer des Nachbarhauses.
+Als sie schon von dem Tode des Unglücklichen völlig überzeugt war, --
+trat er in ihr Zimmer.
+
+Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Aber als sie aufmerksam
+sein Gesicht ansah, erbleichte sie sofort.
+
+»Nun, ja!« sagte Raskolnikoff mit bitterem Lächeln, »ich komme, mir dein
+Kreuz zu holen, Ssonja. Du hast mich doch selbst auf den Kreuzweg
+geschickt; was, bist du etwa bange geworden, da es zur Ausführung
+kommt?«
+
+Ssonja blickte ihn fassungslos an. Dieser Ton erschien ihr merkwürdig,
+-- ein kaltes Frösteln durchzog ihren Körper, nach einer Minute aber
+erriet sie, daß der Ton, wie auch die Worte nur angenommen waren. Er
+sprach auch mit ihr so sonderbar, indem er zur Seite blickte und
+vermied, ihr ins Gesicht zu sehen.
+
+»Ich habe, -- siehst du, Ssonja, -- eingesehen, daß es in dieser Weise
+auch vielleicht vorteilhafter sein wird. Es gibt hier einen Umstand ...
+Es ist lange zu erzählen und lohnt sich auch nicht. Weißt du, was mich
+bloß ärgert? Mir ist es ärgerlich, daß alle diese dummen tierischen
+Fratzen mich gleich umringen, mich anglotzen, mir ihre dumme Frage
+vorlegen werden, die man beantworten muß, -- und daß man auf mich mit
+Fingern zeigen wird ... Pfui! Weißt du, ich will nicht zu Porphyri
+Petrowitsch gehen; er langweilt mich. Ich gehe lieber zu meinem Freunde
+Pulver, der wird erstaunen, da werde ich einen Effekt in seiner Art
+erringen. Man müßte kaltblütiger sein; ich bin in der letzten Zeit zu
+erbittert geworden. Glaubst du mir, -- ich habe soeben meiner Schwester
+fast mit der Faust gedroht und bloß aus dem Grunde, weil sie sich
+umwandte, um mich zum letzten Male zu sehen. So ein Zustand ist eine
+Schweinerei! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Nun, wo ist das
+Kreuz?«
+
+Er war wie ausgewechselt. Er konnte nicht mal einen Augenblick auf einem
+Flecke ruhig stehen, konnte seine Aufmerksamkeit auf keinen Gegenstand
+konzentrieren, seine Gedanken übersprangen einander, er redete wirr;
+seine Hände zitterten leicht.
+
+Ssonja nahm schweigend aus einem Kasten zwei Kreuze -- eins aus
+Zypressenholz und das andere aus Kupfer; sie bekreuzte sich selbst,
+bekreuzte ihn und legte um seinen Hals das Kreuzlein aus Zypressenholz.
+
+»Das ist also ein Symbol, daß ich das Kreuz auf mich nehme, he! he! Als
+hätte ich bis jetzt wenig gelitten! Aus Zypressenholz, also wie das Volk
+es trägt; das kupferne, das von Lisaweta, nimmst du, zeige mir. Also sie
+hatte es ... in dem Augenblicke um? Ich kenne auch zwei ähnliche Kreuze,
+ein silbernes und ein Heiligenbildchen. Ich warf sie damals der Alten
+auf die Brust. -- Die würden jetzt passen, wirklich, die sollte ich auch
+umlegen ... übrigens, ich lüge die ganze Zeit, vergesse immer die
+Angelegenheit, die mich herführte, ich bin ein wenig zerstreut ...
+Siehst du, Ssonja, -- ich bin eigentlich gekommen, um dir es vorher zu
+sagen, damit du es weißt ... Das ist auch alles ... Ich bin bloß
+deswegen gekommen. Hm! ich dachte übrigens, daß ich dir mehr sagen werde
+... Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun, jetzt werde ich im
+Gefängnis sitzen und dein Wunsch wird erfüllt sein. Warum weinst du
+denn? Auch du weinst? Höre auf, laß es, ach, wie schwer mir alles ist!«
+
+Eine weichere Empfindung überkam ihn doch; sein Herz schnürte sich bei
+ihrem Anblicke zusammen. -- »Warum weint sie denn?« dachte er, »was bin
+ich ihr? Warum weint sie, warum nimmt sie von mir Abschied, wie meine
+Mutter oder Dunja? Sie wird mein Kindermädchen sein!«
+
+»Bekreuze dich, bete wenigstens einmal,« bat ihn Ssonja mit zitternder,
+schüchterner Stimme.
+
+»Oh, bitte, soviel du wünschst! Und ich tue es mit aufrichtigem Herzen,
+Ssonja, mit aufrichtigem Herzen ...«
+
+Er wollte etwas ganz anderes sagen.
+
+Er bekreuzte sich einige Male. Ssonja nahm ein Tuch und warf es um die
+Schulter. Es war ein großes grünes Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von
+dem Marmeladoff damals gesprochen hatte. Raskolnikoff kam der Gedanke,
+aber er fragte nicht danach. Er begann in der Tat selbst zu fühlen, daß
+er schrecklich zerstreut und eigentümlich beunruhigt war. Er erschrak
+darüber. Es setzte ihn auch plötzlich in Erstaunen, daß Ssonja mit ihm
+gehen wolle.
+
+»Was ist? Wohin willst du? Bleibe, bleibe zu Hause! Ich gehe allein,«
+rief er in kleinmütigem Ärger und ging beinahe erzürnt zu der Türe. --
+»Und wozu ein ganzes Gefolge!« murmelte er hinaustretend.
+
+Ssonja blieb mitten im Zimmer stehen. Er hatte nicht mal Abschied von
+ihr genommen, er hatte sie schon vergessen; ein brennender und sich
+empörender Zweifel wogte in seiner Seele.
+
+»Ist es auch das Richtige, ist auch alles richtig?« dachte er wieder,
+als er die Treppe hinunterging, »kann man denn nicht stehen bleiben und
+alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen?«
+
+Er ging aber doch den Weg. Er sagte sich endgültig, daß es sich nicht
+lohne, weitere Fragen an sich zu stellen. Auf der Straße fiel es ihm
+ein, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im
+Zimmer in ihrem grünen Tuche stehen geblieben war, ohne zu wagen, sich
+zu rühren, als er sie angeschrien hatte, -- und er blieb eine Weile
+stehen. Im selben Augenblick durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke, --
+als hätte er nur gewartet, um ihn vollständig verwirrt zu machen.
+
+»Wozu, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr, -- in einer
+Angelegenheit; was war es für eine Angelegenheit? Es war absolut nichts!
+Um ihr mitzuteilen, daß ich _hingehe_; was ist denn dabei? War es
+notwendig, das ihr zu sagen? Liebe ich sie etwa? Nein, doch gar nicht?
+Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich
+etwa ihre Kreuze? Oh, wie tief ich gesunken bin! Nein, -- ich brauchte
+ihre Tränen, ich mußte ihr Erschrecken sehen, ich mußte sehen, wie ihr
+das Herz schmerzt und sie sich quält! Ich mußte mich an irgend etwas
+anklammern, es in die Länge ziehen, einen Menschen sehen! Und ich habe
+es gewagt, so auf mich zu hoffen, so von mir zu träumen, ich Bettler,
+ich unbedeutender Schuft, Schuft!«
+
+Er ging am Kanale entlang und hatte nicht mehr weit. Als er aber bis zur
+Brücke kam, blieb er einen Augenblick stehen, bog dann zur Seite ab und
+ging über die Brücke zum Heumarkte.
+
+Er blickte neugierig rechts und links um sich, betrachtete aufmerksam
+jeden Gegenstand und konnte auf nichts die Aufmerksamkeit konzentrieren;
+alles entglitt ihm. -- »Nach einer Woche, nach einem Monat wird man mich
+in einem Gefängniswagen irgendwohin über diese Brücke führen, wie werde
+ich dann diesen Kanal ansehen, -- ich müßte es mir merken,« durchfuhr es
+ihn. »Dieses Aushängeschild dort, -- wie werde ich dann diese Buchstaben
+lesen? Da steht geschrieben -- _Genossenschaft_, -- nun, ich sollte mir
+dieses >o<, diesen Buchstaben o merken, und nach einem Monat dieses o
+ansehen, -- wie werde ich es dann ansehen? Was werde ich dann empfinden
+und denken? ... Mein Gott, wie dies alles gemein sein muß, alle meine
+jetzigen ... Sorgen! Gewiß, dies alles muß interessant ... in seiner Art
+sein ... ha! ha! ha! ... worüber ich bloß denke! Ich werde wie ein Kind,
+ich spiele mit mir selbst; nun, warum halte ich mir dieses vor? Pfui,
+wie sie stoßen! Dieser Dicke da, -- wahrscheinlich ein Deutscher, -- der
+mich soeben gestoßen hat; nun, weiß er, wen er gestoßen hat? Eine Frau
+mit einem Kinde bettelt, es ist amüsant, daß sie mich für glücklicher
+als sich selbst hält. Was, sollte ich der Kuriosität wegen ihr auch ein
+Almosen geben? Bah, ich habe ja volle fünf Kopeken in der Tasche, woher
+bloß? Na ... nimm es, Mütterchen!«
+
+»Gott schütze dich!« ertönte die weinerliche Stimme der Bettlerin.
+
+Er trat auf den Heumarkt. Ihm war es unangenehm, sehr unangenehm sogar,
+mit Leuten zusammenzukommen, er ging aber gerade dorthin, wo man am
+meisten Menschen sah. Er hätte alles in der Welt hingegeben, um allein
+zu bleiben, aber er fühlte selbst, daß er keinen einzigen Augenblick
+allein sein konnte. In einer Menge trieb ein Betrunkener sein Wesen, er
+wollte die ganze Zeit tanzen, fiel aber immer hin. Man hatte ihn
+umringt. Raskolnikoff drängte sich durch die Menge hindurch, blickte
+einige Augenblicke den Betrunkenen an und lachte plötzlich kurz und
+abgerissen auf. Nach einer Minute hatte er ihn schon vergessen, bemerkte
+ihn nicht mehr, obwohl er ihn noch anblickte. Er ging schließlich
+zurück, ohne sich zu erinnern, wo er sich befand; als er aber bis zur
+Mitte des Platzes gekommen war, vollzog sich mit ihm plötzlich eine
+Veränderung, eine Empfindung packte ihn mit einem Male, nahm ihn
+vollständig körperlich und seelisch -- gefangen.
+
+Er erinnerte sich plötzlich der Worte von Ssonja, »geh zu einem
+Kreuzweg, verneige dich vor den Menschen, küsse die Erde, weil du vor
+ihr gesündigt hast, und sage laut der ganzen Welt: -- Ich bin ein
+Mörder!«
+
+Er zitterte am ganzen Körper, als er sich daran erinnerte. Und so stark
+hatte ihn schon der aussichtslose Gram und die Unruhe der ganzen Zeit,
+besonders aber der letzten Stunden erdrückt, daß er sich dieser neuen
+Empfindung vollkommen und ungeteilt hingab. Wie ein Anfall war es
+plötzlich über ihn gekommen; durch einen Funken entzündete es sich in
+seiner Seele und erfaßte ihn mit einem Male, wie ein Feuer, ganz und
+gar. Alles wurde in ihm weich und Tränen stürzten hervor. Wie er stand,
+so fiel er auch zu Boden ...
+
+Er kniete mitten auf dem Platze nieder, verneigte sich bis zur Erde und
+küßte diese schmutzige Erde voll Genuß und Glück. Er stand auf und
+verneigte sich zum zweiten Male ...
+
+»Sieh, wie der sich vollgesoffen hat!« bemerkte ein Bursche in seiner
+Nähe.
+
+Lachen ertönte.
+
+»Er geht nach Jerusalem, nimmt Abschied von seinen Kindern, seiner
+Heimat, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt
+Sankt Petersburg und seinen Boden,« fügte ein betrunkener Kleinbürger
+hinzu.
+
+»Er ist noch jung, der Bursche!« bemerkte ein dritter.
+
+»Einer von den Adeligen!« sagte jemand mit gesetzter Stimme.
+
+»Heutzutage erkennt man nicht mehr, wer von Adel ist, und wer nicht.«
+
+Alle diese Zurufe und Bemerkungen hielten Raskolnikoff zurück, und das
+Bekenntnis »ich habe getötet!,« das er abzulegen bereit war, unterblieb.
+Die Zurufe nahm er in Ruhe hin, ging ohne sich umzusehen, durch eine
+Gasse zum Polizeibureau. Unterwegs bemerkte er, daß ihm jemand folgte,
+aber er war darüber nicht erstaunt; er hatte es geahnt. Als er auf dem
+Heumarkte sich zum zweiten Male bis zur Erde verneigte und sich links
+wandte, erblickte er fünfzig Schritte entfernt Ssonja. Sie verbarg sich
+vor ihm hinter einer der hölzernen Buden, die auf dem Markte standen,
+also hatte sie ihn auf seinem ganzen Leidensweg begleitet. Raskolnikoff
+fühlte und begriff in diesem Augenblicke ein für allemal, daß Ssonja
+ewig bei ihm sein und ihm bis ans Ende der Welt folgen werde, was ihm
+das Schicksal auch senden würde. Und sein Herz wandte sich ... aber, --
+er war schon an der verhängnisvollen Stelle angelangt ...
+
+Ziemlich sicher trat er in den Hof. Er mußte in den dritten Stock. --
+»Es dauert noch eine Weile, bis ich hinaufkomme,« dachte er. Überhaupt
+schien es ihm, als wäre es noch weit bis zu dem entscheidenden
+Augenblicke, als hätte er noch viel Zeit und könne sich vieles noch
+überlegen.
+
+Wieder derselbe Schmutz, dieselben Schalen auf der sich windenden
+Treppe, wieder waren die Türen zu den Wohnungen weit offen, wieder
+dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank herausdrang. Raskolnikoff
+war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine erstarben und
+knickten zusammen, aber sie trugen ihn vorwärts. Er blieb einen
+Augenblick stehen, um Atem zu holen, um sich in Ordnung zu bringen, um
+als _Mensch_ einzutreten.
+
+»Wozu aber? Warum?« dachte er plötzlich, als er seiner Bewegung gewahr
+wurde. -- »Wenn man schon diesen Kelch leeren muß, ist dann nicht alles
+gleichgültig? Je häßlicher, um so besser!«
+
+In seiner Erinnerung tauchte in diesem Momente die Gestalt von Ilja
+Petrowitsch Pulver auf. »Soll ich tatsächlich zu ihm gehen? Kann ich
+nicht zu einem anderen? Nicht zu Nikodim Fomitsch? Oder sofort umkehren
+und zum Kommissar selbst in seine Wohnung gehen? Alles wird wenigstens
+dann in angenehmerer Weise ... Nein, nein! Zu Pulver, zu Pulver! Wenn
+ich ihn schon leeren soll, so alles auf einmal ...«
+
+Erstarrt vor Kälte und kaum seiner mächtig, öffnete er die Türe zum
+Polizeibureau. Diesmal waren sehr wenig Leute da, ein Hausknecht und
+noch ein Mann. Der Wächter schaute nicht einmal aus seiner Kammer
+heraus. Raskolnikoff ging in das andere Zimmer. -- »Vielleicht läßt es
+sich noch vermeiden,« schwirrte es ihm durch den Kopf. In diesem Zimmer
+begann gerade irgend ein Schreiber in Zivilkleidung etwas auf seinem
+Pulte zu schreiben. In einer Ecke setzte sich ein anderer Schreiber hin.
+Sametoff war nicht da. Nikodim Fomitsch selbstverständlich auch nicht.
+
+»Ist niemand da?« fragte Raskolnikoff, sich an den Schreiber am Pulte
+wendend.
+
+»Wen wünschen Sie?«
+
+»Ah -- ah! Man hört nichts, man sieht nichts, bloß der russische Geist
+... wie heißt es doch in jenem Märchen ... habe es vergessen! M--m--mein
+Kompliment!« rief plötzlich eine bekannte Stimme.
+
+Raskolnikoff erbebte. Vor ihm stand Pulver; er war unbemerkt aus dem
+dritten Zimmer eingetreten.
+
+»Das ist das Schicksal,« dachte Raskolnikoff, »warum ist er hier?«
+
+»Zu uns? In welcher Angelegenheit?« rief Ilja Petrowitsch aus. (Er war
+offenbar in ausgezeichneter und sogar ein wenig erregter Stimmung.)
+»Wenn Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit kommen, so ist es dazu
+noch zu früh. Ich selbst bin nur zufälligerweise hier ... Übrigens stehe
+ich zu Ihren Diensten. Ich muß gestehen ... Wie? Wie? Entschuldigen Sie
+...«
+
+»Raskolnikoff.«
+
+»Aha, Raskolnikoff? Konnten Sie glauben, daß ich Ihren Namen vergessen
+habe! Bitte, halten Sie mich nicht für so einen ... Rodion Ro... Ro...
+Rodionytsch, nicht wahr, es ist doch richtig?«
+
+»Rodion Romanowitsch.«
+
+»Ja, ja, ja! Rodion Romanowitsch, Rodion Romanowitsch! Das wollte ich
+gerade wissen. Habe mich sogar mehrere Male nach Ihnen erkundigt. Ich
+muß Ihnen gestehen, seit der Zeit war ich aufrichtig betrübt, als wir
+damals mit Ihnen so ... man hat mir nachher alles erklärt, ich erfuhr,
+daß Sie ein junger Literat und sogar Gelehrter ... und sozusagen, die
+ersten Schritte ... oh, mein Gott! Ja, wer von den Literaten und
+Gelehrten hat im Anfange nicht originelle Schritte getan! Ich und meine
+Frau, -- wir beide schätzen die Literatur, meine Frau sogar
+leidenschaftlich! ... Literatur und Kunst! Wenn einer nur anständig ist,
+alles übrige aber kann er durch Talent, Wissen, Verstand, Genie
+erwerben! Ein Hut -- nun, was bedeutet z. B. ein Hut? Ein Hut ist ein
+Deckel, ich kann ihn im besten Laden kaufen; was aber unter dem Hute
+steckt und mit dem Hute verdeckt wird, das kann ich nicht kaufen! ...
+Ich muß gestehen, wollte sogar zu Ihnen kommen, Ihnen eine Erklärung
+abgeben, aber ich dachte, daß Sie vielleicht ... Jedoch ich vergesse
+ganz, Sie zu fragen, -- brauchen Sie tatsächlich etwas von uns? Man
+sagte mir, Sie haben Besuch von Ihren Verwandten?«
+
+»Ja, meine Mutter und Schwester.«
+
+»Ich hatte sogar die Ehre und das Glück, Ihre Schwester zu treffen, --
+eine gebildete und reizende Dame. Ich muß gestehen, ich bedauerte sehr,
+daß wir damals beide so hitzig wurden. Ein Zufall! Und daß ich Sie
+damals infolge Ihrer Ohnmacht, mit einem gewissen Blicke ansah, -- das
+hat sich doch sofort in glänzendster Weise aufgeklärt! Grausamkeit und
+Fanatismus! Ich begreife Ihre Entrüstung. Sie werden wohl infolge der
+Ankunft Ihrer Familie in eine andere Wohnung ziehen und wollen uns wohl
+das anmelden?«
+
+»N--nein, ich bin bloß ... Ich bin gekommen, zu fragen ... ich dachte,
+daß ich Herrn Sametoff hier antreffen werde.«
+
+»Ach, ja! Sie sind ja Freunde geworden; ich habe davon gehört. Nein,
+Sametoff ist nicht bei uns, -- den haben Sie verfehlt. Wir haben Herrn
+Sametoff verloren! Seit gestern ist er nicht mehr bei uns; er ist in
+einen anderen Dienst übergetreten ... und hat sich zum Abschied mit
+allen gezankt ... er war zuletzt noch sehr unhöflich ... Er war ein
+leichtsinniger Junge, mehr nichts; er berechtigte wohl zu Hoffnungen;
+ja, aber so geht es mit unserer glänzenden Jugend! Er will ein Examen
+ablegen, wir kennen das, -- sind bloß Redensarten, Wichtigtuerei und das
+wird das ganze Examen sein. Es ist doch nicht, wie bei Ihnen z. B. der
+Fall oder bei Herrn Rasumichin, Ihrem Freunde! Ihre Karriere ist die
+eines Gelehrten, und Mißerfolge werden Sie nicht verstimmen. Für Sie
+sind dies alles Reize des Lebens -- nihil. Sie sind ein Asket, ein
+Mönch, ein Einsiedler! ... für Sie hat nur ein Buch Bedeutung, die
+Feder, die Gelehrten und Untersuchungen, -- darin schwelgt Ihr Geist!
+Ich bin teilweise selbst so ... Haben Sie das Buch von Livingstone
+gelesen?«
+
+»Nein.«
+
+»Ich habe es gelesen. Heutzutage gibt es übrigens viel zu viel
+Nihilisten; es ist auch begreiflich; die Zeiten sind auch danach, nicht
+wahr? Übrigens ich ... Sie sind doch selbstverständlich kein Nihilist!
+Sagen Sie es mir aufrichtig, ganz offen.«
+
+»N--nein ...«
+
+»Nein, ach, seien Sie doch mir gegenüber ganz offen, genieren Sie sich
+nicht, tun Sie, als wären Sie allein mit sich! Der Dienst ist ein Ding
+für sich, ein anderes Ding ... Sie meinten, ich wollte _Freundschaft_
+sagen, nein, Sie haben es nicht erraten! Nicht Freundschaft, sondern das
+Gefühl eines Mitbürgers und Mitmenschen, das Gefühl der Humanität und
+der Liebe zum Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Stellung und ein
+Amt einnehmen, aber ich bin dennoch verpflichtet, den Bürger und
+Menschen in mir stets zu fühlen, und muß mir darüber Rechenschaft
+abgeben ... Sie beliebten Sametoff zu erwähnen. Sametoff ist imstande,
+auf französische Art, in einem unanständigen Lokale beim Glas Champagner
+oder moussierendem Wein loszulegen, -- sehen Sie, das ist Ihr Sametoff!
+Ich aber bin sozusagen in Ergebenheit und hohen Gefühlen ganz
+aufgegangen, habe außerdem einen Rang, eine Position, bekleide ein Amt!
+Bin verheiratet und habe Kinder. Ich erfülle meine Pflichten als Bürger
+und Mensch, wer aber ist er, gestatten Sie mir die Frage? Ich wende mich
+an Sie, als einen durch Bildung geadelten Menschen. Sehen Sie, auch sehr
+viel gelehrte Hebammen haben wir in letzter Zeit.«
+
+Raskolnikoff zog fragend die Augenbrauen empor. Die Worte von Ilja
+Petrowitsch, der anscheinend vor kurzem erst vom Mittagstische
+aufgestanden war, schwirrten an seinem Ohre vorbei! Einen kleinen Teil
+davon hatte er wohl aufgefangen. Er blickte ihn fragend an und wußte
+nicht, wo er hinaus wollte.
+
+»Ich spreche von diesen kurzgeschorenen Mädchen,« fuhr der redselige
+Ilja Petrowitsch fort, »ich habe sie selbst gelehrte Hebammen benannt
+und finde, daß diese Benennung sehr treffend ist. He! he! Sie kriechen
+in die medizinische Akademie, lernen Anatomie; und, sagen Sie mir,
+glauben Sie, wenn ich krank werde, daß ich mir etwa ein solches Mädchen
+hole ließe, daß sie mich behandele? He! he!«
+
+Ilja Petrowitsch lachte, sehr zufrieden mit seinen eigenen Witzen.
+
+»Es ist wohl wahr, der Durst nach Bildung ist grenzenlos; aber nachdem
+einer sich gebildet hat, muß es für ihn genug sein. Warum denn es
+mißbrauchen? Warum denn ehrenhafte Personen beleidigen, wie es dieser
+Schurke Sametoff tut? Warum hat er mich beleidigt, frage ich Sie? Und
+wie die Selbstmorde jetzt zunehmen, -- Sie können es sich gar nicht
+vorstellen. Alle verprassen ihr letztes Geld und töten sich dann. Kleine
+Mädchen, Jungen, Greise ... Heute früh noch erhielten wir Mitteilung
+über einen vor kurzem zugereisten Herrn Nil Pawlytsch, ah, Nil
+Pawlytsch! Wie hieß doch dieser Gentleman, der sich erschossen hat, über
+den wir die Mitteilung vorhin erhielten?«
+
+»Sswidrigailoff,« antwortete jemand aus dem anderen Zimmer laut und
+teilnahmslos.
+
+Raskolnikoff zuckte zusammen.
+
+»Sswidrigailoff! Sswidrigailoff hat sich erschossen?« rief er aus.
+
+»Wie! Sie kannten Sswidrigailoff?«
+
+»Ja ... ich kannte ihn ... Er war vor kurzem hierher gekommen ...«
+
+»Nun, ja, er ist vor kurzem zugereist, hat seine Frau verloren, führte
+ein ausschweifendes Leben, und hat sich plötzlich erschossen, und so
+skandalös, daß man es sich nicht vorstellen kann ... hat in seinem
+Notizbuche ein paar Worte hingeschrieben, daß er bei vollem Verstande
+sterbe, und bittet, niemanden wegen seines Todes zu beschuldigen. Er
+hatte Geld, sagt man. Wie haben Sie ihn denn kennengelernt?«
+
+»Ich ... kannte ihn ... meine Schwester war in seinem Hause als
+Gouvernante ...«
+
+»Ah ... Sie können uns also über ihn einiges mitteilen. Sie ahnten gar
+nichts davon?«
+
+»Ich habe ihn gestern gesehen ... er ... trank Wein ... ich ahnte
+nichts.«
+
+Raskolnikoff fühlte sich so niedergeschmettert, als wäre etwas auf ihn
+heruntergefallen und drücke ihn zu Boden.
+
+»Sie sind blaß geworden. Bei uns ist die Luft sehr stickig ...«
+
+»Ja, es ist für mich Zeit zu gehen,« murmelte Raskolnikoff, --
+»entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe ...«
+
+»Oh, bitte sehr! Es war mir ein Vergnügen und ich bin froh, Ihnen zu
+sagen ...«
+
+Ilja Petrowitsch reichte ihm die Hand.
+
+»Ich wollte bloß ... zu Sametoff ...«
+
+»Ich begreife, begreife. Es war mir ein Vergnügen.«
+
+»Ich ... freue mich sehr ... auf Wiedersehen ...« lächelte Raskolnikoff.
+
+Er ging hinaus; schwankend. Der Kopf schwindelte ihm. Er fühlte seine
+Füße nicht mehr. Langsam begann er die Treppe hinabzusteigen und stützte
+sich dabei mit der rechten Hand an der Wand. Es schien ihm, daß ein
+Hausknecht mit einem Buche in der Hand ihn gestoßen habe, daß ein Hund
+im unteren Stockwerke ununterbrochen belle und daß ein Weib ein
+Holzscheit nach dem Hunde werfe und ihn anschreie. Er ging die Treppe
+hinunter und trat in den Hof. Hier auf dem Hofe, unweit vom Ausgange,
+stand Ssonja, totenbleich, starr, und sah ihn fassungslos an. Er blieb
+vor ihr stehen. Ihr Gesicht zeigte einen schmerzlichen, abgequälten,
+verzweifelten Ausdruck. Sie schlug die Hände zusammen. Ein bitteres,
+verlorenes Lächeln erschien für einen Moment auf seinen Lippen. Eine
+Weile blieb er stehen, betrachtete sie und ging dann wieder hinauf in
+das Polizeibureau.
+
+Ilja Petrowitsch hatte sich gesetzt und wühlte in allerhand Papieren.
+Vor ihm stand derselbe Mann, der vorhin Raskolnikoff gestoßen hatte.
+
+»Ah! Sie sind es wieder! Haben Sie etwas vergessen? ... Aber was ist mit
+Ihnen?«
+
+Raskolnikoff näherte sich ihm mit blassen Lippen, mit verglasten Augen,
+langsam trat er an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand darauf,
+wollte etwas sagen, aber konnte nicht; man hörte bloß unzusammenhängende
+Töne.
+
+»Ihnen ist schlecht, ein Stuhl! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl,
+setzen Sie sich! Wasser!«
+
+Raskolnikoff ließ sich auf den Stuhl nieder, wandte aber die Augen von
+dem Gesichte des äußerst unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch nicht
+ab. Beide blickten eine Minute lang einander an und warteten. Das Wasser
+wurde gebracht.
+
+»Ich habe ...« begann Raskolnikoff.
+
+»Trinken Sie Wasser.«
+
+Raskolnikoff wehrte mit der Hand das Wasser ab und sagte leise mit
+Pausen, aber deutlich:
+
+»_Ich habe damals die alte Beamtenwitwe ... und ihre Schwester Lisaweta
+... mit dem Beile erschlagen ... und beraubt._«
+
+Ilja Petrowitsch öffnete den Mund vor Staunen. Von allen Seiten kamen
+die Menschen gelaufen.
+
+Raskolnikoff wiederholte sein Geständnis.
+
+
+
+
+ Epilog
+
+
+ I.
+
+Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Flusses steht eine Stadt, eine von
+den administrativen Zentren Rußlands; in der Stadt befindet sich eine
+Festung, in der Festung ein Gefängnis. Im Gefängnisse sitzt schon neun
+Monate der Zwangsarbeiter der zweiten Kategorie Rodion Raskolnikoff.
+Seit dem Tage seiner Tat sind fast anderthalb Jahre vergangen.
+
+Das Verfahren gegen ihn verlief ohne besondere Schwierigkeiten. Der
+Verbrecher hielt sein Geständnis aufrecht, bestimmt und klar, ohne die
+Sache zu verwirren, ohne etwas zu beschönigen, ohne die Tatsachen zu
+verzerren und ohne die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er hatte
+bis zum letzten Punkt den ganzen Vorgang der Ermordung erzählt, hatte
+das Geheimnis _des Versatzobjekts_ (des Stückes Holzes mit einem
+Streifen aus Metall), das man in den Händen der ermordeten Alten
+gefunden hatte, erklärt; er hatte umständlich erzählt, wie er die
+Schlüssel von der Getöteten genommen hatte, beschrieb die Schlüssel, die
+Truhe und womit sie angefüllt war; er hatte sogar einige von den
+einzelnen Gegenständen, die darin lagen, aufgezählt; hatte das Rätsel
+der Ermordung von Lisaweta erklärt; hatte erzählt, wie Koch gekommen war
+und geklopft hatte, wie der Student nach ihm gekommen war, und hatte
+alles, was sie untereinander gesprochen hatten, wiedergegeben; hatte
+auch erzählt, wie er, der Verbrecher, nachher die Treppe
+hinuntergelaufen war und das Kreischen von Nikolai und Dmitri gehört
+hatte, wie er sich in der leerstehenden Wohnung versteckt hatte, nach
+Hause gekommen war, und zum Schluß gab er den Stein auf dem Hofe am
+Wosnesensky-Prospekt hinter dem Tore an, unter dem man auch die Sachen
+und den Beutel fand. Mit einem Worte, die Sache war klar. Die
+Untersuchungsrichter und die Richter waren unter anderem darüber sehr
+erstaunt, daß er den Beutel und die Sachen, ohne sie zu verwenden, unter
+einem Steine versteckt hatte, mehr aber darüber, daß er sich aller
+Gegenstände, die er eigentlich geraubt hatte, nicht im einzelnen
+erinnerte, sondern sich sogar in ihrer Zahl geirrt hatte. Der Umstand
+schon, daß er kein einziges Mal den Beutel geöffnet und nicht mal wußte,
+wie viel an Geld darin lag, erschien unglaublich; im Beutel waren,
+wie sich herausstellte, dreihundertsiebzehn Rubel und drei
+Zwanzig-Kopekenstücke; von dem langen Liegen unter dem Steine waren
+einige größere Scheine, die zu oberst lagen, stark verdorben. Man mühte
+sich lange ab, zu erforschen, warum der Angeklagte gerade in diesem
+einzigen Punkte log, wo er doch in allem übrigen ein freiwilliges und
+aufrichtiges Geständnis ablegte? Schließlich kamen einige, besonders die
+Psychologen, zu der möglichen Annahme, daß er in der Tat keinen Blick in
+den Beutel geworfen habe, daher auch nicht gewußt habe, was er enthielt,
+und ohne es zu wissen, den Beutel einfach unter den Stein gelegt habe;
+sie zogen aber auch sofort daraus die Folgerung, daß das Verbrechen
+selbst nicht anders ausgeführt sein könnte, als bei gewisser
+zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit, unter einer krankhaften Manie, zu
+morden und zu rauben, ohne weitere Zwecke und Berechnungen. Hierzu
+gesellte sich noch die neueste moderne Theorie von zeitweiliger
+Geistesgestörtheit, die man in unserer Zeit so oft versucht, bei manchen
+Verbrechern anzuwenden. Außerdem wurde der hypochondrische Zustand
+Raskolnikoffs seit langer Zeit genau von vielen Zeugen, dem Arzte
+Sossimoff, seinen früheren Kameraden, seiner Wirtin und deren
+Dienstboten bestätigt. Dies alles half sehr zu der Annahme, daß
+Raskolnikoff einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe nicht
+gleichzusetzen sei, daß etwas ganz anderes vorliege. Zum größten Verdruß
+derer, die diese Ansicht vertraten, versuchte der Verbrecher selbst sich
+fast gar nicht zu verteidigen; auf die endgültigen Fragen, -- was ihn
+zum Morde bewogen haben konnte, und was ihn den Raub zu vollziehen
+angetrieben habe, -- antwortete er sehr klar, mit der gröbsten
+Offenheit, daß die ganze Ursache seine schlechte Lage, seine Armut und
+Hilflosigkeit und der Wunsch gewesen war, -- die ersten Schritte seiner
+Laufbahn mit Hilfe von wenigstens dreitausend Rubel zu sichern, die er
+bei der Ermordeten zu finden gehofft habe. Er habe sich zum Morde
+infolge seines leichtsinnigen und kleinmütigen Charakters entschlossen,
+der außerdem durch Entbehrungen und Mißerfolge gereizt war. Auf die
+Frage aber, was ihn veranlaßt habe, ein Geständnis abzulegen, antwortete
+er offen, daß es aufrichtige Reue gewesen sei. -- Dies alles war schon
+fast grob ...
+
+Das Urteil fiel milder aus, als man erwarten konnte, vielleicht auch
+deshalb, weil man bei der Straffestsetzung auch den Umstand in Betracht
+zog, daß der Verbrecher nicht bloß auf alle Selbstverteidigung
+verzichtete, sondern offenbar den Wunsch zeigte, sich selbst noch mehr
+zu belasten. Alle eigentümlichen und besonderen Umstände der
+Angelegenheit wurden in Erwägung gezogen. Der krankhafte und notleidende
+Zustand des Verbrechers vor Ausführung der Tat wurde nicht dem
+geringsten Zweifel unterzogen. Der Umstand, daß er von dem Geraubten
+keinen Nutzen gezogen hatte, wurde teilweise der erwachten Reue,
+teilweise dem nicht ganz gesunden Zustande seiner Geistesfähigkeiten
+während der Ausführung der Tat zugeschrieben. Die zufällige Ermordung
+von Lisaweta diente sogar als Umstand, der die letzte Annahme
+bestätigte, -- ein Mensch vollzieht zwei Morde und vergißt gleichzeitig,
+daß die Türe nicht verschlossen war! Schließlich, das freiwillige
+Geständnis gerade in dem Momente, wo die Sache ungewöhnlich verwickelt
+wurde, infolge der falschen Selbstanklage eines niedergeschlagenen
+Phantasten (Nikolai), und außerdem, wo nicht nur keine klaren Beweise,
+sondern fast kein Verdacht gegen den tatsächlichen Verbrecher vorgelegen
+hatte, -- (Porphyri Petrowitsch hatte sein Wort vollkommen gehalten) --
+dies alles zusammen verhalf dem Angeklagten zu einer milderen
+Bestrafung.
+
+Außerdem erschienen völlig unerwartet auch andere Umstände, die stark zu
+seinen Gunsten ins Gewicht fielen. Der frühere Student Rasumichin hatte
+irgendwo Mitteilungen erhalten und sie durch Beweise erhärtet, daß der
+Verbrecher Raskolnikoff, als er noch auf der Universität war, aus seinen
+letzten Mitteln einem armen und schwindsüchtigen Kameraden geholfen und
+ihn ein halbes Jahr hindurch fast gänzlich unterhalten hatte. Als der
+Kamerad gestorben war, übernahm er die Sorge um dessen alten und
+gelähmten Vater, den sein Kamerad durch seiner Hände Arbeit fast seit
+seinem dreizehnten Lebensjahre ernährt und unterstützt hatte,
+schließlich hatte Raskolnikoff den alten Vater in einem Krankenhaus
+untergebracht und, als auch er starb, ihn beerdigen lassen. Alle diese
+Mitteilungen hatten einen gewissen Einfluß auf das Schicksal von
+Raskolnikoff. Seine frühere Wirtin, die Mutter seiner verstorbenen
+Braut, die Witwe Sarnitzin, legte auch ein Zeugnis ab, daß Raskolnikoff,
+als sie noch in einem anderen Hause wohnten, während einer Feuersbrunst
+in der Nacht aus einer Wohnung, die schon brannte, zwei kleine Kinder
+gerettet habe und dabei selbst Brandwunden davontrug. Diese Tatsache
+wurde genau untersucht und auch durch andere Zeugen bestätigt. Mit einem
+Worte, es endete damit, daß der Verbrecher zur Zwangsarbeit der zweiten
+Kategorie, im ganzen nur zu acht Jahren verurteilt wurde, infolge seines
+freiwilligen Geständnisses und mehrerer mildernder Umstände.
+
+Noch beim Beginn des Prozesses wurde Raskolnikoffs Mutter krank. Dunja
+und Rasumichin fanden es für ratsam, sie während der ganzen
+Gerichtsverhandlung aus Petersburg fortzuschaffen. Rasumichin wählte
+eine Stadt an der Eisenbahn und in der Nähe von Petersburg, um die
+Möglichkeit zu haben, allen Phasen des Prozesses genau zu folgen und
+gleichzeitig möglichst oft Awdotja Romanowna zu sehen. Pulcheria
+Alexandrownas Leiden war eine eigentümliche Nervenerkrankung und wurde
+durch eine, wenn auch nicht völlige, so doch zeitweilige Geistesstörung
+kompliziert. Dunja fand ihre Mutter, als sie von ihrer letzten
+Zusammenkunft mit dem Bruder zurückkehrte, vollständig krank, in Fieber
+und Wahnvorstellungen. Am selben Abend noch kam sie mit Rasumichin
+darüber überein, was man der Mutter auf ihre Fragen nach dem Sohne
+antworten solle, und hatte sogar mit ihm zusammen für die Mutter eine
+ganze Geschichte erdichtet, daß Raskolnikoff sehr weit an die Grenze
+Rußlands in einem privaten Auftrage gereist sei, der ihm endlich Geld
+und Berühmtheit eintragen werde. Sie waren aber überrascht, daß
+Pulcheria Alexandrowna selbst weder damals, noch späterhin sie irgend
+etwas frug. Im Gegenteil, es zeigte sich, daß sie selbst eine ganze
+Geschichte über die plötzliche Abreise des Sohnes wußte; sie erzählte
+mit Tränen, wie er zu ihr gekommen war, um von ihr Abschied zu nehmen;
+deutete dabei an, daß nur sie allein viele, sehr wichtige und
+geheimnisvolle Umstände kenne, und daß Rodja sehr viele einflußreiche
+Feinde habe, so daß er sich verbergen müsse. Was seine künftige Karriere
+anbetraf, schien sie ihr auch unzweifelhaft und glänzend zu sein, --
+wenn gewisse unbequeme Umstände beseitigt wären; sie versicherte
+Rasumichin, daß ihr Sohn mit der Zeit sogar ein bedeutender Staatsmann
+würde, wofür sein Artikel und sein glänzendes literarisches Talent
+zeugten. Immer las sie seinen Artikel, las ihn zuweilen laut vor und
+legte sich fast mit ihm zu Bett, trotzdem aber fragte sie fast nie, wo
+sich jetzt Rodja befinde, ungeachtet dessen, daß man augenscheinlich
+vermied, mit ihr darüber zu sprechen, -- was doch allein schon Argwohn
+bei ihr hätte erwecken müssen. Man begann endlich, sich über dieses
+merkwürdige Schweigen von Pulcheria Alexandrowna in Bezug auf manche
+Punkte zu ängstigen. Sie klagte z. B. nicht einmal darüber, daß sie von
+ihm keine Briefe erhalte, wogegen sie früher, als sie noch in ihrem
+Heimatsstädtchen wohnte, bloß von der Hoffnung und in der Erwartung
+lebte, bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu erhalten. Der
+letzte Umstand war zu unerklärlich und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam
+der Gedanke, daß die Mutter möglicherweise etwas Schreckliches im Leben
+ihres Sohnes ahne und sich fürchtete, zu fragen, um nicht etwas noch
+entsetzlicheres zu erfahren. In jedem Falle aber sah Dunja klar, daß
+Pulcheria Alexandrowna nicht bei gesundem Verstande war.
+
+Ein paarmal war es vorgekommen, daß sie selbst das Gespräch so führte,
+daß es unmöglich war, bei Beantwortung ihrer Fragen nicht zu erwähnen,
+wo sich Rodja jetzt aufhielt; als aber die Antworten natürlich
+ungenügend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich traurig, düster
+und schweigsam, und das dauerte eine ziemlich lange Zeit an. Dunja sah
+schließlich ein, daß es schwer war, ihr etwas vorzulügen und zu
+erdichten, und kam zu dem endgültigen Entschlusse, besser über bestimmte
+Punkte vollkommen zu schweigen; aber es wurde immer deutlicher und
+klarer, daß die arme Mutter etwas Schreckliches ahnte. Dunja entsann
+sich unter anderem auch der Worte ihres Bruders, daß die Mutter ihre
+Reden im Traume in der Nacht vor dem letzten schicksalsschweren Tage,
+nach der Szene mit Sswidrigailoff vernommen habe. -- Sollte sie damals
+etwas gehört und verstanden haben? Oft wurde die Kranke, zuweilen nach
+Tagen und Wochen eines düsteren, finsteren Schweigens und wortloser
+Tränen, von aufgeregter Lebhaftigkeit ergriffen und begann plötzlich
+laut und unaufhörlich von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen, von der
+Zukunft zu sprechen ... ihre Phantasien waren manchmal sehr sonderbar.
+Man tröstete sie, man stimmte ihr bei; sie merkte vielleicht selbst, daß
+man ihr beistimmte, sie bloß tröstete, aber dennoch redete sie ...
+
+Fünf Monate, nachdem sich der Verbrecher selbst gestellt hatte, erfolgte
+das Urteil. Rasumichin besuchte ihn so oft im Gefängnis, als es nur
+möglich war. Auch Ssonja kam zu ihm. Schließlich kam die Trennung; Dunja
+schwur dem Bruder, daß diese Trennung nicht ewig währen würde;
+Rasumichin tat dasselbe. In Rasumichins jungem und feurigem Kopfe war
+unerschütterlich der Plan entstanden, -- in den nächsten drei, vier
+Jahren möglichst den Grundstock zu einem Vermögen zu legen, wenigstens
+etwas Geld zu ersparen und nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in
+jeder Hinsicht reich war, aber wenig tatkräftige Menschen mit Kapital
+existierten; dort in derselben Stadt, wo Rodja sein werde, sich
+anzusiedeln und ... für alle zusammen ein neues Leben zu beginnen ...
+Als der Abschied kam, weinten alle. Raskolnikoff war in den allerletzten
+Tagen sehr nachdenklich, fragte viel nach der Mutter und war ihretwegen
+in ständiger Unruhe. Er quälte sich sehr um sie, was Dunja wiederum
+beunruhigte. Als er die Einzelheiten über den krankhaften Zustand der
+Mutter erfahren hatte, wurde er sehr finster. Zu Ssonja war er in der
+ganzen Zeit aus irgendeinem Grunde auffallend wortkarg. Ssonja hatte
+sich schon längst mit Hilfe des Geldes, das ihr Sswidrigailoff gegeben
+hatte, zur Reise vorbereitet und machte sich bereit, der Abteilung von
+Sträflingen, mit denen er verschickt werden sollte, zu folgen. Darüber
+war zwischen ihr und Raskolnikoff niemals ein Wort gewechselt worden,
+doch beide wußten, daß es so sein werde. Beim letzten Abschiede lächelte
+er eigen bei den heißen Beteuerungen der Schwester und Rasumichins über
+ihrer aller glückliche Zukunft, sobald er die Zwangsarbeit abgebüßt
+habe, und sagte im voraus, daß der krankhafte Zustand der Mutter bald
+mit einem Unglücke enden würde. Er und Ssonja traten den Weg nach
+Sibirien an.
+
+Zwei Monate nachher heiratete Dunetschka Rasumichin. Die Hochzeit war
+traurig und still. Unter den Gästen waren auch Porphyri Petrowitsch und
+Sossimoff. In der letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines fest
+entschlossenen Menschen gewonnen. Dunja glaubte bestimmt, daß er alle
+seine Pläne verwirklichen werde und mußte daran glauben, -- in diesem
+Menschen steckte ein eiserner Wille. Unter anderem begann er wieder die
+Vorlesungen in der Universität zu besuchen, um sein Studium
+abzuschließen. Beide bauten immer Pläne für die Zukunft; beide rechneten
+fest darauf, nach fünf Jahren nach Sibirien übersiedeln zu können. Bis
+dahin hofften sie auf Ssonja ...
+
+Pulcheria Alexandrowna gab mit Freude der Tochter ihren Segen zur
+Hochzeit mit Rasumichin; nach der Hochzeit aber wurde sie scheinbar noch
+trauriger und sorgenvoller. Um ihr eine Freude zu machen, teilte ihr
+Rasumichin unter anderem auch die Geschichte von dem Studenten und
+seinem greisen Vater mit und auch, daß Rodja sich verbrannt habe und
+sogar krank war, als er im vorigen Jahre zwei Kinder vor dem Flammentode
+gerettet hatte. Beide Mitteilungen versetzten die verstörte Pulcheria
+Alexandrowna fast in einen verzückten Zustand. Sie redete ununterbrochen
+darüber, knüpfte Gespräche auf der Straße an, obwohl Dunja sie ständig
+begleitete. In Omnibussen und in Läden, wenn sie bloß einen Zuhörer
+fand, brachte sie das Gespräch auf ihren Sohn, auf seinen Artikel und
+darauf, wie er einem Studenten geholfen habe, wie er bei der
+Feuersbrunst Brandwunden erhalten habe und dergleichen mehr. Dunetschka
+wußte nicht mehr, wie sie sie davon abhalten konnte. Abgesehen von der
+Gefahr solch eines verrückten krankhaften Zustandes, drohte auch das
+Unglück, daß jemand sich auf den Namen Raskolnikoff aus der
+Gerichtsverhandlung besinnen und darüber etwas sagen konnte. Pulcheria
+Alexandrowna hatte sogar die Adresse der Mutter von den zwei bei der
+Feuersbrunst geretteten Kindern erfahren und wollte sie unbedingt
+aufsuchen. Schließlich stieg ihre Unruhe bis aufs äußerste. Sie fing
+zuweilen plötzlich an zu weinen, wurde oft bettlägerig und phantasierte
+im Fieber. Eines Morgens erklärte sie, daß nach ihrer Berechnung Rodja
+bald zurückkehren müsse, daß sie sich erinnere, wie er beim Abschiede
+selbst erwähnt habe, daß man ihn nach neun Monaten erwarten solle. Sie
+begann alles in der Wohnung in Ordnung zu bringen und Vorbereitungen zu
+seinem Empfange zu machen, begann das für ihn bestimmte Zimmer, -- ihr
+eigenes, -- zu schmücken, die Möbel zu putzen, Vorhänge zu waschen und
+aufzuhängen und dergleichen mehr. Dunja wurde sehr unruhig, schwieg aber
+und half ihr sogar, das Zimmer für den Bruder instand zu setzen. Nach
+einem unruhigen Tage, der in ständigen Phantasien, in freudigen Träumen
+und Tränen verging, erkrankte sie in der Nacht und lag am anderen Morgen
+in Fieber und Fieberphantasien. Eine Nervenkrisis war ausgebrochen. Nach
+zwei Wochen starb sie. In Fieberphantasien entrangen sich ihr Worte, aus
+denen man annehmen mußte, daß sie bedeutend mehr über das schreckliche
+Schicksal ihres Sohnes ahnte, als man geglaubt hatte.
+
+Raskolnikoff erfuhr lange nicht den Tod seiner Mutter, obwohl er mit
+Petersburg schon seit dem Anfang seiner Übersiedlung nach Sibirien in
+Briefwechsel stand. Ssonja vermittelte die Briefe und empfing auch
+pünktlich jeden Monat eine Antwort aus Petersburg. Ssonjas Briefe
+erschienen Dunja und Rasumichin zuerst etwas trocken und unbefriedigend;
+aber beide fanden bald, daß man nicht besser schreiben konnte, denn aus
+diesen Briefen empfing man doch zu guter Letzt eine ganz genaue und
+klare Vorstellung von dem Schicksal ihres unglücklichen Bruders. Ssonjas
+Briefe waren mit der alltäglichsten Wirklichkeit, mit der einfachsten
+und klarsten Darstellung der ganzen Umgebung Raskolnikoffs in der
+Zwangsarbeit angefüllt. Es gab dabei weder eine Darstellung ihrer
+eigenen Hoffnungen, noch Träume um die Zukunft, noch Beschreibungen
+ihrer Gefühle. Anstatt zu versuchen, seinen seelischen Zustand und
+überhaupt sein ganzes Seelenleben zu erklären, beschränkte sie sich auf
+Tatsachen, d. h. auf seine eigenen Worte, genaue Mitteilungen über
+seinen Gesundheitszustand, seine Wünsche bei ihren Besuchen, seine
+Aufträge und dergleichen mehr. Alle diese Nachrichten wurden mit der
+äußersten Genauigkeit wiedergegeben. Das Bild des unglücklichen Bruders
+trat schließlich hervor, zeichnete sich deutlich und klar ab; hier
+konnte es keine Irrtümer geben, denn alles waren sichere Tatsachen.
+
+Aber wenig erfreuliches konnten Dunja und ihr Mann aus diesen
+Nachrichten, besonders im Anfang, schöpfen. Ssonja teilte immer nur mit,
+daß er ständig düster, wenig gesprächig sei und sich fast gar nicht für
+die Nachrichten interessiere, die sie ihm jedesmal aus den von ihr
+empfangenen Briefen überbrachte; daß er zuweilen nach der Mutter frage,
+und als sie ihm schließlich ihren Tod mitteilte, nachdem sie gemerkt
+hatte, daß er die Wahrheit ahne, da schien -- zu ihrer Verwunderung --
+auch die Nachricht von dem Tode der Mutter auf ihn keinen starken
+Eindruck gemacht zu haben, wenigstens es schien ihr so nach seinem
+Äußeren. Sie teilte auch unter anderem mit, daß er bei aller
+Selbstversunkenheit und Verschlossenheit -- sich zu seinem neuen Leben
+offen und schlicht verhalte; er begreife klar seine Lage, erwarte in der
+nächsten Zeit nichts besseres, habe keine leichtsinnigen Hoffnungen, was
+doch so verständlich in seiner Lage wäre, und wundere sich fast über
+nichts in seiner neuen Umgebung, die so wenig Ähnlichkeit mit seinem
+früheren Leben habe; seine Gesundheit sei befriedigend. Er gehe zur
+Arbeit, der er nicht ausweiche und um die er nicht bitte. Dem Essen
+gegenüber sei er fast gleichgültig, aber das Essen sei, außer an Sonn-
+und Feiertagen, so schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Ssonja,
+etwas Geld genommen habe, um seinen eigenen Tee sich zu halten; wegen
+des übrigen habe er sie gebeten, sich nicht zu beunruhigen, und sie
+versicherte, daß alle diese Sorgen um seine Person ihn bloß verdrießlich
+machten. Weiterhin teilte Ssonja mit, daß er im Gefängnis in einem Raume
+mit den anderen untergebracht sei; die inneren Räume und Kasernen habe
+sie nicht gesehen, aber nehme an, daß sie eng, häßlich und ungesund
+seien; er schlafe auf einer Pritsche, brauche, als Unterlage, Filz und
+wolle nichts anderes haben. Er lebe aber so schlecht und ärmlich, nicht
+aus einem bestimmten Plane oder absichtlich, sondern aus Unachtsamkeit
+und äußerster Gleichgültigkeit gegen sein Schicksal. Ssonja machte kein
+Hehl daraus, daß er, besonders im Anfang, sich nicht bloß für ihre
+Besuche nicht interessierte, sondern über sie fast ungehalten war, wenig
+mit ihr sprach, ja grob zu ihr war, daß aber schließlich diese
+Zusammenkünfte ihm zur Gewohnheit und fast zum Bedürfnis geworden waren,
+so daß er sich sogar grämte, wenn sie einige Tage krank war und ihn
+nicht besuchen konnte. Sie sehe ihn an Sonntagen am Gefängnistore oder
+im Wachthause, wohin man ihn auf einige Minuten zu ihr rufe; an
+Werktagen sehe sie ihn bei der Arbeit, entweder in den Werkstätten oder
+in der Ziegelei oder in den Scheunen am Ufer des Irtysch. Über sich
+selbst teilte Ssonja mit, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt einige
+Bekanntschaften anzuknüpfen und Protektion zu finden, daß sie sich mit
+Nähen beschäftige, und da in der Stadt es fast keine Schneiderin gebe,
+so sei sie in vielen Häusern ganz unentbehrlich geworden; aber sie
+erwähnte nicht, daß durch sie auch Raskolnikoff Protektion bei seinen
+Behörden gefunden habe, daß ihm leichtere Arbeiten zugeteilt wurden und
+dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht -- (Dunja hatte in den
+letzten Briefen eine besondere Aufregung und Unruhe herausgefühlt) --,
+daß er alle meide, daß die Sträflinge ihn nicht gern hätten, daß er
+tagelang schweige und sehr blaß werde. Plötzlich schrieb Ssonja in ihrem
+letzten Briefe, daß er ernstlich erkrankt sei und im Hospital in der
+Arrestantenabteilung liege ...
+
+
+ II.
+
+Er war schon lange vorher krank, aber nicht die Schrecken der
+Zwangsarbeit, nicht die physische Arbeit, nicht die Nahrung, noch der
+abrasierte Kopf, noch die gezeichnete Kleidung hatten ihn gebrochen, --
+oh! was gingen ihn alle diese Qualen und Martern an! Im Gegenteil, er
+war über die Arbeit sogar froh, -- wenn er sich körperlich geplagt
+hatte, erwarb er sich wenigstens dadurch einige Stunden ruhigen
+Schlafes. Und was bedeutete ihm das Essen, -- diese fleischlose
+Kohlsuppe mit Schwaben? Als er noch Student war, im früheren Leben,
+hatte er oft auch das nicht mal gehabt. Seine Kleidung war warm und für
+seine Lebensweise berechnet. Ketten fühlte er fast gar nicht. Sollte er
+sich etwa seines rasierten Kopfes und der markierten Joppe schämen? Aber
+vor wem denn? Etwa vor Ssonja? Ssonja fürchtete ihn, und sollte er sich
+etwa vor ihr schämen? Was denn sonst? Er schämte sich freilich vor
+Ssonja, die er durch seine verächtliche und grobe Behandlung quälte.
+Aber er schämte sich nicht des rasierten Kopfes und der Ketten, -- sein
+Stolz war verletzt; und er erkrankte an verwundetem Stolze. Oh, wie
+glücklich wäre er, wenn er sich selbst anklagen könnte! Er würde dann
+alles, sogar die Schande und die Schmach ertragen! Er saß aber streng
+mit sich zu Gerichte, und sein erbittertes Gewissen hatte in seiner
+Vergangenheit keine besondere Schuld gefunden, außer einem einfachen
+_Irrtum_, der jedem passieren kann. Er schämte sich hauptsächlich
+deswegen, daß er, Raskolnikoff, so blind, hoffnungslos, still und dumm,
+infolge eines Spruches des blinden Schicksals, zugrunde gegangen war,
+und daß er sich vor der »Sinnlosigkeit« eines Urteils beugen und
+unterwerfen mußte, um einigermaßen zur Ruhe zu kommen.
+
+Eine gegenstandslose und zwecklose Unruhe in der Gegenwart und ein
+ununterbrochenes Opfer in der Zukunft, durch das man nichts gewann, --
+das stand ihm in der Welt bevor. Und was lag daran, daß er nach acht
+Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt war und von neuem zu leben beginnen
+konnte? Wozu soll er leben? Was soll er in Aussicht haben? Wozu streben?
+Zu leben, um zu existieren? Aber er war auch früher tausendmal bereit,
+sein Leben für eine Idee, für eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie
+hinzugeben. Das Leben allein war ihm stets wenig gewesen; er wollte
+immer Größeres haben. Vielleicht hatte er sich auch damals, bloß nach
+der Kraft seiner Wünsche, für einen Menschen, dem mehr, als einem
+anderen erlaubt sei, gehalten.
+
+Wenn doch das Schicksal ihm Reue senden würde, -- eine brennende Reue,
+die das Herz bricht, die den Schlaf verjagt, solch eine Reue, bei deren
+schrecklichen Qualen einem die Schlinge und Wasser, wo es am tiefsten
+ist, vorschwebt! Oh, er würde sich darüber freuen! Qualen und Tränen --
+das ist doch Leben. Aber er bereute nicht sein Verbrechen.
+
+Könnte er sich wenigstens über seine Dummheit ärgern, wie er sich früher
+über die abscheulichen und dummen Handlungen geärgert hatte, die ihn
+nach Sibirien gebracht hatten. Jetzt aber, im Gefängnisse, _in
+Freiheit_, überlegte er und dachte über alle seine früheren Handlungen
+nach und fand sie gar nicht so dumm und abscheulich, wie sie ihm früher
+in der verhängnisvollen Zeit vorgekommen waren.
+
+»Wodurch, wodurch,« dachte er, »ist meine Idee dümmer, als die anderen
+Ideen und Theorien, die in der Welt, solange diese Welt besteht,
+herumschwirren und aneinanderprallen? Man braucht bloß die Sache von
+einem völlig unabhängigen, weiten und von den alltäglichen Einflüssen
+losgelösten Standpunkte zu betrachten, und da erscheint, sicher, mein
+Gedanke gar nicht so ... sonderbar. Oh, ihr Verneiner und Weisen, von
+einem Groschen Werte, warum bleibt ihr auf dem halben Wege stehen!«
+
+»Warum erscheint ihnen meine Handlung so abscheulich?« sagte er sich.
+»Weil es eine böse Tat ist? Was bedeutet das Wort >böse Tat<? Mein
+Gewissen ist ruhig. Gewiß, es ist ein Kriminalverbrechen geschehen;
+gewiß, der Buchstabe des Gesetzes ist übertreten und Blut ist vergossen,
+nun, nehmt da, für den Buchstaben des Gesetzes, meinen Kopf ... und
+genug! Gewiß, in diesem Falle müßten viele Wohltäter der Menschheit, die
+die Macht nicht geerbt, sondern selbst an sich gerissen haben, bei ihren
+allerersten Schritten hingerichtet worden sein. Jene Menschen aber
+ertrugen ihre Schritte und darum _sind sie im Rechte_, ich aber habe es
+nicht ertragen, und also hatte ich nicht das Recht, mir diesen Schritt
+zu gestatten.«
+
+Nur in diesem Punkte erkannte er sein Verbrechen, -- nur darin allein,
+daß er es nicht ertragen und sich freiwillig gestellt hatte.
+
+Er litt auch unter dem Gedanken, daß er sich damals nicht das Leben
+genommen hatte. Warum hatte er damals am Flusse gestanden und das
+Geständnis vorgezogen? Steckt denn tatsächlich so eine Macht in diesem
+Wunsche zu leben, und ist sie so schwer zu überwinden? Sswidrigailoff,
+der sich vor dem Tode fürchtete, hatte es doch überwunden?
+
+Er stellte sich voller Qual diese Frage und konnte nicht verstehen, daß
+er vielleicht schon damals, als er am Wasser stand, in sich selbst und
+seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge geahnt hatte. Er verstand nicht,
+daß diese Vorahnung eine künftige Umwälzung in seinem Leben, seine
+einstige Auferstehung, eine neue Anschauung vom Leben bedeutete.
+
+Er ließ hierbei bloß den stumpfen Instinkt gelten, den er nicht imstande
+war, zu brechen, und über den er wiederum nicht imstande war -- aus
+Schwäche und Unbedeutendheit -- hinwegzuschreiten. Er betrachtete seine
+Kameraden im Gefängnis und wunderte sich, -- wie auch sie alle das Leben
+liebten und wie sie daran hingen! Ihm schien es sogar, daß man im
+Gefängnisse noch mehr das Leben liebte und schätzte und mehr daran hing,
+als in der Freiheit. Welche schrecklichen Qualen und Martern haben
+manche von ihnen, wie zum Beispiel die Landstreicher, ertragen! Bedeutet
+für diese Menschen wirklich soviel ein Sonnenstrahl, ein düsterer Wald,
+oder eine kühle Quelle irgendwo im unbekannten Dickicht, die einer vor
+ein paar Jahren gefunden und sich gemerkt hat, nach der er sich wie nach
+einer Geliebten sehnt, und von der er träumt, die er im Traume, umgeben
+von grünem Grase, sieht und hört, wie ein Vogel im Gebüsch singt? Indem
+er seine Mitgefangenen betrachtete, fand er noch mehr unerklärliche
+Beispiele dafür. -- Im Gefängnis, in seiner nächsten Umgebung, bemerkte
+er selbstverständlich vieles nicht, und wollte auch nichts bemerken. Er
+lebte wie mit geschlossenen Augen; es war ihm widerlich und unerträglich
+zu sehen. Aber schließlich machte ihn doch vieles staunen und er begann
+fast gegen seinen Willen einiges zu bemerken, was er früher nicht mal
+geahnt hatte. Überhaupt und am meisten begann ihn jener furchtbare,
+jener unüberbrückbare Abgrund zu verwundern, der zwischen ihm und allen
+diesen Menschen lag. Es schien, als gehörten er und sie zu verschiedenen
+Nationen. Er und sie betrachteten einander mißtrauisch und feindselig.
+Er kannte und verstand die allgemeinen Ursachen solch eines
+Getrenntseins; aber niemals hätte er früher zugegeben, daß diese
+Ursachen in der Tat so tief und stark waren. Im Gefängnisse waren auch
+verbannte Polen, politische Verbrecher. Jene betrachteten alle diese
+Menschen als Ungebildete und Sklaven, und verachteten sie; Raskolnikoff
+aber konnte sie in dieser Weise nicht betrachten, -- er sah deutlich,
+daß diese Ungebildeten in vielen Dingen bedeutend klüger als diese Polen
+waren. Es waren auch Russen da, die diese Leute ebenfalls zu stark
+verachteten, -- da waren ein früherer Offizier und zwei Seminaristen.
+Raskolnikoff sah auch klar ihren Irrtum. Ihn selbst aber liebten alle
+nicht und gingen ihm aus dem Wege. Man begann sogar ihn schließlich zu
+hassen. -- Warum? Er wußte es nicht. Man verachtete ihn, lachte über
+ihn, und über sein Verbrechen machten sich jene lustig, die bedeutend
+größere Verbrecher als er waren.
+
+»Du bist ein Herr!« sagte man ihm. »Schickte es sich für dich, mit einem
+Beile zu gehen; das ist gar keine Arbeit für Herren!«
+
+In der zweiten Woche der großen Fastenzeit war seine Kaserne an der
+Reihe, sich zum Abendmahle vorzubereiten. Er ging in die Kirche mit den
+anderen. Eines Tages kam es zu einem Streit, -- er wußte selbst nicht,
+aus welchem Grunde; alle stürzten sich plötzlich wütend über ihn.
+
+»Du bist ein Gottloser! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie. »Man
+müßte dich umbringen.«
+
+Er hatte niemals mit ihnen über Gott und über Glauben gesprochen, aber
+sie wollten ihn, als einen Gottlosen, töten; er schwieg und erwiderte
+ihnen nichts. Ein Sträfling stürzte sich auf ihn in rasender Wut;
+Raskolnikoff erwartete ihn ruhig und schweigend; seine Augenbraue zuckte
+nicht mal, kein Zug seines Gesichtes rührte sich. Der Wachtsoldat
+stellte sich noch rechtzeitig zwischen ihn und den Angreifer, -- sonst
+wäre Blut geflossen.
+
+Für ihn war noch eins unerklärlich, -- warum hatten sie alle Ssonja so
+lieb? Sie hatte sich bei ihnen nicht eingeschmeichelt; sie trafen sie
+selten, bloß zuweilen bei den Arbeiten, wenn sie zu ihm auf einen
+Augenblick kam, um ihn zu sprechen. Indessen aber kannten sie Ssonja
+alle schon, wußten auch, daß sie _ihm_ gefolgt sei, wußten, wie sie
+lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht, erwies ihnen auch
+keine besonderen Dienste. Einmal bloß zu Weihnachten brachte sie für das
+ganze Gefängnis eingesammelte Geschenke, -- Pasteten und Brezeln. Aber
+allmählich hatte sich zwischen ihnen und Ssonja ein näheres Verhältnis
+entwickelt, -- sie schrieb für sie Briefe an ihre Verwandten und sandte
+sie mit der Post ab. Ihre Verwandten, die zur Stadt kamen, hinterließen
+Ssonja auf deren Geheiß Sachen für sie und sogar Geld. Ihre Frauen und
+Geliebten kannten Ssonja und besuchten sie. Und wenn sie zu Raskolnikoff
+zur Arbeit kam oder einer Partie Sträflinge, die zur Arbeit gingen,
+begegnete, -- nahmen alle die Mützen ab, alle grüßten sie, --
+»Mütterchen Ssofja Ssemenowna, du unsere zärtliche, liebe Mutter!«
+sagten diese groben gebrandmarkten Zwangsarbeiter zu diesem kleinen und
+mageren Geschöpfe. Sie lächelte ihnen zu. Sie liebten sogar ihren Gang,
+sie wandten sich um, um ihr nachzusehen, wie sie ging, und lobten sie;
+sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten nicht mehr,
+wofür sie sie bloß loben sollten. Zu ihr kamen sogar Leute, sich von ihr
+kurieren zu lassen.
+
+Raskolnikoff verbrachte die Fastenzeit und Ostern im Krankenhause.
+Während er schon genas, erinnerte er sich seiner Träume, als er noch im
+Fieber gelegen hatte. Er träumte in der Krankheit, daß die ganze Welt
+einer schrecklichen, unerhörten und nie dagewesenen Pest, die aus den
+Tiefen Asiens über Europa kam, zum Opfer fallen sollte. Alle sollten
+zugrunde gehen, außer einigen sehr wenigen Auserwählten. Es waren neue
+Trichinen erschienen, mikroskopische Wesen, die sich in die Körper von
+Menschen einnisteten. Aber diese Wesen waren Geister, ausgerüstet mit
+Verstand und Willen. Die Menschen, in denen sie sich eingenistet hatten,
+wurden sofort wie Besessene und wahnsinnig. Aber noch niemals hielten
+sich die Menschen für so klug und unerschütterlich in ihrer Weisheit,
+als es die Angesteckten taten. Niemals hielten sie ihre Urteile, ihre
+wissenschaftlichen Ergebnisse, ihre sittlichen Überzeugungen und ihren
+Glauben für unerschütterlicher, als jetzt. Ganze Dörfer, ganze Städte
+und Völker wurden angesteckt und gebärdeten sich wie wahnsinnig. Alle
+waren in Unruhe und verstanden einander nicht, jeder meinte, daß er
+allein bloß die Weisheit kenne, und verging vor Qual beim Anblick der
+anderen, schlug sich an die Brust, weinte und rang die Hände. Man wußte
+nicht, wen und wie man richten sollte, man konnte nicht übereinkommen,
+was als Böses und was als Gutes anzusehen war. Man wußte nicht, wen man
+anklagen, wen man freisprechen solle. Die Menschen töteten einander in
+einer sinnlosen Wut. Ganze Armeen sammelten sie gegeneinander, aber die
+Armeen begannen schon auf dem Marsche plötzlich sich selbst zu
+bekriegen, die Reihen zerstörten sich, die Soldaten stürzten sich
+aufeinander, stachen und töteten, bissen und fraßen einander auf. In den
+Städten läutete den ganzen Tag die Sturmglocke, -- man rief alle
+zusammen, aber wer und warum er rief, wußte niemand, alle aber waren in
+größter Unruhe. Man ließ das gewöhnliche Handwerk fallen, denn jeder kam
+mit seinen Gedanken, mit seinen Verbesserungen, und man konnte sich
+nicht einigen; der Ackerbau stockte. Hie und da liefen Menschen
+zusammen, einigten sich über etwas, schwuren einander nicht zu
+verlassen, -- aber sofort begannen sie etwas ganz anderes zu tun als
+das, was sie soeben beschlossen hatten, fingen an einander zu
+beschuldigen, prügelten sich und mordeten sich. Feuersbrünste
+entstanden, Hungersnot trat ein. Alle und alles ging zugrunde. Die Pest
+schwoll an und verbreitete sich immer weiter und weiter. In der ganzen
+Welt konnten sich bloß einige Menschen retten; das waren Unschuldige und
+Auserwählte, die bestimmt waren, ein neues Menschengeschlecht und ein
+neues Leben zu begründen, die Erde zu erneuern und zu säubern, aber
+niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte
+und Stimme gehört.
+
+Raskolnikoff quälte es, daß dieser sinnlose Traum so traurig und
+schmerzlich sein Gedächtnis belastete, daß der Eindruck dieses
+Fiebertraumes so lange nicht verschwinde. Die zweite Woche nach Ostern
+hatte schon begonnen; es waren warme, klare Frühlingstage; in der
+Arrestantenabteilung des Hospitals hatte man die vergitterten Fenster,
+unter denen ein Wachposten auf- und abging, geöffnet. Ssonja konnte ihn
+während seiner ganzen Krankheit bloß zweimal besuchen; man mußte
+jedesmal eine Erlaubnis auswirken, und das war sehr schwer. Aber sie war
+oft auf den Hof des Hospitals, besonders gegen Abend, unter sein Fenster
+gekommen, zuweilen aber auch bloß, um einen Augenblick auf dem Hofe
+stehen zu bleiben und wenigstens von weitem die Fenster seiner Abteilung
+zu sehen. Eines Tages war Raskolnikoff, der fast genesen war, gegen
+Abend eingeschlafen; als er erwachte, trat er zufällig an das Fenster
+und erblickte plötzlich fern am Tore Ssonja. Sie stand dort und schien
+auf etwas zu warten. In diesem Augenblicke war es ihm, als würde sein
+Herz durchbohrt; er zuckte zusammen und ging schnell vom Fenster weg. Am
+anderen Tage erschien Ssonja nicht, ebenfalls nicht am nächstfolgenden
+Tage; er merkte, daß er sie voll Unruhe erwarte. Endlich entließ man ihn
+aus dem Hospital. Als er ins Gefängnis kam, erfuhr er von den
+Sträflingen, daß Ssonja Ssemenowna krank sei, zu Hause liege und nicht
+ausgehe.
+
+Er war sehr beunruhigt und ließ sich nach ihr erkundigen. Er erfuhr
+bald, daß ihre Krankheit nicht gefährlich sei. Als Ssonja ihrerseits
+hörte, daß er sich so um sie grämte und sorgte, schickte sie ihm ein mit
+Bleistift geschriebenes Zettelchen und teilte ihm mit, daß es ihr besser
+gehe, daß sie eine leichte Erkältung habe und daß sie bald, sehr bald zu
+ihm kommen werde. Als er diesen Zettel las, schlug sein Herz stark und
+schmerzhaft.
+
+Es war wieder ein klarer und warmer Tag. Am frühen Morgen, um sechs Uhr,
+ging er zur Arbeit an den Fluß, wo am Ufer in einer Scheune ein Ofen zum
+Alabasterbrennen eingerichtet war, und wo der Alabaster gestoßen wurde.
+Dorthin gingen bloß drei Arbeiter. Der eine Sträfling war mit dem
+Wachtposten in die Festung nach einem Instrument gegangen; der andere
+holte Holz und legte es in den Ofen. Raskolnikoff trat aus der Scheune,
+ging an das Ufer, setzte sich auf aufgestapelte Balken hin und blickte
+lange auf den breiten und öden Fluß. Von dem hohen Ufer aus zeigte sich
+die weite Umgebung. Von dem anderen entlegenen Ufer klang kaum hörbar
+ein Lied herüber. Dort in der unübersehbaren Steppe, übergossen von der
+Sonne, zeigten sich in kaum merklichen dunklen Punkten die Zelte eines
+Wandervolkes. Dort lag Freiheit, dort lebten andere Menschen, die den
+hiesigen gar nicht ähnelten, dort schien die Zeit stehen geblieben zu
+sein, als wäre das Jahrhundert Abrahams und seiner Herden noch nicht
+vorüber. Raskolnikoff saß und blickte unverwandt hinüber, ohne sich
+losreißen zu können; sein Gedanke verwandelte sich in einen Traum; er
+dachte an nichts, aber eine tiefe Schwermut lag auf ihm und quälte ihn.
+
+Plötzlich trat Ssonja neben ihn. Sie war leise herangekommen und setzte
+sich zu ihm. Es war noch sehr früh, die Morgenkälte war noch nicht
+verschwunden. Sie hatte ihren alten ärmlichen kleinen Pelz an und das
+grüne Tuch. Ihr Gesicht trug noch die Spuren von Krankheit, war magerer,
+blasser und eingefallen. Sie lächelte ihm freudig und freundlich zu,
+aber reichte ihm schüchtern, wie immer, ihre Hand.
+
+Sie reichte ihm stets die Hand so schüchtern, zuweilen gar nicht, als
+fürchte sie, daß er sie von sich stoßen würde. Er nahm auch stets ihre
+Hand wie mit Widerwillen, begrüßte sie stets wie verdrießlich, zuweilen
+schwieg er hartnäckig die ganze Zeit während ihres Besuches. Es kam vor,
+daß sie zitternd und in tiefem Kummer fortging. Jetzt aber lösten sich
+ihre Hände nicht; er blickte sie schnell und flüchtig an, sagte nichts
+und schlug seine Augen nieder. Sie waren allein, niemand sah sie. Der
+Wachtposten hatte sich gerade umgedreht.
+
+Wie es gekommen war, wußte er selbst nicht, aber plötzlich schien ihn
+etwas zu packen und zu ihren Füßen zu ziehen. Er weinte und umfaßte ihre
+Knie. Im ersten Augenblicke erschrak sie heftig und ihr Gesicht war
+totenblaß. Sie sprang zitternd auf und sah ihn an. Aber sie begriff im
+Nu alles. In ihren Augen leuchtete ein grenzenloses Glück; sie hatte
+verstanden und es gab für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebte,
+grenzenlos liebte, und daß endlich dieser Augenblick gekommen war ...
+
+Sie wollten sprechen, aber konnten nicht. Tränen standen in ihrer beider
+Augen. Beide waren sie bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und
+bleichen Gesichtern leuchtete schon die Morgenröte einer neuen Zukunft,
+der völligen Auferstehung zu neuem Leben. Die Liebe hatte sie erweckt,
+das Herz des einen enthielt eine unerschöpfliche Lebensquelle für das
+Herz des anderen.
+
+Sie beschlossen zu warten und zu dulden. Sieben Jahre hatten sie noch zu
+warten; bis dahin soviel unerträgliche Qual und soviel grenzenloses
+Glück! Aber er war aufgestanden und er wußte es, fühlte es ganz und gar
+mit seinem neuen Wesen, sie aber -- sie lebte ja doch bloß in ihm!
+
+Am Abend desselben Tages, als die Kasernen schon geschlossen waren, lag
+Raskolnikoff auf seiner Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage
+schien es ihm, als ob alle Sträflinge, seine früheren Feinde, ihn mit
+anderen Augen ansahen. Er fing selbst mit ihnen zu sprechen an und man
+antwortete ihm freundlich. Er erinnerte sich an all dies jetzt, aber es
+mußte doch wohl so kommen, -- _mußte_ sich denn nicht jetzt alles
+ändern?
+
+Er dachte an sie. Er erinnerte sich, wie er sie immer gequält und ihr
+Herz gepeinigt hatte; erinnerte sich ihres blassen, mageren
+Gesichtchens, aber sie quälten ihn jetzt nicht, diese Erinnerungen, --
+er wußte, mit welcher unendlichen Liebe er jetzt alle ihre Leiden sühnen
+würde.
+
+Und was waren alle diese Qualen der Vergangenheit! Alles, sogar sein
+Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung erschienen ihm jetzt in
+der ersten Aufwallung als etwas äußerliches, fremdes, als etwas, das
+nicht ihm passiert sei. Er konnte an diesem Abend gar nicht lange und
+ständig an etwas denken, seine Gedanken auf etwas konzentrieren; er
+hätte jetzt nichts bewußt beschließen können; er _fühlte_ bloß. An
+Stelle der Dialektik war das Leben getreten, und in seinem Bewußtsein
+begann sich etwas ganz anderes herauszuarbeiten.
+
+Unter seinem Kopfkissen lag das Neue Testament. Er nahm es mechanisch
+hervor. Dieses Buch gehörte ihr, es war dasselbe, aus dem sie ihm über
+die Erweckung des Lazarus vorgelesen hatte. Im Anfang seiner Verbannung
+fürchtete er, daß sie mit der Religion ihn zu Tode quälen würde, daß sie
+über das Evangelium sprechen und ihm Bücher verschaffen würde. Aber zu
+seinem größten Staunen hatte sie nie darüber gesprochen, ihm nie das
+Evangelium angeboten. Er hatte sie selbst kurz vor seiner Krankheit
+darum gebeten, und sie brachte ihm schweigend das Buch. Bis jetzt hatte
+er es noch nicht aufgeschlagen.
+
+Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke kam ihm, -- »müssen
+denn ihre Überzeugungen jetzt nicht auch meine Überzeugungen sein? Ihre
+Gefühle, ihr Streben, wenigstens ...«
+
+Sie war auch diesen ganzen Tag in großer Erregung, und in der Nacht
+wurde sie sogar wieder krank. Aber sie war so glücklich, daß sie fast
+erschrak vor ihrem Glücke. Sieben Jahre, _bloß_ sieben Jahre! Im Anfange
+ihres Glückes, in manchen Augenblicken, waren sie beide bereit, diese
+sieben Jahre als sieben Tage zu betrachten. Er dachte nicht einmal
+daran, daß ein neues Leben sich ihm nicht umsonst biete, daß er es noch
+teurer erkaufen müsse, dafür mit einer großen künftigen Tat bezahlen
+müsse ...
+
+Aber hier fängt schon eine neue Geschichte an, die Geschichte der
+allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner
+allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus einer Welt in
+die andere, der Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig
+unbekannt gewesenen Wirklichkeit. Das könnte das Thema zu einer neuen
+Geschichte abgeben, -- unsere jetzige aber ist zu Ende.
+
+
+
+
+ Fußnoten
+
+
+[1] Die drei ersten Helden Puschkinscher Werke, die zwei letzten
+Lermontoffscher. E. K. R.
+
+[2] Herrman, der Held in Puschkins »Pique Dame«. E. K. R.
+
+[3] Anspielung auf das Petersburger Denkmal Peters des Großen. E. K. R.
+
+[4] Ein Platz im Kreml zu Moskau, auf dem früher die Hinrichtungen
+stattfanden. E. K. R.
+
+[5] Die sogen. Raskolniki, von denen es seit der Kirchenspaltung (1666)
+mehrere Sekten gibt. E. K. R.
+
+[6] Dieser Schein wird von der Polizei den Prostituierten ausgestellt.
+
+[7] Ein Reisgericht, das zur Seelenmesse für die Toten in die Kirche
+mitgenommen wird, vom Priester geweiht und dann mit Andacht verzehrt
+wird.
+
+[8] Ein kleines gitarrenähnliches Instrument.
+
+[9] Radischtscheff hat zu Katherinas II. Zeiten ein Buch »Die Reise nach
+Moskau« veröffentlicht; er beschrieb den traurigen Zustand des Landes,
+geißelte die Leibeigenschaft; sein Buch wurde von der Freundin Voltaires
+verbrannt, war lange Zeit nachher noch verboten; der Verfasser wurde
+nach Sibirien verbannt.
+
+[10] Dobroljuboff war ein führender Kritiker und Publizist in den
+sechziger Jahren.
+
+[11] Der größte Kritiker und Publizist der vierziger Jahre.
+
+[12] Echte, wahre Bücher werden bei den Altgläubigen und einigen
+Sektierern das Alte und Neue Testament, die Lebensbeschreibungen der
+Heiligen und der Märtyrer, benannt, wenn sie nach den Originalen vor der
+Zeit des Patriarchen Oikon (1652) gedruckt sind; um diese Zeit wurden
+die Texte revidiert und seit dieser Zeit existiert die sogenannte
+»altgläubige Kirche«.
+
+
+
+
+ Übersetzung französischer Textstellen
+
+
+{[1]} es lebe der ewige Krieg
+
+{[2]} Genug geredet!
+
+{[3]} friß oder stirb (wörtlich: Ihr Hunde sollt sterben, wenn es euch
+nicht paßt)
+
+{[4]} nur legitim
+
+{[5]} vom Wein bekomme ich schlechte Laune
+
+{[6]} Ihnen zuliebe
+
+{[7]} ganz einfach
+
+{[8]} das ist unerläßlich
+
+{[9]} differenziert
+
+{[10]} wörtlich
+
+{[11]} Steh gerade!
+
+{[12]} sprich französisch mit mir
+
+{[13]} Fünf Sous
+
+{[14]} Marlborough zog in den Krieg / Keiner wusste wie lang
+
+{[15]} Fünf Sous, fünf Sous / Zur Gründung unseres Heims
+
+{[16]} gleiten, gleiten, im Baskenschritt!
+
+{[17]} Grabrede
+
+{[18]} lieber Freund
+
+{[19]} Natur und Wahrheit
+
+{[20]} Wo hat sie diese Tugenden versteckt?
+
+{[21]} viel Glück
+
+{[22]} eine Theorie unter vielen
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+Die »Sämtlichen Werke« erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
+Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
+Ausgaben 1906--1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
+nach:
+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
+ Erste Abteilung: Erster Band.
+ Erste Abteilung: Zweiter Band.
+ Rodion Raskolnikow (Schuld und Sühne).
+ R. Piper & Co. Verlag, München, 1922.
+ 23.--35. Tausend.
+
+Für diese ebook-Ausgabe wurden der erste und der zweite Band vereinigt.
+
+Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der »Sämtlichen
+Werke« vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
+ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
+Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
+nach der Titelseite eingefügt.
+
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+
+Die Bearbeiter haben diesem Text Übersetzungen der französischen
+Textstellen in Form von Fußnoten hinzugefügt und der _public domain_ zur
+Verfügung gestellt.
+
+Diese zusätzlichen Fußnoten sind mit { } markiert.
+
+Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
+(»«) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
+Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (><) eingeschlossen.
+
+Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
+Buchstabe »ä« (oder aouh "jä") steht für den kyrillischen Buchstaben
+»ja«. Die Schreibweise häufig vorkommender russischer Namen wurde
+vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
+
+ Afanassi (Afanasi, Afanassji)
+ Aljona (Aljena, Alena)
+ Bakalejeff (Bakaljeff)
+ Lebesjätnikoff (Lebesjatnikoff)
+ Louisa (Luisa, Louise)
+ Poletschka (Poljetschka)
+ Polja (Polje)
+ Porphyri (Porfirij, Porphiri)
+ Ssemjon (Ssemen)
+ Ssofja (Ssofje)
+ Ssonja (Ssonje)
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere
+Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des
+russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+
+ [S. 207]:
+ ... »Sicher ich es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch ...
+ ... »Sicher ist es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch ...
+
+ [S. 237]:
+ ... volle Minute gedauert hatte und daß sie sich solange einander ...
+ ... volle Minute gedauert hatte und daß sie solange einander ...
+
+ [S. 247]:
+ ... »Hast du ihn gesehen.« ...
+ ... »Hast du ihn gesehen?« ...
+
+ [S. 307]:
+ ... seiner schämte, und er schleunigst anderen, alltäglichen
+ Sorgen ...
+ ... seiner schämte, und er sich schleunigst anderen, alltäglichen
+ Sorgen ...
+
+ [S. 313]:
+ ... eingeladen, mit ihnen die Tee zu trinken, -- sie hatten in ...
+ ... eingeladen, mit ihnen den Tee zu trinken, -- sie hatten in ...
+
+ [S. 320]:
+ ... Bitte aussprechen, daß bei unserer gemeinsamen ...
+ ... Bitte auszusprechen, daß bei unserer gemeinsamen ...
+
+ [S. 367]:
+ ... Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß geschienen, ...
+ ... Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß so geschienen, ...
+
+ [S. 426]:
+ ... »Erscheinen bei Ihnen etwa?« ...
+ ... »Erscheinen sie bei Ihnen etwa?« ...
+
+ [S. 475]:
+ ... Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Mal ihr
+ aufgetaucht ...
+ ... Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Male ihr
+ aufgetaucht ...
+
+ [S. 505]:
+ ... irgendein mathematisches Exempel, wie Zwiemalzwei, bringen, ...
+ ... irgendein mathematisches Exempel, wie Zweimalzwei, bringen, ...
+
+ [S. 526]:
+ ... Mörder, du bist Mörder ...<, und jetzt, wo er es eingestanden ...
+ ... Mörder, du bist der Mörder ...<, und jetzt, wo er es
+ eingestanden ...
+
+ [S. 537]:
+ ... war, kehrte er noch wütender und gereizter nach Hause, ...
+ ... war, kehrte er noch wütender und gereizter nach Hause zurück, ...
+
+ [S. 541]:
+ ... aufrichtigsten Weise ihm dienen. ...
+ ... aufrichtigsten Weise ihr dienen. ...
+
+ [S. 569]:
+ ... -- Paß, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen ...
+ ... -- Pan, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen ...
+
+ [S. 572]:
+ ... so war ich stets von ihm sicher,« fuhr Katerina ...
+ ... so war ich stets seiner sicher,« fuhr Katerina ...
+
+ [S. 633]:
+ ... »Sie würden vielleicht später noch erschauern bei dem
+ Gedanken, ...
+ ... »Sie würde vielleicht später noch erschauern bei dem
+ Gedanken, ...
+
+ [S. 642]:
+ ... »Das kenne ich, ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte ...
+ ... »Das kenne ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte ...
+
+ [S. 670]:
+ ... Reihenfolge noch zu erzählen, wie es damals begonnen ...
+ ... Reihenfolge nach zu erzählen, wie es damals begonnen ...
+
+ [S. 701]:
+ ... Sagen Sie mir, wozu soll ich mit enthalten? Warum ...
+ ... Sagen Sie mir, wozu soll ich mich enthalten? Warum ...
+
+ [S. 722]:
+ ... da folgen.« ...
+ ... da folgen?« ...
+
+ [S. 725]:
+ ... Wüstling und Schuften erwarten!« rief er unwillkürlich ...
+ ... Wüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich ...
+
+ [S. 765]:
+ ... Just lese deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum dritten ...
+ ... Just lese ich deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum
+ dritten ...
+
+ [S. 772]:
+ ... begreifen nichts.« ...
+ ... begreife nichts.« ...
+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 1-2: Rodion
+Raskolnikoff (Schuld und Sühne), by Fjodor Michailowitsch Dostojewski
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58238 ***
diff --git a/58238-8.txt b/58238-8.txt
deleted file mode 100644
index 6889840..0000000
--- a/58238-8.txt
+++ /dev/null
@@ -1,26402 +0,0 @@
-The Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 1-2: Rodion Raskolnikoff
-(Schuld und Sühne), by Fjodor Michailowitsch Dostojewski
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Sämtliche Werke 1-2: Rodion Raskolnikoff (Schuld und Sühne)
-
-Author: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
-
-Contributor: Dmitri Mereschkowski
-
-Editor: Arthur Moeller van den Bruck
-
-Translator: E. K. Rahsin
-
-Release Date: November 5, 2018 [EBook #58238]
-Last updated: September 5, 2019
-
-Language: German
-
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SAMTLICHE WERKE 1-2: RODION RASKOLNIKOFF ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-http://www.pgdp.net. This book was produced from images
-made available by the HathiTrust Digital Library.
-
-
-
-
-
-
- F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
-
- Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
- herausgegeben von Moeller van den Bruck
-
- Übertragen von E. K. Rahsin
-
-
- Erste Abteilung: Erster und zweiter Band
-
-
- F. M. Dostojewski
-
-
-
-
- Rodion Raskolnikoff
-
-
- (Schuld und Sühne)
-
- Roman
-
-
- R. Piper & Co. Verlag, München
-
-
- R. Piper & Co. Verlag, München, 1922
- 23.--35. Tausend
- Druck: Otto Regel, G. m. b. H., Leipzig.
- Buchausstattung von Paul Renner.
-
-
- Copyright 1922 by R. Piper & Co.,
- Verlag in München.
-
-
-
-
- Zur Einführung in die Ausgabe
-
-
-Wir brauchen in Deutschland die voraussetzungslose russische
-Geistigkeit. Wir brauchen sie als ein Gegengewicht gegen ein Westlertum,
-dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren, wie Rußland ihnen
-ausgesetzt gewesen ist, und das auch uns dahin gebracht hat, wohin wir
-heute gebracht sind. Nachdem wir solange zum Westen hinübergesehen
-haben, bis wir in Abhängigkeit von ihm gerieten, sehen wir jetzt nach
-dem Osten hinüber -- und suchen die Unabhängigkeit. Aber wir werden sie
-nicht im Osten, wir werden sie immer nur bei uns selbst finden.
-
-Der Blick nach dem Osten erweitert unsern Blick um die Hälfte der Welt.
-Die Fragen des Ostens sind für uns zunächst eine Frage der geistigen
-Universalität. Und wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, dann handeln wir
-nur im Geiste unserer besten Überlieferung. Aber diese Fragen sind noch
-mehr. Sie sind zugleich eine Frage der geistigen Souveränität. Nachdem
-wir sie im neunzehnten Jahrhundert an den Westen verloren haben, wollen
-wir sie im zwanzigsten Jahrhundert für Deutschland zurückerringen.
-
-Es wird immer zu unseren Unbegreiflichkeiten gehören, daß wir es dahin
-kommen ließen, daß wir uns dem Westen bis zu dieser völligen
-Selbstvergessenheit hingaben. Es ist um so unbegreiflicher, als wir im
-Gegensatze zu Rußland, das sich seine geistigen Werte erst erringen
-mußte, die unseren im festen Besitze hielten, und als unter ihnen nicht
-wenige waren, die wir noch nicht einmal vor der eigenen Nation
-aufgeschlossen und ihr mitgeteilt hatten. Doch wir bevorzugten die
-fremden Werte. Heute sehen wir die Wirkung. Und wir leben unter den
-Folgen.
-
-Wir haben im Verlaufe unserer langen Bildungsgeschichte schon manches
-fremde und ferne Bildungsgebiet einbezogen, ob es das griechische war,
-oder das italienische. Aber noch nie wurde eines so gefährlich, wie das
-westliche geworden ist. Wir werden uns hüten müssen, daß nicht auch der
-Osten zu einer Gefahr wird.
-
-Es ist kein anderes Verhältnis zu ihm möglich als das des völligen
-Vertrautseins, aber auch des sicheren Abstandes. Wenn wir unsere
-geistige Souveränität, und aus ihr folgend unsere politische
-Souveränität, wiedergewonnen haben, dann wird auch Rußland nicht mehr
-und nicht weniger für uns sein, als eines jener großen Bildungsgebiete,
-die uns reicher machten, aber auch selbständiger.
-
-Bis dahin teilen wir mit Rußland, aus verschiedenen Gründen, das gleiche
-Schicksal.
-
- M. v. d. B.
-
-
-
-
- Rodion Raskolnikoff
-
-
-Die beiden gleichzeitigen und doch so verschiedenen Auseinandersetzungen
-des russischen Geistes mit Napoleon als der Verkörperung des
-westeuropäischen Geistes -- gleichsam zwei Wiederholungen des Jahres
-1812 -- sind in der russischen Literatur: »Krieg und Frieden« und
-»Rodion Raskolnikoff«.
-
-Die erste Auseinandersetzung hat nicht mit einem Siege, sondern nur mit
-einer Religionsverdrehung geendet. Ob der russische Geist auch in der
-zweiten eine Niederlage erlitten hat oder nicht, das bleibe
-dahingestellt. Jedenfalls hat er hier gezeigt, daß er würdig ist, seine
-Kräfte mit einem solchen Gegner wie Napoleon zu messen, hier ist er dem
-Feinde entgegengetreten -- ... Auge in Auge, wie es dem Kämpfer im
-Kampfe gebührt.
-
-Dostojewski hat vor uns die Kraftlosigkeit der napoleonischen Idee
-aufgedeckt, nicht die politische und nicht einmal die sittliche
-Kraftlosigkeit, sondern die religiöse: bevor man in Europa die Idee der
-altrömischen Monarchie, die Idee des universalen Caesar-Vereinigers, des
-Menschengottes auferweckte, mußte man zuerst die entgegengesetzte Idee
-der christlichen universalen Vereinigung, die Idee des Gottmenschen
-überwinden. Doch der historische Napoleon hat diese Idee in seinen Taten
-ganz ebensowenig bewältigt, wie Napoleon-Raskolnikoff es in der
-Anschauung tat, ja, sie sind nicht einmal an sie herangetreten, sie
-haben sie überhaupt nicht gesehen. Wenn dieser Napoleon Raskolnikoff
-tatsächlich ein »Prophet zu Pferde mit dem Schwert in der Hand«
-erscheint, so ist er doch immerhin -- ohne einen »neuen Koran«, ein
-Prophet nicht von Gott und nicht gegen Gott, sondern nur ohne Gott; und
-in diesem Sinne ist er natürlich -- _Pseudoantichrist_. »Wenn es Gott
-nicht gibt, so bin ich Gott!« folgert der irrsinnige und furchtlose
-Kiriloff -- nicht etwa deswegen furchtlos, weil irrsinnig? »Wenn ich es
-mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben, so würde man mich
-in allen Jahrmarktsbuden verspotten!« meinte der nicht gar zu
-vorsichtige und vernünftige Napoleon. Versteht sich, hier ist vom
-Erhabenen, vom Furchtbaren zum Lächerlichen -- »nur ein Schritt«. Ist
-aber die Furcht vor dem Lächerlichen bei Napoleon nicht zu gleicher Zeit
-eine ebenso lächerliche Furcht, wie die Furcht des Usurpators vor der
-Krone des legitimen Nachfolgers? »Gott hat sie mir gegeben. Wehe dem,
-der an sie rührt.« -- Hat sie wirklich Gott selbst gegeben? -- Noch
-niemand hat ihn mit einem so höhnischen Lächeln danach gefragt, niemand
-hat mit einer solchen Vermessenheit an seine Krone gerührt wie
-Dostojewski.
-
- * * * * *
-
-»Ich wollte ein Napoleon werden, darum erschlug ich. Ich stellte mir
-einmal die Frage: wie, wenn zum Beispiel an meiner Stelle Napoleon
-gewesen wäre und er weder Toulon noch Ägypten, noch einen Übergang über
-den Montblanc gehabt hätte, um seine Laufbahn zu beginnen, sondern
-anstatt all dieser schönen und großartigen Dinge nur irgendein
-lächerliches Weib, eine alte Registratorenwitwe, die er noch dazu hätte
-erschlagen müssen, um aus ihrem Kleiderkasten Geld stehlen zu können
-(für den Anfang seiner Laufbahn -- du verstehst doch?). Nun also, würde
-er sich denn dazu entschlossen haben, wenn ein anderer Ausweg für ihn
-nicht möglich gewesen wäre? Hätte ihn das nicht abgestoßen, weil es doch
-gar zu wenig >großartig< war und ... Sünde wäre? Nun sieh, ich sage dir,
-über dieser >Frage< habe ich mich entsetzlich lange abgequält, so daß
-ich mich fürchterlich schämte, als ich endlich erriet (ganz plötzlich,
-irgendwie), daß es ihn nicht nur niemals abgestoßen haben würde, sondern
-ihm sogar überhaupt nicht in den Sinn gekommen wäre, daß so etwas gar
-nicht >großartig< sei ... Er hätte sogar überhaupt nicht begriffen, was
-ihn dabei abstoßen könnte, und sobald das nur sein einziger Ausweg
-gewesen wäre, würde er sie in einer Weise erwürgt haben, daß ihr nicht
-einmal Zeit zum Mucksen geblieben wäre, -- ohne das geringste Bedenken!
-Nun, und ich ... befreite mich von den Bedenken, erwürgte -- nach dem
-Beispiel seiner Autorität ... Und so war es auch buchstäblich.«
-
-Raskolnikoff begreift nur zu gut den Unterschied zwischen Napoleons
-»geglücktem« und seinem eigenen »mißglückten« Verbrechen, aber nur den
-_ästhetischen_, den Unterschied in der »Form« und in der Eigenart der
-geistigen Kraft. Er vergleicht sein Verbrechen mit den blutigen
-Heldentaten berühmter, gekrönter, historischer Verbrecher, doch Dunja,
-seine Schwester, protestiert gegen einen solchen Vergleich: »Aber das
-ist doch etwas ganz anderes, Bruder, das ist doch nie und nimmer
-dasselbe!« -- Da ruft er wie rasend aus: »Ah! Es ist nicht dieselbe
-_Form_! Es hat kein so ästhetisch schönes Äußere! Ich aber verstehe
-wirklich nicht, warum eine regelrechte Schlacht, mit Kanonenkugeln auf
-die Menschen feuern -- eine ehrenwertere Form sein soll? Die Furcht vor
-dem Unästhetischen ist das erste Anzeichen der Kraftlosigkeit!« --
-»Napoleon, die Pyramiden, Waterloo -- und eine hagere, häßliche
-Registratorenwitwe, eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem
-Bett, -- nun, wie soll das selbst ein Porphyri Petrowitsch (der
-Untersuchungsrichter) verdauen! ... Wie sollen die an ein solches
-Problem heranreichen! ... Die Ästhetik stört: >wird denn<, heißt es,
->Napoleon unter das Bett eines alten Weibes kriechen?<«
-
-Ja, gerade die konventionelle Ästhetik, die Rhetorik der Lehrbücher,
-jene historische Lüge, die wir mit der Milch unserer erziehenden Mutter,
-der Schule, einsaugen, entstellt und verunstaltet unsere sittliche
-Wertung der universalhistorischen Erscheinungen. Von dieser
-»ästhetischen« Schale wird nun Raskolnikoff durch die Frage nach den
-Verbrechen der Helden befreit, wird von ihr, wie Sokrates sagt, »vom
-Himmel auf die Erde herabgeführt«, d. h. von jener abstrakten Höhe, wo
-die akademische Vergötterung der Großen stattfindet, auf die Ebene des
-lebendigen Lebens: und er stellt uns Angesicht gegen Angesicht dieser
-Frage in ihrer ganzen grauenvollen Einfachheit und Verschlungenheit
-gegenüber. Hat doch ein jeder von uns, uns Nichthelden, wenigstens
-einmal im Leben mehr oder weniger bewußt für sich entscheiden müssen, so
-wie Raskolnikoff es tut: »Bin ich zitternde Kreatur oder habe ich das
-Recht,« bin ich ein »Fressender« oder ein »Gefressener«? Und diese
-Frage, dem Anscheine nach die der umfassendsten und allgemeinsten
-universalhistorischen Anschauung, ist hier mit der ersten und
-wichtigsten sittlichen Frage jedes einzelnen Menschenlebens, jeder
-einzelnen menschlichen Persönlichkeit untrennbar eng verbunden. Ohne
-diese Frage mit dem Verstande und dem Herzen gelöst zu haben -- oder hat
-man sie nur mit dem Verstande oder nur mit dem Herzen gelöst, -- kann
-man nicht leben, kann man keinen Schritt im Leben tun.
-
-Wenn wir uns nun von der »Furcht vor der Ästhetik« befreien, werden wir
-dann nicht zugeben, daß der erste, sagen wir mathematische Ausgangspunkt
-der sittlichen Bewegung Napoleons und Raskolnikoffs -- ein und derselbe
-ist? Beide sind sie aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen: der kleine
-Korsikaner, der auf die Straßen von Paris hinausgeworfen war, der
-Fremdling ohne Titel, ohne Herkunft, dieser Bonaparte -- ist ganz ebenso
-ein unbekannter Vorübergehender, ein junger Mann, »der einmal in der
-Dämmerstunde aus seiner Dachkammer heraustrat,« wie der Student der
-Petersburger Universität Rodion Raskolnikoff. »Er war auffallend schön,
-er hatte dunkle Augen und dunkelblondes Haar, war schlank und
-wohlgestaltet« -- das ist alles, was wir zu Anfang der Tragödie von
-Raskolnikoff wissen, und nur ein wenig mehr wissen wir von -- Napoleon.
-Das »Menschenrecht« und die »Freiheit«, die die »Große Revolution«
-erobert hatten, sind für beide in erster Linie das Recht und die
-Freiheit, vor Hunger zu sterben; »Gleichheit und Brüderlichkeit« sind
-für sie Gleichheit und Brüderlichkeit mit denen, die von ihnen verachtet
-oder gehaßt werden. Beim Anblick dieser »Nächsten« und »Gleichen« --
-sagt Dostojewski von Raskolnikoff -- »drückte sich die Empfindung des
-tiefsten Ekels in den feinen Zügen des jungen Mannes aus«, und wir
-können dabei ebensogut an Napoleon denken. Brüderlichkeit und Gleichheit
--- tiefster Ekel; Freiheit -- tiefste Verschmähung, Einsamkeit. Weder
-Vergangenheit noch Zukunft. Weder Hoffnungen, noch Überlieferungen. »Ein
-einziger gegen alle, sterbe ich morgen, bleibt nichts von mir übrig« --
-das ist die erste Empfindung beider. Und der Einfall dieser »zitternden
-Kreatur«, ein »Herrscher« zu werden, wäre ein ebenso verrückter Einfall
--- oder Größenwahnsinn -- bei Napoleon wie bei Raskolnikoff: zuerst ins
-Krankenhaus, dann in die Zwangsjacke und -- aus ist es. Raskolnikoff hat
-vor Napoleon sogar einen gewissen Vorzug: er sieht nicht nur die
-äußeren, sondern auch die inneren Schranken und Hindernisse, die er
-»übertreten« muß, um »das Recht zu haben«. Napoleon sieht sie überhaupt
-nicht. Übrigens war vielleicht gerade diese Blindheit teilweise die
-Quelle seiner Kraft -- allerdings nur bis zu einer gewissen Zeit: zu
-guter Letzt wird der Mangel an Erkenntnis jeglicher Kraft doch nicht
-verziehen; und auch Napoleon wurde dieser Mangel nicht verziehen.
-Raskolnikoff erkühnt sich zu Größerem, weil er mehr, weil er Größeres
-sieht. Hätte er gesiegt, so wäre sein Sieg endgültiger, unumstößlicher
-gewesen, als der Sieg Napoleons. In jedem Fall aber ist infolge der
-Gleichheit oder Einheit des Ausgangspunktes, trotz des ganzen
-unermeßlichen Unterschiedes der zurückgelegten Wege, das sittliche
-Gericht über Raskolnikoff zu gleicher Zeit auch Gericht über Napoleon.
-Die Frage, die in »Rodion Raskolnikoff« erhoben wird, ist dieselbe
-Frage, die Tolstoj in »Krieg und Frieden« erhebt; der ganze Unterschied
-besteht nur darin, daß Tolstoj sie umfängt, während Dostojewski sich in
-sie vertieft; der eine tritt von außen an sie heran, der andere von
-innen; bei dem einen ist es Beobachtung, beim anderen Experiment.
-
-Die Revolution war ein ungeheurer politischer, schon in viel geringerem
-Maße sozialer, die Stände betreffender, und überhaupt kein moralischer
-Umsturz. »Du sollst nicht töten«, »du sollst nicht stehlen«, »du sollst
-nicht ehebrechen« -- alles ist geblieben, wie es war, wie es die Tafeln
-Moses vorschreiben; alles hat, ganz abgesehen von den äußeren
-kirchlichen und monarchischen Überlieferungen, seine innere sittliche
-Notwendigkeit vor dem Henker (Robespierre), ebenso wie vor dem Opfer
-(Louis XVI.) aufrecht erhalten. Trotz der »Göttin der Vernunft« war
-Robespierre ein ebensolcher »Deïst« wie Voltaire, und trotz der
-Guillotine ein ebensolcher »Menschenfreund« wie Jean Jacques Rousseau.
-Man muß seinen Nächsten lieben, man muß sich für seine Nächsten opfern
--- dem widersprach kein einziger, weder die Henker, noch die Opfer.
-Hierbei vollzog sich keinerlei Umwertung der sittlichen Werte. Die
-Persönlichkeit war der Allgemeinheit in der neuen Regierungsform nicht
-etwa weniger untergeordnet, sondern mehr. Bei der mittelalterlichen
-Verfassung war diese Unterordnung ganz natürlich, innerlich bedingt,
-nicht willkürlich gewesen, war die Unterordnung des einen Gliedes im
-lebendigen Volkskörper unter ein anderes durch eine vielleicht sogar
-falsch aufgefaßte, aber immerhin religiöse, uneigennützige Idee. Jetzt
-wird die Politik zur Mechanik; die Persönlichkeit ordnet sich dem
-äußeren Zwang des »Gesellschaftsvertrages« unter -- der Stimmenmehrheit;
-sie wird zum Hebel inmitten aller Hebel der vernünftig und richtig
-gebauten Maschine, zur Eins unter Einern, zur mathematisch berechenbaren
-Ziffernhöhe dieser Mehrheit. Der Druck der neuen anmaßenden Freiheit
-war, wie es sich erwies, furchtbarer als der Druck der alten
-unverhohlenen Knechtschaft.
-
-Und die Persönlichkeit hielt es nicht aus und empörte sich in der
-letzten, in der Welt noch nie dagewesenen Empörung.
-
-Versteht sich: am allerwenigsten dachte an die Rechte der
-Menschenpersönlichkeit, an die Umwertung aller sittlichen Werte --
-Napoleon, als er die Läufe der Touloner Kanonen auf den revolutionären
-Volkshaufen richten ließ, um, nach dem Ausdruck Raskolnikoffs, »mit
-Kanonenkugeln auf Schuldige und Unschuldige zu feuern, ohne sie auch nur
-eines Wortes der Erklärung zu würdigen«. Und darauf folgt eine ganze
-Reihe ganz ebenso geglückter Verbrechen. -- »Ich erriet damals,« sagt
-Raskolnikoff »daß Macht nur dem gegeben wird, der es wagt, sich zu
-bücken und sie zu nehmen. Hierbei ist ja nur eines, nur eines
-erforderlich: man muß nur wagen, nur erkühnen muß man sich! ... Es stand
-plötzlich sonnenklar vor mir, wie denn noch kein einziger bis jetzt
-gewagt hat und nicht wagt, wenn er an diesem ganzen Blödsinn
-vorübergeht, einfach alles am Schwanz zu nehmen und zum Teufel zu
-schleudern! Ich wollte mich dazu erkühnen!« Dem Bewußtsein Napoleons
-zeigte sich dasselbe natürlich nicht »sonnenklar«: nur aus dem dunklen,
-uranfänglichen Instinkt der sich empörenden Persönlichkeit heraus
-»wollte _er_ sich erkühnen«.
-
-Napoleon ging aus der Revolution hervor und nahm sogar ihre
-Offenbarungen an, nur veränderte er sie für seine Zwecke. »Alle sind
-gleich« -- damit stimmte er überein, nur fügte er hinzu: »Alle sind
-gleich _für mich_, alle sind gleich _unter mir_.« »Alle sind frei« --
-und er will Freiheit, will freien Willen, aber »_nur für sich allein_«
-will er freien Willen.
-
-Vom Gesichtspunkte der alten, mosaischen, und der scheinbar neuen, in
-Wirklichkeit aber ebenso alten menschenfreundlichen Sittlichkeit aus,
-die Jean Jacques Rousseau mit der Feder und Robespierre mit dem
-Henkerbeil verkündet haben, ist Napoleon ein Dieb und Mörder, »ein
-Räuber außerhalb des Gesetzes«. Uns erdrückt das Pathos der historischen
-Ferne, wir sind geblendet von der Sonne von Austerlitz. »Napoleon, die
-Pyramiden, Waterloo -- und eine hagere, häßliche Registratorenwitwe,
-eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem Bett -- wie sollen
-sie denn das verdauen! Wird denn, heißt es, Napoleon unter das Bett
-eines alten Weibes kriechen?« Und doch, in der Tat, geben wir zu, wenn
-nur die »Ästhetik uns nicht störte«, daß für die Kritik der reinen
-Sittlichkeit die Zerstörung Toulons und das unter das Bett des alten
-Weibes nach dem roten Koffer Kriechen -- ein und dasselbe ist. Furchtbar
-und gemein ist es, scheußlich und widerlich! Er kroch unter das Bett und
-verkroch sein ganzes Leben. Warum ist das nun in dem einen Falle
-»Übertretung (Schuld) und Sühne«, und im anderen -- Übertretung
-(Verbrechen) und Krönung mit dem in der Geschichte einzig dastehenden
-universalhistorischen Lorbeerkranz? »Gott hat sie mir gegeben« (die
-Krone der römischen Cäsaren); »wehe dem, der an sie rührt.« Was Wunder,
-wenn der verschüchterte und ruhmberauschte Pöbel dem glaubte! Wie aber
-konnten die freien, rebellischen Byron und Lermontoff daran glauben? Wie
-konnten sie diesen »Tyrann«, der den größten Versuch der
-Menschenbefreiung, die Revolution, enthauptete, als ihren Helden
-anerkennen? Wie, endlich, konnten so ruhige und nüchterne Leute wie
-Puschkin und Goethe von ihm betrogen werden? Und doch ist es so. Als
-hätte er ihren geheimsten, für sie selbst noch furchtbaren Traum erraten
-und verkörpert! Und geradezu dankbar dichten sie die letzte wundervolle
-»Sage« Europas von ihm, dem Märtyrer-Imperator auf Sankt Helena, von dem
-neuen Prometheus, der an den einsamen Fels inmitten des Ozeans
-angeschmiedet ist. Dem Märtyrer welchen Gottes? -- Das wissen sie nicht,
-das sehen sie nicht, nur dunkel ahnt ihr Instinkt, daß gerade hier, bei
-Napoleon, ein anderer Geist umgeht, einer, der ihnen wie näher und
-verwandter, der wie neuer und sogar freier, befreiender und
-schöpferischer ist, als der Geist der Revolution. Erwachte nicht in dem
-alten, bereits zur Ruhe gekommenen und ein wenig sogar schon
-verknöcherten Goethe, als er sich an Napoleon wie an einer
-übernatürlichen, »dämonischen« Erscheinung der Natur und der Menschheit
-begeisterte, -- erwachte da nicht in ihm etwas Jünglinghaftes,
-grenzenlos Rebellisches, Unterirdisches, jenes selbe, aus dem auch sein
-Prometheusruf geboren scheint:
-
- Ihr Wille gegen meinen!
- Eins gegen Eins ...
- -- -- -- -- -- --
- Götter? Ich bin kein Gott,
- Und bilde mir so viel ein als einer.
- Unendlich? -- Allmächtig? --
- Was könnt ihr? ......
- Vermögt ihr, zu scheiden
- Mich von mir selbst?
-
-Auch bei Byron nimmt die Erscheinung Napoleons nicht umsonst die Gestalt
-Prometheus, Kains, Lucifers an -- aller Verstoßenen, Verfolgten, die
-sich gegen Gott erhoben und vom Baume der Erkenntnis gegessen haben.
-Dieser Geist, der weder hell noch dunkel ist, wie das fahle Dämmerlicht
-der ersten Morgenstunden, dieser neue Dämon Europas mit seinem frommen,
-leidenschaftslosen Lächeln -- um wieviel ist er aufrührerischer als
-Robespierre oder Saint Just, um wieviel will er mehr, als Rousseau oder
-Voltaire! Es scheint, daß hier auch des Rätsels Lösung ist. Aber
-vielleicht ist niemand entfernter von diesem Erraten, als -- Napoleon
-selbst. Vielleicht würde sich niemand so sehr darüber wundern, niemand
-so entrüstet sein wie er, wenn er begreifen könnte, welch eine Folgerung
-aus seinen Sätzen gezogen, welch eine Bedeutung seiner Persönlichkeit
-beigelegt werden wird. Schien es doch nicht nur anderen, sondern auch
-ihm selbst, daß er das gestörte Gleichgewicht der Welt wieder
-herstellte, daß er unerschütterliche Ordnung einführte, das
-auseinanderfallende Gebäude des europäischen Staatskörpers stützte und
-der Revolution ein Ende machte. Wenn nur er selbst und die anderen den
-»ersten Schritt«, seinen Ausgangspunkt, vergessen könnten -- diesen
-bleichen jungen Menschen mit den blutigen Händen, der nach dem roten
-Koffer unter das Bett der alten Wucherin -- der Revolutionsgöttin
-»Vernunft« -- kriecht! »_Dio mi la dona._ Gott hat _sie_ mir gegeben,«
--- die Krone oder die rote Truhe? Und ist es wirklich Gott? Wirklich der
-christliche Gott oder der Gott des fünften Buches Moses? Immerhin hat er
-doch getötet und gestohlen! Er aber ist ein einzelner; für die anderen
-heißt es nach wie vor: »Du sollst nicht töten«, »Du sollst nicht stehlen
-...« Wenn _er_ -- warum dann schließlich nicht auch _ich_? Ist er denn
-nicht aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen wie ich, nicht aus einem
-ebenso abstrakten mathematischen Nichtigkeitspunkt wie ich? Er ist --
-Gott; ich bin -- »zitternde Kreatur«. Aber auch in meinem Herzen erhebt
-sich der Schrei des Titanen:
-
- Götter? Ich bin kein Gott,
- Und bilde mir soviel ein als einer.
-
-Wenn er »beim Vorübergehen einfach alles am Schwanz nahm und
-fortschleuderte zum Teufel,« warum soll dann nicht auch ich einmal
-dasselbe versuchen, und wäre es auch nur, sagen wir -- aus Neugier?
-»Denn hier ist ja nur eines, nur eines erforderlich: man muß sich nur
-dazu entschließen.«
-
-Nein, Napoleon hat den Brand der großen Revolution nicht gelöscht, er
-hat nur den Feuerfunken derselben aus dem äußeren, politischen, weniger
-gefährlichen Gebiet in das innere, sittliche, um wieviel mehr
-explosionsfähige geworfen. Er wußte selbst nicht, was er tat, ahnte
-selbst nicht, »wes Geistes er war«; aber mit seinem ganzen Leben, durch
-sein Beispiel, durch die Größe seines Glücks und die Größe seines
-Unterganges hat er die tiefsten Grundfesten der ganzen christlichen und
-vorchristlichen Sittlichkeit erschüttert: ohne seinen Willen, gegen
-seinen Willen hat er die »Umwertung aller Werte« begonnen, hat er noch
-nie dagewesene Zweifel an die Uroffenbarungen des Menschengewissens
-erweckt, hat er -- wenn auch mit halbverschlafenen Augen -- in das
-»Jenseits von Gut und Böse« geblickt, und hat er auch anderen erlaubt
-und auch andere gezwungen, dorthin zu blicken. Das aber, was der Mensch
-dort erblickt hat, das kann er nie mehr vergessen. Die alte politische
-»Große« Revolution erscheint uns trotz all ihrer äußeren blutigen Greuel
-vollkommen unverletzend und ungefährlich, fast gutmütig und klein wie
-ein Kinderspiel, fast wie Schülerunart -- im Vergleich zu diesem kaum
-sehbaren, kaum hörbaren innerlichen Umsturz, der sich noch bis auf den
-heutigen Tag nicht vollzogen hat und dessen Folgen wir unmöglich
-voraussehen können.
-
-Eines ganzen Jahrhunderts angestrengten philosophischen und religiösen
-Denkens Europas hat es bedurft -- von Goethes »Prometheus« bis zu
-Nietzsches »Antichrist« --, um den ewigen Sinn der napoleonischen
-Tragödie als universalhistorischer Erscheinung zu erfassen: die
-antichristliche und doch dabei heilige Liebe zu sich selbst, zu seinem
-»fernen« Selbst, die der Liebe zu anderen, zum »Nächsten«
-entgegengesetzt ist; der titanische unterirdische Anfang der
-Persönlichkeit: »ich allein gegen alle« --
-
- »Ihr Wille gegen meinen« --
-
-der Wille der Selbstbejahung, der »Wille zur Macht«, der dem Willen zur
-Selbstverleugnung, zur Selbstvernichtung entgegengesetzt ist; die
-Empörung gegen die alte, gegen die neue, gegen jede gesellschaftliche
-Einrichtung, jeden »gesellschaftlichen Verband«, gegen alle »beengenden
-Fesseln der Zivilisation«, nach dem Ausdruck Napoleons, den er gleichsam
-von dem Urahn der Anarchisten, Jean Jacques Rousseau, entlehnt hat; die
-Empörung gegen die Menschheit (Kain), gegen Gott (Lucifer), gegen
-Christus (der Antichrist-Nietzsche) -- das sind die emporführenden
-Stufen dieser neuen sittlichen Revolution. Unbegrenzte Freiheit,
-unbegrenztes Ich, vergöttertes Ich, Ich-Gott, -- das ist das letzte,
-kaum zu Ende gesprochene Wort dieser Religion, die Napoleon mit so
-genialem Instinkt vorausgesehen hat -- »ich habe eine Religion
-geschaffen« --, und über die er mit so unverzeihlichem Leichtsinn
-scherzen konnte: »In allen Jahrmarktsbuden würde man mich verspotten,
-wenn ich es mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben.«
-
-Und von diesem selben unterirdischen vulkanischen Stoß, der scheinbar
-aus dem Westen kam (wie wir späterhin sehen werden, _nicht nur_ aus dem
-Westen), von diesem selben unklaren, bald mitfühlenden, bald
-spöttischen, aber immer aufregenden und tiefen Gedanken, an die
-napoleonische Persönlichkeit, an die Raubvögel und aufrührerischen
-Helden, die »Menschen des Fatums« -- angefangen von dem kaukasischen
-Gefangenen, Onjégin, Aleko, Petschorin und dem Dämon[1], begann auch die
-Wiedergeburt der russischen Literatur. Dieser Gedanke, der sich wohl
-zeitweilig verbarg, sich gleichsam unter die Erde versenkte, niemals
-aber endgültig versiegte, da er immer wieder mit neuer und neuer
-Kraft hervorbrach, dieser Gedanke begleitet die ganze große
-universalhistorische Entwicklung des russischen Geistes in der
-russischen Literatur, von den »Moskowitern im Child Harold-Mantel«, an
-deren Händen »Blut klebt«, von Aleko-Petschorin, der »nur für sich
-allein Willen haben will« -- bis zum Nihilisten Kiriloff, der sich für
-»verpflichtet« hält, »Eigenwille zu zeigen«, bis Stawrogin, der »in
-beiden entgegengesetzten Polen (in der Freveltat und in der Heiligkeit)
-den gleichen Genuß findet« -- bis zu »Iwan Karamasoff«, der es endlich
-begreift, daß »alles erlaubt ist« und somit Friedrich Nietzsches »alles
-ist erlaubt« voraussagt.
-
-Ein junger Mann[2], mit dem bleichen Gesicht, »mit wundervollen Augen
-und ebensolchem Äußeren« (und nicht nur Äußeren), der an Bonaparte vor
-Toulon erinnert, stiehlt sich nachts in das Schlafzimmer der alten
-Gräfin, um ihr mittels Gewalt das Kartengeheimnis zu erpressen. Die
-Pistole, die er mitgenommen hat, um die Alte zu erschrecken, ist nicht
-geladen. Dennoch fühlt er sich als Mörder. Hier handelt es sich übrigens
-nicht um die Alte: »Die Alte ist Unsinn,« vielleicht auch ein Irrtum,
-»nicht die Alte, sondern das Prinzip« erschlug er, er bedurfte nur des
-»ersten Schrittes«: »ich wollte nur den ersten Schritt tun -- mich in
-eine unabhängige Stellung bringen, Mittel erlangen, und dann, später,
-hätte sich alles durch verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen
-ausgeglichen. _Ich wollte das Gute den Menschen._« Und für das Gute
-erschlug er. Das sagt Raskolnikoff, aber dasselbe könnte auch von
-Puschkins Herrman in der »Pique Dame« gesagt sein. Wie Raskolnikoff, so
-ist auch Herrman ein Nachahmer Napoleons. Wie flüchtig auch sein innerer
-Mensch von Puschkin gezeichnet ist, es ist trotzdem klar, daß er kein
-gewöhnlicher Verbrecher ist, daß hier noch etwas Komplizierteres,
-Rätselhafteres dahintersteckt. Puschkin selbst berührt natürlich, wie
-das so seine Art ist, kaum, kaum diese Rätsel, um dann sofort an ihnen
-vorüberzugehen und sich mit seinem unerhaschbar gleitenden, lächelnden
-Spott von ihnen loszumachen. Aber aus der wie zufällig von Puschkin
-hingeworfenen Skizze »Die Pique Dame« sind _nicht zufällig_ Gogols »Tote
-Seelen« und Dostojewskis »Rodion Raskolnikoff« hervorgegangen. So gehen
-auch hier die Wurzeln der russischen Literatur auf Puschkin zurück:
-gleichsam, als hätte er im Vorübergehen auf die Türe des Labyrinths
-gewiesen. Nachdem Dostojewski einmal in dieses Labyrinth eingetreten
-war, konnte er sich später sein Leben lang nicht mehr herausfinden:
-immer tiefer und tiefer drang er in dasselbe hinein, forschte, prüfte,
-versuchte, suchte und fand doch keinen Ausgang.
-
-Die Verwandtschaft Raskolnikoffs mit Herrman hat Dostojewski, wie es
-scheint, nicht nur gefühlt, sondern auch klar erkannt. »Der Puschkinsche
-Herrman in der >Pique Dame< ist eine kolossale Gestalt, ein
-ungewöhnlicher, durch und durch Petersburger Typ -- ein Typ aus der
-Petersburger Zeit!« läßt Dostojewski seinen Helden in der »Jugend«
-sagen, der gleichfalls einer von Raskolnikoffs geistigen
-Zwillingsbrüdern ist. Er sagt es bei der Beschreibung des Eindrucks, den
-der Petersburger Morgen auf ihn macht -- »der scheinbar prosaischste auf
-der ganzen Welt«, den er aber für den »allerphantastischsten der Welt«
-hält. »An einem solchen modernden, feuchten, nebligen Petersburger
-Morgen mußte der wilde Einfall eines Puschkinschen Herrman, wie mir
-scheint, noch mehr Wurzel fassen. Wohl hundertmal ist mir inmitten
-dieses Nebels der sonderbare, doch um so aufdringlichere Gedanke
-gekommen: Wie, wenn nun dieser Nebel verfliegt und sich emporhebt, wird
-dann nicht auch diese ganze modernde, sumpfig schlüpfrige Stadt zusammen
-mit dem Nebel emporschweben und verschwinden, wie Rauch verfliegen und
-nur den früheren finnischen Sumpf zurücklassen, inmitten desselben
-meinetwegen wie zum Schmuck der _Eherne Reiter_[3] auf dem heiß
-atmenden, überjagten Tiere?«
-
-Ebenso wie von Puschkins Herrman kann man auch von Raskolnikoff sagen,
-daß er ein »durch und durch Petersburger Typ« ist, »ein Typ aus der
-Petersburger Zeit«. In keiner einzigen anderen, weder russischen noch
-europäischen Stadt -- außer in Petersburg -- in keinem einzigen anderen
-Zeitabschnitt der russischen oder europäischen Geschichte hätte dieser
-Herrman sich entwickeln und auswachsen können zu einem -- Raskolnikoff.
-Und hinter diesen zwei »kolossalen«, »außergewöhnlichen« Gestalten hebt
-sich eine dritte Gestalt ab -- tritt die noch kolossalere und
-außergewöhnlichere Gestalt des Ehernen Reiters auf dem Granitfels
-hervor. Was zuerst fremd, aus dem »angefaulten Westen« importiert,
-romantisch, byronisch, napoleonisch erschien, wird verwandt, volklich,
-russisch, wird zum Geiste Puschkins, Peters; was aus den Tiefen Europas
-kam, trifft mit aus den Tiefen Rußlands Kommendem zusammen. Ist der
-Traum unseres sagenhaften Recken der Steppe, unseres Ilja von Murom,
-nicht der Traum vom »Wundertäter«, dem »Riesen«? Ja, in diesem Nebel der
-finnischen Sümpfe und in dem Granit der aus ihnen emporgewachsenen Stadt
-fühlt man deutlich die Verbindung aller kleinen und großen Helden der
-aufständischen oder nur andrängenden russischen Persönlichkeit von
-Onjégin bis Herrman, von Herrman bis Raskolnikoff, bis Iwan Karamasoff
--- mit demjenigen,
-
- -- durch dessen Fatumswille
- Die Stadt sich aus dem Meer erhob --
-
-diese »absichtlichste aller Städte der Erdkugel«, die Stadt der
-abstraktesten Erscheinungen, der größten Vergewaltigung der Menschen und
-der Natur, des historischen »lebendigen Lebens«, die Stadt der
-anscheinend geometrischen Ordnung, des mechanischen Gleichgewichts, in
-Wirklichkeit aber -- der gefahrvollsten Aufhebung der Lebensordnung und
-des Lebensgleichgewichts. Nirgendwo in der Welt sind so
-unerschütterliche Massen auf so schwankendem Grunde aufgetürmt: Granit,
-der sich in Nebel auflöst, Nebel, der sich zu Granit verdichtet. Der
-»Geist der Knechtschaft« -- der »stumme und taube« Geist, von dem es zu
-Raskolnikoff hinüberweht, während er auf der Brücke steht und auf das
-»großartige Panorama« der Petersburger Kais schaut; der Geist der
-Unfreiheit und des »Verhängnisses«, des widernatürlichen und
-übernatürlichen »Willens«. Der »wilde Einfall« Raskolnikoffs »hätte noch
-mehr Wurzel fassen müssen« -- gerade hier in dieser phantastischen Stadt
-»mit der allerphantastischsten Entstehungsgeschichte der Welt«, durch
-die Berührung dieser Wirklichkeit, die selbst einem wilden Einfall,
-einem Fieberwahn gleicht. »Vielleicht ist das alles nur irgend jemandes
-Traum? ... Irgend jemand, dem alles das träumt, wird plötzlich erwachen
--- und alles wird dann plötzlich verschwinden.«
-
-Bereits Puschkin hat die Ähnlichkeit Peters mit Robespierre bemerkt. Und
-in der Tat sind die sogenannten »Reformen« Peters die größte Revolution,
-der größte Umsturz, die Empörung, der Aufstand von oben, »der weiße
-Terror«. Peter ist Tyrann und Rebell zu gleicher Zeit, Rebell im
-Verhältnis zum Vergangenen, Tyrann im Verhältnis zum Zukünftigen,
-Napoleon und Robespierre in einer Person. Und sein Umsturz ist nicht nur
-politisch, sozial, sondern in noch viel größerem Maße sittlich, er ist
-ein unerbittlicher, unbarmherziger, wenn auch unbewußter Bruch aller
-kategorischen Imperative des Volksgewissens, ist die zügellose Umwertung
-aller sittlichen Werte. Ich glaube, daß, wenn in den Annalen alle
-menschlichen Verbrechen aufgezeichnet wären, man keines finden würde,
-das das Gewissen, wenn nicht mehr empören, so doch mehr befangen machen
-könnte, als die Ermordung des Zarewitsch Alexei. Ist sie doch nicht
-wegen des fraglos Verbrecherischen furchtbar, sondern wegen der immerhin
-möglichen _Gerechtigkeit_ und _Schuldlosigkeit_ des Sohnmörders; dieses
-Verbrechen ist furchtbar dadurch, daß man sich darüber auf keine Weise
-beruhigen kann, nachdem man zugegeben hat, daß er doch kein gewöhnlicher
-Missetäter ist, ein »Verbrecher außerhalb des Gesetzes«. Eine so
-rätselhafte Tragödie finden wir in Napoleons Leben nicht. Doch am
-fruchtbarsten ist hierbei die Frage: wie aber, wenn Peter so handeln
-_mußte_? wie, wenn er durch die Unterlassung dieser Tat das größte und
-wahre Heiligtum seines Zarengewissens zerstört hätte? Tötete er denn den
-Sohn um seinetwillen -- für sich selbst? Aber Peter konnte doch
-tatsächlich nicht -- er verstand es einfach nicht -- sich von Rußland
-unterscheiden, sich und Rußland nicht als eins fühlen: er empfand sich
-als Rußland, liebte Rußland wie sich selbst, liebte es mehr als sich
-selbst. Wer wagt zu sagen, daß er nicht tausendmal für Rußland gestorben
-wäre? Er wollte Rußlands Bestes, »wollte das Gute den Menschen bringen«,
-darum tötete er denn auch, darum »übertrat« er das Gesetz, trat er über
-das Blut, da er glaubte, daß dieser Schritt »später durch
-verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen wieder gut gemacht werden wird«. Er
-»lud sich das Blutvergießen -- auf sein Gewissen«.
-
-Und da steht Peter -- wie Puschkin sagt -- »bis zum Knie im Blute«,
-eigenhändig foltert und enthauptet er. Der Sohn des »Stillsten Zaren«
-ist -- Henker auf dem Roten Felde[4]. Und in dem Augenblick ahmt er
-niemandem nach, in dem Augenblick ordnet er sich keinerlei fremden
-Einflüssen des Westens unter, in dem Augenblick ist er im höchsten Grade
-russischer Zar, Nachfolger Iwans des Grausamem. Der Moskauer Zar-Henker
-ist ebenso autochthon, wie der Zaardamer Zimmermann, der einfache
-Arbeiter. Selbst seine ärgsten Feinde, die Abtrünnigen[5], fühlen doch,
-wenn sie ihn auch den »Fremden«, den »Untergeschobenen« nennen, daß er
-mit ihnen blutsverwandt ist. Und auch die Slawophilen hassen ihn als
-Blutsverwandten, hassen ihn mit dem größten Bluthaß, denn sie fühlen,
-daß er ihr eigen Fleisch und Blut ist, und was ihren Haß erzeugt, ist
-dasselbe Blut, das in Puschkin seine ebenso starke Liebe zu Peter
-erzeugt hat. Nein, nie noch hat es in der Weltgeschichte eine solche
-Verirrung, eine solche Erschütterung des Menschengewissens gegeben, wie
-sie Rußland in der Zeit der »Reformen Peters« erfahren hat. Wahrlich,
-nicht nur bei den Raskolniken allein konnte darob der Gedanke an den
-Antichrist entstehen! Es scheint, daß diese Erschütterung sich noch bis
-auf den heutigen Tag nicht nur im russischen _Volke_, sondern auch in
-unserer kultivierten Gesellschaft bemerkbar macht. Es scheint, daß der
-sumpfige Grund des finnischen Moores immer noch unter dem Ehernen Reiter
-schwankt. Wenn nicht heute, dann kommt morgen ein -- neuer Umsturz in
-dieser »phantastischen Geschichte«, eine neue Überschwemmung, wie sie
-Puschkin in seinem »Ehernen Reiter« geschildert ...
-
-Die Kraft der Wirkung ist gleich der Kraft der Gegenwirkung, dem Aufruhr
-von oben antwortet der Aufruhr von unten, dem weißen Terror der rote.
-Der russische Sozialismus oder der russische Terrorismus -- gleichfalls
-eine »durch und durch Petersburger« Erscheinung, eine Erscheinung des
-»Petersburger«, peterschen Zeitabschnitts -- ist einer der ewigen und
-prophetischen Träume des »Giganten auf dem ehernen Pferde«, ist einer
-der steilen Abhänge jenes »Abgrunds«, über dem er mit seinem Zügelruck
-»Rußland sich aufbäumen macht«. Hier muß der »wilde Gedanke« des
-Terrorismus durch die Berührung mit der »wilden« und phantastischen
-Wirklichkeit noch fester Fuß fassen. Und das ist jener gespenstische
-Nebel, der Nebel des Petersburger Tauwetters, der Nebel der Winde aus
-dem »faulenden Westen«, mit dem zusammen die bereiften Granitblöcke sich
-sofort erheben und wie Nebel verflattern und sich in nichts auflösen
-werden ...
-
-»Es begann mit der Anschauung der Sozialisten,« sagt der Student
-Rasumichin über die Lehre Raskolnikoffs vom Verbrechen -- diese Lehre,
-aus der die ganze Tragödie entstanden ist.
-
-In Europa war der Sozialismus abstrakte, wissenschaftliche Anschauung,
-oder private Anwendung dieser allgemeinen Anschauung, die durch die
-geschichtlichen Lebensbedingungen der Kultur hervorgerufen worden
-war. Erst in Rußland wurde der Sozialismus zur allgemeinen,
-allesverschlingenden, philosophischen, metaphysischen (denn der äußerste
-Materialismus ist bereits Metaphysik), teilweise sogar zur mystischen
-Lehre vom Sinn des Lebens, dem Ziel und Zweck der Weltentwicklung --
-mystisch natürlich ohne Wollen und Wissen ihrer Verkündiger. Und
-wiederum nur hier, in Rußland, in dem Rußland Petersburgs und Peters,
-kommt der Sozialismus bis zu seinen letzten (seinen ersten Lehrsätzen in
-bedeutendem Maße widersprechenden, mitunter dieselben unmittelbar
-verneinenden) -- _anarchistischen_ Folgerungen. Anarchismus ist ein
-furchtbares russisches Wort, ist die russische Antwort auf die Frage der
-westeuropäischen Kultur. Das haben wir nicht von Europa entlehnt, das
-haben wir Europa gegeben. Rußland hat hier zuerst, zum ersten Male das
-ausgesprochen, was Europa nicht zu sagen wagte. Hierin hat sich jene
-besondere Neigung, die mit religiöser Verblendung viel Gemeinsames hat,
-die Neigung zu allem dialektisch Äußersten, Zügellosen,
-Überschreitenden, selbst über den letzten »Strich« gehenden, die dem
-russischen Geiste eigen ist, wieder einmal ausgesprochen. Und so ist es
-selbstverständlich auch kein gewöhnlicher Zufall, daß diese unerhörte
-Entwicklung dieser beiden anscheinend so entgegengesetzten und
-unvereinbaren äußersten Pole -- die Idee der Selbstherrschaft und die
-Idee der Herrschaftslosigkeit, der Monarchie und der Anarchie -- sich
-gerade in dem Rußland Peters vollzogen hat. Sind sie doch beide aus
-»einem Geiste« hervorgegangen, aus dem »stummen und tauben« Geiste, aus
-dem Geiste des größten Selbstherrschers und des größten Rebellen der
-Neuen Geschichte: sie sind die zwei steilen Abhänge, die zwei Ränder
-immer derselben Kluft, desselben »Abgrundes«, über dem sich das Pferd
-des Ehernen Reiters bäumt. In der Politik -- Anarchismus, in der
-Sittlichkeit -- Nihilismus. Und auch hier, im Nihilismus, ist der
-»letzte Punkt« erreicht; auch hier ist der »ganze historische Weg
-zurückgelegt, es gibt nichts mehr, wohin man weitergehen könnte«.
-Wiederum das russische Extrem, die äußerste, dialektisch-zügellose,
-nichtwissenschaftliche Folgerung aus der westeuropäischen
-wissenschaftlichen »Kritik der reinen Sittlichkeit«, die sich als
-unerfüllbarer erwies, als die »Kritik der reinen Vernunft«,
-die Folgerung aus den westeuropäischen, unvergleichlich
-zaghafteren und gemäßigteren, weil mehr lebenskulturellen, mehr
-geschichtlich-realistischen »Versuchen, sich auf der Erde ohne Gott
-einzurichten« -- ohne himmlische wie auch ohne irdische Macht, -- die
-Folgerung aus der, wie man meint, ausschließlich materialistischen und
-mechanistischen Weltauffassung.
-
-Wenn Rasumichin recht hat, daß die Lehre Raskolnikoffs mit der
-Anschauung der Sozialisten begonnen habe, so ist das natürlich nicht im
-Sinne des westeuropäischen Sozialismus zu verstehen, sondern in einem
-besonderen, russischen Sinne, im Sinne des Anarchismus und Nihilismus.
-
-»Nun, die Auffassung der Sozialisten ist ja bekannt,« fährt Rasumichin
-fort, »das Verbrechen sei ein Protest gegen die Anormalitäten der
-sozialen Einrichtung -- und nichts weiter, irgend welche anderen
-Ursachen werden überhaupt nicht zugelassen -- und das sei alles!«
-Raskolnikoff aber geht bereits hier in seinem Ausgangspunkte viel weiter
-als die Sozialisten. Die Sozialisten sagen: der Protest -- die
-Verneinung des Vorhandenen -- muß zusammen mit dem, gegen was er
-gerichtet ist, verschwinden, die Verbrechen müssen in demselben
-Verhältnis, wie die »ungerechte Einrichtung oder Einteilung der
-Gesellschaft sich durch eine gerechte ersetzt«, seltener werden oder gar
-gänzlich aufhören. Raskolnikoff aber faßt es anders auf: das Verbrechen
-ist für ihn nicht nur Verneinung, Zerstörung des Alten, sondern auch
-Bejahung, Schaffung von Neuem, die nicht mit zeitlichen, veränderlichen
-Bedingungen der menschlichen Gesellschaft verbunden ist, sondern mit den
-ewigen, unveränderlichen Gesetzen der Natur. »_Nach dem Naturgesetz_,«
-sagt er zu Porphyri Petrowitsch, dem Untersuchungsrichter, indem er
-seine Lehre auseinandersetzt, »zerfallen die Menschen im allgemeinen in
-zwei Arten: in eine niedrigere Art, das sind die Gewöhnlichen, oder
-sagen wir einfach das Material, das einzig zur Erzeugung von
-Seinesgleichen dient, und in die eigentlichen Menschen, d. h. solche,
-die die Gabe oder das Talent besitzen, in ihrer Mitte ein _neues Wort_
-zu sagen ... Die zur zweiten Abteilung gehörenden übertreten alle das
-Gesetz, das sind die Umstürzler ... Und wenn ein solcher für seine Idee
-selbst über Leichen, über Blut schreiten muß, so darf er -- meiner
-Meinung nach -- innerlich, vor seinem Gewissen, sich die Erlaubnis
-geben, meinetwegen auch Blut zu vergießen -- übrigens, je nach der Idee
-und ihrem Umfange, das nicht zu vergessen.« -- »Wenn die Entdeckungen
-eines Kepler oder Newton, sagen wir, infolge irgendwelcher Kombinationen
-auf keine andere Weise den Menschen bekannt werden könnten, als durch
-das Opfer von einem, zehn, hundert oder noch mehr Menschen, die der
-Bekanntmachung der Entdeckung hinderlich wären oder sich als
-unüberwindliches Hindernis auf ihren Weg gestellt hätten, so hätte
-Newton das Recht und wäre sogar verpflichtet, diese zehn oder hundert
-Menschen zu ... _beseitigen_, um seine Entdeckungen der ganzen Welt
-kundtun zu können.« -- »Ferner ... alle Gesetzgeber oder Ordner der
-Menschheit, angefangen von den ältesten, fortgefahren mit Lykurg, Solon,
-Mahomet, Napoleon und so weiter (wie interessant, daß in dieser
-Aufzählung nicht auch Peter genannt wird, wen aber, sollte man meinen,
-müßte wohl Raskolnikoff der >durch und durch Petersburger< petrische
-Typ, wohl nennen, wenn nicht Peter?) -- alle sind sie bis auf den
-letzten Verbrecher, Übertreter schon allein durch den einen Umstand, daß
-sie, indem sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft
-heilig gehaltene und von den Vätern überkommene zerstörten, und weil sie
-selbstverständlich auch vor dem Blutvergießen für ihr neues Wort nicht
-zurückgeschreckt sind, wenn dieses Blut (das mitunter vollkommen
-unschuldig war und heldenmütig für das alte Gesetz hingegeben wurde)
-ihnen nur helfen konnte. Es ist wirklich auffallend, daß die meisten von
-diesen Ordnern und Wohltätern der Menschheit vor allem furchtbare
-Blutvergießer gewesen sind. Mit einem Wort, ich folgere daraus, daß
-alle, nicht nur die ganz Großen, sondern die auch nur etwas aus dem
-alten Geleise Heraustretenden, ich meine, wenn sie auch nur etwas Neues
--- mag es noch so klein sein -- zu sagen vermögen, ihrer Natur gemäß
-unbedingt Verbrecher oder >Übertreter< sein müssen, versteht sich, mehr
-oder weniger. Anders, d. h. ohne Übertretung, würde es ihnen nicht gut
-möglich sein, aus dem alten Geleise herauszukommen, in ihm aber zu
-bleiben, das können sie natürlich nicht, und zwar wiederum _ihrer Natur
-gemäß_ nicht, und meiner Meinung nach sind sie sogar unmittelbar
-verpflichtet, nicht sich darein zu fügen, nicht den anderen zu folgen.«
-
-Am auffallendsten ist hierbei die aufrichtige oder vorgetäuschte Ruhe,
-die Selbstbeherrschung, mit der er seine Lehre wie irgend ein
-abstraktes, mathematisches Axiom auseinandersetzt. Ein Mensch spricht
-von Menschlichem, als wäre er selbst kein Mensch, sondern ein Wesen aus
-einer anderen Welt, oder wie ein Naturforscher von einem Ameisenhaufen
-oder Bienenstock spricht. Er untersucht nicht das, was sein sollte,
-sondern das, was ist, nicht Gewünschtes, sondern Vorhandenes. Als gäbe
-es zwischen der sittlichen und der religiösen Welt überhaupt keine
-Verbindung, als gäbe es zwischen dem Gedanken an das Wohl der Menschen
-und dem Gedanken an Gott keinerlei Beziehung, als hätte es diesen
-Gedanken an Gott überhaupt nie im Menschengewissen gegeben! Aber man muß
-Raskolnikoff Gerechtigkeit widerfahren lassen: seit Machiavelli hat kein
-einziger von sittlichen und politischen Fragen, die doch die größten
-Leidenschaften erregen, mit einer solchen Leidenschaftslosigkeit
-gesprochen. Und selbst die Sprache des Petersburger Nihilisten erinnert
-durch ihre schneidende Schärfe, Kälte und Klarheit der Dialektik, die
-»scharf wie ein Rasiermesser« ist, an die Sprache des Sekretärs der
-florentinischen Republik.
-
-Nur ein einziges Wort zum Schluß des Gespräches fällt aus dieser
-zynischen Leidenschaftslosigkeit heraus und enthüllt zu gleicher Zeit
-unter den abstrakten Gedanken eine noch viel größere Tiefe, als selbst
-Raskolnikoff ahnt.
-
-»Nun, aber die wahrhaft Genialen,« unterbricht Rasumichin halb
-ärgerlich, »diese, denen das Recht zu morden gegeben ist -- die müssen
-dann also überhaupt nicht leiden, auch nicht einmal für vergossenes
-Blut?«
-
-»Wozu hier das Wort >müssen<?« entgegnet Raskolnikoff. »Hier gibt es
-weder Erlaubnis noch Verbot. Mögen sie doch leiden, wenn ihnen das Opfer
-leid tut ... Leiden und Schmerz sind stets mit umfassender Erkenntnis
-und einem tiefen Herzen verbunden. Ich glaube, die wahrhaft großen
-Menschen müssen in der Welt eine _tiefe Schwermut_ empfinden,« fügte er
-plötzlich wie in Gedanken versunken hinzu, _so daß es sogar aus dem Ton
-der Unterhaltung herausfiel_. --
-
-Auch auf dem Gesichte desjenigen, dem Raskolnikoff nachahmt, dem er auch
-äußerlich ganz ebenso wie Puschkins Herrman ähnelt, -- auch auf dem
-sonderbar unbeweglichen Gesichte Napoleons, in seinen Augen, die
-scheinbar »in die Ferne, oder auf einen einzigen fernliegenden Punkt
-gerichtet sind«, finden wir den Stempel dieser tiefen Schwermut, dieser
-großen Trauer, -- kein Anzeichen von Reue oder Gewissensbissen, oder
-Leiden, sondern gerade nur von schwermütiger Trauer: als hätte er das
-erblickt, was Menschenaugen nicht sehen sollten, irgendein letztes
-Geheimnis der Welt vielleicht, und seit der Zeit verläßt dieser Schatten
-sein Antlitz nicht mehr, selbst nicht im blendendsten Lichte des Ruhmes
-und Glückes.
-
-Ja, dieses sonderbare Wort fällt »aus dem Ton der Unterhaltung heraus«:
-es mag ihm gleichsam im Versehen entschlüpft sein. Es ist ein
-jenseitiges, fast religiöses Wort. Denn, wenn in den Fragen von Gut und
-Böse alles so mathematisch klar und einfach ist, wenn das sittliche
-Gesetz nur das Gesetz der »Natur«, der natürlichen Notwendigkeit, der
-inneren Mechanik ist -- worüber trauert er dann, woher kommt dann dieser
-Schatten, vielleicht nicht aus der göttlichen, aber jedenfalls auch
-nicht der menschlichen Welt? Hat Raskolnikoff sich nicht versprochen,
-verraten? Verrät uns nicht dieses eine Wort, daß seine ganze
-wissenschaftliche Leidenschaftslosigkeit nur Äußerlichkeit, nur Membrane
-ist -- übrigens ganz so wie auch die Leidenschaftslosigkeit
-Machiavellis, der das Geheimnis seines »tiefen Herzens« ahnungslos
-aufdeckt, sobald er nur auf die Zukunft Italiens zu sprechen kommt? Es
-scheint, daß bei beiden unter der Leidenschaftslosigkeit eine -- große
-Leidenschaft loht ... wie ein »Feuertrank in einem Becher von
-Eiskristall«.
-
-Der Vorwurf, den Rasumichin den Sozialisten und teilweise auch seinem
-Freunde Raskolnikoff macht -- hatte doch nach Rasumichins Meinung auch
-bei ihm alles mit der »Anschauung der Sozialisten angefangen« -- dürfte
-von diesem wohl kaum verdient sein: »Die Natur wird überhaupt nicht in
-Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die wird als gar nicht
-vorhanden angenommen! -- Darum lieben sie ja auch so instinktiv die
-Geschichte nicht ... sie lieben die _lebendige_ Entwicklung des Lebens
-nicht: wozu _lebendige Seele_! Die lebendige Seele verlangt Leben, die
-lebendige Seele gehorcht nicht der Mechanik, die lebendige Seele ist
-mißtrauisch, die lebendige Seele ist konservativ. Hier aber, wenn's auch
-nach Aas riecht -- aus Kautschuk kann man's schon machen.«
-
-Der unerbittliche Aristokratismus, den Raskolnikoff zur Grundlage seiner
-Theorie gemacht hat -- die Einteilung der Menschen in Herde und Helden,
-in tatloses »Material«, in Sache, und in schöpferische Genies, die wie
-Bildhauer aus diesem Material eine neue Form meißeln, ein neues
-Angesicht der Geschichte -- ist vielleicht eine zu einseitige
-Auffassung, sie ist vielleicht zu übertrieben und darum ertötend,
-jedenfalls aber nicht tot, ist außerhalb des Lebens, aber darum nicht
-etwa leblos. Wenn diese Lehre auch der »Mechanik« ähnelt, so ist sie
-doch immerhin nicht »aus Kautschuk« gemacht, sondern aus dem härtesten
-Stahl und, wie eben eine schneidende Klinge, tötet sie wohl, aber sie
-prüft, erprobt, sie durchbohrt das lebendige Fleisch, den lebendigen
-Geist der Geschichte. Es geht schwer an, einen solchen Beobachter der
-menschlichen Natur, wie Machiavelli, zu verdächtigen, daß er die »Natur
-überspringe, die Geschichte, die lebendige Entwicklung des Lebens nicht
-liebe«. Der Sekretär der Republik Florenz am Hofe Cesare Borgias befand
-sich im Mittelpunkt dieser »lebendigen Entwicklung«, im Strudel der
-größten historischen Ereignisse, im Herzen der Renaissance. Machiavelli
-spricht nur davon, was er tatsächlich von diesem im grenzenlosen Leben
-und unbegrenzten Leidenschaften schlagenden Herzen erlauscht hat, nur
-davon, was er der »Natur« insgeheim abgesehen, dieser Natur, die sich
-gerade damals in ihrer furchtbaren Nacktheit nicht nur in den Schöpfern,
-sondern auch in den Kritikern der Geschichte offenbarte. Und jedenfalls
-kann man von dieser verführerischen Schimäre nicht sagen, daß es von ihr
-wie »Aasgeruch« herüberwehe, eher aber schon »wie von frischvergossenem
-Blute«, und wohl aus nichts weniger als »Kautschuk« dürfte sie gemacht
-sein. Aus dem Leben ist sie hervorgegangen und ins Leben hineingegangen
--- und wenn auch wiederum wie schneidender Stahl. Indessen liegt der
-sittlichen wie auch politischen Lehre Machiavellis vielleicht derselbe
-oder gar ein noch schonungsloserer Aristokratismus zugrunde, als bei
-Raskolnikoff. Ist es bei ihm nicht dieselbe Einteilung der Menschen in
-»Material«, »Pöbel«, »ekelhaftes Gewürm« (wie Nietzsche es nennt) -- in
-_vulgus_, das durch das Naturgesetz zum Gehorchen bestimmt ist, -- und
-in Gebieter, in Herrscher, in Pfleglinge des Halbtiers, des Halbgotts,
-des Zentauren Chiron, die gleich ihrem Lehrer die übermenschliche,
-göttliche Natur mit der des »Tieres«, der _bestia_ in sich vereinen
-müssen? -- ist es nicht dieselbe »Entbindung von der Blutschuld auf ihr
-Gewissen«, die Erlaubnis, den »Wohltätern, den Ordnern der Menschheit«
-gegeben, Blut zu vergießen? -- ist nicht die vermeintlich unvermeidliche
-Vereinung von »Tugend« (_virtù_) und »Grausamkeit« (_ferocità_) in
-ihnen? Nicht umsonst hat Nietzsche, der seine Einsamkeit in der
-Weltliteratur fast krankhaft empfand und ihr solchen Wert beilegte,
-Nietzsche, der so anspruchsvoll war im Anerkennen von Verwandten oder
-Bundesgenossen, nicht umsonst hat er unter seinen wenigen Vorgängern
-Machiavelli und Dostojewski (»diesen tiefen Menschen, den einzigen
-Psychologen, bei dem ich etwas zu lernen hatte«) nebeneinandergestellt
--- letzteren natürlich nicht als bewußtes Dogma, sondern nur für die
-künstlerische Darstellung solcher Helden des persönlichen Prinzips, wie
-Iwan Karamasoff und Rodion Raskolnikoff. Nietzsche ist ja gleichfalls --
-und das wissen wir bereits aus der Erfahrung unseres eigenen Herzens und
-Verstandes -- aus dem Leben hervorgegangen und so geht er auch wieder in
-das Leben hinein. Was nun auch der Wert seiner Lehre sei, jedenfalls
-sehen wir nur zu gut, daß man mit ihm nicht wie mit einer toten
-Abstraktion, sondern wie mit einer tief lebendigen historischen Kraft,
-gleichviel ob mit einer positiven oder negativen, in jedem Fall aber
-lebendigen Erscheinung der »lebendigen Entwicklung« rechnen muß.
-
-Machiavellis »Principe«, Raskolnikoffs »Herrscher«, Nietzsches
-»Übermensch« -- das sind wieder die emporführenden Stufen, die Stufen
-eines besonderen, nicht ins Vergangene, sondern ins Zukünftige
-gerichteten, zerstörend schöpferischen, zügellos aufrührerischen
-Aristokratismus, der aufrührerischer als jegliche Demokratie ist, --
-eines Aristokratismus, der in der Politik wie in der Sittlichkeit allen
-Wiedergeburten, die sich bis jetzt vollzogen haben, eigen ist.
-
-Wenn nun Raskolnikoff auch tatsächlich von der »Anschauung der
-Sozialisten« ausgegangen ist, so ist er doch zu einem Schluß gekommen,
-der ihrer Auffassung am entgegengesetztesten ist: Ungleichheit als
-unwandelbares, in jeder menschlichen Gesellschaft verwirklichtes
-»Naturgesetz«. Und diese Ungleichheit in ihrer Natur glättet sich nicht
-etwa aus, im Gegenteil, sie vertieft sich noch proportional der
-universalgeschichtlichen Entwicklung: die Menschheit hat sich gleichsam
-in zwei Hälften zerspalten und schon gibt es keine Vereinigung für sie,
-kein Zusammenwachsen mehr. »Der Mensch ist dem Menschen ein -- Tier« --
-oder Gott, in jedem Falle aber nicht Bruder, nicht Nächster, nicht
-Gleicher ... nach dem furchtbaren Worte Nietzsches, daß zwischen dem
-Menschen und dem Menschen eine größere Entfernung liegt, als zwischen
-Mensch und Tier.
-
-Zu gleicher Zeit ersieht man daraus, wie die Idee der Anarchie in ihren
-extremsten Folgeschlüssen sich unvermeidlich der Idee der Monarchie
-nähert und sogar unmittelbar mit ihr in eins zusammenfließt: die letzte
-Freiheit »jenseits von Gut und Böse«, die letzte Herrschaftslosigkeit
-führt zur Einherrschaft, zur Selbstherrschaft des Genies -- zum Gebot
-Platons: »es möge das Genie herrschen«.
-
-Übrigens macht Raskolnikoff in der ersten theoretischen Darlegung seiner
-Gedanken dem Sozialismus eine Konzession; er sagte »Diese (die Menschen
-der Masse) erhalten die Welt und vermehren sich; jene (die Helden)
-bewegen die Welt und führen sie ihrem Ziele zu. Diese wie jene haben
-also _vollständig dasselbe Recht zur Existenz_. Mit einem Wort, in
-meinen Augen haben _alle das gleiche Recht_, und -- _vive la guerre
-éternelle_{[1]} ... bis zum neuen Jerusalem, versteht sich!«
-
-»So glauben Sie immerhin doch an ein neues Jerusalem?« fragt Porphyri
-Petrowitsch.
-
-»Ja, ich glaube daran.«
-
-Hätte diese Konzession für seine ganze Lehre in der Tat die Bedeutung,
-die er selbst annimmt, so müßte die Teilung der Menschen in erhaltende,
-fortsetzende, und in die Welt bewegende, nicht die Vorstellung von
-Höheren und Niedrigeren, von Verächtlichen und Edlen hervorrufen. Beide
-Teile würden dann auf gleicher Stufe stehen. Dann hätte sich
-Raskolnikoff in diesen »Geringen hienieden« ein zwar anderer, aber doch
-nicht geringerer Adel offenbart, als in den Großen -- ein anderer, aber
-nicht geringerer Wert. Die Vorstellung von der »zitternden Kreatur«
-(Nietzsches »ekelhaftem Gewürm«), vom Pöbel, würde durch die Vorstellung
-des Volkes oder der »universalen Vereinigung der Menschen« ersetzt
-werden. Beide Fähigkeiten -- wie die Erhaltung des Gleichgewichts, so
-auch die Bewegung nach vorn, das Fleisch und der Geist der Menschheit --
-wären in seinen Augen in gleichem Maße heilig. Nicht Masse, wohl aber
-echtes Volk zu sein, würde ihm nicht verächtlicher und nicht rühmlicher
-erscheinen, als Held zu sein. Und so könnte man noch viele andere
-frappierende, von ihm sicherlich nicht erwartete Folgerungen aus dieser
-einen Konzession ziehen, die er ja doch nicht nur dem Sozialismus,
-sondern auch der Lehre Christi macht. Z. B.: würde sich daraus nicht
-ergeben, daß es folglich zwei Tafeln sittlicher Werte gibt, zwei
-Gewissen, zwei Wahrheiten, die tatsächlich »gleichstark«,
-»gleichberechtigt« sind? Hätte er dann nicht auch an den letzten Grenzen
-dieser Zerspaltung die Möglichkeit der _Vereinigung_ erblickt, -- hätte
-sich dann nicht auch der Vorhang vor dem wirklich »neuen«, längst nicht
-mehr sozialistischen »Jerusalem« vor ihm erhoben?
-
-Aber das ist es ja: Raskolnikoff erkennt das »gleiche Recht beider
-Hälften auf Existenz« nur mit dem Verstande an. Sein Herz verneint
-dieses Recht mit einer Kraft, wie es bis jetzt noch niemals jemand
-verneint hat, und er setzt zwischen ihnen eine größere Entfernung
-voraus, als der alte Grieche zwischen dem Sklaven und dem Freien, als
-der Inder zwischen Tschandala und Brahmane. Ja es scheint, daß es
-überhaupt keine größere Entfernung, keine größere Kluft in der Welt
-gibt, als es diese ist, die Raskolnikoff zwischen den zwei
-Menschenklassen annimmt. Er kann keine genügend grausamen, hochmütigen,
-zynischen Worte finden, um seine ganze Verachtung für die Nichthelden
-auszudrücken. -- »Oh, wie verstehe ich den Propheten zu Pferde und mit
-dem Schwert in der Hand: wenn Allah befiehlt, so hast du zu gehorchen,
-zitternde Kreatur! Recht, wahrlich Recht hat der >Prophet<, wenn er
-irgendwo mitten auf der Straße eine _gu--ute_ Batterie aufstellt und auf
-Gerechte und Ungerechte feuern läßt, ohne sie auch nur eines Wortes der
-Erklärung zu würdigen! Gehorche, zitternde Kreatur, und -- _laß dich
-nicht gelüsten_, denn -- das kommt dir nicht zu!!!« -- Von welch einem
-Rechte der Masse auf Existenz kann danach noch die Rede sein? Es sei
-denn -- von dem Recht auf ewiges Zittern, ewiges Nichtsein vor dem
-»Propheten«. Gibt es doch für Raskolnikoff kein größeres Entsetzen und
-keinen größeren Ekel, als sich als Menschen, wie alle, zu fühlen. Er hat
-ja auch nur deshalb den Mord begangen, um den Strich, der den Helden von
-dem Nichthelden scheidet, zu überschreiten, um sich selbst zu beweisen,
-daß er ein -- Mensch ist und nicht ein Ungeziefer, nicht eine »Laus«. --
-»Ich mußte damals unbedingt erfahren, ich mußte mich sobald als möglich
-überzeugen, _ob ich ein Ungeziefer bin, wie alle, oder ein Mensch_? ...
-Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder _habe ich das Recht_?« -- »Da
-hasten sie alle hin und her durch die Straßen und ist doch ein jeder von
-ihnen ein Schuft und Spitzbube allein schon seiner Natur gemäß, sogar
-schlimmer als das -- ein Idiot! ... O, wie ich sie alle hasse!« In
-seinem Herzen ist kein Körnchen von jener Liebe und Achtung vorhanden,
-ja nicht einmal von jener Gerechtigkeit zu den »Fortsetzern«, den
-»Erhaltern« der Menschheit, die er mit dem Verstande anerkennt.
-Augenscheinlich besteht hier zwischen dem Lebensgefühl und dem
-abstrakten Gedanken Raskolnikoffs irgendein klaffender Widerspruch.
-
-Die zweite Konzession, die er dem Sozialismus macht, ist die Anerkennung
-des »Wohles der Menschheit« als höchstes bewußtes Ziel der Helden. Die
-Helden sind, wie er sagt, »Ordner und Wohltäter der Menschheit«. Sie
-übertreten das Gebot nicht nur _aus dem Grunde_, weil ihre Natur derart
-beschaffen ist, sondern auch _zu dem Zweck_, nur das höhere Gebot zu
-erfüllen. Sie zerstören das Bestehende im Namen eines besseren
-Zukünftigen, im Namen des »neuen Jerusalem«. Sie opfern wenige für das
-Glück vieler, die Minderheit der Mehrheit. Ihre Verbrechen sind nicht
-nur natürlich, sondern auch vernünftig, denn verderblich sind sie nur
-für einzelne, vorteilhaft aber für Millionen, und somit können sie sogar
-durch die mathematische Berechnung gerechtfertigt werden: »läßt sich
-denn nicht ein einziges kleines Verbrechen durch Tausende von guten
-Taten wieder gut machen? Für ein Leben tausend Leben. Ein Tod und zum
-Ersatz dafür hundert Leben -- das ist doch Arithmetik!«
-
-Aber auch der zweiten Konzession kann man keine größere Bedeutung
-beilegen als der ersten; übrigens sieht er das zum Schluß auch selbst
-ein und zerreißt dann endgültig die letzte Verbindung mit der
-»Anschauung der Sozialisten«: -- »Weswegen schimpfte doch Rasumichin
-vorhin über die Sozialisten? Das sind doch arbeitsame, handeltreibende
-Leutchen, bemühen sich um das >allgemeine Glück< ... Nein, mir wird das
-Leben nur einmal gegeben, und niemals werde ich es wieder haben! -- Ich
-will nicht das >allgemeine Glück< abwarten. _Ich will auch selbst leben_
--- oder sonst lieber überhaupt kein Leben! Nun was? Ich wollte nur nicht
-an einer hungrigen Mutter vorübergehen und, in der Erwartung des
->allgemeinen Glücks<, in der Tasche meinen Rubel festhalten.« -- »Ich
-bringe, wie man sagt, >einen Stein zum Bau des allgemeinen Glücks und so
-kann mein Herz ruhig sein<. Haha! Warum habt ihr mich denn
-durchgelassen? Ich lebe doch im ganzen nur einmal, ich will doch auch
-...« Und er lacht, -- »zähneknirschend« -- über die mathematische
-Berechnung des Vorteils, des menschlichen Wohles: »Unternehme es,
-sozusagen, nicht im Interesse meines eigenen Fleisches, und der eigenen
-Lust, sondern habe ein ungeheures, erhabenes Ziel im Auge, -- haha! ...
-Beschloß jede nur mögliche Gerechtigkeit zu beobachten, Maß und Gewicht,
-und Arithmetik. Von allen Läusen wählte ich die allerüberflüssigste aus,
-und indem ich sie tötete, beschloß ich, genau nur soviel zu nehmen,
-wieviel ich für den ersten Schritt brauchte, nicht mehr und nicht
-weniger (und das übrige wäre dann nach dem Testament sowieso einem
-Kloster zugefallen, -- haha! ...). O Erbärmlichkeit! ... O Gemeinheit!
-...« Und bereits kurz vor der »Beichte« gesteht er Ssonja Marmeladoff:
-»Die ganze Qual dieser _Schwätzerei_ habe ich ertragen, Ssonja, und da
-wollte ich sie denn endlich von den Schultern wälzen: ich wollte ohne
-Kasuistik erschlagen, versteh mich recht, Ssonja, _für mich wollte ich
-erschlagen, für mich allein_! Darin wollte ich niemanden belügen, selbst
-mich nicht! Nicht um meiner Mutter helfen zu können, habe ich erschlagen
--- Unsinn! Ich habe auch nicht erschlagen, um nach der Erlangung von
-Mitteln und Macht ein Wohltäter der Menschheit zu werden -- Unsinn! Ich
-habe einfach erschlagen, _für mich selbst habe ich erschlagen, nur für
-mich allein_!« ...
-
-Hier geht in der Seele Raskolnikoffs etwas Furchtbares und Rätselhaftes
-vor sich. Man sollte meinen, wenn er für andere, zum Wohle der Menschen
-erschlagen hätte, dann wäre eine Rechtfertigung noch möglich: zwar ist
-es, würde man sagen, ein schlechtes Mittel, aber dafür hat er ein edles
-Ziel gehabt. Hat er es aber »für sich allein« getan, »für sein eigen
-Fleisch und zur eigenen Lust«, dann gibt es hierfür keine Rechtfertigung
-mehr, dann ist er ein gewöhnlicher Dieb und Mörder, ein einfacher
-Missetäter, ein »Verbrecher außerhalb des Gesetzes«. Indessen ahnt
-Raskolnikoff dunkel, daß es in diesem Falle doch nicht so ist: ja, er
-hat für sich erschlagen, _für sich allein_, aber doch nicht für sein
-Fleisch und seine Lust allein, sondern noch für etwas Höheres in sich,
-für etwas Unzweifelhafteres und zu gleicher Zeit Uneigennützigeres,
-_Ferneres_, als das Wohl des Nächsten, als das »allgemeine Glück«.
-Natürlich ist auch »Egoismus« dabei, aber dieser Egoismus ist wiederum
-von einer besonderen Art. Das Verbrechen wird vielleicht noch
-furchtbarer, jedenfalls aber nicht einfacher, nicht roher, -- im
-Gegenteil, hier erst beginnt seine Kompliziertheit, Verfeinerung und das
-Verführerische an ihm. Raskolnikoffs von Qual und Leidenschaft
-geschärfter Blick sieht bereits die ganze hoffnungslose Flachheit und
-Erbärmlichkeit der sozialistischen »handelsmäßigen« Abwägungen,
-Abmessungen des allgemeinen Nutzens. In diesem »für sich, für sich
-allein« aber dämmert es weit, weit wie eine Ahnung von irgendeiner
-unbekannten Tiefe der Berührung mit der Ordnung unermeßlich höherer,
-allerschwerster, edelster Werte, als es alle sozialistischen Vorteile
-und der ganze allgemeine Nutzen sind; er ist sich dessen noch nicht
-bewußt, aber dunkel fühlt er schon, daß hierin -- wenn auch nicht die
-Rechtfertigung, so doch immerhin irgendeine letzte Wahrheit ist, die
-Befreiung, Reinigung von der ganzen »Kasuistik«, dem »Geschwätz und der
-Lüge« vom neuen sozialistischen »Jerusalem«. Das also ist der Grund,
-warum er sich mit einer so verzweifelten Hartnäckigkeit und Anspannung
-aller Kräfte an dieses »für mich, für mich allein« klammert, als wolle
-er seine Gedanken zu Ende führen, und dennoch, als könne, als wage er es
-nicht. Hier ist alles noch -- gar zu dunkel, gar zu tief; grauenvoll ist
-es für ihn, -- gerade durch die unerwartet sich aufdeckende Tiefe ist es
-furchtbar. Vielleicht ist hier selbst die Rechtfertigung furchtbarer als
-jede Verurteilung. Die lecke Barke des Sozialismus begann unter ihm zu
-sinken, und da sieht er, wie ein Ertrinkender, als einzigen festen
-Punkt, als einzigen unerschütterlichen Fels in den Wellen -- dieses »für
-mich allein«, aber noch weiß er nicht, ob er an jenem nackten scharfen
-Felsen endgültig zerschellen oder ob er sich auf ihn retten wird. Rodion
-Raskolnikoff erfährt denn auch nicht, begreift noch nicht, daß er sich
-nicht anders retten kann, als wenn er die Rechtfertigung durch die Liebe
-zu sich selbst nicht nur zu einer sozialen, moralischen, philosophischen
-Rechtfertigung macht, sondern auch zu einer _religiösen_.
-
- _Dmitri Mereschkowski._
-
-
-
-
- Vorbemerkung
-
-
-»Rodion Raskolnikoff« ist als das erste der fünf großen Roman-Epen, die
-Dostojewski geschrieben hat, im Jahre 1866 vollendet worden. Das Werk
-hat im Russischen einen Titel, dessen Übertragung sich der Begriffswelt
-»Schuld und Sühne« nähert. Dieser Titel ist von Dostojewski aus
-nachweisbar ein Nottitel. Die Lösung des Problemes, die der Titel
-andeutet, bringt das Werk gar nicht. Der geplante zweite Teil, auf den
-sich der Titel bereits bezieht, ist nie geschrieben worden. Daher ist
-das Werk hier mit demjenigen Namen genannt, den sein Inhalt verlangt und
-an den sich das allgemeine und natürliche Empfinden längst gewöhnt hat:
-mit dem Namen seines Helden, in dem die Gestalt des jungen russischen
-Studenten und Ideologen ein für allemal Typ und beinahe Symbol geworden
-ist.
-
- E. K. R.
-
-
-
-
- Erster Teil
-
-
- I.
-
-Anfangs Juli, es war eine außerordentlich heiße Zeit, trat ein junger
-Mann gegen Abend aus seiner Kammer, die er in einem Hause der S.schen
-Gasse bewohnte, auf die Straße hinaus und ging langsam, wie
-unentschlossen, in der Richtung auf die K.sche Brücke.
-
-Er hatte glücklich eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe
-vermieden. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dache des hohen
-fünfstöckigen Hauses und glich eher einem Schrank, als einer Wohnung.
-Seine Wirtin aber, von der er diese Kammer mit Mittagessen und Bedienung
-gemietet hatte, wohnte eine Treppe tiefer in einer separaten Wohnung und
-jedesmal, wenn er auf die Straße hinausging, mußte er unbedingt an der
-Küche der Wirtin vorbeigehen, deren Tür fast immer sperrweit offen
-stand. Und jedesmal fühlte der junge Mann beim Vorbeigehen eine
-krankhafte und feige Empfindung, deren er sich schämte und bei der er
-das Gesicht verzog. Er war bei der Wirtin stark verschuldet und
-fürchtete sich, ihr zu begegnen.
-
-Nicht weil er so feige und scheu war, ganz im Gegenteil, aber seit
-einiger Zeit war er in einem gereizten und überanstrengten Zustand, der
-der Hypochondrie ähnelte. Er hatte sich so ganz und gar in sich selbst
-vertieft und hatte sich so vollständig von allen abgeschlossen, daß er
-sich sogar vor der gleichgültigsten Begegnung fürchtete, nicht bloß vor
-der mit der Wirtin. Er war von Armut erdrückt; aber selbst diese
-bedrängte Lage hatte in der letzten Zeit aufgehört auf ihm zu lasten. Er
-hatte es ganz und gar aufgegeben, mit seiner Tagesarbeit sich zu
-befassen, und hatte auch keine Lust dazu. Im Grunde genommen fürchtete
-er sich freilich nicht vor tausend Wirtinnen, was die auch gegen ihn im
-Schilde führen mochten. Aber auf der Treppe stehenbleiben, jeden Unsinn
-über alltäglichen Kram, der ihn gar nicht interessierte, anhören, all
-diese ewigen Mahnungen, seine Schulden zu bezahlen, die Drohungen, die
-Klagen anhören und sich dann den Kopf nach Ausreden zerquälen, sich
-entschuldigen und lügen zu müssen, -- nein, da war es schon besser, wie
-eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und sich davonzumachen, ohne
-von irgendeinem Menschen sich sehen zu lassen.
-
-Übrigens, dieses Mal setzte die Furcht vor einer Begegnung mit seiner
-Gläubigerin ihn selbst in Erstaunen, als er auf die Straße hinaustrat.
-
-»Solch eine Sache will ich wagen ... und fürchte mich vor solchen
-Kleinigkeiten!« dachte er über sich lächelnd. -- »Hm ... ja ... alles
-liegt in den Händen eines Menschen und er läßt alles vorbeigehen, einzig
-und allein aus Feigheit ... das ist ein Axiom ... Ich möchte wissen, was
-die Menschen am meisten fürchten? Sie fürchten sich am meisten vor einem
-neuen Schritt, vor einem neuen, eigenen Worte ... Ich schwatze übrigens
-viel zu viel. Darum handle ich nicht, weil ich schwatze. Vielleicht ist
-es aber auch so: ich schwatze darum, weil ich nicht handle. Und das
-Schwatzen habe ich in diesem letzten Monat gelernt, indem ich ganze Tage
-und Nächte in der Ecke lag und ... unnütz träumte. Warum gehe ich jetzt
-fort? Bin ich denn dazu fähig? Soll _es_ denn Ernst werden? Natürlich
-nicht. Bloß des Einfalls wegen spiegle ich mir selbst was vor.
-Spielerei! Ja, natürlich ist es Spielerei.«
-
-Die Hitze auf der Straße war beängstigend; dazu die schwüle Luft, das
-Gedränge, überall lagen Kalk, Ziegelsteine, standen Baugerüste, überall
-war Staub und jener besondere Sommergestank, der jedem Petersburger
-wohlbekannt ist, der nicht ein Landhäuschen mieten kann, -- dies alles
-erschütterte die ohnedies schon angegriffenen Nerven des jungen Mannes
-auf das unangenehmste. Der unerträgliche Geruch aus den Schenken, die in
-diesem Stadtteile besonders zahlreich sind, und der Anblick Betrunkener,
-denen man alle Augenblicke begegnete, -- trotz des Werktages, --
-vollendeten die widerwärtige und traurige Stimmung des Bildes. Ein
-Ausdruck des tiefsten Abscheus huschte einen Augenblick über die feinen
-Züge des jungen Mannes. Beiläufig gesagt, er war außergewöhnlich hübsch,
-hatte schöne dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war fein und schlank und
-von mehr als mittlerem guten Wuchse. Bald aber versank er in sein tiefes
-Sinnen, oder richtiger gesagt, in Selbstvergessenheit, und ging weiter,
-ohne seine Umgebung zu beachten, ohne den Wunsch, sie zu bemerken. Hin
-und wieder murmelte er etwas vor sich hin, nach seiner Gewohnheit
-Selbstgespräche zu halten, wie er es soeben sich selbst eingestanden
-hatte. Dabei wurde er es sich bewußt, daß seine Gedanken sich zuweilen
-verwirrten und daß er sehr schwach war -- es war ja der zweite Tag, daß
-er fast nichts gegessen hatte.
-
-Er war so schlecht angezogen, daß mancher, auch der es gewöhnt war, sich
-geschämt hätte, in solchen Lumpen am Tage auf die Straße zu gehen.
-Freilich war dieses Viertel derart, daß man hier schwerlich jemand durch
-seine Kleidung in Erstaunen setzen konnte. Die Nähe des Heumarktes, die
-Überzahl gewisser Häuser und die Bevölkerung, die ausschließlich aus
-Handarbeitern besteht und in diesen Straßen und Gassen zusammengepfercht
-haust, belebten genugsam das allgemeine Bild mit solchen Gestalten, daß
-es sonderbar gewesen wäre, wenn eine solche Figur aufgefallen wäre. Und
-in der Seele des jungen Mannes hatte sich soviel böse Verachtung
-angesammelt, daß er trotz seines zuweilen sehr jugendlichen
-Selbstgefühls sich fast nicht mehr seiner Lumpen schämte. Anders
-freilich war es, wenn er zufällig Bekannten oder früheren Kameraden
-begegnete, denen er naturgemäß gern aus dem Wege ging. Indessen, als ein
-Betrunkener, den man von ungefähr in diesem Augenblicke in einem großen
-Wagen, mit einem großen Lastpferd davor, durch die Straße fuhr,
-plötzlich im Vorbeifahren ihm zurief: »He, du da mit dem deutschen
-Hute!« -- und mit der Hand auf ihn wies, -- blieb der junge Mann stehen
-und faßte krampfhaft nach seinem Hute. Der Hut war hoch und rund, in
-einem guten Laden gekauft, aber völlig abgetragen und verschossen,
-voller Löcher und Flecken, ohne Rand und auf der einen Seite häßlich
-eingedrückt. Nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, das eher
-Schrecken war, hatte ihn erfaßt.
-
-»Ich wußte es!« murmelte er verlegen. »Ich dachte es mir! Das ist das
-allerschlimmste! So eine Dummheit, irgendeine sinnlose Kleinigkeit kann
-das ganze Vorhaben vernichten! Ja, der Hut fällt zu sehr auf ... Er ist
-lächerlich, darum fällt er auf ... Zu meinen Lumpen brauche ich
-unbedingt eine Mütze und wenn es auch eine alte Kappe ist, aber nicht
-dies Ungetüm. Niemand trägt solch einen Hut, von ferne schon sieht man
-ihn, kann sich ihn merken ... und die Hauptsache, man wird ihn sich für
-später merken, und ein Indizium ist da. Unauffällig muß man sein ... Die
-Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten sind die Hauptsache! ... Diese
-Kleinigkeiten verderben stets alles ...«
-
-Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von
-seiner Haustür waren -- genau, siebenhundertunddreißig. Er hatte sie
-einmal gezählt, als er stark ins Träumen gekommen war. Damals glaubte er
-diesen Träumen selbst noch nicht, und sie reizten ihn bloß durch ihre
-abscheuliche, aber verführerische Verwegenheit. Jetzt, nach einem Monat,
-schaute er es anders an und hatte sich unwillkürlich daran gewöhnt, den
-»abscheulichen« Traum -- ungeachtet aller stets wachen Selbstvorwürfe
-über seine eigene Kraftlosigkeit und Unentschlossenheit, -- als ein
-Vorhaben anzusehen, obwohl er sich immer noch nicht recht traute. Jetzt
-ging er _eine Probe_ seines Vorhabens zu machen, und mit jedem Schritt
-wuchs stärker und stärker seine Aufregung.
-
-Mit erstarrendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich einem
-riesigen Hause, das mit der einen Seite auf den Kanal hinausging, mit
-der anderen an der R.schen Straße lag. Dieses Haus hatte lauter kleine
-Wohnungen und war von allerhand Handarbeitern bewohnt, -- von
-Schneidern, Schlossern, Köchinnen, von Deutschen, von Mädchen, die ihre
-eigene Wohnung besaßen, kleinen Beamten und dergleichen. Durch die
-beiden Tore und die beiden Höfe des Hauses huschten in einem fort aus-
-und eingehende Menschen. Hier waren drei oder vier Hausknechte
-angestellt. Der junge Mann war sehr zufrieden, als er keinem von ihnen
-begegnete, und schlüpfte unbemerkt rechts vom Tore die Treppe hinauf.
-Die Treppe war dunkel und schmal, -- es war eine Hintertreppe, -- er
-kannte das alles schon, hatte es genau studiert, und die ganze Umgebung
-gefiel ihm; in solcher Dunkelheit ist ein neugieriger Blick
-ungefährlich.
-
-»Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie wird es dann sein, wenn ich
-wirklich an _die Tat_ selbst gehe?« dachte er unwillkürlich, während er
-zum vierten Stockwerk hinaufstieg. Hier versperrten ihm Packträger,
-verabschiedete Soldaten, die aus einer Wohnung Möbel hinaustrugen, den
-Weg. Er wußte von früher, daß in dieser Wohnung ein Deutscher, ein
-Beamter, mit seiner Familie lebte.
-
-»Dieser Deutsche zieht jetzt also aus, also bleibt im vierten Stock für
-einige Zeit nur die Wohnung der Alten bewohnt. Das ist gut ... auf jeden
-Fall ...« dachte er und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke
-schlug schwach an, als wäre sie aus Blech. In solchen kleinen Wohnungen
-findet man immer solche Glocken. Er hatte den Ton dieser Glocke
-vergessen, und jetzt schien ihn dieser eigenartige Klang plötzlich an
-etwas zu erinnern und eine klare Vorstellung von etwas zu geben ... Er
-zuckte zusammen, seine Nerven waren sehr herunter. Kurz darauf öffnete
-sich die Türe zu einem winzigen Spalt -- die Bewohnerin blickte hindurch
-mit sichtbarem Mißtrauen, und man sah bloß ihre kleinen, dunkel
-leuchtenden Augen. Als sie aber auf dem Flure viele Menschen erblickte,
-faßte sie sich ein Herz und öffnete die Tür ganz. Der junge Mann trat
-über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Wand in zwei
-Teile geteilt war, dahinter befand sich eine kleine Küche. Die Alte
-stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war eine kleine
-vertrocknete alte Frau, etwa sechzig Jahre alt, mit stechenden und
-bösen, kleinen Augen, einer kleinen, spitzen Nase und ohne
-Kopfbedeckung. Ihr hellblondes, leicht ergrautes Haar war mit Öl
-eingefettet. Um den dünnen und langen Hals, der dem Beine eines Huhnes
-glich, war ein Flanellappen gewickelt und über die Schultern hing, trotz
-der Hitze, eine abgetragene und gelbgewordene Pelzjacke. Die Alte
-hustete und räusperte sich fortwährend. Wahrscheinlich hatte der junge
-Mann ihr einen sonderbaren Blick zugeworfen, denn plötzlich tauchte in
-ihren Augen wieder das frühere Mißtrauen auf.
-
-»Ich heiße Raskolnikoff, bin Student, war bei Ihnen vor einem Monat,«
-beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen, sich
-erinnernd, daß man hier freundlich sein müsse.
-
-»Ich erinnere mich, Väterchen, ich erinnere mich gut, daß Sie da waren,«
-sagte die Alte, ohne ihre fragenden Augen von seinem Gesichte
-abzuwenden.
-
-»Also ... ich komme wieder in einer ähnlichen Angelegenheit ...« fuhr
-Raskolnikoff fort, ein wenig verwirrt und erstaunt über das Mißtrauen
-der Alten.
-
-»Vielleicht ist sie immer so, ich habe es damals bloß nicht gemerkt,«
-dachte er mit unangenehmer Empfindung.
-
-Die Alte schwieg eine Weile, wie in Gedanken vertieft, trat dann zur
-Seite, zeigte auf die Tür zu der Stube und sagte, indem sie den Besucher
-vorbei ließ:
-
-»Treten Sie näher, Väterchen!«
-
-Das kleine Zimmer, in das der junge Mann eintrat, hatte eine gelbe
-Tapete, Geranien standen dort und die Fenster umrahmten
-Mousselingardinen. In diesem Augenblick wurde es von der untergehenden
-Sonne hell erleuchtet.
-
-»Die Sonne wird auch _dann_ ebenso leuchten! ...« durchfuhr es plötzlich
-Raskolnikoff, und mit einem schnellen Blick überflog er alles in dem
-Zimmer, um nach Möglichkeit die Lage zu studieren und sie sich zu
-merken. In dem Zimmer aber gab es nichts Besonderes. Die Möbel aus
-gelbem Holze, alle sehr alt, bestanden aus einem Sofa mit
-ungeheuerlicher, gebogener hölzerner Rückenlehne, einem runden Tisch vor
-dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem kleinen Spiegel an der Wand
-zwischen den Fenstern, aus Stühlen an den Wänden und einigen billigen
-Bildern in gelben Rahmen, die deutsche Damen mit Vögeln in den Händen
-darstellten, -- das war die ganze Ausstattung. In der Ecke brannte vor
-einem kleinen Heiligenbilde ein Lämpchen. Alles war sehr sauber, -- die
-Möbel und die Diele waren blank poliert; alles glänzte. »Das ist
-Lisawetas Arbeit,« dachte der junge Mann. Kein Stäubchen konnte man in
-der ganzen Wohnung finden. »Bei bösen und alten Witwen findet man so
-eine Sauberkeit,« dachte Raskolnikoff weiter und warf einen neugierigen
-Seitenblick auf den Vorhang aus Kattun vor der Tür zu dem zweiten
-kleinen Zimmer, in dem das Bett und die Kommode der Alten standen,
-dahinein hatte er noch nicht geschaut. Die ganze Wohnung bestand aus
-diesen zwei Zimmern.
-
-»Was wünschen Sie?« fragte die kleine Alte scharf, als sie ihm in das
-Zimmer gefolgt war, und stellte sich wieder gerade vor ihm hin, um ihm
-ins Gesicht sehen zu können.
-
-»Ich habe etwas zu verpfänden,« und er zog eine alte, flache, silberne
-Uhr aus der Tasche. Auf der Rückseite war ein Globus eingraviert. Die
-Kette war aus Stahl.
-
-»Die Frist für das früher Versetzte ist schon um. Vorgestern ist der
-Monat abgelaufen.«
-
-»Ich will Ihnen die Zinsen noch für einen Monat bezahlen; warten Sie
-noch ein wenig.«
-
-»Das ist mein guter Wille, Väterchen, zu warten oder Ihr Ding sofort zu
-verkaufen.«
-
-»Wieviel geben Sie für die Uhr, Aljona Iwanowna?«
-
-»Immer kommen Sie mit Kleinigkeiten, Väterchen, sie ist ja fast nichts
-wert. Für den Ring habe ich Ihnen voriges Mal zwei Rubel gegeben, und
-man kann ihn bei jedem Juwelier neu für anderthalb Rubel kaufen.«
-
-»Geben Sie mir für die Uhr vier Rubel, ich werde sie einlösen. Sie hat
-meinem Vater gehört. Ich erhalte bald Geld.«
-
-»Ich will Ihnen anderthalb Rubel dafür geben und die Zinsen abziehen,
-wenn Sie damit einverstanden sind.«
-
-»Anderthalb Rubel!« rief der junge Mann aus.
-
-»Wie Sie wünschen.«
-
-Und die Alte reichte ihm die Uhr. Der junge Mann nahm sie; er war so
-böse, daß er schon fortlaufen wollte, aber er besann sich, daß er sonst
-nirgends hingeben konnte, und daß er noch aus einem anderen Grunde
-gekommen war.
-
-»Geben Sie das Geld!« sagte er grob.
-
-Die Alte fuhr in die Tasche nach den Schlüsseln und ging hinter den
-Vorhang in das andere Zimmer. Als der junge Mann allein zurückblieb,
-lauschte er voll Neugier und überlegte. Man hörte, wie die Alte die
-Kommode aufschloß. »Wahrscheinlich ist es die obere Schublade,« dachte
-er. »Die Schlüssel trägt sie in der rechten Tasche ... Alle sind sie an
-einem Stahlring ... Und da ist ein Schlüssel, größer als die anderen,
-dreimal so groß, mit zackigem Barte; er ist selbstverständlich nicht von
-der Kommode ... Also, muß es noch eine Schatulle geben oder eine kleine
-Truhe ... Das ist zu beachten. Truhen haben immer solche Schlüssel ...
-Aber, wie gemein ist dies alles ...« Da kam die Alte zurück.
-
-»Hier haben Sie das Geld, Väterchen. Den Zins zu zehn Kopeken pro Rubel
-und Monat gerechnet, bekomme ich von Ihnen für anderthalb Rubel und für
-einen Monat im voraus fünfzehn Kopeken. Außerdem erhalte ich von Ihnen
-für die zwei früheren Rubel nach derselben Berechnung weitere zwanzig
-Kopeken im voraus. Zusammen also fünfunddreißig Kopeken. Sie erhalten
-für Ihre Uhr einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Da haben Sie's.«
-
-»Wie? Jetzt macht es bloß einen Rubel und fünfzehn Kopeken?«
-
-»Ganz richtig.«
-
-Der junge Mann stritt nicht weiter und nahm das Geld. Er blickte die
-Alte an und zögerte zu gehen, als wolle er noch irgend etwas sagen oder
-tun, ohne selber zu wissen, was er wolle ...
-
-»Ich werde Ihnen, Aljona Iwanowna, in diesen Tagen vielleicht noch eine
-Sache bringen ... ein silbernes ... gutes ... Zigarettenetui ... sobald
-ich es von einem Freunde zurückerhalte ...«
-
-»Nun, dann wollen wir darüber reden, Väterchen.«
-
-»Leben Sie wohl ... Sie sitzen immer allein zu Hause. Ihre Schwester ist
-nicht da?« fragte er möglichst ungezwungen, während er in das Vorzimmer
-ging.
-
-»Was geht Sie die an, Väterchen?«
-
-»Nichts Besonderes. Ich fragte bloß so. Sie denken gleich ... Leben Sie
-wohl, Aljona Iwanowna!«
-
-Raskolnikoff schritt völlig verwirrt hinaus. Und seine Verwirrung
-verstärkte sich immer mehr und mehr. Während er die Treppe hinabstieg,
-blieb er sogar einige Mal stehen, als hätte ihn plötzlich etwas
-übermannt. Schließlich, schon auf der Straße, rief er aus:
-
-»Oh, Gott! ... Wie abscheulich ist dies alles! Und werde ich es
-tatsächlich, tatsächlich ... nein, das ist ja Unsinn, ein unmöglicher
-Gedanke!« fügte er entschlossen hinzu. »Wie konnte mir bloß so etwas
-fürchterliches in den Sinn kommen! Und doch, zu welchem Schmutz ist mein
-Herz fähig! Die Hauptsache bleibt, -- es ist schmutzig, niederträchtig,
-gemein, abscheulich ... Und ich habe einen ganzen Monat ...«
-
-Er konnte weder durch Worte noch durch Ausrufe seine Erregung
-ausdrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Abscheus, das sein Herz schon
-bedrückte und verwirrte, als er zu der Alten ging, erreichte nun solch
-einen Umfang und äußerte sich in einer Stärke, daß er nicht wußte, wohin
-er vor seiner Qual sollte. Er ging auf der Straße wie ein Betrunkener,
-ohne die Vorübergehenden zu bemerken, stieß mit ihnen zusammen und kam
-erst in der nächsten Straße zu einiger Besinnung. Er schaute um sich und
-ward gewahr, daß er neben einer Schenke stand, zu der von der Straße aus
-eine Treppe in das Kellergeschoß führte. Soeben kamen zwei Betrunkene
-heraus, stützten sich gegenseitig und stiegen schimpfend die Treppe
-hinauf. Ohne lange nachzudenken, sprang Raskolnikoff eilig hinab. Er war
-noch nie in einer Schenke gewesen, jetzt aber schwindelte ihn und ein
-brennender Durst quälte ihn. Er wollte kaltes Bier trinken, um so mehr,
-als er seine plötzliche Schwäche dem Umstande zuschrieb, daß er nichts
-im Magen hatte. Er ließ sich in einer dunkeln und schmutzigen Ecke an
-einem schmierigen Tische nieder, verlangte Bier und trank gierig das
-erste Glas aus. Sofort wurde es ihm leichter, und seine Gedanken wurden
-klarer. »Das alles ist Unsinn,« sagte er voll Hoffnung. »Nichts braucht
-mich aus der Fassung zu bringen. Es ist bloß physische Zerrüttung. Ein
-Glas Bier, ein Stück Zwieback, -- und im Nu ist der Verstand da, die
-Gedanken klar und die Absichten im Lot! Pfui, wie ist dies alles
-erbärmlich! ...«
-
-Aber trotz des verächtlichen Ausspeiens sah er schon heiter aus, als
-hätte er sich plötzlich einer schrecklichen Last entledigt, und blickte
-die Anwesenden freundlich an. Aber selbst in diesem Augenblicke überkam
-ihn die leise Ahnung, daß diese Empfänglichkeit für das Bessere auch
-krankhaft sei.
-
-In der Schenke waren um diese Stunde wenige Menschen. Außer den zwei
-Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte gleich darauf
-eine ganze Gesellschaft, etwa fünf Männer und ein Mädchen, mit einer
-Ziehharmonika die Schenke verlassen. Darauf war es still und freier
-geworden. Es waren übrig geblieben: ein Angetrunkener, der aber nicht zu
-stark berauscht war; er saß hinter einer Flasche Bier, dem Aussehen nach
-ein Kleinbürger; sein Kamerad, ein dicker übergroßer Mann, in einem
-dicken Mantel, mit grauem Bart, stark berauscht, duselte auf einer Bank;
-ab und zu begann er plötzlich, wie im Schlafe, mit den Fingern zu
-schnippen, wobei er die Arme ausbreitete, hin und wieder hüpfte er mit
-dem Oberkörper, ohne sich von der Bank zu erheben, sang dazu irgendeinen
-Unsinn und versuchte sich auf Verse wie folgende zu besinnen:
-
- »Ein ganzes Jahr hab' ich mein Weib geliebt, gehätschelt,
- Ein gan--zes Jahr hab' ich mein Weib ge--liebt, ge--hät--schelt ...«
-
-Oder er erwachte plötzlich und sang:
-
- »Längs der Podjatscheskoi bin ich gegangen,
- Hab' mein früheres Weib gefunden ...«
-
-Aber niemand nahm Anteil an seinem Glück; sein schweigender Kamerad sah
-diese Ausbrüche sogar feindselig und mißtrauisch an. Es war noch ein
-Mann da, dem Aussehen nach ein verabschiedeter Beamter. Er saß allein
-vor seiner Flasche, trank hin und wieder einen Schluck und blickte um
-sich. Auch er schien in einer gewissen Aufregung zu sein.
-
-
- II.
-
-Raskolnikoff war an Menschenmengen nicht gewöhnt und wie gesagt, mied er
-besondere in der letzten Zeit jegliche Gesellschaft. Jetzt aber zog ihn
-plötzlich etwas zu den Menschen hin. Es ging in ihm etwas vor,
-anscheinend etwas Neues, und gleichzeitig machte sich ein starker Drang
-nach Menschen bemerkbar. Er war so müde von dieser einen Monat schon
-währenden bohrenden Qual und düsteren Aufregung, daß er wenigstens für
-einen Augenblick in einer anderen Welt, ganz gleichgültig in welcher, --
-aufatmen wollte, und so blieb er jetzt trotz des Schmutzes dieser
-Umgebung mit Vergnügen in der Schenke ...
-
-Der Besitzer des Lokals hielt sich in einem anderen Zimmer auf, kam aber
-öfters in das Schenkzimmer; er mußte dabei ein paar Stufen hinabsteigen,
-und es zeigten sich zuerst seine eleganten Schmierstiefel mit breitem
-roten Rande an den Schäften. Er stak in einem faltigen Mantel und in
-einer fürchterlich verschmierten schwarzen Atlasweste, war ohne Halstuch
-und sein ganzes Gesicht schien, gleich einem eisernen Schlosse, mit Öl
-eingefettet zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein Junge von vierzehn
-Jahren; es war noch ein anderer, ein jüngerer, da, der die Gäste
-bediente, wenn etwas verlangt wurde. Auf dem Tische lagen Gurken, in
-Scheiben geschnitten, schwarze Zwiebacke und in kleine Stücke zerteilter
-Fisch; dies alles roch sehr schlecht. In dem Raume war es so dumpf, daß
-es unerträglich war, darinnen zu sitzen und alles war von
-Branntweingeruch so durchdrungen, daß man von dieser Luft allein in fünf
-Minuten berauscht werden konnte. -- Es kommt vor, daß wir sogar völlig
-unbekannten Menschen begegnen, für die wir uns vom ersten Augenblick an,
-ehe wir noch ein Wort mit ihnen getauscht haben, zu interessieren
-beginnen. Einen ähnlichen Eindruck hatte auf Raskolnikoff der Gast
-gemacht, der einem verabschiedeten Beamten glich und abseits an einem
-Tische saß. Raskolnikoff erinnerte sich später mehrmals dieses ersten
-Eindruckes und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er blickte
-ununterbrochen den »Beamten« an, sicher auch darum, weil der ebenso
-hartnäckig zu ihm herüberschaute; man merkte, daß er sehr gern ein
-Gespräch angeknüpft hätte. Die übrigen Gäste, den Besitzer nicht
-ausgenommen, übersah der »Beamte« gewohnheitsmäßig und voll Langeweile,
-und zugleich mit einem Ausdrucke von hochmütiger Geringschätzung, wie
-Menschen von niedriger Stellung und Bildung, mit denen er nichts gemein
-habe. Es war ein Mann, über fünfzig Jahre, von mittlerem Wuchse und
-kräftigem Bau, mit ergrautem Haar und einer großen Glatze, mit einer vom
-Trinken gedunsenen, gelben oder vielmehr grünlichen Gesicht und
-geschwollenen Augenlidern, unter denen winzige aber lebhafte, gerötete
-Augen hervorstachen. Etwas Sonderbares war jedoch an ihm; in seinen
-Augen leuchtete eine gewisse Begeisterung, vielleicht lag auch Verstand
-und Klugheit in ihnen, -- aber gleichzeitig schimmerte es drinnen wie
-Irrsinn. Er war mit einem alten völlig heruntergerissenen schwarzen
-Frack mit losen Knöpfen bekleidet. Ein einziger Knopf saß noch
-einigermaßen fest, und mit ihm knöpfte er ihn zu, da er offenbar die
-gesellschaftlichen Formen nicht vernachlässigen wollte. Unter der
-Nankingweste zeigte sich ein ganz zerknülltes, beschmutztes und
-vertropftes Vorhemd. Das Gesicht war nach Beamtenart rasiert, aber vor
-längerer Zeit schon, so daß bläuliche Stoppeln hervorstanden. Selbst in
-seinen Bewegungen lag etwas Solides, Beamtenartiges. Aber er war in
-ständiger Unruhe, fuhr sich durch die Haare, stemmte die zerrissenen
-Ellenbogen zuweilen auf den begossenen und klebrigen Tisch und stützte,
-wie in schwerem Gram, mit beiden Händen den Kopf. Zuletzt faßte er
-Raskolnikoff fest ins Auge und sagte laut und energisch:
-
-»Darf ich es wagen, mein verehrter Herr, mich mit einem anständigen
-Gespräch an Sie zu wenden? Denn obgleich Ihr Äußeres nicht viel vermuten
-läßt, unterscheidet meine Erfahrung in Ihnen doch einen gebildeten und
-ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe stets Bildung geachtet,
-die mit Herz und Gefühl verbunden ist, und außerdem bin ich im Range
-eines Titularrates. Marmeladoff -- so ist mein Name, Titularrat. Darf
-ich erfahren, ob Sie im Staatsdienste gewesen sind?«
-
-»Nein, ich studiere ...« antwortete der junge Mann, erstaunt über den
-sonderbaren, verschnörkelten Ton der Anrede und auch darüber, daß man
-sich so direkt an ihn wandte. Trotz des Wunsches vor kurzem noch, in
-irgendeine Fühlung mit Menschen zu kommen, empfand er plötzlich bei dem
-ersten tatsächlich an ihn gerichteten Worte, seine gewöhnliche,
-peinliche und gereizte Abscheu vor jedem fremden Menschen, der sich ihm
-zu nähern versuchte.
-
-»Sie sind ein Student oder gewesener Student!« fuhr der Beamte fort.
-»Ich dachte es mir gleich. Das macht die Erfahrung, mein Herr, die lange
-Erfahrung!« und selbstgefällig berührte er die Stirn mit dem Finger. --
-»Sie waren Student, haben gelehrten Studien obgelegen! Gestatten Sie
-aber ...«
-
-Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Gläschen und
-setzte sich dem jungen Manne schräg gegenüber. Er war berauscht, sprach
-aber rasch und geläufig, hin und wieder blieb er ein wenig stecken und
-zog die Sätze in die Länge. Mit einer gewissen Gier hatte er sich auf
-Raskolnikoff gestürzt, als hätte auch er einen ganzen Monat mit niemand
-gesprochen.
-
-»Verehrter Herr!« begann er fast feierlich, »Armut ist kein Laster, das
-ist wahr. Ich weiß, daß der Trunk auch keine Tugend ist, und das ist
-noch wahrer. Aber Bettelarmut, mein Herr, bettelarm zu sein ist ein
-Laster, ja. In der Armut bewahrt man noch die Anständigkeit der
-angeborenen Gefühle, wenn man aber bettelarm ist -- nie und nimmer. Wenn
-man bettelarm ist, so wird man nicht mal mit einem Stocke herausgejagt,
-sondern mit einem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt,
-damit es beleidigender sein soll; und das ist gerecht, denn wenn ich
-bettelarm bin, so bin ich selbst, als erster, bereit, mich zu
-beleidigen. Daher auch das Trinken! Mein Herr, vor einem Monat hat Herr
-Lebesjätnikoff meine Gattin verprügelt, und meine Gattin ist etwas
-Besseres als ich! Verstehen Sie? Gestatten Sie mir eine Frage, so, aus
-reiner Neugier, -- haben Sie schon auf der Newa, in den Heubarken
-geschlafen?«
-
-»Nein, das habe ich noch nicht,« antwortete Raskolnikoff. »Was ist das?«
-
-»Nun, ich komme von dort, schlafe schon die fünfte Nacht in den Barken
-...«
-
-Er goß sich ein Glas ein, trank es leer und versank in Gedanken. Man sah
-tatsächlich an seinen Kleidern und in den Haaren hie und da Heuhalme. Es
-war leicht möglich, daß er sich fünf Tage weder ausgekleidet noch
-gewaschen hatte. Am schmutzigsten waren seine fetten, roten Hände mit
-schwarzen Fingernägeln.
-
-Sein Gespräch schien allgemeine, wenn auch etwas flaue Aufmerksamkeit
-erregt zu haben. Die Knaben hinter dem Schenktische begannen zu kichern.
-Der Wirt war, wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um den
-»Kauz« zu hören; er setzte sich abseits und gähnte faul, aber würdevoll.
-Marmeladoff war offenbar hier längst bekannt. Auch die Neigung für
-gesuchte Ausdrücke hatte er wahrscheinlich durch die Gewohnheit,
-Wirtschaftsunterhaltungen mit allerhand Unbekannten anzuknüpfen,
-ausgebildet. Diese Gewohnheit wird bei manchen Trinkern zum Bedürfnis
-und besonders bei denen, die zu Hause streng behandelt werden. Darum
-versuchen sie in Gesellschaft von Trinkern sich stets eine
-Rechtfertigung und wenn möglich sogar Achtung der anderen zu
-verschaffen.
-
-»Komischer Kauz!« sagte laut der Wirt. »Warum arbeitest du nicht, warum
-bist du nicht im Dienst, wenn du Beamter bist?«
-
-»Warum ich nicht im Dienste bin, mein Herr?« sagte Marmeladoff, sich
-ausschließlich an Raskolnikoff wendend, als hätte der ihm die Frage
-vorgelegt. -- »Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn das Herz
-nicht weh, daß ich unnütz herumlungere? Als Herr Lebesjätnikoff vor
-einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte und ich berauscht
-dalag, habe ich da nicht gelitten? Erlauben Sie, junger Mann, ist es
-Ihnen passiert, ... hm ... nun, daß Sie aussichtslos jemanden baten,
-Ihnen Geld zu leihen?«
-
-»Das ist mir passiert ... das heißt, wie meinen Sie -- aussichtslos?«
-
-»Das heißt völlig aussichtslos, wenn man schon im voraus weiß, daß
-nichts daraus wird. Sagen wir, Sie wissen zum Beispiel vorher und
-zweifellos, daß dieser Mann, dieser wohlgesinnte und äußerst nützliche
-Bürger Ihnen um keinen Preis Geld geben wird, denn -- ich frage Sie --
-warum soll er es tun? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde.
-Etwa aus Mitleid? Herr Lebesjätnikoff aber, der neue Gedanken und Ideen
-mit Interesse verfolgt, hat vor kurzem erklärt, daß in unserer Zeit
-Mitleid sogar von der Wissenschaft verboten sei, und daß man in England,
-woher die politische Ökonomie kommt, schon danach handle. Warum also --
-frage ich Sie -- sollte er geben? Und sehen Sie, obwohl Sie im voraus
-wissen, daß er nicht geben wird, machen Sie sich doch auf den Weg und
-...«
-
-»Warum geht man denn hin?« sagte Raskolnikoff.
-
-»Wenn es aber niemanden mehr gibt, wenn man nirgendwo anders hingehen
-kann! Es müßte doch so sein, daß jeder Mensch irgendwo hingehen könnte.
-Denn es kommen Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß! Als meine
-einzige Tochter zum erstenmal mit dem gelben Schein[6] ging, ging ich
-auch ... (meine Tochter lebt nämlich auf den gelben Schein) ...« fügte
-er hinzu und blickte mit einiger Unruhe den jungen Mann an. »Hat nichts
-zu sagen, mein Herr, hat nichts zu sagen!« beeilte er sich, sofort und
-scheinbar ruhig zu erklären, als die beiden Knaben hinter dem
-Schenktische in Lachen ausbrachen und auch der Wirt lächelte. »Hat
-nichts zu sagen! Durch dieses Tuscheln laß ich mich nicht stören, denn
-es ist längst bekannt, und alles Verborgene wird offenbar, und nicht mit
-Verachtung, sondern mit Demut ertrage ich es. Mögen sie! Mögen sie!
->_Ecce homo!_< Erlauben Sie, junger Mann, können Sie vielleicht ... Aber
-nein, man muß sich stärken und deutlicher ausdrücken: nicht _können_
-Sie, sondern _wagen Sie_, indem Sie mich dabei ansehen, zu behaupten,
-daß ich kein Schwein bin?«
-
-Der junge Mann antwortete nicht.
-
-»Nun,« fuhr der Redner gesetzter und sogar noch würdevoller fort,
-nachdem er gewartet hatte, bis das Kichern in dem Zimmer aufhörte, »nun
-gut, ich mag ein Schwein sein, sie aber ist eine Dame. Ich sehe aus wie
-ein Vieh, Katerina Iwanowna, meine Gattin, aber ist eine gebildete
-Person und die Tochter eines Stabsoffiziers. Mag ich, mag ich ein Schuft
-sein, sie aber ist hochherzig und ist durch Erziehung voll edler
-Gefühle. Indessen aber ... oh, wenn sie mit mir Mitleid hätte! Mein
-Herr, verehrter Herr, es müßte doch so sein, daß jeder Mensch wenigstens
-eine Stelle habe, wo er Mitleid fände! Katerina Iwanowna ist wohl eine
-großmütige Dame, aber ungerecht ... Und obwohl ich verstehe, daß sie
-mich an den Haaren zerrt, aus keinem anderen Grunde als aus Mitleid des
-Herzens -- denn ich wiederhole es, ohne mich zu schämen, sie zerrt mich
-an den Haaren, junger Mann,« bestätigte er mit verstärkter Würde, als er
-wieder Kichern vernahm. »Aber mein Gott, was würde geschehen, wenn sie
-wenigstens ein einziges Mal ... Aber nein! Nein! Das alles ist umsonst,
-und es lohnt sich nicht, davon zu sprechen! Lohnt sich nicht zu
-sprechen! ... Denn mehr als einmal war das Gewünschte dagewesen, und
-mehr als einmal hatte man mit mir Mitleid gehabt, aber ... meine Natur
-ist schon so, ich bin ein geborenes Vieh!«
-
-»Und ob!« bemerkte der Wirt gähnend.
-
-Marmeladoff schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch.
-
-»So ist meine Natur! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, ich habe sogar
-ihre Strümpfe vertrunken! Nicht die Stiefel, denn das würde noch in der
-Ordnung der Dinge liegen, sondern die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich
-vertrunken! Ihr Tuch aus Ziegenwolle habe ich vertrunken, man hat es ihr
-einst geschenkt, es gehörte ihr, nicht mir; wir leben in einem kalten
-Zimmer und sie hat sich in diesem Winter erkältet und begann zu husten,
-sogar Blut kam. Wir haben noch drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna
-ist vom frühen Morgen bis in die Nacht bei der Arbeit; sie scheuert und
-wäscht, auch die Kinder wäscht sie, denn sie ist von Kindheit auf an
-Reinlichkeit gewöhnt, aber sie hat eine schwache Brust und neigt zur
-Schwindsucht, und ich fühle es! Fühle ich es denn nicht? Und je mehr ich
-trinke, um so stärker fühle ich. Darum trinke ich auch, weil ich in
-diesem Tranke Mitleid und Gefühl suche ... Ich trinke, weil ich doppelt
-leiden will!«
-
-Und er neigte wie in Verzweiflung seinen Kopf auf den Tisch.
-
-»Junger Mann,« fuhr er fort und hob wieder den Kopf, »in Ihrem Gesichte
-lese ich etwas wie Kummer. Als Sie hereintraten, habe ich es gesehen,
-und darum habe ich mich auch sofort an Sie gewandt. Denn, indem ich
-Ihnen die Geschichte meines Lebens erzählte, will ich mich nicht an den
-Schandpfahl vor diesen Tagdieben stellen, die übrigens alles wissen,
-sondern ich suche einen fühlenden und gebildeten Menschen. Sie sollen
-wissen, -- meine Gattin ist in einem adligen Gouvernementspensionat
-erzogen und hat bei der Schlußprüfung vor dem Gouverneur und anderen
-Persönlichkeiten mit dem Schal getanzt, wofür sie eine goldene Medaille
-und ein Ehrenzeugnis erhielt. Die Medaille ... nun die Medaille haben
-wir verkauft ... schon lange ... hm ... das Ehrenzeugnis liegt noch in
-ihrem Kasten, und sie hat es vor kurzem unserer Wirtin gezeigt. Obwohl
-sie mit der Wirtin ständig, ununterbrochen Streitigkeiten hat, wollte
-sie doch vor jemand sich rühmen und von vergangenen glücklichen Tagen
-erzählen. Und ich verurteile sie nicht, ich verurteile nicht, denn das
-allein ist nur in ihrer Erinnerung geblieben, alles übrige ist zu Staub
-geworden. Ja, ja, sie ist eine hitzige, stolze und unbeugsame Dame. Sie
-wäscht selbst den Fußboden, ißt Schwarzbrot, aber Mißachtung duldet sie
-nicht. Darum wollte sie auch nicht die Grobheit des Herrn Lebesjätnikoff
-dulden, und als Herr Lebesjätnikoff sie verprügelte, da legte sie sich
-zu Bett -- weniger der Schläge, als des Schimpfes wegen. Ich habe sie
-als Witwe geheiratet, mit drei ganz kleinen Kindern. Ihren ersten Mann,
-einen Infanterieoffizier, heiratete sie aus Liebe und war aus dem
-Elternhause mit ihm geflohen. Sie liebte ihren Mann grenzenlos, er fing
-aber an Karten zu spielen, kam vors Gericht und starb. Er hat sie oft
-geschlagen in den letzten Jahren, und obwohl sie sich nichts von ihm
-gefallen ließ, wie ich es bestimmt und aus Schriftstücken weiß, --
-erinnert sie sich doch seiner heute noch mit Tränen und hält ihn mir als
-Muster vor, und ich freue mich, ich freue mich, weil sie sich wenigstens
-in der Phantasie als einstmals glücklich fühlt ... Nach seinem Tode
-blieb sie mit drei kleinen Kindern in einem abgelegenen und
-weltvergessenen Kreise, wo ich mich auch damals befand, und in solch
-hoffnungsloser Armut, daß ich sie nicht beschreiben kann, obwohl ich
-vieles und allerhand gesehen habe. Ihre Verwandten hatten sich alle von
-ihr losgesagt. Ja und sie war so stolz, zu stolz ... Und da bot ich,
-mein Herr, auch ein Witwer mit einer vierzehnjährigen Tochter von meiner
-ersten Frau, ihr meine Hand an, denn ich konnte solch eine Qual nicht
-mit ansehen. Sie können danach beurteilen, wie stark ihre Not war, daß
-sie, gebildet, gut erzogen und aus angesehener Familie, bereit war, mich
-zu heiraten. Sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend
--- heiratete sie mich doch! Denn sie konnte ja nirgendwo hin. Verstehen
-Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man nirgendwo mehr hin
-kann? Nein! Das können Sie noch nicht verstehen ... Ein ganzes Jahr
-erfüllte ich meine Pflicht treu und redlich und rührte das da nicht an
-(er wies auf die Branntweinflasche), denn ich habe Gefühl. Aber auch
-damit konnte ich sie nicht zufrieden stellen; ich verlor meine Stelle
-und nicht eines Vergehens, sondern einer Änderung im Etat wegen, und nun
-wandte ich mich dem zu! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir
-nach langen Irrfahrten und vielfach großer Not endlich in dieser
-prächtigen und mit unzähligen Denkmälern geschmückten Residenz
-eintrafen. Ich fand hier eine Stelle ... Ich fand und verlor sie wieder.
-Verstehn Sie? Diesmal verlor ich die Stelle aus eigener Schuld, denn
-meine Neigung brach durch ... Jetzt wohnen wir in einem Winkel bei der
-Wirtin Amalie Fedorowna Lippewechsel, wovon wir aber leben und womit wir
-bezahlen -- das weiß ich nicht. Außer uns leben noch viele dort ... Ein
-entsetzliches Drunter und Drüber ... hm ... ja ... Indessen wurde mein
-Töchterchen aus der ersten Ehe erwachsen, und was sie, mein Töchterchen,
-von ihrer Stiefmutter zu erdulden hatte, als sie heranwuchs, darüber
-schweige ich. Obwohl Katerina Iwanowna von großmütigen Gefühlen
-durchdrungen ist, so ist sie doch eine hitzige und gereizte Dame und
-schneidet einem schnell das Wort ab ... Ja! Nun, es lohnt sich nicht,
-dessen zu gedenken! Eine Erziehung hat Ssonja, wie Sie sich denken
-können, nicht erhalten. Ich habe versucht, etwa vor vier Jahren,
-Geographie und Weltgeschichte mit ihr durchzunehmen, aber da ich selbst
-nicht ganz sattelfest war und keine anständigen Bücher besaß, denn die
-Bücher, die wir hatten ... hm ... na, diese Bücher sind nicht mehr da
-... So endigte auch damit der ganze Unterricht. Wir blieben bei Cyrus
-von Persien stehen. Später, als sie reifer und älter wurde, las sie
-einige Bücher romanhaften Inhalts, ja und vor kurzem erhielt sie von
-Herrn Lebesjätnikoff ein Buch -- Physiologie von Lewis -- kennen Sie es?
-Sie las es mit großem Interesse und teilte uns auch einige Abschnitte
-daraus mit, -- das ist ihr ganzes Wissen. Jetzt wende ich mich an Sie,
-mein Herr, mit einer persönlichen Frage, so von mir aus, -- wieviel
-kann, nach Ihrer Meinung, ein armes, ehrliches, junges Mädchen durch
-ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie wird kaum fünfzehn Kopeken pro Tag
-verdienen, mein Herr, wenn sie ehrlich ist und keine besonderen Talente
-hat, und da muß sie, ohne einen Augenblick zu ruhen, ununterbrochen
-arbeiten! Und dabei hat der Staatsrat Iwan Iwanowitsch Klopstock, --
-haben Sie von ihm gehört? -- bis heute nicht bloß das Geld für Nähen
-eines halben Dutzend Hemden aus holländischem Leinen nicht bezahlt,
-sondern hat sie sogar unter Kränkungen hinausgejagt, hat mit den Füßen
-getrampelt und sie in unanständiger Weise beschimpft, unter dem
-Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und dazu schief genäht sei.
-Und die Kinder sitzen hungrig zu Hause ... Katerina Iwanowna geht
-händeringend im Zimmer herum und auf ihren Wangen zeigen sich rote
-Flecke, -- was bei dieser Krankheit stets vorkommt. Du lebst bei uns,
-Müßiggängerin, sagte sie, -- ißt, trinkst und genießt die Wärme, -- was
-gibt es aber denn zu essen und zu trinken, wenn die Kinder nicht mal
-eine Brotrinde drei Tage lang zu sehen bekommen! Ich lag damals
-berauscht da ... nun, was ist da viel zu sagen, ich lag berauscht da und
-hörte, wie meine Ssonja sagt -- sie ist so still und ihr Stimmchen so
-sanft ... hellblond ist sie, das Gesichtchen ist immer bleich und mager
--- also, sie sagt: >Wie, Katerina Iwanowna, soll ich denn auf so was
-eingehen?< Darja Franzowna, ein böses und der Polizei gut bekanntes
-Weib, hatte sich schon dreimal durch unsere Wirtin erkundigt. >Was
-sonst,< antwortet Katerina Iwanowna spöttisch. >Wozu es hüten? So ein
-Kleinod!< Klagen Sie sie aber nicht an, mein Herr, klagen Sie nicht an,
-verurteilen Sie nicht! Es war gesagt nicht bei gesundem Verstande,
-sondern in erregter Stimmung, in Krankheit und beim Anblick der
-weinenden Kinder, die nichts gegessen hatten, und es war eher um zu
-kränken, als im genauen Sinne des Wortes gesagt ... Denn Katerina
-Iwanowna hat nun einmal so einen Charakter, und wenn die Kinder anfangen
-zu weinen, und sei es aus Hunger, schlägt sie sie sofort. Und da sah ich
--- es war gegen sechs Uhr -- wie Ssonjetschka aufstand, das Tüchlein
-umnahm, ihr Pelzchen anzog und die Wohnung verließ, in der neunten
-Stunde aber kam sie zurück. Sie kam, ging direkt zu Katerina Iwanowna
-und legte schweigend auf den Tisch dreißig Rubel hin. Kein einziges
-Wörtchen hat sie gesagt, nicht mal hingeblickt; sie nahm unser großes
-grünes Umlegetuch -- wir besitzen so ein gemeinsames Umlegetuch --
-bedeckte damit den Kopf und das Gesicht ganz und gar und legte sich auf
-das Bett mit dem Gesichte zur Wand; bloß die schmalen Schultern und der
-ganze Körper bebten ... Ich aber lag, wie vorher, in demselben Zustande
-... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, ohne
-ein Wort zu sagen, an das Bettchen von Ssonjetschka herantrat und den
-ganzen Abend auf den Knien zu ihren Füßen lag, ihr die Füße küßte, nicht
-aufstehen wollte, und wie sie beide schließlich umschlungen einschliefen
-... beide ... beide zusammen ... ja ... und ich lag berauscht da.«
-
-Marmeladoff schwieg, als versage ihm die Stimme. Dann schenkte er sich
-plötzlich ein, trank schnell aus und krächzte.
-
-»Seit der Zeit, mein Herr,« -- fuhr er nach kurzem Schweigen fort, --
-»seit der Zeit ist meine Tochter Ssofja Ssemenowna gezwungen worden --
-dank einem ungünstigen Zufalle und dank der Denunziation
-schlechtgesinnter Menschen, wobei Darja Franzowna sich besonders
-hervorgetan hat, weil man ihr angeblich die ihr gebührende Achtung
-versagt habe, -- den gelben Schein zu nehmen und hat infolgedessen bei
-uns nicht länger bleiben können. Denn unsere Wirtin, Amalie Fedorowna
-wollte es nicht zulassen, -- vorher aber hat sie Darja Franzowna, dazu
-verholfen -- und auch Herr Lebesjätnikoff ... hm ... Ja, sehen Sie, die
-Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna passierte ja wegen Ssonja.
-Zuerst stellte er Ssonjetschka selbst nach, mit einem Mal aber wurde er
-empfindlich. >Wie kann ich, als ein gebildeter Mann -- sagte er -- mit
-so einer in derselben Wohnung leben?< Katerina Iwanowna nahm es nicht
-stillschweigend hin, trat für Ssonja ein ... nun, und da passierte es
-... Ssonjetschka besucht uns nun meist in der Dämmerung, hilft Katerina
-Iwanowna und gibt nach Möglichkeit Geld ... Wohnen aber tut sie bei dem
-Schneider Kapernaumoff; sie hat bei ihm eine Stube gemietet.
-Kapernaumoff ist lahm und stottert, und seine sehr zahlreiche Familie
-stottert auch. Auch seine Frau stottert ... Sie leben alle in einem
-Zimmer. Ssonja aber hat ihr eigenes mit einer Scherwand ... Hm ... ja
-... Es sind furchtbar arme Leute und dazu stottern sie noch ... ja ...
-Ich stand also am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob die Hände gen
-Himmel und ging zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie
-Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? ... Nun, dann
-kennen Sie nicht einen Gottesmenschen! Er ist wie Wachs ... Wachs vor
-dem Angesichte Gottes; er schmilzt wie Wachs ... Er vergoß sogar Tränen,
-nachdem er geruht hat alles anzuhören. >Nun, -- sagte er -- einmal hast
-du meine Erwartung getäuscht, Marmeladoff ... Ich gebe dir noch einmal
-eine Stelle, -- auf meine persönliche Verantwortung hin,< -- so sprach
-er -- >denk daran -- sagte er -- und geh jetzt!< Ich küßte den Staub zu
-seinen Füßen -- in Gedanken nur, denn in Wirklichkeit hätte er es nicht
-gestattet, als Würdenträger und als ein Mann der neuen Staatsideen und
-Bildung. Ich kehrte nach Hause zurück, und als ich mitteilte, daß ich in
-den Staatsdienst aufgenommen wäre und Gehalt erhalten würde, --
-Herrgott, was geschah da ...«
-
-Marmeladoff hielt von neuem in großer Erregung inne. In diesem
-Augenblick drang von der Straße eine Schar von Trunkenbolden herein, die
-schon bezecht waren, und am Eingange ertönten die Klänge eines
-Leierkastens und die gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das
-ein Gassenlied sang. Es wurde lärmend. Der Wirt und die Knaben bedienten
-die Neuangekommenen. Marmeladoff setzte seine Erzählung fort, ohne die
-Eingetretenen zu beachten. Er schien sehr schwach geworden zu sein, aber
-je stärker der Branntwein auf ihn wirkte, um so redseliger wurde er. Die
-Erinnerung an den kürzlichen Erfolg und die Aufnahme in den Dienst
-schien ihn zu beleben und spiegelte sich sogar auf seinem Gesichte
-gleich einem frohen Schimmer wieder. Raskolnikoff hörte ihm aufmerksam
-zu.
-
-»Das geschah, mein Herr, vor fünf Wochen. Ja ... Kaum hatten sie beide,
-Katerina Iwanowna und Ssonjetschka es erfahren, da schien ich -- oh
-Gott! -- ins Himmelreich geraten zu sein. Früher lag ich da wie ein Vieh
-und hörte bloß Schimpfen! Nun aber gingen sie auf den Fußspitzen, die
-Kinder wurden angehalten ruhig zu sein. >Ssemjon Sacharytsch ist müde
-vom Dienste, ruht sich aus ... pst!< Ehe ich in den Dienst mußte, bekam
-ich Kaffee; Sahne wurde gekocht. Sie verschafften wirkliche Sahne, hören
-Sie! Und woher sie elf Rubel und fünfzig Kopeken zu einer anständigen
-Equipierung zusammengekratzt haben, begreife ich bis jetzt noch nicht.
-Stiefel, ein prachtvolles Kalikohemd, einen Uniformrock -- alles haben
-sie in ausgezeichnetem Zustande für elf Rubel und fünfzig Kopeken
-aufgebracht. Den ersten Tag kam ich früh aus dem Dienste und was sehe
-ich, -- Katerina Iwanowna wartet mit zwei Speisen auf -- Suppe und
-Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir vorher nicht mal einen Begriff
-hatten. Sie hat eigentlich keine Kleider ... wirklich gar keine, aber
-nun war sie angezogen, als wollte sie einen Besuch machen; sie hatte
-sich geschmückt, und im Grunde genommen war nichts Besonderes da, aber
-sie hatte es verstanden, aus nichts alles zu schaffen, -- hatte ihr Haar
-geordnet, einen reinen Kragen, Manschetten angelegt und hatte aus sich
-einen ganz anderen Menschen gemacht, sah jünger und hübscher aus.
-Ssonjetschka, mein Täubchen, hatte nur mit Geld geholfen, denn es gehe
-jetzt nicht an, sagte sie, daß sie uns oft besuchte, höchstens in der
-Dämmerung, damit niemand es sehe. Hören Sie, hören Sie? Nach dem Essen
-legte ich mich ein wenig hin -- wie meinen Sie, was geschah da, --
-Katerina Iwanowna konnte es doch nicht über sich bringen, und lud unsere
-Wirtin, Amalie Fedorowna, trotzdem sie sich vor einer Woche mit ihr
-gehörig gezankt hatte, nun zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden saßen
-sie und flüsterten fortwährend. >Ssemjon Sacharytsch -- erzählte
-Katerina Iwanowna -- ist jetzt im Staatsdienste und erhält Gehalt; er
-erschien bei Seiner Exzellenz, und Seine Exzellenz kam selbst heraus,
-ließ alle anderen warten, nahm Ssemjon Sacharytsch an der Hand und
-führte ihn in sein Zimmer!< -- Hören Sie, hören Sie! -- >Ich erinnere
-mich selbstverständlich Ihrer Verdienste, Ssemjon Sacharytsch -- sagte
-er -- und obwohl Sie diese leichtsinnige Schwäche haben, -- da Sie es
-mir aber versprechen und es bei uns außerdem ohne Sie nicht gut gegangen
-ist< -- (Hören Sie, hören Sie!) -- >So verlasse ich mich jetzt auf Ihr
-Ehrenwort< -- sagte er -- das heißt, ich muß Ihnen sagen, sie hatte sich
-das alles ausgedacht, nicht aus Geschwätzigkeit und auch nicht um damit
-zu prahlen. Nein, sie glaubt selbst daran, ergötzt sich an ihrer eigenen
-Phantasie, bei Gott! Und ich verurteile es nicht, nein, ich verurteile
-es nicht, nein, ich verurteile es nicht! ... Als ich nun, vor sechs
-Tagen, mein erstes Gehalt -- dreiundzwanzig Rubel vierzig Kopeken ihr
-vollzählig abgab, nannte sie mich ihr Püppchen. >So ein Püppchen bist
-du!< -- sagte sie. Und unter vier Augen hat sie es gesagt, verstehen
-Sie? Nun, bin ich denn etwa schön, und was bin ich für ein Gatte? Sie
-hat mich in die Wange gekniffen und >so ein Püppchen< gesagt.«
-
-Marmeladoff hielt inne, wollte lächeln, plötzlich aber zitterte sein
-Kinn. Er beherrschte sich. Diese Schenke, das verkommene Aussehen, die
-fünf Nächte auf den Heubarken, die Branntweinflasche und dazu nun diese
-krankhafte Liebe zu Frau und Familie verwirrten den Erzähler.
-Raskolnikoff hörte ihm gespannt zu, jedoch mit einem peinvollen
-Empfinden. Er ärgerte sich, daß er hierher gekommen war.
-
-»Mein Herr, verehrter Herr!« -- rief Marmeladoff aus, nachdem er sich
-völlig beherrscht hatte -- »Oh, mein Herr, vielleicht erscheint Ihnen
-das alles lächerlich, wie den anderen, und ich belästige Sie bloß mit
-dem Kram und all diesen kleinlichen Einzelheiten meines häuslichen
-Lebens, -- nun, für mich aber ist es nicht lächerlich! Denn ich kann
-dies alles fühlen ... Und diesen himmlischen Tag meines Lebens, wie auch
-den Abend verbrachte ich in flüchtigen Träumereien, -- wie ich alles
-einrichten, den Kindern Kleidung verschaffen, ihr die Ruhe geben und
-meine einzige Tochter aus der Schande in den Schoß der Familie
-zurückbringen werde ... Und viel mehr, viel anderes noch ... Es war ja
-verzeihlich, mein Herr. Nun, mein Herr -- (Marmeladoff fuhr plötzlich
-auf, erhob den Kopf und blickte seinem Zuhörer ins Gesicht) -- nun, am
-andern Tage nach all diesen Träumen, heute sind es genau fünf Tage her,
--- entwandt ich gegen Abend durch einen listigen Betrug, wie ein Dieb in
-der Nacht, Katerina Iwanowna den Schlüssel zu ihrem Kasten, nahm den
-Rest von dem heimgebrachten Gehalt, -- wieviel es war, weiß ich nicht
-mehr, -- und nun sehen Sie mich an, seht Ihr alle mich an. Den fünften
-Tag bin ich von Hause weg, man sucht mich, und der Dienst ist aus, der
-Uniformrock liegt in einer Schenke bei der Ägyptischen Brücke und an
-seiner Stelle habe ich diese Kleidung erhalten ... und alles ist nun
-aus!«
-
-Marmeladoff schlug sich mit der Faust an die Stirn, preßte die Zähne
-zusammen, schloß die Augen und stützte sich schwer mit den Ellbogen auf
-den Tisch. Nach einem Moment aber veränderte sich plötzlich sein
-Gesicht, er blickte mit geheuchelter Verschmitztheit und gespielter
-Frechheit Raskolnikoff an, lachte und sagte: »Und heute war ich bei
-Ssonja, habe sie gebeten mir Geld für einen Schnaps zu geben!
-He--he--he!« ... »Hat sie dir wirklich gegeben?« -- rief jemand von den
-Neuangekommenen, rief es und lachte aus vollem Halse.
-
-»Diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft,« -- sagte Marmeladoff,
-sich ausschließlich an Raskolnikoff wendend. -- »Dreißig Kopeken gab sie
-mir, mit ihren eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, ...
-ich habe es selbst gesehen ... Sie hat nichts, nichts gesagt, hat mich
-bloß schweigend angesehen ... So grämt und weint man nicht auf Erden
-über Menschen ... sondern dort oben ... und keinen Vorwurf, keinen
-einzigen Vorwurf ... Und es tut einem mehr weh, wenn man keinen Vorwurf
-hört! ... Dreißig Kopeken, ja. Und sie braucht sie selbst jetzt, ah? Wie
-meinen Sie, mein lieber Herr! Sie muß ja doch jetzt auf Sauberkeit
-achten. Diese Sauberkeit, diese besondere Sauberkeit kostet Geld,
-verstehen Sie? Verstehen Sie es? Nun, und dann muß sie hin und wieder
-Pomade oder so was kaufen, es geht ja nicht ohne dem; steife Unterröcke
-muß sie haben. Stiefel, hübsche Stiefel müssen da sein, um das Füßchen
-zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen muß. Verstehen Sie, verstehen
-Sie, mein Herr, was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Nun, und ich, der
-leibliche Vater, nahm ihr diese dreißig Kopeken zu einem Schnaps! Und
-ich trinke hier! Habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer soll denn mit
-so einem, wie ich, Mitleid haben? Ah? Tue ich Ihnen jetzt leid oder
-nicht, mein Herr? Sagen Sie, mein Herr, tue ich Ihnen leid oder nicht?
-He--he--he--he!«
-
-Er wollte sich einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war
-leer.
-
-»Warum soll man auch mit dir Mitleid haben?« -- rief der Wirt, der sich
-in ihrer Nähe befand.
-
-Starkes Lachen erscholl und Schimpfworte wurden laut. Alle lachten, die
-Marmeladoff zugehört und auch die, welche nicht zugehört hatten, und
-schimpften ohne Grund, allein schon beim Anblick der Person des
-verabschiedeten Beamten.
-
-»Mit mir Mitleid haben! Mitleid haben!« -- rief Marmeladoff plötzlich
-laut und erhob sich mit ausgestreckter Hand, sich gebärdend, als hätte
-er bloß auf diese Worte gewartet. -- »Warum Mitleid mit mir haben, sagst
-du? Ja! Es gibt nichts, weswegen man mich bemitleiden kann. Man muß mich
-kreuzigen, mich ans Kreuz nageln und nicht Mitleid haben! Kreuzige,
-kreuzige, Richter und nachdem du gekreuzigt hast, habe Mitleid. Und da
-will ich selbst zur Kreuzigung zu dir kommen, denn ich suche nicht
-Fröhlichkeit, sondern Kummer und Tränen! ... Meinst du, du Krämer, daß
-diese Flasche mir zur Freude war? Kummer, Kummer suchte ich auf ihrem
-Boden, Kummer und Tränen, und ich habe sie gefunden und habe von ihnen
-gekostet. Mitleid aber mit uns wird der haben, der mit allen Mitleid
-hat, und der alles und alle verstanden hat, Er, der einzige; er ist auch
-der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: >Wo ist die
-Tochter, die sich der bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und den
-fremden kleinen Kindern geopfert hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem
-irdischen Vater, dem lasterhaften Trunkenbold, Mitleid hatte, ohne sich
-vor seiner Tierheit zu erschrecken?< Und er wird sagen, -- >komm! Ich
-habe dir schon einmal vergeben ... Habe dir einmal vergeben ... Vergeben
-sind dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebt hast ...<
-Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben; ich weiß es, daß
-er ihr vergeben wird ... Ich habe es, als ich jetzt bei ihr war, im
-Herzen gefühlt! ... Und er wird allen gerecht sein und wird vergeben,
-wie den guten, so auch den bösen, wie den weisen, so auch den
-einfältigen ... Und wenn er mit allen schon zu Ende sein wird, da wird
-er auch zu uns sprechen -- >kommet auch ihr< -- wird er sagen >kommt ihr
-Betrunkenen, kommt ihr Schwächlinge, kommt ihr Sündigen!< Und wir alle
-werden hervortreten, ohne uns zu schämen, und werden dastehn. Er aber
-wird sagen: >Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres, ihr viehischen
-Gesichter, ihr -- kommt auch ihr!< Und die Weisen und die Klugen werden
-ausrufen: >Herr! Warum nimmst du sie auf?< Und er wird sagen -- >Ich
-nehme sie auf, ihr Weisen. Ich nehme sie auf, ihr Klugen, weil sich kein
-einziger von ihnen für dessen würdig hielt ...< Und er wird seine Hände
-gegen uns ausstrecken, und wir werden niedersinken ... und werden weinen
-... und alles verstehn! Dann werden wir alles verstehen! ... Und alle
-werden verstehn ... auch Katerina Iwanowna ... auch sie wird verstehn
-... Herr, dein Reich komme.«
-
-Er ließ sich auf die Bank nieder, erschöpft und geschwächt, ohne jemand
-anzusehen, als hätte er die Umgebung vergessen, und versank in tiefes
-Sinnen. Seine Worte hatten einen gewissen Eindruck hervorgerufen; für
-einen Augenblick trat Schweigen ein, bald darauf aber ertönte von neuem
-Lachen und Schelten.
-
-»Er hat gerichtet!«
-
-»Hat sich vergaloppiert!«
-
-»Ist auch Beamter!«
-
-und solcherlei mehr hörte man.
-
-»Wollen wir gehen, mein Herr!« -- sagte Marmeladoff plötzlich, hob den
-Kopf und wandte sich an Raskolnikoff. -- »Begleiten Sie mich ... Haus
-Kosel ... im Hofe. Es ist Zeit ... für mich ... zu Katerina Iwanowna
-...«
-
-Raskolnikoff hatte längst schon weggehen wollen, und auch selbst
-gedacht, ihm behilflich zu sein. Marmeladoff zeigte sich viel schwächer
-in den Beinen, als in seinen Reden, und stützte sich stark auf den
-jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen.
-Verwirrung und Angst packten immer stärker und stärker den Säufer, je
-mehr sie sich dem Hause näherten.
-
-»Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna,« -- murmelte er
-erregt, -- »auch nicht davor, daß sie mich an den Haaren raufen wird.
-Was sind Haare! ... Dummes Zeug sind die Haare! Das sage ich! Es ist
-sogar besser, daß sie mich raufen wird, aber ich fürchte mich nicht
-davor ... ich ... ich ... fürchte mich vor ihren Augen ... ja ... vor
-ihren Augen ... Auch vor den roten Flecken auf den Wangen fürchte ich
-mich ... und ich fürchte mich -- vor ihrem Atem ... Hast du gesehen, wie
-die Menschen bei dieser Krankheit atmen ... wenn sie erregt sind? Auch
-vor den weinenden Kindern fürchte ich mich ... Wenn Ssonja ihnen nichts
-zu essen gegeben hat, dann ... weiß ich nicht, wie ... Ich weiß nicht!
-Vor Schlägen fürchte ich mich nicht ... Du sollst wissen, mein Herr, daß
-solche Schläge mir keinen Schmerz, sondern Genuß bereiten ... Denn ohne
-die kann ich selbst nicht auskommen. Es ist besser. Mag sie mich
-schlagen, mag sie ihrem Herzen Luft machen ... es ist besser ... Da ist
-ja das Haus. Es gehört Kosel, einem Schlosser, einem reichen Deutschen
-... führe mich!«
-
-Sie traten in den Hof und stiegen in das vierte Stockwerk. Je höher sie
-die Treppe hinaufstiegen, um so dunkler wurde es. Es war fast elf Uhr,
-und obwohl es um diese Jahreszeit in Petersburg keine Nacht gibt, war es
-doch sehr dunkel oben auf der Treppe.
-
-Eine kleine verräucherte Tür am Ende der Treppe war geöffnet. Ein
-Lichtstumpf beleuchtete ein sehr ärmliches, etwa zehn Schritte langes
-Zimmer; vom Flur aus konnte man es vollständig übersehen. Alles lag
-verstreut und in Unordnung umher, besonders zerlumpte Kinderkleider. Vor
-den hintersten Winkel war ein verlöchertes Bettlaken gezogen. Dort stand
-wahrscheinlich das Bett. Im Zimmer waren im ganzen zwei Stühle und ein
-sehr abgerissenes mit Wachstuch bezogenes Sofa, vor dem ein alter
-ungestrichener Küchentisch ohne Decke, aus Fichtenholz, stand. Auf einer
-Ecke des Tisches brannte in einem eisernen Leuchter der Lichtstumpf. Es
-erwies sich, daß Marmeladoff nicht in dem Winkel schlief, sondern in
-einem Zimmer für sich war, das aber ein Durchgangszimmer war. Die Tür zu
-den andern Räumen oder vielmehr Käfigen, in die die Wohnung von Amalie
-Lippewechsel eingeteilt war, stand offen. Dort ging es geräuschvoll und
-laut zu. Man hörte Lachen. Wie es schien, spielte man dort Karten und
-trank Tee. Hin und wieder ertönten höchst ungesellschaftliche Reden.
-
-Raskolnikoff erkannte Katerina Iwanowna sofort. Sie war eine furchtbar
-abgemagerte Frau, von ziemlich hohem Wuchse, und schlank, mit noch
-schönem, dunkelblondem Haar; auf den Wangen waren die roten Flecke zu
-sehen. Sie wanderte in dem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände an die
-Brust gepreßt, mit vertrockneten Lippen, und atmete stoßweise und
-unregelmäßig. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, der Blick aber war
-scharf und unbeweglich, und dieses schwindsüchtige und erregte Gesicht
-machte einen schmerzlichen Eindruck bei der Beleuchtung des sterbenden
-Lichtes, das auf dem Gesichte zitterte. Sie schien Raskolnikoff etwa
-dreißig Jahre alt zu sein und in der Tat zu Marmeladoff nicht zu passen
-... Die Eintretenden hatte sie nicht gehört und nicht bemerkt; ihre
-Gedanken schienen abwesend zu sein, sie hörte und sah nichts. Im Zimmer
-war es dumpf, das Fenster war verschlossen; von der Treppe her kam ein
-mörderlicher Gestank, und die Tür zur Treppe war offen, aus den inneren
-Räumen drangen durch die geöffnete Tür Wolken von Tabakrauch, -- sie
-hustete, schloß aber die Tür nicht zu. Das kleinste Mädchen im Alter von
-sechs Jahren etwa, saß zusammengekauert auf der Diele und schlief mit
-dem Gesicht ans Sofa gelehnt. Der Knabe, ein Jahr älter, stand in einem
-Winkel, am ganzen Körper zitternd, und weinte. Er hatte wahrscheinlich
-soeben Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, von neun Jahren, hoch und
-dünn, wie ein Streichholz, stand in einem schlechten und völlig
-zerrissenen Hemdchen und in einem alten wattierten Mantel, der um die
-nackten Schultern geworfen und wahrscheinlich vor zwei Jahren gemacht
-war, da er ihr jetzt kaum bis zu den Knien reichte, in dem Winkel neben
-dem kleinen Bruder und hielt seinen Hals mit ihrem langen, dünnen Arm
-umschlungen. Sie schien ihn zu trösten, flüsterte ihm etwas zu und hielt
-ihn in jeder Weise zurück, damit er ja nicht weine, und gleichzeitig
-beobachtete sie voll Angst die Mutter mit ihren übergroßen, dunklen
-Augen, die in dem abgemagerten und erschrockenen Gesichtchen noch größer
-erschienen. Marmeladoff kniete, ohne das Zimmer zu betreten, an der Tür
-nieder und schob Raskolnikoff vor sich her. Als die Frau einen Fremden
-erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen, kam auf einen Augenblick
-zu sich und schien nachzudenken, warum er eingetreten sei. Aber sie
-meinte wohl, daß er in die andern Räume wollte, da der ihrige nur ein
-Durchgangszimmer war. Nachdem sie sich's so überlegt hatte, ging sie,
-ohne ihn weiter zu beachten, zu der Flurtür, um sie zu schließen. Da
-schrie sie plötzlich auf, als sie auf der Schwelle ihren knienden Mann
-erblickte.
-
-»Oh!« -- rief sie in blinder Wut. -- »Du bist zurückgekehrt! Du
-Zuchthäusler! Du Unmensch! ... Wo ist das Geld? Was hast du in der
-Tasche, zeige mir's! Und die Kleider sind nicht dieselben! Wo ist deine
-Uniform? Wo ist das Geld? Sprich! ...«
-
-Und sie stürzte sich auf ihn, um ihn zu durchsuchen. Marmeladoff
-streckte gehorsam und unterwürfig die Arme nach beiden Seiten aus, um
-ihr die Durchsuchung der Taschen zu erleichtern. Vom Gelde war keine
-Kopeke mehr da.
-
-»Wo ist das Geld?« -- schrie sie. -- »Oh, Gott, er wird doch nicht alles
-vertrunken haben! Es waren doch zwölf Rubel in dem Kasten! ...«
-
-Plötzlich packte sie ihn in rasender Wut an den Haaren und zerrte ihn in
-das Zimmer hinein. Marmeladoff erleichterte ihr die Mühe, indem er auf
-den Knien demütig hinter ihr herkroch.
-
-»Das ist mir ein Genuß! Das ist für mich kein Schmerz, sondern ein
-Ge--nuß, mein Herr!« -- rief er aus, während er an den Haaren gezerrt
-wurde und sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden schlug.
-
-Das Kind, das auf der Diele schlief, wachte auf und begann zu weinen.
-Der Knabe im Winkel fuhr zusammen, erschauerte, schrie auf und stürzte
-in furchtbarem Schreck, wie in einem Anfalle, zu der Schwester hin. Das
-älteste Mädchen bebte an allen Gliedern, wie ein Blatt unter einem
-Windstoß.
-
-»Du hast das Geld vertrunken! Hast alles, alles vertrunken!« -- schrie
-die arme Frau in Verzweiflung. -- »Und die Kleider sind nicht dieselben.
-Die da sind hungrig, hungrig!« -- (und händeringend zeigte sie auf die
-Kinder) -- »Oh, verfluchtes Leben! Und Sie ... schämen Sie sich nicht«
--- mit diesen Worten stürzte sie sich unversehens auf Raskolnikoff. --
-»Sie da aus der Schenke! Du hast mit ihm getrunken? Hast mit ihm
-getrunken! Hinaus!« Der junge Mann schritt eilends hinaus, ohne ein Wort
-zu sagen. Die Türe zu den anderen Zimmern wurde sperrweit geöffnet, und
-einige Neugierige schauten herein. Dreiste, lachende Gesichter mit
-Zigaretten und Pfeifen im Munde, mit Mützen auf dem Kopfe zeigten sich.
-Man sah Gestalten in Schlafröcken und mit völlig nackter Brust, in
-leichter Bekleidung, die an Unanständigkeit grenzte, manche mit Karten
-in den Händen. Sie amüsierten sich vortrefflich und lachten, als
-Marmeladoff an den Haaren gezerrt ausrief, daß dies ihm ein Genuß sei.
--- Man drängte sich sogar in das Zimmer; plötzlich erscholl ein wütendes
-Gekreische, -- Amalie Lippewechsel war herbeigeeilt, um selbst auf ihre
-Weise Ordnung zu schaffen und zum hundertsten Mal die arme Frau durch
-den zornigen Befehl, morgen schon die Wohnung zu räumen, zu erschrecken.
-Beim Fortgehen gelang es Raskolnikoff die Hand in die Tasche zu stecken,
-soviel von dem Kupfergelde, das man ihm in der Schenke auf den Rubel
-herausgegeben hatte, hervorzuholen, als er erfassen konnte, und es
-unbemerkt auf das Fensterbrett zu legen. Auf der Treppe besann er sich
-und wollte umkehren. »Was habe ich für eine Dummheit gemacht?« dachte
-er. »Sie haben ja Ssonja und ich brauche es doch selbst.«
-
-Nachdem er aber eingesehen hatte, daß es unmöglich war, das Geld
-zurückzunehmen, und daß er es sowieso nicht zurückgenommen hätte, machte
-er eine Bewegung mit der Hand und ging nach Hause.
-
-»Ssonja braucht Pomade,« fuhr er fort, während er auf der Straße ging,
-und lächelte bitter. »Diese Sauberkeit kostet Geld ... Hm! Ssonjetschka
-kann vielleicht heute Fiasko machen, denn es ist immer ein Risiko -- die
-Jagd auf dieses Wild ... wie das Graben nach Gold ... da würden sie dann
-alle ohne mein Geld morgen auf dem Trockenen sitzen ... Ja, die Ssonja!
-Welch einen Brunnen haben sie zu finden verstanden! Und sie benutzen
-ihn! Sie benutzen ihn trotz allem! Und haben sich daran gewöhnt! Sie
-haben geweint und haben sich daran gewöhnt. An alles gewöhnt sich der
-Schuft -- der Mensch!«
-
-Er verfiel in Nachdenken.
-
-»Wenn ich aber gelogen habe,« rief er plötzlich unwillkürlich aus. »Wenn
-der Mensch tatsächlich _kein Schuft_ ist, das ganze Geschlecht
-überhaupt, das heißt das menschliche Geschlecht es nicht ist, so
-bedeutet das, daß alles Vorurteil ist, bloß eingebildeter Schrecken, und
-es gibt also keine Hindernisse und so muß es auch sein! ...«
-
-
- III.
-
-Er erwachte am anderen Tage spät nach einem unruhigen Schlafe; der
-Schlaf hatte ihn nicht gestärkt. Er erwachte griesgrämig, gereizt und
-böse, und blickte voll Haß seine Kammer an. Es war ein winziger Raum,
-sechs Schritt lang, und machte mit seiner gelblichen, staubigen und
-überall an den Wänden losgelösten Tapete einen kläglichen Eindruck; das
-Zimmer war so niedrig, daß es einem einigermaßen großen Manne bange
-wurde, und immer schien es, als könnte man jeden Augenblick mit dem Kopf
-an die Decke stoßen. Die Möbel entsprachen dem Raume, -- es waren drei
-alte Stühle da, in nicht ganz brauchbarem Zustande, in einer Ecke stand
-ein gestrichener Tisch, auf dem ein paar Hefte und Bücher lagen; schon
-aus dem Umstande, wie verstaubt sie waren, konnte man schließen, daß sie
-lange nicht berührt worden waren. Außerdem stand in dem Zimmer noch ein
-plumpes, großes Sofa, das fast die ganze Wand und die Hälfte des Zimmers
-einnahm, einst war es mit Kattun bezogen, jetzt war es zerfetzt; es
-diente Raskolnikoff als Bett. Er schlief darauf oftmals so, wie er ging
-und stand, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, bedeckt mit einem alten,
-abgerissenen Studentenmantel, unter dem Kopfe ein kleines Kissen,
-worunter er alles, was er an Wäsche, reiner und getragener, besaß,
-stopfte, um die Kopfstelle höher zu machen. Vor dem Sofa stand ein
-kleines Tischchen. Es hielt schwer, noch verkommener und zerlumpter zu
-sein, Raskolnikoff aber war das in seiner jetzigen Gemütsverfassung
-gerade angenehm. Er hatte sich, wie eine Schildkröte in ihrer Behausung,
-von allen völlig zurückgezogen; und das Gesicht des Mädchens, das
-verpflichtet war, ihn zu bedienen und das zuweilen in sein Zimmer einen
-Blick warf, reizte schon seine Galle und verursachte ihm Krämpfe. Das
-kommt bei manchen Leuten vor, die von einer Manie befallen sind, und die
-sich auf etwas besonders stark konzentriert haben. Seine Wirtin hatte
-seit zwei Wochen schon aufgehört, ihm Essen zu geben und er hatte noch
-nicht gedacht, zu ihr zu gehen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen,
-obwohl er ohne Mittag saß. Nastasja, die Köchin und das einzige Mädchen
-der Wirtin, war über die Stimmung des Mieters zum Teil froh und hatte
-aufgehört, sein Zimmer aufzuräumen und auszukehren; ab und zu jedoch,
-vielleicht einmal in der Woche, ergriff sie, wie zufällig, den Besen.
-Sie hatte ihn jetzt geweckt.
-
-»Steh auf, was schläfst du!« rief sie ihm zu. »Es ist schon zehn Uhr.
-Ich habe dir Tee gebracht. Willst du Tee? Bist wahrscheinlich schon ganz
-abgemagert?«
-
-Der junge Mann öffnete die Augen, zuckte zusammen und erkannte Nastasja.
-
-»Ist der Tee von der Wirtin?« fragte er und erhob sich langsam und mit
-schmerzlicher Miene vom Sofa.
-
-»Was dir einfällt, -- von der Wirtin!«
-
-Sie stellte ihre eigene gesprungene Teekanne mit altem aufgebrühtem Tee
-vor ihm hin und legte zwei Stück gelben Zucker daneben.
-
-»Nimm das, bitte, Nastasja,« sagte er, indem er in der Tasche suchte --
-(er hatte angekleidet geschlafen) -- und eine Handvoll Kupfermünzen
-hervorholte. »Gehe und kaufe mir Weißbrot. Hole auch ein wenig Wurst aus
-dem Laden, aber billige ...«
-
-»Weißbrot will ich dir sofort bringen, willst du aber nicht anstatt
-Wurst etwas Kohlsuppe haben? Die Kohlsuppe ist gut, sie ist von gestern.
-Ich hatte gestern für dich etwas aufbewahrt, aber du kamst erst so spät.
-Es ist eine gute Kohlsuppe.«
-
-Nachdem sie die Kohlsuppe gebracht hatte, setzte sich Nastasja neben ihm
-auf dem Sofa hin und begann, während er aß, zu plaudern. Sie war vom
-Lande und ein sehr geschwätziges Frauenzimmer.
-
-»Praskovja Pawlowna will dich bei der Polizei verklagen,« sagte sie.
-
-Er verzog das Gesicht.
-
-»Bei der Polizei? Was will sie denn?«
-
-»Du zahlst nicht und räumst das Zimmer nicht. Es ist begreiflich, was
-sie will.«
-
-»Zum Teufel, das fehlte noch,« murmelte er und knirschte mit den Zähnen.
-»Nein, das kommt mir jetzt ... sehr ungelegen ... Sie ist dumm,« fügte
-er laut hinzu. »Ich will heute noch zu ihr gehen und mit ihr sprechen.«
-
-»Sie ist dumm, ebenso wie ich; aber du, Kluger, was liegst du da, wie
-ein Sack, nichts hat man von dir. Früher, sagst du, hast du Kinder
-unterrichtet, warum machst du aber jetzt nichts?«
-
-»Ich mache ...« antwortete Raskolnikoff unwillig und finster.
-
-»Was machst du denn?«
-
-»Ich arbeite ...«
-
-»Was arbeitest du denn?«
-
-»Ich denke,« antwortete er nach einem Schweigen finster.
-
-Nastasja schüttelte sich vor Lachen. Sie war von den Lachlustigen, und
-wenn man sie zum Lachen reizte, lachte sie lautlos, aber am ganzen
-Körper bebend und sich schüttelnd, bis sie nicht mehr konnte.
-
-»Hast du viel Geld mit dem Denken verdient?« brachte sie endlich hervor.
-
-»Ohne Stiefel kann man doch nicht unterrichten. Und übrigens pfeife ich
-auf alles.«
-
-»Sei nicht zu stolz.«
-
-»Den Unterricht bezahlt man in Kupfer. Was soll man mit ein paar Kopeken
-anfangen?« fuhr er unwillig fort, als antworte er den eigenen Gedanken.
-
-»Du möchtest wohl ein ganzes Kapital auf einmal haben?«
-
-Er blickte sie sonderbar an.
-
-»Ja, ein ganzes Kapital,« antwortete er nach einem Schweigen
-entschlossen.
-
-»Fang mit kleinem an; du erschreckst einen ja. Soll ich dir jetzt
-Weißbrot holen oder nicht?«
-
-»Wie du willst!«
-
-»Ach, ich vergaß; gestern ist für dich ein Brief angekommen.«
-
-»Ein Brief! Für mich! Von wem?«
-
-»Von wem er ist -- das weiß ich nicht. Ich habe dem Briefträger drei
-Kopeken aus meiner eigenen Tasche gegeben. Gibst du sie mir wieder?«
-
-»Bring doch den Brief, um Gottes Willen, bring ihn gleich!« rief
-Raskolnikoff ganz erregt. »Oh, Gott!«
-
-Nach einer Minute kam der Brief. »Wirklich! Er ist von der Mutter, aus
-dem R.schen Gouvernement.« Er erbleichte sogar, als er ihn nahm. Lange
-schon hatte er keine Briefe erhalten, und jetzt bedrückte noch etwas
-anderes sein Herz.
-
-»Nastasja, geh fort, um Gotteswillen. Da hast du deine drei Kopeken, geh
-nur schnell fort, um Gotteswillen.«
-
-Der Brief zitterte in seinen Händen; er wollte ihn nicht in ihrer
-Anwesenheit öffnen, er wollte mit dem Briefe _allein_ sein. Als Nastasja
-gegangen war, führte er schnell den Brief an seine Lippen und küßte ihn;
-dann blickte er lange die Schrift auf dem Kuvert an, die bekannte und
-liebe, feine und schräge Schrift seiner Mutter, die ihn einst lesen und
-schreiben gelehrt hatte. Er zögerte, den Brief zu öffnen, schien sich
-sogar vor etwas zu fürchten. Endlich öffnete er den Brief, einen langen,
-gewichtigen Brief; zwei große Briefbogen waren dicht beschrieben.
-
-»Mein lieber Rodja,« schrieb die Mutter, »es ist über zwei Monate her,
-seit ich mit dir brieflich gesprochen habe; darunter habe ich selbst
-gelitten, und manche Nacht haben mich die Gedanken nicht schlafen
-lassen. Aber du wirst mich sicher nicht verurteilen wegen meines
-ungewollten Schweigens. Du weißt, wie ich dich liebe; du bist unser
-Einziges, mir und Dunja, du bist unser alles, unsere ganze Hoffnung,
-unser Trost. Ach, wenn du wüßtest, wie mir war, als ich erfuhr, daß du
-die Universität schon einige Monate verlassen hast, weil es dir an
-Mitteln mangelte, und daß das Stundengeben und deine anderen Arbeiten
-ein Ende genommen haben. Und wie hätte ich dir mit meiner Pension von
-hundertzwanzig Rubel jährlich helfen können? Die fünfzehn Rubel, die ich
-vor vier Monaten schickte, hatte ich, wie du auch weißt, von unserem
-hiesigen Kaufmann Wassilij Iwanowitsch Wachruschin auf die Pension hin
-geliehen. Er ist ein guter Mensch und war ein Freund deines Vaters. Aber
-da ich ihm das Recht, die Pension für mich zu empfangen, gegeben hatte,
-mußte ich warten, bis die Schuld abgetragen war, und das ist soeben erst
-geschehen, so daß ich die ganze Zeit dir nichts schicken konnte. Jetzt
-aber, Gott sei Dank, denke ich, dir wieder etwas schicken zu können, und
-überhaupt wir können jetzt sogar von einem Glück sprechen, und das
-beeile ich mich, dir mitzuteilen. Zuerst also kannst du es dir
-vorstellen, lieber Rodja, daß deine Schwester bereits anderthalb Monate
-bei mir lebt, und daß wir uns nie mehr, in aller Zukunft nicht, trennen
-werden. Gott sei Dank, ihre Qualen haben ein Ende gefunden, aber ich
-will dir alles der Reihe nach erzählen, damit du erfährst, wie alles war
-und was wir bis jetzt vor dir verheimlichten. Als du mir vor zwei
-Monaten schriebst, du hättest von irgend jemand gehört, daß Dunja stark
-unter der Grobheit im Hause der Herrschaften Sswidrigailoff zu leiden
-habe, und von mir genaue Aufklärung verlangtest, -- was hätte ich dir
-damals antworten können? Wenn ich dir die ganze Wahrheit mitgeteilt
-hätte, so hättest du wahrscheinlich alles liegen lassen, wärest, und sei
-es zu Fuß, zu uns gekommen, denn ich kenne deinen Charakter und deine
-Gefühle, du hättest nicht geduldet, daß deine Schwester beleidigt wird.
-Ich war ganz verzweifelt, aber was sollte ich tun? Und wußte damals
-selber nicht die ganze Wahrheit. Das Haupthindernis bestand darin, daß
-Dunetschka, bei ihrem Eintritt in das Haus als Gouvernante im vorigen
-Jahre volle hundert Rubel voraus erhalten hatte, unter der Bedingung,
-die Summe monatlich von ihrem Gehalte abzuzahlen, und so konnte sie die
-Stelle nicht eher aufgeben, als die Schuld getilgt war. Diese Summe aber
-(jetzt kann ich dir alles erklären, teurer Rodja) hatte sie eigentlich
-deshalb genommen, um dir die sechzig Rubel zu schicken, die du damals
-nötig brauchtest, und die du auch im vorigen Jahre von uns erhalten
-hast. Wir haben dich damals getäuscht; wir schrieben dir, es sei von dem
-Gelde, das Dunetschka sich früher erspart habe, aber es verhielt sich
-nicht so, jetzt erst teile ich dir die volle Wahrheit mit, weil sich
-alles jetzt plötzlich nach Gottes Willen zum besten gewendet hat, und
-damit du weißt, wie Dunja dich liebt und welch unschätzbares Herz sie
-hat. Herr Sswidrigailoff behandelte sie zuerst sehr grob und erlaubte
-sich ihr gegenüber allerhand Unhöflichkeiten und Spöttereien bei Tisch
-... Aber ich will all diese trüben Einzelheiten nicht aufzählen, und
-dich nicht unnütz aufregen, da alles nun ein Ende hat. Kurz, trotz der
-guten und anständigen Behandlung seitens Marfa Petrownas, der Gemahlin
-des Herrn Sswidrigailoff, und aller Hausgenossen, hatte es Dunetschka
-sehr schwer, besonders wenn Herr Sswidrigailoff nach alter
-Regimentsgewohnheit unter dem Einflusse des Bacchus stand. Aber was
-geschah später? Stelle dir vor, dieser Wahnwitzige hatte schon seit
-langem eine Leidenschaft für Dunja gefaßt, aber er verbarg sie immer
-unter dem Scheine eines groben und hochfahrenden Wesens ihr gegenüber.
-Vielleicht schämte er sich auch und war unmutig auf sich selbst, daß er,
-als älterer Mann und Familienvater, sich solchen leichtfertigen Wünschen
-hingab und war darum auf Dunja unwillkürlich böse. Vielleicht wollte er
-auch durch seine Grobheit und durch seinen Spott die Wahrheit vor
-anderen verbergen. Schließlich aber hielt er es nicht mehr aus und wagte
-Dunja offen einen gemeinen Antrag zu machen und versprach ihr hohe
-Belohnung. Alles wollte er sogar im Stiche lassen und mit ihr auf ein
-anderes Gut oder ins Ausland reisen. Du kannst dir ihre Leiden
-vorstellen! Sofort ihre Stellung aufgeben, konnte sie nicht, -- nicht
-bloß wegen der Schuld, sondern auch um Marfa Petrowna zu schonen, die
-dadurch Verdacht fassen mußte; damit wäre der Zwist in die Ehe gekommen.
-Ja, auch für Dunetschka hätte es einen großen Skandal gegeben; so ganz
-ohne Aufsehen wäre die Sache nicht vorübergegangen. Es gab noch manche
-andere Gründe, so daß Dunja, noch vor sechs Wochen, in keinem Falle
-rechnen konnte, aus diesem schrecklichen Hause fortzukommen. Du kennst
-ja Dunja, weißt, wie klug sie ist, und welch festen Charakter sie
-besitzt. Dunetschka kann vieles ertragen, und im alleräußersten Falle
-findet sie immer noch so viel Stärke in sich, daß sie ihre Festigkeit
-bewahrt. Sie hat nicht mal mir über alles berichtet, um mich nicht
-aufzuregen, wir haben aber sonst einander oft geschrieben. Es kam jedoch
-eine unerwartete Lösung. Marfa Petrowna hörte zufällig, wie ihr Mann
-Dunetschka im Garten anflehte, und da sie alles falsch aufgefaßt hatte,
-gab sie Dunetschka die Schuld, in der Meinung, sie habe es eingefädelt.
-Es spielte sich im Garten zwischen ihnen eine fürchterliche Szene ab, --
-Marfa Petrowna hat sogar Dunetschka geschlagen, wollte nichts hören,
-schrie aber selbst stundenlang fort und befahl schließlich, Dunja sofort
-zu mir in die Stadt zu bringen, -- auf einem gewöhnlichen Bauernwagen,
-in den man alle ihre Sachen, -- Wäsche, Kleider, alles, wie man es
-vorfand, ohne es zusammenzulegen und ohne einzupacken, hineinwarf. Bei
-strömendem Regen mit Schande und Schmach bedeckt, mußte Dunja siebzehn
-Werst weit im offenen Bauernwagen fahren. Nun überlege, was hätte ich
-dir, als Antwort auf deinen Brief vor zwei Monaten schreiben sollen? Ich
-war verzweifelt; die Wahrheit durfte ich dir nicht mitteilen, denn du
-wärest unglücklich, zornig und empört geworden, ja und was hättest du
-tun können? Vielleicht hättest du dich ins Verderben gestürzt. Und
-Dunetschka hatte es mir verboten. Den Brief aber mit Lappalien
-ausfüllen, während im Herzen solcher Kummer gräbt, habe ich nicht
-gekonnt. Einen Monat lang gingen in der ganzen Stadt allerhand
-Klatschereien über diese Geschichte herum, und es war so weit gekommen,
-daß ich mit Dunja vor verächtlichen Blicken und hämischem Flüstern nicht
-mal in die Kirche gehen konnte, selbst in unserer Gegenwart wurde laut
-darüber gesprochen. Alle Bekannten hatten sich von uns abgewandt, alle
-hatten aufgehört, uns zu grüßen, und ich erfuhr mit Bestimmtheit, daß
-die Kommis und einige Schreiber die Absicht hatten, uns eine
-niederträchtige Beleidigung anzutun, indem sie das Tor unseres Hauses
-mit Teer beschmieren wollten, so daß unsere Wirtsleute verlangten, wir
-möchten die Wohnung räumen. Das alles war das Werk von Marfa Petrowna;
-es war ihr gelungen, Dunja in allen Häusern zu beschuldigen und schlecht
-zu machen. Sie ist ja hier mit allen bekannt, und in diesem Monat kam
-sie fortwährend in die Stadt, und da sie ziemlich geschwätzig ist und
-über ihre Familienangelegenheiten zu erzählen liebt, besonders aber bei
-jedem und allen über ihren Mann klagt, was doch sehr häßlich ist, so
-hatte sich die ganze Geschichte in kurzer Zeit nicht bloß in der Stadt,
-sondern auch im Kreise verbreitet. Mich griff's hart an, Dunetschka aber
-war stärker, hättest du doch sehen können, wie sie alles ertrug, wie sie
-mich tröstete und mir Mut zusprach! Sie ist ein Engel! Aber dank der
-Barmherzigkeit Gottes nahmen unsere Qualen ein Ende, Herr Sswidrigailoff
-kam zur Besinnung, bereute alles, und wahrscheinlich aus Mitleid mit
-Dunja legte er Marfa Petrowna volle und klare Beweise der völligen
-Unschuld von Dunetschka vor, und zwar, -- einen Brief, den Dunja noch
-bevor Marfa Petrowna sie im Garten überraschte, ihm zu schreiben und zu
-übersenden sich gezwungen sah, um persönliche Erklärungen und das
-Verlangen geheimer Zusammenkünfte abzulehnen; dieser Brief war nach der
-Abreise von Dunetschka in den Händen des Herrn Sswidrigailoff geblieben.
-In diesem Briefe hatte sie ihn in eindringlichster Weise und mit voller
-Entrüstung gerade wegen seines ehrlosen Benehmens Marfa Petrowna
-gegenüber getadelt, ihm vorgehalten, daß er Vater und Gatte sei, und ihm
-schließlich zu verstehen gegeben, wie niedrig es von ihm sei, ein
-wehrloses und ohnedem schon unglückliches Mädchen zu quälen und noch
-unglücklicher zu machen. Mit einem Worte, lieber Rodja, dieser Brief ist
-so edel und rührend geschrieben, daß ich schluchzend ihn las und ihn
-jetzt noch nur unter Tränen lesen kann. Außerdem kamen zur
-Rechtfertigung Dunjas die Aussagen der Dienstboten hinzu, die wie
-gewöhnlich viel mehr gesehen und gehört hatten, als Herr Sswidrigailoff
-ahnte. Marfa Petrowna war außergewöhnlich bestürzt und >von neuem
-zerschmettert,< wie sie uns selbst gestand, aber völlig von der
-Schuldlosigkeit Dunetschkas überzeugt; am anderen Tage noch, einem
-Sonntage, fuhr sie direkt in die Kirche und flehte zur Mutter Gottes
-kniefällig und mit Tränen, ihr die Kraft zu geben, diese neue Prüfung zu
-überstehen und ihre Pflicht zu erfüllen. Aus der Kirche kam sie zu uns,
-ohne jemand anderen zu besuchen, erzählte uns alles, weinte bitter und
-umarmte Dunja voller Reue und bat inständig um ihre Verzeihung. Am
-selben Morgen noch ging sie gleich von uns in alle Häuser der Stadt, und
-überall erzählte sie unter Tränen und in für Dunetschka
-schmeichelhaftesten Ausdrücken von Dunjas Unschuld und ihrem edlen Gemüt
-und Benehmen. Und nicht genug damit, sie zeigte allen den eigenhändigen
-Brief Dunetschkas an Sswidrigailoff, las ihn laut vor und erlaubte sogar
-Abschriften von dem Briefe zu nehmen, -- was mir wirklich zu viel
-scheint. In dieser Weise mußte sie einige Tage nacheinander alles in der
-Stadt besuchen, weil mancher sich gekränkt fühlte, daß anderen der
-Vorzug erwiesen war; es wurde also eine Reihenfolge bestimmt, so daß man
-sie in jedem Hause zu einer festgesetzten Zeit erwartete, und alle
-wußten, daß an dem und dem Tage Marfa Petrowna dort und dort den Brief
-vorlesen würde, und zu jedem Vorlesen kamen Leute, auch solche, die den
-Brief schon ein paarmal, sowohl in ihrem eigenen Hause, als auch bei
-Bekannten, gehört hatten. Meiner Meinung nach war hierbei vieles, sehr
-vieles überflüssig, aber Marfa Petrowna hat nun mal so einen Charakter.
-Sie hat wenigstens die Ehre von Dunetschka vollkommen wiederhergestellt
-und was an dieser Sache prekär, fiel wie eine untilgbare Schande ihrem
-Mann, als dem allein Schuldigen zu Lasten, so daß er mir doch zuletzt
-leid tat; man ist zu streng mit diesem Wahnwitzigen umgegangen. Dunja
-wurde sofort aufgefordert, in einigen Häusern Unterricht zu geben,
-allein sie schlug es ab. Überhaupt begannen alle mit einem Male ihr eine
-besondere Achtung zu zeigen. Dies alles half hauptsächlich ein Ereignis
-herbeiführen, durch das sich, man kann wohl sagen, jetzt unser ganzes
-Schicksal ändert. Du sollst wissen, lieber Rodja, daß Dunja einen Antrag
-von einem Herrn erhalten hat und daß sie ihre Einwilligung bereits
-gegeben hat, was ich dir eilends hierdurch mitteile. Obwohl die Sache
-sich auch ohne deinen Ratschlag entschieden hat, wirst du wahrscheinlich
-weder über mich noch über deine Schwester ungehalten sein; du wirst
-selbst aus dem Verlauf der Angelegenheit ersehen, daß wir unmöglich
-warten und die Antwort bis zu dem Empfang deines Briefes hinausschieben
-konnten. Ja, und du hättest auch nur an Ort und Stelle alles genau
-beurteilen können. Es ging also folgendermaßen vor sich: Er ist schon
-Hofrat, heißt Peter Petrowitsch Luschin und ist ein weitläufiger
-Verwandter von Marfa Petrowna, die diese Angelegenheit sehr gefördert
-hat. Er begann damit, daß er durch Marfa Petrowna den Wunsch äußern
-ließ, mit uns bekannt zu werden; er wurde, wie es sich ziemt, empfangen,
-trank bei uns Kaffee, und am nächsten Tage schickte er einen Brief, in
-dem er sehr höflich seinen Antrag machte und um eine baldige und
-bestimmte Antwort bat. Er ist ein arbeitsamer und vielbeschäftigter Mann
-und will jetzt schleunigst nach Petersburg reisen, so daß für ihn jeder
-Augenblick kostbar ist. Selbstverständlich waren wir zuerst sehr
-überrascht, da dies schnell und unerwartet gekommen war. Wir erwogen und
-überlegten den ganzen Tag miteinander. Er ist ein zuverlässiger Mann, in
-gesicherten Verhältnissen, nimmt zwei Stellungen ein und besitzt schon
-eigenes Vermögen. Gewiß, er ist schon fünfundvierzig Jahre alt, hat aber
-ein ganz angenehmes Äußere und kann noch Frauen gefallen; ja, er ist
-überhaupt ein sehr solider und anständiger Mann, bloß ein wenig düster
-und anscheinend hochmütig. Aber vielleicht scheint es bloß so beim
-ersten Anblick. Ja, und ich gebe dir den guten Rat, lieber Rodja, wenn
-du ihn in Petersburg sehen wirst, was sehr bald geschehen kann, urteile
-nicht zu schnell und hitzig, wie es dir eigen ist, wenn bei der ersten
-Begegnung dir etwas an ihm nicht so gut gefallen will. Ich sage das bloß
-für alle Fälle, denn ich bin überzeugt, daß er auf dich einen angenehmen
-Eindruck machen wird. Zudem, um einen fremden Menschen einzuschätzen,
-muß man sich ihm allmählich und vorsichtig nähern, damit man keinen
-Fehler begeht und keine Voreingenommenheit faßt, die später sehr schwer
-zu berichtigen und zu beseitigen ist. Peter Petrowitsch ist, wenigstens
-nach vielen Anzeichen, ein sehr ehrenwerter Mann. Bei seinem ersten
-Besuche schon erklärte er, daß er ein resoluter Mann sei, aber daß er in
-vielem >die Überzeugungen der jüngeren Generation< -- wie er sich
-ausdrückte -- teile, und ein Feind von allen Vorurteilen sei. Er sprach
-noch über vieles, denn er scheint ein wenig eingebildet zu sein und es
-zu lieben, daß man ihm zuhöre, aber das ist ja kein Fehler. Ich habe
-natürlich wenig davon begriffen, aber Dunja versicherte mir, daß er
-keine sehr große Bildung besitze, aber ein kluger und wie es scheint,
-auch guter Mensch sei. Du kennst den Charakter deiner Schwester Rodja.
-Sie ist ein starkes, vernünftiges, geduldiges und großmütiges Mädchen,
-freilich auch feurigen Herzens, so wie ich sie kenne. Gewiß ist weder
-auf ihrer, noch auf seiner Seite eine besondere Liebe vorhanden, aber
-Dunja ist nicht allein ein kluges Mädchen, sondern gleichzeitig auch ein
-edles Wesen, ein Engel, und wird es sich zur Aufgabe stellen, das Glück
-des Mannes auszumachen, der seinerseits für ihr Glück Sorge tragen wird;
-daran aber zu zweifeln haben wir vorläufig keine Ursache, obwohl --
-offen gestanden -- die Sache mir ein wenig zu schnell zustande kam.
-Außerdem ist er ein berechnender Mann, der sicher einsehen wird, daß
-sein eigenes Glück in der Ehe um so fester begründet ist, je glücklicher
-er Dunetschka macht. Was aber irgendwelche Unebenheiten des Charakters,
-irgendwelche alte Gewohnheiten und sogar ein gewisses Auseinandergehen
-in den Anschauungen anbetrifft -- (und das ist auch in den glücklichsten
-Ehen nicht zu vermeiden) -- so sagte mir Dunetschka, daß sie in dieser
-Hinsicht auf sich vertraut, daß es keinen Grund gibt, darüber beunruhigt
-zu sein und daß sie vieles ertragen kann, wenn nur gegenseitige
-Ehrlichkeit und Gerechtigkeit herrscht. Mir schien er zum Beispiel
-zuerst etwas hart, aber das kann auch von seiner Offenherzigkeit kommen
-und so wird es wohl auch sein. Bei seinem zweiten Besuche, als er das
-Jawort hatte, äußerte er im Gespräch, daß er schon früher, ehe er Dunja
-kennengelernt habe, beschlossen habe, ein ehrliches, aber armes Mädchen
-zu heiraten und unbedingt eines, das die Armut schon gekostet habe, denn
-ein Mann solle nach seiner Meinung seiner Frau durch nichts verpflichtet
-sein, sondern das sei das richtige, daß die Frau den Mann als ihren
-Wohltäter betrachte. Ich will hinzufügen, daß er sich ein wenig weicher
-und zarter ausdrückte, als ich es schreibe, denn ich habe den richtigen
-Wortlaut vergessen, erinnere mich bloß des Sinnes, und zudem hatte er
-das keineswegs mit Absicht gesagt, sondern hatte sich offenbar in Eifer
-gesprochen, darum versuchte er später, es abzuschwächen und zu mildern.
-Dennoch erschien es mir ein wenig zu scharf, und ich sprach darüber
-nachher mit Dunja. Sie aber antwortete mir sogar, daß >Worte noch keine
-Taten sind,< und das ist auch wahr. Ehe Dunja sich zu diesem Schritt
-entschloß, verbrachte sie eine schlaflose Nacht, und in der Meinung, daß
-ich schliefe, stand sie auf und ging die ganze Nacht im Zimmer auf und
-ab; schließlich ließ sie sich auf die Knie nieder und betete lange und
-inbrünstig vor der Mutter Gottes, und am andern Morgen erklärte sie mir,
-sie hätte sich entschieden.
-
-Ich habe schon erwähnt, daß Peter Petrowitsch sich jetzt nach Petersburg
-begibt. Er hat dort große Geschäfte vor, will in Petersburg ein
-öffentliches Bureau als Advokat eröffnen. Er beschäftigt sich seit
-langem schon mit Vertretung von allerhand Zivilklagen und Prozessen, und
-hat vor kurzem einen bedeutenden Prozeß gewonnen. Nach Petersburg muß er
-auch deswegen reisen, weil er dort im Senate eine bedeutende Sache zu
-vertreten hat. So kann er auch dir, lieber Rodja, sehr nützlich sein, ja
-in jeder Hinsicht, und wir -- ich und Dunja -- meinen nun, daß mit dem
-heutigen Tage deine künftige Karriere mit Sicherheit beginnt und daß
-dein Schicksal klar vor Augen liegt. Oh, wenn es sich schon verwirklicht
-hätte! Das wäre so ein Glück, daß man es nicht anders, als eine
-unmittelbare Gnadenspende des Allmächtigen an uns betrachten müßte. Das
-ist Dunjas Traum. Wir haben schon gewagt, ein paar Worte in dieser
-Hinsicht Peter Petrowitsch zu sagen. Er äußerte sich vorsichtig und
-meinte, daß er gewiß ohne einen Sekretär nicht auskommen könne, und da
-sei es selbstverständlich besser, das Gehalt dafür einem Verwandten als
-einem Fremden zu zahlen, wenn er sich bloß für den Posten eigne, -- (du
-solltest dich dazu nicht eignen!) -- gleichzeitig aber zweifelte er, daß
-das Universitätsstudium die Zeit für die Arbeiten in seinem Bureau übrig
-ließe. Diesmal blieb die Angelegenheit dabei stehen, aber Dunja denkt an
-nichts anderes mehr als an diese Aussicht. Sie ist seit einigen Tagen
-fieberhaft erregt, und hat sich einen ganzen Plan ausgedacht, daß du
-nämlich späterhin Mitarbeiter und sogar Kompagnon von Peter Petrowitsch
-in seinen Rechtssachen werden könntest, um so mehr, als du in der
-juristischen Fakultät bist. Ich bin mit ihr vollkommen einig, lieber
-Rodja, teile alle ihre Pläne und Hoffnungen und halte ihre völlige
-Verwirklichung für möglich. Und trotzdem Peter Petrowitsch sich jetzt
-zurückhaltend verhält, was sehr erklärlich ist, da er dich noch nicht
-kennt, so ist Dunja fest überzeugt, daß sie alles durch ihren guten
-Einfluß auf ihren künftigen Mann erreichen wird. Wir haben uns natürlich
-in acht genommen, Peter Petrowitsch etwas von unseren Zukunftsträumen
-und hauptsächlich davon, daß du sein Kompagnon werden sollst, merken zu
-lassen. Er ist ein nüchterner Mann und hätte es vielleicht sehr kalt
-aufgenommen, weil er alles für Phantasterei angesehen hätte. Ebensowenig
-haben wir, weder ich, noch Dunja, einen Ton über unsere feste Hoffnung
-gesprochen, daß er uns helfen soll, dich mit Geld zu unterstützen,
-solange du auf der Universität bist; wir haben es deswegen unterlassen,
-weil es sich späterhin jedenfalls von selbst ergeben und weil er sicher
-ohne viele Worte es uns anbieten wird -- (er wird doch Dunetschka es
-nicht abschlagen können!) -- um so mehr, als du seine rechte Hand im
-Bureau werden kannst, und diese Unterstützung nicht als eine Wohltat,
-sondern als verdientes Gehalt empfangen sollst. Dunetschka will es so
-einrichten, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden. Außerdem
-unterließen wir es, darüber zu sprechen, weil ich bei eurer
-bevorstehenden Begegnung dich auf gleichem Fuße mit ihm stehen sehen
-wollte. Wenn Dunja mit ihm voll Entzücken über dich sprach, antwortete
-er, daß man jeden Menschen selbst zuerst sehen, und zwar sehr nah sehen
-müsse, um über ihn urteilen zu können, und daß er sich das Recht
-vorbehalte, seine Meinung über dich zu bilden, erst nachdem er dich
-kennengelernt habe. Weißt du was, mein teurer Rodja, mir scheint es aus
-gewissen Gründen, -- die übrigens gar nichts mit Peter Petrowitsch zu
-tun haben, sondern so meine eigenen gewissen, persönlichen, vielleicht
-auch altweibischen Launen sind, -- also mir scheint es, daß ich
-vielleicht besser tue, wenn ich nach ihrer Verheiratung allein, so wie
-jetzt, und nicht mit ihnen zusammenleben werde. Ich bin völlig
-überzeugt, daß er so erkenntlich und zartfühlend sein wird, selber mir
-das Angebot zu machen, bei der Tochter zu bleiben und wenn er darüber
-bis jetzt nicht gesprochen hat, so kam es selbstverständlich daher, weil
-es auch ohne Worte so anzunehmen ist, aber ich will es ablehnen. Ich
-habe in meinem Leben mehr als einmal erfahren, daß Schwiegermütter den
-Männern nicht besonders genehm sind, und ich möchte niemandem im
-geringsten zur Last fallen und möchte auch selbst vollkommen frei sein,
-solange ich noch einen Bissen zu essen und solche Kinder, wie dich und
-Dunetschka, zu lieben habe. Wenn es mir möglich ist, will ich mich in
-der Nähe von euch beiden niederlassen, denn das angenehmste habe ich zum
-Schluß des Briefes aufgehoben, Rodja. Erfahre nun, mein lieber Freund,
-daß wir alle vielleicht sehr bald wieder zusammen sein und alle drei uns
-nach fast dreijähriger Trennung umarmen werden! Es ist schon _bestimmt_
-beschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg kommen, wann aber -- das
-weiß ich noch nicht, in jedem Falle sehr, sehr bald, vielleicht schon in
-einer Woche. Alles hängt von den Anordnungen Peter Petrowitschs ab, der
-uns sofort, wenn er sich in Petersburg umgesehen hat, Nachricht geben
-will. Er will die Vorbereitungen zur Heirat aus verschiedenen Erwägungen
-möglichst beschleunigen, und wenn möglich, die Hochzeit noch vor dem
-großen Fasten feiern, sollte es aber infolge der kurzen Frist nicht
-ausführbar sein, dann gleich nach den Osterfeiertagen. Oh, mit welch
-einem Glück werde ich dich an mein Herz pressen! Dunja ist vor Freude
-dich wiederzusehen ganz aufgeregt und sagte einmal im Scherz, daß sie
-schon deswegen allein Peter Petrowitsch heiraten würde. Sie ist ein
-Engel! Sie schreibt dir nicht, hat mich aber gebeten, dir zu schreiben,
-daß sie über so vieles mit dir sprechen müsse, über so vieles, daß ihre
-Hand sich jetzt gegen die Feder sträube, denn in ein paar Zeilen könne
-man nichts mitteilen, sondern sich nur aufregen. Sie bat mich, dich
-innig, innig zu umarmen und dir unzählige Küsse zu senden. Trotzdem wir
-uns vielleicht sehr bald sehen werden, will ich dir doch in diesen Tagen
-Geld, soviel ich vermag, zuschicken. Jetzt, wo alle wissen, daß
-Dunetschka Peter Petrowitsch heiratet, hat sich auch mein Kredit
-plötzlich gebessert, und ich weiß bestimmt, daß Afanassi Iwanowitsch mir
-jetzt auf Konto der Pension sogar bis zu fünfundsiebzig Rubel zu leihen
-bereit ist, so daß ich dir vielleicht fünfundzwanzig oder auch dreißig
-Rubel schicken kann. Ich würde noch mehr schicken, aber ich fürchte
-unsere Reisekosten. Obwohl Peter Petrowitsch so gut war, einen Teil der
-Ausgaben für unsere Reise nach der Residenz zu übernehmen, -- er hat
-sich nämlich selbst angeboten, unser Gepäck und einen großen Koffer für
-seine Rechnung hinzuschicken (er arrangiert es in irgendeiner Weise
-durch Bekannte), müssen wir doch mit der Reise nach Petersburg rechnen
-und damit, daß man dort nicht ohne einen Groschen ankommen kann und
-wenigstens für die ersten paar Tage das Nötige haben muß. Wir haben
-übrigens alles genau überschlagen, und es zeigte sich, daß uns die Reise
-nicht zu teuer zu stehn kommt. Von uns bis zur Eisenbahn sind es nur
-neunzig Werst, und wir haben für jeden Fall mit einem bekannten Bauern
-schon abgeschlossen; die Fortsetzung der Reise aber werden wir, ich und
-Dunetschka, glücklich und zufrieden in der dritten Klasse machen. Dann
-kriege ich es vielleicht fertig, dir nicht nur fünfundzwanzig, sondern
-dreißig Rubel zu schicken. Nun aber genug: zwei Bogen habe ich voll
-geschrieben und es ist kein Platz mehr da. Unsere ganze Geschichte habe
-ich dir erzählt, -- nun, es hat sich auch ein Haufen Ereignisse
-angesammelt. Jetzt, mein teurer Rodja, umarme ich dich bis zu unserem
-nahen Wiedersehen und sende dir meinen mütterlichen Segen. Rodja, liebe
-deine Schwester Dunja; liebe sie so, wie sie dich liebt, und vergiß
-nicht, daß sie dich grenzenlos, mehr als sich selbst, liebt. Sie ist ein
-Engel und du Rodja, bist unser alles, unsere ganze Hoffnung und unser
-Trost. Sei du bloß glücklich, dann werden auch wir glücklich sein.
-Betest du zu Gott, Rodja, wie früher und glaubst du auch an die Güte des
-Schöpfers und unseres Erlösers? Ich fürchte im Herzen, daß der neueste
-moderne Unglaube auch dich berührt haben kann. Wenn es so ist, dann bete
-ich für dich. Erinnerst du dich, mein Lieber, wie du, als dein Vater
-noch lebte, in deiner Kindheit auf meinen Knien deine Gebete
-stammeltest, und wie glücklich waren wir alle damals. Lebe wohl, oder
-besser, -- _auf Wiedersehen_! Ich umarme dich innig, innig und küsse
-dich unzähligemal.
-
- Dein bis zum Tode
- Pulcheria Raskolnikowa.«
-
-Fast die ganze Zeit, während Raskolnikoff den Brief las, von den ersten
-Zeilen an, war sein Gesicht naß von Tränen; als er aber geendet hatte,
-war sein Gesicht bleich und zuckte, und ein hartes, bitteres, böses
-Lachen lag auf seinen Lippen. Er lehnte seinen Kopf an das dünne und
-abgenutzte Kissen und dachte lange, lange nach. Sein Herz schlug stark,
-und die Gedanken wogten hin und her. Es wurde ihm schließlich zu dumpf
-und eng in dieser gelben Kammer, die einem Käfig oder einem Kasten
-glich. Die Augen und die Gedanken verlangten eine freie Weite. Er nahm
-seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu
-begegnen: das hatte er vergessen. Er schlug den Weg in der Richtung nach
-Wassiljew Ostroff ein, den W.ski-Prospekt entlang, als hätte er dort
-eine eilige Angelegenheit, er ging aber, wie es seine Gewohnheit war,
-ohne den Weg zu beachten, flüsterte vor sich hin und sprach hin und
-wieder laut mit sich selbst; so daß er den Vorübergehenden auffiel, und
-viele hielten ihn für betrunken.
-
-
- IV.
-
-Der Brief der Mutter hatte ihn sehr erschüttert. Über die Hauptsache
-aber, das Moment, um das sich alles drehte, war er auch nicht einen
-Augenblick im Zweifel, nicht einmal während des Lesens. Ihrem Wesen nach
-war die Sache für ihn entschieden: »Diese Heirat kommt nicht zustande,
-solange ich lebe, und hol' der Teufel den Herrn Luschin!«
-
-»Die ganze Geschichte ist klipp und klar,« murmelte er höhnisch lachend
-und im voraus triumphierend über die Folgen seines Entschlusses. »Nein,
-liebe Mama, nein, Dunja, ihr könnt mich nicht täuschen! ... Und da
-entschuldigen sie sich, daß sie mich nicht um Rat gefragt und ohne mich
-die Sache gemacht haben! Haben auch Grund dazu! Sie meinen, daß man es
-nicht mehr zerreißen kann; wir wollen mal sehen, ob es möglich ist oder
-nicht! Sie haben auch eine glänzende Ausrede gefunden -- Peter
-Petrowitsch sei so beschäftigt, so beschäftigt, daß er nicht anders, als
-per Postpferde, fast per Eisenbahn, heiraten kann. Nein, Dunetschka, ich
-durchschaue alles und weiß, worüber du mit mir _so viel_ sprechen
-möchtest. Ich weiß auch, worüber du die ganze Nacht im Zimmer auf- und
-abgehend nachgedacht hast, und was du vor dem Bilde der Gottesmutter,
-das bei Mama im Schlafzimmer hängt, gebetet hast. Es ist schwer,
-Golgatha hinaufzugehen ... Hm ... Also es ist endgültig beschlossen.
-Awdotja Romanowna, Sie geruhen also einen tüchtigen und resoluten Mann
-zu heiraten, der eigenes Vermögen besitzt -- (der _schon_ eigenes
-Vermögen besitzt, das ist solider und ehrfurchtgebietender) -- der zwei
-Stellungen einnimmt und der die Überzeugungen unserer jüngeren
-Generation teilt (wie Mama sagt) und der, wie es scheint, gut ist, wie
-Dunetschka selbst sagt. Dieses >_wie es scheint_< ist das großartigste
-dabei! Und Dunetschka heiratet dieses >_wie es scheint_<! ... Großartig!
-Großartig!
-
-Es ist jedoch interessant, warum Mama mir über >die jüngere Generation<
-geschrieben hat? Bloß um die Person zu charakterisieren oder mit einer
-weitliegenden Absicht, -- um mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen?
-Oh, ihr Schlauen! Es wäre auch interessant, noch einen Umstand
-aufzuklären, -- wie weit war an jenem Tage und in jener Nacht ihre
-beiderseitige Offenherzigkeit und auch in der folgenden Zeit? Wurde
-_alles_ unter ihnen Wort für Wort besprochen, oder haben beide gefühlt,
-daß sie, eine wie die andere, ein und dasselbe auf dem Herzen hatten, so
-daß es überflüssig war, alles laut werden zu lassen und womöglich zu
-viel zu sagen. Sicher war es größtenteils so gewesen; man sieht's aus
-dem Briefe. Mama schien er _ein wenig_ hart, und die naive Mama wandte
-sich sofort an Dunja mit Bemerkungen. Die wurde selbstverständlich böse
-und >antwortete verstimmt<. Das ist begreiflich! Wen wird es nicht
-wütend machen, wenn eine Sache auch ohne naive Fragen klar genug ist,
-und wenn ausgemacht ist, daß daran nicht mehr zu rütteln ist. Und warum
-schreibt sie mir: >Rodja, liebe Dunja! Sie liebt dich mehr als sich
-selbst<. Wird sie etwa im geheimen von Gewissensbissen gequält, daß sie
-eingewilligt hat, die Tochter für den Sohn zu opfern. >Du bist unser
-Trost, du bist unser Alles! Oh, Mama! ...<«
-
-Der Zorn packte ihn immer stärker, und wäre Herr Luschin ihm jetzt
-begegnet, er hätte sich an ihm vergriffen!
-
-»Hm ... das ist wahr,« spann er die Gedanken weiter, die sich wie im
-Wirbelwinde in seinem Kopfe drehten. »Das ist wahr, daß man sich >einem
-Menschen allmählich und vorsichtig nähern muß, um ihn kennenzulernen,<
-Herr Luschin ist einem auch so verständlich. Die Hauptsache ist >ein
-tüchtiger und _wie es scheint_ guter Mensch<; es hat ja was zu sagen,
-daß er das Gepäck übernommen hat und für seine Rechnung den großen
-Koffer transportiert! Nun, ist er denn nicht gut? Die beiden aber, _die
-Braut_ und die Mutter, akkordieren mit einem Bauern und reisen in einem
-mit Strohmatten gedeckten Wagen -- ich kenn es ja selber! Das hat ja
-auch nichts zu sagen! Es sind bloß neunzig Werst, weiter aber >fahren
-wir zufrieden und glücklich dritter Klasse< -- also über tausend Werst.
-Es ist auch vernünftig, -- man muß sich nach der Decke strecken; aber
-Sie, Herr Luschin, was denken Sie dabei? Es ist ja Ihre Braut ...
-Sollten Sie etwa nicht wissen, daß Mutter sich das Geld zur Reise auf
-ihre Pension hin leiht? Gewiß, Sie haben hier ein gemeinsames
-kaufmännisches Geschäft, ein Unternehmen auf gegenseitigen Vorteil und
-mit gleichlautenden Anteilen, folglich fallen die Ausgaben auch in
-gleiche Teile; wie nach dem Sprichworte, -- Salz und Brot zusammen,
-Tabak aber jeder für sich. Ja, aber auch hier hat der geschäftstüchtige
-Mann die beiden ein wenig übers Ohr gehauen, -- das Gepäck kommt ihm
-billiger als ihre Reise zu stehen, und vielleicht kostet das Gepäck ihm
-gar nichts. Sehen denn beide es nicht oder wollen sie es nicht sehen?
-Sie sind ja zufrieden, sind beide zufrieden! Wenn man aber denkt, daß
-dies erst der Anfang ist und daß das dicke Ende später nachkommt! Was
-fällt einem hier am meisten auf, -- nicht der Geiz, nicht die schmutzige
-Rechnerei, sondern _der Ton_ des Ganzen. Das ist ja der künftige Ton
-nach der Verheiratung, die warnende Prophezeiung ... Ja, und die Mama,
-warum ist sie so flott? Mit was kommt sie nach Petersburg? Mit drei
-Rubel oder mit zwei >Scheinchen,< wie die ... Alte sagt ... hm! Wovon
-will sie denn in Petersburg leben? Sie hat schon aus irgendwelchen
-Anzeichen herausgefunden, daß sie mit Dunja nach der Verheiratung nicht
-zusammenleben kann, nicht mal in der ersten Zeit. Der liebe Mensch hat
-sich auch hier sicher irgendwie versprochen, hat es zu verstehen
-gegeben, obwohl Mama sich mit beiden Händen dagegen sträubt, -- >ich
-will,< sagt sie, >es selbst ablehnen<. Ja, auf was hofft sie denn noch
--- mit ihrer Pension von hundertundzwanzig Rubel, von der noch die
-Schuld an Afanassi Iwanowitsch abgezogen wird? Sie strickt dann zu Hause
-Tücher, stickt Manschetten und verdirbt sich die alten Augen, und das
-bringt ihr zwanzig Rubel im Jahre ein zu der Pension, das kenne ich.
-Also, hofft man doch und baut auf die Freigiebigkeit und die Großmut des
-Herrn Luschin. >Er wird es mir selbst anbieten,< meint sie, >wird mich
-darum bitten.< Nein, darauf kann sie lange warten. So geht es stets
-diesen schönen Schillerschen Seelen, -- bis zum letzten Moment schmücken
-sie einen Menschen mit Pfauenfedern, bis zum letzten Moment glauben sie
-an das Gute und nicht an das Böse im Menschen; obwohl sie die Kehrseite
-der Medaille ahnen, belügen sie sich lieber selbst, weil sie sich vor
-der Wahrheit fürchten. Mit beiden Händen wehren sie sich dagegen, bis
-ihnen schließlich der ausgeschmückte Mensch eigenhändig einen
-Nasenstüber gibt. Es wäre interessant zu wissen, ob Herr Luschin Orden
-hat; ich gehe eine Wette ein, daß er den Orden der heiligen Anna im
-Knopfloche stecken hat und daß er ihn zu Diners bei allerhand Kaufleuten
-und Lieferanten trägt. Vielleicht wird er ihn auch zur Feier seiner
-Hochzeit anlegen! übrigens, hol ihn der Teufel! ... Nun, gegen Mama ist
-nichts zu sagen, sie ist einmal so, aber was ist mit Dunja? Liebe
-Dunetschka, ich kenne sie doch! Sie war bereits zwanzig Jahre alt, als
-wir uns zum letztenmal sahen, ihren Charakter habe ich schon damals
-verstanden. Die Mama schreibt >Dunetschka kann vieles ertragen<. Das
-wußte ich schon früher. Das wußte ich bereits vor zweiundeinhalb Jahren,
-und seit jener Zeit habe ich nachgedacht, zweiundeinhalb Jahre habe ich
-gerade darüber nachgedacht, wie vieles Dunetschka ertragen kann? Denn
-Herrn Sswidrigailoff mit all dem Folgenden ertragen zu können, heißt
-viel ertragen können. Jetzt aber meint sie, wie auch Mama, daß man den
-Herrn Luschin als zukünftigen Ehemann ebenfalls ertragen kann, der die
-Theorie über die Vorzüge von Frauen vertritt, die von Hause aus
-bettelarm sind und folglich von ihren Männern nur Wohltaten empfingen,
-und der dies fast bei der ersten Zusammmkunft auseinandersetzt. Nun,
-gut, wollen wir annehmen, er habe >sich versprochen,< obwohl er doch ein
-verständiger Mann ist, der sich vielleicht gar nicht versprochen,
-sondern sofort ihre richtige Stellung klargestellt wissen wollte, aber
-Dunja, Dunja, was ist mit ihr? Sie durchschaut doch den Menschen klar
-und deutlich, und muß mit ihm leben. Sie würde lieber schwarzes Brot
-essen und Wasser dazu trinken, als ihre Seele verkaufen; sie würde ihre
-sittliche Freiheit für keinen Komfort hergeben; für ganz
-Schleswig-Holstein würde sie sie nicht hergeben, geschweige denn für
-einen Herrn Luschin. Nein, Dunja war nicht so, soweit ich sie kannte,
-und ... hat sich sicher nicht verändert! ... Was ist da zu sagen!
-Sswidrigailoffs sind bitter! Es ist bitter, sein ganzes Leben als
-Gouvernante für zweihundert Rubel in der Provinz herumzuwandern, aber
-ich weiß, daß meine Schwester lieber als Neger zu einem
-Plantagenbesitzer oder als lettischer Bauer zu einem Deutschen in den
-Ostseeprovinzen sich verdingen würde, als ihren Geist und ihr sittliches
-Empfinden durch die Verbindung mit einem Manne zu besudeln, den sie
-nicht achtet und mit dem sie nichts verbindet -- auf ewig, aus
-persönlichem Vorteil bloß! Und wäre Herr Luschin sogar aus reinstem
-Golde oder aus einem einzigen Brillanten, auch dann würde sie nie
-einverstanden sein, die gesetzliche Bettgenossin des Herrn Luschin zu
-werden! Warum willigt sie denn ein? Wo ist der Schlüssel? Wo ist die
-Lösung? Die Sache ist klar, -- ihrer selber wegen, um eigener
-Annehmlichkeiten willen, selbst um sich vor dem Tode zu retten, wird sie
-sich nicht verkaufen, für einen anderen aber verkauft sie sich! Für
-einen geliebten, für einen vergötterten Menschen verkauft sie sich! Da
-haben wir das ganze Rätsel, -- für den Bruder, für die Mutter verkauft
-sie sich, verkauft ihr Bestes. Oh, hier wird man auch bei Gelegenheit
-das sittliche Empfinden unterdrücken; man wird die Freiheit, die Ruhe,
-das Gewissen sogar, alles, alles -- auf den Trödelmarkt bringen. Fahr
-dahin, Leben! Mögen bloß diese geliebten Wesen glücklich sein! Nicht
-genug dessen, man denkt sich noch eine eigene Kasuistik aus, geht bei
-den Jesuiten in die Lehre und beruhigt sich selbst vielleicht für eine
-Zeit, überzeugt sich selbst, daß es so gut sei, tatsächlich für einen
-guten Zweck nötig sei. Man ist nun einmal so, und alles ist so klar wie
-der Tag. Es ist ja selbstredend, daß hier niemand anders als Rodion
-Romanowitsch Raskolnikoff mitspricht und im Vordergrunde steht. Nun,
-warum denn auch nicht, -- man kann sein Glück begründen, ihn auf der
-Universität unterstützen, ihn zum Teilhaber machen, sein ganzes
-Schicksal sichern. Vielleicht wird er später ein reicher Mann, wird als
-angesehener, geachteter, auch vielleicht als berühmter Mann sein Leben
-beenden! Und die Mutter? Ja, es handelt sich um Rodja, den teuren Rodja,
-den Erstgeborenen! Und warum soll man nicht um solch eines Erstgeborenen
-willen selbst die Tochter opfern! Oh, ihr lieben und einfältigen Seelen!
-Man wird in diesem Falle vielleicht auch das Los einer Ssonjetschka
-nicht verschmähen! Ssonjetschka, Ssonjetschka Marmeladowa, die ewige
-Ssonjetschka, solange die Welt besteht! Habt ihr beide auch das Opfer,
-dieses Opfer genau ermessen? Habt ihr es? Reicht die Kraft aus? Ist es
-zum Besten? Ist es vernünftig? Wissen Sie auch Dunetschka, daß das Los
-von Ssonjetschka in keiner Weise schlimmer ist als Ihr Los mit Herrn
-Luschin? >Liebe ist nicht vorhanden,< schreibt die Mama. Was, wenn aber
-außer Liebe auch keine Achtung vorhanden ist, sondern im Gegenteil sich
-Widerwille, Verachtung und Ekel schon eingestellt haben, was dann? Und
-es kommt dabei auf eins heraus, daß man auch hier _auf Sauberkeit
-achtgeben_ muß. Ist es nicht etwa so? Verstehen Sie, verstehen Sie auch,
-was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Verstehen Sie, daß die Sauberkeit
-der Frau von Luschin gleichbedeutend mit der Sauberkeit von Ssonjetschka
-ist, vielleicht aber auch schlimmer, gemeiner und ekliger, weil Sie,
-Dunetschka, doch mit einem Überschuß von Annehmlichkeiten rechnen, dort
-aber handelt es sich einfach ums Verhungern! Diese Sauberkeit kommt
-teuer, sehr teuer zu stehen, Dunetschka! Und wenn nun die Kräfte nicht
-ausreichen, werden Sie es bereuen? Wieviel Kummer, Trauer, Flüche und
-Tränen folgen nach, tief verborgen, da Sie doch keine Marfa Petrowna
-sind! Und was wird dann aus der Mutter werden? Sie ist jetzt schon voll
-Unruhe und quält sich; wie dann, wenn sie alles klar und deutlich
-durchschauen wird? Und was wird mit mir? ... Ja, was haben Sie denn
-tatsächlich von mir gedacht? Ich will Ihr Opfer nicht, Dunetschka, ich
-will es nicht, Mama! Es soll nicht geschehen, solange ich lebe, es soll
-nicht sein, nicht sein! Ich nehme es nicht an!«
-
-Er kam plötzlich zu sich und blieb stehen.
-
-»Es soll nicht geschehen! Was willst du denn tun, damit es nicht
-geschieht? Willst du es verbieten? Was für ein Recht hast du? Was kannst
-du ihnen versprechen, um dir solch ein Recht anzueignen? Dein ganzes
-Schicksal, die ganze Zukunft ihnen widmen, _wenn du die Universität
-absolviert und eine Stelle erhalten hast_? Davon haben wir gehört, das
-sind aber _Träume_, was nun, jetzt? Es muß doch jetzt etwas, sofort
-etwas getan werden, verstehst du? Was tust du jetzt? Du beraubst sie.
-Sie erhalten das Geld, indem sie die Pension von hundert Rubel versetzen
-und sich bei den Herrschaften Sswidrigailoff verdingen. Wie willst du
-sie, du zukünftiger Millionär, du Zeus, der über das Schicksal verfügt,
-wie willst du sie vor Sswidrigailoffs, vor Afanassi Iwanowitsch
-Wachruschin bewahren? Etwa nach zehn Jahren? Inzwischen wird die Mutter
-vor lauter Stricken, vielleicht auch von Weinen, längst erblindet sein;
-vielleicht vor lauter Fasten zugrunde gehen. Und die Schwester? Denk mal
-nach, was nach zehn Jahren oder in diesen zehn Jahren mit der Schwester
-geschehen kann? Ist es dir gegenwärtig?«
-
-So quälte er sich und peitschte sich mit diesen Fragen; es bereitete ihm
-sogar einen gewissen Genuß. Und alle diese Fragen sie waren ihm nicht
-neu und unerwartet; sie waren alt, lange herumgetragen und längst
-vorhanden. Sie marterten sein Herz schon lange. Seit langer, sehr langer
-Zeit war in ihm diese Schwermut entstanden, war gewachsen, hatte sich
-angesammelt, war zur Reife gekommen, hatte sich konzentriert und die
-Form der entsetzlichen, wilden und phantastischen Frage angenommen, die
-sein Herz und seinen Kopf marterte und nach einer Lösung schrie. Der
-Brief von der Mutter hatte ihn jetzt wie ein Blitz getroffen. Jetzt war
-keine Zeit mehr, schwermütig zu sein, passiv zu leiden und zu erwägen,
-daß die Fragen unlösbar sind, sondern es muß unbedingt gehandelt werden,
-schnell gehandelt werden. Um jeden Preis muß ich mich für etwas
-entscheiden oder ...
-
-»Oder sich vom Leben ganz und gar lossagen!« rief er plötzlich in
-größter Erregung aus. -- »Das Schicksal, so wie es ist, ein für allemal
-geduldig hinnehmen und alles in sich ersticken, sich von jeglichem
-Rechte zu wirken, zu leben und zu lieben, lossagen!«
-
-»Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man
-nirgendwo mehr hingehen kann?« erinnerte er sich plötzlich der gestrigen
-Frage Marmeladoffs, »denn es müßte doch so sein, daß jeder Mensch
-irgendwo hingehen könnte ...«
-
-Plötzlich zuckte er zusammen, -- ein Gedanke, auch von gestern, ging
-wieder durch seinen Kopf. Er zuckte aber nicht zusammen, weil dieser
-Gedanke ihm neu war. Er kannte ihn schon, _er ahnte_, daß er unbedingt
-»kommen wird« und erwartete ihn sogar; auch war er nicht erst vom
-gestrigen Tage. Aber das andere war, daß dieser Gedanke vor einem Monat
-und von gestern noch bloß ein Traum war, jetzt aber ... jetzt erschien
-er ihm nicht mehr als Traum, sondern in einem neuen drohenden und völlig
-unbekannten Lichte, und er wurde dessen plötzlich bewußt ... Mit
-Keulenhieben schlug es ihn nieder, und vor seinen Augen wurde es dunkel.
-Er sah sich schnell um, als suche er etwas. Er wollte sich hinsetzen und
-suchte eine Bank; er war auf dem K.schen Boulevard. Nicht weit von ihm,
-etwa hundert Schritte, bemerkte er eine. Er ging eiligst darauf zu, auf
-dem Wege dahin aber ereignete sich ein Zwischenfall, der auf einige
-Minuten seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
-
-Während er sich nach einer Bank umsah, bemerkte er -- ungefähr zwanzig
-Schritte vor sich -- eine Frauensperson, zuerst schenkte er ihr so wenig
-Beachtung, wie all den Gegenständen, die an ihm vorbeiglitten. Es
-geschah ihm oft, daß er nach Hause kam und sich des Weges nicht entsann,
-den er gegangen war; so dahinzuwandern war ihm zur Gewohnheit geworden.
-Die Frauensperson aber, die vor ihm ging, hatte so etwas Sonderbares und
-Auffallendes an sich, daß seine Aufmerksamkeit allmählich an ihr haften
-blieb, -- zuerst gegen seinen Willen und zu seinem Verdruß, dann aber
-mit sich steigerndem Interesse. Er wollte sich klarmachen, was an dieser
-Frauensperson Sonderbares war. Sie war wahrscheinlich ein noch sehr
-junges Mädchen; ging in dieser Hitze mit unbedecktem Kopfe, ohne
-Sonnenschirm und ohne Handschuhe und pendelte eigentümlich mit den
-Armen. Sie hatte ein leichtes seidenes Kleidchen an, das sehr bedenklich
-angezogen und kaum zugeknöpft war, und hinten an der Taille, gerade, wo
-der Rock anfing, war es zerrissen, ein ganzes Stück hing lose herunter.
-Um den entblößten Hals war ein kleines Tuch umgeworfen und fiel auf der
-einen Seite schief herab. Außerdem fiel es ihm auf, daß das Mädchen
-unsicher ging, stolperte und sogar schwankte. Diese Erscheinung erregte
-also die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikoffs. Er holte das Mädchen bei
-der Bank ein; sie aber warf sich in eine Ecke der Bank, lehnte den Kopf
-an die Rücklehne und schloß die Augen, anscheinend vor äußerster
-Ermattung. Als Raskolnikoff sie näher ansah, begriff er sofort, daß sie
-völlig betrunken war. Es war ein so sonderbarer und widerwärtiger
-Anblick, daß er an seiner Wirklichkeit zweifelte. Er sah vor sich ein
-junges Gesichtchen von sechzehn, oder gar erst fünfzehn Jahren, mit
-hellblonden Haaren, sehr hübsch, aber unnatürlich gerötet und allem
-Anscheine nach ein wenig aufgedunsen. Das junge Mädchen schien nicht
-ganz bei Bewußtsein zu sein; das eine Bein hatte sie über das andere
-geschlagen und weiter vorgestreckt, als anständig war; jedenfalls war es
-ihr nicht bewußt, daß sie auf der Straße war.
-
-Raskolnikoff setzte sich nicht hin, wollte aber auch nicht weggehen; er
-blieb unschlüssig vor ihr stehen. Dieser Boulevard ist immer ziemlich
-leer, jetzt aber in der zweiten Nachmittagsstunde und bei dieser Hitze
-war fast niemand zu sehen. Nur etwa fünfzehn Schritte weiter, am Ende
-des Boulevards war seitwärts ein Herr stehengeblieben, der allem
-Anscheine nach die größte Lust hatte, an das junge Mädchen mit gewissen
-Absichten heranzutreten. Er hatte sie wahrscheinlich von weitem erblickt
-und war ihr nachgeeilt, Raskolnikoff aber hatte seinen Weg gekreuzt. Er
-warf ihm feindliche Blicke zu, die unbemerkt bleiben sollten und wartete
-voll Ungeduld, bis der Lump fortgegangen wäre, und er zu seinem Rechte
-käme. Die Sache war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, kräftig,
-wohlgenährt, mit roten Lippen und kleinem Schnurrbart, und sehr elegant
-gekleidet. Raskolnikoff ärgerte sich über ihn; er bekam plötzlich Lust,
-diesen gutgenährten Gecken in irgendeiner Weise zu beleidigen. So
-verließ er das junge Mädchen und trat an den Herrn heran.
-
-»He, Sie Sswidrigailoff! Was suchen Sie hier?« rief er ihm zu, ballte
-die Fäuste und lachte mit vor Wut bleichen Lippen.
-
-»Was soll das heißen?« fragte der Herr streng, zog die Augenbrauen
-zusammen und maß ihn mit einem hochmütigen Blick.
-
-»Sie sollen sich packen, heißt das!«
-
-»Wie wagst du, Kanaille! ...«
-
-Und er erhob sein Stöckchen. Raskolnikoff stürzte sich mit geballten
-Fäusten auf ihn, vollständig vergessend, daß der kräftige Herr mit ein
-_paar_ solchen, wie er, fertig würde. In diesem Augenblicke aber packte
-ihn jemand von hinten, und zwischen beide trat ein Schutzmann.
-
-»Ich bitte, meine Herren, sich nicht an öffentlichen Plätzen zu prügeln.
-Was wünschen Sie? Wer bist du?« wandte er sich streng an Raskolnikoff,
-nachdem er dessen Lumpen erblickt hatte.
-
-Raskolnikoff sah ihn aufmerksam an. Es war ein braves Soldatengesicht
-mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem verständigen Blick.
-
-»Sie brauche ich gerade,« rief er aus und faßte ihn bei der Hand. »Ich
-bin der ehemalige Student Raskolnikoff ... Das können auch Sie
-erfahren!« wandte er sich an den Herrn. »Kommen Sie bitte mit, ich will
-Ihnen etwas zeigen ...«
-
-Er nahm den Schutzmann bei der Hand und führte ihn zu der Bank.
-
-»Sehen Sie, sie ist ganz betrunken, soeben kam sie von dem Boulevard
-her. Wer weiß, wer sie ist, aber sie sieht nicht aus, wie eine
-gewerbsmäßige. Es ist wahrscheinlicher, daß man sie irgendwo betrunken
-gemacht und verführt hat ... zum erstenmal ... verstehen Sie ... und hat
-sie dann auf die Straße gebracht. Sehen Sie, wie das Kleid zerrissen
-ist, sehen Sie, wie es angezogen ist, -- man hat sie angekleidet, nicht
-sie selber, und ungeschickte Hände, Männerhände haben sie angekleidet.
-Das sieht man doch. Sehen Sie aber bitte dorthin, -- diesen Geck, mit
-dem ich mich soeben beinahe geprügelt hätte, kenne ich nicht, ich sehe
-ihn zum erstenmal. Er hat sie auch auf der Straße bemerkt, hat gesehen,
-daß sie betrunken, besinnungslos betrunken ist, und nun möchte er
-furchtbar gern an sie herankommen, und sie abfangen, und sie in diesem
-Zustande irgendwo hinschleppen ... Es ist sicher so, glauben Sie mir,
-ich irre mich nicht. Ich habe gesehen, wie er sie beobachtet und
-verfolgt hat, ich habe ihn bloß daran gehindert, und er wartet nun, bis
-ich weggehe. Sehen Sie, er ist jetzt ein paar Schritte weitergegangen
-und bleibt stehen, als drehe er sich eine Zigarette ... Wie können wir
-sie ihm entreißen? Wie können wir sie nach Hause schaffen, -- denken Sie
-doch darüber nach!«
-
-Der Schutzmann hatte im Nu alles verstanden und begriffen. Die Absichten
-des kräftigen Herrn waren ihm klar, mit dem jungen Mädchen aber mußte
-etwas geschehen. Der Veteran beugte sich über sie, um sie näher zu
-betrachten und ein aufrichtiges Mitleid drückte sich in seinen Zügen
-aus.
-
-»Ach, wie schade!« sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie ist ja noch
-ein Kind. Man hat sie verführt, das ist sicher. Hören Sie, mein
-Fräulein,« begann er sie zu rufen. »Wo wohnen Sie?«
-
-Das junge Mädchen öffnete die müden, schläfrigen Augen, blickte stumpf
-den Fragenden an und machte eine abwehrende Handbewegung.
-
-»Hören Sie,« sagte Raskolnikoff. »Hier haben Sie,« er suchte in der
-Tasche und zog zwanzig Kopeken hervor, die er noch fand, »hier haben Sie
-zu einer Droschke, und lassen Sie sie durch einen Kutscher nach Hause
-bringen. Wenn wir bloß Ihre Wohnung erfahren könnten.«
-
-»Fräulein, hören Sie, Fräulein!« begann von neuem der Schutzmann,
-nachdem er das Geldstück in Empfang genommen hatte. »Ich will Ihnen
-sofort eine Droschke besorgen und will Sie selbst begleiten. Wohin
-befehlen Sie? Ah? Wo wohnen Sie?«
-
-»Geht fort! ... Laßt mich in Ruhe! ...« murmelte das Mädchen und wehrte
-von neuem mit der Hand ab.
-
-»Ach, wie schlecht! Ach, welch eine Schande, Fräulein, welch eine
-Schande!« sagte der Schutzmann und schüttelte mit dem Kopfe, in
-Entrüstung und Mitleid. »Das ist eine Aufgabe!« wandte er sich an
-Raskolnikoff und sah ihn wieder flüchtig von Kopf bis zu Füßen an.
-Wahrscheinlich erschien er ihm merkwürdig, -- ein Mensch in solchen
-Lumpen, der Geld hergab.
-
-»Haben Sie sie weit von hier gefunden?« fragte er ihn.
-
-»Ich sagte Ihnen -- sie ging mit wankenden Schritten vor mir, hier, auf
-dem Boulevard. Als sie zu der Bank kam, fiel sie sofort hin.«
-
-»Ach, welch eine Schande jetzt in der Welt herrscht, Herrgott! So
-blutjung und schon betrunken! Man hat sie verführt, das ist sicher. Auch
-das Kleidchen ist zerrissen ... Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt
-um sich greift ... Ja, sie wird wahrscheinlich eine Adlige sein, von den
-armen ... Jetzt gibt es viele solche. Dem Aussehen nach ist sie von den
-zarten, ganz wie ein Fräulein ...« und er beugte sich wieder über sie.
-
-Vielleicht wuchsen bei ihm zu Hause auch solche Töchter heran, »ganz wie
-Fräuleins und von den zarten,« mit Gewohnheiten der Feinerzogenen und
-mit angenommener Modesucht ...
-
-»Die Hauptsache ist,« sagte Raskolnikoff, »daß dieser Schuft sie nicht
-bekommt! Warum soll er sie noch schänden! Man sieht ja, was er will,
-sehen Sie, der Schuft, er geht nicht weg.«
-
-Raskolnikoff sprach laut und zeigte mit der Hand auf ihn. Jener hörte es
-und wollte wieder böse werden, aber besann sich und begnügte sich mit
-einem verächtlichen Blick. Dann ging er langsam zehn Schritt weiter und
-blieb wieder stehen.
-
-»Das kann man verhindern, daß er sie bekommt,« antwortete der Schutzmann
-in Gedanken. »Wenn sie bloß sagen würde, wohin man sie bringen soll, so
-aber ... Fräulein, hören Sie, Fräulein!« er beugte sich zu ihr.
-
-Sie öffnete plötzlich die Augen, blickte aufmerksam die beiden an, als
-hätte sie etwas verstanden, stand von der Bank auf und ging in dieselbe
-Richtung zurück, woher sie gekommen war.
-
-»Pfui, schämt euch, könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen!« sagte sie und
-wehrte wieder mit der Hand ab.
-
-Sie ging schnell, aber auch, wie früher, stark schwankend.
-
-Der feine Herr ging ihr nach, aber in einer anderen Allee, und verlor
-sie nicht aus den Augen.
-
-»Haben Sie keine Sorge, ich will schon aufpassen!« sagte entschlossen
-der bärtige Schutzmann und folgte dem Mädchen.
-
-»Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt um sich greift!« wiederholte er
-laut und seufzte.
-
-Plötzlich schien Raskolnikoff mit einem Schlage wie verwandelt.
-
-»Hören Sie mal!« rief er dem Schutzmann nach. Der wandte sich um.
-
-»Lassen Sie es. Was geht es Sie an? Lassen Sie es. Möge er sich
-amüsieren« (er zeigte auf den Stutzer). »Was geht es Sie an?«
-
-Der Schutzmann begriff ihn nicht und starrte ihn an. Raskolnikoff lachte
-auf.
-
-»Na nu!« sagte der Schutzmann, machte eine abwehrende Handbewegung und
-ging dem Stutzer und dem jungen Mädchen nach; wahrscheinlich hielt er
-Raskolnikoff entweder für einen Verrückten oder für etwas Schlimmeres.
-
-»Meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen!« sagte Raskolnikoff wütend,
-als er allein zurückgeblieben war. »Nun, mag er auch von dem, von dem
-andern nehmen und das Mädchen mit ihm gehen lassen, damit wird es auch
-enden ... Und wozu habe ich mich hineingemischt? Um zu helfen? Steht es
-mir denn zu, jemand zu helfen? Habe ich denn ein Recht dazu? Mögen sie
-doch einander lebendig auffressen, -- was geht es mich an? Und wie
-durfte ich diese zwanzig Kopeken fortgeben? Gehören sie denn mir?«
-
-Bei diesen sonderbaren Worten wurde es ihm schwer zumute. Er setzte sich
-auf die nun leere Bank. Seine Gedanken waren verwirrt ... Und es war ihm
-kaum möglich, in diesem Augenblicke einen Gedanken zu fassen. Er wollte
-sich vollkommen vergessen, alles vergessen, dann erwachen und ganz von
-neuem beginnen ...
-
-»Armes Mädchen!« sagte er, nachdem er die leere Ecke der Bank erblickte.
-»Sie wird zu sich kommen, wird weinen, und dann erfährt es die Mutter
-... Zuerst wird sie sie schlagen, ihr die Rute geben, schmerzhaft und
-schmachvoll, vielleicht wird sie sie aus dem Hause jagen ... Und wenn
-sie sie nicht verjagt, werden es doch allerhand Darjas Franzowna
-erfahren, und das Mädchen wird aus einer Hand in die andere gehen ...
-Dann folgt das Krankenhaus -- und das passiert stets mit denen, die bei
-sehr ehrenwerten Müttern leben und im geheimen lose Streiche verüben, --
-nun, und dann ... folgt wieder das Krankenhaus ... Wein ... Kneipen ...
-und dann nochmals das Krankenhaus ... und in zwei oder drei Jahren ist
-sie ein Krüppel, und im ganzen hat sie ein Alter von neunzehn oder auch
-bloß achtzehn Jahren erreicht ... Habe ich denn nicht genug solche
-gesehen? Wie sind sie aber so geworden? So und nicht anders sind sie es
-geworden ... Pfui! Mögen Sie es! Man sagt, es muß so sein. Jedes Jahr,
-sagt man, muß ein gewisser Prozentsatz draufgehen ... irgendwohin ...
-wahrscheinlich zum Teufel, um die übrigen zu erfrischen und ihnen nicht
-hinderlich zu sein. Prozentsatz! Die Menschen haben in der Tat herrliche
-Worte gefunden, -- sie sind so beruhigend und wissenschaftlich noch
-dazu. Es ist gesagt -- ein Prozentsatz muß sein, also kein Anlaß, um
-sich zu beunruhigen. Ja, hätte man ein anderes Wort dafür, nun dann ...
-würde es vielleicht beunruhigender sein ... Was aber, wenn auch
-Dunetschka in irgendeiner Weise in diesen Prozentsatz hineinkommt! ...
-Und wenn nicht in diesen, dann in einen anderen! ... Aber wohin gehe ich
-denn?« -- dachte er plötzlich. -- »Sonderbar. Ich ging doch aus
-irgendeinem Grunde von Hause weg. Als ich den Brief gelesen hatte, ging
-ich fort ... Ich ging zu Rasumichin auf Wassiljew Ostroff ... jetzt
-erinnere ich mich. Aber wozu denn eigentlich? Und warum kam mir gerade
-jetzt der Gedanke zu Rasumichin zu gehen? Das ist sonderbar.«
-
-Er wunderte sich über sich selbst. Rasumichin war einer von seinen
-früheren Kommilitonen. Raskolnikoffs Eigentümlichkeit auf der
-Universität war, daß er fast keine Bekannten hatte, sich von allen
-zurückzog, zu niemandem hinging und ungern jemand bei sich empfing. Bald
-wandte man sich auch von ihm ab. Weder an gemeinsamen Zusammenkünften,
-noch an Gesprächen, noch an Zerstreuungen -- an nichts nahm er teil. Er
-arbeitete sehr eifrig, ohne auf sich Rücksicht zu nehmen; man achtete
-ihn deswegen, aber niemand liebte ihn. Er war sehr arm, abweisend stolz
-und unmitteilsam, als ob er etwas zu verheimlichen hätte. Manchem seiner
-Kommilitonen schien es, als sehe er auf sie alle, wie auf Unmündige
-herab, als hätte er sie alle in der Entwicklung, im Wissen und in
-Lebensanschauung überholt und als betrachte er ihre Anschauungen und
-ihre Interessen wie etwas Unreifes.
-
-Rasumichin war er aus irgendeinem Grunde nähergekommen, das heißt,
-eigentlich nicht so nähergekommen, daß er ihm gegenüber mitteilsam und
-offener geworden wäre. Man konnte eben zu Rasumichin in keinem anderen
-Verhältnisse stehn. Er war ein ungemein lustiger und mitteilsamer
-Bursche und gut bis zur Einfalt. Unter dieser Einfalt verbargen sich
-jedoch Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden wußten es, und alle
-liebten ihn. Er war sehr klug, konnte aber zuweilen wirklich täppisch
-sein. Sein Äußeres war charakteristisch -- hochgewachsen, hager,
-schwarzhaarig und immer schlecht rasiert. Zuweilen suchte er Händel und
-genoß den Ruf eines bärenstarken Menschen. Eines Nachts hatte er in
-einer lustigen Gesellschaft mit einem Hiebe einen baumlangen Hüter der
-Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unmenschlich, aber er konnte
-auch wieder gar nicht trinken; manchmal verübte er Streiche, die ans
-Unerlaubte grenzten, aber er konnte auch Ruhe halten. Rasumichin war es
-auch eigen, daß ihn kein Mißerfolg verblüffte, und das Schlimmste schien
-ihn nicht beugen zu können. Er vermochte es, gegebenenfalls auf einem
-Dachboden zu hausen, höllischen Hunger und ungewöhnliche Kälte zu
-ertragen. Er war sehr arm und verschaffte sich ganz und gar seinen
-Unterhalt durch alle möglichen Arbeiten, für die er eine Unmenge Quellen
-hatte. Einmal verbrachte er einen ganzen Winter im ungeheizten Zimmer
-und begründete es damit, daß es sich in der Kälte besser schliefe.
-Gegenwärtig war er ebenfalls gezwungen, die Universität zu verlassen,
-aber nicht auf lange Zeit, und er mühte sich aus allen Kräften, seine
-Verhältnisse zu verbessern, um das Studium wieder fortsetzen zu können.
-Raskolnikoff war seit vier Monaten nicht bei ihm gewesen, Rasumichin
-aber wußte sogar nicht dessen Wohnung. Vor zwei Monaten war er ihm
-einmal zufällig auf der Straße begegnet. Raskolnikoff aber hatte sich
-abgewandt und war sogar auf die andere Seite hinübergegangen, damit
-Rasumichin ihn nicht sehen sollte. Rasumichin hatte ihn wohl erkannt,
-ging aber ebenso vorbei, weil er _den Freund_ nicht stören wollte.
-
-
- V.
-
-»Ich hatte noch vor kurzem wirklich die Absicht, Rasumichin um Arbeit zu
-bitten, daß er mir Stunden oder etwas anderes verschaffen solle ...«
-dachte Raskolnikoff. -- »Aber womit kann er mir jetzt helfen? Gesetzt
-den Fall, er verschafft mir Stunden, ja, gesetzt den Fall, er teilt mit
-mir sein letztes Gerstchen, wenn er eines hat, so daß ich mir selbst
-Stiefel kaufen und meine Kleidung instand setzen kann, um Stunden zu
-geben ... hm ... Aber was weiter? Was kann ich mit den paar Groschen
-machen? Ist es das, was ich jetzt brauche? Es ist lächerlich, daß ich zu
-Rasumichin gehe ...«
-
-Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehe, beunruhigte ihn mehr, als
-er sich selbst eingestehen wollte, und voll Unruhe suchte er eine böse
-Bedeutung in dieser anscheinend ganz gewöhnlichen Handlung.
-
-»Wie will ich nur die ganze Angelegenheit durch Rasumichin in Ordnung
-bringen, habe ich denn als letzten Ausweg nur Rasumichin gefunden?«
-fragte er verwundert sich selbst.
-
-Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz unerwartet,
-überraschte ihn nach langem Sinnen ein neuer Gedanke.
-
-»Hm ... zu Rasumichin ...« sagte er auf einmal völlig ruhig, wie fest
-entschlossen. »... zu Rasumichin gehe ich bestimmt ... aber nicht jetzt
-... Ich will zu ihm hingehen ... am andern Tage _nach dem_ ... wenn
-_das_ schon vorbei ist, und wenn ich von vorne anfange ...«
-
-Da kam er zu sich.
-
-»Nach dem,« rief er aus und sprang von der Bank auf. »Ja, wird _das_
-überhaupt geschehen? Wird es tatsächlich geschehen?«
-
-Er ging fort, ja er rannte beinahe fort; er wollte nach Hause
-zurückkehren, doch das war ihm entsetzlich, zu Hause, -- dort in der
-Ecke, zwischen den vier öden Wänden, über einen Monat schon reifte der
-grausige Plan -- und er ging, wohin die Füße ihn führten.
-
-Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er empfand
-Schüttelfrost, Frost in dieser Hitze! Fast bewußtlos, mit großer
-Überwindung begann er alles, was ihm begegnete, zu betrachten, als suche
-er Zerstreuung, aber das gelang ihm schlecht, er überraschte sich immer
-wieder bei seinem Gespenst. Wenn er aber auffahrend wieder den Kopf
-erhob und sich ringsum umblickte, vergaß er sofort, worüber er soeben
-nachgedacht hatte und wo er war. In dieser Weise durchwanderte er den
-ganzen Wassiljew Ostroff, kam zu der kleinen Newa hinaus, überschritt
-die Brücke und wandte sich den Inseln zu. Das frische Grün und die
-erquickende Luft taten seinen müden Augen wohl, die an Stadtstaub, Kalk
-und an beengende und bedrückende Häuser doch gewöhnt waren. Hier gab es
-weder eine dumpfe Luft, noch Gestank, noch Schenken. Doch es währte
-nicht lange, und es gingen auch diese neuen angenehmen Empfindungen in
-krankhafte und aufregende über. Ab und zu blieb er vor einer aus üppigem
-Grün lugenden Villa stehn, blickte durch den Zaun hindurch und sah in
-der Ferne auf den Balkonen und Terrassen elegante Frauen und in den
-Gärten spielende Kinder. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den
-Blumen, sie schaute er am längsten an. Er begegnete auch schönen Wagen,
-Reitern und Amazonen, verfolgte sie voll Neugier mit den Blicken und
-vergaß sie, wenn sie kaum seinen Augen entschwunden waren. Einmal blieb
-er auch stehn und zählte sein Geld nach -- es waren etwa dreißig
-Kopeken.
-
-»Zwanzig gab ich dem Schutzmann, drei für den Brief an Nastasja, also
-habe ich gestern Marmeladoffs siebenundvierzig oder fünfzig Kopeken
-hinterlassen,« dachte er, indem er aus irgendeinem Grund nachrechnete,
-bald aber hatte er vergessen, warum er das Geld aus der Tasche
-hervorgeholt hatte.
-
-Er erinnerte sich wieder daran, als er an einer Speiseanstalt, einer Art
-Garküche, vorbeiging und fühlte, daß er Hunger hatte. Er trat ein, trank
-ein Gläschen Branntwein und nahm eine Pastete, die er auf dem Wege zu
-Ende aß. Er hatte sehr lange schon keinen Branntwein mehr getrunken, der
-tat denn auch im Nu seine Wirkung, obwohl es nur ein einziges Gläschen
-war. Seine Füße wurden schwer, und er fühlte einen starken Drang zu
-schlafen. Er kehrte um, um nach Hause zu gehen, als er aber Petrowski
-Ostroff schon erreicht hatte, blieb er in völliger Erschöpfung stehen,
-ging abseits des Weges in ein Gebüsch, fiel aufs Gras hin und schlief im
-selben Augenblick ein. In krankhaften Zuständen zeichnen sich Träume oft
-durch ungewöhnliche Deutlichkeit, Klarheit und außerordentliche
-Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit aus. Es erscheint zuweilen ein
-seltsames Bild, die Umgebung aber und der ganze Gang der Vorstellung
-sind so wahrscheinlich und mit solchen feinen unerwarteten und dem
-Gesamtbilde künstlerisch entsprechenden Einzelheiten verbunden, daß
-derselbe Träumer sie in Wirklichkeit nicht so ausdenken kann, mag er
-auch selbst ein Künstler, wie Puschkin oder Turgenjeff sein. Solche
-krankhafte Träume bleiben stets lange in der Erinnerung haften und üben
-einen starken Eindruck auf den zerrütteten und angegriffenen Organismus
-eines Menschen aus. Raskolnikoff hatte solch einen Traum. Er träumt sich
-als Kind in der kleinen Provinzialstadt. Er ist sieben Jahre alt und
-geht an einem Feiertage gegen Abend mit seinem Vater außerhalb der Stadt
-spazieren. Es ist eine graue trübe Zeit, der Tag drückend, die Gegend
-genau so, wie sie in seiner Erinnerung lebt; in seiner Erinnerung ist
-sie ihm nicht so klar, als sie ihm jetzt im Traume erscheint. Das
-Städtchen liegt vor ihm, wie ein aufgeschlagenes Buch; ringsum kein
-Weidenstrauch; sehr weit, ganz am Horizonte hebt sich dunkel ein
-Wäldchen ab. Einige Schritte von dem äußersten städtischen Gemüsegarten
-steht eine Schenke, eine große Schenke, die auf ihn stets einen höchst
-unangenehmen Eindruck machte, ihm Furcht einflößte, wenn er auf dem
-Spaziergange mit dem Vater vorbeiging. Dort traf man stets eine große
-Menge an; sie brüllten, lachten, schimpften, sangen so scheußlich und
-heiser, und prügelten sich so oft; rings um die Schenke lungerten stets
-betrunkene und schreckliche Gestalten ... Wenn er ihnen begegnete,
-drückte er sich fester an den Vater und zitterte am ganzen Körper. Neben
-der Schenke führte ein Weg, ein Landweg vorbei, stets mit schwarzem
-Staub bedeckt. Der Weg zog sich schlängelnd weiter, und etwa nach
-dreihundert Schritten bog er rechts um den städtischen Friedhof ab.
-Mitten auf dem Friedhofe erhob sich eine steinerne Kirche mit grüner
-Kuppel, in die er ein paarmal im Jahre mit Vater und Mutter zum
-Gottesdienst ging, wenn für seine längst verstorbene Großmutter, die er
-nie gesehen hatte, eine Seelenmesse abgehalten wurde. Da nahmen sie
-stets »Kutje«[7] auf einem weißen Teller, in einer Serviette, mit, und
-die »Kutje« war aus Zucker, Reis und Rosinen zubereitet, und die Rosinen
-waren in Form eines Kreuzes in den Reis gesteckt. Er liebte diese Kirche
-und die alten Heiligenbilder, die meist ohne Einfassung waren, und den
-alten Priester mit dem zitternden Haupte. Neben dem Grabhügel der
-Großmutter, auf dem ein Grabstein war, lag auch das kleine Grab seines
-jüngsten Bruders, der sechs Monate alt gestorben war, und den er auch
-nicht gekannt hatte, an dessen Dasein er sich nicht erinnern konnte. Man
-hatte ihm aber erzählt, daß er einen kleinen Bruder gehabt habe, und
-jedesmal, wenn er den Friedhof besuchte, bekreuzigte er sich voll
-Andacht an dem kleinen Grabhügel, verneigte sich und küßte die Erde. Und
-nun träumte er: er geht mit dem Vater zum Friedhof, und sie gehen an der
-Schenke vorbei; er hält den Vater an der Hand und blickt voll Schrecken
-zu der Schenke hin. Ein besonderer Umstand fesselt seine Aufmerksamkeit,
--- diesmal scheint hier ein Volksfest zu sein, ein Haufen geputzter
-Bürgerfrauen, Weiber, Männer und allerhand Gesindel steht da herum. Alle
-sind betrunken, alle singen, und neben der Treppe der Schenke steht ein
-Wagen -- ein seltsamer Wagen. Es ist ein großer Wagen, vor den große
-Lastpferde gespannt werden, und auf dem man Waren und Weinfässer
-befördert. Er liebt es, diesen ungeschlachten Gäulen mit den langen
-Mähnen und den dicken Beinen zuzusehen, wie sie langsam in gleichmäßigem
-Schritt dahinschreiten, einen ganzen Berg ohne die geringste Anstrengung
-hinter sich herziehend, als wäre es ihnen leichter mit dem Wagen als
-ohne ihn zu gehen. Jetzt aber war merkwürdigerweise vor solch einen
-großen Wagen ein kleines, mageres, braunes Bauernpferd gespannt, eines
-von jenen, die -- wie er es oft gesehen hatte -- sich mit hochbeladenen
-Wagen voll Holz oder Heu abquälen müssen, um so mehr, wenn der Wagen im
-Schmutze oder in alten Wagenspuren stecken bleibt. Dann hauen die Bauern
-darauf los, peitschen sie schmerzhaft, oft auf das Maul und über die
-Augen. Das tut ihm so weh, so weh anzusehen, daß ihm die Tränen kommen;
-die Mutter führt ihn dann immer von dem Fenster fort. -- Plötzlich
-erhebt sich ein Lärm -- aus der Schenke kommen mit Geschrei, Gesang und
-mit Balalaikas[8] betrunkene, völlig betrunkene, große Bauern heraus, in
-blauen und roten Hemden, mit übergeworfenen Mänteln.
-
-»Setzt euch, setzt euch alle!« ruft einer, ein junger Bursche mit dickem
-Halse und fleischigem, dunkelrotem Gesichte. -- »Ich fahre euch alle
-hin, setzt euch darauf!« Mit lautem Lachen erschollen die Ausrufe:
-
-»So eine Schindmähre soll uns ziehen.«
-
-»Bist du von Sinnen, Mikolka, -- so eine kleine Stute vor diesen Wagen
-zu spannen?«
-
-»Das Pferdchen ist sicher seine zwanzig Jahre alt, Brüder!«
-
-»Setzt euch, ich fahre euch alle zusammen!« ruft von neuem Mikolka,
-springt als erster auf den Wagen, ergreift die Zügel und pflanzt sich in
-seiner ganzen Größe vorne auf dem Wagen auf. »Mit dem Braunen ist Matwei
-vorhin losgezogen,« schreit er vom Wagen. »Diese Mähre treibt mir bloß
-die Galle ins Blut, ich möchte sie totschlagen, frißt umsonst den Hafer.
-Ich sage -- setzt euch! Ich lasse sie im Galopp laufen! Sie muß Galopp
-laufen!« Und er nimmt die Peitsche in die Hand und bereitet sich voll
-Wonne vor, das Pferd zu schlagen.
-
-»Setzt euch doch!« ruft man lachend in der Menge. »Hört doch, sie wird
-im Galopp laufen.«
-
-»Sie ist wahrscheinlich schon zehn Jahre nicht mehr im Galopp gelaufen.«
-
-»Sie wird schön springen!«
-
-»Keine Angst, Brüder, nehmt jeder eine Peitsche, und drauf los!«
-
-»Was ist da zu schonen! Schlagt los!«
-
-Alle springen mit Gelächter und Witzen in den Wagen. Sechs Mann sind
-hereingekrochen, und noch ist Platz. Sie nehmen ein dickes und
-rotbäckiges Weib noch hinauf, ein Weib in einem Kleide von rotem Kattun,
-mit einem Kopfputze aus Glasperlen, an den Füßen lederne Bauernschuhe;
-sie knackt Nüsse und lacht. Ringsum in der Menge lacht man auch, und in
-der Tat, warum soll man auch nicht lachen, -- so eine abgemagerte Mähre
-soll solch eine Last im Galopp ziehen! Zwei Burschen im Wagen nehmen je
-eine Peitsche, um Mikolka zu helfen. »Los!« ruft er, die Mähre zieht aus
-Leibeskräften an; vom im Trabe laufen kann nicht die Rede sein, sie kann
-nicht mal im Schritt losgehen, sie trippelt bloß auf einem Fleck, stöhnt
-und keucht unter den Hieben der drei Peitschen, die auf sie wie Hagel
-niederprasseln. Das Gelächter auf dem Wagen und in der Menge wird
-stärker, Mikolka aber wird wütend und peitscht immer heftiger, als
-glaube er wirklich, sie zum Galopp treiben zu können.
-
-»Nehmt mich auch mit, Brüder!« ruft ein Bursche aus der Menge, der Lust
-bekommen hatte, mitzufahren.
-
-»Setzt euch! Setzt euch alle hinein!« schreit Mikolka. »Sie wird alle
-ziehen. Ich peitsche sie zu Tode!« Und er schlägt los, schlägt das Pferd
-in einem fort und weiß vor Raserei nicht, womit er es noch schlagen
-soll.
-
-»Papa, lieber Papa!« ruft der Knabe dem Vater zu. --
-
-»Papa, was tun sie? Papa, sie schlagen das arme kleine Pferd!«
-
-»Komm, laß uns gehen!« sagte der Vater. »Betrunkene Dummköpfe treiben
-ihren Unfug; laß uns gehen, sieh nicht hin!« und er will ihn fortführen,
-der Knabe aber reißt sich los und läuft zu dem Pferde hin. Dem aber geht
-es schon schlecht. Es schnappt nach Luft, steht still, zieht von neuem
-an und fällt beinahe hin.
-
-»Peitscht es zu Tode!« schreit Mikolka. »Mag es kaput gehen. Ich
-peitsche es zu Tode!«
-
-»Bist du kein Christ, du Scheusal?« ruft ein alter Mann aus der Menge.
-
-»Hat man es je erlebt, daß so ein Pferd diese Last ziehen soll,« fügte
-ein anderer hinzu.
-
-»Du quälst es zuschanden!« ruft ein dritter.
-
-»Schweigt still! Es ist mein Eigentum. Ich kann damit tun, was ich will.
-Setzt euch noch dazu in den Wagen! Setzt euch alle hinein! Ich will, daß
-es im Galopp läuft! ...«
-
-Ein lautes Lachen übertönte plötzlich alles, -- die Mähre wollte sich
-der scharfen Schläge erwehren und begann in ihrer Bedrängnis
-auszuschlagen. Sogar der alte Mann mußte lächeln. Es war auch ein zu
-komisches Bild, -- so eine abgebrauchte Mähre schlägt plötzlich aus.
-Zwei Burschen aus der Menge verschaffen sich Peitschen und springen
-herzu, um das Pferd von zwei Seiten zu schlagen.
-
-»Schlagt sie auf das Maul, peitscht sie über die Augen, über die Augen!«
-schreit Mikolka.
-
-»Brüder, wollen wir ein Lied singen!« ruft jemand vom Wagen, und alle
-darinnen folgten sogleich der Aufforderung. Ein ausgelassenes Lied
-erschallt, ein Tamburin rasselt, der Refrain wird gepfiffen. Das Weib
-knackt Nüsse und lacht vergnügt.
-
-... Er läuft neben dem Pferde, er eilt nach vorne, er sieht, wie man es
-über die Augen schlägt, direkt über die Augen! Er weint. Sein Herz
-krampft sich zusammen, die Tränen fließen. Einer von den Peitschenden
-fährt ihm ins Gesicht; er fühlt es nicht, er ringt die Hände, schreit
-auf, stürzt zu dem alten Manne mit dem grauen Barte hin, der seinen Kopf
-schüttelt und das mißbilligt. Ein Weib packt seine Hand und will ihn
-fortführen, er reißt sich los und läuft wieder zu dem Pferde hin. Es hat
-keine Kraft mehr, noch einmal schlägt es aus.
-
-»Hol dich der Teufel!« schreit Mikolka wütend. Er wirft die Peitsche von
-sich, bückt sich und zieht vom Boden des Wagens eine lange und dicke
-Deichselstange hervor, ergreift sie mit beiden Händen und schwingt sie
-mit gewaltiger Anstrengung auf das Pferd nieder.
-
-»Er schlägt das Pferd tot!« schreit einer.
-
-»Er zerschmettert es!«
-
-»Es ist mein Eigentum!« brüllt Mikolka und läßt die Stange mit voller
-Wucht niedersausen.
-
-Ein dumpfer Schlag.
-
-»Haut es mit der Peitsche! Warum steht ihr da!« ruft man aus der Menge.
-
-Mikolka holt zum zweiten Male aus, und ein neuer Schlag saust auf den
-Rücken der unglücklichen Mähre nieder. Sie fällt beinahe auf die
-Hinterbeine, springt aber auf und ruckt und ruckt aus letzter Kraft hin
-und her, um den Wagen von der Stelle zu bringen; von allen Seiten
-empfängt sie Peitschenhiebe, die Deichselstange erhebt sich von neuem
-und saust zum dritten und vierten Male nieder. Mikolka ist wütend, daß
-er das Pferd nicht mit einem Schlage töten kann.
-
-»Es ist zäh!« ruft man ringsum.
-
-»Es fällt gleich hin, Brüder, nun geht es mit ihm zu Ende!« schreit
-jemand aus der Menge.
-
-»Ist es nicht besser, mit einem Beile es totzuschlagen? Macht doch ein
-Ende!« ruft ein anderer.
-
-»Zum Teufel mit dir! Geht alle aus dem Wege!« brüllt Mikolka, wirft die
-Deichsel fort, bückt sich von neuem und holt eine Eisenstange hervor.
-»Nehmt euch in acht!« ruft er und läßt sie mit voller Kraft auf das arme
-Pferd niedersausen. Dieser Schlag traf; das Pferd taumelte, krümmte sich
-und wollte ziehen, aber die Eisenstange sauste wieder auf seinen Rücken
-herab, und das Pferd stürzte zu Boden, als wären ihm alle vier Beine mit
-einemmal abgeschlagen.
-
-»Schlagt zu!« schreit Mikolka und springt wie toll vom Wagen herab.
-Einige Burschen, ebenso rot im Gesichte wie er und betrunken, ergreifen,
-was ihnen in die Hände kommt -- mit Peitschen, Stöcken, der
-Deichselstange laufen sie zu dem verendenden Pferde. Mikolka stellt sich
-auf der einen Seite hin und fängt an, sinnlos mit der Eisenstange auf
-seinen Leib zu schlagen. Die Mähre streckt den Kopf, holt schwer Atem
-und verendet. »Nun hast du ihm den Garaus gemacht!« ruft man aus der
-Menge.
-
-»Warum lief es nicht im Galopp!«
-
-»Es ist mein Eigentum!« schreit Mikolka mit blutunterlaufenen Augen und
-hält die Eisenstange noch in den Händen. Er steht da, als täte es ihm
-leid, daß er niemanden mehr habe, den er niederschlagen könnte.
-
-»Du bist wirklich kein Christ!« rufen einige Stimmen aus der Menge.
-
-Der arme Knabe aber ist außer sich. Mit einem Schrei durchbricht er die
-Menge, läuft auf das Pferd zu, umarmt den blutüberströmten toten Kopf
-und küßt ihn; er küßt die Augen, die Lefzen ... Dann springt er auf und
-stürzt sich voller Wut mit seinen kleinen Fäustchen auf Mikolka. In
-diesem Augenblick erwischt ihn der Vater, der ihm nachgelaufen war, und
-trägt ihn fort.
-
-»Gehen wir! Gehen wir!« sagt der Vater zu ihm. »Gehen wir nach Hause!«
-
-»Papa, lieber Papa! Warum haben sie ... das kleine Pferd ...
-erschlagen!« schluchzte er, sein Atem stockt und die Worte kommen wie
-Schmerzensschreie aus seiner gepreßten Brust.
-
-»Sie sind betrunken ... versündigen sich, uns geht es nichts an ...
-gehen wir!« sagt der Vater. Er aber umfaßt den Vater mit beiden Händen,
-es schnürt ihm die Kehle zu. Er will Atem holen, schreien und -- er
-erwacht. Er erwachte ganz mit Schweiß bedeckt, mit feuchten Haaren,
-schwer atmend, und erhob sich zitternd.
-
-»Gottlob, es war nur ein Traum!« sagte er, setzte sich unter den Baum
-und seufzte tief auf. »Aber was ist mit mir? Fange ich an zu fiebern, --
-so ein gräßlicher Traum!«
-
-Sein ganzer Körper war wie zerschlagen, und in seiner Seele war es
-dunkel und trübe. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und hielt sich
-mit beiden Händen den Kopf.
-
-»Mein Gott,« rief er aus. »Werde ich denn, werde ich wirklich ein Beil
-nehmen, werde es ihr auf den Kopf schlagen, das Gehirn ihr zerschmettern
-... in klebrig warmem Blute tasten, das Schloß aufbrechen, stehlen und
-zittern, mich verstecken, ganz mit Blut bedeckt ... mit einem Beile ...
-Oh, Gott, werde ich es denn tun?«
-
-Es durchschauerte ihn am ganzen Körper, als er das aussprach. »Ja, was
-ist denn mit mir?« fuhr er fort, sich aufraffend und mit tiefem Staunen.
-»Ich weiß doch, daß ich es nicht ertragen kann, warum habe ich mich denn
-bis jetzt gequält? Gestern, gestern schon, als ich hinging, diesen ...
-Versuch zu machen, gestern begriff ich vollkommen, daß ich es nicht zu
-tun vermöge ... Was will ich denn jetzt noch? Warum hatte ich bis jetzt
-noch Zweifel? Ich sagte mir schon gestern, als ich die Treppe
-hinunterging, daß es gemein, niedrig, schuftig sei ... mir wurde ja beim
-bloßen Gedanken übel und ein kalter Schauer ging mir durch alle Glieder
-... Nein, ich werde es nicht aushalten, werde es nicht aushalten! Mag es
-auch keinen einzigen Fehler in diesen Berechnungen geben, mag all das,
-was in diesem Monat beschlossen wurde, klar wie der Tag, und richtig wie
-eine mathematische Formel sein. Herrgott! Ich kann mich nicht dazu
-entschließen! Ich werde es ja nicht aushalten, nicht aushalten! Was ist
-denn mit mir immer noch, was denn?«
-
-Er stand auf, sah sich verwirrt um, als sei er erstaunt, daß er hierher
-gekommen war, und ging zu der T.-W.-Brücke. Er war bleich, die Augen
-brannten, in seinen Gliedern lag tiefste Ermattung, plötzlich aber
-konnte er leichter atmen. Er fühlte, daß er diese furchtbare Last, die
-ihn solange bedrückt hatte, abgeworfen habe, und in seiner Seele wurde
-es mit einem Male leicht und frei.
-
-»Oh Gott!« flehte er. »Zeig mir meinen Weg, und ich sage mich los von
-diesem verfluchten Trugbild!« Als er über die Brücke ging, blickte er
-still und ruhig auf die Newa und auf die untergehende grellrote Sonne.
-Trotz seiner Schwäche empfand er keine Müdigkeit. Es war, als sei das
-Geschwür an seinem Herzen, das den ganzen Monat heranreifte, plötzlich
-aufgegangen. Freiheit! Freiheit! Er ist jetzt von dieser Verzauberung,
-von dieser Hexerei, von diesem Reiz, von dieser Versuchung befreit!
-
-Später, als er an diese Zeit und all das dachte, was mit ihm in diesen
-Tagen, Minute für Minute, Punkt für Punkt, Strich für Strich vorgegangen
-war, setzte ihn fast bis zum Aberglauben ein Umstand stets in Erstaunen,
-der im Grunde genommen nicht besonders ungewöhnlich war, der ihm aber
-später wie die Fügung seines Schicksals erschien. Und zwar, -- er konnte
-es gar nicht verstehen und erklären, warum er, ermüdet und abgespannt,
-statt auf dem kürzesten und geradesten Weg nach Hause zu gehen,
-plötzlich über den Heumarkt, den zu durchqueren für ihn ganz überflüssig
-war, nach Hause zurückkehrte. Es war kein bedeutender Umweg, aber doch
-ein augenscheinlich und eben völlig überflüssiger. Gewiß, er war
-Dutzende von Malen nach Hause zurückgekehrt, ohne sich der Straßen zu
-erinnern, durch die er gewandert war. Warum aber, fragte er sich immer,
-warum passierte so eine wichtige, so eine entscheidende und gleichzeitig
-so eine höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte -- über den zu
-gehen er gar keine Veranlassung hatte -- gerade zu der Stunde, in dem
-Augenblicke seines Lebens, in solch einer Seelenstimmung und unter
-solchen Umständen, unter denen diese Begegnung auch die entscheidenste
-und endgültigste Wirkung auf sein ganzes Schicksal ausüben mußte? Als
-hätte es auf ihn hier absichtlich gelauert! -- Es war gegen neun Uhr,
-als er über den Heumarkt ging. Alle Verkäufer an den Tischen, in den
-Läden und Buden schlossen ihre Geschäfte oder kramten ihre Waren
-zusammen, packten sie ein und waren ebenso, wie ihre Käufer, auf dem
-Wege nach Hause. Bei den Garküchen, in den Kellern, in den schmutzigen
-und stinkenden Höfen der Häuser am Heumarkte, besonders aber bei den
-Schenken drängte sich eine Menge allerhand Händler und verlumpter
-Gestalten. Raskolnikoff liebte diese Gegend, ebenso auch alle
-umliegenden Gassen, ganz besonders aber, wenn er ohne ein bestimmtes
-Ziel bummeln ging. Hier erregten seine Lumpen keine hochmütige
-Aufmerksamkeit, hier konnte man gekleidet gehen, wie man wollte, ohne
-sich zu blamieren. An der Ecke der K.schen Gasse handelte ein
-Kleinbürger mit seiner Frau an zwei Tischen mit allerhand Waren, --
-Zwirn, Bändern, Kattuntüchern und dergleichen mehr. Sie waren auch beim
-Aufbruch, wurden aber durch ein Gespräch mit einer Bekannten
-aufgehalten. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna oder einfacher
-Lisaweta, wie sie allgemein genannt wurde, die jüngere Schwester
-derselben Alten, Aljona Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators,
-der Wucherin, bei der Raskolnikoff gestern gewesen war, um seine Uhr zu
-versetzen und seine _Probe_ zu machen ... Er wußte längst alles über
-diese Lisaweta, und sie kannte ihn auch ein wenig. Sie war ein
-hochgewachsenes, plumpes, zaghaftes und stilles Mädchen, fast eine
-Idiotin, fünfunddreißig Jahre alt, die bei ihrer Schwester lediglich die
-Dienstmagd war, für sie Tag und Nacht arbeitete, vor ihr zitterte und
-sogar von ihr Schläge bekam. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel vor
-dem Händler und seiner Frau und hörte ihnen aufmerksam zu. Die redeten
-mit besonderem Eifer auf sie ein. Als Raskolnikoff sie unvermutet
-erblickte, überkam ihn eine eigentümliche Empfindung, die einer sehr
-starken Verwunderung glich, obwohl diese Begegnung nichts
-Verwunderliches an sich hatte.
-
-»Sie wollen einmal selbst entscheiden, Lisaweta Iwanowna,« sagte der
-Händler laut. »Kommen Sie morgen so gegen sieben Uhr. Die werden auch
-herkommen.«
-
-»Mor--gen?« sagte Lisaweta gedehnt und nachdenklich, als ob sie sich
-nicht entschließen könne.
-
-»Aljona Iwanowna hat Ihnen viel zu viel Furcht eingejagt!« sagte die
-Frau des Händlers, ein flinkes Weib. »Sie sind ganz wie ein Kind. Und
-dabei ist sie nicht mal Ihre leibliche, sondern Ihre Stiefschwester und
-hat doch solch eine große Macht über Sie!«
-
-»Sie sollten Aljona Iwanowna nichts davon erzählen,« unterbrach der
-Mann, »ich gebe Ihnen den Rat, und Sie kommen zu uns ohne Erlaubnis. Es
-ist ein vorteilhaftes Geschäft. Ihre Schwester wird es später selbst
-einsehen.«
-
-»Soll ich kommen?«
-
-»Morgen, um sieben Uhr, auch von denen kommt jemand her. Dann können Sie
-selbst entscheiden.«
-
-»Wir stellen den Samowar auf und machen Tee,« fügte die Frau hinzu.
-
-»Gut, ich will kommen,« antwortete Lisaweta, immer noch in Nachdenken
-versunken, und ging langsam weiter.
-
-Raskolnikoff war schon vorüber und hörte nichts mehr. Er war langsam
-gegangen, unbemerkt, und bestrebt, kein Wort vom Gespräche zu verlieren.
-Seine Verwunderung verwandelte sich allmählich in Schrecken, als wäre
-ihm etwas Kaltes über den Rücken gelaufen. Er hatte erfahren, vollkommen
-unerwartet hatte er erfahren, daß morgen abend punkt sieben Uhr
-Lisaweta, die Schwester der Alten und ihre einzige Mitbewohnerin, nicht
-zu Hause sein werde, und daß also die Alte Punkt sieben Uhr _ganz allein
-zu Hause war_.
-
-Bis zu seiner Wohnung waren es bloß einige Schritte. Er ging, wie ein
-zum Tode Verurteilter. Er dachte an nichts und konnte auch an gar nichts
-denken, aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er plötzlich, daß er weder
-die Freiheit der Erwägung noch einen Willen besitze, und daß alles mit
-einem Male endgültig entschieden sei.
-
-Es war sicher, daß er, selbst bei jahrelangem Warten auf solch einen
-günstigen Zufall, sicher nicht auf einen deutlicheren Wink für den
-Erfolg rechnen konnte, als der war, der sich ihm jetzt urplötzlich bot.
-In jedem Falle würde es schwer sein, am Abend vorher und sicher, mit
-größter Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliches Ausfragen
-und Untersuchen, zu erfahren, daß am anderen Tage um die und die Stunde
-die Alte, auf die man einen Anschlag vorbereitet, ganz allein zu Hause
-sein werde.
-
-
- VI.
-
-Später erfuhr Raskolnikoff ganz zufällig, warum der Händler und dessen
-Frau Lisaweta zu sich eingeladen hatten. Es handelte sich um eine rein
-alltägliche Sache und enthielt gar nichts Besonderes. Eine zugereiste,
-verarmte Familie wollte ihre Sachen, Kleider und ähnliches verkaufen. Da
-es unvorteilhaft war, auf dem Markte zu verkaufen, suchte man unter der
-Hand eine Händlerin; Lisaweta nun befaßte sich mit dergleichen, -- sie
-übernahm Aufträge, besorgte allerhand Gänge und hatte eine recht
-ansehnliche Praxis, weil sie sehr ehrlich war und immer den äußersten
-Preis bot, -- und bei dem Preis, den sie nannte, blieb sie stets. Sie
-redete überhaupt wenig und war, wie gesagt, still und verschüchtert ...
-
-Raskolnikoff war in der letzten Zeit abergläubisch geworden. Und Spuren
-dieses Aberglaubens blieben in ihm noch für lange hinaus untilgbar
-haften. Und er war später stets geneigt, in dieser ganzen Angelegenheit
-eine gewisse Bestimmung, eine geheimnisvolle Fügung, wie die Existenz
-besonderer Einflüsse und Zufälle, zu sehen. Noch im Winter hatte ihm
-sein Bekannter, ein Student, Pokoreff, bei seiner Abreise nach Charkoff
-beiläufig im Gespräche die Adresse der Alten, Aljona Iwanowna,
-mitgeteilt, für den Fall, daß er einmal etwas versetzen möchte. Er ging
-lange nicht zu ihr, da er Stunden gab und sich damit einigermaßen
-durchschlug. Vor anderthalb Monaten erinnerte er sich der Adresse; er
-hatte zwei Sachen, die zum Versetzen taugten, -- eine alte silberne Uhr
-von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten
-Steinchen, den seine Schwester ihm beim Abschied als Andenken geschenkt
-hatte. Er beschloß den Ring hinzubringen; nachdem er die Alte gefunden
-hatte, empfand er vom ersten Augenblick an, ohne von ihr etwas Näheres
-zu wissen, einen unwiderstehlichen Widerwillen gegen sie; er nahm von
-ihr zwei »Scheinchen« und ging auf dem Rückwege in ein schlechtes
-Wirtshaus. Da bestellte er Tee, setzte sich hin und verfiel in ein
-tiefes Nachdenken. Ein unheimlicher Gedanke löste sich in seinem Kopfe
-aus, wie ein Küchlein aus den Eierschalen, und nahm Besitz von ihm.
-
-An einem anderen Tische, fast neben ihm, saß ein Student, den er nicht
-kannte, und dessen er sich nicht erinnerte, und ein junger Offizier. Sie
-hatten eine Partie Billard gespielt und tranken nun Tee. Da hörte
-Raskolnikoff, wie der Student dem Offiziere von einer Wucherin Aljona
-Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators, erzählte und ihm ihre
-Wohnung nannte. Das berührte Raskolnikoff seltsam, -- er kommt soeben
-von dort und hier unterhält man sich von ihr. Gewiß, es ist ein Zufall,
-aber er kann sich gerade jetzt nicht von einem äußerst ungewöhnlichen
-Gefühl losmachen, ihm ist es, als wolle ihm jemand dazu behilflich sein,
--- der Student erzählte allerhand Einzelheiten von dieser Aljona
-Iwanowna. »Sie ist ausgezeichnet,« sagte er, »man kann bei ihr stets
-Geld erhalten. Sie ist reich wie ein Jude, kann auf einmal fünftausend
-geben, geniert sich aber auch nicht, ein Pfand von einem Rubel
-anzunehmen. Viele von meinen Bekannten waren bei ihr. Aber sie ist ein
-Scheusal ...«
-
-Und er erzählte, wie böse und launisch sie sei, und daß das Pfand
-verfallen sei, wenn man den Termin bloß um einen Tag versäume. Sie gibt
-den vierten Teil des Wertes, nimmt fünf und sogar sieben Prozent pro
-Monat und dergleichen mehr. Der Student kam ins Plaudern und teilte
-unter anderem auch mit, daß die Alte eine Schwester Lisaweta habe, die
-sie, so klein und unansehnlich sie selbst sei, alle Augenblicke schlage
-und in völliger Bevormundung wie ein kleines Kind halte, trotzdem
-Lisaweta mindestens dreimal größer und stärker sei ...
-
-»Ja, sie ist eine Zierde ihres Geschlechts!« rief der Student aus und
-lachte laut.
-
-Er fing an von Lisaweta zu erzählen; erzählte mit augenscheinlichem
-Genuß und lachte dabei fortwährend; der Offizier hörte mit großem
-Interesse zu und bat den Studenten, ihm die Lisaweta zu schicken, um
-seine Wäsche auszubessern. Raskolnikoff verlor kein einziges Wort von
-der Unterhaltung und erfuhr somit alles, -- Lisaweta war die jüngere
-Stiefschwester der Alten -- von anderer Mutter -- und war schon
-fünfunddreißig Jahre alt. Sie arbeitete Tag und Nacht für die Schwester,
-ersetzte die Köchin und Wäscherin, nähte außerdem um Lohn, ging
-außerhalb des Hauses Dielen scheuern und gab jeden Verdienst der
-Schwester ab. Keine einzige Bestellung und keine Arbeit wagte sie ohne
-die Erlaubnis der Alten zu übernehmen. Diese hatte bereits ihr Testament
-gemacht, was Lisaweta bekannt war, hatte ihr keinen Groschen Geld,
-sondern nur die bewegliche Habe, wie Stühle und ähnliches vermacht; das
-ganze Geld war für ein Kloster in dem N.schen Gouvernement zu ewigen
-Seelenmessen bestimmt. Lisaweta war Kleinbürgerin, nicht aus dem
-Beamtenstande, unverheiratet, ungewöhnlich plump gebaut, übergroß, mit
-breiten Füßen, hatte immer schiefgetretene Schuhe, war aber sonst
-reinlich gekleidet. Was aber den Studenten am meisten belustigte, war,
-daß Lisaweta alljährlich schwanger war ...
-
-»Du sagst doch, sie sei häßlich!« bemerkte der Offizier.
-
-»Ja, sie hat eine dunkle Gesichtsfarbe, wie ein Soldat, ist aber sonst,
-weißt du, nicht häßlich. Sie hat so ein gutes Gesicht und gute Augen,
-sehr gute Augen; Grund genug, daß sie vielen gefällt. Sie ist still,
-sanft und anspruchslos, zu allem bereit. Ihr Lachen ist sogar
-einnehmend.«
-
-»Sie scheint dir zu gefallen!« lachte der Offizier.
-
-»Ja, ihrer Eigentümlichkeit wegen. Doch, was ich dir sagen wollte. Ich
-könnte diese verfluchte Alte ermorden und berauben, und, glaube mir, ich
-täte es ohne Gewissensbisse,« fügte der Student eifrig hinzu.
-
-Der Offizier lachte wieder auf, Raskolnikoff aber fuhr zusammen. Wie
-seltsam dies alles war!
-
-»Erlaube mal, ich will dir eine ernste Frage vorlegen,« sagte der
-Student voll Eifer. »Ich habe mir soeben einen Scherz erlaubt, aber sieh
-mal an -- einerseits gibt es ein dummes, bedeutungsloses,
-minderwertiges, böses, krankes, altes Weib, das keinem Menschen nützt,
-im Gegenteil allen schadet, das selbst nicht weiß, wozu es lebt, und das
-morgen ohne fremde Hilfe sterben wird. Verstehst du? Verstehst du mich?«
-
-»Nun, ich verstehe es,« antwortete der Offizier und sah aufmerksam
-seinen in Eifer geratenen Freund an.
-
-»Höre nun weiter. Anderseits gibt es junge, frische Kräfte, die unnütz
-zugrunde gehen, ohne Hilfe und das zu tausenden und allerorts. Hundert,
-tausend gute Taten und Hilfeleistungen könnte man für das Geld der Alten
-tun, das einem Kloster zufallen soll. Hundert, vielleicht tausend
-Existenzen könnten damit auf den richtigen Weg gebracht werden; dutzende
-Familien könnten vor Hunger, Verfall, Untergang, Laster und vor
-venerischen Krankheiten geschützt werden -- und all das für ihr Geld.
-Ermorde sie und nimm ihr Geld, um dich später mit seiner Hilfe der
-ganzen Menschheit und der gemeinnützigen Sache zu widmen, -- was meinst
-du, wird nicht ein einziges unbedeutendes, winziges Verbrechen durch
-Tausende guter Taten wettgemacht? Für ein Leben -- Tausende von Leben,
-gerettet vor Fäulnis und Verfall. Ein einziger Tod und hunderte Leben an
-seiner Statt, das ist doch ein einfaches Rechenexempel. Ja, und was
-bedeutet auf der allgemeinen Wage das Leben dieser schwindsüchtigen,
-dummen und bösen Alten. Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer
-Wanze, und nicht mal soviel, weil die Alte schädlich ist. Sie untergräbt
-das Leben eines anderen; vor ein paar Tagen hat sie Lisaweta aus Wut in
-den Finger gebissen, man mußte ihn fast abnehmen lassen!«
-
-»Gewiß, sie ist des Lebens nicht wert,« bemerkte der Offizier. »Aber das
-ist doch Sache der Natur.«
-
-»Ach, Bruder, die Natur korrigiert man doch auch und zeigt ihr den
-richtigen Weg, wir müßten ja sonst in Vorurteilen ersticken. Ohne das
-würde es keine großen Männer geben. Man redet von Pflicht und Gewissen,
--- ich will nichts gegen Gewissen und Pflicht sagen, aber was verstehen
-wir darunter? Doch ich will dir noch eine Frage vorlegen. Gib acht!«
-
-»Nein, warte du mal, jetzt will ich dir eine Frage vorlegen. Höre zu.«
-
-»Nun!«
-
-»Sieh, du redest jetzt und ereiferst dich, sage mir aber -- würdest _du
-selbst_ die Alte ermorden oder nicht?«
-
-»Selbstverständlich nicht! Ich rede nur aus Gerechtigkeit ... Ich habe
-mit der Sache nichts zu tun ...«
-
-»Meiner Meinung nach kann von Gerechtigkeit gar nicht die Rede sein,
-wenn du dich nicht selbst dazu entschließt. Komm, wir wollen noch eine
-Partie Billard spielen!«
-
-Raskolnikoff war äußerst aufgeregt. Gewiß, das Gespräch war eins von den
-gewöhnlichsten Gesprächen und Gedanken, die er mehr als einmal unter
-jungen Leuten gehört hatte, vielleicht in einer anderen Form und über
-einen anderen Gegenstand. Warum aber kam er jetzt gerade dazu, dieses
-Gespräch und diese Gedanken zu hören, wo in seinem eigenen Kopfe ...
-_ebensolche Gedanken_ aufgetaucht waren? Und warum stößt er gerade
-jetzt, wo in ihm dieser Gedanke auftauchte, als er die Alte verließ, auf
-ein Gespräch über dieselbe Alte? ... Ihm erschien dieses Zusammentreffen
-stets merkwürdig. Diese nichtssagende Unterhaltung in dem Wirtshause
-hatte auf ihn einen außergewöhnlichen Einfluß für die weitere
-Entwicklung der Sache, -- als wäre hierbei tatsächlich eine
-Vorausbestimmung, ein Fingerzeig gewesen ...
-
- * * * * *
-
-Nach Hause zurückgekehrt, warf er sich auf das Sofa und blieb eine volle
-Stunde sitzen, ohne sich zu rühren. Es war inzwischen dunkel geworden;
-ein Licht besaß er nicht, es kam ihm gar nicht der Gedanke, ein Licht
-anzustecken. Er konnte sich später niemals erinnern, ob er in dieser
-Stunde an etwas gedacht hatte. Er spürte noch immer das Fieber von
-früher her und den Schüttelfrost, und es war ihm ein angenehmer Gedanke,
-daß er sich auf das Sofa hinlegen konnte. Ein fester bleierner Schlaf
-überfiel ihn und legte sich schwer auf ihn.
-
-Er schlief ungewöhnlich lange und traumlos. Nastasja, die am nächsten
-Morgen um zehn Uhr in das Zimmer kam, konnte ihn nur mit Mühe aufwecken.
-Sie brachte ihm Tee und Brot, den Tee wie immer alt aufgegossen in ihrer
-eigenen Teekanne.
-
-»Sieh, wie er schläft!« rief sie entrüstet aus. »Er tut nichts wie
-schlafen!«
-
-Er erhob sich mühsam. Der Kopf tat ihm weh; er versuchte aufzustehen,
-drehte sich um und fiel wieder auf das Sofa zurück.
-
-»Willst du weiter schlafen!« rief Nastasja. »Bist du gar krank?«
-
-Er antwortete nicht.
-
-»Willst du Tee trinken?«
-
-»Nachher,« sagte er mit Anstrengung, schloß die Augen und wandte sich
-der Wand zu.
-
-Nastasja blieb eine Weile neben ihm stehn.
-
-»Vielleicht ist er wirklich krank,« sagte sie, kehrte um und ging
-hinaus.
-
-Um zwei Uhr kam sie wieder herein mit einer Suppe. Er lag noch wie
-früher. Der Tee war unberührt. Nun fühlte Nastasja sich gekränkt und
-begann ihn ärgerlich zu rütteln.
-
-»Was, schnarchst du noch?« rief sie und sah ihn mit Unwillen an.
-
-Er stand auf und setzte sich, sagte aber nichts und blickte zu Boden.
-
-»Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja, und wieder erhielt sie
-keine Antwort.
-
-»Du solltest auf die Straße gehen,« sagte sie nach einer Weile, »die
-Luft würde dich erquicken. Willst du nicht essen?«
-
-»Nachher,« antwortete er mit schwacher Stimme. »Geh jetzt fort!«
-
-Und er winkte mit der Hand ab. Sie blieb noch eine Weile stehen, blickte
-ihn voll Mitleid an und ging hinaus.
-
-Nach einigen Minuten hob er den Blick und schaute lange den Tee und die
-Suppe an. Dann nahm er ein wenig Brot, griff nach dem Löffel und begann
-zu essen.
-
-Er aß nicht viel, ohne Appetit, rein mechanisch etwa vier Löffel Suppe.
-Der Kopf tat ihm nicht mehr so weh. Nachdem er gegessen hatte, legte er
-sich wieder auf das Sofa, konnte aber nicht einschlafen und lag still
-da, das Gesicht ins Kopfkissen vergraben. Er träumte, wachend, in einem
-fort, und alle Träume waren seltsam, zumeist schien es ihm, als wäre er
-irgendwo in Afrika, in Ägypten, in einer Oase. Die Karawane ruht aus,
-die Kamele liegen still; ringsum im großen Kreise stehn Palmen, alles
-labt sich. Er aber trinkt unausgesetzt Wasser, direkt aus einem Bache,
-der hier neben ihm dahinfließt und plätschert. Es ist so kühl, und das
-Wasser ist so wundervoll, so blau und kalt, es fließt über bunte Steine
-und über reinen mit goldenem Schimmer besäten Sand ... Plötzlich hörte
-er deutlich eine Uhr schlagen. Er fuhr auf, kam zu sich, erhob den Kopf,
-sah zum Fenster hin, rechnete sich die Zeit aus und sprang auf, als
-hätte ihn jemand von dem Sofa heruntergerissen. Er ging auf den
-Fußspitzen zu der Türe, öffnete sie leise und lauschte auf die Treppe
-hinaus. Sein Herz klopfte gewaltig. Auf der Treppe war alles so still,
-als ob alles schliefe ... Höchst sonderbar und merkwürdig erschien es
-ihm, daß er von gestern auf heute in solcher Bewußtlosigkeit hatte
-durchschlafen können, wo er doch nichts getan und unvorbereitet war ...
-Vielleicht hat die Uhr gar sechs geschlagen ... Und eine ungewohnte
-fieberhafte und kopflose Hast überfiel ihn, nun nach dem Schlafe und
-stumpfen Brüten. Es waren übrigens keine großen Vorbereitungen nötig. Er
-strengte alle Kräfte an, um alles zu bedenken und nichts zu vergessen;
-das Herz klopfte immer noch heftig und schlug so stark, daß ihm das
-Atmen schwer fiel. Zuerst mußte er eine Schlinge machen und an seinen
-Mantel annähen, -- das war die Sache einer Minute. Er fuhr mit der Hand
-unter das Kopfkissen und fand unter der Wäsche, die dort lag, ein altes
-ungewaschenes Hemd, das schon völlig zerrissen war. Von diesem riß er
-einen Streifen ab, etwa fünf Zentimeter breit und sechsunddreißig
-Zentimeter lang. Diesen Streifen legte er zusammen, zog einen weiten
-starken Sommermantel aus dickem baumwollenen Stoffe -- sein einziges
-Oberkleid -- aus und begann die beiden Enden des Streifens innen unter
-der linken Achselhöhle anzunähen. Seine Hände zitterten beim Halten der
-Nadel, er überwand sich aber und hatte den Streifen so angenäht, daß man
-von außen nichts bemerken konnte, wenn er den Mantel angezogen hatte. Er
-hatte sich schon vor langer Zeit Nadel und Zwirn besorgt, und sie lagen
-in einem Stück Papier eingewickelt in dem Tischchen. Die Schlinge war
-seine eigene, sehr schlaue Erfindung, sie war für das Beil bestimmt. Man
-konnte doch nicht auf der Straße das Beil in der Hand tragen. Und wenn
-man es unter dem Mantel versteckt trug, mußte man es doch mit der Hand
-festhalten, was wiederum auffallen konnte. Jetzt aber brauchte man bloß
-das Beil in die Schlinge zu stecken, und es wird den ganzen Weg unter
-der Achsel ruhig hängen. Und wenn er die Hand in die Seitentasche des
-Mantels steckt, kann er auch das Ende des Beilschaftes festhalten, damit
-es nicht baumelt, und da der Mantel sehr weit war, ein richtiger Sack,
-so konnte niemand wahrnehmen, daß er etwas mit der Hand in der Tasche
-festhalte. Diese Schlinge hatte er schon vor zwei Wochen erfunden.
-
-Nachdem er mit der Schlinge fertig war, steckte er seine Finger in einen
-kleinen Spalt zwischen seinen »türkischen« Diwan und der Diele, suchte
-im linken Winkel nach und zog _das Versatzobjekt_ heraus, das er schon
-vor langer Zeit hergestellt und dort versteckt hatte. Es war gar kein
-Versatzstück, sondern ein einfaches, glatt abgehobeltes Stück Holz, in
-der Größe und Dicke eines silbernen Zigarettenetuis. Dieses
-Holzbrettchen hatte er zufällig bei einem seiner Spaziergänge auf einem
-Hofe gefunden, wo in einem Nebengebäude eine Werkstatt war. Nachher
-hatte er zu dem Brette ein glattes und dünnes Stück Eisen --
-wahrscheinlich irgendein Bruchstück -- beigelegt, das er auch damals auf
-der Straße gefunden hatte. Beides, das eiserne Stück war kleiner, hatte
-er zusammengelegt und mit einem Bindfaden kreuzweise fest
-zusammengebunden; dann hatte er das Ganze peinlich und mit einer
-gewissen Sorgfalt in ein reines weißes Papier eingewickelt und so fest
-zusammengeschnürt, daß das Paket nicht gleich zu öffnen war. Dies tat
-er, um auf eine Spanne Zeit die Aufmerksamkeit der Alten abzulenken,
-wenn sie sich mit dem Lösen des Knotens abmühte, um so den passenden
-Augenblick zu gewinnen. Das Eisenstück war des Gewichtes wegen
-hinzugefügt, damit die Alte wenigstens nicht sofort erriet, daß das
-»Versatzstück« nur aus Holz sei. Dies alles lag bis zur gegebenen Zeit
-unter dem Diwan verwahrt. Als er gerade das Paket hervorholte, rief
-plötzlich jemand auf dem Hofe:
-
-»Die Uhr geht schon gleich auf sieben!«
-
-»Schon gleich auf sieben! Mein Gott!«
-
-Er stürzte zur Tür, lauschte einen Augenblick, nahm seinen Hut und
-begann die dreizehn Stufen vorsichtig, leise wie eine Katze
-hinabzusteigen. Das Wichtigste stand ihm noch bevor -- das Beil aus der
-Küche zu stehlen. Daß das Werk mit einem Beile vollbracht werde hatte er
-längst beschlossen. Er hatte wohl noch ein zusammenlegbares
-Gartenmesser, aber er mochte sich nicht auf das Messer und zum wenigsten
-auf seine Kräfte verlassen, darum hatte er sich endgültig für das Beil
-entschieden. Bei dieser Gelegenheit wollen wir eine Eigentümlichkeit von
-ihm bei seinen endgültigen Entscheidungen hervorheben, die er in dieser
-Sache schon getroffen hatte. Sie hatten alle eine besondere Eigenschaft:
-je endgültiger sie wurden, desto abscheulicher, sinnloser wurden sie
-sofort in seinen Augen. Trotz des qualvollen innerlichen Kampfes, den er
-führte, konnte er die ganze Zeit über keinen Moment an die
-Durchführbarkeit seiner Pläne glauben.
-
-Und wenn er jemals alles bis zum letzten Punkte durchgedacht und
-endgültig beschlossen hätte und es gar keine Zweifel mehr gegeben hätte,
-dann hätte er offenbar sich von dem ganzen Plane losgesagt, als von
-einem sinnlosen, ungeheuerlichen Unding. Aber jetzt gab es noch einen
-ganzen Abgrund von ungelösten Punkten und Zweifeln. Woher er sich ein
-Beil verschaffen konnte, diese Kleinigkeit beunruhigte ihn gar nicht,
-nichts ist leichter als das. Die Sache lag so, daß Nastasja öfters,
-besonders aber abends, nicht zu Hause war, -- entweder lief sie zu den
-Nachbarn oder in einen Laden, die Türe aber ließ sie stets offen stehn.
-Die Wirtin schalt sie immer wieder deshalb. Also, man mußte nur leise
-zur rechten Zeit in die Küche gehen und das Beil nehmen, um es nach
-einer Stunde, wenn alles vorüber ist, wieder an seinen Platz zu legen.
-Aber auch hier tauchten Zweifel auf. Angenommen, er kommt nach einer
-Stunde zurück, um das Beil zurückzubringen, und Nastasja ist aber gerade
-heimgekehrt. Gewiß, man muß dann vorbeigehen und abwarten, bis sie
-wieder fortgeht. Wenn sie aber nun in dieser Zeit das Beil vermißt hat,
-es zu suchen begann und danach laut jammerte, -- so ist der Verdacht
-oder wenigstens das Moment zu einem Verdacht gegeben.
-
-Aber das waren Kleinigkeiten, an die zu denken er keine Lust und keine
-Zeit mehr hatte. Er dachte an die Hauptsache und hob die Kleinigkeiten
-für den gegebenen Moment auf. Das letzte aber erschien ihm selber
-unfaßbar. Er konnte sich zum Beispiel in keiner Weise vorstellen, daß er
-jemals aufhören werde, bloß an dieses Vorhaben zu denken, daß er
-aufstehn und einfach dorthin gehen werde ... Sogar seine kürzliche
-_Probe_ (d. h. den Besuch in der Absicht, endgültig sich den Tatort
-anzusehen) hatte er nur _versucht_ auszuführen, nicht etwa in vollem
-Ernste, sondern eben bloß in dem Gedanken: »ich will mal hingehen und
-probieren, anstatt hier davon zu träumen!« und natürlich, er hielt es
-nicht aus, ließ gleich die Absicht fallen und war in rasender Wut über
-sich selbst davongelaufen. Indessen, wie es schien, war die ganze
-Analyse im Sinne der moralischen Lösung der Frage von ihm ins reine
-gebracht; seine Kasuistik war geschärft wie ein Rasiermesser, und er
-fand in sich selbst keine klare Entgegnung mehr. Zu guter Letzt glaubte
-er dann einfach sich selbst nicht und suchte hartnäckig in allen
-Richtungen tastend nach Entgegnungen, als ob ihn jemand dazu zwänge und
-herbeizöge. Der letzte Tag aber, der so unerwartet eintrat, und der
-alles mit einem Male zur Entscheidung brachte, wirkte auf ihn fast rein
-mechanisch, -- wie wenn ihn jemand an die Hand genommen und
-unwiderstehlich, blindlings mit einer unnatürlichen Kraft und
-widerstandslos nach sich gezogen hätte, wie wenn er mit einem Zipfel
-seines Rockes in das Rad einer Maschine geraten und mit fortgerissen
-worden wäre.
-
-Von Anfang an, -- übrigens schon lange vorher -- beschäftigte ihn die
-Frage: warum fast alle Verbrecher so leicht aufgespürt und entdeckt
-werden, und warum die Spuren fast aller Verbrecher so deutlich
-wahrzunehmen sind? Er kam allmählich zu vielseitigen und interessanten
-Schlüssen, und nach seiner Meinung lag die Hauptursache nicht so sehr in
-der materiellen Unmöglichkeit, ein Verbrechen zu verbergen, als in dem
-Verbrecher selbst. Der Verbrecher selbst, und fast jeder verliert im
-Augenblick des Handelns an Willen und Verstand, an dessen Stelle ein
-kindischer phänomenaler Leichtsinn tritt, und gerade in dem Augenblicke,
-wo Verstand und Vorsicht am notwendigsten sind. Nach seiner Überzeugung
-ergab es sich, daß diese Verdunkelung des Verstandes und der
-Zusammenbruch des Willens einen Menschen gleich einer Krankheit packen,
-sich allmählich entwickeln und kurz vor der Vollbringung des Verbrechens
-ihren höchsten Punkt erreichen, bei der Ausführung, oder noch etwas
-länger, je nach Veranlagung, auf demselben Höhepunkt anhalten und dann
-ebenso vergehen, wie jede andere Krankheit. Die Frage aber, ob eine
-Krankheit das Verbrechen erzeugt oder ob das Verbrechen selbst irgendwie
-infolge seiner eigentümlichen Natur stets von etwas Ähnlichem wie
-Krankheit begleitet wird, -- zu lösen, fühlte er sich nicht imstande.
-
-Nachdem er das erwogen hatte, schloß er, daß mit ihm persönlich bei
-seiner Tat ein ähnlicher krankhafter Umschwung nicht stattfinden könne,
-daß sein Verstand und Wille während der ganzen Zeit der Vollführung
-völlig intakt sein werde, einzig schon aus dem Grunde, weil sein
-Unternehmen -- »kein Verbrechen« sei ... Lassen wir den ganzen Prozeß
-beiseite, durch den er zu dem letzten Schlusse gekommen war; wir sind
-schon ohnedem viel zu weit gegangen ... Wir wollen bloß hinzufügen, daß
-die tatsächlichen, rein materiellen Hindernisse der Tat überhaupt in
-seinem Verstande eine untergeordnete Rolle spielten. »Man muß nur den
-ganzen Willen und den ganzen Verstand bewahren, und sie alle werden
-seinerzeit besiegt werden, wenn es darauf ankommt, alle Einzelheiten der
-Tat bis zum kleinsten Punkt zu übersehen ...«
-
-Aber die Tat war noch nicht in Angriff genommen. An die endgültige
-Ausführung glaubte er eben fortgesetzt selber am wenigsten, und als die
-Stunde schlug, kam alles gar nicht so, sondern wie zufällig, ja fast
-unerwartet.
-
-Ein ganz geringfügiger Umstand machte ihn stutzig, noch ehe er die
-Treppe hinabgestiegen war. Als er an der Tür zu der Küche vorbeiging,
-die wie immer weit geöffnet war, warf er einen vorsichtigen Seitenblick
-hinein, um sich vorher zu vergewissern, ob nicht während der Abwesenheit
-von Nastasja die Wirtin selbst da sei, und wenn sie nicht da war, ob die
-Türe zu ihrem Zimmer auch gut verschlossen sei, damit sie ja nicht
-plötzlich herauskommen könne, wenn er das Beil holen würde? Aber wie
-groß war seine Betroffenheit, als er plötzlich Nastasja diesmal nicht
-nur in der Küche sah, sondern dazu mit einer Arbeit beschäftigt; sie
-nahm aus einem Korbe Wäsche und hing sie auf. Als sie ihn erblickte,
-hörte sie auf, wandte sich zu ihm und schaute ihn die ganze Zeit an,
-während er vorbeiging. Er wandte die Augen ab und ging weiter, als ob er
-sie nicht gesehen hätte. Die Sache aber war abgetan, -- er hatte kein
-Beil! Er war tief niedergeschlagen.
-
-»Und woher kam mir der Gedanke,« sagte er sich, indem er sich dem Tore
-näherte. »Woher kam mir der Gedanke, daß sie unbedingt in diesem
-Augenblicke nicht zu Hause sein dürfe? Warum, warum, warum war ich so
-sicher davon überzeugt?«
-
-Er war verstört, kam sich erniedrigt vor; wollte über sich selbst vor
-Ärger lachen ... Eine dumpfe tierische Wut bemächtigte sich seiner.
-
-Er blieb in Gedanken versunken unter dem Tore stehen. Auf die Straße zu
-gehen, um des Scheines willen zu spazieren, war ihm widerlich; nach
-Hause zurückkehren noch widerlicher. »Welch eine Gelegenheit hab ich für
-immer verloren!« murmelte er, indem er unschlüssig unter dem Tore
-stehenblieb, gerade gegenüber der dunklen Kammer des Hausknechts, die
-auch offen war. Plötzlich zuckte er zusammen. In der Kammer des
-Hausknechts, zwei Schritte von ihm entfernt, schimmerte unter der Bank
-rechts etwas Blankes ... Er sah sich um -- niemand war in der Nähe. Auf
-den Fußspitzen ging er zu der Kammer hin, stieg zwei Stufen hinab und
-rief mit leiser Stimme nach dem Hausknecht.
-
-»Es stimmt, er ist nicht da! Wahrscheinlich ist er irgendwo in der Nähe
-auf dem Hofe, da die Türe weit offen steht.«
-
-Er stürzte sich in aller Hast auf das Beil (es war ein solches) und zog
-es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzscheiten lag, hervor;
-befestigte es gleich in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen
-und verließ die Kammer. Niemand hatte es gesehen!
-
-»Wenn der Verstand nicht hilft, so tut es der Teufel!« dachte er mit
-einem sonderbaren Lächeln. Dieser Zufall hatte ihn außerordentlich
-ermutigt.
-
-Er ging langsam und _bedächtig_, ohne sich zu beeilen, um ja keinen
-Verdacht zu erwecken. Er sah die Vorübergehenden wenig an, versuchte
-ihnen nicht ins Gesicht zu sehen, um selber möglichst unerkennbar zu
-sein. Plötzlich fiel ihm sein Hut ein. »Mein Gott! Geld hatte ich
-vorgestern noch gehabt und bin nicht auf den Gedanken gekommen, mir eine
-Mütze zu kaufen!«
-
-Ein Fluch kam über seine Lippen. Als er zufällig in einen Laden
-hineinblickte, sah er, daß die Wanduhr dort schon zehn Minuten über
-sieben zeigte. Nun mußte er sich beeilen und gleichzeitig einen Umweg
-machen, -- er wollte das Haus von der anderen Seite erreichen ...
-Früher, als er ab und zu sich dies alles in der Phantasie vorstellte,
-hatte er gemeint, daß er große Angst haben werde. Aber er fürchtete sich
-jetzt nicht besonders, ja eigentlich gar nicht. In diesem Augenblicke
-beschäftigten ihn selbst ganz andere Gedanken, doch nur immer kurze
-Zeit. Als er an dem Jussupowschen Garten vorbeiging, vertiefte er sich
-ziemlich stark in die Idee, hohe Springbrunnen zu errichten, und malte
-sich aus, wie gut sie die Luft auf allen Plätzen erneuern würden.
-Allmählich kam er zu der Überzeugung, daß, wenn man den Sommergarten
-über den ganzen Exerzierplatz erweitern und ihn womöglich mit dem
-Michailoffschen Schloßpark vereinigen würde, die Stadt dadurch einen
-schönen großen Nutzen haben würde. Dabei interessierte ihn wiederum die
-Frage, warum gerade in allen großen Städten der Mensch nicht bloß aus
-reiner Notwendigkeit, sondern aus anderen Gründen geneigt ist, sich in
-solchen Stadtteilen niederzulassen und zu leben, wo es keine Gärten,
-keine Springbrunnen gibt, wo Schmutz und Gestank und allerhand
-Abscheuliches herrscht. Es kamen ihm auch seine eigenen Spaziergänge
-über den Heumarkt in den Sinn, und er besann sich auf sein Vorhaben.
-
-»Was für ein Unsinn!« dachte er. »Nein, besser, ich denke an gar
-nichts.«
-
-»Wahrscheinlich in ähnlicher Weise heften sich die Gedanken derer, die
-man zur Hinrichtung führt, an alle Gegenstände, die sie auf ihrem Wege
-treffen,« fuhr es blitzartig durch seinen Kopf. Er verjagte schnell
-diesen Gedanken ... da ist das Haus, er sieht das Tor. Irgendwo schlug
-plötzlich eine Uhr einmal. »Was, ist es schon halb acht? Das kann nicht
-sein, sie geht wahrscheinlich vor!«
-
-Zu seinem Glück ging unter dem Tore alles wieder gut vonstatten. Wie
-absichtlich fuhr in diesem Augenblicke unter das Tor ein ungeheurer
-Wagen voll Heu, so daß er ihn die ganze Zeit, während er das Tor
-passierte, verdeckte, und als der Wagen in den Hof hineinfuhr, huschte
-er in einem Nu nach rechts. Dort, auf der anderen Seite des Wagens,
-hörte man, wie einige Stimmen schrien und sich stritten, ihn aber hatte
-niemand bemerkt und er begegnete auch niemandem. Viele Fenster, die auf
-den großen viereckigen Hof hinausgingen, standen offen, aber er erhob
-nicht den Kopf, -- er hatte keine Kraft dazu. Die Treppe zu der Wohnung
-der Alten lag in der Nähe, gleich rechts von dem Tore. Er war schon auf
-der Treppe ...
-
-Er holte Atem, hielt die Hand auf das klopfende Herz, fühlte dabei nach
-dem Beile, rückte es zurecht und begann vorsichtig und leise die Treppe
-hinaufzusteigen, alle Augenblicke horchend. Auch die Treppe war um diese
-Zeit vollkommen leer; alle Türen waren verschlossen; er begegnete auch
-da niemandem. Im zweiten Stocke stand wohl eine leere Wohnung weit
-offen, und in ihr arbeiteten Maler, aber auch die sahen nicht zu ihm
-hin. Er stand einen Augenblick still, dachte nach und ging weiter. --
-»Gewiß, es wäre noch besser, wenn sie nicht da wären, aber ... über
-ihnen liegen noch zwei Stockwerke. Aber da ist nun der vierte Stock, da
-ist die Türe, und die Wohnung gegenüber, die ist unbewohnt. Im dritten
-Stocke steht die Wohnung, die unter der Wohnung der Alten liegt, allen
-Anzeichen nach auch leer, -- die Visitenkarte, die an der Türe mit
-Nägeln befestigt war, ist abgenommen, -- also sind sie ausgezogen!« ...
-Sein Atem stockte. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke: »Soll
-ich nicht fortgehen!« Er gab sich aber keine Antwort und begann an der
-Türe zu der Wohnung der Alten zu horchen, -- es war totenstill. Dann
-lauschte er nochmals die Treppe hinab, lauschte lange und aufmerksam ...
-Dann sah er sich zum letzten Male um, nahm sich zusammen, faßte sich und
-tastete noch einmal nach dem Beil in der Schlinge.
-
-»Bin ich nicht zu ... blaß?« dachte er. »Bin ich nicht zu erregt? Sie
-ist mißtrauisch ... Soll ich nicht besser noch ein wenig warten ... bis
-das Herz sich beruhigt? ...«
-
-Das Herz aber beruhigte sich nicht. Im Gegenteil, es klopfte, wie
-absichtlich, immer stärker und stärker ... Er hielt es nicht aus,
-langsam streckte er die Hand nach der Klingel und schellte. Nach einer
-halben Minute schellte er noch einmal etwas lauter.
-
-Keine Antwort. Unnütz zu klingeln ging nicht an und paßte außerdem nicht
-für ihn. Die Alte ist selbstverständlich zu Hause, aber sie ist
-mißtrauisch und allein. Er kannte teilweise ihre Gewohnheiten ... und er
-legte noch einmal sein Ohr fest an die Türe. Waren seine Sinne so
-geschärft (was überhaupt sich schwer vorstellen läßt) oder war
-tatsächlich es deutlich zu hören, er unterschied das vorsichtige Tasten
-einer Hand an der Türklinke und das Rascheln eines Kleides an der Türe.
-Jemand stand unbemerkbar innen am Schlosse selbst und lauschte ebenso,
-wie er hier von außen, mit angehaltenem Atem und wie es schien, ebenso
-mit dem Ohre an der Türe ... Er machte absichtlich eine Bewegung und
-murmelte laut etwas vor sich hin, um zu zeigen, daß er sich nicht
-verstecke. Dann schellte er zum dritten Male, aber leise, mit Anstand
-und ohne Ungeduld. Wenn er sich später dessen erinnerte, deutlich und
-klar, -- dieser Augenblick hat sich ihm auf ewig eingeprägt, -- konnte
-er nicht begreifen, woher soviel Schlauheit über ihn gekommen war,
-besonders, da sein Verstand sich zeitweise verdunkelte und er seinen
-Körper fast gar nicht fühlte ... Einen Augenblick nachher hörte man, daß
-der Verschluß abgenommen wurde.
-
-
- VII.
-
-Die Türe wurde, wie auch damals, um einen einzigen Spalt geöffnet, und
-wieder hafteten auf ihm zwei scharfe und mißtrauische Augen aus der
-Dunkelheit. Da verlor Raskolnikoff die Fassung und machte beinahe einen
-großen Fehler.
-
-In der Befürchtung, daß die Alte erschrecken würde, weil sie allein sei,
-und da er nicht glauben konnte, daß sein Anblick sie beruhigen würde,
-griff er nach der Türe und zog sie zu sich, damit die Alte nicht auf den
-Gedanken komme, sich wieder einzuschließen. Als die Alte das sah, zog
-sie die Türe nicht zurück, ließ aber auch nicht die Türklinke los, so
-daß er sie beinahe mit der Türe auf die Treppe hinauszog. Da er aber
-sah, daß sie quer vor der Türe stand und ihn nicht durchlassen wollte,
-ging er direkt auf sie los. Die Alte sprang erschreckt zurück, wollte
-etwas sagen, aber schien es nicht zu können und sah ihn unverwandt an.
-
-»Guten Tag, Aljona Iwanowna,« begann er möglichst ungezwungen, aber die
-Stimme gehorchte nicht, sie brach ab und zitterte. »Ich habe Ihnen ...
-ein Versatzstück gebracht ... aber wir gehen besser hierher ... wo es
-hell ist ...« Er ließ sie stehn und ging ohne Aufforderung in das
-Zimmer. Die Alte lief ihm nach, ihre Zunge hatte sich gelöst.
-
-»Herrgott! Was wollen Sie? ... Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
-
-»Erlauben Sie, Aljona Iwanowna ... ich bin Ihnen bekannt ...
-Raskolnikoff ... da haben Sie, ich habe ein Versatzstück gebracht, wie
-ich vor ein paar Tagen versprach ...«
-
-Und er reicht ihr das Versatzstück hin.
-
-Die Alte warf einen leichten Blick auf das Versatzstück, aber richtete
-sofort ihre Augen direkt ins Gesicht des ungebetenen Gastes. Sie sah ihn
-aufmerksam, böse und mißtrauisch an. Es verging eine Minute; ihm schien
-sogar, in ihren Augen liege etwas wie Spott, als ob sie schon alles
-erraten hätte. Er fühlte, daß er die Fassung verlor, und daß ihn die
-Furcht packte, eine so starke Furcht, daß ihm schien, wenn sie ihn noch
-eine halbe Minute so weiter angesehen hätte, er ohne ein Wort zu sagen
-weggelaufen wäre.
-
-»Warum sehen Sie mich so an, als ob Sie mich nicht wiedererkennen?«
-sagte er plötzlich ebenfalls böse. »Wenn Sie wollen, nehmen Sie es zum
-Versatz, wenn nicht, -- gehe ich zu anderen, ich habe keine Zeit.«
-
-Er wußte selbst nicht, wie er zu diesen Worten kam.
-
-Die Alte kam zu sich, und der entschlossene Ton des Besuchers gab ihr
-anscheinend Mut.
-
-»Warum sind Sie hergekommen, Väterchen, was ist das?« fragte sie und
-blickte auf das Versatzstück.
-
-»Ein silbernes Zigarettenetui; ich sprach vorigesmal davon!«
-
-Sie streckte die Hand aus.
-
-»Warum sind Sie so blaß? Auch Ihre Hände zittern! Haben Sie gebadet?«
-
-»Fieber habe ich,« antwortete er kurz. »Unwillkürlich wird man blaß ...
-wenn man nichts zu essen hat,« fügte er, die Worte kaum aussprechend,
-hinzu. Die Kräfte verließen ihn wieder. Die Antwort aber erschien
-wahrheitsgetreu; denn die Alte nahm das Versatzstück.
-
-»Was ist es?« fragte sie, indem sie Raskolnikoff noch einmal prüfend
-ansah und das Versatzstück in der Hand wog.
-
-»Ein Ding ... ein Zigarettenetui ... aus Silber ... Sehen Sie nach.«
-
-»Hm, mir scheint es nicht aus Silber ... Sieh, wie er es zugeschnürt hat
-...« Indem sie versuchte, den Bindfaden zu lösen und sich zum Fenster
-gegen das Licht wandte (alle Fenster waren trotz der schwülen Hitze
-geschlossen), ließ sie ihn auf ein paar Sekunden aus dem Auge und
-stellte sich mit dem Rücken gegen ihn. Er knöpfte seinen Mantel auf und
-zog das Beil aus der Schlinge, aber er holte es noch nicht hervor,
-sondern hielt es mit der rechten Hand unter dem Mantel. Seine Hände
-waren furchtbar schwach; er fühlte selbst, wie sie mit jedem Augenblick
-immer mehr erlahmten und erstarrten. Er fürchtete, daß er das Beil
-fallen lassen werde ... plötzlich schwindelte ihm der Kopf.
-
-»Was hat er denn da umgewickelt!« rief die Alte ärgerlich aus und machte
-eine Bewegung nach seiner Seite. Kein Moment länger durfte verloren
-gehen. Er zog das Beil ganz hervor, hob es, kaum daß er sich dessen
-bewußt war, mit beiden Händen empor und ließ es fast ohne Anstrengung,
-fast mechanisch mit der breiten Seite auf den Kopf der Alten
-niederfallen. Er hatte, wie es schien, dabei keine Kraft angewandt. Aber
-kaum hatte er das Beil zum ersten Male fallen lassen, da kamen auch die
-Kräfte.
-
-Die Alte war wie immer barhäuptig. Ihre hellen, leicht ergrauten dünnen
-Haare, wie gewöhnlich fettig geölt, waren in rattenschwanzartige kleine
-Flechten geflochten und wurden von einem abgebrochenen Hornkamme, der
-auf ihrem Hinterkopfe saß, zusammengehalten. Der Schlag hatte sie bei
-ihrer Kleinheit direkt auf den Scheitel getroffen. Sie schrie auf, aber
-sehr leise, ihre beiden Hände gegen den Kopf erhebend. In der einen Hand
-hielt sie das »Versatzstück« fest. Da schlug er aus aller Kraft ein
-zweites und ein drittes Mal zu, immer mit der breiten Seite und immer
-gegen den Scheitel. Das Blut strömte hervor wie aus einem zersprungenen
-Glase, und der Körper fiel zu Boden mit dem Gesichte nach oben. Er trat
-einen Schritt zurück, ließ den Körper liegen und beugte sich über ihr
-Gesicht; sie war schon tot. Die Augen waren weit aufgerissen, als ob sie
-herausspringen wollten, und die Stirn und das ganze Gesicht waren
-verzogen und krampfhaft verzerrt.
-
-Er legte das Beil auf die Diele neben die Tote, langte eilends in ihre
-Tasche, in dieselbe rechte Tasche, aus der sie das vorige Mal die
-Schlüssel hervorgeholt hatte, und suchte zu verhindern, daß er sich mit
-dem fließenden Blute beschmiere. Er war bei klarem Verstande,
-Verdüsterungen und Schwindel fühlte er nicht mehr, aber die Hände
-zitterten immer noch. Er erinnerte sich später, daß er sogar sehr
-aufmerksam und vorsichtig war und immer versuchte, sich nicht zu
-beschmutzen ... Die Schlüssel zog er sofort heraus; sie hingen alle wie
-damals an einem Schlüsselbunde, an einem Ringe von Stahl. Er lief sofort
-mit ihm in das Schlafzimmer. Das war ein sehr kleines Zimmer mit einer
-großen Sammlung Heiligenbilder. An der anderen Wand stand ein großes
-Bett, sehr reinlich, mit einer wattierten Decke, die mit bunten
-Seidenflicken besetzt war. An der dritten Wand stand eine Kommode. Wie
-seltsam, kaum begann er die Schlüssel an der Kommode zu probieren, kaum
-hörte er ihr Rascheln, da kam der Krampf über ihn. -- Er bekam wieder
-Lust, alles liegenzulassen und fortzugehen. Aber das dauerte nur einen
-Augenblick; es war zu spät, fortzugehen. Er lächelte sogar über sich
-selbst, als plötzlich ein anderer beunruhigender Gedanke durch seinen
-Kopf fuhr. Ihm däuchte plötzlich, daß die Alte vielleicht noch lebe und
-zu sich kommen könne. Er ließ die Schlüssel fallen, lief zurück zu der
-Toten, ergriff das Beil und erhob es noch einmal über die Alte, ließ es
-aber nicht niedersausen. Es gab keinen Zweifel, sie war tot. Indem er
-sich über sie beugte und sie wieder in der Nähe betrachtete, sah er
-deutlich, daß der Schädel zerschmettert und sogar ein wenig nach der
-Seite verschoben war. Er wollte mit dem Finger es befühlen, aber er riß
-die Hand zurück; es war ja ohnedem zu sehen. Indessen war schon eine
-ganze Pfütze Blut zusammengelaufen. Plötzlich bemerkte er an ihrem Halse
-eine Schnur, er riß daran, aber die Schnur war stark und ließ sich nicht
-zerreißen, außerdem war sie mit Blut durchtränkt. Er versuchte sie so
-unter dem Busen hervorzuziehen, aber etwas hielt die Schnur fest.
-Ungeduldig wollte er wieder das Beil emporheben, um die Schnur von oben
-über den Körper durchzuschlagen, aber er wagte es nicht, und mit großer
-Mühe zerschnitt er nach einer Arbeit von zwei Minuten die Schnur, ohne
-mit dem Beile den Körper zu berühren, wobei er aber seine Hände und das
-Beil mit Blut besudelt hatte; er hatte sich nicht geirrt -- an der
-Schnur hing ein Beutel. Außerdem hingen daran zwei Kreuze, eins von
-Zypressen und das andere von Kupfer, und ein Heiligenbildchen aus
-Emaille; es war ein kleiner beschmutzter Beutel aus Sämischleder mit
-einer stählernen Spanne und kleinem Ringe. Der Beutel war sehr voll
-gepackt. Raskolnikoff steckte ihn, ohne ihn näher zu betrachten, in die
-Tasche, die Kreuze warf er der Alten auf die Brust, nahm diesmal das
-Beil auch mit und stürzte in das Schlafzimmer zurück.
-
-Er war in schrecklicher Hast, nahm die Schlüssel und versuchte sie von
-neuem. Aber es gelang ihm immer nicht, sie paßten nicht für die
-Schlösser. Nicht, weil seine Hände zitterten, aber er irrte sich immer;
-er sah zum Beispiel, daß es nicht der richtige Schlüssel war, daß er
-nicht paßte, trotzdem probierte er ihn immer wieder. Plötzlich dachte er
-daran und es leuchtete ihm ein, daß dieser große Schlüssel mit dem
-zackigen Barte, der an dem Ringe mit den anderen kleinen zusammenhing,
-gar nicht zu der Kommode gehörte (wie es ihm schon vorigesmal in den
-Sinn gekommen war), sondern unbedingt zu einer Truhe gehören mußte, und
-daß in dieser Truhe vielleicht alles aufbewahrt war. Er verließ die
-Kommode und kroch sofort unter das Bett, da er wußte, daß die Truhen
-gewöhnlich bei alten Frauen unter dem Bette stehen. Es stimmte, es stand
-darunter eine ziemlich große Truhe, ungefähr ein Meter lang, mit einem
-halbrunden Deckel, mit rotem Saffian beschlagen. Der zackige Schlüssel
-paßte und schloß die Truhe auf. Oben, unter einem weißen Laken, lag ein
-mit rotem Stoff bezogener Pelz aus Hasenfellen; unter ihm ein seidenes
-Kleid, ein Schal und in der Tiefe lagen, wie es schien, allerhand
-Kleidungsstücke. Zuerst begann er seine mit Blut besudelten Hände an dem
-roten Stoff abzuwischen. »Der Stoff ist rot und bei rot ist Blut nicht
-so auffallend,« dachte er und plötzlich kam er zu sich. »Mein Gott!
-Verliere ich den Verstand?« sagte er sich erschreckt.
-
-Kaum aber hatte er die Lumpen angerührt, als plötzlich unter dem Pelze
-eine goldene Uhr hervorglitt. Er machte sich daran, alles in der Truhe
-umzuwerfen. Zwischen den Kleidungsstücken waren in der Tat goldene
-Sachen untergebracht -- wahrscheinlich alles versetzte Sachen, gekaufte
-oder nicht ausgelöste Armbänder, Ketten, Ohrringe, Busennadeln und
-dergleichen mehr. Manche Pfänder waren in Futteralen, andere wieder
-einfach in Zeitungspapier eingeschlagen, aber peinlich und sorgfältig in
-doppelte Bogen und mit Bindfaden zugeschnürt. Ohne einen Moment zu
-zögern, begann er seine Hosentaschen und die Taschen im Mantel mit den
-Sachen zu füllen; er untersuchte nicht und öffnete nicht die Pakete und
-die Futterale, aber er kam nicht dazu, viel einzustecken ...
-
-Denn plötzlich hörte er in dem Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er
-ließ das Kramen und verhielt sich still, wie ein Toter. Alles war aber
-ruhig, also hatte er nur geträumt. Aber da hörte er deutlich einen
-leisen Schrei, als wenn jemand leise und abgerissen stöhnte und darauf
-schwieg. Wieder trat eine Totenstille ein, eine Minute oder zwei Minuten
-lang. Er horchte neben der Truhe und wartete mit angehaltenem Atem,
-plötzlich aber sprang er auf, ergriff das Beil und lief aus dem
-Schlafzimmer.
-
-Mitten im Zimmer stand Lisaweta mit einem großen Bündel in der Hand und
-sah erstarrt die ermordete Schwester an; sie war weiß wie Linnen und
-schien außerstande zu schreien. Als sie ihn hereinlaufen sah, erzitterte
-sie wie ein Blatt, und ihr ganzes Gesicht zuckte; sie erhob die eine
-Hand, öffnete den Mund, schrie aber trotzdem nicht und begann langsam
-rückwärts vor ihm in eine Ecke zurückzuweichen, ihm unverwandt ins
-Gesicht sehend, aber immer noch nicht schreiend, als ob es ihr an Luft
-mangele. Er stürzte sich auf sie mit dem Beile. Ihre Lippen verzogen
-sich so kläglich, wie es ganz kleine Kinder tun, wenn sie sich vor etwas
-fürchten, den Gegenstand ihrer Furcht unverwandt ansehen und sich
-anschicken zu schreien. Diese unglückliche Lisaweta war so einfältig und
-so völlig eingeschüchtert, daß sie nicht einmal ihre Hände erhob, um das
-Gesicht zu schützen, obwohl das doch die unwillkürlichste und
-natürlichste Bewegung in diesem Augenblicke gewesen wäre, während das
-Beil über ihrem Kopfe schwebte. Sie erhob nur ein wenig ihre freie linke
-Hand, aber bei weitem nicht bis zum Gesichte und streckte sie ihm
-langsam entgegen, als ob sie ihn zur Seite schieben wollte. Der Schlag
-traf direkt den Schädel mit der scharfen Seite des Beiles und
-durchschnitt mit einem Male den ganzen oberen Teil der Stirn fast bis
-zur Schläfe. Sie stürzte sofort hin. Raskolnikoff verlor beinahe die
-Fassung, er ergriff ihr Bündel, warf es wieder hin und lief in das
-Vorzimmer.
-
-Die Angst packte ihn mehr und mehr nach diesem zweiten, vollkommen
-unerwarteten Morde. Er wollte schnell von hier fort. Und wenn er in
-diesem Augenblicke imstande gewesen wäre, klarer zu sehen und zu denken,
-wenn er sich alle Schwierigkeiten seiner Lage, die ganze Verzweiflung,
-den ganzen Ekel und den ganzen Wahnsinn der Situation hätte vorstellen
-können und dabei verstanden hätte, wieviel Hindernisse, vielleicht auch
-Verbrechen er noch überwinden und vollbringen mußte, um von hier
-loszukommen und nach Hause zu gelangen, dann hätte er wahrscheinlich
-alles im Stiche gelassen und wäre sofort hingegangen und hätte sich
-selbst gestellt; und er hätte es nicht aus Furcht getan für seine
-Person, sondern nur aus Schrecken und Widerwillen allein vor dem, was er
-vollbracht hatte. Besonders der Widerwillen stieg und wuchs in ihm mit
-jedem Augenblicke. Um keinen Preis in der Welt würde er jetzt zu der
-Truhe oder in das Zimmer zurückgegangen sein.
-
-Aber eine Zerstreutheit, eine Nachdenklichkeit kam allmählich über ihn;
-einige Minuten blieb er wie verloren stehen oder besser, er verlor sich
-in Kleinigkeiten und vergaß die Hauptsache. Als er übrigens einen Blick
-in die Küche warf und auf einer Bank einen Eimer sah, der zur Hälfte mit
-Wasser gefüllt war, kam er auf den Gedanken, seine Hände und das Beil
-abzuwaschen. Seine Hände waren blutig und klebten. Das Beil steckte er
-mit der Schneide einfach ins Wasser, ergriff ein Stück Seife, das auf
-dem Fensterbrette auf einer zerschlagenen Untertasse lag und begann im
-Eimer selbst seine Hände zu waschen. Nachdem er die Hände gereinigt
-hatte, zog er auch das Beil heraus, wusch das Eisen ab und wusch lange,
-gegen drei Minuten lang, die Blutflecken vom Holze ab und versuchte
-sogar das Blut mit Seife abzuwaschen. Dann trocknete er alles mit
-Wäschestücken ab, die hier an einem Stricke trockneten, und besah lange
-voll Aufmerksamkeit am Fenster das Beil. Spuren waren nicht da, nur das
-Holz war noch feucht. Er steckte sorgfältig das Beil in die Schlinge
-unter dem Mantel. Darauf besah er den Mantel, die Hosen und die Stiefel,
-soweit es ihm das Licht in der halbdunklen Küche erlaubte. Beim ersten
-Blick schien man außen nichts zu sehen; nur auf den Stiefeln waren
-Flecken. Er machte einen Lappen naß und wischte die Stiefel ab. Er wußte
-übrigens, daß er nicht gut sehen konnte, daß es vielleicht etwas in die
-Augen Fallendes gab, was er nicht bemerkte. In Nachdenken versunken,
-stand er mitten im Zimmer. Ein quälender dunkler Gedanke erstand in ihm
--- der Gedanke, daß er den Verstand verliere, und daß er in diesem
-Augenblicke weder denken noch sich verteidigen könne, daß vielleicht gar
-nicht das zu tun sei, was er jetzt tue ...
-
-»Mein Gott! Ich muß fort, fort!« murmelte er und stürzte in das
-Vorzimmer. Aber hier erwartete ihn ein Schrecken, wie er ihn sicher noch
-nie erlebt hatte.
-
-Er stand, sah hin und traute seinen Augen nicht: die Türe, die
-Außentüre, die aus dem Vorzimmer auf die Treppe ging, dieselbe, an der
-er vor kurzem geschellt und durch die er hineingekommen war, stand
-offen, sogar eine Hand breit offen, weder das Schloß war zu, noch der
-Riegel vor -- die ganze, die ganze, ganze Zeit! Die Alte hatte hinter
-ihm nicht abgeschlossen, vielleicht aus Vorsicht. Aber, mein Gott! Er
-hat aber doch später Lisaweta gesehen! Und wie konnte, wie konnte er
-nicht auf den Gedanken kommen, daß sie doch irgendwie hereingekommen
-war! Sie war nicht durch die Wand gekommen!
-
-Er stürzte zur Türe und legte den Riegel vor.
-
-»Aber nein, das war wieder nicht das richtige! Ich muß fort, fort! ...«
-
-Er zog den Riegel zurück, öffnete die Türe und begann zur Treppe hin zu
-lauschen.
-
-Er horchte lange. Irgendwo weit unten, wahrscheinlich unter dem Tore,
-schrien laut und kreischend zwei Stimmen, stritten sich und schimpften.
-
-»Was haben die? ...«
-
-Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einem Male alles still, wie
-abgeschnitten; sie sind fortgegangen.
-
-Er wollte schon hinaustreten, aber plötzlich öffnete sich geräuschvoll
-ein Stock tiefer eine Tür zur Treppe, jemand begann die Treppe
-hinabzusteigen und summte vor sich irgend etwas her.
-
-»Wie sie alle lärmen!« ging es durch seinen Kopf.
-
-Er zog wieder die Türe zu und wartete. Endlich verstummte alles, keine
-Seele war zu hören. Er tat schon einen Schritt zur Treppe, als er
-plötzlich wieder neue Schritte vernahm.
-
-Diese Schritte kamen von sehr weit her, ganz vom Anfange der Treppe,
-aber er erinnerte sich sehr gut und deutlich, daß er schon beim ersten
-Schritte damals aus irgendeinem Grunde den Verdacht faßte, daß man
-unbedingt _hierher_, in den vierten Stock, zu der Alten komme. Warum?
-Klangen die Schritte so sonderbar, so bedeutungsvoll? Es waren schwere
-gleichmäßige Schritte von einem Menschen, der keine Eile hat. Den ersten
-Stock hat _er_ schon erreicht, nun steigt er weiter die Treppe hinauf,
--- deutlicher und deutlicher hört man es. Er vernahm das schwere Atmen
-des Kommenden. Nun ist er schon im dritten Stock. Er kommt hierher! Und
-plötzlich erschien es Raskolnikoff, als wäre er versteinert, als wäre er
-im Traume, wenn es einem träumt, daß man verfolgt wird, daß die Mörder
-ganz nahe hinter einem sind, man aber wie angewachsen dasteht und die
-Hände nicht rühren kann.
-
-Endlich, als der Besucher schon den vierten Stock heraufstieg, fuhr er
-plötzlich zusammen und es gelang ihm doch schnell und geschmeidig, von
-dem Treppenabsatz in die Wohnung hineinzuschlüpfen und die Türe hinter
-sich zuzumachen. Dann nahm er den Haken und legte ihn leise, unhörbar
-vor. Der Instinkt half ihm. Als er das in Ordnung gebracht hatte,
-stellte er sich mit angehaltenem Atem direkt an die Türe. Der unbekannte
-Besucher war schon da. Sie standen jetzt einander gegenüber, wie er vor
-kurzem der Alten gegenüberstand, als die Türe sie voneinander trennte,
-und er lauschte.
-
-Der Besucher atmete ein paarmal schwer.
-
-»Er ist wahrscheinlich dick und groß,« dachte Raskolnikoff und nahm das
-Beil fester in die Hand. Ihm war wieder alles wie im Traume. Der
-Besucher faßte die Klingel und läutete stark.
-
-Als die Klingel blechern erklirrte, schien es ihm, als ob in dem Zimmer
-sich jemand rühre. Einige Sekunden lauschte er. Der Unbekannte schellte
-noch einmal, wartete ein wenig und begann plötzlich ungeduldig aus aller
-Kraft mit der Türklinke zu klappern. Mit Schrecken blickte Raskolnikoff
-auf den hüpfenden Haken und wartete mit stumpfer Angst, daß der Haken
-jeden Augenblick herausspringen werde. Es schien in der Tat möglich zu
-sein, -- so stark riß jener an der Türe. Er wollte den Haken mit der
-Hand niederhalten, aber der _andere_ konnte es merken. Es begann ihm
-wieder schwindlig zu werden.
-
-»Ich breche noch zusammen!« durchzuckte es ihn, aber der Unbekannte
-begann zu sprechen, da kam er zu sich. »Ja, schlafen die denn da oder
-sind sie tot? Verflucht noch einmal!« wetterte er. »He, Aljona Iwanowna,
-alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, du wundervolle Schönheit! Öffnet! Ach,
-verflucht, schlafen sie wirklich?«
-
-Und er riß von neuem rasend gegen zehnmal nacheinander aus voller Kraft
-an der Klingel. Es war wohl ein Mann, der etwas galt und im Hause gut
-bekannt war.
-
-In diesem Augenblick vernahm man unweit auf der Treppe kurze eilige
-Schritte. Es kam noch jemand. Raskolnikoff hatte es zuerst nicht gehört.
-
-»Ist niemand da; unmöglich?« rief laut der Angekommene und wandte sich
-freundlich an den ersten Besucher, der noch immer an der Klingel riß.
-»Guten Abend, Koch!«
-
-»Nach der Stimme zu urteilen, muß es ein sehr junger Mann sein,« dachte
-Raskolnikoff.
-
-»Das weiß der Teufel, ich habe fast das Schloß abgerissen,« antwortete
-Koch. »Aber woher kennen Sie mich denn?«
-
-»Warum nicht! Vorgestern habe ich Ihnen drei Partien Billard im
->Gambrinus< abgewonnen.«
-
-»Ah ...«
-
-»Also, sie sind nicht zu Hause. Merkwürdig. Das ist aber dumm. Wo mag
-nur die Alte hingegangen sein? Ich habe Geschäfte mit ihr.«
-
-»Ich auch, mein Lieber.«
-
-»Was ist da zu tun? Wohl oder übel müssen wir wieder gehen. Ach! Und ich
-hoffte Geld zu bekommen!« rief der junge Mann aus.
-
-»Selbstredend müssen wir gehen, aber wozu gibt man eine Zeit an? Die
-alte Hexe hat mir selbst die Stunde bestimmt. Für mich bedeutet das
-einen weiten Weg. Zum Teufel, ich verstehe nicht, wo sie sich
-herumtreiben kann. Das ganze Jahr sitzt sie im Hause, die Hexe, rührt
-sich nicht vom Fleck, die Füße tun ihr weh, und nun plötzlich macht sie
-Ausflüge!«
-
-»Sollen wir nicht den Hausknecht fragen?«
-
-»Wonach denn?«
-
-»Wohin sie gegangen ist und wann sie wiederkommt?«
-
-»Hm ... zum Teufel ... sollen wir fragen ... Ja, sie geht doch nie aus
-...« und er riß noch einmal an der Türklinke.
-
-»Zum Teufel, es bleibt nichts übrig, wir müssen fortgehen.«
-
-»Warten Sie!« rief plötzlich der junge Mann. »Sehen Sie einmal, wie die
-Türe nachgibt, wenn man daran reißt!«
-
-»Na, und?«
-
-»Also ist sie nicht abgeschlossen, sondern nur eingehakt, auf den Haken!
-Hören Sie, wie der Haken klirrt?«
-
-»Nun?«
-
-»Verstehn Sie denn nicht? Also ist jemand von ihnen zu Hause. Wenn alle
-fortgegangen wären, hätten sie die Türe mit dem Schlüssel abgeschlossen,
-und nicht von innen mit dem Haken. Hören Sie nun, wie der Haken klirrt?
-Um aber von innen die Türe mit dem Haken abzuschließen, muß man zu Hause
-sein, verstehen Sie? Also, sitzen sie zu Hause und öffnen nicht!«
-
-»Hm! Ja, das ist wahr!« rief erstaunt Koch. »Was ist denn mit ihnen
-los?« Und er begann voll Wucht an der Türe zu zerren.
-
-»Warten Sie!« rief von neuem der junge Mann. »Halten Sie ein! Hier ist
-etwas nicht in Ordnung ... Sie haben doch geklingelt, an der Türe
-gerüttelt, -- und sie öffnen nicht, also, liegen sie entweder in
-Ohnmacht oder ...«
-
-»Was?«
-
-»Hören Sie mal, holen wir den Hausknecht, möge er sie aufwecken.«
-
-»Gut.«
-
-Sie gingen beide zur Treppe.
-
-»Warten Sie! Bleiben Sie mal hier, ich aber laufe nach dem Hausknecht.«
-
-»Warum soll ich bleiben?«
-
-»Es ist so besser ...«
-
-»Meinetwegen ...«
-
-»Ich bereite mich zum Untersuchungsrichter vor! Hier stimmt offenbar,
-offen--bar ... nicht alles!« rief voll Eifer der junge Mann und lief
-eilig die Treppe hinab.
-
-Koch blieb, rührte noch einmal leise die Klingel und es klirrte ein
-einziges Mal; dann begann er sachte, als ob er es überlegte und prüfte,
-die Türklinke zu bewegen, er zog sie auf und ließ sie niedergleiten, um
-sich noch einmal zu vergewissern, daß die Türe bloß mit einem Haken
-geschlossen sei. Darauf bückte er sich schwer atmend und blickte durch
-das Schlüsselloch, aber darin stak von innen der Schlüssel, und er
-konnte nichts sehen.
-
-Raskolnikoff stand und hielt krampfhaft das Beil, fieberhaft erregt. Er
-war bereit zu kämpfen, wenn sie hereinkommen sollten. Schon als sie
-klopften und sich besprachen, kam ihm einigemal der Gedanke, allem ein
-Ende zu machen und ihnen durch die Türe zuzurufen. Es wandelte ihn an,
-sie zu schimpfen, sie zu reizen, bevor sie die Türe aufmachten. »Möchte
-es doch schneller zu Ende gehen!« fuhr es ihm durch den Kopf. »Zum
-Teufel noch einmal ...«
-
-Die Zeit verrann, eine Minute nach der andern ging vorüber, niemand kam.
-Koch begann unruhig zu werden.
-
-»Zum Teufel noch einmal! ...« rief er plötzlich aus, und voll Ungeduld
-verließ er seinen Posten, ging die Treppe eilig hinab, und stapfte fest
-auf.
-
-»Mein Gott, was ist nun zu tun!« Raskolnikoff hob den Haken ab, öffnete
-ein wenig die Türe, es war nichts zu hören, er trat plötzlich vollkommen
-gedankenlos heraus, zog die Türe hinter sich möglichst dicht zu und ging
-hinab. Er war schon drei Treppen hinabgestiegen, als plötzlich unten ein
-starker Lärm hörbar wurde, -- wohin sich wenden? Er konnte sich nirgends
-verstecken und wollte schon zurück in die Wohnung laufen.
-
-»He Teufel! Halt!«
-
-Mit einem Schrei stürzte jemand unten aus einer Wohnung heraus und lief
-so schnell hinunter, daß er die Treppe beinahe hinunterzufallen schien.
-
-»Mitjka, Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Hol dich der Kuckuck!«
-
-Der Schrei endete mit Kreischen; die letzten Töne hörte man schon vom
-Hofe her; alles wurde still. Aber im selben Augenblick begannen ein paar
-Menschen, die laut und schnell sprachen, geräuschvoll die Treppe
-hinaufzusteigen, vielleicht drei oder vier. Raskolnikoff unterschied die
-helle Stimme des jungen Mannes.
-
-»Das sind sie.«
-
-In größter Verzweiflung ging er ihnen direkt entgegen, -- mochte nun
-kommen, was wollte. Wenn sie ihn anhielten, war alles verloren, wenn sie
-ihn vorbeiließen, war auch alles verloren, -- denn sie werden ihn
-wiedererkennen. Sie kamen bedenklich näher; zwischen ihnen war nur eine
-einzige Treppe -- da kam die Rettung. Einige Stufen vor ihm rechts stand
-weit geöffnet eine leere Wohnung, dieselbe Wohnung im zweiten Stock, in
-der Arbeiter malten und jetzt wie mit Absicht fortgegangen waren. Das
-waren sicher die Leute gewesen, die soeben mit solch einem Geschrei
-hinabgelaufen waren. Die Dielen waren frisch gestrichen, mitten im
-Zimmer stand ein kleiner Eimer und eine Scherbe von einem Topfe mit
-Farbe und Pinsel. Im Nu schlüpfte er durch die offene Tür und verbarg
-sich hinter einer hohen Wand, es war hohe Zeit. Sie waren schon auf dem
-Treppenabsatz. Dann wandten sie sich nach oben und gingen laut sprechend
-nach dem vierten Stock. Er wartete eine Zeitlang, ging auf Fußspitzen
-hinaus und lief nach unten.
-
-Auf der Treppe war niemand! Auch unten nicht. Er ging schnell durch das
-Tor und ging nach links die Straße hinunter. Er wußte es nur zu gut, daß
-sie in diesem Augenblicke schon in der Wohnung waren, daß sie erstaunt
-waren, die Türe offen zu sehen, die noch eben verschlossen war, daß sie
-schon die Leichen erblickten, und daß sie in weniger als einer Minute
-erraten würden, daß der Mörder hier soeben noch dagewesen war und Zeit
-gefunden hatte, sich irgendwo zu verbergen, an ihnen vorbeizuhuschen und
-zu fliehen; sie werden vielleicht auch auf den Gedanken gekommen sein,
-daß er in der leeren Wohnung stak, als sie nach oben gingen. Indessen
-aber durfte er um keinen Preis seinen Gang zu sehr beschleunigen,
-obgleich bis zur ersten Seitenstraße gegen hundert Schritte waren.
-
-»Soll ich nicht in ein Tor hineinschlüpfen und irgendwo in einer
-unbekannten Straße abwarten? Nein, das ist gefährlich! Soll ich nicht
-das Beil fortwerfen? Soll ich nicht eine Droschke nehmen? Es ist zu
-gefährlich, zu gefährlich!«
-
-Endlich kam die Seitenstraße, er bog in sie halbtot ein. Hier war er
-schon zur Hälfte gerettet, und ward es inne, -- hier erregte er kaum
-Verdacht, zudem war diese Straße stark belebt, und er ging wie ein
-Sandkorn in der Menge verloren. Aber alle diese Qualen hatten ihn so
-erschöpft, daß er sich kaum mehr fortbewegen konnte. Der Schweiß rann
-ihm in Tropfen herunter, sein Hals war ganz naß.
-
-»Sieh mal, wie der voll ist!« rief ihm jemand zu, als er auf den Kanal
-hinauskam.
-
-Er hatte fast keinen Gedanken mehr; je weiter er ging, um so schlimmer
-wurde es. Er erschrak plötzlich, als er an den Kanal hinauskam; denn
-dort gab es wenig Menschen, hier konnte er leichter auffallen, und er
-wollte wieder in die Seitengasse zurückkehren. Trotzdem er am Umfallen
-war, machte er doch einen Umweg und kam von einer anderen Seite nach
-Hause.
-
-Noch fast besinnungslos schritt er durch das Tor seines Hauses; er war
-schon die Treppe hinaufgestiegen, da erst entsann er sich des Beiles.
-Eine überaus wichtige Aufgabe stand ihm noch bevor, das Beil
-zurückzulegen und es unbemerkt zu tun. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu
-überlegen, ob es vielleicht nicht viel besser wäre, das Beil gar nicht
-mehr auf seinen früheren Platz zurückzubringen, sondern es irgendwo auf
-einen fremden Hof, wenn auch nicht sofort, zu werfen.
-
-Doch es ging alles gut vonstatten. Die Türe zu der Wohnung des
-Hausknechts war zugemacht, aber nicht verschlossen, also war der
-Hausknecht sehr wahrscheinlich zu Hause. Und so weit hatte er schon die
-Fähigkeit zu überlegen verloren, daß er einfach auf die Wohnung losging
-und die Türe öffnete. Hätte der Hausknecht ihn in diesem Augenblick
-gefragt, was er wolle, er hätte ihm einfach das Beil in die Hand
-gegeben. Der Hausknecht war aber auch diesmal nicht da und er konnte das
-Beil auf seinen Platz unter die Bank legen; er bedeckte es sogar wieder
-mit einem Holzscheit. Keine Seele begegnete ihm bis zu seinem Zimmer;
-die Türe zur Wohnung der Wirtin war abgeschlossen. Nachdem er in sein
-Zimmer eingetreten war, warf er sich auf den Diwan, so wie er war. Er
-schlief nicht, verfiel aber in einen Halbschlummer. Wenn jemand jetzt in
-sein Zimmer getreten wäre, wäre er aufgesprungen und hätte geschrien.
-Abgerissene, verworrene Gedanken wirbelten in seinem Kopfe, aber er
-konnte keinen einzigen erfassen, keinen festhalten, trotz aller
-Anstrengung.
-
-
-
-
- Zweiter Teil
-
-
- I.
-
-So lag er sehr lange da. Manchmal wachte er vom Schlafe auf und dann
-bemerkte er, daß es schon längst Nacht war. Endlich nahm er wahr, daß es
-schon heller Tag war. Er lag auf dem Diwan ausgestreckt, noch erstarrt
-von der kaum überwundenen Bewußtlosigkeit. Schrill tönte fürchterliches
-verzweifeltes Geheul von der Straße herauf, das er jede Nacht unter
-seinem Fenster in der dritten Morgenstunde hörte. Das hatte ihn auch
-jetzt wieder aufgeweckt.
-
-»Ah! Es kommen die Betrunkenen schon aus den Kneipen,« dachte er. »Es
-ist drei Uhr!« und er sprang auf, als hätte ihn jemand von dem Diwan
-heruntergestoßen.
-
-»Wie! Es ist schon drei!«
-
-Er setzte sich -- und da fiel ihm alles ein! Plötzlich fiel ihm alles
-ein!
-
-Im ersten Augenblicke dachte er, er würde den Verstand verlieren. Eine
-furchtbare Kälte erfaßte ihn, aber die Kälte kam vom Fieber, das schon
-längst während des Traumzustandes angefangen hatte. Es packte ihn ein
-Schüttelfrost, daß die Zähne zusammenschlugen, und alles zitterte an
-ihm. Er öffnete die Türe und begann zu lauschen: im Hause schlief alles.
-Erschreckt betrachtete er sich selbst und alles ringsum im Zimmer und
-begriff nicht -- wie konnte er nur gestern die Türe nicht zuhaken und
-sich nicht nur angekleidet, sondern sogar mit dem Hute auf den Diwan
-werfen; der Hut war ihm heruntergefallen und lag dort auf der Diele in
-der Nähe des Kissens.
-
-»Wenn jemand gekommen wäre, was hätte er denken müssen? Daß ich
-betrunken, aber ...«
-
-Er stürzte zum Fenster. Es war genügend hell und er besah sich schnell
-ganz vom Kopfe bis zu den Füßen, seine ganze Kleidung, ob nicht Spuren
-daran waren. Aber man konnte so nichts sehen; zitternd vor Frost, zog er
-alles aus und wieder betrachtete er es von allen Seiten. Er drehte alles
-um bis zum letzten Faden und Fetzen, und da er sich selber nicht traute,
-wiederholte er dreimal die Besichtigung. Aber er fand nichts, scheinbar
-keine Spur; nur an einer Stelle, wo die Hosen unten abgerieben und in
-Fransen hingen, waren an diesen Fransen dicke Flecken eingetrockneten
-Blutes. Er nahm ein großes Taschenmesser und schnitt die Fransen ab.
-Mehr schien es nicht zu sein. Da fiel ihm ein, daß der Beutel und die
-Sachen, die er aus der Truhe bei der Alten herausgenommen, sich noch
-immer in seinen Taschen befanden. Er hatte nicht mehr daran gedacht, sie
-herauszunehmen und zu verstecken. Nicht einmal jetzt sogar hatte er sich
-ihrer gleich erinnert, als er seine Kleider besah. War denn das möglich?
-Hastig nahm er sie heraus und warf sie auf den Tisch. Nachdem er alles
-herausgenommen und die Taschen umgekehrt hatte, um sich zu vergewissern,
-daß nichts übriggeblieben war, brachte er den ganzen Haufen in eine
-Ecke. Dort in der Ecke waren unten an einer Stelle die von der Wand
-losgelösten Tapeten zerrissen; sofort begann er alles in dieses Loch
-unter dem Papier hineinzustopfen.
-
-»Es ist hineingegangen! Alles ist fort, sogar der Beutel!« dachte er
-voller Freude, indem er aufstand und stumpf in die Ecke sah, auf das
-Loch, wo die Tapete jetzt weiter abstand.
-
-Da schrak er wieder zusammen.
-
-»Mein Gott,« flüsterte er verzweifelt, »was ist mit mir? Ist denn das
-versteckt? Versteckt man das so?«
-
-Natürlich hatte er mit solchen Gegenständen gar nicht gerechnet; er
-dachte, daß es nur Geld bei ihr geben würde und darum hatte er keinen
-Platz vorher ausgesucht.
-
-»Aber jetzt, jetzt, worüber freute ich mich denn?« dachte er. »Versteckt
-man denn so? In der Tat, der Verstand verläßt mich!«
-
-Erschöpft setzte er sich auf den Diwan und von neuem schüttelte ihn ein
-unerträglicher Fieberanfall. Mechanisch hüllte er sich in seinen
-früheren Studentenmantel, einen gefütterten, aber schon recht schäbigen
-Winterüberzieher; er deckte sich mit ihm zu, und alsbald überfielen ihn
-wieder Schlaf und Fieberträume.
-
-Doch schon nach fünf Minuten sprang er wieder auf und stürzte außer sich
-von neuem zu seinen Kleidern. »Wie konnte ich nur wieder einschlafen, wo
-noch nichts getan ist! Da haben wir es, da haben wir es, die Schlinge
-unter der Achsel habe ich noch nicht abgenommen! Ich habe es vergessen,
-habe solch eine Sache vergessen! Solch ein Verdachtsmoment!«
-
-Er riß die Schlinge ab und begann sie schnell in Stücke zu zerreißen und
-versteckte sie unter dem Kissen in der Wäsche.
-
-»Stücke von zerrissener Leinwand können in keinem Falle Verdacht
-erregen; es scheint so, es scheint so!« wiederholte er, mitten im Zimmer
-stehend, und begann von neuem mit schmerzhaft angespannter
-Aufmerksamkeit ringsum, auf der Diele und überall, herumzuspähen, ob er
-nicht noch etwas vergessen habe. Die Überzeugung, daß alles, sogar das
-Gedächtnis, sogar das einfache Denken ihn verließ, -- begann ihn
-unerträglich zu quälen.
-
-»Was! fängt es schon jetzt an, kommt schon jetzt die Strafe? Sieh da,
-sieh es stimmt!«
-
-Die abgeschnittenen Fransen, die er von den Hosen abgetrennt hatte,
-lagen in der Tat auf der Diele mitten im Zimmer, damit sie ja der erste
-beste sehen konnte.
-
-»Was ist denn nur mit mir!« rief er wieder aus, wie verloren.
-
-Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: vielleicht war auch seine ganze
-Kleidung blutig, vielleicht hat sie viele Flecken, aber er sieht sie
-bloß nicht, er bemerkt sie nicht, weil sein Denken geschwächt, verworren
-... der Verstand verdüstert ist ... Plötzlich erinnerte er sich, daß an
-dem Beutel auch Blut war.
-
-»Bah, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ich den noch feuchten
-Beutel hineinsteckte!«
-
-Schnell kehrte er die Hosentasche um, und -- tatsächlich, -- auf dem
-Futter der Tasche waren Spuren, Flecken.
-
-»Also hat mich der Verstand noch nicht ganz verlassen, also besitze ich
-noch Urteilsfähigkeit und Gedächtnis, wenn ich mich hierauf besinnen
-konnte!« dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und
-freudig auf. »Es ist einfach fieberhafte Schwäche, eine vorübergehende
-Anwandlung.«
-
-Und er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche. In diesem
-Augenblicke beleuchtete ein Sonnenstrahl seinen linken Stiefel; auf dem
-Strumpfe, der aus dem Stiefel hervortrat, schienen Flecken zu sein. Er
-zog den Stiefel aus, -- es waren wirklich Spuren. Die ganze Fußspitze
-war mit Blut durchtränkt; wahrscheinlich war er unvorsichtigerweise in
-die Pfütze getreten ... »Aber was nun damit tun? Wohin diesen Strumpf
-tun? Wohin diesen Strumpf, die Franse, die Hosentasche?« Er knüllte
-alles in der Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. »In den
-Ofen? Aber im Ofen wird man zuerst nachstöbern. Verbrennen? Ja, aber
-womit brennen? Er hat nicht mal Streichhölzer. Nein, besser, irgendwo
-hingehen und alles fortwerfen. Ja! das beste ist fortwerfen!«
-wiederholte er und setzte sich von neuem auf den Diwan. »Und sofort muß
-ich es tun, in diesem Augenblick, ohne Zeit zu verlieren! ...«
-
-Indessen fiel sein Kopf von neuem auf das Kissen; wieder durchrüttelte
-ihn eisig der unerträgliche Schüttelfrost; wieder zog er den
-Wintermantel über sich. Und lange noch, ein paar Stunden, träumte er ab
-und zu, »ich muß sofort ohne Zögern irgendwo hingehen und alles
-fortwerfen, damit es schnell aus den Augen kommt!« Einigemal erhob er
-sich vom Diwan, wollte aufstehn, konnte aber nicht mehr. Endlich weckte
-ihn ein starkes Klopfen an der Türe.
-
-»Öffne doch, lebst du oder nicht? Und immer schläft er!« schrie Nastasja
-und schlug mit der Faust an die Türe. »Den ganzen geschlagenen Tag
-schläft er wie ein Hund! Er ist auch ein Hund! Öffne doch. Es ist schon
-elf Uhr.«
-
-»Vielleicht ist er nicht zu Hause,« sagte eine männliche Stimme.
-
-»Ha, das ist die Stimme des Hausknechtes ... Was will er?«
-
-Er sprang auf und setzte sich auf den Diwan. Das Herz klopfte so stark,
-daß es ihn schmerzte.
-
-»Wer hat denn die Türe zugehakt?« erwiderte Nastasja. »Sieh mal, er
-fängt an, sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn holen könnte?
-Öffne. Mensch, wach auf!«
-
-»Was wollen sie? Warum ist der Hausknecht da? Alles ist bekannt. Soll
-ich Widerstand leisten oder öffnen? Mag alles zugrunde gehen ...«
-
-Er erhob sich ein wenig, beugte sich nach vorn und nahm den Haken ab.
-
-Das ganze Zimmer war nur so groß, daß man den Türhaken abnehmen konnte,
-ohne vom Bette aufzustehen.
-
-Er hatte richtig geraten, -- vor ihm standen Nastasja und der
-Hausknecht. Nastasja blickte ihn eigentümlich an. Er warf dem
-Hausknechte einen herausfordernden und verzweifelten Blick zu. Der
-reichte ihm schweigend ein graues zusammengelegtes Stück Papier, das mit
-gewöhnlichem Siegellack zugesiegelt war.
-
-»Vorladung aus dem Bureau,« sagte er, indem er das Papier überreichte.
-
-»Aus welchem Bureau? ...«
-
-»Selbstredend vom Polizeibureau.«
-
-»Von der Polizei! ... Warum?«
-
-»Woher soll ich es wissen. Man verlangt es und da müssen Sie gehen.«
-
-Er sah ihn aufmerksam an, warf einen Blick ins Zimmer und wandte sich,
-um fortzugehen.
-
-»Bist du ganz krank geworden?« bemerkte Nastasja, die ihre Augen nicht
-von ihm abwandte.
-
-Der Hausknecht drehte auch einen Augenblick seinen Kopf um.
-
-»Seit gestern hat er Fieber,« fügte sie hinzu.
-
-Er antwortete nichts und hielt das Schriftstück in den Händen, ohne es
-zu öffnen.
-
-»Bleib liegen,« fuhr Nastasja fort; sie wurde weicher gestimmt, als sie
-sah, daß er die Füße vom Diwan herabließ.
-
-»Da du krank bist, so gehe nicht hin: es brennt doch nicht. Was hast du
-da in der Hand?«
-
-Er blickte hin. In der rechten Hand hielt er die abgeschnittenen Fransen
-von der Hose, den Strumpf und die Fetzen der ausgerissenen Tasche. So
-hatte er mit ihnen geschlafen. Als er später darüber nachsann, erinnerte
-er sich, daß er im Fieber aufwachend, dies alles nur fester in seiner
-Hand zusammenballte und wieder einschlief.
-
-»Sieh, was für Lumpen er gesammelt hat und schläft mit ihnen, als wären
-sie ein kolossaler Schatz ...« Und Nastasja fiel in ihr lautes nervöses
-Lachen.
-
-Im Nu steckte er alles unter den Mantel und heftete auf sie einen
-forschenden Blick. Obwohl er in diesem Augenblicke wenig mit Verstand
-sich die Sache überlegen konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen
-nicht in dieser Weise behandeln würde, wenn man ihn verhaften wollte ...
-
-»Aber ... die Polizei?«
-
-»Du solltest etwas Tee trinken. Willst du? Ich bringe ihn dir; es ist
-etwas übriggeblieben ...«
-
-»Nein ... ich will hingehen; ich will sofort hingehen,« murmelte er
-aufstehend.
-
-»Du kannst ja nicht mal die Treppe hinuntergehen.«
-
-»Ich will hingehen ...«
-
-»Wie du willst.«
-
-Sie folgte dem Hausknechte.
-
-Sofort stürzte er zum Licht, um den Strumpf und die Hosenfransen zu
-besehen.
-
-»Flecken sind da, aber kaum sichtbar. Alles ist beschmutzt, abgerieben
-und verblichen. Wer es nicht weiß -- wird nichts bemerken. Nastasja
-konnte wahrscheinlich von weitem nichts sehen. Gott sei Dank.« Dann
-öffnete er mit Bangen die Vorladung und begann zu lesen; er las lange,
-und schließlich begriff er. Es war eine gewöhnliche Vorladung, vom
-Polizeirevier, heute um halb zehn in dem Bureau des Revieraufsehers zu
-erscheinen.
-
-»Das ist mir noch nie passiert. Ich habe nichts mit der Polizei zu tun.
-Und warum gerade heute!«
-
-Er wollte sich schon auf die Knie werfen, um zu beten, lachte dann aber
-selbst darüber, -- nicht über das Beten, sondern über sich selbst. Er
-begann sich eilig anzuziehen.
-
-»Soll ich zugrunde gehen, na, dann ist nichts zu machen. Soll ich den
-Strumpf anziehen!« dachte er plötzlich. »Er wird noch mehr im Staub
-beschmutzt und die Spuren werden verschwinden.«
-
-Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn voll Ekel und Schrecken
-herunterriß. Er hatte ihn vom Fuß heruntergerissen, aber nachdem er
-überlegt hatte, daß er keinen anderen hatte, zog er ihn wieder an -- und
-lachte wieder.
-
-»All das ist Vorurteil, alles ist nur wie man's nimmt, all das sind nur
-Formen,« dachte er einem flüchtigen Gedanken nach und zitterte dabei am
-ganzen Körper. »Ich habe ihn doch angezogen. Hab es fertig gebracht, ihn
-anzuziehen.«
-
-Aber das Lachen verwandelte sich sogleich in Verzweiflung.
-
-»Nein, das ist über meine Kräfte ...« dachte er. Seine Füße zitterten.
-
-»Aus Angst,« murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und
-schmerzte vor Fieber.
-
-»Eine List ist es! Sie wollen mich mit List hinlocken und mich plötzlich
-aus der Fassung bringen,« fuhr er fort vor sich hinzumurmeln und ging
-auf die Treppe hinaus. »Das ist schlimm, daß ich fieberig bin ... ich
-kann irgendeine Dummheit machen ...«
-
-Auf der Treppe besann er sich, daß er alle Sachen so in dem Loche unter
-der Tapete liegen ließ. »Und gerade jetzt konnte absichtlich in seiner
-Abwesenheit eine Haussuchung vorgenommen werden,« fiel es ihm ein, und
-er blieb stehn. Aber solch eine Verzweiflung und solch ein, wenn man
-sich so ausdrücken darf, -- Zynismus über seinen Untergang hatten ihn
-gepackt, daß er unbekümmert weiterging.
-
-»Möge es bloß schnell vorbei sein! ...« Auf der Straße war es wieder
-unerträglich heiß; kein Regentropfen in all diesen Tagen. Wieder gab es
-Staub von Ziegeln und Kalk, wieder den Gestank aus den Läden und
-Wirtshäusern, wieder tauchten alle Augenblicke Betrunkene, finnische
-Höcker und halbzerfallene Droschken auf. Die Sonne strahlte hell in
-seine Augen, so daß es ihm weh tat, und der Kopf schwindelte ihm, -- das
-gewöhnliche Gefühl eines Fieberkranken, der plötzlich auf die Straße an
-einem heißen sonnigen Tage hinaustritt.
-
-Als er um die Ecke in die _gestrige_ Straße einbog, blickte er dorthin,
-auf _jenes_ Haus voll qualvoller Unruhe ... und wendete sogleich die
-Augen ab.
-
-»Wenn man mich frägt, werde ich es vielleicht sagen,« dachte er, indem
-er sich dem Polizeibureau näherte.
-
-Das Bureau war ein paar hundert Schritte von seinem Hause entfernt. Es
-war kürzlich in neuen Räumen in einem neuen Hause im vierten Stocke
-untergebracht worden. In dem alten Bureau war er einmal, aber vor
-längerer Zeit, gewesen. Als er in das Tor eintrat, erblickte er zur
-rechten Hand eine Treppe, von der ein Mann mit einem Buche in der Hand
-herunterkam. »Ein Bureaudiener also; folglich ist auch hier das Bureau,«
-und er begann aufs Geratewohl die Treppe hinaufzusteigen. Er wollte
-niemanden um Auskunft fragen.
-
-»Ich trete ein, werfe mich auf die Knie und erzähle alles ...« dachte
-er, indem er die letzte Treppe zum vierten Stock hinaufstieg.
-
-Die Treppe war sehr schmal, steil und voll Unrat. Alle Küchen von allen
-Wohnungen in all den vier Stockwerken mündeten auf diese Treppe und
-standen fast den ganzen Tag offen. Daher war dort eine furchtbare,
-stickige Luft. Es kamen und gingen Hausknechte mit Büchern unter dem
-Arm, Schutzleute und allerhand Volk beiderlei Geschlechts, die da zu tun
-hatten. Die Türe zu dem Polizeibureau stand auch sperrweit auf. Er trat
-ein und blieb im Vorzimmer stehn. Überall standen, überall warteten
-Bauern. Auch hier war die Luft schrecklich dumpf und außerdem roch es
-zum Übelwerden nach frischer, nicht ausgetrockneter Farbe mit ranzigem
-Öl von den neugestrichenen Dielen. Er wartete ein wenig und beschloß,
-weiter in das nächste Zimmer zu gehen. Alle Zimmer waren klein und
-niedrig. Eine quälende Ungeduld zog ihn immer weiter und weiter. Niemand
-beachtete ihn. In dem zweiten Zimmer saßen und schrieben einige
-Schreiber, die vielleicht ein wenig besser gekleidet waren als er, dem
-Äußeren nach komische Menschen. Er wandte sich an einen von ihnen.
-
-»Was wünschest du?«
-
-Er zeigte die Vorladung.
-
-»Sie sind Student?« fragte der Schreiber, nachdem er einen Blick auf die
-Vorladung geworfen hatte.
-
-»Ja, ich bin gewesener Student.«
-
-Der Schreiber blickte ihn ohne jegliche Neugier an. Er war ein besonders
-zerzauster Mensch mit einem unbeweglichen Ausdruck im Blicke.
-
-»Von diesem erfahre ich nichts, denn ihm ist es gleichgültig,« dachte
-Raskolnikoff.
-
-»Gehen Sie dorthin, zu dem Sekretär,« sagte der Schreiber und wies mit
-dem Finger auf das allerletzte Zimmer.
-
-Er trat in dieses Zimmer, das vierte der Reihe nach; es war eng und
-vollgestopft von Menschen, die ein wenig besser gekleidet waren, als in
-den ersten Zimmern. Unter den Besuchern waren auch zwei Damen. Die eine
-in Trauer, ärmlich gekleidet, saß an einem Tisch gegenüber dem Sekretär
-und schrieb etwas nach seinem Diktat. Die andere Dame, eine sehr dicke,
-purpurrote, ansehnliche Frau mit Flecken im Gesichte, sehr auffällig
-gekleidet, mit einer Brosche in der Größe einer Untertasse stand
-seitwärts und schien auf etwas zu warten. Raskolnikoff schob dem
-Sekretär seine Vorladung zu. Dieser besah sie flüchtig, sagte: »warten
-Sie« und fuhr fort, sich mit der Dame in Trauer zu beschäftigen.
-
-Raskolnikoff atmete erleichtert auf.
-
-»Es ist sicher nicht das!« Allmählich begann er Mut zu fassen, er sprach
-sich mit aller Macht zu, sich zusammenzunehmen und besonnen zu sein.
-
-»Irgendeine Dummheit, irgendeine geringfügige Unvorsichtigkeit, und ich
-kann mich verraten! Hm ... schade, daß hier keine frische Luft ist,«
-fügte er hinzu, »diese Schwüle ... Der Kopf schwindelt mir noch mehr ...
-und der Verstand auch ...«
-
-Er fühlte in seinem ganzen Körper eine furchtbare Zerrüttung und
-fürchtete auch, sich nicht beherrschen zu können. Nun versuchte er, sich
-an etwas anzuklammern, und an irgend etwas vollkommen Nebensächliches zu
-denken, aber das gelang ihm absolut nicht. Der Sekretär interessierte
-ihn übrigens sehr stark, -- er wollte gern aus seinem Gesichte etwas
-erraten und ihn durchschauen. Es war ein sehr junger Mann von etwa
-zweiundzwanzig Jahren, mit einem beweglichen Gesichte von dunkler Farbe,
-das ihn älter erscheinen ließ; er war nach der Mode und stutzerhaft
-gekleidet, hatte einen Scheitel am Hinterkopf, war frisiert und
-pomadisiert und trug eine Menge Ringe an den weißen, peinlich sauberen
-Fingern und eine goldene Kette auf der Weste. Mit einem anwesenden
-Ausländer wechselte er sogar ein paar Worte französisch, und tat es
-ziemlich gut.
-
-»Louisa Iwanowna, setzen Sie sich doch,« sagte er flüchtig zu der
-geputzten purpurroten Dame, die die ganze Zeit dastand, als wage sie
-nicht sich hinzusetzen, obwohl ein Stuhl neben ihr stand.
-
-»Ich danke,« sagte sie deutsch und setzte sich, seiderauschend, auf den
-Stuhl. Ihr hellblaues Kleid, mit weißen Spitzen besetzt, umgab gleich
-einem Luftballon ihren Stuhl und nahm beinahe das halbe Zimmer ein. Ein
-Duft von Parfüm verbreitete sich. Aber der Dame schien es peinlich zu
-sein, daß sie das halbe Zimmer einnahm und daß sie so stark nach Parfüm
-duftete, obgleich sie halb ängstlich, halb frech, jedoch voll deutlicher
-Unruhe lächelte.
-
-Die Dame in Trauer war endlich fertig und erhob sich von ihrem Platze.
-Plötzlich trat mit einigem Geräusch, bei jedem Schritte sehr rasch und
-eigentümlich die Schultern bewegend, ein Offizier ein, warf die Mütze
-mit der Kokarde auf den Tisch und setzte sich in den Sessel. Bei seinem
-Anblicke sprang die geputzte Dame von ihrem Platze auf und begann mit
-besonderem Entzücken zu knixen, der Offizier aber schenkte ihr nicht die
-geringste Beachtung und sie wagte es nicht mehr, sich in seiner
-Gegenwart hinzusetzen. Es war der Gehilfe des Revieraufsehers, er hatte
-einen horizontal abstehenden rötlichen Schnurrbart, sein Gesicht wies
-unbedeutende Züge auf, die außer einer gewissen Frechheit nichts
-ausdrückten. Er blickte von der Seite und unmutig auf Raskolnikoff;
-dessen Anzug war schlecht, und dennoch entsprach seine Haltung nicht der
-Ärmlichkeit seiner Kleidung. Raskolnikoff hatte aus Unvorsichtigkeit ihm
-zu lange ins Gesicht gestarrt, so daß jener sich sogar beleidigt fühlte.
-
-»Was willst du?« schrie er ihn an, entrüstet, daß solch ein zerlumpter
-Mensch nicht daran dachte, vor seinem blitzesprühenden Blicke sich zu
-verziehen.
-
-»Man hat mich bestellt ... laut Vorladung ...« antwortete Raskolnikoff
-zusammenhanglos.
-
-»Es handelt sich um eine Geldforderung an ihn, _er ist Student_,«
-beeilte sich der Sekretär zu bemerken, indem er von seiner Arbeit
-aufschaute. »Da ist es!« und er warf Raskolnikoff ein Heft zu und zeigte
-ihm die Stelle. »Lesen Sie es durch!«
-
-»Geld? Was für Geld?« dachte Raskolnikoff, »aber, ... es ist also nicht
-das!«
-
-Und er fuhr vor Freude zusammen. Es wurde ihm urplötzlich unbeschreibbar
-leicht. Alles war verflogen.
-
-»Um welche Stunde aber sind Sie hierher bestellt, mein Herr!« schrie der
-Leutnant, der sich aus unbekannten Gründen immer mehr ärgerte. »Man
-bestellte Sie um neun und jetzt ist schon die zwölfte Stunde.«
-
-»Man hat mir die Vorladung erst vor einer Viertelstunde zugestellt,«
-antwortete laut und über die Schulter hinweg Raskolnikoff, der auch
-plötzlich und unerwartet ärgerlich geworden war und darin ein gewisses
-Vergnügen fand. »Es ist schon genug, daß ich trotz meines Fiebers
-hergekommen bin.«
-
-»Belieben Sie nicht zu schreien!«
-
-»Ich schreie gar nicht, sondern spreche sehr ruhig, aber Sie schreien
-mich an; ich bin Student und erlaube nicht, daß man mich anschreit.«
-
-Der Gehilfe war so erregt, daß er im ersten Augenblick kein Wort
-hervorbringen konnte, er zischte nur und sprang von seinem Platze auf.
-
-»Schwei--gen Sie bitte! Sie stehen vor einer Behörde. Sie dürfen nicht
-grob sein, mein Herr!«
-
-»Auch Sie sind bei einer Behörde,« rief Raskolnikoff, »und Sie schreien
-nicht allein, sondern rauchen auch, verletzen uns also in jeder Weise.«
-
-Als Raskolnikoff dies gesagt hatte, empfand er einen unbeschreiblichen
-Genuß. Der Sekretär blickte sie lächelnd an. Der hitzige Leutnant war
-sichtbar verblüfft.
-
-»Das geht Sie nichts an!« schrie er endlich unnatürlich laut. »Belieben
-Sie aber besser eine Antwort auf die Forderung zu geben. Zeigen Sie sie
-ihm, Alexander Grigorjewitsch. Klagen laufen gegen Sie ein! Sie zahlen
-nicht! Schaut mal den noblen Herrn an!«
-
-Raskolnikoff aber hörte nicht mehr, nahm aufgeregt das Papier vor und
-suchte schnell die Lösung. Er las es einmal, ein zweites Mal, und
-begriff nichts.
-
-»Was ist es denn?« fragte er den Sekretär.
-
-»Man verlangt von Ihnen Geld laut Schuldschein, eine Forderung ist es.
-Sie müssen entweder die Summe mit allen Unkosten, Strafgeldern und so
-weiter bezahlen oder eine schriftliche Erklärung abgeben, wann Sie
-imstande sind zu bezahlen, gleichzeitig aber auch sich verpflichten, die
-Hauptstadt bis zur Tilgung der Schuld nicht zu verlassen und Ihr
-Eigentum weder zu veräußern noch zu verheimlichen. Der Gläubiger aber
-hat das Recht, Ihr Eigentum zu verkaufen und mit Ihnen nach dem Gesetze
-zu verfahren.«
-
-»Ja ... aber ich schulde niemand etwas.«
-
-»Das geht uns nichts an. Wir haben zur Einkassierung einen verfallenen
-und gesetzlich protestierten Schuldschein auf hundertundfünfzehn Rubel
-erhalten, den Sie der Witwe des Kollegienassessors Sarnitzin vor neun
-Monaten ausgestellt haben und der von der Witwe Sarnitzin an den Hofrat
-Tschebaroff durch Kauf übergegangen ist, und darum fordern wir von Ihnen
-eine Erklärung.«
-
-»Sie ist ja meine Zimmerwirtin!«
-
-»Nun, und was ist dabei, daß sie Ihre Zimmerwirtin ist?«
-
-Der Sekretär blickte ihn mit herablassendem mitleidigen Lächeln an,
-gleichzeitig aber ein wenig triumphierend, wie über einen Neuling, den
-man soeben beginnt zu rupfen, als wollte er sagen: »Nun, wie fühlst du
-dich jetzt?«
-
-Aber was kümmert ihn jetzt der Schuldschein, eine Forderung! Lohnt es
-sich jetzt, darüber sich auch nur ein wenig aufzuregen, es auch nur zu
-beachten! Er stand da, las, hörte, antwortete, fragte sogar selbst, aber
-alles nur mechanisch. Der Triumph der Selbsterhaltung, die Rettung aus
-der drohenden Gefahr, -- das erfüllte in diesem Augenblick sein ganzes
-Wesen, ohne Ausblick, ohne Analyse, ohne Deutung und Enträtselung der
-Zukunft, ohne Zweifel und ohne Fragen. Es war ein Augenblick
-unmittelbarer, rein tierischer Freude. Aber in diesem Momente ereignete
-sich im Bureau etwas wie die Entladung eines Gewitters. Der Leutnant,
-immer noch aus dem Gleichgewicht wegen der Unehrerbietigkeit, ganz
-aufgeregt und wahrscheinlich mit dem Wunsche, die gekränkte Ehre
-herzustellen, stürzte sich mit seinem ganzen Zorn auf die unglückliche
-»pompöse Dame,« die ihn seit seinem Eintritt mit einem äußerst dummen
-Lächeln anblickte.
-
-»Ach du, so eine,« schrie er sie plötzlich aus vollem Halse an (die Dame
-in Trauer war schon fortgegangen), »was ist bei dir in der vorigen Nacht
-passiert? Ah? Wieder gibt es bei dir Schimpf und Skandal in der ganzen
-Straße? Wieder Schlägerei und Sauferei. Du träumst wohl vom
-Arbeitshause! Ich habe dir doch schon gesagt, habe dich schon zehnmal
-gewarnt, daß ich dir das elfte Mal nichts schenken werde! Und du tust es
-wieder, du, du ...«
-
-Das Papier entfiel den Händen Raskolnikoffs und er blickte entsetzt die
-prachtvolle Dame an, mit der man so ungeniert herumsprang; aber bald
-darauf begriff er, was los sei, und sofort gefiel ihm diese Sache
-ausgezeichnet. Er hörte mit Vergnügen zu, so daß er Lust bekam, laut zu
-lachen, zu lachen, zu lachen ... Alle seine Nerven zuckten.
-
-»Ilja Petrowitsch!« versuchte der Sekretär zu besänftigen, aber er hielt
-inne, um die rechte Zeit abzuwarten, denn den in Aufregung geratenen
-Leutnant konnte man nicht anders beruhigen als durch Festhalten der
-Hände, was er aus eigener Erfahrung kannte.
-
-Was aber die prachtvolle Dame anging, so begann sie zuerst beim Donner
-und Blitz zu beben; aber sonderbar, je zahlreicher und kräftiger die
-Schimpfwörter wurden, um so liebenswürdiger wurde ihr Aussehen, um so
-bezaubernder wurde ihr Lächeln dem zornigen Leutnant gegenüber. Sie
-trippelte auf einem Fleck, knixte ununterbrochen und wartete voll
-Ungeduld, daß sie endlich auch zu Wort kommen würde, was ihr schließlich
-gelang.
-
-»Gar kein Lärm und keine Schlägerei waren bei mir, Herr Kapitän,«
-plapperte sie plötzlich los, so schnell, als schüttete man Erbsen aus,
--- mit einem stark deutschen Akzent, aber doch fließend russisch, --
-»und gar kein Skandal, gar keiner, und sie kamen betrunken hin, und ich
-will alles erzählen, Herr Kapitän, und ich bin nicht schuld ... ich habe
-ein anständiges Haus, Herr Kapitän, und ein anständiger Ton ist bei mir,
-Herr Kapitän, und ich will nie, will selbst nie einen Skandal haben. Sie
-aber kamen ganz betrunken hin und haben dann drei Flaschen verlangt, und
-dann erhob einer seine Füße und begann mit den Füßen auf dem Klavier zu
-spielen, und das paßt sich gar nicht in einem anständigen Hause, und er
-hat das ganze Klavier zerschlagen, und das ist doch keine Manier, und da
-habe ich es ihm gesagt. Er aber nahm eine Flasche und begann alle von
-hinten mit der Flasche zu stoßen. Und da habe ich den Hausknecht
-gerufen, und als Karl kam, hat er Karl das Auge ausgeschlagen, und
-Henriette hat er auch das Auge ausgeschlagen, und mich hat er fünfmal
-auf die Backe geschlagen. Und das ist nicht fein in einem anständigen
-Hause, Herr Kapitän, und ich habe geschrien. Und er hat das Fenster zu
-dem Kanal geöffnet und hat wie ein kleines Schwein aus dem Fenster
-gequiekt; das ist doch eine Schande. Wie kann man auch wie ein kleines
-Schwein aus dem Fenster quieken? Pfui, pfui, pfui! Und Karl hat ihn an
-seinem Frack vom Fenster gezogen, und das ist wahr, Herr Kapitän, daß er
-ihm da seinen Rock zerrissen hat. Und da begann er zu schreien, daß man
-ihm fünfzehn Rubel Strafe zahlen müsse. Und ich selbst habe ihm fünf
-Rubel für seinen Rock bezahlt, Herr Kapitän. Und das ist ein
-unanständiger Gast, Herr Kapitän, und er hat allen Skandal gemacht. Ich
-werde, hat er gesagt, eine große Satire über Sie drucken lassen, denn
-ich kann in allen Zeitungen über Sie schreiben.«
-
-»Also ein Zeitungsschreiber?«
-
-»Ja, Herr Kapitän, und welch ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, wenn
-er in einem anständigen Hause ...«
-
-»Nun, nun, genug! Ich habe dir doch gesagt, habe dir doch gesagt ...«
-
-»Ilja Petrowitsch!« sagte von neuem der Sekretär bedeutungsvoll.
-
-Der Leutnant blickte ihn schnell an, der Sekretär nickte leicht mit dem
-Kopfe.
-
-»... Also es ist mein letztes Wort, verehrteste Louisa Iwanowna, und
-auch zum letztenmal,« fuhr der Leutnant fort, »wenn in deinem
-anständigen Hause nur noch ein einziges Mal ein Skandal vorkommt, so
-werde ich dich selbst beim Wickel nehmen, wie man sich poetisch
-ausdrückt. Hast du gehört? Also ein Literat, ein Schriftsteller war es,
-der in einem >anständigen Hause< fünf Rubel für einen Rockschoß genommen
-hat? So sind sie, diese Schriftsteller!« und er warf einen verächtlichen
-Blick auf Raskolnikoff. »Vorgestern passierte in einem Restaurant
-dieselbe Geschichte, -- hat einer zu Mittag gegessen, wünscht aber nicht
-zu zahlen; >ich werde<, sagt er, >Sie in einer Satire schildern<. Ein
-anderer wieder beschimpft mit den gemeinsten Worten in der vorigen Woche
-auf einem Dampfschiffe die achtbare Familie eines Staatsrates, Frau und
-Tochter. Vor ein paar Tagen hat man einen dritten aus einer Konditorei
-herausgeschmissen. So sind sie alle, die Schriftsteller, Literaten,
-Studenten, Großmäuler ... pfui! Und du kannst dich packen! Ich will mal
-selbst dich aufsuchen ... dann nimm dich in acht! Hast du gehört?«
-
-Louisa Iwanowna begann mit eiliger Liebenswürdigkeit nach allen Seiten
-hin zu knixen und trippelte knixend bis zur Türe, hier aber stieß sie
-von hinten auf einen stattlichen Offizier mit einem offenen frischen
-Gesichte und schönem dichten, blonden Backenbart. Es war Nikodim
-Fomitsch selbst, der Revieraufseher. Louisa Iwanowna beeilte sich einen
-tiefen Knix zu machen und flog mit eiligen kleinen Schritten hüpfend aus
-dem Bureau hinaus.
-
-»Wieder Gepolter, wieder Donner und Blitz, Wirbelwind und Orkan!« wandte
-sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja
-Petrowitsch. »Wieder hat man Ihr Herz in Aufruhr gebracht, wieder sind
-Sie erregt worden! Ich hab' es schon auf der Treppe gehört.«
-
-»Ach, was!« sagte mit nobler Gleichgültigkeit Ilja Petrowitsch und ging
-mit einigen Papieren zu einem anderen Tisch, wobei er bei jedem Schritt
-elegant mit den Schultern zuckte. »Da, bitte sehen Sie es sich mal an --
-der Herr Schriftsteller, pardon Student, ein gewesener wollte ich sagen,
-zahlt nicht, stellt Wechsel aus, räumt die Wohnung nicht, fortwährende
-Klagen laufen ein, -- er aber war doch gekränkt, daß ich in seiner
-Gegenwart mir eine Zigarette ansteckte. Selbst aber gaunert diese Sorte,
-bitte sehen Sie sich ihn doch an, -- da steht er in seinem reizenden
-Aussehen.«
-
-»Armut ist kein Laster, mein Freund, na, aber wozu reden. Es ist ja
-bekannt, du bist wie Pulver, konntest eine Kränkung nicht ertragen. Sie
-fühlten sich durch irgend etwas von ihm gekränkt und konnten sich nicht
-beherrschen,« fuhr Nikodim Fomitsch fort, sich liebenswürdig an
-Raskolnikoff wendend, »aber das war überflüssig, er ist der
-an--stän--dig--ste Mensch, sage ich Ihnen, aber wie Pulver, wie Pulver!
-Flammt auf, kocht über, brennt ab -- und Schluß. Und alles ist vorbei!
-Und zu guter Letzt bleibt nur das goldene Herz! Man hat ihn schon im
-Regiment >Leutnant Pulver< genannt!«
-
-»Und was für ein Regiment es war!« rief Ilja Petrowitsch aus, sehr
-zufrieden, daß man ihm so angenehm geschmeichelt hatte, aber immer noch
-schmollend. Raskolnikoff bekam plötzlich Lust, ihnen allen etwas äußerst
-Angenehmes zu sagen.
-
-»Aber bitte, Herr Kapitän,« begann er ziemlich ungezwungen, sich
-plötzlich an Nikodim Fomitsch wendend, »berücksichtigen Sie auch meine
-Lage ... Ich bin sogar bereit, um Entschuldigung zu bitten, wenn ich
-gegen etwas verstoßen habe. Ich bin ein armer und kranker Student,
-erdrückt (er sagte >erdrückt<) von Armut. Ich bin ehemaliger Student, da
-ich jetzt meinen Unterhalt nicht verdienen kann, aber ich erhalte Geld
-... Ich habe Mutter und Schwester im --schen Gouvernement. Sie werden
-mir Geld schicken und ich werde ... bezahlen. Meine Wirtin ist eine gute
-Frau, aber sie ist so böse geworden, weil ich meine Stunden verloren
-habe und ihr den vierten Monat nicht zahle, daß sie mir sogar kein
-Mittagessen mehr schickt ... Und ich begreife gar nicht, was das für ein
-Wechsel ist. Jetzt verlangt sie von mir, ihn einzulösen, aber wie kann
-ich denn zahlen, urteilen Sie selbst!«
-
-»Aber das geht ja uns nichts an ...« versuchte der Sekretär wieder zu
-bemerken ...
-
-»Erlauben Sie, erlauben Sie, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden,
-aber erlauben Sie, Ihnen klar zu machen,« unterbrach ihn Raskolnikoff,
-indem er sich nicht an den Sekretär, sondern, wie schon die ganze Zeit,
-an Nikodim Fomitsch wandte und dabei aus aller Kraft versuchte, sich
-auch an Ilja Petrowitsch zu wenden, obgleich dieser sich hartnäckig den
-Anschein gab, als wühle er in den Papieren und beachte ihn nicht,
-»erlauben Sie mir auch meinerseits Ihnen zu erklären, daß ich schon drei
-Jahre bei ihr wohne, seit meiner Ankunft aus der Provinz und früher ...
-früher ... übrigens warum soll ich es nicht gestehen, gleich im Anfang
-gab ich ihr das Versprechen, daß ich ihre Tochter heiraten werde, es war
-ein mündliches, vollkommen freiwilliges Versprechen ... Sie war ein
-junges Mädchen ... übrigens sie gefiel mir sogar ... obgleich ich nicht
-in sie verliebt war ... mit einem Worte Jugend, d. h. ich will sagen,
-daß meine Wirtin mir damals viel Kredit einräumte und ich führte
-teilweise ein solches Leben ... ich war sehr leichtsinnig ...«
-
-»Man verlangt von Ihnen gar nicht solche intime Geständnisse, mein Herr,
-außerdem haben wir keine Zeit dazu,« unterbrach ihn grob und
-triumphierend Ilja Petrowitsch, aber Raskolnikoff beeilte sich voll
-Eifer weiter zu sprechen, obwohl es ihm plötzlich äußerst schwer fiel.
-
-»Aber erlauben Sie, erlauben Sie mir, teilweise, alles zu erzählen ...
-wie die Sache vor sich ging und ... wiederum ... obgleich es überflüssig
-ist zu erzählen, ich bin darin mit Ihnen einverstanden, -- aber vor
-einem Jahre starb dies junge Mädchen am Typhus, ich aber blieb in Miete,
-wie vorher, und meine Wirtin sagte mir, als sie in ihre jetzige Wohnung
-einzog, und ... sagte es mir freundschaftlich ... daß sie mir vollkommen
-vertraue und daß alles ... aber ob ich ihr nicht einen Schuldschein von
-hundertundfünfzehn Rubel ausstellen möchte, das war die Summe, die ich
-ihr schuldete. Erlauben Sie, -- sie sagte mir nämlich, daß, wenn ich ihr
-dies Papier ausgestellt habe, sie mir von neuem kreditieren würde,
-soviel ich nur wünschte, und daß sie niemals, niemals -- das sind ihre
-eigenen Worte -- von diesem Papier Gebrauch machen würde, bis ich selbst
-bezahlen werde ... Und jetzt, wo ich meine Stunden verloren und nichts
-zu essen habe, verklagt sie mich ... Was soll ich dazu sagen?«
-
-»Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, mein Herr,«
-schnitt Ilja Petrowitsch dreist ab. »Sie müssen eine Erklärung abgeben
-und eine Verpflichtung ausstellen, ob Sie aber verliebt waren, und all
-diese tragischen Sachen gehen uns ganz und gar nichts an.«
-
-»Nun, du bist aber ... auch zu grausam ...« murmelte Nikodim Fomitsch,
-indem er sich an seinen Tisch setzte und Papiere zu unterschreiben
-begann.
-
-Er schien sich zu schämen.
-
-»Schreiben Sie also,« sagte der Sekretär zu Raskolnikoff.
-
-»Was soll ich schreiben?« fragte er besonders grob.
-
-»Ich werde Ihnen diktieren.«
-
-Raskolnikoff schien es, als wäre der Sekretär herablassender und
-geringschätziger ihm gegenüber nach seiner Beichte geworden, -- aber
-merkwürdig, -- ihm war plötzlich die Meinung eines anderen so vollkommen
-gleichgültig, und dieser Umschwung hatte sich in einem Augenblick, in
-einem Nu vollzogen. Wenn er nur ein wenig hätte nachdenken wollen, so
-würde er sicher verwundert gewesen sein, wie er so mit ihnen vor einer
-Minute hatte sprechen und sich sogar mit seinen Gefühlen hatte
-aufdrängen können? Und woher kam dieses Gefühl? Jetzt, wenn das Zimmer
-plötzlich nicht mit Revieraufsehern, sondern mit seinen besten Freunden
-angefüllt wäre, würde er kein einziges menschliches Wort für sie finden,
-so leer war plötzlich sein Herz geworden. Ein düsteres Empfinden der
-qualvollen endlosen Einsamkeit und Entfremdung teilte sich plötzlich
-bewußt seiner Seele mit. Nicht die Erniedrigung vor Ilja Petrowitsch
-durch seine Herzensergießung, auch nicht die Erniedrigung durch den
-Triumph des Leutnants hatten sein Herz plötzlich so umgewandelt. Oh, was
-ging ihn jetzt die eigene Schuftigkeit an, all der Ehrgeiz, was gingen
-ihn alle Leutnants, deutsche Frauen, Geldforderungen, Bureaus an und so
-weiter und so weiter! Hätte man ihn in diesem Augenblicke zum
-Scheiterhaufen verurteilt, er hätte sich auch dann nicht gerührt, hätte
-kaum das Urteil aufmerksam angehört. In ihm vollzog sich etwas ihm
-völlig Unbekanntes, Neues, Unerwartetes und Niedagewesenes. Er konnte es
-nicht begreifen, aber fühlte es ganz klar mit der ganzen Kraft des
-Empfindens, daß er von jetzt ab weder mit gefühlvollen Ereignissen, wie
-vorhin, noch mit anderen Dingen sich an diese Menschen im Polizeibureau
-wenden konnte; auch dann wäre es für ihn überflüssig, sich an sie jemals
-im Leben zu wenden, wenn es sogar seine leiblichen Brüder und Schwestern
-gewesen wären, und nicht Polizeileutnants. Er hatte bis zu diesem
-Augenblick noch nie eine ähnliche seltsame und fürchterliche Empfindung
-erlebt. Und das Quälendste dabei war, -- daß es ein Empfinden war, kein
-bewußtes Begreifen, eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von
-allen, die er im Leben gekostet.
-
-Der Sekretär begann ihm die Form einer in diesem Falle gebräuchlichen
-Erklärung zu diktieren, d. h. ich kann nicht zahlen, verspreche es in
-der Frist (irgendwann) zu tun, werde die Stadt nicht verlassen und mein
-Eigentum weder verkaufen, noch verschenken und dergleichen mehr.
-
-»Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand,«
--- bemerkte der Sekretär und blickte voll Neugier Raskolnikoff an. --
-»Sie sind krank?«
-
-»Ja ... der Kopf schwindelt mir ... diktieren Sie weiter.«
-
-»Das ist alles. Unterschreiben Sie es.«
-
-Der Sekretär nahm das Papier und wendete sich andern Besuchern zu.
-
-Raskolnikoff gab die Feder zurück, aber anstatt aufzustehen und
-wegzugehen, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und preßte mit den
-Händen den Kopf zusammen. Es war, als ob man ihm einen Nagel in die
-Schläfe hineinschlüge. Ein wunderlicher Gedanke kam ihm plötzlich, --
-sofort aufzustehen, zu Nikodim Fomitsch zu gehen und ihm das gestrige zu
-erzählen, alles bis auf die letzte Einzelheit, dann mit ihm in seine
-Wohnung zu gehen und ihm die Sachen in dem Winkel im Loche zu zeigen.
-Der Drang war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen.
-
-»Soll ich nicht einen Moment nachdenken?« -- fuhr es ihm durch den Kopf.
-»Nein, besser nicht nachdenken und die Sache ist abgetan!«
-
-Aber plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Nikodim Fomitsch sprach
-voll Eifer mit Ilja Petrowitsch, und er vernahm folgende Worte:
-
-»Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens, widerspricht
-alles der Annahme; urteilen Sie selbst, -- warum holten sie den
-Hausknecht, wenn sie es getan haben? Etwa um sich selbst anzuzeigen?
-Oder aus Schlauheit! Nein, das wäre schon zu schlau! Und schließlich,
-den Studenten Pestrjakoff haben beide Hausknechte und eine Frau am Tore
-im selben Momente gesehen, als er hineinging, -- er ging mit drei
-Bekannten zusammen und verabschiedete sich von ihnen am Tore, und dann
-fragte er die Hausknechte nach der Wohnung in Gegenwart seiner
-Bekannten. Nun, wird jemand nach der Wohnung fragen, wenn er so eine
-Absicht hat? Und Koch, -- der hat, bevor er zu der Alten ging, eine
-halbe Stunde unten bei dem Silberarbeiter gesessen und er ist genau ein
-viertel vor acht zu der Alten hinaufgegangen. Jetzt erwägen Sie ...«
-
-»Aber erlauben Sie, woher denn der Widerspruch bei ihnen -- sie
-behaupten selbst, daß sie geklopft haben, und daß die Türe verschlossen
-war, und nach drei Minuten, als sie mit dem Hausknecht heraufkamen,
-erwies sich, daß die Türe offen war?«
-
-»Das ist ja der Haken, -- der Mörder saß unbedingt drinnen und hatte
-sich eingeschlossen, und man hätte ihn sicher gefaßt, wenn Koch nicht
-die Dummheit begangen hätte, selbst nach dem Hausknecht zu gehen. _Dem_
-aber gelang es währenddessen, die Treppe hinunterzugehen und irgendwie
-an ihnen vorbeizuschlüpfen. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: >wenn
-ich geblieben wäre,< sagt er, >würde er herausgekommen sein und hätte
-mich totgeschlagen<. Er will ein russisches Dankgebet abhalten lassen
-... ha--ha!«
-
-»Und den Mörder hat niemand gesehen?«
-
-»Wie denn? Das Haus ist eine Arche Noah,« -- bemerkte der Sekretär, der
-von seinem Platze zuhörte.
-
-»Es ist ganz klar, es ist ganz klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch
-eifrig.
-
-»Nein, die Sache ist sehr unklar,« blieb Ilja Petrowitsch bei seiner
-Ansicht.
-
-Raskolnikoff nahm seinen Hut und ging zur Türe, aber kam nicht so weit
-... Als er zu sich kommt, sieht er, daß er auf einem Stuhl sitzt; daß
-rechts ihn jemand stützt, links ein anderer steht mit einem gelben
-Glase, gefüllt mit gelbem Wasser, und daß Nikodim Fomitsch vor ihm steht
-und ihn unverwandt anblickt. Er stand vom Stuhle auf.
-
-»Was ist Ihnen, sind Sie krank?« -- fragte Nikodim Fomitsch ziemlich
-scharf.
-
-»Schon als er unterschrieb, konnte er kaum die Feder führen,« bemerkte
-der Sekretär, indem er seinen Platz einnahm und in seinen Papieren
-wieder blätterte.
-
-»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platze
-aus, indem er auch in Papieren blätterte.
-
-Er hatte selbstverständlich auch den Kranken betrachtet, als er
-ohnmächtig war, war aber sofort auf die Seite getreten, als jener zu
-sich kam.
-
-»Seit gestern ...« murmelte Raskolnikoff zur Antwort.
-
-»Und sind Sie gestern ausgegangen?«
-
-»Ja.«
-
-»Krank?«
-
-»Ja.«
-
-»Um wieviel Uhr?«
-
-»In der achten Stunde abends.«
-
-»Und wohin, wenn man fragen darf?«
-
-»Auf die Straße.«
-
-»Kurz und bündig.«
-
-Raskolnikoff antwortete scharf, kurz, bleich wie ein Taschentuch, ohne
-seine schwarzen entzündeten Augen vor dem Blick Ilja Petrowitsch' zu
-senken.
-
-»Er kann kaum auf den Füßen stehen und du ...« versuchte Nikodim
-Fomitsch zu bemerken.
-
-»Tut nichts!« -- sagte Ilja Petrowitsch sehr eigentümlich.
-
-Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, schwieg aber, als er den
-Sekretär anblickte, der ihn auch sehr aufmerksam ansah. Plötzlich
-schwiegen alle. Es war merkwürdig.
-
-»Nun gut!« -- schloß Ilja Petrowitsch.
-
-»Wir halten Sie nicht auf.«
-
-Raskolnikoff ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem
-Fortgange plötzlich ein lebhaftes Gespräch begann, in dem am lautesten
-die fragende Stimme von Nikodim Fomitsch hervortrat ... Auf der Straße
-kam er ganz zu sich.
-
-»Eine Haussuchung, Haussuchung, sie werden sofort bei mir suchen!« --
-wiederholte er vor sich hin, indem er sich beeilte nach Hause zu kommen.
--- »Räuber! Sie haben Verdacht!«
-
-Wieder erfaßte ihn vom Kopf bis zu Füßen die Angst von vorhin.
-
-
- II.
-
-»Wie, wenn die Haussuchung schon vorgenommen ist? Wie, wenn ich sie
-jetzt schon bei mir antreffe?«
-
-Aber da ist er schon in seinem Zimmer. Nichts und niemand; niemand war
-dagewesen. Sogar Nastasja hat nichts angerührt. Aber, mein Gott! Wie
-konnte er nur vorhin alle diese Sachen in dem Loche liegen lassen?
-
-Er stürzte zu dem Winkel, steckte die Hand unter die Tapeten und begann
-die Sachen hervorzuholen und in die Taschen zu stecken. Im ganzen waren
-es acht Stück, -- zwei kleine Schachteln mit Ohrgehängen oder etwas
-ähnlichem, -- er hatte es nicht genau angesehen; dann vier kleine Etuis
-aus Saffian. Eine kleine Kette war bloß in Zeitungspapier eingewickelt.
-Es war noch etwas in einem Zeitungspapier, wie es schien, ein Orden ...
-Er steckte alles in die verschiedenen Taschen, in den Paletot und in die
-übriggebliebene rechte Hosentasche und gab sich Mühe, daß nichts von
-außen zu merken war. Den Beutel nahm er gleichfalls mit. Dann verließ er
-das Zimmer und ließ diesmal die Tür weit offen stehen.
-
-Er ging schnell und fest, und obgleich er fühlte, daß er vollkommen
-zerschlagen war, war doch sein Bewußtsein klar. Er fürchtete eine
-Verfolgung, fürchtete, daß nach einer halben Stunde, nach einer
-Viertelstunde schon vielleicht der Befehl gegeben würde, ihn zu
-beobachten, also mußte er um jeden Preis, ehe es zu spät war, alles
-beiseite schaffen. Er mußte fertig sein, solange ihm noch die geringste
-Kraft und klarer Verstand zur Seite standen ... Wohin aber gehen?
-
-Das war längst entschieden: »Alles in den Kanal werfen, und das ist das
-Ende«. So hatte er noch in der Nacht, im Fieber, beschlossen, in den
-Augenblicken, wo er -- er entsann sich dessen -- ein paarmal versuchte
-aufzustehen und fortzugehen: »Schnell, schnell, alles fortwerfen«. Aber
-das erwies sich als sehr schwer.
-
-Er wanderte den Jekaterinenkanal schon über eine halbe Stunde entlang,
-vielleicht auch länger, und schaute nach den Treppen, die zum Kanal
-hinabführten. Aber es war nicht mal daran zu denken, das Vorhaben
-auszuführen: entweder lagen an den Treppen Flöße, und Wäscherinnen
-wuschen dort, oder Kähne hatten angelegt, und überall wimmelte es von
-Menschen, außerdem aber konnte man von allen Seiten hersehen, es war
-schon verdächtig, wenn ein Mensch hinabging, stehen blieb und etwas ins
-Wasser warf. Und gar wenn die Etuis nicht untergingen, sondern obenauf
-schwammen? Ja, und so wird es auch kommen. Jeder wird es sehen. Schon
-jetzt sehen alle ihn an, als ob sie sich nur um ihn kümmerten.
-
-»Woher kommt das, oder scheint es mir nur so?« -- dachte er.
-
-Endlich kam ihm der Gedanke, ob es nicht besser wäre, irgendwohin an die
-Newa zu gehen? Dort sind weniger Menschen, und es würde weniger
-bemerkbar und in jedem Falle bequemer sein, hauptsächlich aber wäre es
-weit von hier. Und er wunderte sich plötzlich, wie er eine volle halbe
-Stunde an den gefährlichen Stellen in Trübsal und Unruhe herumgewandert
-war, ohne früher auf diesen Gedanken zu kommen.
-
-Und er hatte nur darum eine halbe Stunde nutzlos verbraucht, weil er so
-im Traume, im Fieber beschlossen hatte. Er war sehr zerstreut und
-vergeßlich geworden und fühlte es. Entschieden mußte er sich beeilen.
-
-Er ging zur Newa den W.schen Prospekt entlang und unterwegs kam ihm
-plötzlich der Gedanke: »Warum denn zur Newa? Warum ins Wasser werfen?
-Ist es nicht besser, irgendwohin ganz weit hinzugehen, vielleicht auf
-die Inseln, und dort irgendwo an einer einsamen Stelle, im Walde, unter
-einem Busche alles zu verscharren und vielleicht sich den Baum zu
-merken?«
-
-Und obgleich er fühlte, daß er nicht imstande sei, alles klar und
-vernünftig in diesem Augenblicke zu überlegen, schien ihm doch der
-Gedanke einwandfrei zu sein.
-
-Aber auch das war ihm nicht bestimmt auszuführen, es geschah etwas
-anderes: -- als er vom W.schen Prospekt auf den Platz kam, erblickte er
-plötzlich links das Tor zu einem von vollkommen fensterlosen Mauern
-umgebenen Hof. Rechts zog sich von dem Eingange tief in den Hof hinein
-die fensterlose, ungekalkte Mauer des vierstöckigen Nachbarhauses. Links
-vom Eingange, parallel der kahlen Mauer, lief ein hölzerner Zaun, der
-weiterhin, etwa zwanzig Schritte vom Eingange eine Biegung nach links
-machte. Es war ein leerer, umzäunter Platz, wo allerhand Baumaterialien
-lagen. Weiter, tief im Hofe, blickte hinter dem Zaune die Ecke einer
-niedrigen, verräucherten Scheune aus Stein hervor, wahrscheinlich der
-Teil einer Werkstatt. Hier war sicher eine Werkstatt für Wagenbauer oder
-eine Schlosserei oder etwas ähnliches, denn überall lag viel schwarzer
-Kohlenstaub. »Hier könnte man es wegwerfen und fortgehen!« --
-durchzuckte es ihn plötzlich. Da er niemand auf dem Hofe bemerkte,
-durchschritt er das Tor und erblickte sofort am Eingange eine am Zaune
-angebrachte Rinne, wie man sie oft in solchen Häusern antrifft, in denen
-es viele Arbeiter, Kutscher usw. gibt, und über der Rinne war am Zaune
-mit Kreide die übliche witzige Bemerkung angeschrieben: »Hier ist es
-verboten, stehen zu bleiben!« Dieser Umstand war also ausgezeichnet, es
-konnte keinen Verdacht erregen, daß er hineingegangen und hier stehn
-geblieben war. »Alles mit einem Ruck fortwerfen und fortgehen!«
-
-Er blickte sich noch einmal um und wollte schon die Hand in die Tasche
-stecken, als er plötzlich an der äußeren Mauer, zwischen dem Tore und
-der Rinne, wo es höchstens einen Meter breit war, einen großen
-unbehauenen Stein bemerkte, der vielleicht einen halben Zentner schwer
-sein mochte und an die Straßenmauer angelehnt war. Hinter dieser Mauer
-war die Straße, der Fußsteg, man hörte, wie die Vorbeigehenden
-schlurften, aber hinter dem Tore konnte ihn niemand sehen, wenn nicht
-jemand von der Straße eintrat, was übrigens sehr leicht passieren
-konnte, und darum mußte er sich beeilen.
-
-Er beugte sich zu dem Steine, packte die obere Spitze mit beiden Händen
-fest an, nahm alle seine Kräfte zusammen und wandte den Stein um. Unter
-dem Steine hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet; er begann sofort
-alles aus der Tasche hineinzuwerfen. Der Beutel kam obenauf zu liegen,
-und trotzdem war noch Platz in der Vertiefung. Dann packte er den Stein
-von neuem an, drehte ihn mit einem Ruck um, und er kam genau auf die
-frühere Stelle zu liegen, nur schien er ein wenig hervorzuragen. Er
-scharrte Erde ringsum zusammen und trat sie fest. Es war nichts zu
-merken. Dann ging er hinaus und wandte sich dem Platze zu. Wieder packte
-ihn auf einen Augenblick eine starke, überwältigende Freude, wie vorhin
-in dem Polizeibureau.
-
-»Alle Spuren sind verwischt! Und wem, wem könnte es in den Sinn kommen,
-unter diesem Steine nachzusuchen? Er liegt hier, vielleicht seitdem das
-Haus gebaut ist und wird vielleicht noch ebensolange liegen. Und wenn
-man es auch finden würde, wer würde an mich denken? Alles ist vorüber!
-Es gibt keine Beweise!« und er lachte. Ja, er entsann sich später, daß
-ihn ein nervöses stilles Lachen überfallen und daß er solange gelacht
-hatte, als er über den Platz ging. Als er aber den K.schen Boulevard
-erreichte, wo er vorgestern dem jungen Mädchen begegnet war, verging ihm
-das Lachen. Andere Gedanken kamen ihm in den Kopf. Ein Abscheu ergriff
-ihn, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals nach dem Fortgehen
-des Mädchens gesessen und nachgedacht hatte, und er fürchtete sich, dem
-Polizisten wieder zu begegnen, dem er damals zwanzig Kopeken gegeben
-hatte. »Hol ihn der Teufel!« Er ging und blickte sich zerstreut und
-ärgerlich um. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um einen einzigen,
-anscheinend um den Hauptpunkt, und er fühlte, daß dies wirklich der
-Hauptpunkt sei, und daß er jetzt, gerade jetzt, mit diesem Hauptpunkte
-unter vier Augen zu tun habe, -- und daß es das erstemal seit diesen
-zwei Monaten sei.
-
-»Ah, hol der Teufel all das!« dachte er plötzlich in einem Anfalle von
-unermeßlicher Wut. »Na, wenn es mal begonnen hat, mag es auch dabei
-bleiben, hol der Teufel das neue Leben. Oh Gott, wie das dumm ist! ...
-Und wieviel habe ich heute zusammengelogen und wie gemein war ich! Wie
-gemein habe ich vorhin geschwänzelt und dem charakterlosen Ilja
-Petrowitsch geschmeichelt. Was war das für ein Blödsinn! Ich pfeife auf
-sie alle und auch auf das, daß ich geschwänzelt und geschmeichelt habe.
-Das ist es nicht, das ist es gar nicht!«
-
-Plötzlich blieb er stehn; eine neue, völlig unerwartete und
-außerordentlich einfache Frage brachte ihn von diesem Gedanken ab und
-ließ ihn bitter erstaunen:
-
-»Wenn das ganze in der Tat bewußt und nicht in alberner Weise vollführt
-wurde, wenn du tatsächlich ein bestimmtes und sicheres Ziel hattest, --
-wie kam es dann, daß du bis jetzt nicht einmal in den Beutel
-hineinblicktest und nicht weißt, was dir zugefallen ist, warum hast du
-alle Qualen auf dich genommen und solch eine gemeine, häßliche, niedrige
-Tat bewußt übernommen? Du wolltest doch soeben ihn ins Wasser werfen,
-den Beutel mit all den Sachen, die du auch noch nicht gesehen hast ...
-Wie ist denn das?«
-
-Ja so ist es, es ist einmal so. Er hatte es vorher gewußt, und es war
-gar keine neue Frage für ihn. Auch als es in der Nacht beschlossen
-wurde, ohne jedes Schwanken und jeden Widerspruch, sondern so, als
-gehörte es sich so, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er wußte dies
-alles und erinnerte sich daran; ja, schon gestern war es vielleicht so
-beschlossen in demselben Moment, als er über den Kasten gebückt dasaß
-und die Futterale hervorholte ... Es ist doch so! ...
-
-»Das kommt daher, daß ich sehr krank bin,« entschied er schließlich
-finster, »ich habe mich selbst gemartert und abgequält und weiß selbst
-nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und die ganze Zeit
-habe ich mich gemartert ... Ich werde gesund werden und ... werde mich
-dann nicht mehr martern ... Aber wenn ich nun gar nicht gesund werde? Oh
-Gott! Wie ich all dessen überdrüssig bin ...«
-
-Er ging weiter ohne stehn zu bleiben. Er wollte sehr gern sich irgendwie
-zerstreuen, aber er wußte nicht, was er tun und unternehmen sollte. Eine
-neue unbezwingbare Empfindung erfaßte ihn immer stärker und stärker mit
-jedem Augenblick, -- es war ein grenzenloser, fast physischer Widerwille
-gegen alles, was ihm begegnete und was ihn umgab; es war ein
-hartnäckiges, böses und quälendes Gesicht. Alle Begegnenden waren ihm
-widerwärtig, -- ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen waren ihm
-widerwärtig. Er hätte sie am liebsten angespien, ja, vielleicht gar
-gebissen, wenn man ihn angeredet hätte.
-
-Er blieb stehn, als er an das Ufer der kleinen Newa, auf Wassiljew
-Ostroff bei der Brücke hinauskam.
-
-»Da wohnt er ja, in diesem Hause,« dachte er. »Was ist denn das, bin ich
-etwa zu Rasumichin mit Willen gegangen? Es ist dieselbe Geschichte wie
-damals ... Es ist mir nun doch sehr interessant, -- bin ich mit Absicht
-hierhergekommen oder lenkte das Schicksal meine Schritte. Es ist mir
-übrigens gleichgültig. Ich sagte mir ... vorgestern ... daß ich am
-andren Tage _nach dem_ hingehen werde; na, ich werde es tun, was ist
-denn dabei! Als ob ich jetzt nicht zu ihm gehen könnte ...«
-
-Er ging hinauf zu Rasumichin in das fünfte Stockwerk.
-
-Rasumichin war in seinem Zimmerchen und mit Schreiben beschäftigt; er
-öffnete ihm selbst. Seit vier Monaten etwa hatten sie sich nicht
-gesehen. Rasumichin stak in einem zerfetzten abgetragenen Schlafrock,
-hatte Pantoffeln an den bloßen Füßen und saß ungekämmt, unrasiert und
-ungewaschen da. Auf seinem Gesichte zeigte sich großes Erstaunen.
-
-»Was ist mit dir?« rief er aus und betrachtete den eingetretenen
-Kameraden vom Kopf bis zu den Füßen. Dann schwieg er und tat einen
-leisen Pfiff.
-
-»Steht es mit dir wirklich so schlecht? Ja, du hast sogar unsereinen
-übertroffen,« fügte er hinzu und blickte auf Raskolnikoffs Lumpen. »Aber
-so setz' dich doch, du bist wahrscheinlich müde!«
-
-Und als dieser auf das türkische Sofa von Wachstuch hinsank, sah
-Rasumichin plötzlich, daß sein Besucher krank sei.
-
-»Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?«
-
-Er begann seinen Puls zu fühlen, Raskolnikoff aber riß die Hand weg.
-
-»Ist nicht nötig,« sagte er, »ich bin gekommen ... die Sache ist -- ich
-habe keine Stunden zu geben ... ich wollte ... übrigens, ich brauche
-keine Stunden ...«
-
-»Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn
-aufmerksam beobachtete.
-
-»Nein, ich phantasiere nicht ...«
-
-Raskolnikoff erhob sich vom Sofa. Indem er zu Rasumichin ging, dachte er
-nicht daran, daß er Auge in Auge ihm gegenüberstehen müsse. Jetzt aber,
-in einem Nu, wurde es ihm durch diese Erfahrung klar, daß er jetzt am
-allerwenigsten aufgelegt sei, irgend jemandem auf der ganzen Welt Auge
-in Auge gegenüberzutreten. Die Galle stieg in ihm auf. Er verlor fast
-den Atem vor Wut über sich selbst, darüber, daß er diese Schwelle
-überschritten hatte.
-
-»Lebe wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür.
-
-»Aber warte doch, warte, du komischer Kauz!«
-
-»Nicht nötig! ...« wiederholte der und stieß seine Hand zurück.
-
-»Weshalb aber bist du denn gekommen, zum Teufel noch einmal! Bist du von
-Sinnen? Das ist doch ... fast beleidigend. Ich laß dich nicht so.«
-
-»So hör nun, -- ich bin zu dir gekommen, weil ich niemand außer dir
-kenne, der mir helfen würde ... anzufangen ... weil du besser, d. h.
-klüger als alle anderen bist und beurteilen kannst ... Jetzt aber sehe
-ich, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts brauche ... keinen
-Dienst und Teilnahme ... Ich selbst ... allein ... Nun, genug davon!
-Laßt mich in Ruhe!«
-
-»Aber warte doch einen Augenblick, du Schornsteinfeger! Bist ja ganz
-verrückt! Meinetwegen tue, wie du willst. Siehst du, Stunden habe ich
-nicht mal selber und pfeife auch darauf, aber auf dem Trödlermarkt gibt
-es einen Buchhändler Heruwimoff, der ist mir lieber als Stunden. Ich
-möchte ihn nicht gegen fünf Stunden bei Kaufleuten vertauschen. Er
-verlegt allerhand kleine Sachen und gibt naturwissenschaftliche
-Broschüren heraus, -- und wie die gehen? Die Titel allein sind schon was
-wert! Siehst du, du hast immer behauptet, ich wäre dumm; bei Gott, es
-gibt noch Dümmere als ich, Bruder mein! Jetzt macht er sogar in der
-modernen Literatur; selbst versteht er rein gar nichts davon, ich aber
-unterstütze ihn selbstverständlich darin. Hier siehst du mehr als zwei
-Bogen deutschen Text, -- meiner Ansicht nach, von der allerdümmsten
-Charlatanerie; mit einem Worte, es wird erörtert, ob die Frau ein Mensch
-ist oder nicht? Selbstredend wird mit Glanz bewiesen, daß sie ein Mensch
-ist. Heruwimoff bringt es, als zur Frauenfrage gehörend, heraus. Ich
-übersetze; er wird diese zwei und einen halben Bogen auf sechs
-ausdehnen, wir erfinden dann einen prachtvollen Titel; eine halbe Seite
-lang, und schlagen es zu fünfzig Kopeken los. Es wird sicher gehen! Für
-die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel pro Bogen, also für das Ganze
-fünfzehn, und sechs Rubel habe ich Vorschuß. Wenn wir damit fertig sind,
-fangen wir an, über Walfische zu übersetzen, dann folgen einige
-langweilige Klatschgeschichten aus dem zweiten Teil der >Konfessions,<
-die schon vorgemerkt sind und übersetzt werden sollen. Jemand hat
-Heruwimoff gesagt, Rousseau wäre eine Art Radischtscheff.[9] Ich
-widerspreche selbstverständlich nicht, hol ihn der Teufel! Willst du nun
-den zweiten Bogen von >Ist die Frau ein Mensch?< übersetzen? Wenn du
-willst, nimm sofort den Text, Federn und Papier -- dies alles wird
-gratis geliefert -- und nimm drei Rubel. Da ich für die ganze
-Übersetzung, für den ersten und zweiten Bogen, vorausbekommen habe, so
-kommen gerade auf diesen Teil drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen
-fertig bist, -- erhältst du noch drei Rubel. Ja, noch eins, -- bitte,
-sieh' es nicht als einen Dienst meinerseits an. Im Gegenteil, als du
-eintratest, dachte ich gleich, wie nützlich du mir sein könntest.
-Erstens bin ich in der Orthographie schlecht und zweitens bin ich im
-Deutschen öfters recht schwach, so daß ich meistens selbst hinzu dichte
-und mich bloß damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Aber wer
-weiß, vielleicht wird es nicht besser, sondern schlechter ... Tust du
-mit oder nicht?« Raskolnikoff nahm schweigend die Blätter der deutschen
-Artikel, nahm die drei Rubel und ging ohne ein Wort zu sagen hinaus.
-Rasumichin blickte ihm erstaunt nach. Als Raskolnikoff aber schon ein
-Stück gegangen war, kehrte er plötzlich um, ging wieder zu Rasumichin
-hinauf, legte auf den Tisch die Blätter und die drei Rubel und ging
-wieder schweigend von dannen.
-
-»Hast du etwa das Delirium?« schrie Rasumichin, der schließlich wütend
-geworden war. »Warum führst du hier eine Komödie auf? Hast mich sogar
-konfus gemacht ... Warum bist du denn hergekommen, zum Teufel?«
-
-»Ich brauche keine ... Übersetzungen ...« murmelte Raskolnikoff, als er
-schon die Treppe hinabstieg.
-
-»Ja, was brauchst du denn, zum Teufel?« rief von oben Rasumichin.
-
-Der ging jedoch schweigend hinunter.
-
-»He, du! Wo wohnst du?«
-
-Es erfolgte keine Antwort.
-
-»Na, so hol dich der Teu--fel!« ...
-
-Raskolnikoff war schon auf der Straße angelangt.
-
-Auf der Nikolaibrücke passierte es ihm, daß er infolge eines für ihn
-sehr unangenehmen Zwischenfalles wieder zur völligen Besinnung kam. Der
-Kutscher einer Privatequipage hatte ihm einen starken Peitschenhieb über
-den Rücken versetzt, weil er beinahe unter die Pferde geraten war,
-trotzdem er ihn einigemal angerufen hatte. Der Peitschenhieb verursachte
-eine solche Wut in ihm, daß er bis ans Geländer sprang -- (es war
-unklar, warum er in der Mitte der Brücke, auf dem Fahrweg, ging) und mit
-den Zähnen knirschte. Ringsherum erklang lautes Lachen.
-
-»Geschieht ihm recht!«
-
-»Ist wahrscheinlich ein Spitzbube.«
-
-»Selbstverständlich, stellt sich betrunken, kriecht absichtlich unter
-die Räder, und unsereiner muß es verantworten.«
-
-»Davon leben sie, Verehrtester, damit verdienen sie ...«
-
-In dem Augenblicke, als er am Geländer stand, den Rücken reibend und
-immer noch sinnlos vor Wut der davonfahrenden Equipage nachschaute,
-fühlte er, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf, --
-es war eine ältliche Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche, und neben ihr
-ein junges Mädchen im Hute, mit einem grünen Sonnenschirme,
-wahrscheinlich die Tochter. »Nimm, mein Lieber, um Christi willen!« Er
-nahm das Geld, und sie gingen weiter. Es waren zwanzig Kopeken. Seiner
-Kleidung und dem Aussehen nach konnten sie ihn sehr leicht für einen
-Bettler, für einen echten Groschensammler von der Straße halten, daß sie
-ihm aber ganze zwanzig Kopeken gaben, hatte er sicher dem Peitschenhiebe
-zu danken, der sie mitfühlend gestimmt hatte.
-
-Er drückte die Münze fest in die Hand, ging etwa zehn Schritte und
-wandte sich mit dem Gesichte zur Newa, in der Richtung des Winterpalais.
-Der Himmel war ohne die geringste Wolke und das Wasser fast blau, was so
-selten auf der Newa vorkommt. Die Kuppel des Domes, der von keinem
-Punkte sich besser hervorhebt, als von der Brücke aus, leuchtete
-förmlich, durch die reine Luft konnte man jede Verzierung deutlich
-wahrnehmen. Der Schmerz vom Peitschenhieb hatte nachgelassen, und
-Raskolnikoff hatte den Hieb vergessen; ein unruhiger und nicht ganz
-klarer Gedanke beschäftigte ihn jetzt ausschließlich. Er stand und
-schaute lange und unverwandt in die Ferne; diese Stelle kannte er
-besonders gut. Als er noch zur Universität ging, geschah es gewöhnlich,
--- meistens auf dem Rückwege nach Hause, -- daß er gerade an dieser
-Stelle stehn blieb, um unverwandt dieses prachtvolle Panorama zu
-betrachten, und jedesmal mußte er über den Eindruck, den er sich nicht
-erklären konnte, staunen. Eine unerklärliche Kälte wehte ihm stets von
-diesem wundervollen Panorama entgegen; dieses prächtige Bild war für ihn
-von einem stillen und dumpfen Geiste erfüllt ... Er wunderte sich
-jedesmal über seinen düsteren und rätselhaften Eindruck und schob die
-Lösung, ohne zu wissen warum, in die Zukunft. Jetzt erinnerte er sich
-deutlich seiner früheren Fragen und Zweifel, und es schien ihm, als
-hätte er sich nicht rein zufällig ihrer erinnert. Schon der Umstand
-erschien ihm merkwürdig und wunderlich, daß er auf derselben Stelle, wie
-früher, stehengeblieben war, als bilde er sich wirklich ein, daß er
-jetzt über dasselbe, wie ehedem, nachsinnen und sich für ebensolche
-Themen und Bilder interessieren könne, wie er es früher ... noch
-unlängst getan. Ihm wurde fast lächerlich zumute und gleichzeitig
-schnürte es ihm die Brust zu. In der Tiefe, tief unten in einem
-ungeheuren Abgrunde versunken, erschien ihm jetzt die ganze
-Vergangenheit, die früheren Gedanken, die alten Ziele und Probleme, die
-damaligen Eindrücke und dieses ganze Panorama, und er selbst und alles
-... Ihm schien, als fliege er irgendwo hinauf, und alles verschwinde aus
-seinen Augen ... Indem er eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand
-machte, fühlte er wieder in seiner geballten Faust die zwanzig Kopeken.
-Er öffnete die Hand, blickte aufmerksam das Geldstück an und schleuderte
-es ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Ihm schien
-es, als hätte er in diesem Augenblick seine ganze Vergangenheit mit
-einer Schere abgeschnitten.
-
-Es war am Abend, als er nach Hause kam, also mußte er im ganzen gegen
-sechs Stunden gewandert sein. Welchen Weg, und wie er zurückgekommen
-war, erinnerte er sich gar nicht. Er kleidete sich aus, und zitternd am
-ganzen Körper, wie ein abgehetztes Pferd, legte er sich auf das Sofa,
-zog seinen Mantel über sich und fiel sofort in Bewußtlosigkeit ...
-
-Er wurde in völliger Dämmerung von einem furchtbaren Geschrei
-aufgestört. Oh, Gott, was ist das für ein Geschrei! Solche unnatürlichen
-Töne, solch ein Geheul, Stöhnen, Knirschen, Weinen, Schläge und
-Schimpfen hatte er noch nie vernommen. Er konnte sich nicht mal solchen
-Greuel, solche Raserei vorstellen. Voll Schrecken erhob er sich und
-setzte sich in seinem Bette auf; schwer atmend litt er Qualen. Die
-Schläge, das Geschrei und die Schimpfwörter wurden immer stärker und
-stärker. Er vernahm zu seiner größten Verwunderung die Stimme seiner
-Wirtin. Sie heulte, kreischte und klagte, sie sprach die Worte in so
-eiliger Hast, daß man nicht verstehen konnte, um was sie flehte, --
-gewiß, daß man aufhören sollte, sie zu schlagen, denn man prügelte sie
-auf der Treppe unbarmherzig. Die Stimme des Schlagenden war so
-schauerlich vor Wut und Raserei, daß er bloß noch röchelte, und er
-sprach ebenso unverständlich, hastig und sich verschluckend. Plötzlich
-bebte Raskolnikoff am ganzen Körper; er hatte die Stimme von Ilja
-Petrowitsch erkannt. Er ist hier und schlägt die Wirtin! Er schlägt sie
-mit Fäusten, stößt ihren Kopf auf die Stufen, -- das ist klar, man hörte
-es an dem Ton, am Geheul, an den Schlägen! Was ist denn geschehen, hat
-sich die Welt gewendet? Man hörte, wie aus allen Stockwerken, auf der
-ganzen Treppe sich Menschen ansammeln, Stimmen, Ausrufe erschallen, man
-läuft, trampelt, schlägt die Türen zu, rennt zusammen. »Aber weshalb
-denn, weshalb und wie ist es denn möglich?« wiederholte er und glaubte
-in allem Ernste, er hätte den Verstand verloren. Aber nein, er hört es
-doch zu deutlich! ... Also wird man auch zu ihm gleich kommen, »denn ...
-das ist sicher wegen desselben ... wegen des gestrigen ... Oh, Gott!« Er
-wollte die Tür zuhaken, konnte aber die Hand nicht erheben ... und es
-wäre ja nutzlos. Die Angst lag auf seiner Seele wie Eis, hatte ihn
-zermartert, ihn erstarrt ... Aber nach und nach hörte dieser Spektakel,
-der sicher gegen zehn Minuten gedauert hatte, auf. Die Wirtin stöhnte
-und ächzte, Ilja Petrowitsch drohte und schimpfte noch immer ... Endlich
-schien auch er ruhiger geworden zu sein; jetzt hörte man ihn nicht mehr.
-»Ist er fortgegangen? Oh, Gott!« Ja, nun geht auch die Wirtin fort, sie
-stöhnt und weint noch immer ... nun schlug sie auch ihre Türe zu ...
-Jetzt gehen die Menschen die Treppe hinunter in ihre Wohnungen, -- sie
-bedauern, streiten, rufen einander zu, bald erhebt sich ihr Gerede bis
-zum Geschrei, bald sinkt es zum Flüstertone. Wahrscheinlich waren es
-viele gewesen, fast das ganze Haus war zusammengelaufen. »Aber, mein
-Gott, ist denn das alles möglich! Und warum, warum kam er hierher!«
-
-Raskolnikoff fiel kraftlos auf das Sofa hin, aber er konnte kein Auge
-schließen; er lag etwa eine halbe Stunde in solcher Qual, in dem
-unausstehlichen Gefühle eines grenzenlosen Schreckens, wie er ihn noch
-nie empfunden hatte. Plötzlich erhellte ein greller Schein sein Zimmer,
--- Nastasja kam mit einem Lichte und einem Teller Suppe herein. Sie sah
-ihn aufmerksam an und als sie bemerkte, daß er nicht schlafe, stellte
-sie das Licht auf den Tisch und begann das Mitgebrachte aufzustellen:
-Brot, Salz, einen Teller und Löffel ...
-
-»Hast seit gestern wahrscheinlich nichts gegessen? Hast dich den ganzen
-Tag umhergetrieben, -- im Fieber, wie du bist.«
-
-»Nastasja ... warum schlug man die Wirtin?«
-
-Sie sah ihn aufmerksam an.
-
-»Wer hat die Wirtin geschlagen?«
-
-»Soeben ... vor einer halben Stunde. Ilja Petrowitsch, der Gehilfe des
-Revieraufsehers, auf der Treppe ... Warum hat er sie so geschlagen. Und
-... warum kam er her?«
-
-Nastasja betrachtete ihn schweigend und mit zusammengezogenen
-Augenbrauen, und sah ihn lange so an. Ihm wurde dieses Anstarren sehr
-unangenehm, beängstigend.
-
-»Nastasja, warum schweigst du?« sagte er schließlich zaghaft mit
-schwacher Stimme.
-
-»Das ist das Blut,« antwortete sie leise, als rede sie mit sich selbst.
-
-»Blut! ... Was für ein Blut? ...« murmelte er erbleichend und rückte zur
-Wand.
-
-Nastasja fuhr fort ihn schweigend zu betrachten.
-
-»Niemand hat die Wirtin geschlagen,« sagte sie endlich in strengem und
-entschiedenem Tone.
-
-Er sah sie an und atmete kaum.
-
-»Ich habe selbst gehört ... ich habe nicht geschlafen ... ich saß,«
-sagte er noch zaghafter. »Ich habe lange zugehört ... Der Gehilfe des
-Revieraufsehers war gekommen ... Alle waren auf der Treppe
-zusammengelaufen, aus allen Stockwerken ...«
-
-»Niemand ist dagewesen. Es ist das Blut, das in dir spricht. Wenn es
-keinen Ausweg hat und sich in Klumpen zusammenballt, dann erscheinen
-einem allerhand Dinge ... Wirst du essen?«
-
-Er antwortete nicht. Nastasja stand immer noch bei ihm, blickte ihn
-aufmerksam an und ging nicht weg.
-
-»Gib mir zu trinken ... liebe Nastasja.«
-
-Sie ging hinunter und nach ein paar Minuten kehrte sie mit Wasser in
-einer weißen Tasse zurück, weiter erinnerte er sich nichts mehr, nur
-noch, wie er einen Schluck kalten Wassers genommen und aus der Tasse auf
-die Brust verschüttet hatte. Dann hatte er das Bewußtsein verloren.
-
-
- III.
-
-Er war jedoch nicht ganz besinnungslos während seiner Krankheit; es war
-ein fieberhafter Zustand mit Traumgesichten und halbem Bewußtsein. An
-vieles konnte er sich später erinnern. Bald schien es ihm, als versammle
-sich eine Menge Menschen um ihn, die ihn irgendwohin fort tragen wollten
-und sich seinetwegen sehr viel stritten und zankten. Bald war er wieder
-allein im Zimmer, alle waren weggegangen und fürchteten sich vor ihm,
-nur zuweilen öffnete man die Türe, um ihn zu betrachten, man drohte ihm,
-verabredete unter sich etwas, lachte und reizte ihn. Nastasja sah er oft
-um sich, auch unterschied er noch einen Menschen, der ihm sehr bekannt
-schien, aber wer es war -- konnte er nicht herausbekommen, das peinigte
-ihn, und er weinte sogar. Manchmal schien es ihm, als liege er schon
-einen Monat, ein anderes Mal aber -- als wäre es noch derselbe Tag.
-_Jenes_ aber, _jenes Ereignis_ hatte er völlig vergessen; dafür aber
-dachte er immerfort, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte
-vergessen dürfen, -- er quälte sich, marterte sich, um darauf zu kommen,
-stöhnte, es überfiel ihn eine rasende Wut oder eine schreckliche
-unerträgliche Angst. Dann versuchte er aufzustehen, wollte fliehen, aber
-stets hielt ihn jemand mit Gewalt zurück und er verfiel wieder in
-Schwäche und Bewußtlosigkeit. -- Endlich kam er ganz zu sich.
-
-Das geschah an einem Morgen um zehn Uhr. Um diese Stunde zog an heiteren
-Tagen die Sonne stets einen langen Streifen über die rechte Wand des
-Zimmers und beleuchtete die Ecke an der Tür. An seinem Bette stand
-Nastasja und noch ein Mann, der ihn mit großem Interesse betrachtete und
-der ihm völlig unbekannt war. Das war ein junger Bursche in langem Rock,
-mit einem kleinen Barte, der seinem Aussehen nach ein Kontordiener sein
-mochte. Hinter der halbgeöffneten Tür blickte die Wirtin hervor.
-Raskolnikoff erhob sich.
-
-»Wer ist das, Nastasja?« fragte er und wies auf den Burschen.
-
-»Sieh mal, er ist zu sich gekommen!« sagte sie.
-
-»Zu sich gekommen,« wiederholte der Kontordiener.
-
-Als sie hörte, daß er zu sich gekommen sei, schloß die Wirtin sofort die
-Tür und verschwand. Sie war immer schon schüchtern und vertrug mit Mühe
-Gespräche und Auseinandersetzungen; sie war gegen vierzig Jahre alt,
-dick und fett, hatte schwarze Augenbrauen und schwarze Augen, war
-gutmütig aus Wohlgenährtheit und Faulheit, ziemlich hübsch, genierte
-sich aber über alle Maßen.
-
-»Wer sind ... Sie?« wandte sich fragend Raskolnikoff an den
-Kontordiener. In diesem Augenblicke wurde die Türe von neuem weit
-geöffnet, und gebückt, da er viel zu groß war, trat Rasumichin ein.
-
-»Das ist ja die reinste Schiffskajüte,« rief er beim Eintreten, »immer
-stoße ich mit der Stirn an. Und das nennt sich eine Wohnung? Und du bist
-zu dir gekommen, Bruder! Die liebe Praskovja sagte es mir.«
-
-»Er ist soeben zu sich gekommen,« sagte Nastasja.
-
-»Soeben zu sich gekommen,« bestätigte wieder der Kontordiener mit einem
-Lächeln.
-
-»Wer sind Sie aber, mein Herr?« fragte er plötzlich Rasumichin, sich an
-ihn wendend. »Ich bin, sehen Sie, Rasumichin, Student, Sohn eines
-Edelmannes, und er ist mein Freund. Nun, und wer sind Sie?«
-
-»Ich bin in unserm Kontor Diener, beim Kaufmann Schelopajeff, und komme
-in Geschäften.«
-
-»Nehmen Sie bitte Platz auf diesem Stuhl.«
-
-Rasumichin setzte sich auf einen andern, an der anderen Seite des
-Tischchens.
-
-»Das hast du gut getan, Bruder, daß du zu dir gekommen bist,« fuhr er
-fort, sich an Raskolnikoff wendend. »Den vierten Tag schon hast du kaum
-etwas gegessen oder getrunken. Löffelweise hat man dir ein wenig Tee
-gegeben. Ich brachte ein paarmal Sossimoff mit. Erinnerst du dich
-seiner? Er hat dich genau untersucht und sagte sofort, es sei nichts von
-Bedeutung, -- es hat sich in den Kopf gezogen. Irgendein Unsinn mit den
-Nerven, sagt er, schlechte Ernährung, zu wenig Bier und Meerrettich habe
-man dir gegeben, daher auch die Krankheit, aber es habe nichts auf sich,
-wird bald vergehen und gut werden. Sossimoff ist ein tüchtiger Kerl!
-Fängt glänzend an damit, daß er dich kuriert. Na, ich will Sie nicht
-aufhalten,« wandte er sich wieder an den Kontordiener, »wollen Sie Ihre
-Wünsche erklären? Denk dir, Rodja, das ist schon der zweite Bote aus dem
-Kontor, mit dem ersten habe ich gesprochen. Wer war es, der vor Ihnen da
-war?«
-
-»Ich glaube, es war vorgestern; ja es stimmt. Das war Alexei
-Ssemenowitsch, er ist auch aus unserem Kontor.«
-
-»Er ist wohl gescheiter als Sie, he?«
-
-»Ja, Sie haben recht, er ist solider.«
-
-»Das lobe ich mir, nun, fahren Sie fort.«
-
-»Also, Afanassi Iwanowitsch Wachruschin, von dem, wie ich annehme, Sie
-öfter gehört haben, sendet Ihnen auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, durch
-unser Kontor eine Anweisung,« begann der Diener, sich direkt an
-Raskolnikoff wendend.
-
-»Falls Sie wieder bei Bewußtsein sind, soll ich Ihnen fünfunddreißig
-Rubel überreichen, die an Ssemjon Ssemenowitsch von Afanassi Iwanowitsch
-auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, wie in früheren Fällen, überwiesen werden.
-Sie kennen ihn doch?«
-
-»Ja ... ich erinnere mich ... Wachruschin ...« sagte Raskolnikoff
-sinnend.
-
-»Hören Sie -- er kennt den Kaufmann Wachruschin!« rief Rasumichin aus.
-»Ist er nun nicht bei Bewußtsein? Übrigens, ich merke jetzt auch, daß
-Sie ebenfalls ein gescheiter Mann sind. Na! Kluge Reden hört man gern.«
-
-»Ja, er ist es, Wachruschin, Afanassi Iwanowitsch, und zufolge des
-Wunsches Ihrer Frau Mutter, die schon einmal auf diesem Wege Ihnen Geld
-gesandt hatte, hat er es auch diesmal nicht abgelehnt und hat Ssemjon
-Ssemenowitsch in diesen Tagen Order erteilt, Ihnen fünfunddreißig Rubel
-bis auf weiteres zu übergeben.«
-
-»Das ist gut: >bis auf weiteres,< nicht übel war auch das >von Ihrer
-Frau Mutter<. Nun, also wie ist Ihre Ansicht, -- ist er bei vollem
-Bewußtsein oder nicht, he?«
-
-»Mir ist es gleich. Sehen Sie, nur die Unterschrift müßte ich haben.«
-
-»Er wird sie schon hinkritzeln. Was haben Sie da, ein Buch etwa?«
-
-»Ein Quittungsbuch, hier.«
-
-»Geben Sie es her. Nun, Rodja, erhebe dich. Ich will dich stützen;
-unterschreibe mal, nimm die Feder, denn Geld brauchen wir jetzt mehr als
-Syrup, Bruder.«
-
-»Ist nicht nötig,« sagte Raskolnikoff und stieß die Feder von sich.
-
-»Was ist nicht nötig?«
-
-»Ich werde nicht unterschreiben.«
-
-»Zum Teufel, wie denn ohne Quittung?«
-
-»Ich brauche nicht ... das Geld ...«
-
-»Das Geld brauchst du nicht? Nun, da lügst du, Bruder, ich kann es
-bezeugen! ... Bitte, beachten Sie es nicht, er tut bloß so ...
-phantasiert wieder. Das passiert ihm übrigens auch in wachem Zustande
-... Sie sind ein verständiger Mann und wir wollen ihn leiten, das heißt,
-einfach seine Hand führen, er wird dann unterschreiben. Helfen Sie ...«
-
-»Übrigens, ich kann auch ein andres Mal kommen.«
-
-»Nein, nein, warum wollen Sie sich bemühen. Sie sind ein verständiger
-Mann ... Nun, Rodja, halte den Besuch nicht auf ... du siehst, er
-wartet,« und er schickte sich in allem Ernste an, Raskolnikoffs Hand zu
-führen.
-
-»Laß, ich will selbst ...« sagte jener, nahm die Feder und quittierte im
-Buche.
-
-Der Kontordiener zählte das Geld auf und ging.
-
-»Bravo! Willst du nun essen, Bruder?«
-
-»Ich will essen,« antwortete Raskolnikoff.
-
-»Haben Sie Suppe?«
-
-»Ja, von gestern,« antwortete Nastasja, die die ganze Zeit dabei
-gestanden hatte.
-
-»Mit Kartoffel und Reis?«
-
-»Ja, mit Kartoffel und Reis.«
-
-»Ich kenne das auswendig. Bringe die Suppe und gib auch Tee.«
-
-»Gleich.«
-
-Raskolnikoff blickte auf alles mit großem Erstaunen und einer dumpfen
-sinnlosen Angst. Er beschloß zu schweigen und abzuwarten, was weiter
-kommen würde. »Ich träume nicht, wie es scheint,« dachte er, »es scheint
-Wirklichkeit zu sein ...«
-
-Nach ein paar Minuten kam Nastasja mit der Suppe zurück und erklärte,
-daß sofort auch der Tee da sein werde. Mit der Suppe erschienen auch
-zwei Löffel, zwei Teller und das ganze Zubehör: ein Salzfaß, Pfeffer,
-Senf für das Fleisch und alles übrige, in einer Ordnung, die schon lange
-nicht mehr geherrscht hatte. Sogar das Tischtuch war sauber.
-
-»Es wäre nicht schlecht, liebe Nastasja, wenn Praskovja Pawlowna ein
-paar Flaschen Bier beordern würde. Wir würden sie gerne trinken.«
-
-»Auch noch!« murmelte Nastasja, ging aber, den Befehl auszuführen.
-
-Raskolnikoff begann starr und angestrengt zu beobachten. Unterdessen
-hatte sich Rasumichin zu ihm auf das Sofa gesetzt; ungeschickt, wie ein
-Bär, umfaßte er mit der linken Hand Raskolnikoffs Kopf, trotzdem dieser
-selber sich erheben konnte, und brachte ihm mit der rechten Hand den
-Suppenlöffel an seinen Mund, nachdem er ein paarmal vorher darauf
-geblasen hatte, damit er sich nicht verbrenne. Die Suppe war kaum warm.
-Raskolnikoff verschlang voll Gier einen Löffel, dann einen zweiten und
-einen dritten. Nachdem er aber ihm noch einige Löffel gereicht, hielt
-Rasumichin plötzlich inne und erklärte, daß man des weiteren wegen
-Sossimoff fragen müsse.
-
-Nastasja kam mit zwei Flaschen Bier herein.
-
-»Willst du Tee?«
-
-»Ja, ich möchte gern.«
-
-»Bring mal schnell den Tee, Nastasja, denn was Tee anbelangt, so kann
-man wohl auch ohne Konsultation auskommen. Na, und hier ist Bier!«
-
-Er setzte sich auf seinen Stuhl, rückte die Suppe und das Fleisch zu
-sich und begann mit solch einem Appetit zu essen, als hätte er drei Tage
-nichts bekommen.
-
-»Ich esse jetzt jeden Tag bei euch zu Mittag, lieber Rodja,« brummte er,
-soweit es ihm der vollgestopfte Mund erlaubte, »und zwar bewirtet mich
-so die liebe Praskovja, deine Wirtin, und ehrt mich von ganzer Seele.
-Ich bestehe selbstverständlich nicht darauf, aber protestiere auch nicht
-dagegen. Da ist Nastasja mit dem Tee. Wie flink du bist! Nastasja,
-willst du Bier?«
-
-»Ne, du Spaßvogel.«
-
-»Und wie steht es mit Tee?«
-
-»Tee möchte ich wohl.«
-
-»Gieß ein. Warte, ich will dir selbst eingießen; setz dich an den
-Tisch.«
-
-Er machte sich sofort daran, goß eine Tasse ein, dann eine zweite, ließ
-sein Essen stehen und setzte sich wieder auf das Sofa hin. Wie früher,
-umfaßte er mit der linken Hand den Kopf des Kranken, richtete ihn auf
-und begann ihm den Tee löffelweise einzuflößen, wobei er wieder
-ununterbrochen und sehr eifrig auf den Löffel blies, als bestände in
-diesem Blasen das wesentlichste und heilsamste Moment für die Genesung.
-Raskolnikoff schwieg und sträubte sich nicht, obwohl er genügend Kraft
-in sich fühlte, sich zu erheben und ohne fremde Hilfe auf dem Sofa zu
-sitzen, nicht bloß die Hände zu benutzen, um den Löffel oder die Tasse
-zu halten, sondern vielleicht auch herumzugehen. Aber aus einer
-eigentümlichen, fast tierischen Schlauheit heraus kam es ihm plötzlich
-in den Sinn, vorläufig seine Kräfte zu verheimlichen, sich zu verstellen
-und sich auch nötigenfalls den Anschein zu geben, als verstünde er noch
-nicht alles, indessen aber zuzuhören und zu erfahren, was um ihn
-vorgehe. Übrigens überwand er nicht seinen Widerwillen, -- nachdem er
-etwa zehn Löffel Tee geschlürft hatte, befreite er plötzlich seinen Kopf
-von der Umarmung, stieß den Löffel von sich und sank wieder auf die
-Kissen zurück. Unter seinem Kopfe lagen jetzt wirklich Kissen, --
-gefüllt mit weichem Flaum und mit sauberen Überzügen bezogen; das hatte
-er auch schon bemerkt und darüber nachgedacht.
-
-»Die liebe Praskovja muß uns heute noch Himbeersaft schicken, um ihm ein
-Getränk zu machen,« sagte Rasumichin, indem er seinen Platz wieder
-einnahm und sich an die Suppe und das Bier machte.
-
-»Wo soll sie den Himbeersaft für dich hernehmen?« fragte Nastasja, die
-die Untertasse auf ihren ausgespreizten fünf Fingern hielt und den Tee
-durch ein Stück Zucker hindurchsog.
-
-»Den Himbeersaft wird sie im Laden erhalten, mein Freund. Siehst du,
-Rodja, während du krank warst, ist hier eine ganze Geschichte passiert.
-Als du in solcher spitzbübischen Weise von mir ausrücktest und mir deine
-Wohnung nicht sagtest, packte mich plötzlich eine Wut, daß ich beschloß,
-dich aufzusuchen und zu strafen. Am selben Tage begann ich schon. Ich
-wanderte und wanderte umher, fragte hier und fragte dort! Deine jetzige
-Wohnung hatte ich vergessen, erinnerte mich ihrer auch nicht, weil ich
-sie gar nicht kannte. Nun, und von der früheren Wohnung wußte ich bloß,
-daß sie an den Fünfecken lag, im Hause Karlamoff. Ich suchte und suchte
-dies Haus von Karlamoff, -- und später fand sich's, daß es gar nicht
-Karlamoff, sondern Buch gehörte, wie man sich zuweilen im Klange irren
-kann. Na, ich wurde böse, und ging auf gut Glück am anderen Tage in das
-Adreßbureau, und stell dir vor, -- in zwei Minuten hatte man dich dort
-herausgefunden. Du bist dort eingetragen.«
-
-»Ich bin dort eingetragen.«
-
-»Das stimmt, aber den General Koboleff, siehst du, konnte man dort gar
-nicht finden. Na, darüber ließe sich viel reden. Kaum war ich hier
-eingebrochen, als ich sofort mit allen deinen Angelegenheiten bekannt
-wurde; mit allen, mit allen, Bruder, ich weiß alles. Nikodim Fomitsch
-lernte ich kennen, Ilja Petrowitsch zeigte man mir, auch mit dem
-Hausknecht wurde ich bekannt, ebenso Herrn Alexander Grigorjewitsch
-Sametoff, dem Sekretär in dem Polizeibureau und zu guter Letzt mit der
-lieben Praskovja, -- das war die Krone vom ganzen. Sie, Nastasja, weiß
-es auch ...«
-
-»Er hat sich eingeschmeichelt,« murmelte Nastasja mit einem schelmischen
-Lächeln.
-
-»Versüßen Sie doch Ihren Tee, Nastasja Nikiforowna.«
-
-»Zum Kuckuck mit dir!« rief plötzlich Nastasja und prustete vor Lachen.
-»Ich heiße übrigens Nastasja Petrowna und nicht Nikiforowna,« fügte sie
-hinzu, nachdem sie aufgehört hatte zu lachen.
-
-»Das will ich mir merken. Na, also, Bruder, um nicht viel Worte zu
-verlieren, ich wollte, siehst du, zuerst hier einen elektrischen Strom
-durchlassen, um alle Vorurteile in hiesiger Gegend mit einem Male zu
-vertilgen, aber die liebe Praskovja siegte. Ich hatte gar nicht
-erwartet, Bruder, daß sie so ... lieb sein würde ... Was meinst du?«
-
-Raskolnikoff schwieg, obwohl er keinen Augenblick seinen erregten Blick
-von ihm gewandt hatte, und jetzt noch fortfuhr, ihn starr anzublicken.
-
-»Und sogar sehr lieb,« fuhr Rasumichin fort, ohne sich durch
-Raskolnikoffs Schweigen stören zu lassen, und als bekräftige er dessen
-Antwort, »und in bester Ordnung in jeder Hinsicht.«
-
-»Das ist einer!« rief Nastasja wieder aus, der dieses Gespräch eine
-unbeschreibliche Wonne zu bereiten schien.
-
-»Schlimm war es, Bruder, daß du von Anfang an nicht verstanden hast, die
-Sache richtig anzufassen. Mit ihr mußte man anders verfahren. Sie ist
-sozusagen ein problematischer Charakter! Doch vom Charakter später ...
-Eins nur, zum Beispiel, wie konntest du es soweit kommen lassen, daß sie
-wagte, dir kein Mittagessen zu schicken? Oder zum Beispiel dieser
-Wechsel? Bist du etwa verrückt geworden, Wechsel zu unterzeichnen. Oder
-wiederum diese in Aussicht genommene Ehe, als noch die Tochter, Natalja
-Jegorowna, lebte ... Ich weiß alles! übrigens, ich sehe, daß das eine
-zarte Angelegenheit ist und ich ein Esel bin; entschuldige bitte.
-Apropos: Dummheit; Praskovja Pawlowna ist gar nicht so dumm, Bruder, wie
-man auf den ersten Blick meinen könnte, he?«
-
-»Ja ...« sagte Raskolnikoff gedehnt, indem er zur Seite blickte, aber er
-begriff, daß es vorteilhafter war, vom Thema nicht abzulenken.
-
-»Nicht wahr?« rief Rasumichin aus, sichtlich erfreut, daß er Antwort
-bekommen hatte. »Aber auch nicht klug, wie? Ein ganz, ganz
-unberechenbarer Charakter! Zum Teil bin ich mir selber nicht ganz klar,
-sage ich dir, Bruder ... Sie wird sicher ihre vierzig sein. Sie sagt,
-sie sei sechsunddreißig, und das ist ihr gutes Recht. Übrigens, ich
-schwöre dir, daß ich über sie mehr nach meinem Verstande, rein
-metaphysisch urteile; hier haben sich Verwicklungen eingestellt,
-schlimmer, als in der Algebra. Ich begreife nichts! -- Na, das ist
-lauter Unsinn. Als sie sah, daß du nicht mehr Student bist, weder
-Stunden noch Kleidung hast, bekam sie Furcht und da sie es nicht nötig
-hat, nach dem Tode ihrer Tochter dich verwandtschaftlich zu behandeln,
-und da du deinerseits dich in den Winkel verkrochst und den früheren
-Verkehr nicht unterhieltest, faßte sie den Entschluß, dich aus der
-Wohnung hinauszuwerfen. Sie hatte schon lange diese Absicht gehabt, aber
-der Wechsel tat ihr leid. Außerdem hast du ja selbst versichert, daß
-deine Mutter bezahlen würde ...«
-
-»Das habe ich aus Schuftigkeit gesagt ... Meine Mutter muß beinahe
-betteln gehen ... und ich log, damit man mich wohnen ließe und ... mir
-zu essen gebe,« sagte Raskolnikoff laut und deutlich.
-
-»Ja, das hast du vernünftig gemacht. Nur die Sache war die, daß sich ein
-Herr Tschebaroff einfand, Hofrat und Geschäftsmann. Die liebe Praskovja
-hätte ohne ihn nichts unternommen, sie ist doch zu schüchtern. Na, ein
-Geschäftsmann aber ist nicht schüchtern, und das erste, was er
-selbstverständlich tat, war, ihr die Frage vorzulegen, ob Aussicht da
-sei, daß der Wechsel eingelöst werde? Die Antwort lautete, --
-ja, denn es gibt so eine Mutter, die mit ihrer Pension von
-hundertundfünfundzwanzig Rubel dem Rodenka helfen würde, wenn sie auch
-selbst hungern müßte, und es gibt noch eine Schwester, die für ihren
-Bruder sich schinden lassen würde. Darauf baute der Geschäftsmann ...
-Halte dich nur ruhig! Ich habe jetzt alle deine Geheimnisse erfahren,
-Bruder, du warst nicht umsonst gegen die liebe Praskovja offen, als du
-noch auf verwandtschaftlichem Fuße mit ihr standest, jetzt aber sage ich
-dir dies alles in aller Liebe ... Da haben wir es, ein ehrlicher und
-gefühlvoller Mensch ist offen, spricht sich aus, ein Geschäftsmann aber
-hört zu und kaut dazu und verspeist zu guter Letzt. Sie überließ also
-diesen Wechsel, als hätte sie dafür Zahlung erhalten, jenem Tschebaroff,
-und er genierte sich nicht und forderte die Summe auf gesetzlichem Wege.
-Ich wollte, als ich dies alles erfuhr, ihm zur Beruhigung meines
-Gewissens mit einem kalten Strahl kommen, aber da begann zwischen mir
-und der lieben Praskovja die Harmonie, und ich ordnete an, daß die Sache
-im Keime sozusagen erstickt werden sollte, indem ich mich verbürgte, daß
-du bezahlen wirst. Ich habe mich für dich verbürgt, Bruder, hörst du?
-Tschebaroff wurde hergerufen, man warf ihm zehn Rubel in den Rachen,
-nahm den Wechsel ihm ab, und da habe ich die Ehre, ihn Ihnen zu
-übergeben, -- man glaubt Ihnen nun aufs Wort -- nehmen Sie ihn, er ist
-von mir, wie es sich gehört, eingerissen.«
-
-Rasumichin legte den Wechsel auf den Tisch; Raskolnikoff blickte ihn an
-und wandte sich ohne ein Wort zu sagen gegen die Wand. Rasumichin
-berührte es peinlich.
-
-»Ich sehe, Bruder,« sagte er nach einer Weile, »daß ich wieder eine
-Dummheit gemacht habe. Ich dachte dich zu zerstreuen und mit Geplauder
-zu erheitern, habe aber, wie es scheint, deine Galle aufgerührt.«
-
-»Du warst es, den ich im Fieber nicht erkannte?« fragte Raskolnikoff
-nach einigem Schweigen, ohne den Kopf umzuwenden.
-
-»Ja, ich war es, und du gerietest sogar aus diesem Grunde in Wut,
-besonders, als ich einmal Sametoff mitbrachte.«
-
-»Sametoff? ... Den Sekretär? ... Warum?« Raskolnikoff wandte sich
-schnell um und starrte Rasumichin an.
-
-»Ja, was ist dir ... Warum regst du dich auf? Er wollte mit dir bekannt
-werden; hatte selbst den Wunsch geäußert, weil ich viel mit ihm über
-dich gesprochen habe ... Von wem hätte ich denn sonst soviel über dich
-erfahren. Er ist ein prächtiger Bursche, Bruder, wundervoll ...
-selbstverständlich in seiner Art. Jetzt sind wir Freunde, fast täglich
-sehen wir uns. Ich bin in dieses Revier übergesiedelt. Du weißt es noch
-nicht? Ich bin soeben umgezogen. Bei der Louisa waren wir ein paarmal.
-Erinnerst du dich an Louisa Iwanowna?«
-
-»Habe ich phantasiert?«
-
-»Und ob? Du warst ja ganz ohne Bewußtsein.«
-
-»Worüber habe ich phantasiert?«
-
-»Nanu! Worüber du phantasiert hast? Es ist begreiflich, worüber man
-phantasiert ... Nun, Bruder, wir wollen jetzt keine Zeit mehr verlieren,
-zur Arbeit.«
-
-Er stand vom Stuhle auf und nahm seine Mütze.
-
-»Worüber habe ich phantasiert?«
-
-»Er läßt nicht davon. Hast du Angst vor einem Geheimnis? Sei ruhig, von
--- einer Gräfin wurde nichts geredet. Aber von einer Bulldogge, von
-Ohrgehängen und von allerhand Ketten, von der Krestowski-Insel und von
-einem Hausknecht, von Nikodim Fomitsch und von Ilja Petrowitsch, seinem
-Gehilfen hast du viel gesprochen. Ja, und außerdem geruhtest du dich
-sogar sehr für deinen Strumpf zu interessieren. Klagtest: >Gebt ihn,<
-sagtest du, >bitte<. Sametoff suchte in eigener Person in allen Winkeln
-deine Strümpfe zusammen und überreichte dir den Schund mit seinen
-parfümierten und mit Ringen besetzten Händen. Dann erst beruhigtest du
-dich und hieltest diesen Schund Tag und Nacht in den Händen, man konnte
-es dir nicht wegnehmen. Wahrscheinlich liegt er auch jetzt irgendwo
-unter deiner Decke. Und dann batest du um Fransen von den Hosen, du
-batest mit Tränen darum. Wir versuchten zu erfahren, was für Fransen du
-wünschtest? Aber man konnte nichts verstehen ... Nun, an die Arbeit.
-Hier sind fünfunddreißig Rubel, ich nehme zehn davon, und nach ein paar
-Stunden werde ich Rechenschaft darüber abgeben. Unterdessen will ich
-Sossimoff benachrichtigen, obwohl er ohnedem längst hier sein müßte,
-denn es geht auf zwölf. Sie aber, Nastasja, sehen öfters nach, während
-ich fort bin, und sorgen für ein Getränk oder etwas anderes, was er
-wünschen sollte ... Und der lieben Praskovja werde ich selbst gleich
-sagen, was nötig ist. Auf Wiedersehen!«
-
-»Liebe Praskovja nennt er sie! Ach, du schlauer Kerl!« -- sagte Nastasja
-hinter ihm drein.
-
-Dann öffnete sie die Tür und begann zu horchen, aber sie hielt es nicht
-aus und lief hinunter. Es interessierte sie doch zu sehr, was er mit der
-Wirtin sprach; überhaupt konnte man sehen, daß sie von Rasumichin ganz
-bezaubert war.
-
-Kaum schloß sich die Tür hinter ihr, als der Kranke die Decke von sich
-warf und wie wahnsinnig aus dem Bette sprang. Mit brennender,
-krampfhafter Ungeduld hatte er gewartet, daß sie schneller fortgehen
-würden, um sofort etwas zu tun. Aber was denn, was wollte er tun? -- ihm
-schien es, als mußte es so sein, jetzt vergessen zu haben.
-
-»Oh, Gott! Sag' du mir nur eins -- wissen sie alles oder wissen sie noch
-nichts? Aber wenn sie schon alles wissen und sich bloß so anstellen,
-mich irreführen, solange ich liege, um dann plötzlich einzutreten und zu
-sagen, daß alles schon längst bekannt sei und daß sie bloß so ... Was
-soll ich jetzt tun? Ich habe es vergessen, vergessen; plötzlich ist es
-mir entschwunden und eben noch wußte ich es! ...«
-
-Er stand mitten im Zimmer und blickte in qualvoller Unentschlossenheit
-ringsumher; er ging zur Tür, öffnete sie und lauschte, aber das war es
-nicht. Plötzlich, als hätte er sich erinnert, stürzte er zu der Ecke, wo
-hinter den Tapeten das Loch war, sah alles nach, steckte die Hand in das
-Loch und scharrte nach, aber auch das war es nicht. Er ging zum Ofen,
-öffnete die Tür und begann in der Asche zu scharren; die Fransen von der
-Hose und die Fetzen der zerrissenen Tasche lagen noch umher, wie er sie
-hineingeworfen hatte, also hat niemand nachgesehen. Da erinnerte er sich
-des Strumpfes, von dem Rasumichin soeben erzählt hatte. In der Tat, er
-lag auf dem Sofa unter der Decke, aber er war so abgenutzt und
-beschmutzt, daß Sametoff sicher nichts hatte sehen können.
-
-»Bah, Sametoff ... das Polizeibureau! ... Warum ladet man mich ins
-Polizeibureau? Wo ist die Vorladung? Bah! ... ich verwechsele ... das
-war damals! Ich habe schon da den Strumpf besehen und jetzt ... jetzt
-war ich krank. Warum ist aber Sametoff hergekommen? Warum hat Rasumichin
-ihn mitgebracht? ...« murmelte er, ganz schwach, und setzte sich auf das
-Sofa. »Was ist denn? Phantasiere ich weiter oder ist es Wirklichkeit? Es
-scheint Wirklichkeit zu sein ... Ah, ich erinnere mich, ich muß fliehen!
-Schnell fliehen, unbedingt, unbedingt fliehen! Ja ... aber wohin? Und wo
-sind meine Kleider? Die Stiefel sind nicht da. Man hat sie weggeschafft!
-Hat sie versteckt! Ich verstehe es! Ah, da ist der Mantel -- den haben
-sie übersehen. Hier auf dem Tische liegt auch Geld, Gott sei Dank! Da
-ist auch der Wechsel ... Ich nehme das Geld und gehe fort, will mir eine
-andere Wohnung mieten, sie werden mich nicht finden! ... Ja, aber das
-Adreßbureau? Sie werden mich finden! Rasumichin wird mich finden. Es ist
-besser, ganz weit zu fliehen ... nach Amerika ... und ich pfeif' auf
-sie! Ich will auch den Wechsel nehmen ... dort kann er von Nutzen sein
-... Was soll ich noch mitnehmen? Sie denken, ich sei krank. Sie wissen
-es nicht, daß ich gehen kann, hehehe! ... Ich habe es an ihren Augen
-erraten, daß sie alles wissen. Wenn ich nur die Treppe hinunterkäme!
-Aber wenn sie dort Wächter aufgestellt haben ... Polizeibeamte! Ist das
-Tee? Ah, Bier ist auch übriggeblieben, eine halbe Flasche, es ist kalt!«
-
-Er nahm die Flasche, in der noch ein ganzes Glas übrig war, und trank
-sie in einem Zuge mit Genuß aus, als lösche er ein Feuer in seiner
-Brust. Aber es verging kaum eine Minute, da stieg ihm das Bier zu Kopfe
-und längs dem Rücken durchzog ihn ein leichtes, doch angenehmes
-Frösteln. Er legte sich hin und zog die Decke über sich. Seine Gedanken,
-die ohnedem krankhaft und ohne Zusammenhang waren, verwirrten sich immer
-mehr, und bald überfiel ihn ein leichter und angenehmer Schlaf. Mit
-Wonne suchte er mit dem Kopf eine Stelle in den Kissen aus, wickelte
-sich fester in die weiche wattierte Decke ein, die jetzt an Stelle des
-zerrissenen Mantels über ihm lag, seufzte leise und fiel in einen
-tiefen, festen, kräftigenden Schlaf.
-
-Er erwachte, als er jemand in das Zimmer eintreten hörte, öffnete die
-Augen und erblickte Rasumichin, der die Türe weit geöffnet hatte und auf
-der Schwelle stand, unentschlossen, ob er eintreten solle oder nicht.
-Raskolnikoff erhob sich schnell und blickte ihn an, als gäbe er sich
-Mühe, sich auf etwas zu besinnen.
-
-»Ah, du schläfst nicht; nun, da bin ich! Nastasja, schlepp' das Bündel
-her!« rief Rasumichin hinunter. »Du erhältst sofort Abrechnung ...«
-
-»Wieviel Uhr ist es?« fragte Raskolnikoff und blickte erregt um sich.
-
-»Du hast tüchtig geschlafen, Bruder; es ist Abend, etwa um sechs Uhr. Du
-hast über sechs Stunden geschlafen ...«
-
-»Oh, Gott! Was ist mit mir! ...«
-
-»Ja, was soll denn sein? Zur Gesundheit ist's! Wohin treibt's dich denn?
-Zu einem Stelldichein etwa? Die ganze Zeit gehört jetzt uns. Ich warte
-schon drei Stunden, war ein paarmal hier, da du schliefst. Bei Sossimoff
-war ich auch zweimal, er ist nicht zu Hause und basta! Das tut nichts,
-er wird schon kommen! ...
-
-In eigenen Angelegenheiten war ich auch fortgewesen. Ich bin ja heute
-umgezogen, fix und fertig umgezogen mit meinem Onkel zusammen. Ich habe
-nämlich jetzt einen Onkel ... Nun aber zum Teufel damit, jetzt zur
-Sache. Gib mal das Bündel her, Nastasja. Wir wollen es gleich besorgen.
-Und wie fühlst du dich?«
-
-»Ich bin gesund, bin nicht krank ... Rasumichin, bist du schon lange
-hier?«
-
-»Ich sage dir, ich warte seit drei Stunden.«
-
-»Nein, ich meine vorher?«
-
-»Was vorher?«
-
-»Seit wann kommst du hierher?«
-
-»Ich habe es dir doch erzählt oder erinnerst du dich nicht?«
-
-Raskolnikoff sann nach. Wie im Traume schwebte ihm das vorhin Geschehene
-vor. Allein er konnte sich nicht entsinnen und blickte fragend
-Rasumichin an.
-
-»Hm!« sagte dieser. »Du hast es vergessen. Mir schien es schon damals,
-daß du noch nicht ganz ... Jetzt nach dem Schlafe hast du dich erholt
-... Tatsächlich, du siehst besser aus. Braver Junge! Nun aber zur Sache.
-Du wirst dich gleich erinnern. Sieh mal her, lieber Bursche.«
-
-Er begann das Bündel aufzumachen, das ihn sichtlich außerordentlich
-interessierte. »Das, glaube mir, lag mir besonders auf dem Herzen. Denn
-man muß doch aus dir einen Menschen machen. Wollen wir anfangen, und
-zuerst von oben. Siehst du dieses Kaskett?« sagte er, indem er aus dem
-Bündel eine ziemlich hübsche, aber auch sehr einfache und billige Mütze
-hervorholte. -- »Laß es dir mal anprobieren.«
-
-»Nachher ... später,« -- sagte Raskolnikoff, sich mürrisch wehrend.
-
-»Nein, Rodja, sträube dich nicht, sonst wird es zu spät und auch ich
-werde die ganze Nacht nicht einschlafen können, weil ich es ohne Maß
-aufs Geratewohl gekauft habe. Es paßt genau!« -- rief er triumphierend
-aus, nachdem er die Mütze anprobiert hatte, -- »paßt, wie angemessen!
-Die Kopfbedeckung, Bruder, ist der wichtigste Teil des Anzuges, eine
-tote Empfehlung. Mein Freund Tolstjakoff muß jedesmal seine
-Kopfbedeckung abnehmen, wenn er irgendwo hinkommt, wo alle anderen in
-Hüten und Mützen herumstehen. Alle glauben, er tue es aus sklavischer
-Empfindung, nein, er schämt sich einfach seines Vogelnestes; er ist mal
-schon so schüchtern. Nun, Nastenka, hier haben Sie zwei Kopfbedeckungen
-(er holte aus einer Ecke den zerdrückten runden Hut von Raskolnikoff,
-den er Gott weiß warum Palmerston nannte) -- diesen Palmerston und
-dieses Kleinod. Taxiere mal. Rodja, was meinst du, das ich dafür bezahlt
-habe? Nastasjuschka?« -- wandte er sich an sie, als er sah, daß
-Raskolnikoff schwieg. »Zwanzig Kopeken wirst du wahrscheinlich gegeben
-haben«, -- antwortete Nastasja.
-
-»Zwanzig Kopeken, Dummkopf!« -- rief er beleidigt aus, -- »heutzutage
-kauft man auch dich nicht mal für zwanzig Kopeken. Achtzig Kopeken habe
-ich bezahlt! Und auch deshalb nur, weil sie schon getragen ist. Jedoch
-mit der Bedingung, daß du im nächsten Jahre eine andere umsonst
-erhältst, wenn diese abgetragen ist, bei Gott! Nun wollen wir zu den
-Vereinigten Staaten von Amerika, wie man bei uns im Gymnasium sagte,
-übergehen. Ich sage im voraus, daß ich auf die Hosen stolz bin!« -- und
-er breitete vor Raskolnikoff ein paar graue Beinkleider aus leichtem,
-wollenem Sommerstoff aus. -- »Weder ein Löchlein, noch ein Fleckchen,
-dafür aber sehr anständig, obwohl sie getragen sind, ebensolch eine
-Weste, in derselben Farbe, wie es die Mode verlangt. Und daß sie
-getragen sind, ist offen gestanden auch besser, sie sind weicher, zarter
-... Siehst du, Rodja, um in der Welt eine Karriere zu machen, genügte
-es, meiner Meinung nach, sich stets nach der Saison zu richten; wenn man
-im Monat Januar keinen Spargel ißt, behält man im Beutel ein paar Rubel
-mehr; ebenso ist es mit diesem Kauf. Wir haben jetzt die Sommersaison,
-und da habe ich auch danach den Einkauf gemacht, denn zur Herbstsaison
-wird so wie so ein wärmerer Stoff vonnöten sein, also muß man es
-fortwerfen ... um so mehr, als dies alles bis dahin von selbst verfallen
-wird, wenn nicht aus stärker gewordenem Luxusbedürfnis, so aus inneren
-Zerrüttungen. Nun taxiere sie mal. Wieviel meinst du? -- Zwei Rubel
-fünfundzwanzig Kopeken! Und vergiß nicht mit derselben Bedingung, hast
-du sie vertragen, erhältst du im nächsten Jahre ein anderes Paar
-umsonst. In Fedjajeffs Laden handelt man nicht anders: man bezahlt nur
-einmal und hat fürs ganze Leben genug, denn ein zweites Mal geht man
-selbst nicht hin. Jetzt zu den Stiefeln, -- wie gefallen sie dir? Man
-sieht es wohl, daß sie getragen sind, aber ein paar Monate halten sie
-noch aus, denn es ist ausländische Arbeit und ausländische Ware; der
-Sekretär der englischen Botschaft hat sie vorige Woche auf dem
-Trödelmarkte losgeschlagen, er hat sie nur sechs Tage getragen, brauchte
-aber sehr notwendig Geld. Der Preis ist ein Rubel fünfzig Kopeken. Ist
-das nicht ein glücklicher Einkauf?«
-
-»Aber vielleicht passen sie nicht!« -- bemerkte Nastasja.
-
-»Nicht passen! Und was ist das?« -- er zog aus der Tasche den alten,
-eingetrockneten, zerrissenen, ganz mit altem Schmutz bedeckten Stiefel
-Raskolnikoffs. -- »Ich bin mit Vorrat hingegangen; nach diesem Scheusal
-hat man das richtige Maß festgestellt. Alles war sorgfältig bedacht. Und
-wegen der Wäsche habe ich mich mit der Wirtin beraten. Da sind drei
-leinene Hemden, mit modernen Kragen ... Also nun die Rechnung: achtzig
-Kopeken die Mütze, zwei Rubel fünfundzwanzig die übrigen Kleider, im
-ganzen drei Rubel und fünf; ein Rubel und fünfzig die Stiefel, -- weil
-sie gar so gut sind, -- macht vier Rubel fünfundfünfzig und die ganze
-Wäsche fünf Rubel -- wir haben einen Engrospreis gemacht, -- ist in
-Summa neun Rubel fünfundfünfzig Kopeken. Den Rest -- fünfundvierzig
-Kopeken in Kupfer bitte ich zurückzunehmen, da lege ich sie hin. Und
-nun, Rodja, bist du in deiner ganzen Kleidung hergestellt, denn dein
-Mantel kann, meiner Meinung nach, nicht bloß weiterdienen, sondern er
-macht sogar einen besonders anständigen Eindruck; das macht, wenn man
-bei einem guten Schneider arbeiten läßt. Was Strümpfe und das übrige
-anbelangt, das überlasse ich dir selbst; wir haben an Geld noch
-fünfundzwanzig Rubel; wegen der lieben Praskovja und der Miete kannst du
-ruhig sein. Ich sage dir, du hast einen unbegrenzten Kredit. Jetzt aber
-erlaube mal, dir die Wäsche zu wechseln, Bruder, vielleicht steckt die
-Krankheit jetzt bloß noch im Hemde ...«
-
-»Laß es! Ich will nicht!« wehrte sich Raskolnikoff, der voll Widerwillen
-dem gesucht neckischen Bericht Rasumichins über den Einkauf der Sachen
-zugehört hatte.
-
-»Das geht nicht an, Bruder. Warum habe ich mich denn abgeschunden!«
-bestand Rasumichin auf seinem Verlangen. »Nastasjuschka, genieren Sie
-sich nicht, sondern helfen Sie, -- so, so!«
-
-Und ungeachtet des Widerstandes Raskolnikoffs, hatte er ihm doch die
-Wäsche gewechselt. Der aber fiel auf die Kissen zurück und ein paar
-Minuten redete er kein Wort.
-
-»Die werde ich noch lange nicht los!« dachte er.
-
-»Von welchem Gelde ist denn dies alles gekauft?« fragte er endlich,
-indem er nach der Wand blickte.
-
-»Von welchem Gelde? Das ist mal eine Frage! Doch von deinem eigenen.
-Vorhin war doch der Bureaudiener von Wachruschin hier, deine Mutter hat
-es dir gesandt, oder hast du auch das vergessen?«
-
-»Jetzt erinnere ich mich ...« sagte Raskolnikoff nach langem und
-düsterem Nachdenken. Rasumichin sah ihn hin und wieder voll Unruhe mit
-zusammengezogenen Brauen an. Da öffnete sich die Türe und ein großer
-kräftiger Mann trat ein, der dem Aussehen nach Raskolnikoff schon ein
-wenig bekannt vorkam.
-
-»Sossimoff! Endlich!« rief Rasumichin erfreut aus.
-
-
- IV.
-
-Sossimoff war groß und dick, mit einem gedunsenen, farblosen, blassen
-und glattrasierten Gesichte, hatte helles glattes Haar, trug eine Brille
-und an einem seiner fetten Finger saß ein großer goldener Ring. Er war
-etwa siebenundzwanzig Jahre alt. Unter einem weiten, eleganten, leichten
-Überzieher sahen helle Sommerbeinkleider hervor; alles war an ihm weit,
-elegant und nagelneu, die Wäsche war tadellos und die Uhrkette massiv.
-Seine Bewegungen waren langsam, es lag in seiner Trägheit gleichzeitig
-eine gesuchte Ungezwungenheit; eine Überhebung, die er übrigens stark zu
-verbergen suchte, kam immer wieder zum Vorschein. Alle, die ihn kannten,
-fanden ihn schwerfällig, gaben jedoch zu, daß er seine Sache verstände.
-
-»Ich bin zweimal bei dir gewesen, Bruder ... Siehst du, er ist zu sich
-gekommen!« rief Rasumichin aus.
-
-»Ich sehe, sehe es. Nun, wie fühlen wir uns jetzt?« wandte sich
-Sossimoff an Raskolnikoff, indem er ihn aufmerksam betrachtete und sich
-zu ihm auf das Sofa zu seinen Füßen setzte, wobei er sich sofort nach
-Möglichkeit breit machte. »Er ist immer schlechter Laune,« fuhr
-Rasumichin fort, »wir haben ihm soeben die Wäsche gewechselt, da fing er
-fast zu weinen an.«
-
-»Das ist begreiflich; die Wäsche konnte man auch später wechseln, wenn
-er es selbst wünscht ... Der Puls ist prächtig. Der Kopf tut immer noch
-ein wenig weh, ja?«
-
-»Ich bin gesund, bin vollkommen gesund!« sagte hartnäckig und gereizt
-Raskolnikoff, indem er sich gleichzeitig vom Sofa erhob und mit den
-Augen blitzte, er fiel aber sofort auf das Kissen zurück und wandte sich
-der Wand zu.
-
-Sossimoff beobachtete ihn aufmerksam.
-
-»Sehr gut ... alles, wie es sich gehört,« sagte er träge. »Hat er etwas
-gegessen?«
-
-Man sagte es ihm und fragte, was man geben könne.
-
-»Ja, alles kann man ihm geben ... Suppe, Tee ... Pilze und Gurken
-selbstverständlich nicht, na, und Fleisch ist auch nicht nötig und ...
-was ist da weiter zu reden! ...«
-
-Er wechselte einen Blick mit Rasumichin.
-
-»Die Arznei weg und alles weg; morgen will ich wieder nachsehen ... Es
-wäre heute ... na, einerlei ...«
-
-»Morgen abend gehe ich mit ihm spazieren!« beschloß Rasumichin. »In den
-Jussupoff-Garten, und nachher gehen wir in den Kristallpalast.«
-
-»Morgen würde ich ihm noch nicht raten, sich Bewegung zu machen,
-übrigens aber ... ein wenig ... na, wir wollen sehen.«
-
-»Ach, es ist schade, heute weihe ich gerade meine Wohnung ein, es sind
-ja nur zwei Schritte von hier; wenn er auch dabei sein könnte! Er könnte
-ja auf dem Sofa unter uns liegen. Du wirst doch kommen?« wandte sich
-Rasumichin plötzlich an Sossimoff. »Vergiß es nicht, du hast
-versprochen.«
-
-»Vielleicht komme ich, aber ein wenig später. Was hast du denn?«
-
-»Ja, nichts besonderes, Tee, Schnaps, Hering. Eine Pirogge gibt es; nur
-die nächsten Bekannten kommen.«
-
-»Wer denn?«
-
-»Ja, alle aus der nächsten Nachbarschaft und fast lauter neue,
-ausgenommen den alten Onkel und neu ist der auch. Er ist gestern nach
-Petersburg in eigenen Angelegenheiten gekommen; alle fünf Jahre sehen
-wir uns.«
-
-»Wo ist er?«
-
-»Er hat sein Lebelang in einer Kreisstadt als Postmeister vegetiert ...
-erhält eine kleine Pension, ist fünfundsechzig Jahre alt, es lohnt sich
-nicht, darüber zu sprechen ... Ich habe ihn übrigens gern. Porphyri
-Ssemenowitsch wird auch kommen, der hiesige Untersuchungsrichter ... er
-ist aus dem Richterstande. Ja, du kennst ihn doch ...«
-
-»Ist er auch ein Verwandter von dir?«
-
-»Ganz weitläufig; warum siehst du so verdrießlich aus? Weil ihr euch
-einmal gezankt habt, wirst vielleicht deshalb nicht kommen?«
-
-»Ah, ich pfeife auf ihn ...«
-
-»Das ist auch das beste. Nun und außerdem -- Studenten, ein Lehrer, ein
-Beamter, ein Musiker, ein Offizier, Sametoff ...«
-
-»Sag mir bitte, was kann zwischen dir oder dem da,« Sossimoff wies auf
-Raskolnikoff, »und einem Sametoff gemeinsames sein?«
-
-»Ach, du Nörgler! Prinzipienreiter! ... Du bist ja ganz mit Prinzipien
-ausgestopft wie ein Kissen mit Federn, bist schon ganz ihr Sklave. Meine
-Meinung ist, wenn ein Mensch gut ist, -- so ist er mir angenehm, und das
-ist mein Prinzip. Und Sametoff ist ein ganz prächtiger Bursche.«
-
-»Und läßt sich schmieren.«
-
-»Nun ja, was macht es, wenn er sich schmieren läßt, ich pfeife darauf.
-Was ist da dabei, wenn er sich schmieren läßt!« rief plötzlich
-Rasumichin unnatürlich gereizt aus, -- »hab ich ihn denn gelobt, weil er
-sich schmieren läßt? Ich sagte, daß er nur in seiner Art gut sei. Und
-wenn man alle so genau nach jeder Seite besehen würde, dann würden nicht
-viel gute Menschen übrig bleiben. Ich bin überzeugt, daß man dann für
-mich, mit allen Eingeweiden zusammen, eine gebackene Zwiebel geben
-würde, und auch nur mit dir als Zugabe! ...«
-
-»Das ist wenig; ich will für dich zwei geben ...«
-
-»Und ich für dich nur eine! Mach mir keine weiteren Witze! Sametoff ist
-noch ein dummer Junge, ich werde ihn noch oft an den Haaren zupfen, man
-muß ihn an sich ziehen und nicht von sich stoßen. Wenn man einen
-Menschen abstößt, verbessert man ihn nicht, um so mehr, wenn er ein
-unreifer Junge ist. Mit einem Jungen soll man noch einmal so vorsichtig
-sein. Ach, ihr progressiven Dummköpfe, nichts versteht ihr! Ihr achtet
-nicht den Menschen, und schadet euch selbst ... Und wenn du es wissen
-willst, wir haben ein gemeinsames Interesse.«
-
-»Das möchte ich wissen.«
-
-»Ja, es ist in der Sache mit dem Maler, das heißt dem Anstreicher ...
-Wir werden ihn schon loskriegen! Übrigens ist jetzt auch keine Gefahr
-mehr. Die Sache ist jetzt klipp und klar! Wir wollen sie bloß
-beschleunigen.«
-
-»Was ist das für ein Anstreicher?«
-
-»Wie, habe ich dir denn nicht davon erzählt? Ja, richtig, ich habe dir
-nur den Anfang erzählt ... von der Ermordung der alten Pfandleiherin,
-der Beamtenwitwe ... nun und darein ist jetzt ein Anstreicher verwickelt
-...«
-
-»Von diesem Morde habe ich schon früher gehört, bevor du es mir
-erzähltest, und ich interessiere mich sehr für diese Sache ... teilweise
-... aus einem besonderen Grunde ... ich las in den Zeitungen darüber.
-Aber siehst du ...«
-
-»Lisaweta hat man auch ermordet!« platzte plötzlich Nastasja heraus,
-indem sie sich an Raskolnikoff wandte.
-
-Sie hatte die ganze Zeit an die Tür gelehnt zugehört.
-
-»Lisaweta?« murmelte Raskolnikoff mit kaum hörbarer Stimme.
-
-»Lisaweta, die Händlerin, weißt du es nicht? Sie kam öfters hierher in
-unser Haus, hat dir auch ein Hemd ausgebessert.«
-
-Raskolnikoff wandte sich zu der Wand, wählte auf der schmutzigen gelben
-Tapete mit weißen Blümchen eine plumpe weiße Blume mit braunen Strichen
-aus und begann sie zu betrachten, wieviel Blätter sie habe, was für
-Zacken an den Blättern und wieviel Striche sie durchzogen. Er fühlte,
-daß seine Hände und Füße erstarrten, als wären sie gelähmt, aber er
-versuchte nicht mal sich zu rühren und blickte unverwandt die Blume an.
-
-»Nun, was ist mit dem Anstreicher?« unterbrach Sossimoff sehr unwillig
-Nastasjas Geschwätz.
-
-Sie seufzte und schwieg.
-
-»Er soll auch der Mörder sein!« fuhr Rasumichin eifrig fort.
-
-»Hat man denn Beweise?«
-
-»Gar keine, zum Teufel! Übrigens hat man doch einen, aber dieser Beweis
-ist kein Beweis und siehst du, das muß man erst nachweisen. Es ist genau
-so, wie sie zuerst diese ... wie heißen sie doch ... ja Koch und
-Pestrjakoff verdächtigt und eingesperrt haben. Pfui! Wie dumm dies alles
-gehandhabt wird, einen Unbeteiligten ekelt es an. Pestrjakoff, der eine
-von ihnen, wird vielleicht auch heute bei mir sein ... Apropos, Rodja,
-du kennst ja diese Geschichte, sie passierte noch vor deiner Krankheit,
-gerade am Abend vorher, als du im Polizeibureau ohnmächtig wurdest, als
-man darüber sprach ...«
-
-Sossimoff blickte Raskolnikoff neugierig an, er rührte sich aber nicht.
-
-»Weißt du, Rasumichin? Ich muß mich über dich wundern, daß du dich
-überall hineinmischest,« bemerkte Sossimoff.
-
-»Mag sein, aber wir wollen ihn doch loskriegen!« rief Rasumichin aus und
-schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was einen dabei aber am meisten
-ärgert, ist nicht, daß sie so viel lügen. Lügen kann man immer
-entschuldigen, Lügen ist ein gutes Ding, wenn es zur Wahrheit führt.
-Aber das ist ärgerlich, daß sie lügen und an ihre eigenen Lügen
-unerschütterlich glauben. Ich achte Porphyri, aber ... Was hat sie zum
-Beispiel ganz am Anfang aus dem Konzept gebracht? Die Türe war
-verschlossen, und als sie später mit dem Hausknecht kamen, war sie
-offen, also haben Koch und Pestrjakoff gemordet! Siehst du, so ist ihre
-Logik!«
-
-»Rege dich doch nicht auf; man hat sie einfach eine kurze Zeit in Haft
-behalten, man kann doch nicht ... Nebenbei gesagt, ich habe diesen Koch
-irgendwo kennengelernt. Es hat sich herausgestellt, daß er von der Alten
-verfallene Pfandobjekte ankaufte?«
-
-»Ja, er ist ein Gauner! Er kauft auch Wechsel auf. Ein dunkler
-Ehrenmann. Aber hol ihn der Teufel! Versteh mich doch, worüber ich mich
-am meisten ärgere. Über ihre veraltete, sinnlose, verkehrte Methode
-ärgere ich mich ... Hier aber, in dieser Sache allein, muß man einen
-ganz neuen Weg entdecken. Nach den psychologischen Momenten allein kann
-man schon zeigen, wie die richtige Spur gefunden werden soll. Wir haben
-Indizien, sagen sie! Ja, aber Indizien ist doch nicht alles; wenigstens
-die Hälfte der Sache besteht darin, wie man mit den Indizien umzugehen
-versteht!«
-
-»Und verstehst du mit den Indizien umzugehen?«
-
-»Man kann aber doch nicht schweigen, wenn man fühlt, handgreiflich
-fühlt, daß man der Sache nützen könnte, wenn ... Ach! ... Kennst du die
-Sache ausführlich?«
-
-»Ich warte darauf, über den Anstreicher zu hören.«
-
-»Ach ja! Höre also die Geschichte, -- genau am dritten Tage nach dem
-Morde, am Morgen, als sie sich noch mit Koch und Pestrjakoff abgaben, --
-obwohl die jeden ihrer Schritte nachgewiesen hatten, alles war schreiend
-klar, -- wird plötzlich ein ganz unerwartetes Faktum offenbar. Ein
-gewisser Duschkin, ein Bauer, Besitzer einer Kneipe gerade gegenüber
-jenem Hause, erscheint in dem Polizeibureau, bringt ein Etui mit
-goldenen Ohrgehängen mit und erzählt eine ganze Geschichte. >Vorgestern
-abend ungefähr nach acht Uhr,< -- merk du dir Tag und Stunde! -- >kommt
-zu mir ein Arbeiter, ein Anstreicher, Nikolai, der auch schon früher im
-Laufe des Tages dagewesen war, und bringt mir dieses Kästchen mit
-goldenen Ohrgehängen und mit den Steinen und bittet, ihm zwei Rubel
-darauf zu leihen; auf meine Frage aber, woher er sie habe, erklärte er
-mir, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte. Mehr habe ich ihn nicht
-ausgefragt,< das alles sagt Duschkin, >sondern gab ihm einen Schein,<
-das heißt also einen Rubel, >denn ich dachte, wenn ich sie nicht nehme,
-versetzt er sie bei einem anderen, und wird das Geld sowieso vertrinken.
-Mögen besser die Sachen bei mir liegen; sollte sich aber etwas zeigen
-oder sollten Gerüchte auftauchen, bringe ich sie zur Polizei.<
-Selbstverständlich schwindelt er, lügt wie ein Pferd, denn ich kenne
-diesen Duschkin, er ist selbst Pfandleiher, schafft Gestohlenes zur
-Seite und hat dem Nikolai das Ding, das dreißig Rubel wert ist, nicht
-abgeluchst, um es zur Polizei zu bringen. Er hat einfach Angst bekommen.
-Hol' ihn der Teufel! -- höre weiter,« fuhr Rasumichin fort: »>Ich kenne
-ihn, den Nikolai Dementjeff von klein auf,< erzählt Duschkin weiter, >er
-stammt aus demselben Rjasanschen Gouvernement wie ich, und aus demselben
-Kreise. Nikolai ist kein Säufer, trinkt aber doch hin und wieder eins,
-und ich wußte, daß er in jenem Hause mit Dmitri arbeitet, denn Dmitri
-stammt auch aus derselben Gegend. Als er von mir den Schein erhalten
-hatte, wechselte er ihn sofort, trank auf einmal zwei Gläschen, nahm den
-Rest des Geldes und ging seiner Wege, Dmitri war aber damals nicht mit
-ihm. Am anderen Tage hörte ich, daß Aljona Iwanowna und ihre Schwester
-Lisaweta mit einem Beile erschlagen sind, -- ich habe sie gekannt, --
-und da packten mich Zweifel wegen der Ohrgehänge, denn mir war es
-bekannt, daß die Verstorbene Geld gegen Pfand auslieh. Ich ging hinüber
-und begann vorsichtig und still auszuhorchen und zu allererst frug ich,
-ob Nikolai da sei! Dmitri erzählte mir, daß Nikolai zu trinken
-angefangen habe, er wäre bei Tagesanbruch betrunken nach Hause gekommen,
-ungefähr zehn Minuten dageblieben und wieder fortgegangen; Dmitri habe
-ihn nicht mehr gesehen und beende die Arbeit allein. Sie arbeiteten aber
-im zweiten Stock desselben Hauses, in dem die Ermordeten lebten. Als ich
-dies hörte, habe ich niemanden etwas davon mitgeteilt,< sagte Duschkin,
->ich versuchte vielmehr alles über die Ermordung in Erfahrung zu bringen
-und bin mit denselben Zweifeln nach Hause zurückgekehrt. Heute morgen
-nun gegen acht Uhr,< das heißt, am dritten Tage, verstehst du? >sehe ich
-Nikolai hereinkommen, nicht nüchtern, aber auch nicht ganz betrunken, so
-daß er ganz gut ausgehört werden konnte. Er setzt sich auf eine Bank und
-schweigt. Außer ihm war in der Kneipe zu der Zeit noch ein fremder
-Mensch da, auf einer Bank schlief ein anderer, ein Bekannter von mir,
-auch die zwei Laufjungens waren zur Stelle. Hast du Dmitri gesehen,
-fragte ich ihn. -- Nein, sagte er, ich habe ihn nicht gesehen. -- Und
-warst du auch nicht bei ihm? -- Nein, antwortete er, seit vorgestern war
-ich nicht bei ihm. -- Und wo hast du die Nacht geschlafen? -- Bei
-Bekannten auf den Peßki. -- Und woher, fragte ich, hast du die
-Ohrgehänge genommen? -- Ich habe sie auf dem Trottoir gefunden, -- und
-er sagte es so, als sei es nicht wahr, und ohne mich anzublicken. --
-Hast du auch gehört, fragte ich ihn, daß dies und dies, und erzählte ihm
-nun die Geschichte, am selben Abend und zur selben Stunde auf jener
-Treppe geschehen ist? -- Nein, sagte er, ich habe nichts gehört. -- Er
-hörte mit weit aufgerissenen Augen auf das, was ich ihm erzählte, und
-ward plötzlich weiß wie Kalk. Ich erzähle weiter, siehe da, er nimmt
-seine Mütze und will aufstehen. Da wollte ich ihn festhalten und sage,
-warte ein wenig, Nikolai, willst du nicht eins trinken? Ich gab einem
-Jungen ein Zeichen, daß er die Tür zuhalten soll, und kam hinter dem
-Ladentisch hervor, er aber springt auf, stürzt auf die Straße und läuft
-um die Ecke, -- weg war er. Da verlor ich meine Zweifel, es ist sein
-Werk, sein Verbrechen ...<«
-
-»Sicher! ...« sagte Sossimoff.
-
-»Warte! Höre zu Ende! Selbstverständlich beeilte man sich schleunigst,
-Nikolai zu finden; Duschkin wurde verhaftet und Haussuchung bei ihm
-gehalten, Dmitri sperrte man auch ein; die Bekannten von Nikolai, bei
-denen er die letzte Nacht geschlafen hat, wurden gleichfalls hergenommen
--- und vorgestern brachte man Nikolai selbst; man hatte ihn in der Nähe
-des N.schen Schlagbaums in einer Spelunke aufgefangen. Er war dorthin
-gekommen, hatte sein silbernes Kreuz vom Halse genommen und ein Glas
-Schnaps dafür verlangt. Man hatte es ihm auch gegeben. Nach einer Weile
-ging die Frau in den Kuhstall und sah durch eine Ritze, daß Nikolai in
-der Scheune nebenan an einen Balken seinen Gürtel gebunden hatte und
-eine Schlinge gemacht hatte; dann stieg er auf einen Klotz und wollte
-die Schlinge um den Hals legen; die Frau schrie aus vollem Halse, und
-man lief zusammen. -- >Du bist so einer!< -- >Führt mich,< sagte er,
->auf das Polizeibureau, ich will alles bekennen.< Nun, man schaffte ihn
-mit den gehörigen Ehrenbezeigungen in das Polizeibureau, das heißt
-hierher. Allerhand Fragen wurden ihm dort gestellt, wer, woher, wie alt
--- >zweiundzwanzig< und dergleichen. Frage: >Als du und Dmitri
-arbeitetet, habt ihr nicht jemand auf der Treppe in der und der Stunde
-gesehen?< Antwort: >Gewiß sind Menschen vorbeigegangen, aber wir haben
-sie uns nicht gemerkt.< >Habt ihr nicht Lärm oder ähnliches gehört?<
->Wir haben nichts besonderes gehört.< >Wußtest du aber, Nikolai, daß am
-selben Tage die Witwe so und so an diesem Tage und zu der und der Stunde
-mit ihrer Schwester ermordet und beraubt wurde?< >Ich habe gar nichts
-gewußt, zum ersten Male hörte ich davon in der Kneipe am dritten Tage
-von Afanassi Pawlowitsch.< >Und woher hast du die Ohrgehänge?< >Ich habe
-sie auf dem Trottoir gefunden.< >Warum bist du am anderen Tage nicht mit
-Dmitri zur Arbeit gekommen?< >Weil ich angefangen hatte zu bummeln.<
->Und wo hast du gebummelt?< >Ja, dort und dort.< >Warum liefst du von
-Duschkin weg?< >Weil ich große Angst bekam.< >Warum bekamst du Angst?<
->Daß man mich verhören wird.< >Wie konntest du denn davor Angst
-bekommen, wenn du dich vollkommen unschuldig fühlst??< ... Nun, glaub
-oder glaub mir nicht, Sossimoff, diese Frage wurde gestellt und
-buchstäblich mit diesen Worten, ich weiß es bestimmt, man hat es mir
-genau mitgeteilt! Wie findest du das? Wie findest du das?«
-
-»Aber, es existieren doch Beweise.«
-
-»Ich spreche jetzt nicht von den Beweisen, sondern von der
-Fragestellung, darüber, wie sie ihre Aufgabe auffassen! Aber, zum Teufel
-damit! ... Also sie haben so lange gepreßt und gequetscht, bis er
-bekannte, >ich habe sie,< sagte er, >nicht auf dem Trottoir, sondern in
-der Wohnung gefunden, wo ich mit Dmitri arbeitete.< >Wie verhält sich
-denn das?< >Wir arbeiteten den ganzen Tag bis acht Uhr und wollten schon
-nach Hause gehen, da nahm Dmitri einen Pinsel, schmierte mir in die
-Fratze Farbe und lief davon und ich ihm nach. Und ich lief hinter ihm
-her und schrie aus vollem Halse; wie ich aber von der Treppe unter den
-Torweg kam, stieß ich im vollen Laufe mit dem Hausknecht und einigen
-Herren zusammen, -- wieviel Herren es waren, erinnere ich mich nicht,
-der Hausknecht schimpfte mich aus, auch der andere Hausknecht schimpfte
-mich, die Frau des Hausknechtes kam heraus und schimpfte; ein Herr, der
-mit einer Dame durch den Torweg kam, schimpfte auch, weil ich und Dmitri
-quer im Wege lagen, -- ich hatte Dmitri an den Haaren gepackt, ihn
-hingeworfen und versetzte ihm Püffe, Dmitri hatte, unter mir liegend,
-mich auch an den Haaren und puffte mich, wir taten es nicht im Ernst,
-sondern in aller Freundschaft, im Scherze. Dmitri machte sich von mir
-los und lief auf die Straße, ich lief ihm nach, holte ihn aber nicht ein
-und ging in die Wohnung allein zurück, -- es mußte noch aufgeräumt
-werden. Ich begann das Werkzeug zu sammeln und wartete auf Dmitri,
-vielleicht kommt er noch. Und bei der Türe im Vorzimmer, an der Wand, in
-einem Winkel, trat ich auf ein Kästchen. Ich sehe, es liegt da,
-eingeschlagen in Papier. Das Papier nahm ich ab und sah solche ganz
-winzige Häkchen, ich machte sie auf und im Kästchen lagen die Ohrgehänge
-...<«
-
-»Hinter der Tür? Hinter der Tür lag es? Hinter der Tür?« rief plötzlich
-Raskolnikoff, sah Rasumichin mit einem trüben, erschreckten Blick an und
-erhob sich langsam, sich mit der Hand stützend, vom Sofa.
-
-»Ja ... aber was ist denn los? Was ist mit dir? Was hast du?« Rasumichin
-erhob sich auch von seinem Platze.
-
-»Nichts! ...« antwortete kaum hörbar Raskolnikoff, sank wieder auf das
-Kissen zurück und wandte sich von neuem zu der Wand.
-
-Alle schwiegen eine Weile.
-
-»Er war wahrscheinlich eingeschlummert, noch halb im Schlafe,« sagte
-endlich Rasumichin und blickte Sossimoff fragend an; jener machte eine
-leichte verneinende Bewegung mit dem Kopfe.
-
-»Na, fahr fort,« sagte Sossimoff, »was weiter?«
-
-»Ja, was weiter? Als er die Ohrgehänge erblickte, vergaß er sofort die
-Wohnung und Dmitri, nahm seine Mütze und lief zu Duschkin hin und
-erhielt von ihm, wie es dir bekannt ist, einen Rubel, ihm log er aber
-vor, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte, und fing sofort an zu
-bummeln. Von dem Morde aber bestätigt er das früher gesagte: >Ich weiß
-von gar nichts, habe es erst am dritten Tage gehört!< >Und warum bist du
-bis jetzt nicht gekommen?< >Vor Angst.< >Und warum wolltest du dich
-erhängen?< >Vor lauter Gedanken.< >Was für Gedanken?< >Daß man mich
-verurteilen würde.< Nun, das ist die ganze Geschichte. Jetzt, was meinst
-du, daß sie daraus gefolgert haben?«
-
-»Ja, was ist da zu denken, es ist eine Spur, wenn sie auch unbedeutend
-ist, so ist es doch eine Spur. Eine Tatsache. Soll man deinen
-Anstreicher etwa in Freiheit setzen?«
-
-»Ja, sie halten ihn jetzt einfach für den Mörder! Sie haben keinen
-Zweifel mehr ...«
-
-»Das geht zu weit, du bist hitzig. Nun aber die Ohrgehänge? Du mußt doch
-selbst zugeben, -- wenn am selben Tage und zur selben Stunde die
-Ohrgehänge aus dem Kasten der Alten in die Hände von Nikolai geraten, --
-daß sie in irgendeiner Weise zu ihm hingekommen sein müssen? Das hat
-doch nicht wenig zu sagen bei solch einer Untersuchung.«
-
-»Wie hingekommen! Wie sie hingekommen sind?« rief Rasumichin aus. »Und
-du als Arzt, du, der vor allen Dingen verpflichtet ist, den Menschen zu
-studieren und der Gelegenheit hat, eher als jeder andere, die
-menschliche Natur kennenzulernen, -- kannst du denn nicht nach all
-diesen gegebenen Anzeichen sehen, was für eine Natur dieser Nikolai ist?
-Kannst du denn nicht auf den ersten Blick sehen, daß alles, was er bei
-den Verhören ausgesagt hat, die heiligste Wahrheit ist? Sie sind genau
-so in seine Hände geraten, wie er ausgesagt hat. Er ist auf ein Kästchen
-getreten und hat es aufgehoben.«
-
-»Heiligste Wahrheit! Er hat aber doch selbst eingestanden, daß er das
-erstemal gelogen hat?«
-
-»Höre mich an, höre aufmerksam zu, -- der Hausknecht, Koch und
-Pestrjakoff, auch der andere Hausknecht, die Frau des ersten
-Hausknechtes und eine Bekannte von ihr, die zur selben Zeit in der
-Wohnung des Hausknechtes saßen, und der Hofrat Krjukoff, der in
-demselben Augenblick aus einer Droschke gestiegen und mit einer Dame Arm
-in Arm durch den Torweg gegangen war, -- alle, also acht oder zehn
-Zeugen, sagen einstimmig aus, daß Nikolai den Dmitri zu Boden gedrückt,
-auf ihm lag und ihn schlug, und daß jener ihn an den Haaren gepackt
-hatte und ebenso auf ihn schlug. Sie liegen beide quer im Wege und
-versperren den Durchgang; sie werden von allen geschimpft und sie liegen
-da, wie >kleine Kinder< aufeinander (buchstäblicher Ausdruck der
-Zeugen), kreischen, prügeln sich und lachen, lachen beide um die Wette,
-mit den komischsten Fratzen und laufen auf die Straße, gleich Kindern,
-hinaus einander zu fangen. Hast du gehört? Nun merke dir jetzt, -- oben
-liegen die Körper noch warm, hörst du, noch warm, so fand man sie! Wenn
-sie oder auch Nikolai nur allein, gemordet und dabei den Kasten
-aufgebrochen und geraubt hätten oder auch nur einigermaßen an dem Raube
-beteiligt gewesen wären, erlaube mir nur die eine Frage dir vorzulegen,
--- ist solch eine seelische Stimmung, das heißt, Kreischen, Lachen,
-kindisches Prügeln in dem Torwege -- mit Beilen, Blut, mit
-verbrecherischer Schlauheit, Vorsicht, Raub vereinbar? Sie haben soeben
-noch vor fünf oder zehn Minuten gemordet, -- denn es muß so stimmen, die
-Körper waren ja noch warm -- und plötzlich lassen sie die Leichen liegen
-und die Wohnung offen, wobei sie wissen, daß soeben Menschen dorthin
-gegangen sind, kümmern sich nicht um die Beute und wälzen sich wie
-kleine Kinder auf dem Wege, lachen und lenken die allgemeine
-Aufmerksamkeit auf sich -- und dies alles bezeugen einstimmig zehn
-Zeugen!«
-
-»Sicher ist es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch unmöglich,
-aber ...«
-
-»Nein, Bruder, es gibt kein aber, -- sondern wenn die Ohrgehänge, die
-zur selben Stunde und am selben Tage in Nikolais Hände geraten sind,
-tatsächlich einen wichtigen ihn belastenden Beweis ausmachen, -- der
-jedoch durch seine Aussagen einfach erklärt wird, also noch ein
-_strittiger Beweis ist_, -- muß man doch auch die entlastenden Tatsachen
-in Erwägung ziehen und um so mehr, als dies _unwiderlegbare_ Tatsachen
-sind. Und glaubst du wohl, nach der Art unserer Jurisprudenz, daß sie
-dies anerkennen wird, oder daß sie fähig ist, solch eine Tatsache, --
-die ausschließlich auf rein psychologischer Unmöglichkeit, nur auf
-seelischer Stimmung allein begründet ist, -- als eine unanfechtbare und
-alle belastenden und sachlichen Momente, wie sie auch sein mögen,
-widerlegende Tatsache anzuerkennen? Nein, sie werden es nicht
-anerkennen, keineswegs, denn man hat das Kästchen gefunden, werden sie
-sagen, und der Mensch wollte sich erhängen, -- >was nicht geschehen
-könnte, wenn er sich nicht schuldig fühlte<. Das ist die Hauptfrage,
-darum ereifere ich mich auch! Verstehe es doch!«
-
-»Ja, ich sehe es auch, daß du dich ereiferst. Warte, ich vergaß dich zu
-fragen, wodurch ist es nachgewiesen, daß das Kästchen mit den
-Ohrgehängen tatsächlich von der Alten stammt?«
-
-»Das ist nachgewiesen,« antwortete Rasumichin mit gerunzelten
-Augenbrauen und anscheinend mit Unlust. »Koch hat das Ding erkannt und
-den Pfandgeber genannt, und dieser hat bewiesen, daß die Ohrgehänge ihm
-gehören.«
-
-»Das ist schlimm. Jetzt noch eins, -- hat jemand Nikolai gesehen, als
-Koch und Pestrjakoff allein hinaufgingen, und kann man es nicht
-irgendwie beweisen?«
-
-»Das ist es ja, daß niemand ihn gesehen hat,« antwortete Rasumichin
-ärgerlich, -- »das ist ja das Schlimme; sogar Koch und Pestrjakoff haben
-Nikolai und Dmitri nicht bemerkt, als sie hinaufgingen, obgleich ihr
-Zeugnis jetzt nicht viel bedeuten würde. >Wir haben gesehen,< sagen sie,
->daß die Wohnung offen war, daß man darin wahrscheinlich arbeitete, aber
-wir haben im Vorübergehen nicht darauf geachtet und erinnern uns nicht
-genau, ob in dem Momente dort Arbeiter waren oder nicht.<«
-
-»Hm. Also gibt es nur eine einzige Rechtfertigung: die, daß sie einander
-Püffe versetzt und gelacht haben. Angenommen, dies ist ein starker
-Beweis, aber ... Erlaube mal, wie erklärst du selbst den ganzen Vorgang?
-Wodurch willst du den Fund der Ohrgehänge erklären, wenn er sie
-tatsächlich so gefunden hat, wie er angibt?«
-
-»Wie ich es erkläre? Ja, was ist da zu erklären, die Sache ist klar.
-Wenigstens der Weg, den man bei dieser Sache gehen muß, ist klar und
-bewiesen, und gerade das Kästchen hat ihn gezeigt. Der wirkliche Mörder
-hat die Ohrgehänge verloren. Der Mörder war oben, als Koch und
-Pestrjakoff klopften, und saß eingeschlossen dort. Koch machte die
-Dummheit und ging nach unten, da sprang der Mörder heraus und lief
-ebenfalls nach unten, denn er hatte keinen anderen Ausweg. Auf der
-Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakoff und dem Hausknecht in
-der leeren Wohnung, und zwar in dem Augenblicke, als Dmitri und Nikolai
-herausgelaufen waren; er stand hinter der Türe, als der Hausknecht und
-die anderen nach oben gingen, wartete bis die Schritte verhallten und
-ging in aller Seelenruhe hinunter, genau im selben Augenblicke, als
-Dmitri und Nikolai auf die Straße gelaufen waren, alles fort und niemand
-im Torwege war. Vielleicht hat man ihn auch gesehen, aber nicht
-beachtet; es gehen ja nicht wenige Menschen dort aus und ein. Und das
-Kästchen ist ihm aus der Tasche gefallen, als er hinter der Tür stand,
-und er hat es nicht gemerkt, denn er mußte an anderes denken. Das
-Kästchen aber beweist klar, daß er dort gestanden hat. So ist die ganze
-Sache!«
-
-»Das ist schlau. Nein, Bruder, das ist sehr schlau. Das ist zu schlau!«
-
-»Aber warum denn, warum?«
-
-»Ja, weil alles viel zu glücklich verlief ... und sich gestaltete ...
-wie auf dem Theater.«
-
-»Ach,« rief Rasumichin und wollte fortfahren, aber in diesem Augenblicke
-öffnete sich die Tür und es trat eine neue, von keinem der Anwesenden
-gekannte Person herein.
-
-
- V.
-
-Es war ein Herr, nicht mehr jung, geziert, würdevoll, mit einem
-lauernden und verdrießlichen Gesichte; er begann damit, daß er an der
-Tür stehen blieb und sich mit unverkennbar beleidigtem Erstaunen
-umblickte, als ob er fragen würde: »wohin bin ich denn geraten?«
-Mißtrauisch, mit dem Ausdruck eines affektierten Überraschtseins, fast
-eines Schreckens, sah er sich in Raskolnikoffs enger und niedriger
-»Schiffskajüte« um. Mit gleichem Erstaunen richtete er seine Blicke auf
-Raskolnikoff selbst, der entkleidet, ungekämmt und ungewaschen auf
-seinem unansehnlichen, schmutzigen Sofa lag und ihn ebenso unverwandt
-betrachtete. Dann begann er mit gleicher Bedächtigkeit die abgerissene,
-unrasierte und ungekämmte Gestalt Rasumichins zu betrachten, der
-seinerseits ihm frech und fragend direkt in die Augen blickte, ohne sich
-von seinem Platze zu rühren. Das gespannte Schweigen dauerte etwa eine
-Minute und endlich trat, wie man es auch erwarten konnte, ein kleiner
-Stimmungswechsel ein. Nachdem der eingetretene Herr wahrscheinlich aus
-gewissen, übrigens sehr deutlichen Anzeichen entnommen hatte, daß mit
-einer herrischen Miene hier in dieser »Schiffskajüte« nichts zu wollen
-sei, wurde er etwas freundlicher und sagte höflich, obgleich nicht ohne
-eine gewisse Strenge, indem er sich an Sossimoff wandte und jede Silbe
-seiner Frage betonte: »Rodion Romanytsch Raskolnikoff, Herr Student oder
-ehemaliger Student?«
-
-Sossimoff rührte sich ein wenig und hätte auch vielleicht geantwortet,
-wenn Rasumichin, an den die Worte gar nicht gerichtet waren, ihm nicht
-zuvorgekommen wäre.
-
-»Da liegt er auf dem Sofa! Und was wollen Sie?« Dieses familiäre »Und
-was wollen Sie?« traf den gezierten Herrn wie ein Hieb, und fast hätte
-er sich zu Rasumichin umgewandt, aber er hielt sich noch rechtzeitig
-zurück und wandte sich schnell wieder an Sossimoff.
-
-»Da ist Raskolnikoff!« brummte Sossimoff und wies auf den Kranken hin,
-dann gähnte er, wobei er ungewöhnlich weit seinen Mund aufsperrte und
-ihn ungewöhnlich lange in dieser Lage behielt. Dann bewegte er die Hand
-langsam zu der Westentasche, zog eine riesige, dicke, goldene Uhr
-hervor, öffnete den Deckel, sah nach und steckte sie ebenso langsam und
-träge wieder ein.
-
-Raskolnikoff selbst lag die ganze Zeit schweigend auf dem Rücken und
-blickte unverwandt, scheinbar gedankenlos, den Eingetretenen an. Sein
-Gesicht, das er jetzt von der interessanten Blume in der Tapete
-abgewandt hatte, war außerordentlich bleich und drückte ein
-ungewöhnliches Leiden aus, als hätte er soeben eine qualvolle Operation
-durchgemacht, oder als hätte er eine Tortur hinter sich. Der
-eingetretene Herr aber begann allmählich seine Aufmerksamkeit mehr und
-mehr zu erregen, es tauchten in ihm Zweifel, Mißtrauen und sogar
-anscheinend Furcht auf. Als aber Sossimoff auf ihn hinwies und »da ist
-Raskolnikoff« sagte, erhob er sich schnell, wie auffahrend, setzte sich
-auf sein Bett und sagte mit fast herausfordernder, aber schwankender und
-schwacher Stimme:
-
-»Ja. Ich bin Raskolnikoff! Was wollen Sie?«
-
-Der Besucher blickte ihn aufmerksam an und sagte mit Betonung:
-
-»Peter Petrowitsch Luschin. Ich habe die sichere Hoffnung, daß mein Name
-Ihnen nicht ganz unbekannt sei.«
-
-Raskolnikoff aber, der etwas ganz anderes erwartet hatte, blickte ihn
-stumpf und nachdenklich an und antwortete nichts, als ob er Peter
-Petrowitschs Namen entschieden zum erstenmal höre.
-
-»Wie? Haben Sie bis jetzt noch keine Nachrichten über mich erhalten?«
-fragte Peter Petrowitsch mit einer Bewegung unangenehmer Überraschung.
-
-Anstatt zu antworten, ließ sich Raskolnikoff langsam auf das Kissen
-nieder, steckte die Hände unter den Kopf und begann die Zimmerdecke zu
-betrachten. Eine bedrückte Stimmung zeigte auf Luschins Gesicht starke
-Betroffenheit. Sossimoff und Rasumichin fingen an, ihn mit noch größerer
-Neugierde anzusehen, und er wurde sichtlich verlegen.
-
-»Ich nahm an und rechnete bestimmt darauf,« murmelte er, »daß der Brief,
-der schon vor mehr als zehn Tagen, vielleicht sogar vor vierzehn Tagen
-abgesandt ist ...«
-
-»Hören Sie mal, was sollen Sie denn die ganze Zeit an der Türe stehen?«
-unterbrach ihn Rasumichin, »wenn Sie etwas mitzuteilen haben, setzen Sie
-sich doch, für Sie und Nastasja ist es dort zu eng. Nastasja, mach mal
-Platz, laß ihn durchgehen! Kommen Sie hierher, da haben Sie einen Stuhl!
-Kriechen Sie hier durch!«
-
-Er rückte seinen Stuhl von dem Tische ab, machte zwischen dem Tisch und
-seinen Knien einen Durchgang frei und wartete in dieser unbequemen
-Stellung, bis der Gast durch diesen Spalt »hindurchkriechen« würde. Der
-Moment war so gewählt, daß man nicht gut ablehnen konnte, und der
-Besucher kroch durch den engen Durchgang, sich beeilend und stolpernd,
-hindurch. Als er den Stuhl erreicht hatte, setzte er sich und blickte
-Rasumichin argwöhnisch an.
-
-»Seien Sie übrigens nicht verlegen,« platzte dieser hervor. »Rodja ist
-schon den fünften Tag krank und hat drei Tage phantasiert, jetzt aber
-ist er zu sich gekommen und hat sogar mit Appetit gegessen. Dort sitzt
-sein Arzt, er hat ihn soeben untersucht, und ich bin Rodjas Kamerad,
-auch ein ehemaliger Student, und pflege ihn nun; also, achten Sie nicht
-auf uns und genieren Sie sich nicht, fahren Sie nur fort und sagen Sie,
-was Sie zu sagen haben.«
-
-»Ich danke Ihnen. Werde ich aber nicht durch meine Anwesenheit und mit
-meinem Gespräch den Kranken aufregen?« wandte sich Peter Petrowitsch an
-Sossimoff.
-
-»N--nein,« sagte Sossimoff langsam, »Sie können ihn vielleicht
-zerstreuen.«
-
-Und er gähnte wieder.
-
-»Oh, er ist schon lange bei Besinnung, seit heute morgen!« fuhr
-Rasumichin fort, dessen Familiarität den Stempel solch einer
-unverfälschten Treuherzigkeit trug, daß Peter Petrowitsch allmählich
-seine Fassung wiedergewann, zum Teil wohl auch darum, weil dieser
-zerlumpte und freche Mensch sich als Student vorgestellt hatte.
-
-»Ihre Frau Mutter ...« begann Luschin.
-
-»Hm!« äußerte sich Rasumichin vernehmlich.
-
-Luschin blickte ihn fragend an.
-
-»Das hat nichts zu sagen, ich tat es nur so; fahren Sie fort ...«
-
-Luschin zuckte die Achseln.
-
-»... Ihre Frau Mutter begann noch während meiner Anwesenheit dort einen
-Brief an Sie. Nachdem ich hier eingetroffen war, ließ ich absichtlich
-einige Tage vergehen und kam nicht gleich zu Ihnen, um ganz gewiß zu
-sein, daß Sie von allem unterrichtet sind, jetzt aber zu meinem
-Erstaunen ...«
-
-»Ich weiß, ich weiß!« sagte plötzlich Raskolnikoff mit dem Ausdrucke des
-ungeduldigsten Ärgers. »Sie sind es? Der Bräutigam? Nun, ich weiß ...
-und genug!«
-
-Peter Petrowitsch fühlte sich entschieden beleidigt, aber er schwieg. Er
-dachte eifrig nach, was dieses alles zu bedeuten habe. Es herrschte ein
-minutenlanges Schweigen.
-
-Indessen begann Raskolnikoff, der sich bei seiner Antwort nur ein wenig
-ihm zugekehrt hatte, ihn von neuem aufmerksam und mit einer gewissen
-Neugier anzusehen, als hätte er vorhin nicht Zeit gefunden, ihn ganz zu
-betrachten oder als wäre ihm etwas Neues an ihm aufgefallen; er erhob
-sich zu dem Zwecke sogar absichtlich von dem Kissen. In dem ganzen
-Aussehen von Peter Petrowitsch lag wirklich etwas Besonderes, und zwar
-etwas, das die Bezeichnung »Bräutigam,« die ihm soeben so ungeniert
-zugeteilt wurde, zu rechtfertigen schien. Man konnte sehen, und zwar
-ziemlich deutlich, daß Peter Petrowitsch sich sehr beeilt hatte, die
-paar Tage seines Aufenthaltes in der Residenz auszunutzen, um sich in
-Erwartung der Braut neu auszustaffieren und zu verschönern, was gewiß
-sehr unschuldig und statthaft war. Sogar die eigentümliche, vielleicht
-ein wenig zu ausgeprägte Selbstzufriedenheit über seine angenehme
-Veränderung konnte in diesem Falle verzeihlich erscheinen, denn Peter
-Petrowitsch war ja in dem Stande eines Bräutigams. Seine ganze Kleidung
-war soeben vom Schneider gekommen und alles war gut, nur daß eben alles
-zu neu war und zu sehr den bestimmten Zweck verriet. Auch der elegante,
-nagelneue, runde Hut deutete auf diesen Zweck hin, -- Peter Petrowitsch
-behandelte ihn zu ehrerbietig und hielt ihn mit zu großer Vorsicht in
-Händen. Auch das reizende Paar Handschuhe von heller lila Farbe bezeugte
-das, wenn auch nur damit, daß man sie nicht anzog, sondern in der Hand
-hielt. Helle und jugendliche Farben herrschten in Peter Petrowitschs
-Kleidung vor. Er hatte ein sehr hübsches Sommerjackett von hellbrauner
-Farbe an, helle leichte Beinkleider, ebensolch eine Weste, neugekaufte
-feine Wäsche, eine leichte Krawatte aus Batist mit rosa Streifen, und
-das allerbeste war dabei, daß alles Peter Petrowitsch sehr gut kleidete.
-Sein Gesicht, sehr frisch und sogar hübsch, schien auch ohnedem jünger
-als fünfundvierzig Jahre. Ein dunkler Backenbart umrahmte es zu beiden
-Seiten und verdichtete sich ziemlich hübsch um das glänzende, vorzüglich
-rasierte Kinn. Auch die Haare, übrigens nur stellenweise und kaum
-bemerkbar grau, waren von einem Friseur gekämmt und gekräuselt,
-erhielten aber dadurch nichts Lächerliches oder gaben ein dummes
-Aussehen, was gewöhnlich bei gekräuselten Haaren der Fall ist, weil es
-dem Gesichte eine unvermeidliche Ähnlichkeit mit einem Deutschen, der
-zum Altar schreitet, verleiht. Wenn in diesem ziemlich hübschen und
-soliden Gesichte etwas tatsächlich Unangenehmes und Abstoßendes war, so
-hatte dies einen anderen Grund. Nachdem Raskolnikoff Herrn Luschin
-ungeniert betrachtet hatte, lächelte er sarkastisch, ließ sich wieder
-auf das Kissen nieder und begann, wie früher, die Zimmerdecke anzusehen.
-
-Herr Luschin aber nahm sich zusammen und schien entschlossen zu sein,
-diese Sonderbarkeiten vorläufig nicht zu beachten.
-
-»Ich bedauere sehr, sehr, Sie in solch einer Lage zu finden,« begann er
-von neuem, mit Mühe das Schweigen brechend. »Wenn ich von Ihrem
-Unwohlsein gewußt hätte, wäre ich früher gekommen. Aber, wissen Sie, die
-Plackereien ... Ich habe außerdem eine sehr wichtige Angelegenheit im
-Senat, in meiner Eigenschaft als Advokat. Ich erwähne nicht die Sorgen,
-die auch Sie erraten können. Die Ihrigen, das heißt Ihre Frau Mutter und
-Schwester, erwarte ich stündlich ...«
-
-Raskolnikoff machte eine Bewegung und wollte etwas sagen; sein Gesicht
-drückte eine gewisse Erregung aus. Peter Petrowitsch hielt in Erwartung
-inne, aber da nichts erfolgte, fuhr er fort: »... Stündlich. Ich habe
-ihnen fürs erste eine Wohnung gesucht ...«
-
-»Wo?« fragte leise Raskolnikoff.
-
-»Gar nicht weit von hier, im Hause von Bakalejeff.«
-
-»Das ist auf dem Wosnesensky-Prospekt,« unterbrach ihn Rasumichin, »dort
-sind zwei Stockwerke, als möblierte Zimmer eingerichtet; der Kaufmann
-Juschin ist Inhaber; ich bin dort gewesen.«
-
-»Ja, es sind möblierte Zimmer ...«
-
-»Es ist fürchterlich dort; Schmutz, Gestank und ein verdächtiger Ort
-auch; mancherlei ist da vorgefallen. Ja, und weiß der Teufel, was da
-nicht alles wohnt! ... Ich selbst bin dort aus einem skandalösen Grunde
-gewesen. Übrigens ist es billig.«
-
-»Ich konnte selbstverständlich nicht soviel erfahren, da ich selbst vor
-kurzem angekommen bin,« antwortete Peter Petrowitsch empfindlich, »es
-sind übrigens zwei sehr, sehr saubere kleine Zimmer, und da es auf eine
-sehr kurze Zeit nur ist ... Ich habe schon eine wirkliche, das heißt
-unsere künftige Wohnung gefunden,« wandte er sich an Raskolnikoff, »und
-jetzt wird sie instand gesetzt; unterdessen aber behelfe ich mich auch
-selbst mit einem möblierten Zimmer, zwei Schritte von hier, bei Frau
-Lippewechsel, in der Wohnung eines jungen Freundes von mir, Andrei
-Ssemenytsch Lebesjätnikoff; er hat auch mir das Haus von Bakalejeff
-empfohlen ...«
-
-»Lebesjätnikoff?« sagte langsam Raskolnikoff, als ob er sich auf etwas
-besinne.
-
-»Ja, Andrei Ssemenytsch Lebesjätnikoff, er ist im Ministerium
-angestellt. Kennen Sie ihn?«
-
-»Ja ... nein ...« antwortete Raskolnikoff.
-
-»Entschuldigen Sie, mir scheint es so nach Ihrer Frage. Ich war einmal
-sein Vormund ... ein sehr lieber junger Mann ... und mit Interessen ...
-Und ich bin froh, mit der Jugend zusammenzukommen; durch sie erfährt man
-alles Neue ...«
-
-Peter Petrowitsch blickte erwartungsvoll alle Anwesenden an.
-
-»Wie meinen Sie das?« fragte Rasumichin.
-
-»Nun, im besten Sinne des Wortes,« sagte Peter Petrowitsch, als wäre er
-über die Frage erfreut. »Ich war, sehen Sie, seit zehn Jahren nicht mehr
-in Petersburg. Alle unsere Neuerungen, Reformen und Ideen, dies alles
-hat auch uns in der Provinz erreicht, aber um klarer zu sehen und um
-alles zu sehen, muß man in Petersburg sein. Nun, und meine Meinung ist,
-daß man am meisten bemerkt und erfährt, indem man unsere jüngere
-Generation beobachtet. Und offen gestanden, ich bin erfreut ...«
-
-»Worüber denn?«
-
-»Ihre Frage ist zu umfassend. Ich kann mich irren, aber es scheint mir,
-ich finde einen klareren Blick, sozusagen mehr Kritik, mehr Tüchtigkeit
-...«
-
-»Das ist wahr,« sagte gelassen Sossimoff.
-
-»Du lügst, Tüchtigkeit ist nicht da,« mischte sich Rasumichin ein.
-»Tüchtigkeit erwirbt sich schwer und fällt nicht umsonst vom Himmel. Wir
-sind aber fast seit zweihundert Jahren von jeder Arbeit entwöhnt ... Ich
-gebe zu, Ideen hat man,« wandte er sich an Peter Petrowitsch, »auch
-Wünsche für das Gute sind da, wenn auch kindische, auch Ehrlichkeit
-findet man vor, ungeachtet dessen, daß hierher unzählige Gauner gekommen
-sind, aber Tüchtigkeit gibt es doch nicht! Nur in Ausnahmefällen.«
-
-»Ich bin mit Ihnen nicht einverstanden,« erwiderte mit sichtbarem
-Behagen Peter Petrowitsch, »sicher gibt es Übertreibung,
-Unregelmäßigkeiten, aber man muß auch nachsichtig sein; Übertreibung
-zeugt von Eifer für die Sache und von der unrichtigen äußeren Umgebung,
-in der die Sache sich befindet. Wenn noch wenig getan ist, so war auch
-die Zeit zu kurz. Von den Mitteln rede ich gar nicht. Meiner
-persönlichen Auffassung nach ist sogar, wenn Sie wollen, etwas getan, --
-es sind neue nützliche Gedanken, einige neue nützliche Werke, an Stelle
-der früheren schwärmerischen und romantischen, verbreitet; die Literatur
-zeigt ein reiferes Gepräge; viele schädliche Vorurteile sind ausgerottet
-und werden verspottet ... Mit einem Worte, wir haben uns unwiderruflich
-von der Vergangenheit losgesagt, und das ist meiner Meinung nach schon
-eine Tat ...«
-
-»Hat er das auswendig gelernt! Empfiehlt sich damit!« sagte plötzlich
-Raskolnikoff.
-
-»Was?« fragte Peter Petrowitsch, da er nicht recht gehört hatte, aber er
-erhielt keine Antwort.
-
-»Das ist alles wahr,« beeilte sich Sossimoff zu bemerken.
-
-»Ja, nicht wahr?« fuhr Peter Petrowitsch fort und blickte Sossimoff
-freundlich an. »Geben Sie selbst zu,« wandte er sich an Rasumichin,
-jetzt aber im Tone des Triumphes und der Überlegenheit, und beinahe
-hätte er »junger Mann« hinzugefügt, »daß es einen Fortschritt oder, wie
-man sich jetzt ausdrückt, einen Prozeß gibt, wenigstens in der
-Wissenschaft und in den wirtschaftlichen Gesetzen ...«
-
-»Das ist ein Gemeinplatz!«
-
-»Nein, es ist kein Gemeinplatz! Wenn man mir zum Beispiel bis jetzt
-sagte: >Liebe deinen Nächsten<, und ich tat es, -- was kam dabei
-heraus?« fuhr Peter Petrowitsch fort, vielleicht mit zu großem Eifer.
-»Es kam das heraus, daß ich meinen Rock in zwei Hälften zerriß, ihn mit
-dem Nächsten teilte, und wir beide blieben halbnackt, wie nach dem
-russischen Sprichworte: >Wer ein paar Hasen gleichzeitig nachjagt, fängt
-keinen einzigen.< Die Wissenschaft aber sagt: >Liebe vor allem zuerst
-dich selbst, denn alles in der Welt ist auf persönlichem Interesse
-begründet.< Wenn man sich selbst liebt, wird man seine Angelegenheiten,
-wie es sich gehört, in Ordnung bringen, und der Rock bleibt einem ganz
-und heil. Die wirtschaftlichen Gesetze fügen noch hinzu, daß, je mehr es
-in der Gesellschaft geordnete Privatangelegenheiten und sozusagen ganze
-und heile Röcke gibt, daß sie um so mehr Grundlagen hat, und daß um so
-mehr das Allgemeinwohl gefördert wird. Also, indem ich allein und
-ausschließlich für mich selbst erwerbe, erwerbe ich dadurch auch für
-alle und trage dazu bei, daß mein Nächster etwas mehr als einen
-zerrissenen Rock erhält, und nicht mehr als Wohltat von einzelnen
-Privatpersonen, sondern infolge des allgemeinen Fortschritts. Der
-Gedanke ist einfach, aber zum Unglück tauchte er zu spät auf, verdeckt
-durch Überschwänglichkeit und Schwärmerei, und es möchte scheinen, daß
-man nicht viel Witz braucht, um darauf zu kommen ...«
-
-»Entschuldigen Sie, ich habe auch nicht viel Witz,« unterbrach ihn
-Rasumichin schroff, »hören wir besser auf. Ich habe nur aus einem
-bestimmten Zweck begonnen, sonst ist mir dies ganze Geschwätz, dieses
-Sichselbst-Trösten, diese endlosen unaufhörlichen Gemeinplätze und dies
-ewige Einerlei in drei Jahren so zuwider geworden, daß ich bei Gott
-erröte, wenn auch andere, nicht ich bloß, in meiner Gegenwart davon
-sprechen. Sie haben sich selbstverständlich beeilt, sich mit Ihren
-Kenntnissen einzuführen, das ist sehr verzeihlich, und ich verurteile
-Sie nicht. Ich aber wollte bloß erfahren, wer Sie sind; denn sehen Sie,
-in der letzten Zeit haben sich so viel und allerhand Industrieritter an
-der allgemeinen Sache angeklebt und haben alles, womit sie in Berührung
-kamen, so zu ihrem Vorteil zugerichtet, daß sie entschieden die ganze
-Sache beschmutzt haben. -- Nun genug davon!«
-
-»Mein Herr,« begann Luschin, sich mit der größten Würde aufrichtend,
-»wollen Sie etwa damit ausdrücken, daß auch ich ...«
-
-»Oh, bitte, bitte ... Könnte ich es denn! ... Nun genug!« schnitt
-Rasumichin ab und wandte sich unmittelbar an Sossimoff, um das frühere
-Gespräch fortzusetzen.
-
-Peter Petrowitsch zeigte sich so klug, sofort der Erklärung zu glauben,
-beschloß aber, nach ein paar Minuten wegzugehen.
-
-»Ich hoffe, daß unsere jetzt geschlossene Bekanntschaft,« wandte er sich
-an Raskolnikoff, »nach Ihrer Genesung und infolge der Ihnen bekannten
-Umstände sich noch mehr befestigen wird ... Besonders wünsche ich Ihnen
-gute Besserung ...«
-
-Raskolnikoff wandte nicht mal den Kopf um. Peter Petrowitsch schickte
-sich an, aufzustehen.
-
-»Der Mörder war sicher ein Pfandgeber!« Sossimoff stimmte zu.
-
-»Unbedingt ein Pfandgeber!« wiederholte Rasumichin. »Porphyri verrät
-seine Gedanken nicht, aber er verhört doch die Pfandgeber ...«
-
-»Verhört die Pfandgeber?« fragte Raskolnikoff laut.
-
-»Ja, was ist denn?«
-
-»Nichts.«
-
-»Wo findet er sie denn?« fragte Sossimoff.
-
-»Einige hat Koch genannt; von anderen waren die Namen auf den Umschlägen
-der Sachen notiert, und manche kamen von selbst, als sie hörten ...«
-
-»Na, das muß doch eine gewandte und erfahrene Kanaille sein! Welche
-Kühnheit! Welche Entschlossenheit!«
-
-»Das ist es ja, daß dies nicht der Fall ist!« unterbrach Rasumichin.
-»Das bringt auch alle von der Spur ab. Ich aber sage -- er war ungewandt
-und unerfahren und sicher war es das erstemal. -- Nimm Berechnung und
-eine gewandte Kanaille an, und es erscheint unglaublich. Nimm aber einen
-Unerfahrenen an, und es zeigt sich, daß nur der Zufall ihn unterstützt
-und gerettet hat, und was tut nicht der Zufall? Ich bitte dich, er hat
-vielleicht nicht einmal Hindernisse vorausgesehen! Und wie führt er die
-Tat aus? -- Er nimmt Sachen im Werte von zehn und zwanzig Rubel, stopft
-sich damit die Taschen voll, wühlt in dem Kasten, in allerhand
-Weiberlumpen, -- und in der Kommode, in der oberen Schublade findet man
-nachher in einer Schatulle an barem Gelde gegen anderthalb tausend,
-außer den Wertpapieren. Er hat nicht mal verstanden zu rauben, er hat
-bloß verstanden zu morden! Ich sage dir, es ist sein erster Fall, sein
-allererster; er hat seine Fassung verloren. Und nicht durch Berechnung,
-sondern durch Zufall ist er entkommen.«
-
-»Mir scheint, Sie sprechen von der kürzlichen Ermordung der alten
-Beamtenwitwe,« mischte sich Peter Petrowitsch ein, sich an Sossimoff
-wendend. Er stand schon mit dem Hute und Handschuhen in der Hand, aber
-vor dem Fortgehen wollte er noch einige geistreiche Worte fallen lassen.
-Er mühte sich sichtlich, einen guten Eindruck zu hinterlassen und die
-Eitelkeit überwand die Vernunft.
-
-»Ja. Haben Sie davon gehört?«
-
-»Selbstverständlich, es ist ja in der Nachbarschaft ...«
-
-»Kennen Sie die Einzelheiten?«
-
-»Das kann ich nicht behaupten. Mich aber interessiert dabei ein anderer
-Umstand, sozusagen die ganze Frage. Ich spreche nicht davon, daß in den
-letzten fünf Jahren die Verbrechen in der unteren Klasse sich vermehrt
-haben; ich spreche nicht von den ununterbrochenen Raubanfällen und
-Feuersbrünsten, die überall nun vorkommen; am auffallendsten aber
-erscheint mir, daß die Verbrechen auch in den höheren Klassen sich
-ebenso vermehren und sozusagen in paralleler Weise. Dort, hört man, hat
-ein ehemaliger Student auf offener Straße die Post beraubt; dort wieder
-fabrizieren Menschen, die nach ihrer gesellschaftlichen Stellung zu den
-ersten gehören, falsches Papiergeld; in Moskau ertappt man eine ganze
-Gesellschaft beim Fälschen von Scheinen der letzten Prämienanleihe, --
-und einer der Hauptbeteiligten ist ein Professor der Weltgeschichte;
-dort, im Auslande ermordet man einen von unsern Botschaftssekretären aus
-rätselhaften Gründen ... Und wenn jetzt diese alte Pfandleiherin von
-jemand aus der besseren Gesellschaft getötet ist, -- denn einfache Leute
-versetzen keine Goldsachen, -- wie kann man denn diese Verdorbenheit des
-gebildeten Teiles unserer Gesellschaft erklären?«
-
-»Es gibt viele ökonomische Verschiebungen,« bemerkte Sossimoff.
-
-»Wie erklären?« unterbrach ihn Rasumichin.
-
-»Gerade durch die uns anhaftende Untüchtigkeit kann man es erklären.«
-
-»Wieso denn?«
-
-»Was antwortete Ihr Professor in Moskau auf die Frage, warum er die
-Scheine gefälscht habe? Alle werden durch allerhand Mittel reich, da
-wollte ich auch schnell reich werden -- das war seine Antwort. Des
-Wortlautes entsinne ich mich nicht genau; aber der Sinn war, daß er auf
-fremde Kosten schnell, ohne zu arbeiten, reich werden wollte. Wir sind
-gewohnt, Hilfe zu erhalten, am Gängelbande zu gehen, Vorgekautes zu
-essen ... Nun, und schlägt die große Stunde, da zeigt sich jeder in
-seiner wahren Gestalt ...«
-
-»Aber es gibt doch Moral. Und sozusagen Begriffe ...«
-
-»Ja, was ereifern Sie sich denn?« mischte sich Raskolnikoff plötzlich
-ins Gespräch. »Es ist doch nach Ihrer Theorie!«
-
-»Wieso nach meiner Theorie?«
-
-»Ziehen Sie doch die Konsequenzen dessen, was Sie vorhin predigten, und
-es ergibt sich, daß man Menschen umbringen darf ...«
-
-»Aber ich bitte!« rief Luschin aus.
-
-»Nein, so ist das nicht!« bemerkt Sossimoff.
-
-Raskolnikoff lag bleich mit zuckender Lippe da und atmete schwer.
-
-»Alles hat seine Grenzen,« fuhr Luschin hochmütig fort, »eine
-ökonomische Idee ist noch keine Aufforderung zum Mord, und wenn man nur
-annimmt ...«
-
-»Ist es wahr, daß Sie,« unterbrach ihn von neuem Raskolnikoff mit vor
-Wut zitternder Stimme, aus der man die Freude zu beleidigen heraus
-merkte, »ist es wahr, daß Sie Ihrer Braut ... in derselben Stunde, als
-Sie ihr Jawort erhielten, gesagt haben, daß Sie sich am meisten darüber
-freuten ... daß sie eine Bettlerin sei ... weil es vorteilhafter sei,
-eine bettelarme Frau zu nehmen, um über sie später herrschen ... und ihr
-vorhalten zu können, daß Sie ihr Wohltäter seien? ...«
-
-»Mein Herr!« rief Luschin betroffen und gereizt aus und wurde rot und
-verwirrt. »Mein Herr ... so meine Worte zu entstellen ... Entschuldigen
-Sie, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die zu Ihnen gedrungen
-sind, oder besser gesagt, die Ihnen zugetragen sind, auch nicht den
-Schatten eines vernünftigen Grundes haben, und ich ... vermute, wer ...
-mit einem Worte ... dieser ... Pfeil ... mit einem Worte, Ihre Frau
-Mutter ... Sie erschien mir auch ohnedem, bei allen ihren übrigens
-ausgezeichneten Eigenschaften, in ihrer Auffassung ein wenig
-schwärmerisch und romantisch angehaucht ... Aber ich war doch tausend
-Meilen entfernt von der Voraussetzung, daß sie die Sache in solch einer
-von der Phantasie verunstalteten Weise auffassen und auslegen würde ...
-Und schließlich ... schließlich ...«
-
-»Wissen Sie was?« rief Raskolnikoff aus, erhob sich auf dem Kissen und
-sah ihn mit durchdringendem, scharfem Blicke an. »Wissen Sie was?«
-
-»Was denn?« Luschin hielt inne und wartete mit gekränkter und
-herausfordernder Miene.
-
-Das Schweigen dauerte einige Sekunden.
-
-»Daß, wenn Sie noch einmal ... wagen, nur ein Wort ... von meiner Mutter
-zu erwähnen, ich Sie die Treppe hinunterwerfe!«
-
-»Was ist dir?« rief Rasumichin aus.
-
-»Ah, so ist die Sache!« Luschin erbleichte und biß sich auf die Lippen.
-»Hören Sie, Herr,« begann er stockend und mit aller Kraft an sich
-haltend, aber dennoch atemlos, »ich habe schon vorhin beim ersten
-Schritt Ihre Feindseligkeit erraten, aber ich blieb absichtlich hier, um
-noch mehr zu erfahren. Vieles konnte ich einem Kranken und Verwandten
-zugute halten, jetzt aber ... Ihnen ... niemals ...«
-
-»Ich bin nicht krank!« rief Raskolnikoff aus.
-
-»Um so schlimmer ...«
-
-»Scheren Sie sich zum Teufel!«
-
-Luschin ging schon von selbst, ohne seine Rede zu vollenden, indem er
-wieder zwischen dem Tisch und Stuhl hindurchkroch; Rasumichin stand
-diesmal auf, um ihn durchzulassen. Ohne jemand anzusehen und ohne sogar
-Sossimoff mit einem Kopfnicken zu grüßen, der ihm längst schon Zeichen
-gegeben hatte, den Kranken in Ruhe zu lassen, ging Luschin hinaus, und
-als er durch die Tür gebückt hindurchging, hielt er vorsichtshalber
-seinen Hut in Schulterhöhe. Sogar die Krümmung seines Rückens schien
-ausdrücken zu wollen, daß er sich furchtbar beleidigt fühle.
-
-»Aber wie kann man denn, wie kann man denn so ...« sagte der verblüffte
-Rasumichin und schüttelte den Kopf.
-
-»Laßt mich, laßt mich alle in Ruhe!« rief Raskolnikoff rasend. »Ja,
-wollt ihr endlich mich in Ruhe lassen, ihr Quälgeister! Ich fürchte euch
-nicht! Ich fürchte jetzt niemand, niemand! Geht fort! Ich will allein
-sein, allein, allein sein!«
-
-»Gehen wir!« sagte Sossimoff und winkte Rasumichin.
-
-»Erlaube, kann man ihn denn so lassen?«
-
-»Gehen wir,« bestand Sossimoff und ging hinaus.
-
-Rasumichin sann nach und lief dann hinaus, ihn einzuholen.
-
-»Es könnte schlimmer werden, wenn wir nicht gehorcht hätten,« sagte
-Sossimoff, schon auf der Treppe. »Man darf ihn nicht reizen ...«
-
-»Was ist mit ihm?«
-
-»Wenn ihm bloß etwas Glückliches widerfahren wollte, das wäre gut.
-Vorhin war er bei Kräften ... Weißt du, er hat etwas auf dem Herzen.
-Etwas Starkes, Bedrückendes ... Das fürchte ich sehr!«
-
-»Ja, vielleicht ist es dieser Herr Peter Petrowitsch! Aus dem Gespräche
-konnte man entnehmen, daß er seine Schwester heiraten will, und daß
-Rodja darüber kurz vor der Krankheit einen Brief erhalten hat ...«
-
-»Ja; der Teufel hat ihn jetzt hergeführt; vielleicht hat er die ganze
-Sache verdorben. Hast du aber gemerkt, daß er gegen alles gleichgültig
-ist, über alles schweigt, außer den einen Punkt, wo er aus sich
-herausgeht -- den Mord ...«
-
-»Ja, ja!« bestätigte Rasumichin. »Ich habe es sehr gut gemerkt. Er
-interessiert sich dafür, gerät in Aufregung. Man hat ihn am Tage, als er
-krank wurde, in dem Polizeibureau damit erschreckt; er fiel in
-Ohnmacht.«
-
-»Erzähle mir darüber genauer heute abend, ich will dir auch später etwas
-sagen. Er interessiert mich sehr! Nach einer halben Stunde will ich ihn
-aufsuchen ... Ein Fieber wird übrigens nicht folgen.«
-
-»Ich danke dir. Ich will unterdessen bei der lieben Praskovja warten und
-will durch Nastasja ihn beobachten lassen ...«
-
-Raskolnikoff blickte voll Ungeduld und traurig Nastasja an; sie aber
-zögerte wegzugehen.
-
-»Willst du jetzt Tee trinken?« fragte sie ihn.
-
-»Nachher! Ich will schlafen! Laß mich ...« Er wandte sich krampfhaft der
-Wand zu. Nastasja ging hinaus.
-
-
- VI.
-
-Kaum aber war sie hinausgegangen, als er aufstand, die Tür zuhakte, das
-Bündel mit Kleidern, das Rasumichin vorhin gebracht und wieder
-zugebunden hatte, aufmachte und sich anzukleiden begann. Merkwürdig,
-plötzlich schien er völlig ruhig geworden zu sein, weder das
-halbwahnsinnige Phantasieren, wie vorhin, noch die panische Angst, wie
-in der ganzen letzten Zeit, waren vorhanden. Es war der erste Augenblick
-einer seltsamen Ruhe. Seine Bewegungen waren bestimmt und klar, eine
-feste Absicht lag in ihnen. »Heute noch, heute noch! ...« murmelte er
-vor sich hin. Er begriff jedoch, daß er noch schwach sei, aber eine
-starke, seelische Spannung, die sich bis zur Ruhe, bis zu einer
-unerschütterlichen Idee gesteigert hatte, verlieh ihm Kraft und
-Selbstbewußtsein; er hoffte auch, daß er auf der Straße nicht hinstürzen
-würde. Nachdem er sich neu angezogen hatte, erblickte er das Geld, das
-auf dem Tische lag, dachte nach und steckte es in die Tasche. Es waren
-fünfundzwanzig Rubel. Er nahm auch das Kupfergeld, den Rest von den zehn
-Rubeln, die Rasumichin für die Kleidung ausgegeben hatte. Dann hob er
-leise den Haken ab, ging aus dem Zimmer, stieg die Treppe hinab und warf
-einen Blick in die weit geöffnete Küche! Nastasja stand mit dem Rücken
-gegen ihn und blies gebückt in den Samowar. Sie hatte nichts gehört. Wer
-konnte auch voraussetzen, daß er fortgehen würde? Nach einer Minute war
-er schon auf der Straße.
-
-Es war gegen acht Uhr, die Sonne ging unter. Es herrschte die frühere
-Schwüle, aber er atmete gierig diese stinkende, staubige, durch die
-Stadt verpestete Luft ein. Der Kopf begann ihm ein wenig zu schwindeln;
-eine wilde Energie blitzte in seinen entzündeten Augen und in seinem
-abgemagerten, bleichen, gelben Gesichte auf. Er wußte nicht und dachte
-auch nicht nach, wohin er wollte; er wußte bloß eins, »daß man _alles_
-heute noch, mit einem Schlage, sofort beenden müsse, daß er anders nicht
-nach Hause zurückkehren würde, weil er nicht so weiterleben wolle. Wie
-enden? Wodurch? Davon hatte er keinen Begriff und wollte auch daran
-nicht denken. Er verscheuchte den Gedanken, der ihn quälte. Bloß eins
-fühlte und wußte er, daß alles sich ändern müsse, so oder so; einerlei
-wie,« wiederholte er mit einer verzweifelten, starren Entschlossenheit
-und Festigkeit.
-
-Nach seiner Gewohnheit ging er wieder dem Heumarkt zu. Kurz vor dem
-Heumarkte stand auf der Straße vor einem kleinen Laden ein junger
-schwarzhaariger Mann mit einem Leierkasten und spielte ein rührseliges
-Stück. Er begleitete ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vor ihm auf dem
-Fußsteig stand und wie eine Dame mit Krinoline, Mantille, Handschuhen
-und einem Strohhut mit einer Feder von flammendem Rot bekleidet war;
-alles war alt und abgetragen. Sie sang in Erwartung einer
-Zweikopekenmünze eine Romanze mit zitternder, aber nicht unangenehmer
-und kräftiger Straßenstimme. Raskolnikoff blieb neben ein paar anderen
-Zuhörern stehen, hörte zu, nahm ein Fünfkopekenstück und legte es in die
-Hand des jungen Mädchens. Sie brach bei der höchsten und rührseligsten
-Note ab, rief dem Leiermann scharf »Schluß!« zu, und beide wanderten
-weiter zu dem nächsten Laden.
-
-»Haben Sie Straßengesang gern?« wandte sich plötzlich Raskolnikoff an
-einen nicht mehr jungen Mann, der neben ihm stand und das Aussehen eines
-Bummlers hatte. Dieser blickte ihn erschrocken und verwundert an.
-
-»Ich habe es gern,« fuhr Raskolnikoff fort, und mit einem Ausdrucke, als
-rede er gar nicht über Straßengesang. »Ich liebe es, wenn nach einer
-Leierkastenmelodie gesungen wird an einem kalten, dunklen und feuchten
-Herbstabend, unbedingt an einem feuchten, wenn alle Vorübergehenden
-blaßgrüne und kranke Gesichter haben, oder noch besser, wenn ein nasser
-Schnee kerzengerade, ohne Wind, niederfällt, wissen Sie, und die
-Gasflammen hindurchschimmern ...«
-
-»Ich weiß nicht ... Entschuldigen Sie ...« murmelte der Herr, betroffen
-über die Worte und das sonderbare Aussehen Raskolnikoffs, und ging auf
-die andere Seite der Straße hinüber.
-
-Raskolnikoff schritt weiter und kam zu der Ecke auf dem Heumarkte, wo
-der Kleinbürger und seine Frau, die sich damals mit Lisaweta
-unterhielten, ihren Handel trieben, aber sie waren jetzt nicht da. Als
-er die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, sah sich um und wandte
-sich an einen jungen Burschen im roten Hemde, der am Eingange eines
-Mehlladens gähnte.
-
-»Hier an der Ecke handelt doch ein Kleinbürger und seine Frau, nicht
-wahr?«
-
-»Es handeln hier viele Leute,« antwortete der Bursche und blickte
-Raskolnikoff von oben herab an.
-
-»Wie heißt er?«
-
-»Wie man ihn getauft hat, so heißt er auch.«
-
-»Bist du nicht aus dem Rjasanschen Gouvernement? Aus welcher Gegend bist
-du denn?«
-
-Der Bursche sah Raskolnikoff wieder an.
-
-»Wie soll ich es denn wissen, Eure Durchlaucht, bin zu dumm, um es zu
-wissen ... Entschuldigen Sie gütigst, Durchlaucht.«
-
-»Ist dort oben eine Schenke?«
-
-»Das ist ein Restaurant, hat auch ein Billard und schöne Damen findet
-man dort auch ... Tra-la-la.«
-
-Raskolnikoff ging quer über den Platz. Dort auf der anderen Ecke stand
-eine dichte Volksmenge, lauter Bauern. Er zwängte sich durch den
-dicksten Knäuel und sah die Gesichter an. Aus irgendeinem Grunde zog es
-ihn an alle anzureden. Aber die Bauern schenkten ihm keine Beachtung und
-lamentierten alle unter sich. Er blieb stehen, dachte nach und ging nach
-rechts, auf den Fußsteg, in der Richtung zu dem W.-schen Prospekt. Als
-er den Platz verlassen hatte, geriet er in die N.-Gasse.
-
-Er war auch früher oft durch diese sehr kurze Gasse gegangen, die eine
-Biegung macht und von dem Platze auf die Ssadowaja führte. In der
-letzten Zeit zog es ihn sogar an, wenn es ihm schwer zumute war, in
-dieser Gegend herumzuirren, damit »es ihm noch schwerer werden sollte«.
-Jetzt aber war er hierhergekommen, ohne etwas zu wollen. Hier gab es ein
-großes Haus, das ganz mit Schenken und anderen Speise- und
-Trinkanstalten angefüllt war; alle Augenblicke kamen von dort
-Frauenzimmer herausgelaufen, gekleidet, wie man »in der Nachbarschaft«
-herumzugehen pflegt -- ohne Kopfbekleidung und Überrock. Sie sammeln
-sich auf dem Fußsteig an, ein paar stehen in Gruppen, besonders bei den
-Eingängen in das Erdgeschoß, wo man zwei Stufen tiefer in allerhand sehr
-lustige Lokale gelangen konnte. In einem von diesen Etablissements
-herrschte in diesem Augenblicke starker Lärm und Geschrei, so daß man es
-in der ganzen Straße hören konnte, auf einer Guitarre wurde geklimpert,
-es wurde gesungen, es ging sehr bunt zu. Eine große Gruppe von Frauen
-drängte sich am Eingange; einige saßen auf den Stufen, andere auf dem
-Fußsteig, andere wieder standen und unterhielten sich. Auf dem Fahrdamme
-daneben schlenderte ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette,
-schimpfte laut und wie es schien, wollte er irgendwo hineingehen, aber
-wahrscheinlich hatte er vergessen, wohin er wollte. Ein zerlumpter Kerl
-schimpfte einen anderen und ein total Betrunkener lag quer über der
-Straße. Raskolnikoff blieb bei der großen Gruppe von Weibern stehen. Sie
-sprachen mit heiseren Stimmen, alle hatten sie Kattunkleider an und
-billige Stiefel und waren barhaupt. Einige waren über vierzig Jahre alt,
-es waren aber auch siebzehnjährige dabei, fast alle hatten sie zerbläute
-Gesichter. -- Aus irgendeinem Grunde interessierte ihn der Gesang und
-dieser ganze Lärm und Tumult dort unten ... Man konnte hören, wie unter
-Lachen und Kreischen jemand mit einer hohen Fistelstimme burschikos zu
-einer Guitarre sang und wie ein anderer toll dazu tanzte und mit den
-Absätzen den Takt schlug. Er hörte aufmerksam, düster und nachdenklich
-zu, indem er, am Eingange stehend und sich vorbeugend, neugierig in das
-Vorzimmer hineinblickte.
-
- Oh, mein schöner Schutzmann
- Schlägt mich so ohne Grund! ...
-
-ertönte die dünne Stimme des Sängers. Raskolnikoff hatte schreckliche
-Lust zu hören, was man sang, als wäre das jetzt die Hauptsache.
-
-»Soll ich nicht hineingehen?« dachte er. »Sie lachen laut! Aus
-Betrunkenheit. Warum soll ich mich nicht auch betrinken?«
-
-»Kommen Sie doch herein, lieber Herr!« sagte eine der Frauen mit
-ziemlich heller und nicht ganz heiserer Stimme. Sie war jung und gar
-nicht abstoßend -- die einzige von der ganzen Gruppe.
-
-»Sieh mal, wie hübsch du bist!« antwortete er, den Kopf erhebend und
-blickte sie an.
-
-Sie lächelte; das Kompliment hatte ihr sehr gefallen.
-
-»Sie sind auch selbst sehr hübsch,« sagte sie.
-
-»Wie mager Sie sind!« bemerkte eine andere mit einer Baßstimme. »Kommen
-wohl eben aus dem Krankenhause?«
-
-»Ihr seid alle aus feiner Familie, aber die Nasen sind zu platt!«
-unterbrach sie plötzlich ein herantretender Bauer, ein wenig
-angeheitert, mit einem listig lächelnden Gesichte. -- »Das ist aber ein
-Vergnügen!«
-
-»Geh hinein, wenn du schon da bist!«
-
-»Ich will auch hineingehen. Du Süße!«
-
-Und er stolperte hinunter.
-
-Raskolnikoff ging weiter.
-
-»Hören Sie, mein Herr!« rief ihm das Mädchen nach.
-
-»Was?«
-
-Sie tat schämig.
-
-»Ich würde mich freuen, mein Herr, mit Ihnen die Zeit zu vertreiben, ich
-bin aber ganz außer Fassung vor Ihnen. Schenken Sie mir, hoher Herr,
-sechs Kopeken zu einem Trunk.«
-
-Raskolnikoff nahm heraus, was er erfaßt hatte -- es waren fünfzehn
-Kopeken.
-
-»Ach, was für ein guter Herr!«
-
-»Wie heißt du?«
-
-»Fragen Sie nach Duklida.«
-
-»Nein, das geht nicht an,« sagte plötzlich eine aus der Gruppe und
-schüttelte den Kopf über Duklida. »Ich verstehe nicht, wie man so
-betteln kann. Ich würde vor lauter Scham in die Erde sinken ...«
-
-Raskolnikoff blickte neugierig die Sprechende an. Es war ein
-pockennarbiges Mädchen, etwa dreißig Jahre alt, voll blauer Flecken mit
-geschwollener Lippe. Sie sprach und tadelte ruhig und ernst.
-
-»Wo habe ich,« dachte Raskolnikoff, während er weiterging, »wo habe ich
-es gelesen, wie ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor seinem Ende
-spricht oder denkt, daß wenn er irgendwo auf einer Höhe, auf einem
-Felsen und auf einem schmalen Streifen, wo er bloß seine zwei Füße
-hinsetzen könnte, leben sollte, -- umgeben von Abgründen, von Ozean, von
-ewiger Finsternis, ewiger Einsamkeit und ewigem Sturm, -- und so, auf
-diesem ellenbreiten Streifen stehend, sein ganzes Leben, tausend Jahre,
-eine Ewigkeit verbringen müßte, -- daß es besser sei so zu leben, als
-sofort zu sterben! Nur leben, leben, leben! Wie, ganz gleich! -- bloß
-leben! ... Wie wahr! Herrgott, wie wahr! Der Mensch ist ein Schuft! ...
-Und ein Schuft ist der, welcher ihn darum einen Schuft nennt,« fügte er
-nach einer Weile hinzu.
-
-Er kam auf eine andere Straße hinaus.
-
-»Ah! Das ist ja der Kristallpalast! Rasumichin sprach vorhin vom
-Kristallpalast! Ja, was wollte ich aber? Ah, ich wollte lesen! ...
-Sossimoff erzählte, daß er in den Zeitungen gelesen hätte ...«
-
-»Haben Sie Zeitungen?« fragte er, indem er in ein ziemlich geräumiges
-und sogar reinliches Restaurant mit mehreren jetzt ziemlich leeren
-Räumen eintrat. Zwei, drei Gäste tranken Tee und in einem der
-Hinterzimmer saßen etwa vier Menschen und tranken Champagner.
-Raskolnikoff glaubte unter ihnen Sametoff zu erkennen. Von weitem konnte
-man es nicht unterscheiden.
-
-»Und wenn auch!« dachte er.
-
-»Befehlen Sie Branntwein?« fragte der Kellner.
-
-»Bringe mir Tee. Und bringe mir Zeitungen, alte Zeitungen, so von den
-letzten fünf Tagen, ich gebe dir ein Trinkgeld dafür.«
-
-»Jawohl. Hier sind die heutigen. Befehlen Sie auch Branntwein?«
-
-Alte Zeitungen und der Tee erschienen. Raskolnikoff setzte sich hin und
-begann zu suchen: -- »Isler ... Isler ... Azteken ... Azteken ... Isler
-... Bartola ... Massimo ... Azteken ... Isler ... pfui, zum Teufel! ah,
-da ist die Lokalchronik ... von der Treppe herabgestürzt ... ein
-Kleinbürger gestorben an Alkoholvergiftung ... Feuersbrunst ...
-Feuersbrunst ... noch eine Feuersbrunst ... und noch eine Feuersbrunst
-... Isler ... Massimo ... Isler ... Isler ... Massimo ... Ah, da ist es
-...«
-
-Er hatte endlich gefunden, was er suchte und begann zu lesen; die Zeilen
-hüpften vor seinen Augen, trotzdem las er die ganze »Nachricht« zu Ende
-und begann voll Gier in den weiteren Nummern die Fortsetzung zu suchen.
-Seine Hände zitterten vor starker Ungeduld, indem er in den Zeitungen
-blätterte. Plötzlich setzte sich jemand neben ihn, an seinen Tisch. Er
-schaute hin -- es war Sametoff, derselbe Sametoff und mit demselben
-Äußern, mit Ringen, Uhrketten, mit einem Scheitel in seinen schwarzen
-gekräuselten und pomadisierten Haaren, in einer eleganten Weste, in
-einem etwas abgetragenen Rocke und nicht ganz reiner Wäsche. Er war
-lustig gestimmt, wenigstens lachte er sehr vergnügt und gutmütig. Sein
-gebräuntes Gesicht war vom genossenen Champagner ein wenig erhitzt.
-
-»Wie! Sie hier?« begann er mit Staunen und in einem Tone, als wäre er
-ein ewigalter Bekannter. »Mir erzählte gestern noch Rasumichin, daß Sie
-immer noch bewußtlos daliegen. Das ist merkwürdig! Wissen Sie, ich war
-bei Ihnen ...«
-
-Raskolnikoff hatte sich's gedacht, daß er zu ihm herankommen würde. Er
-legte die Zeitungen beiseite und wandte sich zu Sametoff. Auf seinen
-Lippen spielte ein hämisches Lächeln, aber in diesem Lächeln lag eine
-gereizte Ungeduld.
-
-»Ich weiß es, daß Sie da waren,« antwortete er, »ich habe es gehört. Sie
-haben meinen Strumpf gesucht ... Wissen Sie, Rasumichin ist ganz
-entzückt von Ihnen, er erzählte, daß Sie mit ihm bei Louisa Iwanowna
-waren, wissen Sie, wegen der Sie damals so angelegentlich dem Leutnant
-Pulver zuzwinkerten und er immer nicht begriff, erinnern Sie sich noch?
-Und es war doch nicht viel zu verstehen -- es war ja eine klare Sache
-... nicht?«
-
-»Was für ein Schwätzer er ist!«
-
-»Pulver?«
-
-»Nein, Ihr Freund Rasumichin ...«
-
-»Sie haben es gut, Herr Sametoff; zu den angenehmsten Orten zollfreien
-Eintritt! Wer hat Ihnen soeben Champagner spendiert?«
-
-»Wir haben ... ein wenig getrunken ... Und Sie sagen -- spendiert?!«
-
-»Ein wenig Honorar! Sie ziehen eben aus allem Nutzen!« Raskolnikoff
-lachte. »Hat nichts zu sagen, mein guter junger Mann, tut nichts!« fügte
-er hinzu und schlug Sametoff auf die Schulter. »Ich sage es nicht aus
-Bosheit, sondern >aus Freundschaft, im Scherze,< so wie der Arbeiter
-sagte, als er Dmitri schlug, wissen Sie, in der Sache der Alten ...«
-
-»Woher wissen Sie es?«
-
-»Ich weiß vielleicht mehr als Sie ...«
-
-»Wie komisch Sie sind ... Wahrscheinlich sind Sie noch sehr krank. Es
-war unvorsichtig von Ihnen auszugehen.«
-
-»Erscheine ich Ihnen komisch?«
-
-»Ja. Was lesen Sie da, Zeitungen?«
-
-»Ich lese Zeitungen.«
-
-»Es wird viel von Feuersbrünsten geschrieben.«
-
-»Nein, ich lese nicht über Feuersbrünste.« Hier blickte er Sametoff
-rätselhaft an; ein höhnisches Lächeln verzog wieder seine Lippen. »Nein,
-ich las nicht über Feuersbrünste,« fuhr er fort und zwinkerte Sametoff
-zu. »Gestehen Sie nur, lieber junger Mann, daß Sie furchtbar gern wissen
-möchten, was ich gelesen habe?«
-
-»Ich will es gar nicht wissen; ich habe bloß so gefragt. Darf man denn
-nicht fragen? Was haben Sie nur immer ...«
-
-»Hören Sie, Sie sind doch ein gebildeter, belesener Mensch?«
-
-»Ich habe die Sekunda eines Gymnasiums,« antwortete Sametoff mit Würde.
-
-»Die Sekunda! Ach, Sie kleiner Spatz! Mit einem Scheitel, mit Ringen --
-ein reicher Mann! Nein, welch ein lieber Junge!« Hier verfiel
-Raskolnikoff in ein nervöses Lachen und lachte Sametoff direkt ins
-Gesicht. Der fuhr zurück und war, wie es schien, nicht gekränkt, eher
-sehr verwundert.
-
-»Nein, wie komisch Sie sind!« wiederholte Sametoff ernsthaft. »Mir
-scheint, Sie phantasieren immer noch.«
-
-»Ich phantasiere? Das lügst du, mein Spätzchen! ... Also, ich bin
-komisch? Nun errege ich aber Ihre Neugier? Nicht wahr?«
-
-»Ja, Sie erregen meine Neugier.«
-
-»Soll ich Ihnen also sagen, was ich gelesen, was ich gesucht habe? Sehen
-Sie, wieviel Nummern ich mir bringen ließ. Erscheint das nicht
-verdächtig?«
-
-»Sagen Sie mir ...«
-
-»Sind Ihre Ohren gespitzt?«
-
-»Warum sollen sie gespitzt sein?«
-
-»Ich will es Ihnen nachher sagen, jetzt aber erkläre ich Ihnen, mein
-Lieber ... nein, besser, >ich gestehe< ... Nein, das ist auch nicht das
-richtige, >ich gebe es Ihnen zu Protokoll und Sie schreiben es,< so
-lautet's doch. Also, ich gebe zu Protokoll, daß ich gelesen, mich
-interessiert, gesucht habe ... nachgeforscht ...«
-
-Raskolnikoff kniff die Augen zusammen und wartete eine Weile.
-»Nachgeforscht habe, -- und bin auch darum hierher gekommen, -- betreffs
-der Ermordung der Alten, der Beamtenwitwe,« sagte er endlich, fast im
-Flüstertone, wobei er mit seinem Gesichte außerordentlich nahe dem
-Sametoffs kam.
-
-Sametoff sah ihn unverwandt an, ohne sich zu bewegen und ohne sein
-Gesicht zurückzuziehen. Am merkwürdigsten erschien es Sametoff nachher,
-daß das Schweigen wohl eine volle Minute gedauert hatte und daß sie
-solange einander anblickten.
-
-»Nun, was ist dabei, daß Sie darüber gelesen haben?« rief er plötzlich
-ungehalten und ungeduldig aus. »Was geht das mich an? Was ist denn
-dabei?«
-
-»Das ist dieselbe Alte,« fuhr Raskolnikoff fort, in demselben
-Flüstertone und ohne sich bei dem Ausrufe Sametoffs zu rühren, »es ist
-dieselbe, von der man, erinnern Sie sich, im Polizeibureau zu sprechen
-begann, wobei ich in Ohnmacht fiel. Merken Sie was?«
-
-»Ja, was denn? Was ... soll ich merken?« sagte Sametoff unruhig.
-
-Das unbewegliche und ernste Gesicht Raskolnikoffs veränderte sich
-plötzlich und wieder verfiel er in das nervöse Lachen von vorhin, als
-hätte er keine Macht darüber. Und auf einen Augenblick schwebte ihm
-außerordentlich klar und intensiv jener Moment vor Augen, als er mit dem
-Beil hinter der Türe stand, wie der Haken hüpfte, und wie die hinter der
-Tür schimpften und an der Türe rissen, und wie er plötzlich Lust bekam,
-ihnen zuzurufen, sie zu schimpfen, ihnen die Zunge zu zeigen, sie zu
-verhöhnen, zu lachen, laut zu lachen, lachen und lachen!
-
-»Sie sind entweder verrückt oder ...« sagte Sametoff -- und hielt inne,
-als hätte er über einem plötzlichen Gedanken die Sprache verloren.
-
-»Oder? Was -- >oder<? Was ist's? Sprechen Sie?«
-
-»Nichts!« antwortete Sametoff gereizt. »Es ist ja alles Unsinn!«
-
-Beide verstummten. Auf den Lachanfall wurde Raskolnikoff gleich wieder
-nachdenklich und düster. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und
-legte den Kopf in die Hand. Es schien, als hätte er die Gegenwart
-Sametoffs völlig vergessen. Das Schweigen dauerte ziemlich lange.
-
-»Warum trinken Sie Ihren Tee nicht? Er wird kalt,« sagte Sametoff.
-
-»Ah? Was? Tee? ... Meinetwegen ...« Raskolnikoff nahm einen Schluck aus
-dem Glase, steckte ein kleines Stück Brot in den Mund, blickte Sametoff
-an und schien sich auf einmal an alles zu erinnern. Sein Gesicht nahm im
-selben Augenblick den früheren höhnischen Ausdruck an. Er fuhr fort, Tee
-zu trinken.
-
-»Heutzutage passieren viele Gaunereien,« sagte Sametoff. »Ich las vor
-kurzem in den >Moskowskije Wedomosti<, daß man in Moskau eine Bande
-Falschmünzer festgenommen habe. Es war eine ganze Gesellschaft ... Sie
-fälschten Papiergeld.«
-
-»Oh, das ist schon lange her. Ich habe es vor einem Monat gelesen,«
-antwortete Raskolnikoff ruhig.
-
-»Also, das sind Ihrer Meinung nach Gauner!« fügte er lächelnd hinzu.
-
-»Warum nicht Gauner?«
-
-»Die? Das sind Grünspechte, aber keine Gauner! Ganze fünfzig Menschen
-vereinigen sich zu diesem Zwecke! Geht denn das an? Bei so einer Sache
-sind schon drei zu viel, da muß jeder dem andern mehr als sich selbst
-vertrauen. Es braucht bloß einer in Betrunkenheit mit anderen zu
-plappern, und alles ist verloren! Grünspechte waren es! Sie mieteten
-sich unzuverlässige Menschen, um das Geld in allerhand Banken umwechseln
-zu können, -- so eine Sache dem ersten besten anvertrauen! Nun gut,
-nehmen wir an, daß es ihnen geglückt wäre, jeder hat eine Million
-eingewechselt, nun, was weiter, das ganze Leben hindurch? Jeder ist von
-dem anderen sein Lebelang abhängig! Da ist es besser, sich gleich zu
-erhängen! Und sie verstanden nicht mal einzuwechseln, -- der eine geht
-in eine Bank zum wechseln, empfängt fünftausend und die Hände beginnen
-zu zittern. Viertausend zählt er nach, das fünfte Tausend aber nimmt er
-ohne nachzuzählen, auf gut Glauben, um es schneller in die Tasche
-stecken zu können und fortzulaufen. Er erregte Verdacht, und die ganze
-Sache ging in die Brüche bloß wegen eines einzigen Dummkopfes! Ja, ist
-das denkbar?«
-
-»Daß die Hände zitterten?« unterbrach Sametoff.
-
-»Das ist denkbar. Ich bin vollkommen überzeugt, daß es möglich ist.
-Manchmal kann man so etwas nicht standhalten.«
-
-»So etwas?«
-
-»Könnten Sie standhalten? Ich hielte es nicht aus! Für eine Bezahlung
-von hundert Rubel diese Angst auf sich nehmen! Nein! Mit einem
-gefälschten Papier hingehen -- und wohin noch -- in ein Bankhaus, wo sie
-so gewitzt sind, -- nein, ich hätte die Fassung verloren. Und Sie hätten
-nicht die Fassung verloren?«
-
-Raskolnikoff hatte plötzlich wieder große Lust, »die Zunge zu zeigen«.
-Ein Schüttelfrost packte ihn wieder.
-
-»Ich würde nicht so gehandelt haben,« begann er, weit ausholend. »Ich
-hätte so gewechselt, -- ich hätte das erste Tausend so gegen viermal von
-allen Seiten nachgezählt, jeden Schein betrachtet, und hätte mich dann
-an das zweite Tausend gemacht; ich hätte angefangen zu zählen, wäre bis
-zur Hälfte gekommen, hätte dann irgendeinen Schein von fünfzig Rubel
-hervorgeholt, und ihn gegen das Licht gehalten, dann ihn umgedreht und
-wieder gegen das Licht gehalten, -- ob er nicht gefälscht ist? Ich bin
-ängstlich -- hätte ich gesagt, -- eine Verwandte von mir hat auf diese
-Weise vor kurzem fünfundzwanzig Rubel eingebüßt, -- und hätte nun eine
-Geschichte zum Besten gegeben. Und wenn ich das dritte Tausend zu zählen
-angefangen hätte, -- würde ich sagen, -- erlauben Sie, ich habe, scheint
-mir, in dem zweiten Tausend das siebente Hundert nicht richtig
-nachgezählt, ich bin im Zweifel. -- Ich hätte das dritte Tausend zur
-Seite gelegt und wieder das zweite Tausend nachgezählt, -- und in dieser
-Weise hätte ich es mit allen fünf gemacht. Und wenn ich damit fertig
-gewesen wäre, hätte ich aus dem zweiten und aus dem fünften Tausend je
-einen Schein herausgenommen, gegen das Licht gehalten und voll Zweifel
-gebeten, ihn umzutauschen, -- und ich hätte den Angestellten zum
-Schwitzen gebracht, so daß er alles getan hätte, um mich endlich los zu
-werden. Und nach dem allen wäre ich schließlich zur Türe gegangen, hätte
-sie geöffnet -- und wäre wieder zurückgegangen, um unter Entschuldigung
-irgend etwas zu fragen oder mich über etwas zu erkundigen, -- sehen Sie,
-so hätte ich es gemacht!«
-
-»Oh, was für Schauergeschichten Sie erzählen!« sagte Sametoff lachend.
-»Das redet man so, bei der Ausführung aber würden Sie schon stolpern.
-Bei so einer Sache, sage ich Ihnen, kann nicht mal ein geübter,
-geriebener Mensch für sich einstehen, geschweige denn wir beide. Wozu so
-weit ausholen, -- da haben Sie ein Beispiel, in unserem Revier hat man
-eine alte Frau ermordet. Allem Anschein nach ein verwegener Bursche, am
-hellen lichten Tage hat er's gewagt, nur durch ein Wunder rettete er
-sich, -- die Hände aber haben doch versagt; er hat nicht verstanden zu
-stehlen, hat nicht standgehalten; man sieht es aus dem Tatbestande ...«
-
-Raskolnikoff schien sich gekränkt zu fühlen.
-
-»Man sieht es! So nehmen Sie ihn doch fest!« rief er höhnisch aus, um
-Sametoff zu reizen.
-
-»Man wird ihn schon kriegen.«
-
-»Wer? Sie? Sie wollen ihn kriegen? Das wird lange dauern! Sehen Sie, was
-ist denn bei Ihnen die Hauptsache, -- ob ein Mensch viel Geld ausgibt
-oder nicht? Hatte er vor kurzem keins, gibt jetzt plötzlich Geld aus, --
-so muß er das sein! In dieser Weise kann Sie jedes kleine Kind
-irreführen, wenn es will.«
-
-»Das ist es ja, daß sie alle so handeln,« antwortete Sametoff. »Erst
-morden sie mit Bedacht, riskieren ihr Leben und gehen dann fort ohne
-Beute in eine Schenke und werden dort festgenommen. Beim Geldausgeben
-werden sie festgenommen. Nicht alle sind so schlau wie Sie. Sie würden
-selbstverständlich in keine Schenke gehen!«
-
-Raskolnikoff zog die Augenbrauen zusammen und blickte Sametoff scharf
-an.
-
-»Sie haben, wie es scheint, Appetit bekommen und möchten wissen, wie ich
-auch in diesem Falle gehandelt hätte?« fragte er bitter.
-
-»Ich möchte es sehr gern wissen,« antwortete jener fest und bestimmt.
-Seine Stimme und sein Blick waren jetzt fast zu ernst geworden.
-
-»Sehr?«
-
-»Sehr.«
-
-»Gut. Ich hätte folgendermaßen gehandelt,« begann Raskolnikoff, indem er
-plötzlich sein Gesicht wieder dem Sametoffs näherte, ihn unverwandt
-anblickte und wieder im Flüstertone sprach, so daß jener diesmal
-zusammenzuckte. »Ich hätte folgendermaßen gehandelt, -- ich hätte das
-Geld und die Sachen an mich genommen und kaum entkommen, wäre ich sofort
-ohne Aufenthalt zu einem abgelegenen Platz gegangen, wo es nur Zäune
-gibt und wo es fast menschenleer ist, -- zu einem Gemüsegarten oder
-etwas ähnlichem. Ich hätte mir dort auf diesem Hofe schon früher
-irgendeinen Stein, ungefähr im Gewichte von zwanzig Kilo oder mehr
-ausgesucht, irgendwo in einer Ecke am Zaune einen Stein also, der,
-seitdem das Haus gebaut ist, dort liegt; ich hätte diesen Stein
-aufgehoben -- unter ihm muß es eine Vertiefung geben, -- und in diese
-Vertiefung hätte ich alle Sachen und das Geld hineingelegt. Dann hätte
-ich den Stein auf seinen alten Platz gerückt, die Erde ringsum mit dem
-Fuße ausgeglättet und wäre fortgegangen. Ja, und ich würde ein Jahr,
-zwei oder auch drei Jahre nichts angerührt haben, -- nun, sucht mal! Es
-war da und nun ist es weg.«
-
-»Sie sind verrückt!« sagte Sametoff auch fast im Flüstertone und rückte
-plötzlich von Raskolnikoff weg.
-
-Raskolnikoffs Augen funkelten; er war furchtbar bleich, seine Oberlippe
-zuckte und zitterte. Er beugte sich zu Sametoff noch näher hin und
-bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen; das währte eine halbe Minute;
-er wußte, was er tat, aber er konnte sich nicht mehr halten. Ein
-fürchterliches Wort, wie damals der Haken an der Türe, hüpfte auf seinen
-Lippen -- jeden Augenblick konnte es sich lösen, er brauchte es nur
-entschlüpfen zu lassen, nur auszusprechen!
-
-»Wie, wenn ich die Alte und Lisaweta ermordet hätte?« sagte er plötzlich
-und -- kam zu sich. Sametoff blickte ihn wild an und wurde so weiß wie
-das Tischtuch. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
-
-»Wie wäre das möglich?« sagte er kaum hörbar.
-
-Raskolnikoff blickte ihn zornig an.
-
-»Gestehen Sie, daß Sie es glaubten? -- Ja? Nicht wahr?«
-
-»Nein, nicht! Jetzt weniger als je!« sagte Sametoff hastig.
-
-»Nun haben Sie sich verraten! Das Spätzlein ist erwischt! Also haben Sie
-es früher geglaubt, wenn Sie es >jetzt weniger als je< glauben?«
-
-»Aber gar nicht!« rief Sametoff sichtlich betroffen. »Sie haben mich
-deshalb erschreckt, um mich dahin zu bringen?«
-
-»Also Sie glaubten es nicht? Worüber aber sprachen Sie damals, als ich
-aus dem Bureau fortging? Und warum verhörte mich der Leutnant Pulver
-nach meiner Ohnmacht? Hör mal, du!« rief er dem Kellner zu, stand auf
-und nahm seine Mütze. »Was habe ich zu zahlen?«
-
-»Dreißig Kopeken im ganzen!« antwortete der Kellner.
-
-»Da hast du noch zwanzig Kopeken als Trinkgeld. Sehen Sie, wieviel Geld
-ich habe,« er streckte Sametoff seine zitternde Hand mit Papiergeld hin,
--- »rote und blaue Scheine, fünfundzwanzig Rubel sind es. Woher habe ich
-es? Und woher stammt die neue Kleidung? Sie wissen doch, daß keine
-Kopeke da war! Sie haben doch sicher meine Wirtin ausgefragt ... Nun,
-genug! _Assez causé!_{[2]} Auf Wiedersehen ... auf angenehmes
-Wiedersehen! ...«
-
-Er ging hinaus, am ganzen Körper von einer wilden, hysterischen
-Erregtheit zitternd, in die sich das Gefühl eines qualvollen Genusses
-mischte, -- sonst aber düster und todmüde. Sein Gesicht war verzerrt,
-wie nach einem Anfalle. Und seine Ermattung nahm rasch überhand. Seine
-Kräfte ließen sich spannen und zeigten sich beim ersten Anlaß, beim
-ersten Empfinden des Reizes und erschlafften ebenso schnell, in dem
-Maße, wie der Reiz nachließ.
-
-Nachdem Sametoff allein geblieben war, saß er noch lange sinnend auf
-demselben Platz. Raskolnikoff hatte seine Gedanken in diesem Punkte zum
-Umschlagen gebracht, und eine neue Auffassung hatte sich in ihm
-endgültig befestigt.
-
-»Ilja Petrowitsch ist ein Dummkopf!« sagte er endlich.
-
-Kaum hatte Raskolnikoff die Türe zur Straße geöffnet, als er plötzlich
-auf der Außentreppe mit dem eintretenden Rasumichin zusammenstieß. Sie
-hatten beide einander nicht gesehen, so daß sie fast mit den Köpfen
-zusammenstießen. Eine Weile maßen sie sich mit den Blicken. Rasumichin
-war höchst erstaunt, aber plötzlich flammte der Zorn, ein wirklicher
-Zorn, drohend in seinen Augen auf.
-
-»Also hier bist du!« schrie er aus vollem Halse. »Du bist dem Bette
-entsprungen! Und ich habe dich sogar unter dem Sofa gesucht! Wir sind
-auf dem Boden gewesen. Ich habe Nastasja deinetwegen beinahe verprügelt
-... Und nun bist du hier! Rodjka! Was soll das bedeuten? Sag die
-Wahrheit! Gestehe! Hörst du?«
-
-»Es bedeutet, daß ich euch alle ernstlich satt habe, und daß ich allein
-sein will,« antwortete Raskolnikoff ruhig.
-
-»Allein sein? Wo du nicht mal gehen kannst, wo deine Fratze noch bleich
-wie Leinwand ist, und wo du den Atem verlierst! Dummkopf! ... Was hast
-du im Kristallpalast gesucht? Gestehe es sofort!«
-
-»Laß mich!« sagte Raskolnikoff, und wollte an ihm vorbeigehen.
-
-Das brachte Rasumichin ganz außer sich, er packte ihn fest an der
-Schulter.
-
-»Laß mich? Du wagst zu sagen >Laß mich<? Weißt du auch, was ich mit dir
-gleich tun werde? Ich packe dich zu einem Bündel zusammen und bringe
-dich unterm Arm nach Hause und sperre dich ein!«
-
-»Höre, Rasumichin,« begann Raskolnikoff leise und scheinbar völlig
-ruhig. »Siehst du denn nicht, daß ich deine Wohltaten nicht wünsche? Und
-was ist es für ein Vergnügen, denen Wohltaten zu erweisen, die ...
-darauf pfeifen? Denen, schließlich, die sie in allem Ernste am wenigsten
-vertragen? Nun, sage mir, warum hast du mich beim Beginn meiner
-Krankheit aufgesucht? Ich wäre vielleicht glücklich gewesen zu sterben!
-Nun, habe ich dir heute nicht genügend gezeigt, daß du mich quälst, daß
-ich deiner ... überdrüssig geworden bin? Was für ein Vergnügen hast du
-daran, Menschen zu quälen! Ich versichere dir, daß dies alles meine
-Genesung ernstlich hindert, weil es mich ununterbrochen reizt. Sossimoff
-ging doch vorhin fort, um mich nicht zu reizen. Laß du mich um
-Gotteswillen auch in Ruhe! Und was für ein Recht hast du schließlich,
-mich mit Gewalt zurückzuhalten? Ja, siehst du denn nicht, daß ich jetzt
-bei vollem Verstande bin? Wie, wie -- sage mir -- soll ich dich
-schließlich bitten, daß du mich in Ruhe läßt und mir keine Wohltaten
-mehr erweisest? Mag ich undankbar sein, mag ich gemein sein, aber um
-Gotteswillen laßt mich, laßt mich alle in Ruhe. Laßt mich in Ruhe!«
-
-Er hatte ruhig begonnen und freute sich im voraus über das ganze Gift,
-das er sich auszuschütten anschickte, er schloß aber in Raserei und fast
-erstickend, wie vorhin bei Luschin.
-
-Rasumichin stand eine Weile da, dachte nach und ließ seine Hand los.
-
-»Scher dich zum Teufel!« sagte er leise und fast nachdenklich.
-
-»Halt!« brüllte er plötzlich, als Raskolnikoff fortgehen wollte. »Höre
-mich an. Ich erkläre dir, daß ihr alle ohne Ausnahme Großmäuler und
-aufgeblasene Kerls seid! Wenn ihr ein kleines Leid habt, lauft ihr wie
-ein Huhn mit einem Ei herum! Auch in diesem Falle stehlt ihr von
-anderen. Keine Spur von Selbständigkeit steckt in euch! Ihr seid aus
-Spermacetsalbe gemacht und anstatt Blut habt ihr Quark in den Adern!
-Keinem von euch glaube ich! Das erste, die Hauptsache bei euch in allen
-Dingen ist -- nur nicht einem Menschen ähnlich sein! War--te!« rief er
-mit verstärkter Wut, als er merkte, daß Raskolnikoff sich anschickte
-wegzugehen. »Höre mich zu Ende! Du weißt, heute kommen Leute zu mir, um
-die neue Wohnung einzuweihen, vielleicht sind sie schon da, ich habe den
-Onkel dortgelassen, -- ich war soeben zu Hause, -- die Gäste zu
-empfangen. Also, wenn du kein Dummkopf, kein flacher Dummkopf, kein Esel
-wärest, keine Übersetzung aus fremden Sprachen ... siehst du, Rodja, ich
-gestehe, du bist ein kluger Bursche, aber ein Dummkopf, -- also, wenn du
-kein Dummkopf wärest, würdest du heute besser den Abend bei mir
-verbringen, als unnütz die Stiefel abzulaufen. Du bist nun einmal
-ausgegangen, da ist weiter nichts mehr daran zu machen! Ich würde dir
-einen weichen Sessel hereinbringen, meine Wirtsleute haben einen ... Tee
-würde es geben, Gesellschaft ... Und wenn du den Sessel nicht wünschst,
--- lege ich dich auf die Chaiselongue hin, -- aber du würdest dann doch
-unter uns liegen ... Auch Sossimoff kommt. Kommst du?«
-
-»Nein!«
-
-»Du lügst!« rief Rasumichin ungeduldig aus. »Warum weißt du es? Du
-kannst für dich nicht bestimmen! Und übrigens du verstehst davon nichts.
-Ich habe mich tausendmal ebenso mit Menschen verkracht und bin wieder
-zurückgegangen ... man schämt sich -- und kehrt zu dem Menschen zurück.
-Also, erinnere dich, Haus Potschinkoff, dritter Stock ...«
-
-»Auf diese Weise werden Sie, Herr Rasumichin, möglicherweise sich
-schlagen lassen, nur dem, der Sie schlägt, zu Gefallen?«
-
-»Was? Schlagen! Schon für den Gedanken drehte ich dem die Nase ab. Haus
-Potschinkoff, Nr. 47, in der Wohnung des Beamten Babuschkin ...«
-
-»Ich komme nicht, Rasumichin!« Raskolnikoff wandte sich um und ging
-fort.
-
-»Ich wette, daß du kommst!« rief ihm Rasumichin nach. »Sonst bist du ...
-sonst bist du ... sonst will ich nichts mehr von dir wissen! Warte! Ist
-Sametoff hier?«
-
-»Ja, er ist hier.«
-
-»Hast du ihn gesehen?«
-
-»Ich habe ihn gesehen.«
-
-»Hast du mit ihm gesprochen?«
-
-»Ich habe mit ihm gesprochen.«
-
-»Worüber? Nun, hol dich der Teufel, meinetwegen brauchst du es nicht zu
-sagen. Haus Potschinkoff, 47, Babuschkins Wohnung, vergiß nicht!«
-
-Raskolnikoff ging bis zur Ssadowaja und bog um die Ecke. Rasumichin
-blickte ihm sinnend nach. Endlich machte er eine abwehrende Bewegung mit
-der Hand und ging in das Haus hinein, aber auf der Mitte der Treppe
-blieb er stehen.
-
-»Teufel noch einmal!« fuhr er fast laut fort. »Er spricht vernünftig,
-und doch scheint's ... Ich bin auch ein Dummkopf. Sprechen denn
-Verrückte nicht vernünftig? Und Sossimoff hatte, ich glaube, davor
-Angst!« Er tippte mit dem Finger an seine Stirn. »Wenn aber ... wie kann
-man ihn jetzt allein gehen lassen? Er kann sich ertränken ... Ach, daran
-habe ich nicht gedacht! Man darf ihn nicht allein lassen!« und er lief
-zurück, um Raskolnikoff einzuholen, aber der war verschwunden. Er spie
-aus und eilte in den Kristallpalast zurück, um etwas von Sametoff zu
-erfahren.
-
-Raskolnikoff ging direkt auf die N.sche Brücke, blieb in der Mitte
-stehen, stützte beide Ellbogen auf das Geländer und begann in die Ferne
-zu schauen. Nachdem er von Rasumichin Abschied genommen hatte, war er so
-schwach geworden, daß er nur mit Mühe hierher gekommen war. Er wollte
-sich irgendwo hinsetzen oder hinlegen, und sei's auf die Straße. Über
-das Wasser gebeugt, blickte er mechanisch auf den letzten, rosigen
-Widerschein des Sonnenuntergangs, auf die Reihe Häuser, die in der
-hereinbrechenden Dämmerung dunkel hervortraten, auf das weit entfernte,
-kleine Fenster in irgendeiner Mansarde auf dem linken Quai, das wie im
-Flammenschein von dem letzten Sonnenstrahl getroffen, leuchtete; er
-blickte auf das dunkle Wasser des Kanals und schien dieses Wasser
-aufmerksam zu betrachten. Auf einmal zeigten sich vor seinen Augen rote
-Kreise, die Häuser drehten sich, die Vorübergehenden, die Ufer,
-Equipagen, -- alles drehte sich und tanzte. Er fuhr auf, vielleicht vor
-einem neuen Ohnmachtsanfall durch ein schauerliches, wildes und
-widerwärtiges Ereignis bewahrt. Er fühlte, wie jemand an seine rechte
-Seite trat; sah hin und bemerkte ein Weib, hochgewachsen, mit einem
-Tuche um den Kopf, mit einem gelben, länglichen, abgemagerten Gesichte
-und mit geröteten, eingefallenen Augen. Sie schaute auf ihn, aber
-offenbar sah sie ihn nicht und unterschied niemanden. Plötzlich stützte
-sie sich mit der rechten Hand auf das Geländer, hob das linke Bein und
-stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser spritzte hoch auf,
-verschlang auf einen Moment sein Opfer, aber nach einer Minute tauchte
-noch einmal die Selbstmörderin auf, und die Strömung nahm sie mit fort.
-Ihr Kopf und ihre Füße waren im Wasser, mit dem Rücken lag sie nach
-oben, ihr Rock war übergeschlagen und wie ein Kissen vom Wasser
-aufgeblasen.
-
-»Sie hat sich ertränkt! Sie hat sich ertränkt!« riefen ein Dutzend
-Stimmen; Menschen liefen zusammen, die beiden Ufer bedeckten sich mit
-Zuschauern, auf der Brücke, rings um Raskolnikoff, drängte sich das
-Volk, stieß ihn und preßte ihn von hinten.
-
-»Leute, das ist ja unsere Afrosinja!« schrie unweit eine weinerliche
-Frauenstimme. »Leute, rettet sie! Gute, liebe Leute, zieht sie heraus!«
-
-»Ein Boot! Ein Boot!« rief man in der Menge. Ein Boot war aber nicht
-mehr nötig; ein Schutzmann war die Stufen zu dem Kanal hinuntergelaufen,
-hatte seinen Mantel und seine Stiefel von sich geworfen und stürzte sich
-ins Wasser. Es war keine große Arbeit, -- die Unglückliche schwamm nur
-ein paar Schritte entfernt von der Treppe, er erfaßte mit der rechten
-Hand ihr Kleid und mit der linken gelang es ihm, die Stange, die ihm ein
-Kamerad entgegenhielt, zu ergreifen, und die Selbstmörderin wurde
-alsbald herausgezogen. Man legte sie auf die Granitfliesen der Treppe.
-Sie kam rasch zu sich, erhob sich, setzte sich hin, begann zu niesen und
-zu prusten und wischte mit den Händen mechanisch ihr nasses Kleid ab.
-Sie sprach nichts.
-
-»Sie hat sich bis zur Bewußtlosigkeit vollgesoffen, Leute,« heulte
-dieselbe Frauenstimme, jetzt schon neben der Afrosinja. »Vor kurzem
-wollte sie sich hängen, wir haben sie aus der Schlinge gezogen. Ich ging
-eben in einen Laden, hatte ein kleines Mädchen dagelassen, um auf sie
-aufzupassen, -- und da ist das Unglück geschehen! Sie ist eine
-Kleinbürgerin, wohnt hier nebenan, im zweiten Hause von hier, dort ...«
-
-Das Volk ging auseinander, die Schutzleute gaben sich noch mit der
-Lebensmüden ab, jemand rief etwas »vom Polizeibureau« ... Raskolnikoff
-sah allem mit einem seltsamen Gefühle von Gleichgültigkeit und
-Teilnahmslosigkeit zu. Ihm wurde übel.
-
-»Nein, es ist abscheulich ... das Wasser ... es lohnt sich nicht, hier
-zu bleiben,« murmelte er vor sich hin. »Nichts wird hier geschehen,«
-fügte er hinzu. »Es lohnt sich nicht, zu warten. Wie wär's mit dem
-Polizeibureau ... Warum aber ist Sametoff nicht im Bureau? Das Bureau
-ist doch in der zehnten Stunde offen ...«
-
-Er wandte dem Geländer den Rücken und blickte um sich.
-
-»Nun, was ist dabei! Auch so gut!« sagte er entschlossen, ging über die
-Brücke und schlug die Richtung nach dem Polizeibureau ein. Sein Herz war
-leer und öde. Denken wollte er nicht. Auch seine schwermütige Stimmung
-war verschwunden, von der früheren Energie, als er seine Wohnung
-verließ, um allem ein Ende zu machen, war keine Spur mehr vorhanden.
-Eine völlige Apathie war an ihre Stelle getreten.
-
-»Es gibt doch einen Ausweg!« dachte er, indem er langsam und träge längs
-des Kanalufers ging. »Ich werde ein Ende machen, weil ich will ... Ist
-es aber ein Ausweg? Ach, einerlei! Einen drei Ellen langen Raum wird es
-doch noch geben ... he! Aber was ist das für ein Ende! Und soll es
-wirklich das Ende sein? Werde ich es ihnen sagen oder nicht? Ah ... zum
-Teufel! Ich bin auch müde, könnte ich mich doch irgendwo bald hinlegen
-oder hinsetzen! Am meisten schäme ich mich, daß es so dumm ist. Aber
-auch darauf pfeife ich! Was für Dummheiten einem in den Sinn kommen ...«
-
-Um in das Polizeibureau zu gelangen, mußte man geradeaus gehen und bei
-der zweiten Biegung links einschwenken, -- es war nur zwei Schritte
-entfernt. Als er die erste Biegung erreicht hatte, blieb er stehen,
-dachte nach, bog in eine Seitengasse ein und ging durch zwei Straßen auf
-einem Umwege dorthin, -- vielleicht ohne jedes Ziel, vielleicht aber um
-es noch eine Minute hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und sah
-zur Erde. Plötzlich schien ihm jemand etwas ins Ohr geflüstert zu haben.
-Er erhob den Kopf und sah, daß er an _dem_ Hause, direkt am Toreingange
-stehe. Seit _jenem_ Abend war er hier nicht mehr gewesen und auch nicht
-vorübergegangen.
-
-Ein unbezähmbares und unerklärliches Verlangen zog ihn. Er ging in das
-Haus hinein, durchschritt das Tor, bog in den ersten Eingang rechts ein
-und begann die bekannte Treppe in das vierte Stockwerk hinaufzusteigen.
-Es war sehr dunkel auf der engen und steilen Treppe. Er blieb auf jedem
-Absatz stehen und sah sich neugierig um. Auf dem Absatze des ersten
-Stockes war ein Fensterrahmen herausgenommen. »Das war damals nicht
-gewesen,« dachte er. Da ist auch die Wohnung im zweiten Stock, wo
-Nikolai und Dmitri gearbeitet haben. »Sie ist verschlossen. Und die Türe
-ist neu bemalt, also wird sie vermietet sein.«
-
-»Und da ist auch der dritte Stock ... und der vierte ...
-
-Hier war es!«
-
-Ein Zweifel packte ihn. Die Türe zu dieser Wohnung war sperrweit
-geöffnet, es waren Menschen drin, man hörte Stimmen. Dies hatte er
-keineswegs erwartet. -- Nachdem er eine Weile unschlüssig dagestanden
-hatte, stieg er die letzten Stufen hinauf und trat in die Wohnung ein.
-
-Sie wurde auch neu hergerichtet; es waren Arbeiter da, dies schien ihn
-zu verwundern. Er glaubte aus irgendeinem Grunde alles ebenso
-anzutreffen, wie er es damals verlassen hatte, vielleicht sogar die
-Leichen an denselben Stellen auf der Diele. Jetzt aber fand er kahle
-Wände, keine Möbel, -- es war so eigentümlich! Er ging zum Fenster und
-setzte sich auf das Fensterbrett.
-
-Es waren nur zwei Arbeiter da, beide junge Burschen, der eine schien
-bedeutend jünger zu sein als der andere. Sie beklebten die Wände mit
-neuen Tapeten, weiß mit lila Blümchen, an Stelle der früheren gelben,
-die zerrissen und schmutzig waren. Raskolnikoff gefiel dies ganz und gar
-nicht; er blickte diese neuen Tapeten feindselig an, als täte es ihm
-leid, daß man alles so verändert habe.
-
-Die Arbeiter schienen sich verspätet zu haben. Sie rollten schnell das
-Papier zusammen und schickten sich an, nach Hause zu gehen.
-Raskolnikoffs Erscheinen hatten sie fast nicht beachtet. Sie
-unterhielten sich und Raskolnikoff kreuzte die Arme und begann
-zuzuhören.
-
-»Sie kam also am Morgen zu mir,« sagte der ältere, »ganz früh schon,
-schön geputzt. Warum hast du dich denn so fein gemacht -- sagte ich --
-warum hast du dich denn so geputzt?« »Ich will -- sagt sie -- nun völlig
-zu Ihren Diensten stehn.« »Siehst du, so war es. Und wie fein geputzt
-sie war, -- wie aus einem Journal, wie aus einem Mode-Journal!«
-
-»Was ist ein Journal, Onkelchen?« fragte der jüngere. Er schien offenbar
-bei dem »Onkelchen« in die Schule zu gehen.
-
-»Ein Journal ist, ja weißt du, solche bemalte Bilder, und sie kommen
-jeden Sonnabend per Post aus dem Auslande hierher, zu den hiesigen
-Schneidern, damit man weiß, wie sich jeder -- ein Mann oder eine Frau,
--- kleiden soll. So eine Zeichnung also. Die Männer werden meistens in
-langen Röcken gemalt und für die Frauen gibt es feine Sachen, daß man
-Mund und Augen aufsperren muß.«
-
-»Was man nicht alles in diesem Petersburg hat!« rief der jüngere
-begeistert aus. »Außer Vater und Mutter kann man doch alles haben.«
-
-»Ja, außer diesen gibt es hier alles,« sagte in belehrendem Tone der
-Ältere.
-
-Raskolnikoff stand auf und ging in das andere Zimmer, wo früher die
-Truhe, das Bett und die Kommode der Alten gestanden hatten; das Zimmer
-erschien ihm ohne Möbel furchtbar klein. Die Tapeten waren dieselben; in
-der Ecke konnte man deutlich an der Tapete sehen, wo der Heiligenschrank
-mit den Heiligenbildern gestanden hatte. Er blickte sich um und kehrte
-zu seinem früheren Platz am Fenster zurück. Der ältere Arbeiter blickte
-ihn von der Seite an.
-
-»Was wünschen Sie?« fragte er, sich plötzlich an ihn wendend.
-
-Anstatt zu antworten, stand Raskolnikoff auf, ging in das Vorzimmer,
-ergriff die Klingel und zog daran. Dieselbe Klingel, derselbe blecherne
-Ton! Er zog zum zweiten und zum dritten Male; er lauschte und entsann
-sich. Das frühere, qualvoll schreckliche, abscheuliche Gefühl begann
-immer deutlicher und lebendiger in seiner Erinnerung aufzuwachen, er
-zuckte bei jedem Tone zusammen, ihm wurde dabei immer wohler und wohler.
-
-»Was willst du denn? Wer bist du?« rief der Arbeiter, indem er zu ihm
-hinausging. Raskolnikoff war wieder durch die Türe eingetreten.
-
-»Ich will die Wohnung mieten,« sagte er, »und sehe sie mir an.«
-
-»In der Nacht mietet man keine Wohnung, und außerdem müssen Sie mit dem
-Hausknecht kommen.«
-
-»Ist die Diele gewaschen, wird man sie streichen?« fuhr Raskolnikoff
-fort. »Blut ist nicht da?«
-
-»Was für Blut?«
-
-»Man hat doch die Alte und ihre Schwester ermordet. Hier war eine ganze
-Pfütze.«
-
-»Ja, was bist du für ein Mensch?« rief der Arbeiter unruhig.
-
-»Ich?«
-
-»Ja.«
-
-»Möchtest du es wissen? ... Komm in das Polizeibureau, dort will ich es
-dir sagen.«
-
-Die Arbeiter sahen ihn starr an.
-
-»Wir müssen fortgehen, haben uns verspätet. Komm, Aljoschka. Wir müssen
-nun abschließen,« sagte der ältere Arbeiter.
-
-»So wollen wir gehen!« antwortete Raskolnikoff gleichgültig, ging zuerst
-hinaus und stieg langsam die Treppe hinab. »He, Hausknecht!« rief er,
-als er im Tore war. Einige Menschen standen am Eingange von der Straße
-und sahen sich die Vorübergehenden an; es waren die beiden Hausknechte,
-ein Weib, ein Kleinbürger im Schlafrocke und noch jemand. Raskolnikoff
-ging auf sie zu.
-
-»Was wünschen Sie?« sagte der eine Hausknecht.
-
-»Bist du im Polizeibureau gewesen?«
-
-»Ich war soeben dort. Was wünschen Sie?«
-
-»Sind die Beamten dort?«
-
-»Ja, sie sind da.«
-
-»Ist auch der Gehilfe des Aufsehers da?«
-
-»Er war da. Was wünschen Sie?«
-
-Raskolnikoff antwortete nicht und blieb neben ihm, in Nachdenken
-versunken, stehen.
-
-»Er kam sich die Wohnung anzusehen,« sagte der herantretende ältere
-Arbeiter.
-
-»Welche Wohnung?«
-
-»Wo wir arbeiten. >Warum ist das Blut abgewaschen<, fragte er. >Hier ist
-doch ein Mord geschehen und ich möchte nun die Wohnung mieten.< Und an
-der Klingel hat er gerissen, beinahe hätte er sie abgerissen. Wir
-wollen, sagt er, auf das Polizeibureau gehen, dort will ich alles
-erklären. Wir konnten gar nicht von ihm loskommen.«
-
-Der Hausknecht betrachtete mißtrauisch und finster Raskolnikoff.
-
-»Wer sind Sie eigentlich?« rief er barsch.
-
-»Ich heiße Rodion Romanytsch Raskolnikoff, bin ehemaliger Student, und
-wohne im Hause Schill, hier in der Seitengasse, nicht weit von hier, in
-Wohnung Nr. 14. Frage den Hausknecht ... er kennt mich.«
-
-Raskolnikoff sagte dies träge und nachdenklich, ohne sich umzuwenden,
-und blickte dabei stier auf die dunkel gewordene Straße.
-
-»Ja, warum sind Sie in die Wohnung gegangen?«
-
-»Um sie zu sehen.«
-
-»Was ist dort zu sehen?«
-
-»Nehmt ihn doch und bringt ihn auf das Polizeibureau!« warf der
-Kleinbürger ein und verstummte wieder.
-
-Raskolnikoff blickte ihn über die Schulter aufmerksam an und sagte
-ebenso leise und träge:
-
-»Wollen wir hingehen.«
-
-»Bringt ihn doch hin!« wiederholte der Kleinbürger, der wieder Mut
-gefaßt hatte. »Warum hat er _danach_ gefragt, was hat er im Sinn?«
-
-»Betrunken scheint er nicht zu sein, weiß Gott, was er ist,« murmelte
-der Arbeiter.
-
-»Ja, was wollen Sie denn?« rief von neuem der Hausknecht, der ernstlich
-böse wurde. »Was suchst du hier?«
-
-»Dir ist Angst, mit aufs Polizeibureau zu gehen!« sagte Raskolnikoff
-höhnisch.
-
-»Mir Angst? Was suchst du hier?«
-
-»Spitzbube!« rief das Weib.
-
-»Was _ist_ da viel zu reden,« rief der andere Hausknecht, ein sehr
-großer Bauer, in einem offenen langen Mantel und mit Schlüsseln am
-Gürtel. »Pack dich! ... Ist wahrhaftig ein Spitzbube ... Pack dich!«
-
-Und er nahm Raskolnikoff an der Schulter und stieß ihn auf die Straße.
-
-Dieser wäre beinahe gefallen, fing sich jedoch noch, reckte sich, sah
-schweigend alle Zuschauer an und ging weiter.
-
-»Närrischer Mensch,« sagte der Arbeiter.
-
-»Närrische Leute gibt es heutzutage viele,« meinte das Weib.
-
-»Besser wäre es doch, ihn aufs Polizeibureau zu bringen,« fügte der
-Kleinbürger hinzu.
-
-»Es lohnt sich nicht, mit so einem anzubinden,« sagte der große
-Hausknecht. »Man sieht doch, daß er ein Spitzbube ist! Er will es ja
-selbst, und wenn man ihm den Willen tut, wird man ihn nicht los ... Wir
-kennen das.«
-
-»Also soll ich hingehen oder nicht?« dachte Raskolnikoff, indem er
-mitten auf der Straße an einer Kreuzung stehen blieb und sich umsah, als
-erwarte er von jemand das entscheidende Wort. Aber von keiner Seite kam
-es; alles war still und tot, wie die Steine, über die er ging, für ihn
-war alles tot, für ihn allein ... Da, zweihundert Schritt vor ihm,
-unterschied er am Ende der Straße in der Dunkelheit eine Menschenmenge,
-hörte Stimmen, Geschrei ... Mitten im Gewühl stand eine Equipage ... Ein
-Licht schimmerte in der Straße. »Was ist da geschehen?« Raskolnikoff
-wandte sich nach rechts und ging auf die Menge zu. Er schien sich an
-alles anzuklammern, und lächelte kalt, als er es inne ward, denn er war
-schon fest entschlossen, auf das Polizeibureau zu gehen und glaubte
-sicher, daß alles sogleich ein Ende haben würde.
-
-
- VII.
-
-Mitten in der Straße stand eine elegante herrschaftliche Equipage mit
-zwei feurigen grauen Pferden. In der Equipage saß niemand, der Kutscher
-war vom Bock gestiegen und stand daneben; die Pferde hielt man am Zügel.
-Ringsherum drängten sich die Menschen, ganz vorne standen Polizisten.
-Einer von ihnen hielt eine kleine brennende Laterne in der Hand, mit der
-er, sich bückend, etwas auf der Straße dicht bei den Rädern der Equipage
-beleuchtete. Alle redeten, schrien und stießen Ah!-Rufe aus; der
-Kutscher schien bestürzt zu sein und rief mehrmals:
-
-»Welch ein Unglück! Herrgott, welch ein Unglück!«
-
-Raskolnikoff drängte sich nach Möglichkeit nach vorne und erblickte
-endlich die Ursache dieses Zusammenlaufs und der Neugierde. Auf dem
-Boden lag ein von den Pferden getretener Mann, ohne Besinnung,
-anscheinend schlecht gekleidet, ganz mit Blut bedeckt. Das Blut floß ihm
-vom Gesicht und Kopf; sein Gesicht war vollkommen zerschlagen, zerrissen
-und verstümmelt. Man sah, daß er schwer verwundet war.
-
-»Liebe Leute!« klagte der Kutscher. »Habe ich Schuld daran? Ja, wenn ich
-die Pferde gejagt oder ihm nicht zugerufen hätte, ich fuhr aber langsam,
-gleichmäßig. Alle haben es gesehen und können es bezeugen ... Ich sah
-ihn, wie er über die Straße ging, hin und her wankte, beinahe hinfiel,
--- ich rief ihm einmal zu, noch einmal und zum drittenmal, hielt die
-Pferde zurück, aber er fiel direkt unter ihre Hufe! Hat er es
-absichtlich getan oder war er zu stark angetrunken ... Die Pferde sind
-jung und ängstlich, -- sie zogen an und wurden wild, als er aufschrie
-... und das Unglück war geschehen.«
-
-»Es ist so, wie er sagt!« rief ein Augenzeuge.
-
-»Er hat ihm zugerufen, das ist wahr, dreimal hat er gerufen,« sagte eine
-andere Stimme.
-
-»Genau dreimal hat er gerufen, wir haben es alle gehört,« rief ein
-dritter.
-
-Der Kutscher war übrigens nicht allzu sehr niedergeschlagen und
-erschrocken. Man konnte sehen, daß die Equipage einem reichen und
-angesehenen Herrn gehöre, der irgendwo abgeholt werden sollte; die
-Polizisten gaben sich deshalb nicht Mühe, diesen letzten Umstand zu
-berücksichtigen. Den Überfahrenen wollte man auf das Polizeibureau und
-ins Krankenhaus schaffen. Niemand kannte ja seinen Namen.
-
-Unterdessen hatte sich Raskolnikoff nach vorn gedrängt und beugte sich
-über ihn. Plötzlich beleuchtete die Laterne hell das Gesicht des
-Unglücklichen, -- er erkannte ihn.
-
-»Ich kenne ihn, kenne ihn!« rief er aus und drängte sich ganz nach
-vorne. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, Titularrat Marmeladoff! Er
-wohnt hier, nebenan, im Hause Kosel ... Holt schnell einen Arzt! Ich
-will bezahlen, hier ist Geld!«
-
-Er zog aus der Tasche sein Geld hervor und zeigte es einem Schutzmann.
-Er war in merkwürdiger Aufregung.
-
-Die Polizeibeamten waren sehr zufrieden, daß sie erfahren hatten, wer
-der Überfahrene sei. Raskolnikoff nannte auch seinen Namen, gab seine
-Wohnung an und bat inständig, als gelte es seinem leiblichen Vater, den
-besinnungslosen Marmeladoff schnell in dessen Wohnung zu schaffen.
-
-»Er wohnt hier, drei Häuser weit,« sagte er, »im Hause Kosel, eines
-reichen Deutschen ... Er ging wahrscheinlich betrunken nach Hause. --
-Ich kenne ihn ... Er ist ein Trinker ... Er hat Familie, Frau und Kinder
-und noch eine Tochter. Ihn ins Krankenhaus zu schleppen, dauert zu
-lange, hier im Hause aber ist sicher ein Arzt. Ich bezahle, bezahle
-alles! ... Er wird doch Pflege bei den Seinigen finden, man wird ihm
-sofort helfen, auf dem Wege zum Krankenhause aber kann er sterben ...«
-Er hatte sogar Zeit gefunden, etwas dem Schutzmanne unbemerkt in die
-Hand zu drücken; übrigens war die Sachlage gesetzlich klar und
-jedenfalls war Hilfe hier näher. Man hob den Verunglückten auf und trug
-ihn; es fanden sich bereitwillige Hände. Das Haus Kosel war nur dreißig
-Schritte entfernt. Raskolnikoff ging hinterher, stützte vorsichtig den
-Kopf des Verletzten und wies den Weg. »Hierher, hierher! Die Treppe
-hinauf muß man ihn mit dem Kopfe voran tragen; dreht euch um ... so
-ist's gut! Ich will's bezahlen, ich will's euch danken!« murmelte er.
-
-Katerina Iwanowna spazierte, wie immer, wenn sie einen freien Augenblick
-hatte, in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, vom Fenster bis zum Ofen und
-zurück, wobei sie die Hände über der kranken Brust gekreuzt hatte und
-mit sich selbst redete. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, öfter
-und mehr mit dem älteren Mädchen, der zehnjährigen Poljenka, zu
-sprechen, die vieles noch nicht begriff, dafür aber sehr gut verstanden
-hatte, daß die Mutter sie brauchte, und die darum ihr stets mit ihren
-großen, klugen Augen folgte und sich mit aller Kraft den Anschein gab,
-als verstehe sie alles. Jetzt zog Poljenka gerade ihren kleinen Bruder
-aus, der sich den ganzen Tag nicht wohl gefühlt hatte, um ihn schlafen
-zu legen. Der Knabe wartete darauf, daß man ihm das Hemdchen wechselte,
-das in der Nacht noch gewaschen werden mußte, und saß auf einem Stuhl
-schweigend, mit ernstem Gesichte, kerzengerade und unbeweglich, mit nach
-vorn gestreckten Füßen. Er horchte auf das, was die Mutter mit der
-Schwester sprach, mit offenem Munde, seine kleinen Augen schauten starr,
-er rührte sich nicht, alles so, wie gewöhnlich brave Kinder dasitzen
-müssen, wenn sie ausgekleidet werden, um schlafen zu gehen. Das jüngste
-Mädchen, in Lumpen gehüllt, stand bei dem Bettschirm und wartete, bis
-sie an die Reihe kam. Die Türe nach der Treppe zu war offen, wegen der
-Tabakswolken, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die die arme
-Schwindsüchtige alle Augenblicke zwangen, lange und qualvoll zu husten.
-Katerina Iwanowna schien in diesen acht Tagen noch magerer geworden zu
-sein, und die roten Flecken auf ihren Wangen brannten noch greller als
-früher.
-
-»Du kannst nicht glauben, du kannst es dir nicht vorstellen, Poljenka,«
-sagte sie, indem sie auf und ab ging, »wie lustig und prachtvoll wir im
-Hause meines Papas lebten, und wie dieser Trinker mich zugrunde
-gerichtet hat und euch alle zugrunde richten wird! Mein Papa war Oberst
-im Zivildienst und beinahe schon Gouverneur; er war ganz nahe daran, so
-daß alle zu ihm kamen und sagten: >Wir sehen Sie, Iwan Michailytsch,
-schon als unseren Gouverneur an.< Als ich ... khe! ... als ich ... khe
-... khe--khe ... oh, verfluchtes Leben!« rief sie aus, als sie
-ausgehustet hatte, und griff nach der Brust. »Als ich ... ach, auf dem
-letzten Balle ... bei dem Adelsmarschall ... mich die Fürstin
-Bessemeljanja erblickte, -- die mir späterhin den Segen gab, als ich
-deinen Papa heiratete, Polja, -- frug sie mich sofort: >Sind Sie nicht
-das liebe Mädchen, das mit dem Shawl beim Schlußexamen getanzt hatte?<
-... (Das Loch muß man zunähen, nimm eine Nadel und stopfe es sofort,
-sonst ... khe ... khe ... zerreißt es ... khe--khe--khe ... mor--gen
-noch mehr! rief sie fast erstickend aus.) ... Damals war aus Petersburg
-soeben der Kammerjunker Fürst Tschegolski angekommen ... er tanzte mit
-mir Mazurka und wollte am anderen Tage kommen, mir einen Antrag zu
-machen, aber ich dankte ihm in der schmeichelhaftesten Weise und sagte,
-daß mein Herz längst einem anderen gehöre. Dieser andere war dein Vater,
-Polja. Mein Papa war furchtbar böse ... Ist das Wasser fertig? Nun, gib
-das Hemd ... wo sind die Strümpfe? ... Lida,« wandte sie sich an die
-jüngste Tochter, »schlaf diese Nacht einmal ohne Hemd ... und lege die
-Strümpfe nebenan hin ... Ich will gleich mitwaschen ... Warum kommt der
-Lump nicht, der Trinker! Er trägt sein Hemd schon lange, es ist wie ein
-schmutziger Lappen, hat es auch zerrissen ... Ich würde es jetzt
-waschen, um mich nicht zwei Nächte nacheinander zu quälen! Herr Gott!
-Khe--khe--khe--khe! Schon wieder! Was ist das?« rief sie aus, als sie
-die Menge auf der Treppe erblickte, und ein paar Männer, die etwas in
-ihr Zimmer hineintrugen. »Was ist das? Was bringen sie da? Oh, Gott!«
-
-»Wo soll man ihn hinlegen?« fragte ein Schutzmann und sah sich um,
-nachdem man den blutbedeckten und besinnungslosen Marmeladoff in das
-Zimmer hineingebracht hatte.
-
-»Auf das Sofa! Legen Sie ihn auf das Sofa, mit dem Kopfe hierher!«
-zeigte Raskolnikoff.
-
-»Er ist überfahren worden, auf der Straße! Er war betrunken!« rief
-jemand von der Treppe aus.
-
-Katerina Iwanowna stand bleich und atmete schwer. Die Kinder waren
-erschrocken. Die kleine Lida schrie auf, stürzte zu Poljenka hin,
-umfaßte sie und erzitterte am ganzen Körper.
-
-Nachdem Marmeladoff gebettet war, eilte Raskolnikoff zu Katerina
-Iwanowna hin.
-
-»Beruhigen Sie sich, um Gotteswillen, erschrecken Sie nicht!« sagte er
-hastig. »Er ging über die Straße, eine Equipage hat ihn überfahren,
-beruhigen Sie sich, er wird zu sich kommen, ich habe angeordnet, daß man
-ihn hierher bringe ... ich war schon bei Ihnen, erinnern Sie sich ... Er
-wird zu sich kommen, ich will bezahlen!«
-
-»So weit hat er's gebracht!« schrie Katerina Iwanowna verzweifelt auf
-und stürzte zu ihrem Manne.
-
-Raskolnikoff merkte bald, daß diese Frau keine von denen war, die sofort
-in Ohnmacht fallen. Im Nu ward unter den Kopf des Unglücklichen ein
-Kissen geschoben, an das niemand gedacht hatte; Katerina Iwanowna begann
-ihn zu entkleiden, besah ihn, war die ganze Zeit um ihn und verlor nicht
-die Fassung; sie hatte ihr eigenes Leid vergessen, biß die zitternden
-Lippen zusammen und unterdrückte den Schrei, der sich ihrer Brust
-entringen wollte.
-
-Raskolnikoff hatte indessen jemand veranlaßt, einen Arzt zu holen. Wie
-es sich zeigte, wohnte im Nebenhause ein Arzt.
-
-»Ich habe nach einem Arzt geschickt,« sagte er zu Katerina Iwanowna,
-»beunruhigen Sie sich nicht, ich will bezahlen. Haben Sie Wasser? ...
-Geben Sie mir auch eine Serviette oder ein Handtuch, irgend etwas,
-schnell; man kann noch nicht sehen, wie stark er verletzt ist ... Er ist
-nur verletzt und nicht tot, seien Sie überzeugt. -- Wir wollen sehen,
-was der Arzt sagt!«
-
-Katerina Iwanowna rannte zum Fenster; dort stand in der Ecke auf einem
-durchgesessenen Stuhl eine große tönerne Schüssel mit Wasser, zum
-Waschen der Kinderwäsche und der Wäsche des Mannes. Diese nächtliche
-Wäsche vollzog Katerina Iwanowna selbst, wenigstens zweimal in der
-Woche, zuweilen auch öfters, denn sie waren so heruntergekommen, daß sie
-fast gar keine Wäsche zum Wechseln besaßen und daß jedes Mitglied der
-Familie nur hatte, was es auf dem Leibe trug; Katerina Iwanowna aber
-konnte Unreinlichkeit nicht vertragen und lieber quälte sie sich in der
-Nacht und über ihre Kraft, um bis zum Morgen die nasse Wäsche trocknen
-und ihnen reine Wäsche geben zu können, als Schmutz im Hause zu dulden.
-Sie ergriff die Schüssel, um sie Raskolnikoff hinzubringen, wäre aber
-fast damit hingefallen. Raskolnikoff hatte schon ein Handtuch gefunden,
-angefeuchtet und begann das mit Blut bedeckte Gesicht Marmeladoffs
-abzuwaschen. Katerina Iwanowna stand neben ihm, atmete schwer und hielt
-die Hände auf die Brust gepreßt. Sie brauchte selbst Hilfe. Raskolnikoff
-fing an, zu begreifen, daß er vielleicht töricht daran getan hatte, den
-Überfahrenen hierher schaffen zu lassen. Der Schutzmann stand noch
-unschlüssig da.
-
-»Polja!« rief Katerina Iwanowna, »laufe zu Ssonja, schnell. Wenn du sie
-nicht zu Hause triffst, sag, sag dort jedenfalls, daß Vater überfahren
-sei und daß sie sofort herkommen soll ... wenn sie nach Hause kommt.
-Schnell, Polja! Da hast du ein Tuch, bedecke dich!«
-
-»Lauf, was du kannst!« rief plötzlich der Kleine von seinem Stuhle, dann
-fiel er wieder in sein früheres Schweigen zurück und saß auf dem Stuhle
-kerzengerade, mit starren Augen und mit vorgestreckten Füßchen.
-
-Indessen füllte sich das Zimmer so an, daß man sich kaum rühren konnte.
-Die Polizeibeamten waren, außer einem, fortgegangen, der blieb eine
-Weile da und bemühte sich, die Zuschauer, die von der Treppe
-hereingedrungen waren, wieder hinauszutreiben. Aus den anderen Zimmern
-dagegen waren fast alle Mieter der Frau Lippewechsel erschienen, zuerst
-drängten sie sich nur an der Türe, dann aber überfluteten sie in einem
-Haufen das ganze Zimmer. Katerina Iwanowna geriet in Zorn.
-
-»Laßt ihn doch wenigstens ruhig sterben!« schrie sie die Menge an.
-»Meint ihr, hier wird eine Vorstellung gegeben? Mit Zigaretten im Munde
-kommen sie her! Khe--khe--khe! Setzt doch noch die Hüte auf den Kopf!
-... Da ist ja auch einer im Hute ... Hinaus mit euch! Habt doch
-wenigstens vor einem Sterbenden Achtung!«
-
-Der Husten erstickte sie fast, aber ihr Appell half. Man hatte offenbar
-vor Katerina Iwanowna Respekt; die Mieter zogen sich, einer nach dem
-anderen, zurück zu der Türe, mit dem eigentümlichen Gefühle der
-Befriedigung, das sich stets, sogar bei den Allernächsten, bemerklich
-macht, wenn einen ihrer Nebenmenschen ein Unglück trifft. Von diesem
-Gefühle ist kein Mensch, ohne jede Ausnahme, frei, mag er noch so
-aufrichtiges Mitleid und Teilnahme hegen.
-
-Hinter der Türe wurden Stimmen laut, die vom Krankenhaus sprachen und
-meinten, es gehöre sich nicht, hier unnütze Aufregung hervorzurufen.
-
-»Es gehört sich nicht, zu sterben!« rief Katerina Iwanowna und stürzte
-zur Türe hin, um sie zu öffnen und ihrem Zorne Luft zu machen, aber bei
-der Türe stieß sie mit Frau Lippewechsel zusammen, die soeben von dem
-Unglücke vernommen hatte und gelaufen kam, um Ordnung zu schaffen. Sie
-war eine außerordentlich alberne und fahrige Deutsche.
-
-»Ach mein Gott!« schlug sie die Hände zusammen. »Ihr Mann ist betrunken
-unter die Pferde geraten. Er muß ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!«
-
-»Amalie Ludwigowna! Ich bitte Sie, sich zu überlegen, was Sie sagen,«
-begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie stets im
-hochmütigen Tone, damit die »ihre Stellung nicht vergesse,« und konnte
-sich auch jetzt dieses Vergnügen nicht versagen), »Amalie Ludwigowna
-...«
-
-»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie mich nicht Amalie
-Ludwigowna nennen sollen, ich heiße Amalie Iwanowna.«
-
-»Sie heißen nicht Amalie Iwanowna, sondern Amalie Ludwigowna, und da ich
-nicht zu den schuftigen Schmeichlern gehöre, wie Herr Lebesjätnikoff,
-der jetzt hinter der Türe lacht« (hinter der Türe hörte man wirklich
-Lachen und den Ruf: »Sie sind sich in die Haare gefahren!«), »so werde
-ich Sie stets Amalie Ludwigowna nennen, obgleich ich gar nicht verstehen
-kann, warum Ihnen dieser Name nicht gefällt. Sie sehen selbst, was mit
-Ssemjon Sacharowitsch ist, -- er stirbt. Ich bitte Sie, diese Türe
-sofort abzuschließen und niemanden hereinzulassen. Lassen Sie ihn
-wenigstens ruhig sterben! Sonst, versichere ich Sie, wird über Ihre
-Handlungsweise noch morgen der Generalgouverneur selbst erfahren. Der
-Fürst kannte mich, als ich noch ein junges Mädchen war, und erinnert
-sich sehr gut Ssemjon Sacharowitschs, dem er viele Male geholfen hat. Es
-ist allen bekannt, daß Ssemjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner
-hatte, von denen er sich selbst in edlem Stolz zurückgezogen hatte, weil
-er sich seiner unglücklichen Schwäche bewußt war, jetzt aber (sie zeigte
-auf Raskolnikoff) hilft uns ein großmütiger junger Mann, der Mittel und
-Verbindungen besitzt, und den Ssemjon Sacharowitsch noch als Kind
-gekannt hat, und seien Sie versichert, Amalie Ludwigowna ...«
-
-Dies alles wurde mit außerordentlicher Schnelligkeit hervorgestoßen, und
-je länger desto schneller; aber der Husten unterbrach mit einem Male die
-Rede von Katerina Iwanowna. In diesem Augenblicke kam der Sterbende zu
-sich und stöhnte auf, und sie lief zu ihm hin. Er öffnete die Augen, und
-ohne jemand zu erkennen und etwas zu verstehen, begann er den über ihn
-gebeugten Raskolnikoff zu betrachten. Er atmete schwer, tief und mit
-großen Pausen: auf den Lippen zeigte sich Blut; der Schweiß trat ihm auf
-die Stirn. Da er Raskolnikoff nicht erkannt hatte, begann er unruhig die
-Augen hin und her zu wenden. Katerina Iwanowna blickte ihn voll
-Traurigkeit, aber streng an; aus ihren Augen quollen Tränen.
-
-»Mein Gott! Seine ganze Brust ist zerquetscht! Sehen Sie, wieviel Blut!«
-sagte sie voll Verzweiflung.
-
-»Man muß ihn ausziehen! Dreh dich etwas um, Ssemjon Sacharowitsch, wenn
-du kannst,« rief sie ihm zu.
-
-Marmeladoff erkannte sie.
-
-»Einen Priester!« sagte er mit heiserer Stimme. Katerina Iwanowna ging
-zum Fenster, lehnte die Stirn an den Fensterrahmen und rief verzweifelt
-aus:
-
-»Oh, dreimal verfluchtes Leben!«
-
-»Priester!« sagte nach einer Weile von neuem der Sterbende.
-
-»Man holt ihn schon!« schrie ihn Katerina Iwanowna an; da schwieg er.
-
-Mit schüchternem, traurigem Blicke suchte er sie; sie war wieder zu ihm
-zurückgekehrt und stellte sich an seinem Kopfe hin. Er beunruhigte sich
-ein wenig, aber es dauerte nicht lange. Seine Augen blieben bald an der
-kleinen Lidotschka (seinem Liebling) in der Ecke haften, die wie im
-Fieber zitterte und ihn mit erstaunten, weit aufgerissenen Augen ansah.
-
-»Ach ... ach ...« zeigte er voll Unruhe auf sie. Er wollte etwas sagen.
-
-»Was ist denn?« rief Katerina Iwanowna.
-
-»Barfuß. Barfuß!« murmelte er und zeigte mit einem irren Blick auf die
-nackten Füßchen des Kindes.
-
-»Schweig!« rief gereizt Katerina Iwanowna. »Du weißt selbst, warum sie
-barfuß ist.«
-
-»Gott sei Dank, da ist der Arzt!« rief erfreut Raskolnikoff.
-
-Der Arzt, ein sorgfältig gekleideter, alter Mann, ein Deutscher, trat
-ein und blickte mißtrauisch um sich; er trat zu dem Verunglückten heran,
-fühlte seinen Puls, betastete aufmerksam den Kopf, öffnete das mit Blut
-völlig durchtränkte Hemd und machte die Brust frei. Die Brust war ganz
-zerquetscht, eingedrückt und zerrissen, einige Rippen auf der rechten
-Seite waren gebrochen. Auf der linken Seite, ganz am Herzen, war ein
-schrecklicher, großer, gelblich schwarzer Fleck, ein furchtbarer
-Hufschlag. Des Arztes Blick wurde trüb. Der Schutzmann erzählte ihm, daß
-der Verunglückte von einem Rade erfaßt und etwa dreißig Schritte auf der
-Straße geschleift worden sei.
-
-»Merkwürdig, daß er noch zu sich gekommen ist,« flüsterte der Arzt leise
-Raskolnikoff zu.
-
-»Was meinen Sie?« fragte der.
-
-»Er wird gleich sterben.«
-
-»Gibt es gar keine Hoffnung?«
-
-»Nicht die geringste. Er liegt in den letzten Zügen ... Außerdem ist der
-Kopf sehr gefährlich verletzt ... Hm. Vielleicht könnte man ihn noch zu
-Ader lassen ... aber ... es ist nutzlos. Nach fünf oder zehn Minuten
-stirbt er unbedingt.«
-
-»Lassen Sie ihn doch zu Ader!«
-
-»Gut ... Ich sage aber im voraus, es ist völlig nutzlos.«
-
-In diesem Augenblicke ertönten Schritte, die Menge auf der Treppe machte
-Platz und auf der Schwelle erschien der Priester, ein alter Mann, mit
-den Sakramenten. Ihn hatte ein Schutzmann sofort nach dem Unglück
-geholt. Der Arzt trat ihm sofort seinen Platz ab und wechselte mit ihm
-einen bedeutungsvollen Blick. Raskolnikoff bat den Arzt, noch eine Weile
-zu bleiben. Der zuckte die Achseln und blieb.
-
-Alle traten zurück. Die Beichte dauerte nicht lange. Der Sterbende
-schien kaum etwas zu verstehen; er konnte bloß abgerissene, unklare
-Laute hervorbringen. Katerina Iwanowna hatte Lidotschka an die Hand
-genommen, den Knaben vom Stuhle heruntergeholt, war mit ihnen in eine
-Ecke am Ofen gegangen, auf die Knie gesunken, die Kinder vor sich. Das
-kleine Mädchen zitterte; der Knabe aber lag auf seinen nackten Knien
-ernst da, erhob sein Händchen, schlug ein großes Kreuz und beugte sich
-zum Boden nieder, wobei er mit der Stirne anstieß, was ihm anscheinend
-Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich auf die Lippen und hielt
-die Tränen zurück; sie betete auch; ab und zu zog sie dem Knaben das
-Hemdchen zurecht, und warf über die nackten Schultern des Mädchens ein
-Tuch, das sie von der Kommode nahm, ohne sich zu erheben und weiter
-betend. Indessen wurde die Türe zu den anderen Zimmern wieder von
-Neugierigen geöffnet. Im Treppenflure drängten sich immer mehr und mehr
-Zuschauer, Mieter vom ganzen Hause, aber ohne die Schwelle des Zimmers
-zu überschreiten. Ein Lichtstümpfchen beleuchtete die ganze Szene.
-
-In diesem Augenblicke drängte sich durch die Menge auf dem Flure
-Poljenka, die gelaufen war, die Schwester zu holen. Sie kam atemlos vom
-schnellen Laufen, nahm ihr Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter,
-trat an sie heran und sagte: »Sie kommt! Ich habe sie auf der Straße
-getroffen!« Die Mutter zog sie neben sich auf die Knie. Durch die Menge
-drängte sich leise und schüchtern ein junges Mädchen, und ihre
-Erscheinung in diesem Zimmer, mitten in dieser Armut, Lumpen, Tod und
-Verzweiflung war grotesk. Sie war auch in Lumpen; ihre Kleidung war von
-billiger Sorte, aber straßenmäßig geschmückt, mit Geschick und
-Verständnis für ihren besonderen Zweck und diesen Zweck in peinlich
-aufdringlicher Weise unterstreichend. Ssonja blieb im Flure neben der
-Schwelle stehen, trat nicht in das Zimmer und blickte wie verloren vor
-sich hin; sie schien ganz fassungslos, schien vergessen zu haben, daß
-sie ein seidenes, farbiges, aus vierter Hand gekauftes und hier
-unpassendes Kleid anhatte, mit einer langen und lächerlichen Schleppe
-und einer ungeheuren Krinoline, die die ganze Türe einnahm, auch daß sie
-helle Stiefel und einen Sonnenschirm trug, den sie doch in der Nacht
-nicht brauchte, und einen lächerlichen runden Strohhut mit einer grell
-feuerroten Feder aufhatte. Unter diesem keck aufgesetzten Hute blickte
-ein mageres, bleiches und erschrockenes Gesichtchen hervor, mit
-geöffnetem Munde und vor Schreck unbeweglichen Augen. Ssonja war klein
-von Wuchs, etwa achtzehn Jahre alt, mager, aber eine hübsche Blondine
-mit wundervollen blauen Augen. Sie blickte starr auf das Sofa und auf
-den Priester und atmete schwer vom schnellen Gehen. Wahrscheinlich hatte
-sie das Flüstern und einige Worte unter der Menge vernommen. Sie senkte
-den Kopf, tat einen Schritt über die Schwelle und blieb im Zimmer
-stehen, wieder aber ganz an der Türe.
-
-Die Beichte und das Abendmahl waren beendet. Katerina Iwanowna ging
-wieder an das Lager ihres Mannes. Der Priester trat zurück und wandte
-sich beim Weggehen an Katerina Iwanowna, um ihr ein paar Worte zum Trost
-und als Beileid zu sagen.
-
-»Wo soll ich denn mit diesen hin?« unterbrach sie ihn scharf und gereizt
-und zeigte auf die Kleinen.
-
-»Gott ist gnädig. Vertrauen Sie auf die Hilfe des Allmächtigen,« begann
-der Priester.
-
-»Ja--a! Er ist gnädig, aber nicht für uns!«
-
-»So etwas zu sagen ist eine Sünde, meine Dame,« bemerkte der Priester
-und schüttelte den Kopf.
-
-»Und ist das keine Sünde?« rief Katerina Iwanowna aus und wies auf den
-Sterbenden.
-
-»Vielleicht werden die, welche die unwillkürliche Ursache waren, bereit
-sein, es Ihnen zu entgelten, wenigstens hinsichtlich des verlorenen
-Verdienstes ...«
-
-»Sie verstehen mich nicht!« rief gereizt Katerina Iwanowna und winkte
-mit der Hand ab. »Ja, wofür sollen sie mich entgelten? Er ist ja selbst
-betrunken unter den Wagen geraten? Was für ein Verdienst? Wir hatten von
-ihm keinen Verdienst, sondern nur Qual. Er vertrank doch alles! Er
-bestahl uns und schleppte es in die Schenke, das Leben der Kinder und
-meines hat er in der Schenke verpraßt. Und Gott sei Dank, daß er stirbt!
-Weniger Ausgaben bedeutet es!«
-
-»Sie sollten lieber in der Todesstunde verzeihen. Solche Gefühle zu
-haben, ist eine große Sünde!« Katerina Iwanowna war um den Sterbenden
-bemüht, sie reichte ihm zu trinken, trocknete den Schweiß und das Blut
-von seinem Kopfe, machte die Kissen zurecht und während der Arbeit
-unterhielt sie sich mit dem Priester, wobei sie sich nur selten zu ihm
-wandte. Jetzt aber stürzte sie sich fast rasend auf ihn.
-
-»Ach, Väterchen! Das sind nur Worte und weiter nichts! Verzeihung! Sehen
-Sie, wenn er nicht überfahren wäre, wäre er heute betrunken nach Hause
-gekommen, -- er hat nur ein Hemd, ganz schmutzig und zerrissen, -- er
-hätte sich schlafen gelegt, ich aber hätte bis zum frühen Morgen im
-Wasser geplantscht, seine Lumpen und die Kinderwäsche gewaschen, hätte
-es vor dem Fenster getrocknet, und wenn der Morgen gekommen wäre, hätte
-ich mich hingesetzt und die Sachen ausgebessert, -- sehen Sie, das wäre
-meine Nachtruhe gewesen! ... Also, was ist da vom Verzeihen zu reden!
-Ich habe auch so verziehen!«
-
-Ein hohler, schrecklicher Husten unterbrach sie. Sie hustete, spie in
-ein Taschentuch, hielt die eine Hand vor Schmerz an die Brust und zeigte
-mit der anderen dem Priester das Taschentuch. Das Taschentuch war voll
-Blut ...
-
-Der Priester senkte den Kopf und schwieg.
-
-Marmeladoff lag in den letzten Zügen; er wandte von Katerina Iwanowna,
-die sich wieder über ihn gebeugt hatte, seine Augen nicht ab. Er wollte
-ihr immer etwas sagen, er begann auch, bewegte voll Anstrengung die
-Zunge und sprach die Worte unklar aus, aber Katerina Iwanowna, die
-verstanden hatte, daß er sie um Verzeihung bitten möchte, rief ihm
-sofort in befehlendem Tone zu:
-
-»Schweig ... schweig! Ist nicht nötig! ... Ich weiß, was du sagen
-willst! ...«
-
-Und der Sterbende verstummte, aber in diesem Augenblicke fiel sein
-irrender Blick auf die Türe, und er erblickte Ssonja.
-
-Vorher hatte er sie nicht bemerkt, -- sie stand im Schatten in der Ecke.
-
-»Wer ist das? Wer ist das?« sagte er plötzlich mit heiserer,
-erstickender Stimme, ganz aufgeregt und zeigte voll Schrecken mit den
-Augen auf die Türe, wo seine Tochter stand, und versuchte sich zu
-erheben.
-
-»Bleib liegen!« rief Katerina Iwanowna. Ihm war es mit unnatürlicher
-Anstrengung gelungen, sich auf seine Hand zu stützen. Er sah wild und
-unbeweglich eine Weile die Tochter an, als ob er sie nicht erkenne. Er
-hatte sie auch noch nie in diesem Aufzuge gesehen. Plötzlich erkannte er
-sie, die gedemütigte, völlig niedergeschlagene, geputzte und sich
-schämende, die demütig wartete, bis an sie die Reihe kam, vom sterbenden
-Vater Abschied zu nehmen. Ein grenzenloses Leid zeigte sich auf seinem
-Gesichte.
-
-»Ssonja! Tochter! Verzeih!« rief er und wollte nach ihr die Hand
-ausstrecken, aber er verlor das Gleichgewicht und stürzte vom Sofa mit
-dem Gesichte zu Boden. Man lief hin, um ihn aufzuheben und legte ihn auf
-das Sofa hin, aber er war schon im Sterben. Ssonja schrie schwach auf,
-lief hin, umarmte ihn und blieb bewegungslos stehen. Er starb in ihren
-Armen.
-
-»Er hat's erreicht!« rief Katerina Iwanowna, als sie ihren Mann tot sah.
-»Aber was soll ich jetzt tun! Womit soll ich ihn beerdigen? Und womit
-soll ich diese hier füttern?«
-
-Raskolnikoff trat zu Katerina Iwanowna.
-
-»Katerina Iwanowna,« begann er. »Ihr verstorbener Gatte erzählte mir in
-der vorigen Woche sein ganzes Leben und alle seine Verhältnisse ...
-Seien Sie versichert, daß er von Ihnen mit Wärme und Achtung sprach.
-Seit diesem Abend, als ich erfuhr, wie er an Ihnen hing und wie er Sie,
-Katerina Iwanowna, besonders hochschätzte und liebte, trotz seiner
-unglücklichen Schwäche, seit diesem Abend waren wir Freunde ... Erlauben
-Sie mir jetzt also ... Ihnen behilflich zu sein ... meinem verstorbenen
-Freunde die letzte Ehre erweisen zu können. Sehen Sie, hier habe ich ...
-zwanzig Rubel, glaube ich ... und wenn dies Ihnen eine Hilfe sein kann,
-so ... ich ... will mit einem Worte wiederkommen, ... ich komme
-unbedingt ... ich komme unbedingt ... ich komme vielleicht schon morgen
-zu Ihnen ... Leben Sie wohl!«
-
-Und er ging schnell aus dem Zimmer und drängte sich durch die Menge, da
-aber stieß er plötzlich mit Nikodim Fomitsch, dem Polizeikommissar,
-zusammen, der von dem Unglück gehört hatte und persönlich Anordnungen
-treffen wollte. Seit dem Auftritt im Polizeibureau hatten sie einander
-nicht gesehen, aber Nikodim Fomitsch erkannte ihn sofort.
-
-»Ah, Sie sind hier?« fragte er.
-
-»Er ist gestorben,« antwortete Raskolnikoff. »Ein Arzt war dagewesen,
-auch ein Priester war da, alles ist in Ordnung. Regen Sie die arme Frau
-nicht auf, sie hat ohnedem die Schwindsucht. Flößen Sie ihr Mut ein, so
-gut Sie können ... Sie sind ja ein guter Mensch, ich weiß es ...« fügte
-er mit einem schiefen Lächeln hinzu und blickte ihm in die Augen.
-
-»Wie Sie sich mit Blut befleckt haben,« bemerkte Nikodim Fomitsch, als
-er beim Lichte der Laterne einige frische Flecken auf der Weste
-Raskolnikoffs erblickte.
-
-»Ja, ich habe mich bespritzt ... ich bin mit Blut bedeckt!« sagte
-Raskolnikoff mit einem eigentümlichen Ausdruck, lächelte, nickte ihm zu
-und ging die Treppe hinab. Er stieg langsam hinab, ohne sich zu beeilen,
-tief ergriffen, voll von einem einzigen, neuen, unermeßlichen Gefühl,
-das als volle und mächtige Lebenswelle über ihn gekommen war. Ein
-Gefühl, das dem eines zu Tode Verurteilten gleichen mochte, dem man
-unerwartet die Begnadigung mitgeteilt hatte. Auf der Treppe überholte
-ihn der Priester, der nach Hause ging; Raskolnikoff ließ ihn schweigend
-an sich vorübergehen und wechselte mit ihm einen stummen Gruß. Als er
-aber die letzten Stufen hinabschritt, hörte er eilige Schritte hinter
-sich. Jemand wollte ihn einholen. Es war Poljenka, sie lief ihm nach und
-rief: »Hören Sie, hören Sie doch!«
-
-Sie kam die letzte Treppe herab und blieb eine Stufe über ihm stehen.
-Ein schwaches Licht drang vom Hofe herein. Raskolnikoff schaute in das
-magere, aber liebe Gesichtchen des kleinen Mädchens, das ihm zulächelte
-und ihn fröhlich, nach Kinderart, ansah. Sie war mit einem Auftrage
-gekommen, der ihr selbst sehr zu gefallen schien.
-
-»Sagen Sie mir, wie heißen Sie denn? ... und noch ... wo wohnen Sie
-denn?« fragte sie ihn hastig mit erstickendem Stimmchen.
-
-Er legte beide Hände auf ihre Schultern und blickte sie glücklich an. Es
-war ihm wohltuend, sie anzusehen, -- er wußte selbst nicht warum.
-
-»Wer hat dich zu mir geschickt?«
-
-»Schwesterchen Ssonja hat mich geschickt,« antwortete das kleine Mädchen
-und lächelte noch freundlicher.
-
-»Ich wußte, daß Schwesterchen Ssonja dich geschickt hat.«
-
-»Mama hat mich auch geschickt. Als Schwesterchen Ssonja mich schickte,
-kam Mama auch und sagte: Ja, lauf schnell, Poljenka!«
-
-»Liebst du Schwesterchen Ssonja?«
-
-»Ich liebe sie mehr als alle anderen!« sagte Poljenka mit besonderer
-Festigkeit, und ihr Gesicht wurde plötzlich ernst.
-
-»Wirst du mich auch lieben können?«
-
-Anstatt einer Antwort näherte sich ihm das Gesichtchen des Kindes, und
-die kleinen Lippen streckten sich ihm zum Kuß entgegen. Ihre Ärmchen,
-streichhölzchendünn, umschlangen ihn kräftig, ihr Kopf senkte sich auf
-seine Schulter, und das kleine Mädchen fing leise an zu weinen und
-preßte sich immer fester und fester mit dem Gesicht an ihn.
-
-»Papa tut mir so leid!« sagte sie nach einer Weile, hob ihr verweintes
-Gesichtchen in die Höhe und wischte sich mit den Händen die Tränen ab.
-»Wir haben immer Unglück,« fügte sie unerwartet hinzu und mit jenem
-besonders wichtigen Ausdruck, den Kinder annehmen, wenn sie wie
-Erwachsene sprechen wollen.
-
-»Papa hat dich auch geliebt?«
-
-»Er hat Lidotschka mehr als uns alle geliebt,« fuhr sie mit dem gleichen
-Ernste fort, »er liebte sie, weil sie klein und krank ist, und er
-brachte ihr immer etwas mit, uns aber lehrte er das Lesen, und mich
-Grammatik und Religion,« fügte sie mit Stolz hinzu, »Mama sagte nichts
-dazu, aber wir wußten doch, daß sie das gern hatte, und Papa wußte es
-auch. Mama will mich Französisch lehren, es ist Zeit, daß ich eine
-Erziehung erhalte.«
-
-»Kannst du auch beten?«
-
-»Oh, gewiß können wir es. Schon lange, ich bete, seitdem ich groß bin,
-allein für mich, Kolja und Lidotschka beten laut mit Mama; zuerst sagen
-sie das Gebet an die Gottesmutter und dann noch ein Gebet, >lieber Gott,
-verzeihe und segne Schwesterchen Ssonja,< und dann >lieber Gott,
-verzeihe und segne unsern andern Papa,< denn unser älterer Papa ist
-schon gestorben, dieser war unser zweiter Papa, doch wir beten auch für
-ihn.«
-
-»Poletschka, ich heiße Rodion; bete auch für mich einmal, -- >für den
-Gottesknecht Rodion< -- und mehr nicht.«
-
-»Ich werde mein ganzes künftiges Leben für Sie beten,« sagte eifrig das
-kleine Mädchen, lachte wieder heiter und umarmte ihn von neuem.
-Raskolnikoff nannte ihr seinen Namen, gab ihr seine Adresse und
-versprach, morgen unbedingt zu ihr zu kommen. Das kleine Mädchen ging
-völlig entzückt von ihm. Es war die elfte Stunde, als er auf die Straße
-hinaustrat. Nach fünf Minuten stand er auf der Brücke, genau an
-derselben Stelle, wo vorhin die Frau sich ins Wasser gestürzt hatte.
-
-»Genug!« sagte er entschlossen und feierlich, »fort mit den
-Traumgebilden, fort mit den eingebildeten Schrecken, fort mit den
-Gespenstern! ... Es gibt noch ein Leben! Habe ich eben nicht gelebt?
-Mein Leben ist noch nicht mit der alten Witwe gestorben! Möge ihr das
-Himmelreich beschieden sein und, -- und genug, Mütterchen, es ist Zeit
-für dich zu ruhen! Das Reich der Vernunft und des Lichtes ist jetzt
-gekommen! ... und ... und des Willens ... und der Kraft ... und nun
-wollen wir sehen! Wir wollen unsere Kräfte messen« fügte er
-herausfordernd hinzu, als wende er sich an eine dunkle Macht und fordere
-sie zum Kampfe auf. »Und ich war schon bereit, mich auf den ellenlangen
-Raum einzurichten!«
-
-»... Sehr schwach fühle ich mich in diesem Augenblicke, aber ... es
-scheint, die Krankheit ist vorüber. Ich wußte, daß sie vergehen wird,
-als ich vor kurzem wegging. Wie ist mir denn -- ist nicht das Haus
-Potschinkoff kaum zwei Schritte von hier. Jetzt gehe ich zu Rasumichin,
-wenn es auch nicht nur zwei Schritte wären ... mag er die Wette
-gewinnen! ... mag er auch sein Vergnügen haben, -- tut nichts, mag er es
-haben! Kraft, Kraft ist nötig, -- ohne Kraft kann man nichts überwinden,
-und die Kraft muß wieder durch Kraft erworben werden, aber davon haben
-sie keine Ahnung,« fügte er stolz und selbstbewußt hinzu, und konnte
-kaum seine Füße noch heben. Der Stolz und das Selbstvertrauen wuchsen
-mit jeder Minute in ihm; im nächsten Augenblicke war er schon ein
-anderer Mensch als in dem vorhergehenden. Was war mit ihm Besonderes
-vorgegangen, das ihn so verwandelt hatte? Er wußte es selbst nicht; ihm
-war es wie einem Menschen, der nach einem Strohhalm greift, um sich zu
-retten; und es war ihm, als ob es noch Leben gab für ihn, als ob sein
-Leben mit der Alten nicht gestorben sei. Vielleicht war er zu eilig mit
-der Schlußfolgerung, aber daran dachte er nicht.
-
-»Den Gottesknecht Rodion soll sie im Gebet nennen,« durchfuhr es ihn,
-»und das ist ... für alle Fälle!« fügte er hinzu, und mußte selber über
-den Einfall lachen.
-
-Er befand sich in ausgezeichneter Stimmung.
-
-Rasumichin fand er mit Leichtigkeit; im Hause Potschinkoff kannte man
-schon den neuen Mieter, und der Hausknecht zeigte ihm sogleich den Weg.
-Auf der halben Treppe konnte man den Lärm und die lebhaften Stimmen
-einer großen Gesellschaft vernehmen. Die Türe zur Treppe war
-sperrangelweit auf; man hörte, wie geschrien und gestritten wurde.
-Rasumichins Zimmer war ziemlich groß, und es waren etwa fünfzehn
-Menschen bei ihm. Raskolnikoff blieb im Flure stehen. Hier, hinter einer
-Rollwand, waren zwei Mädchen der Wirtsleute mit zwei großen Samowars
-beschäftigt, hier standen Flaschen, Teller und Schüsseln mit Pasteten
-und Imbiß, die aus der Küche der Wirtsleute hierher geschafft worden
-waren. Raskolnikoff ließ Rasumichin herausholen. Der kam freudig
-überrascht herausgelaufen. Man merkte beim ersten Blick, daß er
-ungewöhnlich viel getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich nie
-betrunken hatte, konnte man es ihm dieses Mal doch anmerken.
-
-»Höre,« beeilte sich Raskolnikoff zu sagen, »ich bin nur hergekommen, um
-dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast, und daß tatsächlich
-niemand wissen kann, was alles mit ihm geschieht. Hineingehen kann ich
-nicht, -- ich fühle mich zu schwach, so daß ich fürchten muß,
-hinzufallen. Und darum sage ich dir gleich >Guten Abend< und >Lebewohl<!
-Komm du morgen zu mir ...«
-
-»Weißt du was, ich begleite dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst,
-daß du dich schwach fühlst, da ...«
-
-»Und deine Gäste? Wer ist dieser mit dem lockigen Haar, der soeben
-herausguckte?«
-
-»Der? Weiß der Teufel, wer er ist! Wahrscheinlich ein Bekannter meines
-Onkels, vielleicht ist er auch ohne Aufforderung hergekommen ... Ich
-lasse den Onkel bei den Gästen; er ist ein prächtiger Mensch. Schade,
-daß du ihn jetzt nicht kennenlernst. Im übrigen, hol sie alle der
-Teufel! Jetzt haben sie keine Zeit, an mich zu denken, und ich muß
-frische Luft schöpfen; du bist mir sehr gelegen gekommen. Noch zwei
-Minuten und ich hätte mich mit ihnen geprügelt, bei Gott! Sie lügen so
-das dümmste Zeug zusammen ... Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß
-der Mensch im Lügen ist! Na, warum sollst du es dir nicht vorstellen
-können? Wir lügen doch selbst? Ja, mögen sie auch jetzt lügen, dafür
-werden sie später nicht mehr lügen ... Warte einen Augenblick, ich sage
-es noch Sossimoff ...«
-
-Sossimoff eilte hastig auf Raskolnikoff zu; man merkte in ihm eine
-besondere Neugierde, jedoch sein Gesicht hellte sich sofort auf.
-
-»Gleich ins Bett,« sagte er, nachdem er nach Möglichkeit den Kranken
-untersucht hatte, »und zur Nacht nehmen Sie noch ein Pülverchen. Wollen
-Sie es nicht? Ich habe schon vorher für Sie ... ein Pülverchen
-bereitet.«
-
-»Meinetwegen nehme ich auch zwei Pulver,« antwortete Raskolnikoff.
-
-Und das Pulver wurde sofort eingenommen.
-
-»Es ist sehr gut, daß du ihn begleitest,« sagte Sossimoff zu Rasumichin,
-»wie es morgen sein wird, werden wir sehen, heute ist es nicht übel mit
-ihm, -- eine bedeutende Verbesserung seit kurzem. Man lernt sein ganzes
-Leben ...«
-
-»Weißt du, was Sossimoff mir soeben zuflüsterte, als wir fortgingen,«
-platzte Rasumichin heraus, als sie auf die Straße traten. »Ich will dir,
-Bruder, nicht alles so direkt sagen, denn sie sind Dummköpfe. Sossimoff
-bat mich, den ganzen Weg mit dir zu schwatzen und dich selbst zum
-Schwatzen zu veranlassen, um ihm dann alles nachher zu erzählen, denn er
-hat eine Idee ... nämlich daß du ... verrückt seist, oder nahe daran
-bist. Stell' dir das vor! Erstens bist du dreimal klüger als er,
-zweitens, wenn du nicht verrückt bist, pfeifst du darauf, daß er so
-dummes Zeug im Kopfe hat, und drittens, dieses Stück Fleisch, trotz
-seiner Spezialität für Chirurgie, ist jetzt auf Geisteskrankheiten
-versessen, und in bezug auf dich hat ihn dein heutiges Gespräch mit
-Sametoff endgültig darauf gebracht.«
-
-»Hat dir Sametoff alles erzählt?«
-
-»Ja, alles, und es ist sehr gut, daß er es erzählt hat. Jetzt habe ich
-alles, auch was drum und dran hängt, begriffen, und Sametoff hat auch
-begriffen ... Nun ja, mit einem Worte, Rodja ... die Sache ist die ...
-Ich bin jetzt ein bißchen betrunken ... Aber das tut nichts ... die
-Sache ist die, daß dieser Gedanke ... verstehst du? ... in der Tat ihnen
-hin und wieder kam ... verstehst du? Das heißt, niemand wagte es laut
-auszusprechen, denn es ist das dümmste Zeug, und besonders, nachdem man
-diesen Anstreicher verhaftet hatte, zerfiel alles in nichts und
-verschwand auf immer. Aber warum sind sie solche Dummköpfe? Ich hatte
-damals Sametoff ein wenig verprügelt, -- das soll unter uns bleiben,
-Bruder; bitte, laß dir auch nicht das geringste merken, daß du es weißt,
-ich habe bemerkt, daß er empfindlich ist, es geschah bei Louisa, --
-heute, heute wurde alles klar. Hauptsächlich dieser Ilja Petrowitsch! Er
-benutzte damals deine Ohnmacht im Polizeibureau, später schämte er sich
-selber dessen, ich weiß es ...«
-
-Raskolnikoff hörte aufmerksam zu. Rasumichin plapperte in seiner
-Trunkenheit alles aus.
-
-»Ich fiel damals darum in Ohnmacht, weil so schlechte Luft war und weil
-die Ölfarbe so widerlich roch,« sagte Raskolnikoff.
-
-»Du willst noch erklären! Nicht die Ölfarbe war es allein, die Krankheit
-bereitete sich schon einen ganzen Monat vor, -- Sossimoff ist doch
-Zeuge! Aber wie niedergeschlagen jetzt dieser Junge -- Sametoff -- ist,
-du kannst dir es nicht vorstellen! -- >Ich bin den kleinen Finger dieses
-Menschen nicht mal wert<, sagt er. Das heißt _deinen_ kleinen Finger. Er
-hat zuweilen schöne Gefühle, Bruder. Aber die Lehre, die heutige Lehre
-im Kristallpalast -- das ist der Hauptcoup! Du hast ihn zuerst
-erschreckt und fast zum Wahnsinn gebracht! Du hast ihn fast gezwungen,
-wieder an diesen ganzen scheußlichen Unsinn zu glauben und dann
-plötzlich zeigtest du ihm die Zunge, -- als würdest du sagen, -- na, da
-hast du es jetzt, glaubst du nun? Es war köstlich! Er ist jetzt
-zermalmt, zerknirscht! Du bist ein Meister, bei Gott, so muß man mit
-ihnen umspringen! Schade, daß ich nicht dabei war! Er erwartete dich
-jetzt sehnlichst bei mir. Porphyri will dich auch kennenlernen ...«
-
-»Ah ... auch der ... Und warum halten sie mich für verrückt?«
-
-»Das heißt nicht für verrückt. Ich habe, scheint mir, da zuviel gesagt
-... Siehst du, es setzte ihn in Erstaunen, daß dich diese Sache
-interessiert; wo er alle Umstände kennt ... und er sah, wie es dich
-gereizt hatte und wie es mit deiner Krankheit zusammenfiel ... Ich bin
-ein wenig betrunken, Bruder, aber weiß der Teufel, er hat so seine
-eigene Idee ... Ich sage dir, -- er ist jetzt auf Geisteskrankheiten
-versessen. Pfeif' ihm darauf ...«
-
-Beide schwiegen eine Weile.
-
-»Höre, Rasumichin,« begann Raskolnikoff, »ich will dir offen gestehen;
-ich war soeben bei einem Sterbenden, Beamter ist er gewesen ... dort
-habe ich mein ganzes Geld hergegeben ... außerdem hat mich soeben ein
-Wesen geküßt, das auch, wenn ich wirklich jemand ermordet hätte, ebenso
-... mit einem Worte, ich habe dort noch ein anderes Wesen gesehen ...
-mit einer feuerroten Feder ... übrigens, aber ich phantasiere ... ich
-bin sehr schwach, stütze mich ... gleich sind wir bei der Treppe ...«
-
-»Was ist mit dir? Was ist mit dir?« fragte Rasumichin ängstlich.
-
-»Mir schwindelt ein wenig der Kopf, aber das ist es nicht, mir ist so
-traurig, so traurig ... wie jener Frau ... es ist wahr! Sieh, was ist
-das? Sieh! Sieh!«
-
-»Was denn?«
-
-»Siehst du denn nicht? Siehst du nicht, in meinem Zimmer ist Licht!
-Durch die Ritze ...«
-
-Sie standen schon auf dem letzten Treppenabsatz, neben der Türe zu der
-Wirtin Wohnung; man konnte wirklich von unten aus sehen, daß
-Raskolnikoffs Kammer erleuchtet war.
-
-»Sonderbar! Es ist vielleicht Nastasja,« bemerkte Rasumichin.
-
-»Sie ist niemals um diese Zeit bei mir, und außerdem schläft sie schon
-längst, doch ... mir ist es einerlei. Lebe wohl!«
-
-»Was ist dir? Ich begleite dich doch, wir gehen beide hinein!«
-
-»Ich weiß, daß wir zusammen hineingehen werden, aber ich will hier deine
-Hand drücken und hier von dir Abschied nehmen. Da, gib mir die Hand,
-lebwohl!«
-
-»Was ist dir, Rodja?«
-
-»Nichts ... komm, wir gehen ... du wirst Zeuge sein ...«
-
-Sie begannen die Treppe hinaufzusteigen, und Rasumichin durchzuckte der
-Gedanke, daß Sossimoff doch vielleicht recht habe. »Ach! Ich habe ihn
-mit meinem Geschwätz verwirrt!« murmelte er vor sich hin. Als sie an die
-Türe kamen, hörten sie Stimmen im Zimmer.
-
-»Was ist da los?« rief Rasumichin aus.
-
-Raskolnikoff ergriff zuerst die Türklinke und öffnete die Türe weit und
-blieb wie versteinert auf der Schwelle stehen.
-
-Seine Mutter und Schwester saßen auf dem Sofa und warteten auf ihn schon
-seit anderthalb Stunden. Sie hatte er am allerwenigsten erwartet und
-noch weniger an sie gedacht, trotzdem ihm heute noch einmal die
-Mitteilung geworden war, daß sie abgereist, unterwegs wären und jeden
-Augenblick ankommen könnten. Sie hatten die anderthalb Stunden, einander
-unterbrechend, Nastasja ausgefragt, die auch jetzt noch vor ihnen stand
-und ihnen schon alles erzählt hatte, und waren vor Schreck fast gelähmt,
-als sie hörten, daß er »heute weggelaufen sei,« krank, wie er war, und
-sicher nicht bei vollem Bewußtsein, wie man aus der Erzählung entnehmen
-konnte! »Mein Gott, was wird mit ihm geschehen sein!« Sie weinten beide,
-und beide hatten in diesen anderthalb Stunden Folterqualen erlitten.
-
-Ein freudiger, entzückter Schrei begrüßte Raskolnikoffs Erscheinen.
-Beide stürzten auf ihn zu. Er aber stand wie leblos da; eine
-unerträgliche Empfindung hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Seine Hände
-erhoben sich nicht, um sie zu umarmen, -- sie konnten sich nicht
-erheben. Die Mutter und Schwester erdrückten ihn in ihrer Umarmung,
-küßten ihn, lachten und weinten ... Er tat einen Schritt, schwankte und
-stürzte ohnmächtig zu Boden.
-
-Aufregung, erschreckte Ausrufe, Gestöhn ... Rasumichin, der auf der
-Schwelle stand, flog ins Zimmer herein, packte den Kranken mit seinen
-kräftigen Armen, und jener lag im Nu auf dem Sofa.
-
-»Hat nichts zu sagen! Tut nichts!« rief er Mutter und Schwester zu, »das
-ist eine Ohnmacht, das ist nichts! Soeben hat noch der Arzt gesagt, daß
-es ihm bedeutend besser gehe, daß er vollkommen gesund sei! Wasser her!
-Sehen Sie, er kommt schon zu sich, er ist bei Bewußtsein!«
-
-Er ergriff die Hand Dunetschkas so stark, daß er sie beinahe verrenkte,
-und zog sie näher, damit sie sich überzeuge, daß »er schon bei
-Bewußtsein sei«. Mutter und Schwester blickten Rasumichin wie die
-Vorsehung, mit Rührung und Dankbarkeit an; sie hatten schon von Nastasja
-gehört, was dieser »eifrige junge Mann,« wie ihn am selben Abend
-Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa selbst in einem intimen Gespräche
-mit Dunetschka genannt hatte, für ihren Rodja gewesen war.
-
-
-
-
- Dritter Teil
-
-
- I.
-
-Raskolnikoff erhob sich und setzte sich auf das Sofa. Er winkte mit der
-Hand schwach Rasumichin ab, damit er dem Strome seiner eifrigen
-Trostspendung an Mutter und Schwester ein Ende mache, nahm beider Hände
-und blickte etwa zwei Minuten schweigend bald die eine, bald die andere
-an. Die Mutter erschrak vor seinem Blick. In diesem Blicke lag ein bis
-zur Qual gesteigertes Gefühl, aber gleichzeitig etwas Starres, fast
-Irrsinniges. Pulcheria Alexandrowna begann zu weinen.
-
-Awdotja Romanowna war bleich, ihre Hand zitterte in der des Bruders.
-
-»Geht nach Hause ... mit ihm,« sagte er mit stockender Stimme und wies
-auf Rasumichin, »bis morgen; morgen wird alles ... Seid ihr schon lange
-angekommen?«
-
-»Heute abend, Rodja,« antwortete Pulcheria Alexandrowna, »der Zug hat
-sich schrecklich verspätet. Rodja, ich will aber jetzt um keinen Preis
-der Welt von dir gehen! Ich schlafe hier neben dir ...«
-
-»Quält mich nicht!« sagte er und machte eine gereizte Bewegung mit der
-Hand.
-
-»Ich bleibe bei ihm!« rief Rasumichin. »Ich will ihn keinen einzigen
-Augenblick verlassen, und hol der Teufel alle meine Gäste, mögen sie
-außer sich sein! Mein Onkel mag dort repräsentieren.«
-
-»Wie, wie soll ich Ihnen danken!« begann Pulcheria Alexandrowna und
-drückte von neuem Rasumichin die Hand, aber Raskolnikoff unterbrach sie.
-
-»Ich kann nicht, kann nicht,« wiederholte er gereizt, »quält mich nicht!
-Genug, geht weg ... Ich kann nicht! ...«
-
-»Gehen wir, Mama, gehen wir wenigstens auf einen Augenblick aus dem
-Zimmer heraus,« flüsterte die erschrockene Dunja, »wir martern ihn, man
-sieht's doch.«
-
-»Soll ich denn gar nicht bei ihm sein, nach drei Jahren langer
-Trennung!« weinte Pulcheria Alexandrowna.
-
-»Wartet!« hielt Raskolnikoff sie zurück, »ihr unterbrecht mich immer,
-und meine Gedanken verwischen sich ... Habt ihr Luschin gesehen?«
-
-»Nein, Rodja, aber er weiß schon, daß wir angekommen sind. Wir haben
-gehört, Rodja, daß Peter Petrowitsch so gut war und dich heute besucht
-hat,« fügte ein wenig schüchtern Pulcheria Alexandrowna hinzu.
-
-»Ja ... er war so gut ... Dunja, ich habe vorher Luschin gesagt, daß ich
-ihn die Treppe hinunterwerfen werde und habe ihn zum Teufel gejagt ...«
-
-»Rodja, was ist dir! Du hast sicher ... du willst doch nicht sagen,«
-begann Pulcheria Alexandrowna erschreckt, hielt aber vor einem Blick
-Dunjas inne.
-
-Awdotja Romanowna sah den Bruder aufmerksam an und wartete auf das, was
-er weiter sagen würde. Beide waren schon von dem Streite durch Nastasja
-benachrichtigt, so weit sie es selber begriffen hatte und mitteilen
-konnte, und hatten unter der Ungewißheit und Erwartung gelitten.
-
-»Dunja,« fuhr Raskolnikoff mit Mühe fort, »ich wünsche diese Heirat
-nicht, und darum mußt du morgen noch Luschin absagen, damit er völlig
-verschwinde.«
-
-»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
-
-»Bruder, überlege, was du sprichst!« begann Awdotja Romanowna erregt,
-aber hielt sofort an sich. »Du bist vielleicht jetzt nicht imstande, du
-bist müde,« fügte sie sanft hinzu.
-
-»Gar im Fieber? Nein ... Du heiratest Luschin um meinetwillen. Ich aber
-nehme das Opfer nicht an. Und darum schreibe morgen den Brief ... mit
-der Absage ... Gib ihn mir morgen früh zu lesen, und Schluß damit!«
-
-»Ich kann es nicht tun!« rief das gekränkte Mädchen aus. »Mit welchem
-Recht ...«
-
-»Dunetschka, du bist zu hitzig, hör auf, morgen ... Siehst du denn nicht
-...« suchte die erschrockene Mutter zu beruhigen. »Ach, gehen wir besser
-fort!«
-
-»Er redet im Fieber!« rief der berauschte Rasumichin. »Sonst würde er
-das nicht sagen! Morgen ist dieser ganze Unsinn verschwunden ... Heute
-hat er ihn wohl hinausgejagt. Das ist wahr. Nun, und jener wurde böse
-... Er hat hier schöne Reden gehalten, seine Kenntnisse ausgekramt und
-ging dann mit eingezogenem Schwanz weg ...«
-
-»Also, es ist wahr?« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
-
-»Bis auf morgen, Bruder!« sagte Dunja mitleidsvoll. »Gehen wir, Mama ...
-Leb wohl, Rodja!«
-
-»Hörst du, Schwester,« rief er ihnen mit letzten Kräften nach, »ich
-phantasiere nicht; diese Heirat ist eine Schuftigkeit. Mag ich ein
-Schuft sein, du aber darfst nicht ... einer von beiden ... und wenn ich
-auch ein Schuft bin, aber so eine Schwester will ich nicht als Schwester
-anerkennen. Entweder ich oder Luschin! Geht ...«
-
-»Du bist verrückt geworden! Despot!« brüllte Rasumichin, aber
-Raskolnikoff antwortete nicht mehr, vielleicht hatte er auch nicht mehr
-die Kraft, zu antworten.
-
-Er hatte sich auf das Sofa gelegt und sich in völliger Ermattung der
-Wand zugekehrt. Awdotja Romanowna blickte Rasumichin voll Interesse an;
-ihre schwarzen Augen funkelten, -- Rasumichin zuckte unter diesem Blicke
-zusammen. Pulcheria Alexandrowna stand, wie vom Donner gerührt, da.
-
-»Ich kann nicht weggehen!« flüsterte sie fast verzweifelt Rasumichin zu,
-»ich bleibe hier, irgendwo ... begleiten Sie Dunja.«
-
-»Und Sie werden die ganze Sache verderben!« flüsterte Rasumichin außer
-sich. »Gehen wir wenigstens auf die Treppe hinaus. Nastasja, leuchte
-uns! Ich schwöre Ihnen,« fuhr er im Flüstertone fort, als sie schon auf
-der Treppe waren, »daß er vorhin beinahe mich und den Arzt verprügelt
-hätte! Verstehen Sie! Selbst den Arzt! Und der gab nach, um ihn nicht zu
-reizen und ging fort, ich aber blieb unten, um auf ihn aufzupassen, er
-hatte sich aber inzwischen angekleidet und entschlüpfte mir. Er wird uns
-auch jetzt entschlüpfen, wenn Sie ihn reizen werden, und es ist Nacht,
-und er kann sich etwas antun ...«
-
-»Ach, was sagen Sie?«
-
-»Und Awdotja Romanowna kann auch nicht ohne Sie allein in diesen
-möblierten Zimmern bleiben! Denken Sie nach, wo Sie abgestiegen sind!
-Dieser Schuft Peter Petrowitsch konnte Ihnen doch eine bessere Wohnung
-... Übrigens, wissen Sie, ich bin ein wenig betrunken und habe darum ...
-ihn geschimpft; beachten Sie es nicht ...«
-
-»Ich gehe zu seiner Wirtin,« bestand Pulcheria Alexandrowna auf ihrer
-Absicht, »ich will sie bitten, mir und Dunja einen Platz für diese Nacht
-zu geben. Ich kann ihn nicht so verlassen, ich kann nicht!«
-
-Während sie darüber sprachen, standen sie auf dem Treppenabsatz vor der
-Türe zu der Wohnung der Wirtin. Nastasja leuchtete ihnen von der letzten
-Stufe herab. Rasumichin war ungewöhnlich erregt. Vor einer halben Stunde
-noch, als er Raskolnikoff nach Hause begleitete, war er wohl übermäßig
-geschwätzig und wußte es auch, er war aber völlig munter und ganz
-frisch, ungeachtet des fürchterlichen Quantums Wein, das er an diesem
-Abend getrunken hatte. Jetzt aber geriet er in Ekstase und der ganze
-Wein schien mit einem Male mit verstärkter Macht ihm zu Kopf gestiegen
-zu sein. Er stand vor den beiden Damen, hatte sie beide an den Händen
-gefaßt, redete auf sie ein und machte ihnen mit erstaunlicher Offenheit
-Vorstellungen und wahrscheinlich, um sie besser zu überzeugen, preßte er
-bei jedem Worte, wie mit Klammern, ihre Hände, daß ihnen die Tränen
-kamen und schien Awdotja Romanowna mit den Augen zu verschlingen, ohne
-sich dabei groß zu genieren. Vor Schmerz suchten sie ihre Hände aus
-seiner großen und knochigen Hand zu befreien, aber er merkte den Grund
-nicht und zog beide noch stärker zu sich. Wenn sie ihm in diesem
-Augenblicke befohlen hätten, ihnen zuliebe sich von der Treppe kopfüber
-hinabzustürzen, er hätte es getan, ohne sich zu besinnen und zu zögern.
-Pulcheria Alexandrowna, ganz aufgeregt im Gedanken an ihren Rodja,
-fühlte wohl, daß der junge Mann sehr exzentrisch sei und zu schmerzhaft
-ihre Hand drücke, aber da er doch für sie ein Stück Vorsehung war, so
-wollte sie alle diese exzentrischen Einzelheiten nicht bemerken. Trotz
-ihrer Aufregung wegen des Bruders und obwohl sie nicht ängstlicher Natur
-war, bemerkte Awdotja Romanowna doch voll Staunen und fast mit Schrecken
-die in wildem Feuer funkelnden Augen des Freundes ihres Bruders, und
-bloß das grenzenlose Vertrauen, das ihr die Erzählung Nastasjas über
-diesen sonderbaren Menschen eingeflößt hatte, hielt sie ab, wegzulaufen
-und die Mutter von ihm wegzubringen. Sie begriff aber auch, daß sie von
-ihm jetzt nicht loskommen könne. Nach etwa zehn Minuten aber hatte sie
-sich schon gefaßt, -- Rasumichins Art war es, sich schnell restlos zu
-zeigen, in welcher Stimmung er auch war, so daß alle sehr bald wußten,
-mit wem sie es zu tun hatten.
-
-»Bei der Wirtin ist es unmöglich, und ein greulicher Unsinn ist es!«
-fiel er Pulcheria Alexandrowna in die Rede. »Mögen Sie auch die Mutter
-sein, wenn Sie aber hier bleiben, versetzen Sie ihn in Raserei und dann
-weiß der Teufel, was folgen wird! Hören Sie, ich will es so machen, --
-jetzt bleibt bei ihm Nastasja sitzen, ich aber begleite Sie beide zu
-Ihrer Wohnung, denn Sie können nicht allein auf der Straße gehen. Bei
-uns in Petersburg ist es in dieser Hinsicht ... Nun, lassen wir das ...
-Ich laufe dann sofort hierher zurück und bringe Ihnen nach einer
-Viertelstunde, mein heiliges Ehrenwort darauf, Rapport, -- wie es mit
-ihm steht, ob er schläft oder nicht und dergleichen. Dann, hören Sie
-weiter! Dann laufe ich von Ihnen auf einen Sprung zu mir, -- ich habe
-Gäste, alle sind betrunken, -- nehme Sossimoff -- das ist der Arzt, der
-ihn behandelt, er sitzt jetzt bei mir, ist nicht betrunken, er ist nie
-betrunken. Ich schleppe ihn zu Rodja und bin wieder sofort bei Ihnen,
-also im Laufe von einer Stunde haben Sie zwei Rapporte über ihn, -- und
-vom Arzte, verstehen Sie, vom Arzte selbst, das ist mehr wert als von
-mir! Sollte es schlimmer sein, ich schwöre Ihnen, so bringe ich Sie
-selbst hierher, steht aber alles gut, so gehen Sie schlafen. Ich aber
-werde diese Nacht hier schlafen, im Flure, er wird nichts hören, und
-Sossimoff werde ich sagen, er soll bei der Wirtin schlafen, damit er da
-ist, wenn man ihn braucht. Nun, was ist für ihn jetzt besser, -- Sie
-oder der Arzt? Der Arzt ist doch nützlicher, nützlicher. Nun, gehen Sie
-also nach Hause! Zu der Wirtin ist es unmöglich; mir ist es möglich,
-Ihnen aber nicht, -- sie wird Sie nicht hereinlassen, weil ... weil sie
-eine Närrin ist. Sie wird auf Awdotja Romanowna meinetwegen eifersüchtig
-sein, wenn Sie es wissen wollen, und auch auf Sie selbst ... Auf Awdotja
-Romanowna aber unbedingt. Sie ist ein vollkommen, vollkommen
-unberechenbarer Charakter! Übrigens, ich bin auch ein Narr ... Ich
-pfeife darauf! Gehen wir! Glauben Sie mir? Nun, glauben Sie mir oder
-nicht? ...«
-
-»Gehen wir, Mama,« sagte Awdotja Romanowna, »er wird bestimmt so tun,
-wie er versprochen hat. Er hat schon einmal den Bruder zum Leben
-erweckt, und wenn der Arzt wirklich damit einverstanden ist, hier zu
-schlafen, dann ist es am besten so.«
-
-»Sehen Sie ... Sie ... Sie verstehen mich, weil Sie ein Engel sind!«
-rief Rasumichin entzückt aus. »Gehen wir! Nastasja! Schnell herauf und
-setze dich mit dem Lichte zu ihm; ich komme in einer Viertelstunde ...«
-
-Obwohl Pulcheria Alexandrowna nicht ganz überzeugt war, widersetzte sie
-sich nicht mehr. Rasumichin bot ihnen beiden seinen Arm und zog sie die
-Treppe hinab. Es beunruhigte sie übrigens eins -- »obwohl er flink und
-gut ist, kann er aber auch erfüllen, was er verspricht? Er ist doch in
-solchem Zustande! ...«
-
-»Sie haben Angst, weil Sie glauben, daß ich nicht ganz klar im Kopfe
-bin!« unterbrach Rasumichin ihren Gedankengang, als ob er ihn erraten
-hätte, während er mit Riesenschritten weiterging, ohne zu bemerken, daß
-die beiden Damen ihm kaum folgen konnten. »Unsinn! das heißt ... ich bin
-wie ein Stück Holz betrunken, aber das hat nichts zu sagen; denn ich bin
-nicht vom Wein betrunken. Als ich Sie erblickte, da stieg mir das Blut
-zu Kopfe ... Aber pfeifen Sie auf mich! Achten Sie nicht darauf, -- ich
-lüge; ich bin Ihrer unwürdig! ... Wenn ich Sie nach Hause gebracht habe,
-gieße ich mir schleunigst hier aus diesem Kanal zwei Eimer Wasser über
-den Kopf, damit ich wieder zur Besinnung komme ... Wenn Sie nur wüßten,
-wie ich Sie beide liebe! ... Lachen Sie nicht und seien Sie mir nicht
-böse! ... Seien Sie auf alle böse, aber auf mich sollen Sie nicht böse
-sein! Ich bin sein Freund, also bin ich auch Ihr Freund. Ich will es so
-... Ich habe es geahnt, ... im vorigen Jahre gab es so einen Augenblick
-... Übrigens, ich habe gar nichts geahnt, denn Sie sind wie vom Himmel
-gefallen. Ich werde vielleicht auch die ganze Nacht nicht schlafen ...
-Dieser Sossimoff fürchtete vorhin, daß er den Verstand verlieren könnte
-... Darum muß man ihn nicht reizen ...«
-
-»Was sagen Sie?« rief die Mutter aus.
-
-»Hat das der Arzt gesagt?« fragte erschrocken Awdotja Romanowna.
-
-»Er hat gesagt, aber nicht das, sondern ganz was anderes. Er hat ihm
-auch eine Arznei gegeben, ein Pulver, ich habe es gesehen, und da kamen
-Sie ... Ach! ... Es wäre besser, Sie wären morgen gekommen! Insofern ist
-es gut, daß wir weggingen. Nach einer Stunde wird Ihnen Sossimoff selbst
-über alles Rapport erstatten. Sehen Sie, der ist nicht betrunken! Auch
-ich wäre nicht betrunken ... Warum aber habe ich so viel getrunken? Wie
-sie mich in eine Diskussion hineingebracht haben, die Verfluchten! Ich
-habe mir selbst das Versprechen gegeben, nicht zu streiten! ... Nun
-redeten sie aber so einen Blödsinn zusammen! Ich habe mich beinahe mit
-ihnen geprügelt! Ich habe nun meinen Onkel als Präsidium hinterlassen
-... Können Sie es glauben, -- sie verlangen völlige Unpersönlichkeit des
-einzelnen und finden darin den Sinn des Lebens! Bloß nicht für sich
-selbst sein, möglichst wenig eigenartig sein! Und das halten sie für den
-allergrößten Fortschritt. Und wenn sie wenigstens auf eigene Art lügen
-würden, so aber ...«
-
-»Hören Sie,« unterbrach ihn schüchtern Pulcheria Alexandrowna, aber das
-brachte ihn noch mehr in Eifer.
-
-»Ja, was meinen Sie?« rief Rasumichin und erhob seine Stimme noch mehr.
-»Meinen Sie, ich rede so, weil sie lügen? Unsinn! Ich liebe es, wenn man
-lügt. Das Lügen ist das einzige menschliche Privilegium vor allen
-Organismen. Wenn du lügst, -- kommst du zur Wahrheit! Ich bin darum auch
-Mensch, weil ich lüge. Keine einzige Wahrheit ist erreicht, ohne daß man
-vorher vierzigmal, vielleicht auch hundertundvierzigmal gelogen hat, und
-das ist in seiner Art höchst ehrenvoll. Wir aber verstehen nicht einmal,
-auf eigene Art zu lügen! Lüge mir vor, aber lüge in deiner Weise, und
-ich gebe dir dann einen Kuß. In seiner eigenen Weise zu lügen ist besser
-noch als Wahrheit nur aus fremder Quelle; im ersten Falle bist du ein
-Mensch, im letzteren bist du bloß ein Papagei. Die Wahrheit wird nicht
-fortlaufen, das Leben aber kann man dabei mit Brettern zunageln; wir
-haben Beispiele dafür. Nun, was sind wir jetzt? Wir alle, alle ohne
-Ausnahme, sitzen in bezug auf Wissenschaft, Entwicklung, Denken,
-Erfindungen, Ideale, Wünsche, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und
-alles, alles, alles und alles noch in der ganz untersten Klasse des
-Gymnasiums! Uns hat es genügt, mit fremder Weisheit auszukommen, -- wir
-haben Geschmack daran gefunden! Ist es nicht so? Habe ich recht?«
-
-»Oh, mein Gott, ich weiß es nicht,« sagte die arme Pulcheria
-Alexandrowna.
-
-»Es ist so, so ... obwohl ich mit Ihnen nicht in allem einverstanden
-bin,« fügte Awdotja Romanowna ernst hinzu, aber gleich darauf schrie sie
-auf, weil er ihr diesmal zu stark die Hand gedrückt hatte.
-
-»So? Sie sagen, es sei so? Ach, dann sind Sie ... Sie ...« rief er voll
-Entzücken aus. »Sie sind die Quelle der Güte, Reinheit, der Vernunft und
-... der Vollkommenheit! Geben Sie mir Ihre Hand, geben Sie ... geben
-auch Sie Ihre Hand, ich will Ihnen beiden die Hände küssen, hier,
-sofort, auf den Knien!«
-
-Und er warf sich mitten auf dem Trottoir, das zum Glück leer war, auf
-die Knie hin.
-
-»Hören Sie auf, ich bitte Sie, was machen Sie?« rief die äußerst
-betroffene Pulcheria Alexandrowna.
-
-»Stehen Sie doch auf, stehen Sie doch auf!« lachte Dunja, aber mit einer
-gewissen Unruhe.
-
-»In keinem Falle, Sie müssen erst Ihre Hände gegeben haben! So ist es
-gut, nun genug, ich bin aufgestanden und nun wollen wir weitergehen! Ich
-bin ein unglückseliger Tolpatsch, ich bin Ihrer unwürdig und bin
-betrunken und schäme mich ... Ich bin nicht wert, Sie zu lieben, aber
-die Knie vor Ihnen zu beugen ist die Pflicht eines jeden, wenn er nicht
-ein vollkommenes Tier ist! Und ich habe vor Ihnen die Knie gebeugt ...
-Da sind auch Ihre möblierten Zimmer, und schon ihretwegen allein war
-Rodion im Rechte, als er vorhin Ihren Peter Petrowitsch hinauswarf! Wie
-durfte er es wagen, Sie in solchen Zimmern unterzubringen? Das ist ein
-Skandal! Wissen Sie, wer hier absteigt? Sie sind doch seine Braut! Sie
-sind seine Braut, nicht wahr? Und nun sage ich Ihnen, daß Ihr Bräutigam
-nach diesem ein Schuft ist!«
-
-»Hören Sie, Herr Rasumichin, Sie haben vergessen ...« begann Pulcheria
-Alexandrowna.
-
-»Ja, ja, Sie haben recht, ich habe mich vergessen, ich schäme mich!«
-rief Rasumichin erschrocken. »Aber ... aber ... aber ... Sie können mir
-nicht böse sein, daß ich so rede! Denn ich sage es aufrichtig und nicht
-weil ... hm! das wäre gemein; mit einem Worte, nicht weil ich Sie ...
-hm! ... nun, also, es ist nicht nötig, ich will nicht sagen, warum, ich
-darf es nicht! ... Wir hatten alle vorhin gleich begriffen, als er
-hereinkam, daß dieser Mensch nicht zu uns paßt. Nicht weil er mit
-gebrannten Locken vom Friseur kam, nicht weil er sich beeilte, seinen
-Verstand zu zeigen, sondern weil er ein Aushorcher und Spekulierer ist,
-weil er ein Jude und Gauner ist, und das sieht man. Sie denken, er ist
-klug? Nein, er ist ein Dummkopf! Nun, paßt er denn zu Ihnen? Oh, mein
-Gott! Sehen Sie, meine Damen,« er blieb plötzlich auf der Treppe stehen,
-»wenn sie alle bei mir auch betrunken sind, dafür aber sind sie alle
-ehrlich, und obgleich wir auch lügen, denn ich lüge auch, aber wir
-werden uns schließlich bis zur Wahrheit durchlügen, weil wir auf einem
-anständigen Wege gehen, Peter Petrowitsch jedoch ... geht nicht auf
-einem anständigen Wege. Ich habe wohl soeben sie alle tüchtig
-geschimpft, aber ich achte sie alle; sogar Sametoff, wenn ich ihn auch
-nicht achte, so liebe ich ihn doch, denn er ist noch wie ein junger
-Hund! Selbst dieses Vieh von Sossimoff, weil er auch ehrlich ist und
-seine Sache versteht ... Aber genug, alles ist gesagt und wird
-verziehen. Ist es verziehen? Ist es wirklich? Nun, gehen wir. Ich kenne
-diesen Korridor, bin hier ein paarmal gewesen; sehen Sie hier, in Nummer
-drei, war einmal ein Skandal ... Nun, wo wohnen Sie? Welche Nummer?
-Acht? Nun, schließen Sie sich für die Nacht ein, lassen Sie niemand
-herein. Nach einer Viertelstunde kehre ich mit einer Nachricht zurück
-und dann noch einmal nach einer halben Stunde mit Sossimoff, Sie werden
-sehen! Leben Sie wohl, ich springe!«
-
-»Mein Gott, Dunetschka, was wird geschehen?« sagte Pulcheria
-Alexandrowna und wandte sich voll Unruhe und Angst an die Tochter.
-
-»Beruhigen Sie sich, Mama,« antwortete Dunja, indem sie ihren Hut und
-die Mantille abnahm. »Uns hat Gott selbst diesen Mann gesandt, obgleich
-er direkt von einer Kneiperei kommt. Man kann sich auf ihn verlassen,
-ich versichere Sie. Was hat er alles schon für den Bruder getan ...«
-
-»Ach Dunetschka, Gott weiß, ob er kommen wird? Wie konnte ich mich dazu
-entschließen, Rodja allein zu lassen! ... Und ich habe es mir nicht,
-durchaus nicht vorgestellt, ihn so zu finden! Wie ernst er war, als wäre
-er um uns nicht froh ...«
-
-Tränen zeigten sich in ihren Augen.
-
-»Nein, das ist nicht wahr, Mama. Sie konnten ihn nicht gut sehen, weil
-Sie fortwährend weinten. Er ist von einer schweren Krankheit sehr
-mitgenommen, -- das ist der ganze Grund.«
-
-»Ach, diese Krankheit! Was soll noch werden, was soll daraus werden! Und
-wie er mit dir sprach, Dunja!« sagte die Mutter und blickte schüchtern
-der Tochter in die Augen, um ihre Gedanken zu erraten, und teilweise
-schon dadurch getröstet, weil Dunja ihren Bruder in Schutz nahm, somit
-ihm verziehen habe. »Ich bin überzeugt, daß er morgen seinen Sinn ändern
-wird,« fügte sie hinzu, sie weiter auszuforschen.
-
-»Und ich dagegen bin überzeugt, daß er auch morgen dasselbe sagen wird
-...« schnitt Awdotja Romanowna ab, und man sprach nicht mehr darüber,
-denn es berührte einen Punkt, über den jetzt zu sprechen Pulcheria
-Alexandrowna sich zu sehr fürchtete.
-
-Dunja trat an die Mutter heran und küßte sie. Diese umarmte sie
-schweigend und innig. Dann setzte sie sich in unruhiger Erwartung
-Rasumichins hin, begann scheu die Tochter zu beobachten, die mit
-gekreuzten Armen und selbst voll Erwartung in Gedanken versunken im
-Zimmer auf und ab ging. Das Auf- und Abgehen in Gedanken war die
-Angewohnheit von Awdotja Romanowna, und die Mutter hütete sich immer,
-ihr Nachdenken zu stören.
-
-Rasumichin war selbstverständlich lächerlich mit seiner plötzlichen, in
-der Trunkenheit entflammten Leidenschaft zu Awdotja Romanowna. Aber wenn
-man Awdotja Romanowna gesehen hatte, besonders jetzt, wo sie mit
-gekreuzten Armen, traurig und nachdenklich auf und ab ging, würden
-vielleicht viele ihn entschuldigt haben, ganz abgesehen von seinem
-exzentrischen Zustande. Awdotja Romanowna war sehr schön, --
-hochgewachsen, wundervoll schlank, kräftig und selbstbewußt, -- das
-äußerte sich in jeder ihrer Bewegungen, tat aber der Weichheit und
-Grazie derselben in keiner Weise Eintrag. Ihr Gesicht ähnelte dem des
-Bruders, man konnte sie mit Recht eine Schönheit nennen. Ihr Haar war
-dunkelblond, ein wenig heller als das des Bruders; die Augen waren fast
-schwarz, ihr Blick stolz und doch wieder zuweilen von ungewöhnlicher
-Güte. Sie war bleich, aber nicht krankhaft; ihr Gesicht hatte vielmehr
-die Frische der Gesundheit. Ihr Mund war etwas klein, die Unterlippe,
-frisch und rot, stand kaum merklich hervor; ebenso das Kinn, das war
-aber auch die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesichte und
-verlieh ihm dafür eine besondere Eigentümlichkeit und vielleicht auch
-etwas wie Hochmut. Der Ausdruck ihres Gesichtes war in der Regel mehr
-ernst und sinnend als fröhlich; wie stand aber dafür ein Lächeln diesem
-Gesichte, wie kleidete sie ein lustiges, junges und sorgloses Lachen! Es
-war begreiflich, daß der hitzige, offene, schlichte, ehrliche,
-reckenhafte und betrunkene Rasumichin, der noch nie etwas Ähnliches
-gesehen hatte, beim ersten Blick den Kopf verlor. Außerdem zeigte ihm
-der Zufall gleich zuerst Dunja, wie absichtlich, in dem schönen Momente
-der Liebe zum Bruder und der Freude des Wiedersehens. Er sah dann, wie
-ihre Unterlippe vor Entrüstung gegenüber den ungestümen und undankbar
-grausamen Wünschen des Bruders zuckte, -- und er konnte nicht mehr
-widerstehen.
-
-Er hatte übrigens die Wahrheit gesagt, als er vorhin in seiner
-Trunkenheit auf der Treppe damit herausplatzte, daß die exzentrische
-Wirtin Raskolnikoffs, Praskovja Pawlowna, nicht bloß wegen Awdotja
-Romanowna, sondern vielleicht auch wegen Pulcheria Alexandrowna auf ihn
-eifersüchtig sein würde. Trotzdem Pulcheria Alexandrowna schon
-dreiundvierzig Jahre alt war, wies ihr Gesicht immer noch Zeichen der
-früheren Schönheit auf und außerdem erschien sie bedeutend jünger als
-sie war, was so oft der Fall ist bei Frauen, die die Klarheit des
-Geistes, die Frische der Eindrücke und das ehrliche, reine Feuer des
-Herzens bis zum Alter sich bewahrten. Wir wollen in Parenthese
-hinzufügen, daß dies zu bewahren das einzige Mittel ist, auch seine
-Schönheit bis ins Alter zu behalten. Ihr Haar zwar begann grau und dünn
-zu werden, kleine strahlenartige Runzeln hatten sich schon lange um die
-Augen gelegt, die Wangen waren eingefallen und vor Kummer und Sorgen
-hager geworden, und dennoch war dieses Gesicht schön. Es war Dunetschkas
-Abbild, nur zwanzig Jahre älter und ohne den besonderen Ausdruck der
-Unterlippe, die bei ihr nicht hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war
-empfindsam, aber nicht bis zur Süßlichkeit, sie war schüchtern und
-nachgiebig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, -- sie konnte in
-vielem nachgeben, konnte mit vielem sich abfinden, selbst wenn es ihrer
-Überzeugung widersprach, aber zur Verleugnung der Ehrlichkeit und ihrer
-tiefsten Überzeugungen konnten sie keine Umstände bringen.
-
-Genau nach zwanzig Minuten, seit Rasumichin weggegangen war, wurde
-zweimal nicht laut, aber hastig an die Türe geklopft; er war
-zurückgekehrt.
-
-»Ich komme nicht herein, habe keine Zeit!« sagte er hastig, als die Türe
-geöffnet wurde. »Er schläft einen Herkulesschlaf, ausgezeichnet, ruhig
-und geb's Gott, daß er zehn Stunden fortschläft. Nastasja sitzt bei ihm;
-ich habe ihr befohlen, nicht wegzugehen, bis ich zurückgekommen bin.
-Jetzt schleppe ich Sossimoff her, er wird Ihnen Rapport erstatten, und
-dann legen Sie sich schlafen; ich sehe, Sie sind abgespannt bis zum
-äußersten ...« Und er lief den Korridor hinab.
-
-»Welch ein flinker und ... ergebener junger Mann!« rief die Pulcheria
-Alexandrowna außerordentlich erfreut aus.
-
-»Er scheint ein prächtiger Mensch zu sein!« antwortete Awdotja Romanowna
-mit einem gewissen Eifer und begann von neuem im Zimmer hin und her zu
-wandern.
-
-Fast nach einer Stunde vernahm man Schritte auf dem Korridor, und bald
-darauf wieder ein Klopfen an der Türe. Beide Frauen warteten, diesmal
-vollkommen dem Versprechen Rasumichins vertrauend, -- und er hatte auch
-tatsächlich Sossimoff mitgeschleppt. Sossimoff hatte sich sofort bereit
-erklärt, das Fest zu verlassen und Raskolnikoff zu besuchen, aber zu den
-Damen ging er unwillig und mißtrauisch, da er dem betrunkenen Rasumichin
-nicht geglaubt hatte. Seine Eigenliebe war aber sofort beruhigt und er
-fühlte sich sogar geschmeichelt, -- er sah, daß man wirklich auf ihn,
-wie auf einen Propheten, gewartet hatte. Er blieb genau zehn Minuten und
-hatte es verstanden, Pulcheria Alexandrowna vollkommen zu beruhigen. Er
-sprach voll ungewöhnlicher Teilnahme, aber zurückhaltend und sehr ernst,
-ganz wie ein siebenundzwanzigjähriger Arzt bei einer wichtigen
-Konsultation, mit keinem Worte schweifte er vom Gegenstande ab und
-zeigte nicht den geringsten Wunsch, mit den Damen in ein persönlicheres
-und privates Verhältnis zu kommen. Als er beim Eintritt gesehen hatte,
-wie blendend schön Awdotja Romanowna war, vermied er, sie zu beachten
-und wandte sich während des ganzen Besuches ausschließlich an Pulcheria
-Alexandrowna. Dies alles gewährte ihm eine außerordentliche innere
-Genugtuung. Über den Kranken äußerte er, daß er ihn gegenwärtig in
-durchaus befriedigendem Zustande gefunden habe. Seinen Beobachtungen
-nach, habe die Krankheit des Patienten, außer der schlechten materiellen
-Lage in den letzten Monaten, noch einige seelische Ursachen, »sie ist
-sozusagen das Resultat vieler komplizierter, moralischer und materieller
-Einflüsse, Aufregungen, Sorgen, gewisser Ideen ... und dergleichen«. Als
-er zufällig bemerkte, daß Awdotja Romanowna besonders aufmerksam
-zuzuhören begann, ging er auf dieses Thema näher ein. Auf die aufgeregte
-und schüchterne Frage Pulcheria Alexandrownas, wegen seines »gewissen
-Verdachts von geistiger Störung,« antwortete er mit ruhigem und offenem
-Lächeln, daß man seine Worte übertrieben habe, daß man bei dem Kranken
-wohl eine fixe Idee, etwas, das auf Monomanie deute, konstatieren könne,
--- er, Sossimoff, verfolge jetzt besonders diesen äußerst interessanten
-Zweig der Medizin, -- aber man dürfe auch nicht vergessen, daß der
-Kranke bis heute in fieberhaften Phantasien befangen war, und ... und,
-selbstverständlich werde die Ankunft der Verwandten auf ihn kräftigend,
-zerstreuend und heilbringend wirken, »wenn nur neue, besondere
-Erschütterungen vermieden würden,« fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann
-erhob er sich, verabschiedete sich einfach und freundlich, begleitet von
-Segnungen, heißer Dankbarkeit und Bitten; das Händchen Awdotja
-Romanownas streckte sich sogar, ohne daß er es suchte, zum Abschied ihm
-entgegen, und er ging fort, außerordentlich zufrieden mit seinem Besuche
-und noch mehr mit sich selbst.
-
-»Morgen wollen wir weiter sehen; legen Sie sich jetzt unbedingt nieder!«
-sagte Rasumichin, indem er mit Sossimoff fortging. »Morgen bin ich
-möglichst früh mit einem Rapport bei Ihnen.«
-
-»Welch ein reizendes kleines Mädchen diese Awdotja Romanowna ist!«
-bemerkte Sossimoff und schnalzte mit der Zunge, als sie beide auf die
-Straße hinaustraten.
-
-»Reizend? Du hast reizend gesagt!« brüllte Rasumichin, stürzte sich
-plötzlich auf Sossimoff und packte ihn an der Kehle. »Wenn du es noch
-einmal wagst ... Verstehst du? Verstehst du?« schrie er, schüttelte ihn
-am Kragen und drückte ihn an die Wand. »Hast du gehört?«
-
-»Laß mich los, betrunkener Teufel!« wehrte sich Sossimoff, blickte ihn
-dann, nachdem Rasumichin ihn losgelassen hatte, aufmerksam an und
-schüttelte sich plötzlich vor Lachen.
-
-Rasumichin stand mit gesenkten Armen und in düster ernstem Nachdenken
-vor ihm.
-
-»Selbstverständlich bin ich ein Esel,« sagte er finster, wie eine
-Gewitterwolke, »aber auch du ... bist einer.«
-
-»Nein, Bruder, nein, ich bin keiner. Ich träume nicht von Dummheiten.«
-
-Sie gingen schweigend weiter und erst, als sie sich der Wohnung
-Raskolnikoffs näherten, unterbrach Rasumichin mit sorgenvollem Gesichte
-das Schweigen.
-
-»Höre,« sagte er zu Sossimoff, »du bist ein prächtiger Bursche, aber du
-bist, außer all deinen üblen Eigenschaften, noch ein Stromer, das weiß
-ich, und außerdem einer von den ärgsten. Du bist ein nervöser, schwacher
-Lappen, hast verrückte Anwandlungen, hast Fett angesetzt und kannst dir
-nichts versagen, -- und das nenne ich schon gemein, denn es führt zum
-Gemeinen. Du hast dich so verwöhnt, daß ich -- offen gesagt, -- nicht im
-geringsten verstehe, wie du dabei ein guter und sogar aufopfernder Arzt
-sein kannst. Du -- ein Arzt -- schläfst auf einem Pfühle und stehst für
-einen Kranken in der Nacht auf! Nach drei Jahren wirst du nicht mehr
-wegen eines Kranken aufstehen ... Nun, zum Teufel damit, das ist es
-nicht, sondern folgendes, -- du schläfst heute Nacht in der Wohnung der
-Wirtin, -- ich habe sie mit Mühe dazu überredet, -- und ich in der
-Küche, -- da habt ihr Gelegenheit, einander näher kennenzulernen! Nicht
-etwa, wie du meinst, um ...! Davon ist keine Rede!«
-
-»Ich meine auch gar nichts.«
-
-»Hier findest du, Bruder, Schamhaftigkeit, Schweigsamkeit,
-Schüchternheit, eine gräßliche Keuschheit und dabei -- Seufzer, und sie
-schmilzt wie Wachs! Befreie mich von ihr, im Namen aller Teufel in der
-Welt! Sie ist sehr ansprechend! ... Ich vergelte es dir, tausendfach
-vergelte ich es dir!«
-
-Sossimoff lachte noch stärker als vorher.
-
-»Sieh mal, wie du aus dem Häuschen bist! Was soll ich denn mit ihr?«
-
-»Ich versichere dich, du brauchst dich wenig mit ihr abzugeben, rede
-bloß irgendeinen Unsinn, sprich, was du willst, setze dich aber neben
-sie und rede frisch drauf los. Du bist ja auch Arzt, fange an, sie zu
-behandeln. Ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen. Sie hat ein
-Klavier; du weißt, ich klimpere ein bißchen; ich habe bei ihr ein
-kleines Lied, ein echtes russisches Lied liegen, >Ich vergieße bittre
-Tränen ...< Sie liebt echte Volkslieder, -- nun, mit einem Liede fing es
-auch an; und du spielst doch Klavier, wie ein Virtuos, wie ein Meister,
-wie Rubinstein ... Ich versichere, du wirst es nicht bereuen! ...«
-
-»Hast du ihr denn etwas versprochen? Hast du ihr etwas Schriftliches
-gegeben? Hast du ihr versprochen, sie zu heiraten ...«
-
-»Nein, nichts, rein gar nichts! Und sie ist gar nicht so; Tschebaroff
-wollte ihr einen Antrag ...«
-
-»Nun, so laß sie doch laufen!«
-
-»Man kann sie nicht so ohne weiteres laufen lassen!«
-
-»Warum denn nicht?«
-
-»Man kann es nicht tun, und basta! Es ist da etwas, was mich festhält.«
-
-»Warum hast du sie denn verleitet?«
-
-»Ich habe sie gar nicht verleitet, ich habe mich selbst vielleicht aus
-Dummheit verleiten lassen, ihr aber wird es gleichgültig sein, ob du
-oder ich, nur, daß jemand neben ihr sitzt und seufzt. Es ist Bruder ...
-Ich kann es dir nicht erklären, es ist ... nun, du kannst doch gut
-Mathematik, und beschäftigst dich noch jetzt damit, soviel ich weiß ...
-fang an mit ihr die Integralrechnung durchzunehmen, bei Gott, ich
-scherze nicht, ich spreche im Ernst, ihr wird es vollkommen gleich sein,
--- sie wird dich ansehen und seufzen, und so wird es ein Jahr dauern.
-Ich habe ihr unter anderem sehr lange, zwei Tage nacheinander, von dem
-Herrenhaus in Preußen erzählt, -- denn was soll man mit ihr reden? --
-sie seufzte bloß und schwitzte! Nur über Liebe sprich nicht, -- sie wird
-furchtbar verlegen, -- aber zeige doch, daß du nicht weggehen kannst, --
-das genügt. Es ist sehr komfortabel dort; man ist ganz wie zu Hause, --
-kann lesen, sitzen, liegen oder schreiben ... Man kann sogar einen Kuß
-geben, mit Vorsicht jedoch ...«
-
-»Was soll ich aber mit ihr?«
-
-»Ach, ich kann dir es nicht erklären. Siehst du, -- ihr paßt
-ausgezeichnet zueinander! Ich habe schon früher an dich gedacht ... Du
-wirst schon damit enden! Ist es denn dir nicht einerlei, -- ob früher
-oder später? Hier ist, Bruder, so etwas wie ein Pfühl, -- ach! und auch
-nicht das allein! Hier lockt es einen und zieht, hier ist das Ende der
-Welt, hier wirft man den Anker, hat einen stillen Zufluchtsort,
-sozusagen das Zentrum der Erde, die Essenz von Pfannkuchen,
-Abendsamowars, stillen Seufzern und warmen gestrickten Jacken und
-geheizten Ofenbänken -- nun, es ist, als ob du gestorben wärest und
-gleichzeitig am Leben bist, von beidem die Vorteile auf einen Schlag!
-Nun, Bruder, zum Teufel, ich habe zu viel geschwätzt, es ist Zeit,
-schlafen zu gehen! Höre, -- ich wache in der Nacht zuweilen auf, und da
-will ich nach ihm sehen. Es ist aber nichts, Unsinn, alles ist gut.
-Beunruhige dich nicht besonders, wenn du aber willst, sieh auch mal
-nach. Wenn du aber etwas merken solltest, Fieber zum Beispiel oder
-Phantasieren oder etwas anderes, weck mich sofort auf. Übrigens, es wird
-nichts passieren ...«
-
-
- II.
-
-Am andern Morgen gegen acht Uhr wachte Rasumichin ernst und sorgenvoll
-auf. Eine Menge von neuen und unvorhergesehenen Fragen tauchte in ihm
-auf. Er hätte sich's früher nicht träumen lassen, daß er jemals so
-aufwachen würde. Er erinnerte sich bis aufs geringste alles gestern
-Vorgefallenen und begriff, daß ihm etwas nicht Alltägliches widerfahren
-sei; daß er in sich einen ihm bis jetzt völlig neuen Eindruck, der
-keinem früheren ähnelte, aufgenommen habe. Gleichzeitig war er sich
-vollkommen klar, daß der Traum, der in seinem Kopfe entflammt war, im
-höchsten Grade unerfüllbar sei, -- so unerfüllbar, daß er sich seiner
-schämte, und er sich schleunigst anderen, alltäglichen Sorgen und
-Plagen, die ihm der »verfluchte gestrige Tag« gebracht hatte, zuwandte.
-
-Die unangenehmste Erinnerung war für ihn, wie »niedrig und gemein« er
-sich gestern benommen hatte, nicht allein, weil er betrunken war,
-sondern weil er vor dem jungen Mädchen aus dummer übereilter Eifersucht,
-ihre Lage ausnutzend, ihren Bräutigam geschimpft hatte, ohne daß er ihr
-gegenseitiges Verhältnis und die Verpflichtungen, geschweige denn den
-Mann selbst ordentlich kannte. Und welches Recht hatte er, so schnell
-und übereilt über ihn zu urteilen? Und wer hatte ihn zum Richter
-berufen? Und kann denn solch ein Wesen, wie Awdotja Romanowna, sich
-einem unwürdigen Menschen des Geldes wegen hingeben? Also, muß er doch
-auch Tugenden haben. Die möblierten Zimmer? Woher sollte er denn in der
-Tat erfahren, was für möblierte Zimmer er genommen hatte? Er läßt doch
-eine Wohnung instand setzen ... pfui, welche Erniedrigung! War das etwa
-eine Entschuldigung, daß er betrunken war? Eine dumme Ausrede, die ihn
-noch mehr bloßstellte. Im Weine liegt die Wahrheit, und da hat sich auch
-die ganze Wahrheit, »das heißt, der ganze Schmutz seines neidischen,
-rohen Herzen«, gezeigt! Ist denn solch eine Idee ihm, Rasumichin,
-überhaupt erlaubt? Wer ist er im Vergleiche mit solch einem jungen
-Mädchen, -- er, der betrunkene Skandalmacher und gestrige Prahlhans?
-»Ist denn so eine zynische und lächerliche Zusammenstellung überhaupt
-möglich?« Rasumichin wurde bei diesem Gedanken rot, dazu erinnerte er
-sich noch, wie absichtlich, deutlich, daß er ihnen gestern auf der
-Treppe erzählt hatte, die Wirtin werde um seinetwillen auf Awdotja
-Romanowna eifersüchtig sein ... nein, es war unerträglich. Wütend schlug
-er mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich die Hand und schlug
-einen Ziegelstein heraus.
-
-»Gewiß,« -- murmelte er nach einer Weile vor sich hin, im Gefühle seiner
-Erniedrigung, -- »gewiß, alle diese Scheußlichkeiten lassen sich nie
-mehr beschönigen und verwischen ... also, soll man auch daran nicht
-denken, sondern man muß schweigend seine Pflichten erfüllen ... nicht
-um Verzeihung bitten, überhaupt nichts sagen, und ... und
-selbstverständlich ist jetzt alles verloren!«
-
-Trotzdem besah er beim Ankleiden seinen Anzug sorgfältiger als sonst.
-Einen anderen Anzug besaß er nicht, und wenn er auch einen anderen
-gehabt hätte, hätte er ihn vielleicht nicht angezogen, -- »gerade nicht
-angezogen«. Auf keinen Fall aber durfte man ein Zyniker und Schmutzfink
-bleiben, -- er hatte kein Recht, die Gefühle anderer zu beleidigen, um
-so mehr, als sie, die anderen, ihn brauchten und ihn selbst zu sich
-riefen. Also bürstete er aufs peinlichste seine Kleider aus. Seine
-Wäsche war stets erträglich, darauf hielt er etwas.
-
-Er wusch sich an diesem Morgen mit großer Sorgfalt, -- bei Nastasja fand
-er Seife, -- er wusch sein Haar, den Hals und besonders die Hände. Als
-aber die Frage an ihn herantrat, ob er seine Borsten rasieren sollte
-oder nicht, -- Praskovja Pawlowna hatte noch von ihrem verstorbenen
-Manne, Herrn Sarnitzin, ausgezeichnete Rasiermesser, -- da wurde sie
-unbarmherzig abgelehnt, -- »so soll es bleiben! Wenn sie meinen, daß ich
-mich rasiert habe, um ... und sie würden es meinen! Nein, ich tue es
-nicht, um keinen Preis in der Welt!«
-
-»Und ... und die Hauptsache ist, daß er so grob, schmutzig ist und
-Manieren wie aus der Kneipe hat, und ... und er weiß auch wohl, daß er
-nun wenigstens ein bißchen ein anständiger Mensch ist ... nun, was ist
-denn da stolz zu sein, daß er ein anständiger Mensch ist? Jeder muß ein
-anständiger Mensch sein und mehr ... er aber hat -- das weiß er --
-manches auf dem Kerbholz ... nichts Unehrenhaftes zwar, aber doch
-allerlei! ... Und was für Gedanken hatte er gehabt? Hm ... und kann man
-denn dies alles auf eine Stufe mit Awdotja Romanowna stellen? Nun, aber
-zum Teufel damit! Mag es so bleiben! Ich will absichtlich so schmutzig,
-schmierig, wie aus der Kneipe sein, und pfeife auf alles andere! Ich
-will es noch mehr zeigen! ...«
-
-Bei diesen Selbstgesprächen traf ihn Sossimoff an, der in der Wohnstube
-von Praskovja Pawlowna geschlafen hatte. Er wollte nach Hause gehen und
-sich vorher noch einmal den Kranken ansehen. Rasumichin teilte ihm mit,
-daß derselbe wie ein Murmeltier schlafe. Sossimoff ordnete an, ihn nicht
-zu wecken, bis er selbst aufwache. Er versprach, in der elften Stunde
-wiederzukommen.
-
-»Wenn er nur zu Hause bleiben wird,« -- fügte er hinzu. --
-
-»Pfui, Teufel! Man hat noch nicht einmal Macht über seinen Kranken und
-soll ihn behandeln! Weißt du es, geht _er_ zu denen, oder kommen _die_
-hierher?«
-
-»Ich glaube, die kommen her,« -- antwortete Rasumichin, als er den Zweck
-der Frage verstanden hatte, -- »und sie werden sicher über ihre
-Familienangelegenheiten sprechen. Ich gehe fort. Du als Arzt hast
-selbstverständlich mehr Rechte als ich.«
-
-»Ich bin doch kein Beichtvater; ich will kommen und sofort weggehen. Ich
-habe noch mehr zu tun.«
-
-»Mich beunruhigt eins,« -- unterbrach ihn Rasumichin mit verdüstertem
-Gesichte, -- »ich habe gestern in der Trunkenheit ihm auf dem Wege
-hierher allerhand Dummheiten erzählt, -- allerhand ... unter anderem
-auch, daß du fürchtest, daß er anscheinend ... zum Irrsinn neige ...«
-
-»Du hast auch gestern den Damen davon geschwatzt.«
-
-»Ich weiß, daß es dumm war. Meinetwegen kannst du mich verhauen! Sag'
-mir aber, hattest du wirklich daran geglaubt?«
-
-»Ich sage doch, es ist Scherz gewesen; was soll ich geglaubt haben? Du
-hast ihn mir selbst als einen Monomanen geschildert, als du mich zu ihm
-brachtest ... Nun, und gestern haben wir noch mehr geschürt, das heißt,
-eigentlich du, mit deiner Erzählung ... von dem Anstreicher; ein schönes
-Gespräch, wenn vielleicht gerade damit seine Verwirrung zusammenhängt!
-Wenn ich alles genau gewußt hätte, was damals im Polizeibureau
-vorgefallen war und daß ihn dort irgendeine Kanaille mit diesem Verdacht
-... gekränkt hatte, ich hätte gestern ein solches Gespräch nicht
-zugelassen. Diese Monomanen machen doch aus einem Tropfen einen Ozean
-und sehen die unsinnigsten Dinge deutlich im wachen Zustande ... Wie ich
-mich erinnere, ist mir gestern aus der Erzählung von Sametoff schon die
-Sache zur Hälfte klar geworden. Das ist noch gar nichts. Ich kenne einen
-Fall, wo ein Hypochonder, ein vierzigjähriger Mann, nicht imstande war,
-den täglichen Spott eines achtjährigen Knaben bei Tische zu ertragen und
-ihn deshalb ermordete! Und hier, er zerlumpt, ein frecher
-Polizeikommissar, beginnende Krankheit, und -- so ein Verdacht! Einem
-ausgesprochenen Hypochonder gegenüber! Mit einer wahnsinnigen, besonders
-ausgeprägten Eigenliebe! Vielleicht sitzt gerade hier der Ausgangspunkt
-der Krankheit! Nun, aber zum Teufel! ... Apropos, dieser Sametoff ist
-wirklich ein lieber Junge, aber hm ... es war doch überflüssig, daß er
-gestern dies alles erzählte. Ein furchtbarer Schwätzer!«
-
-»Wem hat er denn alles erzählt? Mir und dir!«
-
-»Und Porphyri.«
-
-»Nun, was tut denn das?«
-
-»Hm, sag' mal, hast du irgendeinen Einfluß auf die Mutter und Schwester?
-Man müßte heute ihm gegenüber vorsichtiger sein ...«
-
-»Sie werden sich schon einigen!« -- antwortete Rasumichin unwillig.
-
-»Und warum ist er so gegen den Luschin? Ein Mensch mit Geld, ihr, wie es
-scheint, nicht unangenehm ... und sie haben doch keinen blanken Heller!«
-
-»Was forschest du mich aus?« -- rief Rasumichin gereizt. -- »Woher soll
-ich wissen, ob sie einen Heller haben oder nicht? Frage sie doch selbst,
-vielleicht sagen sie es dir ...«
-
-»Na, wie dumm du zuweilen bist! Der gestrige Rausch sitzt noch in dir
-... Auf Wiedersehen! Danke in meinem Namen deiner Praskovja Pawlowna für
-das Nachtlager. Sie hat sich eingeschlossen, auf meinen >Guten Morgen<
-hat sie durch die Tür geantwortet, war aber um sieben Uhr aufgestanden,
-man brachte ihr aus der Küche durch den Korridor den Samowar ... Ich
-hatte nicht die Ehre, sie zu sehen ...«
-
-Punkt neun Uhr erschien Rasumichin in Bakalejeffs »Möbliertem Zimmer«.
-Beide Damen erwarteten ihn schon lange mit nervöser Ungeduld. Sie waren
-schon vor sieben Uhr aufgestanden. Er trat finster wie die Nacht ein,
-machte eine linkische Verbeugung, worüber er sofort ärgerlich wurde --
-selbstverständlich auf sich selbst. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt
-gemacht, -- Pulcheria Alexandrowna stürzte buchstäblich zu ihm hin,
-erfaßte ihn an beiden Händen und küßte sie beinahe. Er warf einen
-schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna, aber auch auf diesem stolzen
-Gesichte lag in diesem Augenblicke solch ein Ausdruck von Dankbarkeit
-und freundlicher Gesinnung, solch eine vollkommene und unerwartete
-Achtung -- (an Stelle von spöttischen Blicken und unwillkürlicher
-schlecht verborgener Verachtung) -- daß es ihm tatsächlich angenehmer
-gewesen wäre, wenn man ihn mit Scheltworten begrüßt hätte, es war zu
-beschämend. Zum Glück gab es ein Thema zur Unterhaltung, und er benutzte
-es sofort.
-
-Als Pulcheria Alexandrowna vernahm, daß er zwar noch nicht aufgewacht,
-aber »daß alles ausgezeichnet gehe,« erklärte sie, das wäre sehr gut,
-weil sie noch vorher mit ihm, Rasumichin, über sehr, sehr vieles zu
-sprechen habe. Er wurde gefragt, ob er schon Tee getrunken habe und dann
-eingeladen, mit ihnen den Tee zu trinken, -- sie hatten in Erwartung
-Rasumichins noch nicht gefrühstückt. Awdotja Romanowna klingelte, auf
-ihr Zeichen erschien ein schmutziger, zerlumpter Kerl, und bei ihm wurde
-der Tee bestellt, der auch endlich gereicht wurde, aber so schmutzig und
-so unanständig, daß die Damen sich schämten. Rasumichin begann energisch
-über diese möblierten Zimmer zu schimpfen, erinnerte sich aber Luschins,
-verstummte, wurde verlegen und war sehr froh, als Pulcheria Alexandrowna
-ihn mit ihren Fragen nicht mehr losließ.
-
-Er beantwortete sie alle, sprach drei Viertelstunden lang, wurde
-beständig unterbrochen und von neuem befragt, und teilte alles
-Hauptsächliche und Notwendige, das er aus dem letzten Jahre kannte, mit,
-und schloß mit einer genauen Erzählung von der Krankheit Rodion
-Romanowitschs. Er ließ aus, was verschwiegen werden mußte, unter anderem
-den Auftritt in dem Polizeibureau mit allen seinen Folgen. Man lauschte
-gierig seiner Erzählung; als er aber glaubte, daß er zu Ende sei und
-seine Zuhörerinnen befriedigt habe, zeigte es sich, daß er für sie kaum
-begonnen zu haben schien.
-
-»Sagen Sie, sagen Sie mir, wie meinen Sie ... ach, entschuldigen Sie,
-ich kenne ja noch nicht einmal Ihren und Ihres Vaters Namen!« -- sagte
-Pulcheria Alexandrowna eilig.
-
-»Dmitri Prokofjitsch.«
-
-»Also, Dmitri Prokofjitsch, ich möchte sehr gern erfahren ... wie er
-überhaupt ... wie er jetzt die Dinge betrachtet, das heißt, verstehen
-Sie mich ... wie soll ich es Ihnen erklären, das heißt, besser gesagt,
--- was liebt er und was liebt er nicht? Ist er immer so gereizt? Was hat
-er für Wünsche und Träume, wenn man so sagen kann? Was hat auf ihn jetzt
-einen besonderen Einfluß? Mit einem Worte, ich möchte ...«
-
-»Ach, Mama, wie kann man denn das alles auf einmal beantworten!« --
-bemerkte Dunja.
-
-»Ach, mein Gott, ich habe doch nicht, gar nicht erwartet, ihn so zu
-finden, Dmitri Prokofjitsch.«
-
-»Das ist sehr natürlich,« -- antwortete Rasumichin. -- »Ich habe keine
-Mutter mehr, aber mein Onkel kommt jedes Jahr hergereist und erkennt
-mich jedesmal beinahe nicht mehr, selbst dem äußeren nach nicht, und ist
-doch auch ein kluger Mann. Nun, und in den drei Jahren Ihrer Trennung
-ist viel Wasser den Berg hinuntergeflossen. Ja, und was soll ich Ihnen
-sagen? Anderthalb Jahre kenne ich Rodion, -- er ist verschlossen,
-düster, selbstbewußt und stolz; in der letzten Zeit -- vielleicht aber
-auch schon früher -- argwöhnisch und hypochondrisch. Dabei großmütig und
-gut. Er liebt nicht seine Gefühle zu zeigen, und würde lieber hart
-erscheinen, als sein Herz zu offenbaren. Zuweilen erscheint er übrigens
-gar nicht hypochondrisch, sondern einfach kalt und gefühllos bis zur
-Unmenschlichkeit, als ob in ihm zwei entgegengesetzte Charaktere
-abwechselten. Er ist zuweilen schrecklich einsilbig! Er hat nie Zeit,
-immer stören ihn die anderen, dabei liegt er still und tut nichts. Er
-ist nicht spöttisch, nicht als ob es ihm an Witz mangelte, sondern weil
-er keine Zeit für solche Nichtigkeiten übrig hat. Er hört nicht bis zu
-Ende, wenn man ihm erzählt. Er interessiert sich nie für Dinge, für die
-sich alle im gegebenen Augenblicke interessieren. Er schätzt sich hoch
-ein und ich glaube, nicht ohne ein gewisses Recht dazu. Nun, was noch
-... Mir dünkt, Ihre Ankunft wird auf ihn einen sehr heilsamen Einfluß
-ausüben.«
-
-»Ach, möge es Gott geben!« -- rief Pulcheria Alexandrowna aus, die durch
-die Ansicht Rasumichins über ihren Rodja niedergedrückt war.
-
-Rasumichin aber blickte endlich Awdotja Romanowna mit etwas mehr Mut an.
-Er hatte sie während des Gespräches öfters angesehen, aber nur flüchtig,
-auf einen kurzen Augenblick, und wandte immer gleich seine Augen ab.
-Awdotja Romanowna setzte sich bald an den Tisch und hörte aufmerksam zu,
-bald stand sie wieder auf, begann nach ihrer Gewohnheit mit gekreuzten
-Armen und zusammengepreßten Lippen im Zimmer auf und ab zu gehen und
-stellte zuweilen Fragen, ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, und in
-Gedanken versunken. Auch sie hatte die Gewohnheit, nicht bis zu Ende
-zuzuhören. Sie war mit einem dunklen Kleide aus leichtem Stoff
-bekleidet, um den Hals war ein weißes durchsichtiges Tüchlein
-geschlungen. Aus vielen Anzeichen hatte Rasumichin bald die dürftigsten
-Verhältnisse der beiden Frauen ersehen. Wenn Awdotja Romanowna wie eine
-Königin gekleidet gewesen wäre, hätte er sich wohl vor ihr gar nicht
-gefürchtet; jetzt aber hatte sich vielleicht gerade aus dem Grunde, weil
-sie so ärmlich gekleidet war, und weil er die ganze ärmliche Umgebung
-bemerkt hatte, in seinem Herzen eine gewisse Scheu eingenistet, und er
-ängstigte sich für jedes seiner Worte und für jede Bewegung, was für
-einen Menschen, der ohnedem sich nicht traute, sicher unbequem war.
-
-»Sie haben viel Interessantes über den Charakter meines Bruders erzählt
-und ... haben es unparteiisch gesagt. Das ist gut; ich dachte, Sie beten
-ihn an,« -- bemerkte Awdotja Romanowna mit einem Lächeln. -- »Es scheint
-auch besser, wenn um ihn eine Frau ist,« -- fügte sie nachdenklich
-hinzu.
-
-»Das habe ich nicht gemeint, aber Sie haben vielleicht auch darin recht,
-nur ...«
-
-»Was?«
-
-»Er liebt doch niemand; vielleicht wird er auch nie lieben,« -- schnitt
-Rasumichin ab.
-
-»Das heißt, er ist unfähig, jemand zu lieben?«
-
-»Wissen Sie, Awdotja Romanowna, daß Sie Ihrem Bruder auffallend ähnlich
-sehen, in allem!« -- platzte er plötzlich heraus, sich selber
-überraschend, als er sich aber erinnerte, was er ihr soeben über den
-Bruder gesagt hatte, wurde er rot wie ein Krebs und stark verlegen.
-
-Awdotja Romanowna mußte bei seinem Anblicke laut auflachen.
-
-»In bezug auf Rodja könntet ihr beide euch irren,« -- sagte Pulcheria
-Alexandrowna etwas pikiert. -- »Ich rede nicht von dem jetzigen,
-Dunetschka. Das, was Peter Petrowitsch in diesem Briefe schreibt ... und
-was wir mit dir voraussetzten, -- kann unwahr sein, aber Sie können sich
-nicht vorstellen, Dmitri Prokofjitsch, wie phantastisch er ist und --
-wie soll ich es sagen -- launisch er ist. Ich konnte mich nie auf seinen
-Charakter verlassen, selbst als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin
-überzeugt, daß er auch jetzt plötzlich irgend etwas tun kann, woran
-keiner je dachte ... Wir brauchen nicht weit zu gehen, -- ist es Ihnen
-bekannt, wie er vor anderthalb Jahren mich überraschte, erschütterte, ja
-fast bis zum Tode erschreckte, als er diese, wie heißt sie doch, -- die
-Tochter von dieser Sarnitzin heiraten wollte?«
-
-»Wissen Sie etwas Näheres über diese Geschichte?« -- fragte ihn Awdotja
-Romanowna.
-
-»Glauben Sie,« -- fuhr Pulcheria Alexandrowna voll Eifer fort, -- »ihn
-hätten damals meine Tränen, meine Bitten, meine Krankheit, mein Tod
-vielleicht aus Gram, unsere große Armut, zurückgehalten? Er würde über
-alle Hindernisse in größter Ruhe hinweggeschritten sein. Aber ist es
-möglich, ist es möglich, daß er uns nicht liebt?«
-
-»Er hat mir nie selbst etwas über diese Geschichte gesagt,« --
-antwortete Rasumichin vorsichtig, -- »aber ich habe einiges von Frau
-Sarnitzin selbst gehört, die in ihrer Art auch nicht von den
-Mitteilsamen ist, und was ich gehört habe, ist vielleicht ein wenig
-seltsam.«
-
-»Und was, was haben Sie gehört?« -- frugen gleichzeitig beide Frauen.
-
-»Es ist nichts gar so Besonderes. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die
-schon eine vollständig abgemachte Sache war und bloß wegen des Todes der
-Braut nicht zustande kam, Frau Sarnitzin selbst sehr mißfiel ...
-Außerdem erzählt man, daß die Braut nicht hübsch war, das heißt, man
-sagt, sie sei sogar häßlich gewesen ... und sehr kränklich ... und
-eigentümlich ... sie hatte aber, wie es scheint, auch ihre Vorzüge. Es
-mußten unbedingt irgendwelche Vorzüge dagewesen sein, sonst konnte man
-so was nicht verstehen ... Mitgift hatte sie gar keine, und auf Mitgift
-hätte er auch nicht gerechnet ... Es ist überhaupt schwer in solch einer
-Sache zu urteilen.«
-
-»Ich bin überzeugt, daß sie ein würdiges junges Mädchen war,« bemerkte
-Awdotja Romanowna kurz.
-
-»Gott wird es mir verzeihen, ich habe mich aber doch über ihren Tod
-gefreut, obwohl ich es nicht weiß, wer von ihnen den andern zugrunde
-gerichtet hätte, -- er sie oder sie ihn,« schloß Pulcheria Alexandrowna.
-
-Dann begann sie vorsichtig mit Unterbrechungen, wobei sie ständig Dunja
-anblickte, was jener offenbar unangenehm war, wieder über den gestrigen
-Auftritt zwischen Rodja und Luschin zu fragen. Dieser Vorfall
-beunruhigte sie, wie man merken konnte, am meisten, bis zu Angst und
-Zittern. Rasumichin erzählte von neuem alles bis ins einzelne und fügte
-diesmal noch seine Ansicht hinzu, -- er beschuldigte Raskolnikoff, daß
-er Peter Petrowitsch vorsätzlich gekränkt habe und entschuldigte ihn
-sehr wenig durch seine Krankheit.
-
-»Er hat es sich noch vor der Erkrankung ausgedacht,« -- fügte er hinzu.
-
-»Das denke ich auch« -- sagte Pulcheria Alexandrowna niedergeschlagen.
-
-Sie war aber sehr überrascht, daß Rasumichin heute sich so vorsichtig
-und mit Achtung über Peter Petrowitsch äußerte. Auch Awdotja Romanowna
-war erstaunt.
-
-»Ist das Ihre Meinung über Peter Petrowitsch?« -- konnte sich Pulcheria
-Alexandrowna nicht enthalten zu fragen.
-
-»Über den künftigen Mann Ihrer Tochter kann ich auch keine andere
-Meinung haben,« -- antwortete Rasumichin fest und eifrig. -- »Und ich
-sage es nicht aus fader Höflichkeit, sondern weil ... weil ... nun,
-sagen wir, aus dem Grunde allein, weil Awdotja Romanowna selbst
-freiwillig diesen Menschen mit ihrer Wahl beehrte. Wenn ich ihn aber
-gestern so geschimpft habe, so war es, weil ich gestern schmählich
-betrunken und außerdem ... ohne Verstand war, ja, ohne Verstand, ich
-hatte den Verstand verloren, vollkommen ... und heute schäme ich mich
-dessen! ...« Er errötete und verstummte. Auch Awdotja wurde rot, aber
-unterbrach nicht das Schweigen. Sie hatte kein einziges Wort seit dem
-Augenblicke gesagt, als man über Luschin zu sprechen begann. Und
-Pulcheria Alexandrowna war ohne ihre Unterstützung offenbar unschlüssig.
-Schließlich sagte sie, stockend und ununterbrochen die Tochter
-anblickend, daß ein Umstand sie jetzt außerordentlich beunruhige.
-
-»Sehen Sie, Dmitri Prokofjitsch,« -- begann sie. »Ich will gegenüber
-Dmitri Prokofjitsch vollkommen offen sein, Dunetschka.«
-
-»Selbstverständlich, Mama,« -- bemerkte Awdotja Romanowna nachdrücklich.
-
-»Sehen Sie, die Sache ist die,« -- beeilte sie sich nun, ihren Kummer
-mitzuteilen, als hätte man ihr durch die Erlaubnis eine schwere Bürde
-abgenommen. -- »Heute, in aller Frühe, erhielten wir von Peter
-Petrowitsch einen Brief, als Antwort auf unsere gestrige Mitteilung von
-unserer Ankunft. Sehen Sie, er sollte uns gestern auf dem Bahnhofe
-selbst, wie er auch versprochen hatte, empfangen.
-
-Anstatt dessen war ein Diener zu unserem Empfang auf den Bahnhof gesandt
-worden, mit der Adresse von diesen möblierten Zimmern und um uns den Weg
-zu zeigen. Peter Petrowitsch aber ließ uns mitteilen, daß er heute
-morgen hier bei uns erscheinen werde. Anstatt dessen kam heute früh
-dieser Brief von ihm ... Es ist das beste, Sie lesen ihn selbst; in ihm
-ist ein Punkt, der mich sehr beunruhigt ... Sie werden selbst sofort
-sehen, welchen Punkt ich meine, und ... sagen Sie mir Ihre aufrichtige
-Meinung, Dmitri Prokofjitsch! Sie kennen besser als alle den Charakter
-Rodjas und können uns am besten raten. Ich sage Ihnen im voraus, daß
-Dunetschka schon alles vom ersten Schritt an beschlossen hat, ich aber,
-ich weiß noch nicht, wie ich handeln soll und ... und wartete die ganze
-Zeit auf Sie.«
-
-Rasumichin entfaltete den Brief, der mit dem gestrigen Datum versehen
-war, und las folgendes:
-
-»Sehr verehrte Pulcheria Alexandrowna!
-
-Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich infolge plötzlich
-eingetretener Hindernisse Sie auf dem Bahnsteige nicht empfangen konnte,
-ich sandte darum einen gewandten Menschen. Ebenso werde ich auch morgen
-früh nicht die Ehre einer Zusammenkunft mit Ihnen haben können,
-infolge unaufschiebbarer Angelegenheiten im Senat, und um Ihre
-verwandtschaftliche Zusammenkunft mit Ihrem Sohne und Awdotja Romanownas
-mit ihrem Bruder nicht zu stören. Ich will mir aber die Ehre nehmen, Sie
-spätestens morgen, Punkt acht Uhr abends, aufzusuchen, um Ihnen meine
-Aufwartung in Ihrer Wohnung zu machen, wobei ich mir erlaube, eine
-inständige und -- ich füge hinzu -- dringende Bitte auszusprechen, daß
-bei unserer gemeinsamen Zusammenkunft Rodion Romanowitsch nicht anwesend
-sein soll, da er mich bei meinem gestrigen Besuche während seiner
-Krankheit beispiellos und schwer gekränkt hat, und weil ich außerdem mit
-Ihnen persönlich eine notwendige und ausführliche Erklärung über einen
-Punkt haben möchte, über den ich Ihre eigene Deutung zu erfahren
-wünsche. Ich habe die Ehre, im voraus mitzuteilen, daß, falls ich,
-entgegen meiner Bitte, Rodion Romanowitsch antreffen sollte, ich
-gezwungen sein würde, mich zu entfernen, woran Sie allein sich die
-Schuld zuzuschreiben hätten.
-
-Ich schreibe es in der Voraussetzung, daß Rodion Romanowitsch, der bei
-meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, nach zwei Stunden
-plötzlich genas, ausgehen und also zu Ihnen kommen kann. Ich habe mich
-davon mit meinen eigenen Augen überzeugt, als er gestern in der Wohnung
-eines von Pferden überfahrenen Trunkenboldes, der an den Verletzungen
-gestorben ist, dessen Tochter, einem Mädchen von verrufenem
-Lebenswandel, etwa fünfundzwanzig Rubel aushändigte, unter dem Vorwande,
-die Kosten der Beerdigung zu tragen, was mich sehr überraschte, weil ich
-wußte, mit welcher Mühe Sie diese Summe erhielten. Hierbei übermittele
-ich meine besondere Achtung der geehrten Awdotja Romanowna und bitte
-Sie, meine achtungsvolle Ergebenheit entgegenzunehmen.
-
- Ihr untertänigster Diener
- P. Luschin.«
-
-»Was soll ich jetzt tun, Dmitri Prokofjitsch?« -- sagte Pulcheria
-Alexandrowna fast weinend. -- »Wie kann ich Rodja zumuten, nicht zu
-kommen? Er verlangte gestern so eindringlich die Absage an Peter
-Petrowitsch, und nun verlangt man, ihn selber abzuweisen. Ja, er wird
-absichtlich kommen, wenn er es erfährt und ... was geschieht dann?«
-
-»Handeln Sie so, wie Awdotja Romanowna beschlossen hat,« -- antwortete
-ruhig und sofort Rasumichin.
-
-»Ach, mein Gott! Sie sagt ... sie sagt -- Gott weiß was, und erklärt mir
-nicht den Zweck! Sie sagt, es würde am besten sein, das heißt, nicht am
-besten sein, sondern es sei aus einem Grunde unbedingt nötig, daß auch
-Rodja heute um acht Uhr abends bestellt werde, und daß sie unbedingt
-hier einander träfen ... Und ich wollte ihm nicht einmal den Brief
-zeigen, und es irgendwie durch Ihre Vermittelung einrichten, daß er
-nicht herkäme ... denn er ist so gereizt ... Ja, und ich verstehe gar
-nicht, was für ein Trunkenbold dort gestorben ist und was das für eine
-Tochter ist, und in welcher Weise konnte er dieser Tochter das letzte
-Geld abgeben ... das ...«
-
-»Das Ihnen so teuer zu stehen kam, Mama,« -- fügte Awdotja Romanowna
-hinzu.
-
-»Er war gestern außer sich,« -- sagte Rasumichin nachdenklich. -- »Wenn
-Sie erst wüßten, was er gestern in einer Restauration angerichtet hat,
-es war ja klug ... hm! Von einem Verstorbenen und von einem Mädchen
-sprach er tatsächlich gestern etwas zu mir, als wir nach Hause gingen,
-aber ich habe kein Wort verstanden ... übrigens, war ich gestern auch
-...«
-
-»Mama, am besten gehen wir zu ihm hin und dort, versichere ich Sie,
-werden wir sofort sehen, was zu tun ist. Und außerdem ist es Zeit, --
-Herrgott! Es ist über zehn Uhr!« -- rief sie aus, nachdem sie einen
-Blick auf ihre prachtvolle goldene Uhr mit Emaille warf, die an einer
-sehr feinen venetianischen Kette um ihren Hals hing, und mit der übrigen
-Kleidung gar nicht harmonierte.
-
-»Ein Geschenk des Bräutigams,« -- dachte Rasumichin.
-
-»Ach, es ist Zeit ... es ist Zeit, Dunetschka, es ist Zeit!« -- regte
-sich Pulcheria Alexandrowna auf. »Er wird denken, daß wir ihm noch von
-gestern her böse sind, weil wir solange nicht kommen. Ach, mein Gott!«
-
-Indem sie es sagte, warf sie eilig ihre Mantille um und setzte den Hut
-auf; auch Dunetschka zog sich an. Ihre Handschuhe waren nicht bloß
-abgetragen, sondern sogar zerrissen, wie Rasumichin bemerkte, indessen
-verlieh diese augenscheinliche Armut der Kleidung den Damen eine Art
-Würde, was immer bei denen der Fall ist, die ein ärmliches Kleid zu
-tragen verstehen. Rasumichin blickte voll Ehrfurcht Dunetschka an und
-war stolz, daß er sie begleiten durfte. »Die Königin,« -- dachte er im
-stillen, -- »die ihre Strümpfe in Gefängnissen stopfte, sah sicher in
-jenem Augenblicke wie eine echte Königin aus und königlicher als zur
-Zeit der prachtvollsten Feste und Empfänge.«
-
-»Mein Gott!« -- rief Pulcheria Alexandrowna aus, -- »habe ich je
-gedacht, daß ich ein Wiedersehen mit meinem Sohne, mit meinem lieben,
-lieben Rodja fürchten werde, wie ich es jetzt tue! ... Ich fürchte mich,
-Dmitri Prokofjitsch!« -- fügte sie hinzu und blickte ihn schüchtern an.
-
-»Fürchten Sie sich nicht, Mama,« sagte Dunja und küßte sie, -- »glauben
-Sie besser an ihn. Ich glaube.«
-
-»Ach, mein Gott! Ich glaube auch, habe aber die ganze Nacht nicht
-geschlafen!« -- rief die arme Frau aus.
-
-Sie traten auf die Straße hinaus.
-
-»Weißt du, Dunetschka, als ich gegen Morgen erst ein wenig einschlief,
-träumte ich plötzlich von der verstorbenen Marfa Petrowna ... sie war
-ganz in weiß ... sie kam auf mich zu, nahm mich an der Hand, schüttelte
-den Kopf über mich, und so streng, so streng, als ob sie mich verdamme
-... Ist das auch ein gutes Zeichen? Ach, mein Gott, Dmitri Prokofjitsch,
-Sie wissen es noch nicht, -- Marfa Petrowna ist gestorben!«
-
-»Nein, ich weiß es nicht. Was für eine Marfa Petrowna?«
-
-»Nachher, Mama,« -- mischte sich Dunja ein, -- »er weiß ja noch nicht,
-wer Marfa Petrowna war.«
-
-»Ach, Sie wissen es nicht? Und ich dachte, Sie kennen schon alles.
-Entschuldigen Sie mich, Dmitri Prokofjitsch, ich verliere in diesen
-Tagen völlig den Verstand. Ich sehe Sie wirklich wie unsere Vorsehung
-an, und darum war ich auch so überzeugt, daß Sie alles schon kennen. Ich
-betrachte Sie wie einen Verwandten ... Seien Sie mir nicht böse, daß ich
-so spreche. Ach, mein Gott, was ist mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie
-sie verletzt?«
-
-»Ja, ich habe sie verletzt,« -- murmelte glückselig Rasumichin.
-
-»Ich spreche zuweilen so offenherzig, daß Dunja mich korrigiert ...
-Aber, mein Gott, in was für einer Kammer er lebt! Ist er wohl schon
-aufgewacht? Und diese Frau, seine Wirtin, rechnet dies für ein Zimmer?
-Hören Sie, Sie sagen, er liebt nicht, sein Herz zu zeigen, so daß ich
-vielleicht ihm auch überdrüssig werden kann ... mit meinen Schwächen?
-... Können Sie mir nicht sagen, Dmitri Prokofjitsch, wie ich ihm
-gegenüber sein soll? Wissen Sie, ich gehe ganz wie verloren umher.«
-
-»Fragen Sie ihn nicht zu sehr aus, wenn Sie merken, daß er das Gesicht
-verzieht; besonders über seine Gesundheit fragen Sie ihn nicht zu viel,
-er liebt es nicht.«
-
-»Ach, Dmitri Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein.«
-
-»Hier ist die Treppe ... Was für eine schreckliche Treppe ...«
-
-»Mama, Sie sind so bleich, beruhigen Sie sich, meine Liebe,« -- sagte
-Dunja und schmiegte sich an sie, -- »er muß glücklich sein, Sie zu
-sehen, und Sie quälen sich so,« -- fügte sie mit funkelnden Augen hinzu.
-
-»Warten Sie, ich sehe zuerst nach, ob er aufgewacht ist.«
-
-Die Damen folgten langsam Rasumichin, der vorher die Treppe
-hinaufgegangen war, und als sie im vierten Stock an der Türe der Wirtin
-vorbei gingen, bemerkten sie, daß die Türe zu deren Wohnung ganz
-unbedeutend geöffnet war, und daß zwei schwarze Augen sie beide schnell
-in der Dunkelheit betrachteten. Als ihre Blicke sich kreuzten, wurde die
-Türe plötzlich zugeschlagen und mit solch einem Knall, daß Pulcheria
-Alexandrowna vor Schreck beinahe aufgeschrien hätte.
-
-
- III.
-
-»Er ist gesund, gesund!« -- rief den Eintretenden Sossimoff fröhlich zu.
-
-Er war schon vor zehn Minuten gekommen und saß in seiner gestrigen Ecke
-auf dem Sofa. Raskolnikoff saß in der andern Ecke ihm gegenüber,
-vollkommen angekleidet und frisch gewaschen und gekämmt, was schon lange
-nicht mehr vorgekommen war. Das Zimmer war mit einem Male voll, aber
-Nastasja fand doch Zeit, den Besuchern zu folgen, um zuzuhören.
-
-In der Tat, Raskolnikoff war fast gesund, besonders im Vergleiche mit
-gestern, er war bloß sehr blaß, zerstreut und düster. Dem Äußeren nach
-glich er einem Verwundeten oder einem, der einen starken physischen
-Schmerz duldet, -- seine Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen
-aufeinander gepreßt und der Blick fieberhaft. Er sprach wenig und
-widerwillig, wie mit großer Anstrengung oder als erfülle er eine
-Pflicht, und eine Unruhe zeigte sich zuweilen in seinen Bewegungen.
-
-Es fehlte bloß die Binde um den Arm oder ein Verband um den Finger, um
-die völlige Ähnlichkeit mit einem Verletzten vollzumachen.
-
-Aber dieses bleiche und düstere Gesicht erhellte sich auf einen
-Augenblick, als Mutter und Schwester eintraten, aber sein Gesicht nahm
-rasch statt der früheren düsteren Zerstreutheit den Ausdruck innerer
-Pein an, und Sossimoff, der seinen Patienten mit dem ganzen Eifer des
-Anfängers beobachtete und studierte, bemerkte voll Verwunderung, statt
-Freude über die Ankunft der Verwandten, die mühsam versteckte
-Entschlossenheit, eine mehrstündige Folterqual zu ertragen, die man
-nicht umgehen kann. Er sah später, wie fast jedes Wort der
-nachträglichen Unterhaltung irgendeine Wunde seines Patienten zu
-berühren und aufzuwühlen schien, gleichzeitig aber war er wieder
-erstaunt, wie dieser heute verstand, sich zu bemeistern und seine
-Gefühle zu verbergen, -- der gestrige Monomane, der wegen des geringsten
-Wortes fast in Raserei geriet.
-
-»Ja, ich sehe jetzt selbst, daß ich fast gesund bin,« sagte
-Raskolnikoff, und küßte die Mutter und die Schwester freundlich, worüber
-Pulcheria Alexandrowna in Entzücken geriet, »und ich spreche nicht mehr
-wie _gestern_,« fügte er hinzu, sich an Rasumichin wendend, und drückte
-ihm freundschaftlich die Hand.
-
-»Ich habe mich heute nicht wenig über ihn gewundert,« begann Sossimoff,
-der über die Eingetretenen sehr erfreut war, weil er in den zehn Minuten
-den Faden des Gespräches mit seinem Kranken schon verloren hatte. »Nach
-drei oder vier Tagen, wenn es so weiter geht, wird alles beim alten
-sein, das heißt, wie es vor einem oder zwei Monaten ... vielleicht auch
-vor drei Monaten war. Es hat sich doch seit langem vorbereitet und
-entwickelt ... ah? Wollen Sie jetzt eingestehen, daß Sie selbst
-vielleicht mit daran schuld waren?« fügte er mit einem vorsichtigen
-Lächeln hinzu, als fürchte er, ihn schon dadurch zu reizen.
-
-»Es ist sehr möglich,« antwortete Raskolnikoff kalt.
-
-»Ich sage es nur aus dem Grunde,« fuhr Sossimoff fort, »weil Ihre
-völlige Genesung jetzt hauptsächlich von Ihnen allein abhängt. Jetzt, wo
-man mit Ihnen reden kann, möchte ich Ihnen vorhalten, daß es notwendig
-ist, die ursprünglichen, sozusagen die Grundursachen zu beseitigen, die
-Ihren Krankheitszustand hervorgerufen haben, dann werden Sie auch
-genesen, sonst kann es wieder schlimmer werden. Diese ursprünglichen
-Ursachen kenne ich nicht, aber Ihnen müssen Sie bekannt sein. Sie sind
-ein kluger Mensch und haben sich selbst sicher beobachtet. Mir scheint,
-der Anfang Ihrer Krankheit fällt teilweise mit Ihrem Austritt aus der
-Universität zusammen. Sie dürfen nicht ohne Beschäftigung sein, und
-darum können Arbeit und ein fest vorgenommenes Ziel, wie mich dünkt,
-Ihnen von sehr großem Werte sein.«
-
-»Ja, ja, Sie haben vollkommen recht ... ich will sofort die Universität
-besuchen, und dann wird alles ... wie geschmiert gehen ...«
-
-Sossimoff, der seine klugen Ratschläge teilweise wegen der Wirkung auf
-die Damen erteilt hatte, war natürlich verblüfft, als er seine Rede
-beendete und auf dem Gesicht seines Zuhörers einen entschieden
-spöttischen Ausdruck bemerkte. Das währte übrigens nur einen Augenblick.
-Pulcheria Alexandrowna begann sofort, Sossimoff zu danken, besonders für
-seinen Nachtbesuch im Hotel.
-
-»Wie, er ist in der Nacht bei euch gewesen?« fragte Raskolnikoff
-anscheinend beunruhigt. »Also habt ihr auch nach der Reise nicht
-geschlafen?«
-
-»Ach, Rodja, das war doch vor zwei Uhr. Wir haben uns auch zu Hause
-nicht früher als um zwei Uhr schlafen gelegt.«
-
-»Ich weiß nicht, wie ich ihm danken soll,« fuhr Raskolnikoff finster
-fort und den Blick senkend, »abgesehen von der Geldfrage --
-entschuldigen Sie, daß ich es erwähnte« (er wandte sich an Sossimoff),
-»ich weiß gar nicht, wodurch ich so eine besondere Aufmerksamkeit
-Ihrerseits verdient habe? Ich verstehe es einfach nicht ... und ... es
-lastet auf mir sogar, weil es mir unverständlich ist, -- ich sage es
-Ihnen ganz offen --.«
-
-»Werden Sie nur nicht gereizt,« lachte Sossimoff gezwungen. »Stellen Sie
-sich vor, daß Sie mein erster Patient sind, nun, und unsereiner, der
-soeben zu praktizieren anfängt, liebt seine ersten Patienten wie eigene
-Kinder, und manche sogar verlieben sich in sie. Und ich bin an Patienten
-nicht reich.«
-
-»Ich will gar nicht reden von dem dort,« fügte Raskolnikoff hinzu und
-wies auf Rasumichin, »auch er hat außer Kränkungen und Sorgen nichts von
-mir erfahren.«
-
-»Was er faselt! Bist du etwa heute in einer gerührten Stimmung?« rief
-Rasumichin.
-
-Wenn er etwas scharfsinniger gewesen wäre, hätte er gesehen, daß hier
-nichts von einer gerührten Stimmung da war, eher das Gegenteil. Awdotja
-Romanowna aber hatte es gemerkt. Sie beobachtete durchdringend und voll
-Unruhe den Bruder.
-
-»Von Ihnen, Mama, wage ich nicht zu sprechen,« fuhr er fort, als sage er
-etwas vorher auswendig Gelerntes auf. »Heute erst konnte ich
-einigermaßen einsehen, wie Sie sich gestern hier in Erwartung meiner
-Rückkehr gequält haben müssen.«
-
-Dann reichte er plötzlich stumm und mit einem Lächeln der Schwester die
-Hand. In diesem Lächeln schimmerte ein wahres, unverfälschtes Gefühl.
-Dunja erfaßte sofort, erfreut und dankbar, die ausgestreckte Hand und
-drückte sie innig. Zum erstenmal wandte er sich an sie nach dem
-gestrigen Zerwürfnis. Das Gesicht der Mutter leuchtete vor Entzücken und
-Glück beim Anblick dieser endgültigen und wortlosen Aussöhnung zwischen
-Bruder und Schwester.
-
-»Dafür liebe ich ihn!« flüsterte, sich energisch auf dem Stuhle wendend,
-Rasumichin, der sich leicht begeisterte. »Er hat solche Regungen! ...«
-
-»Und wie alles sich bei ihm gut macht,« dachte die Mutter, »was für edle
-Regungen er hat, und wie schlicht und zart er das gestrige
-Mißverständnis mit der Schwester beseitigt hat -- nur dadurch, daß er
-ihr die Hand im richtigen Augenblicke reichte und sie lieb anblickte ...
-Und was für schöne Augen er hat und wie schön das ganze Gesicht ist ...
-Er ist sogar schöner als Dunetschka ... Aber, mein Gott, was für einen
-Anzug hat er an, wie schrecklich ist er gekleidet! Der Markthelfer
-Wassja im Laden Atanassi Iwanowitsch ist besser gekleidet! ... Und ich
-möchte mich ihm an den Hals werfen und ihn umarmen, und ... weinen --
-aber ich fürchte mich, ich fürchte ... wie er es auffassen könnte, oh
-Gott! Er spricht wohl freundlich, aber ich fürchte mich! Nun, warum
-fürchte ich mich? ...«
-
-»Ach, Rodja, du wirst nicht glauben,« beeilte sie sich plötzlich, seine
-Bemerkung zu beantworten, »wie wir gestern, ich und Dunetschka ...
-unglücklich waren! Jetzt, wo alles vorüber und beendet ist, und wir alle
-wieder glücklich sind, -- kann man es sagen. Stell dir vor, wir laufen
-hierher, um dich zu umarmen, fast direkt von der Eisenbahn, und diese
-Frau, -- ah, da ist sie auch! Guten Tag, Nastasja! ... Sie sagt uns
-plötzlich, daß du im starken Fieber liegst und daß du soeben ohne Wissen
-des Arztes im Fieber weggelaufen seist, und daß man dich suchen gegangen
-sei. Du glaubst nicht, wie das uns traf! Ich stellte mir sofort vor, wie
-der Leutnant Potantschikoff, unser Bekannter, ein Freund deines Vaters,
--- du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja -- tragisch endete, er
-hatte auch starkes Fieber und war in derselben Weise weggelaufen und in
-einen Brunnen im Hofe hineingefallen, am anderen Tage erst konnte man
-ihn herausziehen. Und wir haben es uns selbstverständlich noch schwärzer
-ausgemalt. Wir wollten hinausstürzen und Peter Petrowitsch suchen, um
-mit seiner Hilfe wenigstens ... denn wir waren allein, vollkommen
-allein,« sagte sie mit kläglicher Stimme und verstummte plötzlich, als
-sie sich erinnerte, daß es noch ziemlich gefährlich sei, über Peter
-Petrowitsch zu sprechen, ungeachtet dessen, »daß alle schon wieder
-vollkommen glücklich sind.«
-
-»Ja, ja ... das alles ist sicher ärgerlich ...« murmelte Raskolnikoff,
-aber mit solch einem zerstreuten und fast unaufmerksamen Ausdrucke, daß
-Dunetschka ihn voll Erstaunen ansah.
-
-»Was wollte ich doch sagen,« fuhr er fort und versuchte sich zu
-besinnen, »ja, -- bitte, Mama, und du, Dunetschka, denkt nicht, daß ich
-nicht als erster heute zu euch kommen wollte und etwa auf euren Besuch
-wartete.«
-
-»Ja, was fällt dir ein, Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna, die jetzt
-auch erstaunte, aus.
-
-»Weshalb spricht er so konventionell?« dachte Dunetschka. »Er söhnt sich
-aus und bittet um Verzeihung, als erfülle er eine Pflicht oder sage das
-Gelernte auf!«
-
-»Ich bin soeben aufgewacht und wollte zu euch gehen, aber mich hielten
-meine Kleider auf; ich hatte vergessen, ihr ... Nastasja zu sagen ...
-dieses Blut auszuwaschen ... Jetzt, soeben erst habe ich mich
-angezogen.« --
-
-»Blut! Was für Blut?« sagte Pulcheria Alexandrowna erschrocken.
-
-»Es ist nichts ... regen Sie sich nicht auf. Das Blut kommt daher, weil
-ich, als ich gestern besinnungslos herumirrte, auf einen überfahrenen
-Menschen stieß ... auf einen Beamten ...«
-
-»Besinnungslos? Aber du erinnerst dich an alles,« unterbrach ihn
-Rasumichin.
-
-»Das ist richtig,« antwortete ihm Raskolnikoff mit Bedacht, »ich
-erinnere mich an alles, bis auf die geringste Kleinigkeit, aber dennoch,
-denk dir, -- warum ich das getan und dort gewesen bin und jenes gesagt
-habe, -- kann ich mir nicht erklären.«
-
-»Das ist eine sehr bekannte Tatsache,« mischte sich Sossimoff ein,
-»zuweilen ist die Ausführung einer Sache meisterlich, glänzend, die
-Direktion der Handlungen aber, der Ursprung der Handlungen, ist dunkel
-und hängt von allerhand krankhaften Empfindungen ab. Es ist wie im
-Traume.«
-
-»Es ist vielleicht gut, daß er mich beinahe für einen Irrsinnigen hält,«
-dachte Raskolnikoff.
-
-»Aber das kann man vielleicht auch von Gesunden sagen,« bemerkte
-Dunetschka und sah Sossimoff besorgt an.
-
-»Ihre Bemerkung ist ziemlich richtig,« antwortete er, »in diesem Sinne
-gleichen wir fast alle tatsächlich und sehr oft Verrückten, nur mit dem
-kleinen Unterschiede, daß die >Kranken< ein bißchen mehr verrückt sind
-als wir, man muß hier eine Grenze festhalten. Einen ganz harmonischen
-Menschen aber, -- das ist wahr, -- gibt es fast nicht; auf Zehntausende,
-vielleicht aber auch auf viele Hunderttausende findet man einen ...«
-
-Bei dem Worte »verrückt,« das Sossimoff unvorsichtigerweise
-entschlüpfte, als er auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam, verzogen
-alle die Gesichter. Raskolnikoff saß in Gedanken und mit einem seltsamen
-Lächeln auf den bleichen Lippen da, als schenke er dem keine
-Aufmerksamkeit. Er fuhr fort etwas zu erwägen.
-
-»Nun, was ist mit dem Überfahrenen? Ich habe dich unterbrochen!« rief
-schnell Rasumichin.
-
-»Was?« schien er zu erwachen, »ja ... nun, da habe ich mich mit Blut
-beschmutzt, als ich half, ihn in seine Wohnung zu tragen ... Ja, Mama,
-ich habe gestern etwas Unverzeihliches getan, -- ich war wirklich nicht
-bei Verstand. Ich habe gestern alles Geld, das Sie mir geschickt haben,
-... seiner Frau ... zur Beerdigung gegeben. Sie ist jetzt Witwe, eine
-schwindsüchtige, beklagenswerte Frau ... drei kleine Kinder, Waisen,
-hungrig ... im Hause ist nichts ... und es ist noch eine Tochter da ...
-Vielleicht hätten Sie auch selbst gegeben, wenn Sie gesehen hätten ...
-Ich hatte übrigens gar kein Recht, ich gestehe es ein, besonders weil
-ich weiß, wie Sie dieses Geld sich verschafft haben. Um zu helfen, muß
-man erst ein Recht dazu haben, sonst -- >_Crevez, chiens, si vous n'êtes
-pas contents_{[3]}<.« Er lachte. »Ist es nicht wahr, Dunja?«
-
-»Nein, es ist nicht wahr,« antwortete Dunja fest.
-
-»Bah! Auch du hast ... Ansichten! ...« murmelte er und blickte sie fast
-mit Haß an und lächelte spöttisch. »Ich hätte dies in Betracht ziehen
-müssen ... Nun, was ist dabei, es ist lobenswert und für dich besser ...
-und wenn du bis zu einer Grenze kommst, die du nicht übertreten kannst
--- wirst du unglücklich sein, und wenn du sie überschreitest, -- wirst
-du vielleicht noch unglücklicher sein ... Übrigens aber, dies ist alles
-Unsinn!« fügte er gereizt hinzu, ärgerlich über seine unwillkürliche
-Offenheit. »Ich wollte bloß sagen, daß ich Sie, Mama, um Verzeihung
-bitte,« schloß er scharf und bündig.
-
-»Aber Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« sagte
-erfreut die Mutter.
-
-»Seien Sie nicht davon überzeugt,« antwortete er und verzog den Mund zu
-einem Lächeln.
-
-Ein Schweigen trat ein. Etwas Gespanntes lag in diesem ganzen Gespräche
-und im Schweigen, wie auch in der Versöhnung und Verzeihung, und alle
-fühlten es.
-
-»Als ob sie sich vor mir fürchteten,« dachte Raskolnikoff und blickte
-die Mutter und die Schwester unter der gesenkten Stirn hervor an.
-
-Pulcheria Alexandrowna wurde immer ängstlicher, je länger sie schwieg.
-
-»Aus der Ferne schien sie doch zu lieben,« durchzuckte es ihn.
-
-»Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« platzte plötzlich
-Pulcheria Alexandrowna heraus.
-
-»Was für eine Marfa Petrowna?«
-
-»Ach, mein Gott, Marfa Petrowna Sswidrigailowa! Ich habe dir so viel
-über sie geschrieben.«
-
-»Ach, ja ich erinnere mich ... also sie ist gestorben? Ach, in der Tat?«
-fuhr er plötzlich auf, als sei er erwacht. »Ist sie wirklich gestorben?
-Woran denn?«
-
-»Stell dir vor, ganz plötzlich!« beeilte sich Pulcheria Alexandrowna ihm
-zu antworten, ermutigt durch seine Neugier, »und gerade in der Zeit, als
-ich dir den Brief schickte, sogar an demselben Tage! Denk dir, dieser
-schreckliche Mensch scheint auch die Ursache ihres Todes zu sein. Man
-erzählt, er habe sie furchtbar verprügelt!«
-
-»Leben sie denn in dieser Weise?« fragte er, sich an die Schwester
-wendend.
-
-»Nein, im Gegenteil. Er war ihr gegenüber stets sehr geduldig und
-höflich. In vielen Fällen sogar zu duldsam ihrer Art gegenüber, volle
-sieben Jahre ... Mit einem Male scheint er die Geduld verloren zu
-haben.«
-
-»Also ist er gar nicht so schrecklich, wenn er sieben Jahre ausgehalten
-hat? Du scheinst ihn, Dunetschka, zu entschuldigen?«
-
-»Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Ich kann mir nichts
-Schrecklicheres vorstellen,« antwortete Dunja fast erbebend, zog die
-Augenbrauen zusammen und wurde nachdenklich.
-
-»Es geschah am Morgen,« fuhr Pulcheria Alexandrowna eilig fort. »Dann
-befahl sie, sofort anzuspannen, um gleich nach dem Mittagessen in die
-Stadt zu fahren, weil sie stets in solchen Fällen in die Stadt fuhr; sie
-aß zu Mittag, wie man sagt, mit großem Appetit ...«
-
-»Verprügelt, wie sie war?«
-
-»... Sie hatte übrigens auch immer diese ... Angewohnheit, und kaum als
-sie gegessen hatte, ging sie, um nicht zu spät abzufahren, sofort in die
-Badestube ... Siehst du, sie nahm aus Gesundheitsrücksichten Bäder; sie
-haben dort eine kalte Quelle, und sie badete dort jeden Tag, und als sie
-ins Wasser stieg, traf sie plötzlich der Schlag!«
-
-»Kein Wunder,« sagte Sossimoff.
-
-»Und hat er sie stark verprügelt?«
-
-»Das ist aber doch gleichgültig,« sagte Dunja.
-
-»Hm. Übrigens, was haben Sie für ein Vergnügen, Mama, solch einen Unsinn
-zu erzählen,« kam es gereizt und plötzlich von den Lippen Raskolnikoffs.
-
-»Ach, mein Freund, ich wußte nicht mehr, worüber ich sprechen soll,«
-sagte Pulcheria Alexandrowna.
-
-»Ja, was ist das, fürchtet ihr mich etwa?« sagte er mit einem
-gezwungenen Lächeln.
-
-»Das ist wahr,« antwortete Dunja und sah den Bruder offen und streng an.
-»Als Mama die Treppe hinaufging, schlug sie sogar ein Kreuz vor Angst.«
-
-Sein Gesicht verzog sich wie im Krampf.
-
-»Ach, Dunja, was ist mit dir! Sei nicht böse, Rodja, ich bitte dich ...
-Warum hast du das gesagt, Dunja!« sagte Pulcheria Alexandrowna verlegen,
-»das ist wahr, als ich hierherreiste, träumte ich den ganzen Weg, wie
-wir uns wiedersehen, wie wir einander alles erzählen werden ... und war
-so glücklich, daß ich die Reise nicht einmal belästigend fand! Ja, was
-sage ich! Ich bin auch jetzt glücklich ... Du hast unrecht, Dunja ...
-Ich bin schon allein dadurch glücklich, daß ich dich sehe, Rodja ...«
-
-»Lassen Sie es, Mama,« murmelte er in Verlegenheit und drückte ihr die
-Hand ohne sie anzublicken, »wir werden schon Zeit haben uns
-auszusprechen.«
-
-Nachdem er das gesagt hatte, wurde er wieder verlegen und erbleichte, --
-wieder durchzog eine kurze schreckliche Empfindung in toter Kälte seine
-Seele, wieder wurde es ihm plötzlich vollkommen klar, daß er soeben eine
-furchtbare Lüge gesagt hatte, daß er nie wieder sich aussprechen könne,
-daß er nie mehr, niemals und mit niemandem, überhaupt _sprechen_ dürfe.
-Der Eindruck dieses qualvollen Gedankens war so stark, daß er auf einen
-Moment sich fast vergaß, von seinem Platze aufstand und ohne jemand
-anzublicken, aus dem Zimmer zu gehen im Begriffe war.
-
-»Was ist dir?« rief Rasumichin und faßte ihn an der Hand.
-
-Er setzte sich wieder hin und begann sich schweigend umzusehen; alle
-blickten ihn befremdet an.
-
-»Ja, warum seid ihr alle so langweilig!« rief er plötzlich, ganz
-unerwartet. »Sagt doch etwas! Warum sitzen wir so herum! Nun, so redet
-doch! Wollen wir uns unterhalten ... Sind zusammengekommen und schweigen
-... redet doch etwas!«
-
-»Gott sei dank! Ich dachte, mit ihm geschieht irgend etwas wie gestern,«
-sagte Pulcheria Alexandrowna und bekreuzigte sich.
-
-»Was ist mit dir, Rodja?« fragte Awdotja Romanowna mißtrauisch.
-
-»Nichts, ich denke gerade an etwas Komisches,« antwortete er und lachte
-plötzlich.
-
-»Nun, wenn es etwas Komisches ist, so ist es gut! Ich dachte beinahe
-selbst ...« murmelte Sossimoff und erhob sich vom Sofa. »Ich muß jetzt
-gehen; ich komme noch einmal her, vielleicht ... wenn ich Sie antreffe
-...« Er verabschiedete sich und ging hinaus.
-
-»Welch ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna.
-
-»Ja, er ist prächtig, ausgezeichnet, gebildet, klug ...« sagte plötzlich
-Raskolnikoff schnell und mit einer an ihm nicht gewohnten Lebhaftigkeit,
-»ich erinnere mich nicht, daß ich ihn vor meiner Krankheit getroffen
-hätte ... und doch ist mir, als hätte ich ihn irgendwo schon getroffen
-... Dieser da ist auch ein guter Mensch!« er wies mit dem Kopfe auf
-Rasumichin, -- »gefällt er dir, Dunja?« fragte er sie und lachte
-plötzlich, ohne daß man wußte warum.
-
-»Er gefällt mir sehr,« antwortete Dunja.
-
-»Pfui, wie ... gemein du bist!« sagte Rasumichin furchtbar verlegen und
-errötend und stand vom Stuhle auf.
-
-Pulcheria Alexandrowna lächelte ein wenig und Raskolnikoff lachte laut.
-
-»Wohin willst du denn?«
-
-»Ich muß auch ... gehen.«
-
-»Du mußt gar nicht, bleibe hier! Sossimoff ist fortgegangen und da mußt
-du auch gehen? Bleib nur. Wieviel Uhr ist es? Ist es schon zwölf? Was du
-für eine nette Uhr hast, Dunja! Ja, warum schweigt ihr wieder? Bloß ich,
-ich allein rede die ganze Zeit! ...«
-
-»Die Uhr ist ein Geschenk von Marfa Petrowna,« antwortete Dunja.
-
-»Und eine sehr teure Uhr,« fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu.
-
-»So--o! Wie groß ist sie, fast keine Damenuhr mehr.«
-
-»Ich habe solche gern,« sagte Dunja.
-
-»Also, es ist kein Geschenk vom Bräutigam,« dachte Rasumichin und wurde
-froh darüber.
-
-»Ich dachte, sie ist ein Geschenk von Luschin,« bemerkte Raskolnikoff.
-
-»Nein, er hat Dunetschka noch nichts geschenkt.«
-
-»So--o! Erinnern Sie sich noch, Mama, daß ich verliebt war und heiraten
-wollte,« sagte er plötzlich und sah die Mutter an, die von der
-unerwarteten Bemerkung und dem Tone, mit dem er sprach, betroffen war.
-
-»Ach, mein Freund, ja ich erinnere mich!« Pulcheria Alexandrowna
-wechselte mit Dunetschka und Rasumichin einen Blick.
-
-»Hm! Ja! Was soll ich Ihnen erzählen? Ich erinnere mich dessen ganz
-wenig. Sie war ein sehr krankes Mädchen,« fuhr er fort, anscheinend
-wieder in Gedanken versunken und mit gesenktem Blicke, »ganz krank war
-sie; sie liebte Almosen zu geben und träumte immer vom Kloster, und
-einmal weinte sie arg, als sie mir davon erzählte. Ja, ja ... ich
-erinnere mich ... ich erinnere mich dessen gut. Sie sah so ... häßlich
-aus. Ich weiß wirklich nicht, warum ich damals eine Neigung zu ihr
-faßte, vielleicht weil sie immer krank war ... Wäre sie noch lahm oder
-buckelig gewesen, ich hätte sie dann, glaube ich, noch mehr geliebt ...«
-(er lächelte nachdenklich). »Es war so ... ein Frühlingstraum ...«
-
-»Nein, es war nicht allein ein Frühlingstraum,« sagte Dunetschka innig.
-
-Er blickte aufmerksam und durchdringend die Schwester an, ohne ihre
-Worte recht gehört oder gar verstanden zu haben. Dann stand er in tiefem
-Nachdenken auf, trat an die Mutter heran, küßte sie, kehrte auf seinen
-Platz zurück und setzte sich wieder.
-
-»Du liebst sie auch jetzt noch!« sagte Pulcheria Alexandrowna gerührt.
-
-»Sie? Jetzt? Ach ja ... Sie meinen sie! Nein. All das ist jetzt wie aus
-einer anderen Welt ... und so lange her. Ja und alles, was hier rings um
-mich geschieht, ist, als geschähe es nicht hier ...«
-
-Er blickte sie aufmerksam an.
-
-»Auch euch ... ich sehe euch, wie tausend Werst weit von hier ... Ja,
-und zum Teufel, warum sprechen wir darüber! Und warum fragt ihr mich
-aus?« fügte er ärgerlich hinzu und verstummte, kaute an den Fingernägeln
-und wurde von neuem nachdenklich.
-
-»Wie schlecht deine Wohnung ist, Rodja, sie ist wie ein Sarg,« sagte
-plötzlich Pulcheria Alexandrowna, das peinliche Schweigen unterbrechend,
-»ich bin überzeugt, daß zur Hälfte dich diese Wohnung zu einem
-Melancholiker gemacht hat.«
-
-»Die Wohnung? ...« antwortete er zerstreut. »Ja, diese Wohnung hat viel
-dazu beigetragen ... ich habe es auch gedacht ... Wenn Sie aber wüßten,
-welchen merkwürdigen Gedanken Sie soeben aussprachen,« fügte er
-plötzlich hinzu und lächelte eigentümlich.
-
-Noch ein Weniges, und diese Gesellschaft, seine nächsten Verwandten, die
-er nach dreijähriger Trennung wiedersah, und diese Art von Gesprächen,
-die kein Thema festzuhalten vermochten, mußten ihm schließlich ganz
-unerträglich werden. Es gab jedoch noch eine unaufschiebbare
-Angelegenheit, die heute noch, so oder so, aber unbedingt entschieden
-werden sollte, -- so hatte er vorhin schon, als er erwachte,
-beschlossen. Jetzt freute er sich darüber, wie über einen Ausweg.
-
-»Höre, Dunja,« begann er ernst und trocken, »ich bitte
-selbstverständlich wegen des Gestrigen um Verzeihung, aber ich halte es
-für meine Pflicht, dich noch einmal zu erinnern, daß ich von meinem
-Hauptverlangen nicht zurücktrete. Entweder ich oder Luschin. Mag ich ein
-Schuft sein, du aber darfst es nicht werden. Einer allein. Wenn du
-Luschin heiratest, höre ich sofort auf, dich als meine Schwester
-anzusehen.«
-
-»Rodja, Rodja! Das ist doch dasselbe wie gestern,« rief Pulcheria
-Alexandrowna kummervoll aus, »und warum nennst du dich immer einen
-Schuft, ich kann es nicht ertragen! Auch gestern war dasselbe ...«
-
-»Bruder,« antwortete Dunja fest und ebenso trocken, »in alledem liegt
-ein Irrtum deinerseits. Ich habe es heute überlegt und den Irrtum
-gefunden. Die Hauptsache ist, daß du, wie es mir scheint, denkst, ich
-bringe mich jemandem und um jemandes willen zum Opfer. Das ist nicht
-richtig. Ich heirate nur meinethalben, weil mir das Leben so zu führen
-selbst schwer fällt; dann aber will ich auch sicher froh sein, wenn es
-mir gelingen sollte, meinen Verwandten nützlich zu sein, zu meinem
-Entschlusse aber ist dies nicht der hauptsächlichste Beweggrund ...«
-
-»Sie lügt!« dachte er und kaute vor Wut an seinen Nägeln. »Sie ist
-stolz! Sie will es nicht eingestehen, daß sie Wohltaten erweisen möchte!
-Oh, diese niedrigen Charaktere! Sie lieben, als haßten sie ... Oh, wie
-ich sie alle ... hasse!«
-
-»Mit einem Worte, ich heirate Peter Petrowitsch,« fuhr Dunetschka fort,
-»weil ich von zwei Übeln das kleinste wähle. Ich habe die Absicht, alles
-ehrlich zu erfüllen, was er von mir erwartet, also betrüge ich ihn nicht
-... Warum lächelst du jetzt?«
-
-Sie errötete und in ihren Augen blitzte der Zorn.
-
-»Du willst alles erfüllen?« fragte er mit einem giftigen Lächeln.
-
-»Bis zu einer gewissen Grenze. Die Art und die Form des Antrages von
-Peter Petrowitsch haben mir sofort gezeigt, was er braucht. Er schätzt
-sich gewiß vielleicht zu hoch ein, aber ich hoffe, daß er auch mich
-schätzt ... Warum lachst du wieder?«
-
-»Und warum errötest du wieder? Du lügst, Schwester, du lügst bewußt,
-bloß aus weiblichem Eigensinn, um nur auf deinem Willen vor mir zu
-bestehen ... Du kannst Luschin nicht achten, -- ich habe ihn gesehen und
-mit ihm gesprochen. Also, verkaufst du dich für Geld und also handelst
-du in jedem Falle niedrig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch
-erröten kannst!«
-
-»Es ist nicht wahr, ich lüge nicht! ...« rief Dunetschka, ihre ganze
-Kaltblütigkeit verlierend, »ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht
-überzeugt wäre, daß er mich schätzt und auf mich etwas gibt; ich würde
-ihn nicht heiraten, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß ich ihn
-selbst achten kann. Zum Glück kann ich mich davon sicher und heute noch
-überzeugen. Und solch eine Heirat ist keine Schuftigkeit, wie du sagst!
-Und wenn du auch recht hättest, wenn ich tatsächlich mich zu einer
-Schuftigkeit entschlossen hätte, -- ist es dann nicht grausam von dir,
-so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir ein Heldentum, das du
-vielleicht selbst nicht hast? Das ist Despotismus, das ist
-Gewalttätigkeit! Wenn ich jemand zugrunde richte, doch höchstens mich
-selbst ... Ich habe noch niemanden getötet ... Warum schaust du mich so
-an? Warum bist du so bleich geworden? Rodja, was ist dir? Rodja, lieber
-...«
-
-»Herrgott! Sie hat ihn bis zur Ohnmacht gebracht!« -- rief Pulcheria
-Alexandrowna aus.
-
-»Nein, nein ... das ist Unsinn ... es ist nichts! ... Der Kopf
-schwindelt mir nur ein wenig. Es ist keine Ohnmacht ... Ihr wittert
-überall Ohnmachten ... Hm! ja ... was wollte ich sagen? Ja, -- wie
-willst du dich heute überzeugen, daß du ihn achten kannst, und daß er
-dich ... schätzt etwa, wie du sagtest? Du sagtest, schien mir, heute?
-Oder habe ich mich verhört?«
-
-»Mama, zeigen Sie dem Bruder den Brief von Peter Petrowitsch,« -- sagte
-Dunetschka.
-
-Pulcheria Alexandrowna reichte ihm mit zitternden Händen den Brief. Er
-nahm ihn mit großer Neugierde. Ehe er ihn aber öffnete, blickte er
-plötzlich verwundert Dunetschka an.
-
-»Sonderbar,« -- sagte er langsam, als wäre er durch einen neuen Gedanken
-überrascht, »warum rege ich mich so auf? Warum dieses ganze Geschrei?
-Heirate, wen du willst!«
-
-Er sagte es scheinbar für sich selbst, sprach es aber laut aus und
-blickte eine Weile die Schwester wie verblüfft an.
-
-Er öffnete endlich den Brief, wobei er immer noch den Ausdruck einer
-seltsamen Verwunderung behielt; dann begann er langsam und aufmerksam zu
-lesen und las den Brief zweimal. Pulcheria Alexandrowna war in großer
-Unruhe, auch die anderen erwarteten etwas Besonderes.
-
-»Mich wundert es,« -- begann er nach einigem Nachdenken und gab den
-Brief der Mutter zurück, wandte sich aber zu keinem einzelnen, -- »er
-führt doch Prozesse, ist Advokat, und seine Weise zu sprechen hat auch
-so einen ... Anstrich, -- aber wie ungebildet er schreibt.« Alle rührten
-sich, das hatten sie nicht erwartet.
-
-»Sie schreiben doch alle so,« -- bemerkte Rasumichin kurz.
-
-»Hast du den Brief gelesen?«
-
-»Ja.«
-
-»Wir haben ihn gezeigt, Rodja, wir ... haben vorhin uns beratschlagt,«
--- begann Pulcheria Alexandrowna verlegen.
-
-»Es ist eigentlich der Gerichtsstil,« -- unterbrach Rasumichin, --
-»Gerichtspapiere werden heute noch so geschrieben.«
-
-»Gerichtsstil? Ja, wirklich, Gerichtsstil, Geschäftsstil ... Er ist
-nicht ganz ungebildet geschrieben und auch nicht sehr literarisch; ein
-Geschäftsbrief!«
-
-»Peter Petrowitsch verheimlicht auch nicht, daß er wenig gelernt hat,
-und ist sogar stolz darauf, daß er seinen Weg selbst gemacht hat,« --
-bemerkte Awdotja Romanowna, neuerlich durch den Ton des Bruders
-gekränkt.
-
-»Nun, wenn er stolz darauf ist, hat er auch ein Recht dazu, -- ich
-widerspreche nicht. Du, Schwester, scheinst gekränkt zu sein, daß ich
-aus dem ganzen Brief nur so eine frivole Schlußfolgerung gezogen habe,
-und meinst, daß ich absichtlich über solche Kleinigkeiten gesprochen
-habe, um mich über dich aus Ärger lustig zu machen. Im Gegenteil, mir
-kam in bezug des Stils ein in diesem Falle nicht ganz überflüssiger
-Gedanke. In dem Briefe ist ein Ausdruck -- >woran Sie allein sich die
-Schuld zuzuschreiben hätten<, der sehr bedeutungsvoll und klar
-hingesetzt ist, und außerdem enthält der Brief die Drohung, daß er
-sofort fortgehen werde, wenn ich hinkomme. Diese Drohung fortzugehen,
-ist gleichbedeutend der Drohung, euch beide zu verlassen, wenn ihr
-unfolgsam sein werdet, und gerade jetzt zu verlassen, wo er euch nach
-Petersburg gebracht hat. Nun, was meinst du, -- kann man durch solch
-einen Ausdruck seitens Luschins ebenso gekränkt sein, wie wenn er es
-geschrieben hätte« -- (er zeigte auf Rasumichin) -- »oder Sossimoff oder
-einer von uns?«
-
-»N--nein,« -- antwortete Dunetschka, -- »ich habe sehr gut verstanden,
-daß es zu naiv ausgedrückt ist, und daß er vielleicht bloß nicht
-versteht zu schreiben ... Das hast du gut beurteilt, Bruder. Ich habe
-das nicht mal erwartet ...«
-
-»Das ist in Gerichtssprache ausgedrückt und im Gerichtsstil kann man es
-anders nicht schreiben, und es ist gröber herausgekommen, als er
-vielleicht wollte. Übrigens, ich muß dich ein wenig enttäuschen, -- in
-diesem Briefe gibt es noch eine Äußerung, eine Verleumdung in bezug auf
-mich, und eine ziemlich gemeine. Ich habe das Geld gestern der Witwe,
-einer schwindsüchtigen und niedergeschmetterten Frau, gegeben, und nicht
-unter dem Vorwande, die Beerdigungskosten zu tragen, sondern einfach zur
-Beerdigung, auch nicht der Tochter, -- einem Mädchen, wie er schreibt,
->von verrufenem Lebenswandel< -- und die ich gestern zum ersten Male in
-meinem Leben gesehen habe, sondern tatsächlich der Witwe. In diesem
-allen sehe ich den zu eiligen Wunsch, mich mit Schmutz zu bewerfen und
-mit euch zu verzwisten. Es ist wiederum in der Gerichtssprache
-ausgedrückt, das heißt mit einer zu deutlichen Klarlegung des Zweckes
-und einer sehr naiven Eile. Er ist ein kluger Mann, aber um klug zu
-handeln genügt nicht, nur Verstand zu haben. Dies alles zeigt den
-Menschen und ... ich glaube nicht, daß er dich hochschätzt. Ich teile es
-dir nur zur Belehrung mit, denn ich wünsche aufrichtig dein Gutes ...«
-
-Dunetschka antwortete nicht; ihr Entschluß war schon vorhin gefaßt, sie
-erwartete bloß den Abend.
-
-»Wie entschließt du dich denn, Rodja?« -- fragte Pulcheria Alexandrowna,
-noch mehr beunruhigt als vorhin, durch den plötzlichen, neuen,
-_geschäftlichen_ Ton seiner Rede.
-
-»Was heißt -- entschließest du dich?« --
-
-»Peter Petrowitsch schreibt doch, daß du heute abend nicht bei uns sein
-sollst, und daß er fortgehen werde ... wenn du doch kommen solltest.
-Also, wie ... wirst du kommen?«
-
-»Die Entscheidung hierüber kommt doch selbstverständlich nicht mir,
-sondern erstens Ihnen zu, wenn Sie dieses Verlangen von Peter
-Petrowitsch nicht kränkt, und zweitens Dunja, wenn sie sich auch nicht
-gekränkt fühlt. Und ich will handeln, wie es für sie am besten ist,« --
-fügte er trocken hinzu.
-
-»Dunetschka hat schon beschlossen, und ich bin mit ihr völlig
-einverstanden,« -- beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu bemerken.
-
-»Ich habe beschlossen, dich, Rodja, zu bitten, eindringlich zu bitten,
-unbedingt bei dieser Zusammenkunft zugegen zu sein,« -- sagte Dunja, --
-»willst du kommen?«
-
-»Ich will kommen.«
-
-»Auch Sie bitte ich, bei uns um acht Uhr zu sein,« -- wandte sie sich an
-Rasumichin, -- »Mama, ich fordere ihn auch auf.«
-
-»Sehr gut, Dunetschka. Nun, wie ihr beschlossen habt, möge es bleiben,«
--- fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. -- »Und für mich ist es auch
-leichter; ich liebe nicht, mich zu verstellen und zu lügen; besser
-wollen wir die ganze Wahrheit sagen ... Mag Peter Petrowitsch jetzt böse
-sein oder nicht!«
-
-
- IV.
-
-In diesem Augenblicke wurde die Türe leise geöffnet und ins Zimmer trat,
-sich schüchtern umblickend, ein junges Mädchen herein. Alle wandten sich
-mit Erstaunen und Neugier zu ihr um. Raskolnikoff erkannte sie nicht
-gleich auf den ersten Blick. Es war Ssofja Ssemenowna Marmeladowa.
-Gestern hatte er sie zum ersten Male gesehen, aber in solch einem
-Augenblicke, in solcher Umgebung und solch einem Aufzuge, daß in seiner
-Erinnerung das Bild einer ganz anderen Person haften geblieben war.
-Jetzt war es ein einfach und sogar ärmlich angezogenes Mädchen, noch
-sehr jung, fast einem Kinde ähnlich, mit bescheidenem und anständigem
-Wesen, und mit einem klaren, aber anscheinend verängstigten Gesichte.
-Sie hatte ein sehr einfaches Hauskleid an und auf dem Kopfe einen alten
-Hut von früherer Mode; nur in den Händen trug sie den Sonnenschirm von
-gestern. Als sie plötzlich ein Zimmer voll Menschen erblickte, wurde sie
-nicht bloß verlegen, sondern verlor die Fassung und ward verzagt wie ein
-kleines Kind, und machte sogar eine Bewegung, als wollte sie wieder
-gehen.
-
-»Ach ... Sie sind es? ...« sagte Raskolnikoff außerordentlich
-verwundert, und wurde plötzlich selbst verlegen. Er dachte sofort daran,
-daß die Mutter und die Schwester aus dem Briefe Luschins schon etwas von
-einem gewissen Mädchen »von verrufenem Lebenswandel« wußten. Soeben
-hatte er noch gegen die Verleumdung Luschins protestiert und erwähnt,
-daß er dieses Mädchen zum ersten Male gesehen habe, und plötzlich tritt
-sie selbst ein. Er erinnerte sich auch, daß er gar nicht gegen den
-Ausdruck -- »von verrufenem Lebenswandel« protestiert habe. Dies alles
-durchzog unklar und flüchtig seinen Kopf. Als er aber aufmerksamer
-hinblickte, sah er, wie gedrückt dieses erniedrigte Wesen war, und sie
-tat ihm plötzlich leid. Als sie aber im Schreck sich anschickte
-wegzulaufen, schlug seine Stimmung um.
-
-»Ich habe Sie nicht erwartet,« -- sagte er hastig und hielt sie mit
-seinem Blicke zurück. -- »Setzen Sie sich bitte. Sie kommen sicher im
-Auftrage Katerina Iwanownas. Erlauben Sie, setzen Sie sich nicht
-hierhin, sondern dorthin« ... Bei Ssonjas Eintritt war Rasumichin, der
-auf einem der drei Stühle Raskolnikoffs gerade neben der Türe gesessen
-hatte, aufgestanden, um ihr zum Hereingehen Platz zu machen. Zuerst
-wollte ihr Raskolnikoff den Platz in der Ecke des Sofas anbieten, wo
-Sossimoff gesessen hatte, aber es fiel ihm ein, daß dieses Sofa ein zu
-_familiärer_ Platz sei, ihm als Bett diene und beeilte sich, ihr den
-Stuhl Rasumichins anzubieten.
-
-»Und du setzt dich hierher,« -- sagte er zu Rasumichin und wies ihn in
-die Ecke, wo Sossimoff gesessen hatte.
-
-Ssonja setzte sich, fast zitternd vor Angst, und blickte schüchtern auf
-die beiden Damen. Man sah, daß sie selbst nicht begriff, wie sie sich
-neben sie hinsetzen konnte. Als es ihr bewußt wurde, erschrak sie so,
-daß sie wieder aufstand und sich in völliger Verwirrung an Rasumichin
-wandte.
-
-»Ich ... ich ... bin nur auf einen Augenblick gekommen, verzeihen Sie,
-daß ich Sie gestört habe,« -- sagte sie stockend.
-
-»Ich komme im Auftrage Katerina Iwanownas, sie hatte sonst niemanden zum
-Schicken ... Und Katerina Iwanowna läßt Sie sehr bitten, zu der
-Totenmesse morgen früh ... zu kommen. Nach dem Gottesdienst ... auf dem
-Mitrofaniewschen Friedhof und nachher bei uns ... bei ihr ... zu essen
-... Ihr die Ehre zu erweisen ... Sie läßt Sie bitten.«
-
-Sie stockte und verstummte.
-
-»Ich will es unbedingt versuchen ... unbedingt,« -- antwortete
-Raskolnikoff, indem er sich auch erhob, ebenso stockte und nicht
-ausredete. -- »Bitte, tun Sie mir den Gefallen, setzen Sie sich,« --
-sagte er plötzlich, -- »ich muß mit Ihnen sprechen. Bitte, -- Sie haben
-es vielleicht eilig, -- tun Sie mir aber den Gefallen und schenken Sie
-mir nur noch zwei Minuten ...« und er schob ihr den Stuhl hin. Ssonja
-setzte sich wieder, und wieder warf sie schüchtern und verstört einen
-schnellen Blick auf die beiden Damen und senkte sogleich wieder die
-Augen.
-
-Das bleiche Gesicht Raskolnikoffs errötete; er schien wie umgewandelt,
-seine Augen funkelten.
-
-»Mama,« -- sagte er fest und eindringlich, -- »das ist Ssofja Ssemenowna
-Marmeladowa, die Tochter des unglücklichen Herrn Marmeladoff, der
-gestern vor meinen Augen vom Pferde zu Boden getreten wurde, was ich
-Ihnen schon erzählt habe ...«
-
-Pulcheria Alexandrowna blickte nach Ssonja und kniff ein wenig die Augen
-zusammen. Trotz ihrer Verlegenheit vor dem eindringlichen und
-herausfordernden Blicke Rodjas konnte sie sich dieses Vergnügen nicht
-versagen. Dunetschka sah ernst und unverwandt dem armen Mädchen ins
-Gesicht und betrachtete sie unschlüssig. Als Ssonja diese Vorstellung
-hörte, erhob sie die Augen auf einen Augenblick und wurde noch mehr
-verlegen.
-
-»Ich wollte Sie fragen,« -- wandte sich Raskolnikoff schnell zu ihr, --
-»wie hat sich heute alles bei Ihnen gemacht? Hat man sie nicht
-belästigt? ... Zum Beispiel die Polizei.«
-
-»Nein, alles ging glatt ... Es war doch deutlich zu sehen, woran er
-gestorben ist; man hat uns weiter nicht belästigt, nur die Mieter sind
-böse.«
-
-»Warum?«
-
-»Weil die Leiche so lange steht ... jetzt ist es doch heiß, es gibt
-einen Geruch ... so daß man die Leiche heute zur Abendmesse auf den
-Friedhof tragen wird, und läßt sie dort bis morgen in der Kapelle
-stehen. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht, jetzt aber sieht sie
-selbst ein, daß es so besser ist ...«
-
-»Also heute?«
-
-»Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen, morgen bei der Totenmesse in
-der Kirche zu sein, und dann bei ihr zu essen.«
-
-»Sie gibt zu seinem Andenken ein Essen?«
-
-»Ja, einen Imbiß; sie läßt Ihnen sehr danken, daß Sie gestern uns
-geholfen haben ... ohne Sie wäre gar nichts da, womit man ihn hätte
-beerdigen können.«
-
-Ihre Lippen und ihr Kinn bebten plötzlich, aber sie nahm sich zusammen,
-hielt an sich, und senkte wieder die Augen zu Boden.
-
-Während des Gespräches schaute sie Raskolnikoff unverwandt an. Sie hatte
-ein zartes, ganz mageres und blasses Gesichtchen, ziemlich unregelmäßige
-Züge, mit einer spitzen kleinen Nase und ebensolchem Kinn. Man konnte
-sie nicht einmal hübsch nennen, aber ihre blauen Augen waren so klar,
-und, wenn sie sich belebten, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes so gut
-und schlicht, daß sie einen unwillkürlich anzog. In ihrem Gesichte und
-auch in ihrer ganzen Gestalt lag außerdem etwas besonders
-Charakteristisches, -- trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie jünger aus als
-sie war, fast wie ein Kind, und dies zeigte sich zuweilen in gelungener
-Weise bei einigen ihrer Bewegungen.
-
-»Aber wie konnte denn Katerina Iwanowna mit so wenig Mitteln auskommen,
-und hat dazu noch die Absicht, ein Essen zu geben?« ... fragte
-Raskolnikoff, bestrebt, das Gespräch fortzuführen.
-
-»Der Sarg ist einfach ... und alles ist einfach, so daß es nicht teuer
-kommt ... wir haben vorhin mit Katerina Iwanowna alles ausgerechnet, es
-bleibt noch so viel übrig, um sein Andenken zu ehren ... und Katerina
-Iwanowna möchte das so sehr gern. Man kann nichts dagegen sagen ... ihr
-ist es ein Trost ... so ist sie nun, Sie wissen doch ...«
-
-»Ich verstehe, verstehe ... Selbstverständlich ... Warum betrachten Sie
-so mein Zimmer? Meine Mama sagt auch, daß es einem Sarge ähnelt.«
-
-»Sie haben gestern uns alles gegeben!« -- sagte plötzlich Ssonjetschka
-leise und hastig, und schlug wieder die Augen nieder.
-
-Ihre Lippen und ihr Kinn bebten wieder. Sie war längst schon von der
-ärmlichen Umgebung Raskolnikoffs überrascht, und jetzt waren ihr diese
-Worte entschlüpft. Es trat Schweigen ein. Dunetschkas Augen schienen zu
-leuchten, und Pulcheria Alexandrowna blickte Ssonja freundlich an.
-
-»Rodja,« -- sagte sie, sich erhebend, -- »wir essen selbstverständlich
-zusammen zu Mittag. Dunetschka, komm ... Rodja, du solltest ausgehen,
-etwas spazieren gehen, dann dich ausruhen, hinlegen, und dann kommst du
-zu uns ... Ich fürchte, wir haben dich ermüdet ...«
-
-»Ja, ja, ich will kommen,« -- antwortete er eilig im Aufstehen, -- »...
-ich habe übrigens noch zu tun ...«
-
-»Ja, werdet ihr nicht mal zusammen zu Mittag essen?« -- rief Rasumichin
-und blickte erstaunt Raskolnikoff an. -- »Was ist mit dir?«
-
-»Ja, ja, ich komme selbstverständlich ... Bleibe noch einen Augenblick.
-Sie brauchen ihn doch jetzt nicht, Mama? Oder nehme ich ihn euch
-vielleicht weg?«
-
-»Ach, nein, nein! Und Sie, Dmitri Prokofjitsch, kommen Sie zu Mittag,
-seien Sie so gut.«
-
-»Bitte, kommen Sie,« -- bat auch Dunetschka.
-
-Rasumichin verbeugte sich und strahlte förmlich. Auf einen Augenblick
-waren alle sonderbar verlegen.
-
-»Lebwohl, Rodja, das heißt, auf Wiedersehen! Ich liebe nicht >lebwohl<
-zu sagen. Lebwohl, Nastasja, ... ach, wieder habe ich >lebwohl< gesagt!
-...«
-
-Pulcheria Alexandrowna wollte sich auch vor Ssonjetschka verbeugen, aber
-sie brachte es nicht fertig und ging eilig aus dem Zimmer.
-
-Awdotja Romanowna wartete, bis die Reihe an sie kam, und als sie hinter
-der Mutter an Ssonja vorbeiging, verabschiedete sie sich von ihr mit
-einem aufmerksamen, höflichen und achtungsvollen Gruß. Ssonjetschka
-wurde verlegen, grüßte hastig und erschrocken, und ein schmerzliches
-Empfinden drückte sich in ihrem Gesichte aus, als ob die Höflichkeit und
-Aufmerksamkeit Awdotja Romanownas sie bedrückte und peinigte.
-
-»Dunja, lebwohl!« -- rief Raskolnikoff ihr auf der Treppe nach, -- »gib
-mir doch die Hand!«
-
-»Ich habe sie dir doch gereicht, hast du es vergessen?« antwortete Dunja
-innig und wandte sich zu ihm um.
-
-»Nun, was tut es, gib sie mir noch einmal!«
-
-Und er drückte stark ihre kleinen Finger. Dunetschka lächelte ihm zu,
-errötete, riß schnell ihre Hand aus der seinen und ging glücklich der
-Mutter nach.
-
-»Nun, das ist prächtig!« -- sagte er zu Ssonja, indem er in sein Zimmer
-zurückkehrte und sie klar anblickte, -- »gebe Gott den Toten die Ruhe
-und lasse die Lebenden leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Es ist doch so?«
-
-Ssonja sah verwundert in sein plötzlich erhelltes Gesicht; er blickte
-sie einige Augenblicke schweigend und unverwandt an, -- was ihr
-verstorbener Vater von ihr erzählt hatte, lebte in dieser Minute in
-seiner Erinnerung auf ...
-
- * * * * *
-
-»Herrgott, Dunetschka!« -- sagte Pulcheria Alexandrowna, als sie kaum
-auf der Straße waren, -- »ich freue mich, daß wir weggegangen sind; es
-wird mir leichter zumute. Wie hätte ich mir gestern im Eisenbahnwagen
-denken können, daß ich darüber froh sein könnte!«
-
-»Ich sage Ihnen noch einmal, Mama, daß er noch sehr krank ist. Können
-Sie es denn nicht sehen? Vielleicht ist er so aufgeregt, weil er
-unseretwegen litt. Man muß nachsichtig sein, und man kann vieles, vieles
-verzeihen.«
-
-»Du aber warst nicht nachsichtig!« -- unterbrach sie eifrig und
-eifersüchtig Pulcheria Alexandrowna. -- »Weißt du, Dunja, ich sah euch
-beide an, du bist sein Ebenbild, und nicht so sehr äußerlich als
-seelisch, beide seid ihr schwerblütig, beide seid ihr düster und
-jähzornig, beide hochmütig und beide hochherzig ... Es kann doch nicht
-sein, daß er ein Egoist ist, Dunetschka, he? ... Und wenn ich daran
-denke, was uns heute abend bevorsteht, so steht mir das Herz still!«
-
-»Regen Sie sich nicht auf, Mama, es wird geschehen, was geschehen muß.«
-
-»Dunetschka! Denk doch nur, in welcher Lage wir jetzt sind! Was
-geschieht, wenn Peter Petrowitsch sich zurückzieht?« -- sagte
-unvorsichtigerweise die arme Pulcheria Alexandrowna.
-
-»Ja, und was ist er dann wert?« -- antwortete Dunetschka scharf und
-verächtlich.
-
-»Wir haben gut getan, daß wir jetzt weggingen,« -- beeilte sich
-Pulcheria Alexandrowna fortzufahren, -- »er hatte etwas Eiliges vor; mag
-er ausgehen, er wird frische Luft amten ... es ist furchtbar dumpf bei
-ihm ... aber wo kann man hier frische Luft atmen? Auch auf den Straßen
-hier ist es wie in einem Zimmer ohne Ventilation -- Herrgott, was ist
-das für eine Stadt! ... Warte doch, geh aus dem Wege, man wird dich noch
-umstoßen, sie tragen da etwas! Ein Klavier tragen sie, wirklich ... wie
-sie stoßen ... Dieses Mädchen fürchte ich auch sehr ...«
-
-»Was für ein Mädchen, Mama?«
-
-»Ja, diese dort, Ssofja Ssemenowna, die soeben da war ...«
-
-»Warum denn?«
-
-»Ich habe so eine Ahnung, Dunja. Nun, glaube mir oder nicht, aber als
-sie hereinkam, dachte ich im selben Augenblick, daß hier die Hauptsache
-sei ...«
-
-»Nichts ist da!« -- rief Dunja ärgerlich aus. -- »Was haben Sie auch für
-Ahnungen, Mama! Er kennt sie erst seit gestern, und jetzt, als sie
-hereintrat, erkannte er sie nicht einmal gleich.«
-
-»Nun, du wirst sehen! ... Sie bringt mich in Verwirrung, du wirst sehen,
-wirst sehen! Und ich bin so erschrocken, -- sie blickt mich an und
-blickt mich an, hat solche Augen, ich konnte kaum auf dem Stuhle sitzen
-bleiben, erinnerst du dich, als er sie vorstellte? Und sonderbar
-erscheint es mir, -- Peter Petrowitsch schreibt über sie in solcher
-Weise, und er stellt sie uns vor und dir noch dazu! Sie muß ihm doch
-teuer sein!«
-
-»Er schreibt über vieles! Über uns hat man auch gesprochen und
-geschrieben, haben Sie es vergessen? Und ich bin überzeugt, daß sie ...
-gut ist, und daß alles Unsinn ist!«
-
-»Möge es Gott geben!«
-
-»Und Peter Petrowitsch ist ein häßliches Klatschmaul,« -- schnitt
-plötzlich Dunetschka ab.
-
-Pulcheria Alexandrowna fuhr zusammen. Das Gespräch war plötzlich
-abgebrochen. -- --
-
- * * * * *
-
-»Höre, höre mal, ich habe etwas mit dir vor ...« -- sagte Raskolnikoff
-und führte Rasumichin zum Fenster hin.
-
-»Also, ich will Katerina Iwanowna ausrichten, daß Sie kommen ...« wollte
-sich Ssonjetschka verabschieden.
-
-»Sofort, Ssofja Ssemenowna, wir haben keine Geheimnisse, Sie stören
-nicht ... Ich möchte Ihnen noch ein paar Worte sagen ... Höre mal,« --
-wandte er sich wieder an Rasumichin. -- »Du kennst doch diesen ... Wie
-heißt er? ... Porphyri Petrowitsch?«
-
-»Und ob? Er ist doch verwandt mit mir. Weshalb?« -- fügte jener mit
-Neugier hinzu.
-
-»Er führt doch jetzt diese Sache ... nun, über den Mord ... worüber ihr
-gestern gesprochen habt ...?«
-
-»Ja ... und?« -- Rasumichin sperrte die Augen auf.
-
-»Er hat die Pfandgeber befragt, ich habe auch dort versetzt,
-Kleinigkeiten, jedoch auch einen Ring von der Schwester, den sie mir zum
-Andenken schenkte, als ich abreiste, und die silberne Uhr meines Vaters.
-Alles das kostet fünf oder sechs Rubel, mir aber sind sie zu teuer als
-Andenken. Was soll ich jetzt tun? Ich will nicht, daß die Sachen
-verloren gehen, besonders die Uhr. Ich bebte davor, daß die Mutter
-danach fragen würde, als wir über Dunetschkas Uhr sprachen. Es ist das
-einzige, was vom Vater herrührt. Sie wird krank werden, wenn die Uhr
-verloren geht! Frauen sind einmal so! Also, was soll ich tun, sage es
-mir! Ich weiß, daß ich im Polizeibureau es anmelden muß. Ist es aber
-nicht besser, sich an Porphyri selbst zu wenden?? Ah! He! Wie meinst du?
-Man müßte es schnell tun. Du wirst sehen, daß die Mutter mich vor dem
-Mittage danach noch fragt.«
-
-»Keinesfalls im Polizeibureau, unbedingt sich an Porphyri wenden!« rief
-Rasumichin in ungewöhnlicher Aufregung. -- »Nun, wie ich froh bin! Ja,
-was ist da viel zu denken, gehen wir sofort hin, es sind bloß zwei
-Schritte, wir treffen ihn bestimmt an.«
-
-»Meinetwegen ... gehen wir zu ihm ...«
-
-»Und er wird sehr, sehr erfreut sein, dich kennenzulernen! Ich habe ihm
-viel von dir gesprochen, zu verschiedenen Malen ... Auch gestern wieder.
-Gehen wir! ... Also du hast die Alte gekannt? So so! ... Ausgezeichnet
-hat sich alles gemacht! ... Ach, ja ... Ssofja Iwanowna ...«
-
-»Ssofja Ssemenowna,« -- korrigierte ihn Raskolnikoff. -- »Ssofja
-Ssemenowna, das ist mein Freund Rasumichin, und ein guter Mensch ist er
-...«
-
-»Wenn Sie jetzt gehen müssen ...« -- begann Ssonja, wobei sie Rasumichin
-gar nicht angesehen hatte, was sie noch mehr verwirrt machte.
-
-»Nun, gehen wir!« -- beschloß Raskolnikoff, -- »ich komme zu Ihnen heute
-noch, Ssofja Ssemenowna, sagen Sie mir, wo Sie wohnen.«
-
-Er war nicht verwirrt, aber er schien es eilig zu haben und vermied
-ihren Blick. Ssonja gab ihre Adresse und errötete dabei. Sie gingen
-gleichzeitig fort.
-
-»Schließt du denn das Zimmer nicht ab?« -- sagte Rasumichin, hinter
-ihnen die Treppe hinabsteigend.
-
-»Nie! ... ich will schon seit zwei Jahren ein Schloß kaufen,« -- fügte
-er nachlässig hinzu. -- »Glücklich sind die Menschen, die nichts
-abzuschließen haben, nicht wahr?« -- wandte er sich lachend an Ssonja.
-
-Auf der Straße blieben sie am Tore stehen.
-
-»Sie müssen nach rechts, Ssofja Ssemenowna! Wie haben Sie mich denn
-gefunden?« -- fragte er sie, schien aber etwas ganz anderes sagen zu
-wollen.
-
-Er wollte die ganze Zeit in ihre stillen klaren Augen blicken, und es
-gelang ihm immer nicht ...
-
-»Sie gaben doch gestern Poletschka Ihre Adresse.«
-
-»Polja? Ach ja ... Poletschka! Das ist ... die Kleine ... das ist Ihre
-Schwester? Also, ich gab ihr meine Adresse!«
-
-»Haben Sie es denn vergessen?«
-
-»Nein ... ich erinnere mich ...«
-
-»Und ich habe von Ihnen noch durch den Verstorbenen gehört ... Ich
-kannte bloß damals Ihren Namen nicht, und auch er selbst wußte ihn nicht
-... Jetzt aber kam ich ... und als ich gestern Ihren Namen hörte ... da
-fragte ich heute: wo wohnt hier Herr Raskolnikoff? ... Und ich wußte
-nicht, daß Sie auch ein Zimmer gemietet ... Leben Sie wohl ... Ich will
-Katerina Iwanowna ...«
-
-Sie war sehr froh, daß sie endlich loskam; und ging mit gesenktem Kopfe
-eilig, um nur schneller aus ihren Augen zu verschwinden, um nur
-schneller diese zwanzig Schritte bis zur Biegung nach rechts in die
-Seitenstraße zu durcheilen und endlich allein zu sein; um im schnellen
-Gehen, ohne jemand anzublicken und unbeachtet, nachzudenken, sich zu
-erinnern und jedes Wort und jeden Umstand sich zurückzurufen. Nie, nie
-hatte sie Ähnliches empfunden. Eine ganz neue Welt war unbekannt und
-dunkel in ihre Seele gedrungen. Sie erinnerte sich plötzlich, daß
-Raskolnikoff heute selbst zu ihr kommen wollte, vielleicht schon heute
-morgen, vielleicht gleich!
-
-»Besser nicht heute, bitte, nicht heute!« -- murmelte sie mit stockendem
-Herzen, als flehe sie jemand an, wie ein erschrecktes Kind. --
-»Herrgott! Zu mir ... in dies Zimmer ... er wird sehen ... oh, Gott!«
-
-Sie konnte sicher in diesem Augenblicke den fremden Herrn nicht
-bemerken, der eifrig sie beobachtete und ihr auf den Fersen folgte. Er
-begleitete sie schon von dem Tore der Wohnung Raskolnikoffs an. In dem
-Augenblicke, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikoff und sie auf dem
-Fußsteige, um ein paar Worte zu wechseln, stehen blieben, schien dieser
-Vorübergehende plötzlich aufzufahren, als er an ihnen vorbeiging und
-zufällig die Worte Ssonjas auffing, -- »da fragte ich, wo wohnt hier
-Herr Raskolnikoff?« Er warf einen schnellen, aber aufmerksamen Blick
-allen dreien zu, besonders aber Raskolnikoff, an den sich Ssonja wandte,
-sah dann das Haus an und merkte es sich. Dies alles war in einem kurzen
-Augenblick, im Vorbeigehen geschehen und unauffällig, nun verminderte er
-seine Schritte, als wartete er. Er wartete auf Ssonja, denn er hatte
-gesehen, daß sie sich verabschiedete und wohl sofort nach Hause gehen
-würde.
-
-»Aber wohin nach Hause? Ich habe dieses Gesicht irgendwo gesehen,« --
-dachte er und forschte in seiner Erinnerung nach dem Gesicht Ssonjas, --
-»... ich muß es erfahren.« Als er die Biegung erreichte, ging er auf die
-andere Seite der Straße hinüber, wandte sich um und sah, daß Ssonja
-denselben Weg wie er eingeschlagen hatte und ihn nicht gewahrte. Sie bog
-in dieselbe Straße ein. Er verlor sie nicht aus den Augen und ging nach
-etwa fünfzig Schritten wieder auf dieselbe Seite hinüber, auf der Ssonja
-dahinschritt, holte sie ein und folgte ihr auf fünf Schritt Entfernung.
--- Es war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, etwas mehr als
-mittelgroß, wohlbeleibt, mit breiten und schrägen Schultern, was ihm ein
-etwas gebücktes Aussehen verlieh. Er war elegant und bequem gekleidet
-und sah ansehnlich aus. In den Händen trug er einen hübschen Stock, den
-er bei jedem Schritt auf das Trottoir aufstieß, und seine Hände staken
-in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit hervorstehenden
-Backenknochen war nicht unangenehm, und seine Gesichtsfarbe frisch,
-nicht von Petersburger Art. Sein noch sehr dichtes Haar war ganz
-hellblond und kaum leicht ergraut, und der breite dichte Bart, der wie
-eine Schaufel herabhing, war noch heller als das Kopfhaar. Seine blauen
-Augen blickten kalt, durchdringend und sinnend; die Lippen waren rot.
-Überhaupt war er ein ausgezeichnet konservierter Mann und schien
-bedeutend jünger zu sein, als er war.
-
-Als Ssonja auf den Kanal hinauskam, waren sie beide allein auf dem
-Fußsteige. Während er sie beobachtete, hatte er schon ihre
-Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Als Ssonja ihr Haus
-erreichte, ging sie durch das Tor, er folgte ihr und schien überrascht
-zu sein. Im Hofe bog sie rechts in die Ecke ab, wo die Treppe zu ihrer
-Wohnung war. »Ah!« -- murmelte der Unbekannte und begann hinter ihr her
-die Stufen hinaufzusteigen. Hier erst bemerkte ihn Ssonja. Sie ging bis
-ins dritte Stockwerk, bog in den Korridor ein und klingelte an der Türe
-Nr. 9, wo mit Kreide -- »_Kapernaumoff, Schneider_« -- angeschrieben
-war. »Ah!« -- wiederholte der Unbekannte, verwundert über dieses
-seltsame Zusammentreffen, und klingelte an der Türe Nr. 8. Beide Türen
-waren voneinander kaum sechs Schritte entfernt.
-
-»Sie wohnen bei Kapernaumoff!« sagte er, blickte Ssonja an und lachte.
-»Er hat mir gestern eine Weste umgeändert. Und ich wohne hier neben
-Ihnen bei Madame Gertrude Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!« Ssonja
-schaute ihn aufmerksam an.
-
-»Wir sind also Nachbarn,« fuhr er besonders freundlich fort. »Ich bin
-erst seit drei Tagen in der Stadt. Nun, vorläufig auf Wiedersehen.«
-
-Ssonja antwortete nicht; die Tür wurde geöffnet und sie schlüpfte
-hinein. Sie schämte sich und schien sich zu ängstigen ...
-
- * * * * *
-
-Rasumichin war auf dem Wege zu Porphyri in besonders aufgeregtem
-Zustande.
-
-»Das ist prächtig, Bruder,« wiederholte er ein paarmal, »und ich freue
-mich! Ich freue mich!«
-
-»Ja, worüber freut er sich?« dachte Raskolnikoff.
-
-»Ich wußte gar nicht, daß du auch bei der Alten versetzt hast. Und ...
-und ... ist es lange her? Das heißt, warst du vor längerer Zeit bei
-ihr?«
-
-»Wie naiv und dumm er ist!«
-
-»Wann? ...« Raskolnikoff blieb stehen und besann sich: »Ja, drei Tage
-vielleicht vor ihrem Tode war ich dort. Übrigens, ich gehe doch nicht
-jetzt hin, um die Sachen auszulösen,« sagte er hastig und wie besorgt um
-seine Sachen, »ich habe ja wieder bloß einen einzigen Rubel in Silber
-... infolge des gestrigen verfluchten Fieberanfalls ...«
-
-Den Fieberanfall betonte er besonders.
-
-»Nun, ja, ja, ja,« bestätigte Rasumichin eilig, »also darum auch hat
-dich ... er damals überrascht ... und weißt du, du hast auch im Fieber
-von allerhand Ringen und Ketten immer phantasiert! ... Nun, ja, ja ...
-Das ist klar, alles ist jetzt klar.«
-
-»Also doch! Wie dieser Gedanke bei ihnen sich festgesetzt hat! Dieser
-da, dieser Mensch ließe sich für mich ans Kreuz schlagen, und er ist
-doch froh, daß es sich geklärt hat, warum ich im Fieber von Ringen
-redete! Wie tief es bei ihnen allen wurzelt! ...«
-
-»Werden wir ihn auch antreffen?« fragte er laut.
-
-»Wir treffen ihn bestimmt an,« beeilte sich Rasumichin zu antworten. »Er
-ist ein prächtiger Bursche, du wirst sehen! Ein wenig plump, das heißt,
-er ist wohl Weltmann, aber ich meine in anderem Sinne ist er plump. Ein
-kluger Bursche. Er hat nur eine eigentümliche Denkweise. Mißtrauisch,
-skeptisch, ein Zyniker ... liebt er zu betrügen, das heißt nicht zu
-betrügen, sondern einen anzuführen ... Er hat die alte Mode auf Indizien
-... versteht aber seine Sache, versteht sie gut ... Er hat im vorigen
-Jahre das Dunkel über einen Mord ausgetüftelt, wo fast alle Spuren schon
-verloren waren! Er wünscht sehr, dich kennenzulernen!«
-
-»Ja, warum denn sehr?«
-
-»Das heißt, nicht etwa so ... siehst du, in der letzten Zeit, als du
-krank wurdest, hatte ich viel und oft Gelegenheit, dich zu erwähnen ...
-Nun, er hörte zu ... und als er erfuhr, daß du Jura studiert hast und
-infolge allerhand Umstände den Kursus nicht beenden konntest, sagte er,
-wie schade! Ich folgerte daraus ... das heißt, dies alles zusammen,
-nicht nur dies eine ... gestern hat Sametoff ... Siehst du, Rodja, ich
-habe dir gestern in meiner Betrunkenheit, als wir nach Hause gingen,
-etwas erzählt ... und ich fürchte nun, Bruder, daß du es übertreiben
-könntest, siehst du ...«
-
-»Was denn? Daß man mich für verrückt hält? Ja, vielleicht ist es auch
-wahr.«
-
-Er lächelte gezwungen.
-
-»Ja, ja ... das heißt, pfui, nein! ... Nun, alles, was ich sprach ...
-und auch über anderes, ist Unsinn und in Betrunkenheit gesagt.«
-
-»Ja, wozu entschuldigst du dich! Wie mir das alles zum Ekel ist!« rief
-Raskolnikoff mit übertriebener, zum Teil gespielter Gereiztheit.
-
-»Ich weiß, ich weiß, verstehe es. Sei überzeugt, daß ich es verstehe.
-Ich sollte mich schämen, davon nur zu sprechen ...«
-
-»Wenn du dich schämst, was sprichst du darüber!«
-
-Beide verstummten. Rasumichin war äußerst vergnügt und Raskolnikoff
-fühlte es voll Widerwillen. Ihn beunruhigte auch das, was Rasumichin
-soeben über Porphyri erzählt hatte.
-
-»Vor dem muß man auch ein Klagelied anstimmen,« dachte er erbleichend
-und mit Herzklopfen, »und es recht natürlich machen. Am besten wäre
-vielleicht, nichts vorzuklagen. Absichtlich nichts vorklagen! Nein,
-absichtlich wäre wieder nicht natürlich ... Nun, wie es sich macht ...
-wir werden ja sehen ... bald genug ... aber ist es gut oder nicht gut,
-daß ich hingehe? Der Schmetterling fliegt von selbst ins brennende
-Licht. Mein Herz klopft, das ist nicht gut! ...«
-
-»In diesem grauen Hause wohnt er,« sagte Rasumichin.
-
-»Am wichtigsten ist es, ob Porphyri es weiß oder nicht, daß ich gestern
-in der Wohnung dieser Hexe war ... und von dem Blut sprach? Sogleich muß
-ich es erfahren, beim ersten Schritt, wenn ich hineinkomme, muß ich es
-ihm am Gesichte anmerken; sonst ... und wenn ich zugrunde gehe, ich muß
-es erfahren!«
-
-»Weißt du auch?« wandte er sich plötzlich an Rasumichin mit einem
-schelmischen Lächeln, »ich habe bemerkt, Bruder, daß du dich seit heute
-früh in einer ungewöhnlichen Aufregung befindest? Ist es so?«
-
-»In was für einer Aufregung? In gar keiner Aufregung,« fuhr Rasumichin
-auf.
-
-»Nein, Bruder, es ist dir tatsächlich anzusehen. Auf dem Stuhl saßest du
-vorhin, wie du sonst nie sitzest, so nur auf einem Endchen und die ganze
-Zeit durchzuckte es dich, wie wenn du Krämpfe hättest. Du sprangst mir
-nichts dir nichts auf. Bald sahst du böse aus, bald verzog sich dein
-Gesicht plötzlich zu einem süßen Lächeln. Sogar rot wurdest du,
-besonders als man dich zu Mittag einlud.«
-
-»Nichts von alledem ist wahr, du lügst! ... Was denkst du dir?«
-
-»Ja, und jetzt drehst und wendest du dich wie ein Schulbube? Pfui!
-Teufel! Er ist schon wieder rot geworden!«
-
-»Was du für ein Schwein bist!«
-
-»Ja, warum wirst du so verlegen? Romeo! Warte, ich will es irgend
-jemanden heute noch erzählen, ha--ha--ha! Ich werde Mama zum Lachen
-bringen ... und noch jemand ...«
-
-»Höre mal, höre, aber im Ernste, es ist doch ... Was soll das bedeuten,
-zum Teufel!« Rasumichin wurde ganz verwirrt und starr vor Schrecken.
-»Was willst du ihnen erzählen? Ich bin, Bruder ... Pfui, welch ein
-Schwein du bist!«
-
-»Du bist wie eine Frühlingsrose! Und wie es dir steht, wenn du es nur
-wüßtest. Romeo, ein neuer Romeo! Und wie du dich heute gewaschen hast,
-vielleicht auch die Nägel gereinigt? Ah? Wann war dies zuletzt der Fall?
-Und du hast dich, bei Gott, mit Pomade eingeschmiert! Beuge dich mal!«
-
-»Schwein!«
-
-Raskolnikoff lachte so stark, daß er sich nicht mehr halten konnte, mit
-Lachen traten sie auch in die Wohnung von Porphyri Petrowitsch ein. Das
-wollte eben Raskolnikoff bezwecken, -- drinnen in den Zimmern konnte man
-es hören, daß sie lachend ins Vorzimmer eingetreten waren und dort immer
-noch lachten.
-
-»Kein Wort hier, oder ich ... zerschmettere dich!« flüsterte Rasumichin
-und packte wütend Raskolnikoff an der Schulter.
-
-
- V.
-
-Sie gingen hinein. Raskolnikoff sah aus, als hielte er mit Gewalt an
-sich, um nicht loszuplatzen. Ihm folgte mit gänzlich verändertem
-Gesichte Rasumichin, rot wie eine Päonie, vor Scham und Wut, und
-verlegen. Sein Gesicht und die ganze Gestalt waren in diesem Augenblicke
-lächerlich und rechtfertigten Raskolnikoffs Heiterkeit. Raskolnikoff,
-dem Hausherrn noch nicht bekannt, verbeugte sich vor ihm, der mitten im
-Zimmer stand und sie fragend anblickte, reichte ihm die Hand und drückte
-die seinige, immer noch mit sichtlicher, großer Mühe seine Lustigkeit
-bekämpfend, um wenigstens ein paar Worte sagen und sich vorstellen zu
-können. Aber kaum war es ihm gelungen, eine ernste Miene anzunehmen und
-etwas hinzumurmeln, -- als er plötzlich, wie unwillkürlich wieder
-Rasumichin anblickte und da hielt er es nicht mehr aus, -- sein
-unterdrücktes Lachen brach um so ungestümer hervor, je stärker er es bis
-jetzt zurückgehalten hatte. Die ungewöhnliche Wut, mit der Rasumichin
-dieses »herzliche« Lachen auffaßte, verlieh diesem ganzen Auftritt das
-Aussehen von aufrichtigster Lustigkeit und, was die Hauptsache war,
-Natürlichkeit. Rasumichin trug, als beabsichtigte er's, noch viel dazu
-bei.
-
-»Pfui, zum Teufel!« brüllte er, holte mit der Hand aus und traf einen
-kleinen runden Tisch, auf dem ein leeres Teeglas stand. Alles fiel hin
-und zerbrach.
-
-»Ja, warum müssen denn gleich Stühle zerschlagen werden, meine Herren,
-das ist ein Verlust für den Staat!« rief Porphyri Petrowitsch lachend
-aus.
-
-Der Auftritt stellte sich wie folgt dar, -- Raskolnikoff lachte weiter,
-seine Hand in der Hand des Hausherrn lassend, aber er kannte das Maß und
-wartete nur auf den Augenblick, um schnell und natürlich zu enden.
-Rasumichin, durch den Fall des Tisches und des zerschlagenen Glases
-völlig verwirrt, blickte düster auf die Scherben, spie aus und drehte
-sich schroff nach dem Fenster, wo er sich mit dem Rücken gegen die
-übrigen hinstellte und mit fürchterlich finsterem Gesichte
-hinausschaute, aber nichts sah. Porphyri Petrowitsch lachte und hätte
-noch mehr gelacht, wenn er nur eine Erklärung dafür gehabt hätte. In der
-Ecke auf einem Stuhle hatte Sametoff gesessen, der sich beim Eintritt
-der Besucher erhob und in Erwartung dastand; sein Mund war zu einem
-Lächeln verzogen, aber er schaute stutzig und mißtrauisch dem ganzen
-Auftritt zu und sah Raskolnikoff verwirrt an. Die unerwartete
-Anwesenheit Sametoffs überraschte Raskolnikoff unangenehm.
-
-»Da muß man sich in acht nehmen!« dachte er.
-
-»Entschuldigen Sie, bitte,« begann er plötzlich ganz verlegen,
-»Raskolnikoff ...«
-
-»Erlauben Sie aber, sehr angenehm, und Sie kamen so angenehm herein ...
-Was, will er nicht mal >Guten Tag< sagen?« wies Porphyri Petrowitsch auf
-Rasumichin.
-
-»Bei Gott, ich weiß nicht, warum er auf mich wütend ist. -- Ich sagte
-ihm bloß auf dem Wege hierher, daß er Romeo ähnlich sei und ... habe es
-bewiesen, sonst war nichts.«
-
-»Du bist ein Schwein!« rief Rasumichin, ohne sich umzuwenden.
-
-»Er hatte also sehr ernste Gründe, um wegen dieses einzigen Wortes so
-böse zu werden,« lachte Porphyri Petrowitsch.
-
-»Nun auch der Untersuchungsrichter! ... Zum Teufel mit euch allen!«
-schnitt Rasumichin ab, plötzlich aber lachte er selbst und ging mit
-heiterem Gesichte, als wäre nichts vorgefallen, auf Porphyri Petrowitsch
-zu.
-
-»Schluß damit! Alle seid ihr Dummköpfe. Jetzt zur Sache, -- hier ist
-mein Freund, Rodion Romanytsch Raskolnikoff, der erstens von dir viel
-gehört hat und mit dir bekannt werden wollte, und der zweitens ein
-kleines Ansuchen an dich hat. Ah! Sametoff! Wie kommst du hierher? Kennt
-ihr denn einander? Seid ihr schon lange bekannt?«
-
-»Was bedeutet das!« dachte Raskolnikoff voll Unruhe.
-
-Sametoff schien ein wenig verlegen zu werden.
-
-»Wir haben uns gestern doch bei dir kennengelernt,« sagte er
-ungezwungen.
-
-»Also hat mich Gott vor Schererei behütet; in der vorigen Woche hat er
-mich geplagt, ihn mit dir, Porphyri, irgendwie bekannt zu machen, und
-nun habt ihr euch, ohne meine Hilfe, gefunden ... Wo hebst du deinen
-Tabak auf?«
-
-Porphyri Petrowitsch war in Hauskleidung, -- in einem Schlafrock, sehr
-reiner Wäsche und in abgetretenen Pantoffeln. Es war ein Mann von etwa
-fünfunddreißig Jahren, unter Mittelgröße, dick, mit einem Bäuchlein,
-glattrasiert, ohne Schnurrbart, mit kurz geschnittenem Haare auf dem
-großen runden Kopfe, der nach hinten zu besonders gewölbt war. Sein
-volles, rundes und ein wenig stumpfnäsiges Gesicht hatte eine
-kränkliche, dunkelgelbe Farbe, war aber munter und sogar spöttisch. Es
-wäre gutmütig zu nennen, wenn nicht der Ausdruck der Augen, die mit fast
-weißen, zwinkernden Wimpern bedeckt waren, mit ihrem wässerigen Glanze
-störend gewirkt hätte. Der Blick dieser Augen paßte wenig zu der ganzen
-Gestalt, die entschieden etwas Weibisches an sich hatte, und machte ihn
-viel ernster, als man beim ersten Anblick vermutete.
-
-Als Porphyri Petrowitsch vernahm, daß der Besucher ein kleines Ansuchen
-an ihn habe, bat er ihn sofort, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er setzte
-sich selbst in die andere Ecke und sah den Besucher voll Erwartung mit
-einer starken und zu ernsten Aufmerksamkeit an, die bedrücken und
-vollends gleich beim ersten Zusammensein verwirren mußte, um so mehr,
-wenn das, was man vorzubringen hat, durchaus in keinem Verhältnisse zu
-einer so ungewöhnlichen Aufmerksamkeit zu stehen scheint. Raskolnikoff
-jedoch legte seine Angelegenheit in kurzen und bündigen Worten, deutlich
-und klar dar, und war mit sich so zufrieden, daß er noch Gelegenheit
-fand, Porphyri Petrowitsch genau zu betrachten. Auch Porphyri
-Petrowitsch wandte keinen Augenblick seine Augen von ihm ab. Rasumichin
-hatte an demselben Tische ihnen gegenüber Platz genommen und verfolgte
-eifrig und ungeduldig die Darstellung der Sache, wobei er alle
-Augenblicke und ziemlich auffällig seine Augen von einem zu dem andern
-gleiten ließ.
-
-»Dummkopf!« schimpfte Raskolnikoff bei sich.
-
-»Sie müssen eine Eingabe an das Polizeibureau machen,« antwortete mit
-Geschäftsmiene Porphyri, »daß Sie über diesen Vorfall, das heißt von
-diesem Mord erfahren haben, und bitten den Untersuchungsrichter, der
-diese Sache führt, zu benachrichtigen, daß die und die Sachen Ihnen
-gehören, und daß Sie sie einlösen möchten ... oder Ähnliches ... man
-wird Ihnen das übrigens sagen.«
-
-»Das ist ja das Unbequeme, daß ich in diesem Augenblicke,« Raskolnikoff
-bemühte sich, möglichst verlegen zu werden, »nicht recht bei Kassa bin
-... und sogar so eine Kleinigkeit nicht kann ... sehen Sie, ich möchte
-jetzt nur erklären, daß es meine Sachen sind, und daß, wenn ich Geld
-haben werde, ich ...«
-
-»Das ist einerlei,« antwortete Porphyri Petrowitsch, die Erklärung über
-die Finanzlage kalt aufnehmend, »übrigens, Sie können auch direkt an
-mich, wenn Sie wollen, in demselben Sinne schreiben, daß Sie das und das
-in Erfahrung gebracht haben und die und die Sachen als Ihr Eigentum
-angeben und bitten ...«
-
-»Man kann es auf einfachem Papiere schreiben?« beeilte sich
-Raskolnikoff, ihn zu unterbrechen, wieder ein Interesse für die
-Geldfrage zeigend.
-
-»Oh, auf dem allereinfachsten Papiere!« und plötzlich blickte ihn
-Porphyri Petrowitsch spöttisch mit zusammengekniffenen Augen an und
-schien ihm zuzuzwinkern.
-
-Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß so geschienen, denn es
-dauerte nur einen Augenblick. Etwas war wenigstens gewesen. Raskolnikoff
-hätte darauf schwören mögen, daß er ihm zugezwinkert habe, weiß der
-Teufel warum.
-
-»Er weiß alles!« durchzuckte es ihn wie ein Blitz.
-
-»Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Kleinigkeiten belästigt
-habe,« fuhr er etwas verwirrt fort, »meine Sachen sind im ganzen
-höchstens fünf Rubel wert, aber sie sind mir besonders teuer, als ein
-Andenken an die, von denen ich sie erhalten habe und, offen gestanden,
-als ich es hörte, erschrak ich sehr ...«
-
-»Darum fuhrst du auch gestern so auf, als ich Sossimoff erzählte, daß
-Porphyri die Pfandgeber ausfrage!« bemerkte Rasumichin mit deutlicher
-Absicht.
-
-Das war schon unerträglich. Raskolnikoff konnte sich's nicht versagen,
-ihn wütend mit seinen vor Zorn funkelnden schwarzen Augen anzublicken.
-Er besann sich aber sofort.
-
-»Du scheinst dich über mich lustig zu machen, Bruder?« wandte er sich an
-ihn mit geschickt gespielter Gereiztheit. »Ich sehe es ein, daß ich
-vielleicht meine Sorge um diesen Schund übertreibe, der er doch in
-deinen Augen ist, aber man darf mich darum weder für einen Egoisten,
-noch für einen habgierigen Menschen halten, und für mich brauchen diese
-zwei geringen Gegenstände gar kein Schund zu sein. Ich sagte dir schon
-vorhin, daß diese silberne Uhr, die einen Spottwert hat, das einzige
-ist, was mir von meinem Vater geblieben ist. Du kannst dich über mich
-amüsieren, aber soeben ist meine Mutter angekommen,« wandte er sich
-plötzlich an Porphyri, »und wenn sie erfahren würde,« kehrte er sich
-wieder schnell zu Rasumichin und gab sich besondere Mühe, um mit der
-Stimme zu zittern, »daß diese Uhr verloren sei, so würde sie -- schwöre
-ich -- in Verzweiflung sein! Sie ist doch eine Frau!«
-
-»Ich sagte es gar nicht in dem Sinne! Ganz im Gegenteil!« rief
-Rasumichin gekränkt.
-
-»War es auch gut? War es natürlich? Habe ich nicht übertrieben?« sagte
-Raskolnikoff bebend zu sich selbst. »Warum sagte ich -- sie ist doch
-eine Frau!«
-
-»Ihre Frau Mutter ist zu Ihnen gekommen?!« erkundigte sich aus
-irgendeinem Grunde Porphyri Petrowitsch.
-
-»Ja.«
-
-»Wann denn?«
-
-»Gestern abend.«
-
-Porphyri Petrowitsch schwieg, als überlege er etwas.
-
-»Ihre Sachen konnten in keiner Weise verloren gehen,« fuhr er ruhig und
-kalt fort. »Ich erwarte Sie schon seit langem.«
-
-Und als wäre nichts vorgefallen, schob er sorgsam einen Aschbecher
-Rasumichin zu, der unbarmherzig die Asche von seiner Zigarette auf den
-Teppich streute. Raskolnikoff zuckte zusammen, aber Porphyri schien ihn
-nicht anzublicken, noch immer um Rasumichins Zigarette besorgt.
-
-»Was? Du hast ihn erwartet! Wußtest du denn, daß auch er dort versetzt
-hatte?« rief Rasumichin aus.
-
-»Ihre beiden Sachen, der Ring und die Uhr, waren _bei ihr_ in einem und
-demselben Stück Papier eingewickelt, und auf dem Papier war mit
-Bleistift deutlich Ihr Name vermerkt, ebenso auch das Datum, wann sie
-sie von Ihnen erhalten hatte ...«
-
-»Wie genau Sie sind! ...« lächelte ein wenig ungeschickt Raskolnikoff
-und versuchte, ihm in die Augen zu sehen, er konnte sich aber nicht
-enthalten, hinzuzufügen:
-
-»Ich sage das nur deshalb, weil wahrscheinlich sehr viele Pfandgeber
-waren ... so daß es Ihnen doch schwer fallen mußte, sich aller zu
-erinnern ... Sie aber erinnern sich im Gegenteil an alles so deutlich,
-und ... und ...«
-
-»Es war dumm! Schwach! Warum habe ich es hinzugefügt!«
-
-»Alle Pfandgeber sind jetzt schon bekannt, so daß Sie der einzige sind,
-der sich noch nicht meldete,« antwortete Porphyri Petrowitsch mit einem
-kaum merklichen Anfluge von Spott.
-
-»Ich war nicht ganz gesund.«
-
-»Auch davon habe ich gehört. Habe sogar gehört, daß Sie von etwas sehr
-mitgenommen waren. Sie sind auch jetzt noch etwas bleich!«
-
-»Ich bin gar nicht bleich ... im Gegenteil, ich bin ganz gesund!«
-schnitt ihn grob und böse Raskolnikoff ab, plötzlich seinen Ton
-verändernd.
-
-Die Wut pochte in ihm und er konnte sie nicht unterdrücken. »Und in der
-Wut werde ich mich versprechen!« durchzuckte es ihn von neuem. »Und
-warum quälen sie mich! ...«
-
-»Nicht ganz gesund!« hub Rasumichin an. »Wie er aufschneidet! Bis
-gestern noch phantasierte er und war bewußtlos ... Du kannst es mir
-glauben, Porphyri, er konnte kaum mehr auf den Füßen stehen, und
-trotzdem, als wir, Sossimoff und ich, gestern uns nur auf einen
-Augenblick entfernten, -- zog er sich an, lief heimlich weg und irrte
-irgendwo fast bis Mitternacht herum, und das, sage ich dir, ganz im
-Fieber, kannst du dir so etwas vorstellen! Ein ganz merkwürdiger Fall!«
-
-»Und geschah es wirklich ganz im Fieber? Sagen Sie mal?« Mit einer
-weibischen Bewegung schüttelte Porphyri Petrowitsch den Kopf.
-
-»Ah, Unsinn! Glauben Sie ihm nicht! Übrigens, Sie glauben es ja auch
-sowieso nicht!« entschlüpfte es Raskolnikoff in seiner Wut.
-
-Aber Porphyri Petrowitsch schien diese seltsamen Worte überhört zu
-haben.
-
-»Wie konntest du dann weggehen, wenn du nicht im Fieber warst?«
-ereiferte sich Rasumichin. »Warum bist du weggegangen? Wozu? ... Und
-warum gerade heimlich? Sag, warst du damals bei gesundem Verstande?
-Jetzt, wo die ganze Gefahr vorbei ist, sage ich es dir offen!«
-
-»Ich war ihrer gestern überdrüssig geworden,« wandte sich rasch
-Raskolnikoff an Porphyri Petrowitsch mit einem dreisten,
-herausfordernden Lächeln, »und ich lief von ihnen fort, mir eine Wohnung
-zu mieten, damit sie mich nicht wiederfinden sollten, und habe einen
-Haufen Geld mitgenommen. Herr Sametoff hat das Geld gesehen. Und sagen
-Sie, Herr Sametoff, war ich gestern vernünftig oder im Fieber,
-entscheiden Sie unseren Streit!«
-
-Er hätte in diesem Augenblicke Sametoff erwürgen können. Dessen Blick
-und sein Schweigen waren ihm äußerst peinlich.
-
-»Meiner Ansicht nach redeten Sie sehr vernünftig und sogar schlau, Sie
-waren bloß sehr reizbar,« erklärte Sametoff trocken.
-
-»Und heute sagte mir Nikodim Fomitsch,« bemerkte Porphyri Petrowitsch,
-»er hätte Sie gestern noch sehr spät in der Wohnung eines überfahrenen
-Beamten getroffen ...«
-
-»So nehmen wir diesen Fall her!« begann Rasumichin, »warst du nicht
-verrückt bei diesem Beamten? Das letzte Geld hat er der Witwe für die
-Beerdigung gegeben! Und, wenn du helfen wolltest, -- konntest du ihr
-fünfzehn oder zwanzig Rubel geben und wenigstens drei Rubel für dich
-behalten, du schenktest ihnen aber alle fünfundzwanzig.«
-
-»Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, was du noch nicht
-weißt? Darum war ich gestern auch so freigebig ... Herr Sametoff weiß,
-daß ich einen Schatz gefunden habe! ... Entschuldigen Sie, bitte,«
-wandte er sich mit bebenden Lippen an Porphyri Petrowitsch, »daß wir Sie
-mit solchem kleinlichen Geschwätz eine halbe Stunde belästigen. Sie sind
-unserer überdrüssig, ja?«
-
-»Erlauben Sie, im Gegenteil, im Ge--gen--teil! Wenn Sie wüßten, wie Sie
-mich interessieren! Es ist amüsant, zuzusehen und zuzuhören ... und ich
-bin, offen gesagt, so froh, daß Sie endlich einmal gekommen sind ...«
-
-»Gib aber doch wenigstens Tee! Die Kehle trocknet einem ein!« rief
-Rasumichin aus.
-
-»Eine ausgezeichnete Idee! Vielleicht beteiligen Sie sich alle. Willst
-du aber nicht ... etwas Wesentlicheres vor dem Tee haben?«
-
-»Nein, laß gut sein!«
-
-Porphyri Petrowitsch ging hinaus, um Tee zu bestellen.
-
-Die Gedanken drehten sich wie im Wirbelwinde in Raskolnikoffs Kopfe. Er
-war aufs äußerste gereizt.
-
-»Das schönste ist, daß sie sich nicht mal verbergen und nicht einmal den
-Anstand wahren wollen! Aus welchem Grunde aber sprach er, wenn er mich
-gar nicht kennt, mit Nikodim Fomitsch über mich? Also wollen sie nicht
-mal verbergen, daß sie wie eine Koppel Hunde mich verfolgen! Sie speien
-mir ganz offen ins Gesicht!« Er zitterte vor Wut. »Schlagt doch offen zu
-und spielt nicht wie die Katze mit der Maus. Das ist doch geschmacklos.
-Porphyri Petrowitsch, das erlaube ich dir einfach nicht! ... Ich stehe
-auf und schleudere allen die ganze Wahrheit ins Gesicht und Sie werden
-wenigstens sehen, wie ich Sie verachte!« Er holte schwer Atem. »Wenn mir
-aber dies alles nur so vorkommt? Wenn dies aber bloß ein Spiel meiner
-Phantasie ist und ich mich irre, aus Unerfahrenheit mich ärgere und
-meine gemeine Rolle nicht gut spiele? Vielleicht ist alles ohne jede
-Absicht? Ihre Worte sind alle gewöhnlich, aber etwas liegt doch in ihnen
-... All dieses kann stets gesagt werden, aber etwas ist doch dabei.
-Warum sagte er einfach -- >bei ihr?< Warum fügte Sametoff hinzu, daß ich
-schlau gesprochen habe? Warum reden sie in solch einem Tone? Ja ... der
-Ton ... Aber Rasumichin saß doch auch hier, warum fiel ihm nichts auf?
-Diesem naiven Holzklotze fällt eben nie etwas auf! Ich habe wieder
-Fieber! ... Zwinkerte mir Porphyri Petrowitsch vorhin zu oder nicht? Es
-war sicher nichts; warum sollte er mir zuzwinkern? Wollen sie meine
-Nerven reizen, oder führen sie mich an der Nase herum? Entweder ist
-alles ein Phantasiespiel oder sie wissen es! Sogar Sametoff ist dreist
-... Ist Sametoff wirklich dreist? Sametoff hat sich's über Nacht
-überlegt. Ich ahnte es doch, daß er es sich überlegen wird! Er benimmt
-sich wie zu Hause, ist aber zum ersten Male hier. Porphyri betrachtet
-ihn nicht als seinen Gast, sitzt mit dem Rücken zu ihm. Sie stecken
-unter einer Decke! Sie stecken unbedingt meinetwegen unter einer Decke!
-Sie haben sicher vor unserem Kommen über mich gesprochen! ... Wissen sie
-etwas von der Wohnung gestern? Mag es schneller herauskommen! ... Als
-ich sagte, daß ich gestern weggelaufen wäre, mir eine Wohnung zu mieten,
-ließ er es gelten, erfaßte nicht die Gelegenheit ... Mit der Wohnung
-habe ich's fein angedeutet, -- es kann mir später nützen! ... Im Fieber
-war es, kann ich sagen! ... Ha--ha--ha! Er weiß alles über den gestrigen
-Abend! Von der Ankunft der Mutter wußte er nicht! ... Und die Hexe hat
-auch das Datum mit Bleistift vermerkt! ... Ihr lügt, ich ergebe mich
-nicht! Das sind doch keine Tatsachen, bloß Phantasiegebilde! Nein, rückt
-mal mit Tatsachen heraus! Auch der Besuch der Wohnung ist keine
-Tatsache, sondern Fieber, -- ich weiß, was ich ihnen sagen muß ...
-Wissen sie, daß ich in der Wohnung war? Ich gehe nicht fort, ehe ich es
-nicht erfahre! Warum bin ich hergekommen? Daß ich mich jetzt ärgere, das
-ist vielleicht eine Tatsache! Wie reizbar ich bin! Vielleicht aber ist
-es auch gut; es ist die Rolle eines Kranken ... Er betastet mich. Er
-wird mich verwirren wollen. Warum bin ich überhaupt gekommen?«
-
-Dies alles fuhr ihm durch den Kopf wie ein Blitz.
-
-Porphyri Petrowitsch kehrte bald zurück. Er war auf einmal vergnügter
-geworden.
-
-»Mein Kopf brummt von dem gestrigen Abend bei dir, Bruder ... und ich
-bin ganz zerschlagen,« begann er in einem ganz anderen Tone und wandte
-sich lachend an Rasumichin. »War es interessant? Ich verließ euch doch
-gestern bei dem interessantesten Punkte. Wer siegte?«
-
-»Niemand, selbstverständlich. Wir kamen später zu den ewigalten Fragen,
-schwebten in höheren Regionen.«
-
-»Was meinst du, Rodja, worauf sie gestern zu sprechen kamen, -- gibt es
-oder gibt es keine Verbrecher? Ich sag dir, sie schwatzten das Blaue vom
-Himmel herunter!«
-
-»Was ist da Merkwürdiges dran? Eine gewöhnliche soziale Frage,«
-antwortete Raskolnikoff zerstreut.
-
-»Die Frage war nicht so formuliert,« bemerkte Porphyri Petrowitsch.
-
-»Nein, nicht ganz so, das ist wahr,« pflichtete Rasumichin wie
-gewöhnlich eilig und sich ereifernd bei. »Sieh, Rodion, höre mich an und
-sage dann deine Meinung. Es wäre mir lieb. Ich wollte gestern geradezu
-aus der Haut fahren, ich wartete auf dich, denn ich hatte ihnen gesagt,
-daß du kommen wirst ... Es begann mit der Anschauung der Sozialisten.
-Die Anschauung ist bekannt, -- das Verbrechen ist ein Protest gegen die
-anormale soziale Einrichtung, und -- mehr nichts, keine andern Gründe
-wurden zugelassen, -- nichts mehr! ...«
-
-»Da schwindelst du schon!« rief Porphyri Petrowitsch. Er wurde sichtbar
-belebter und lachte alle Augenblicke, indem er Rasumichin ansah, der
-dadurch noch mehr in Hitze kam.
-
-»Sonst wurde nichts zugelassen!« unterbrach ihn Rasumichin voll Eifer,
-»ich schwindle nicht! ... Ich will dir ihre Bücher zeigen, -- an allem
-soll die sogenannte >gute Gesellschaft schuld sein< -- und weiter
-nichts! Das ist ihre Lieblingsphrase! Und daraus geht hervor, daß, wenn
-die Gesellschaft normal eingerichtet sein wird, mit einem Male auch alle
-Verbrecher verschwinden werden, weil es nichts mehr geben wird, dagegen
-zu protestieren, und alle werden auf einmal gerecht werden. Die Natur
-wird nicht in Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die Natur
-hat keinen Platz! Bei ihnen wird die Menschheit nicht von selbst sich in
-eine normale Gesellschaft verwandeln, indem sie den historischen,
-lebendigen Entwicklungsgang durchmacht, sondern im Gegenteil, ein
-soziales System, irgendeinem mathematischen Kopfe entsprungen, soll
-sofort die ganze Menschheit verändern und im Nu sie gerecht und
-sündenlos machen, ohne jeden historischen und lebendigen
-Entwicklungsgang, ohne jeglichen lebendigen Prozeß! Darum hassen sie
-auch so instinktiv die Geschichte, -- >in ihr kommen bloß
-Scheußlichkeiten und Dummheiten vor<, -- und alles wird bloß durch
-Dummheit allein erklärt! Darum lieben sie auch nicht den lebendigen
-Lebensprozeß, -- sie brauchen keine lebendige Seele. Eine lebendige
-Seele wird Leben verlangen, eine lebendige Seele will nicht einem
-Mechanismus gehorchen, eine lebendige Seele ist mißtrauisch, eine
-lebendige Seele ist rückschrittlich! Und bei ihnen kann man die Seele
-aus Kautschuk machen, tut nichts, daß sie Leichengeruch hat, -- sie ist
-dafür nicht lebendig, ohne Willen, eine Sklavenseele und wird sich nicht
-empören. Und im Resultate kommt es darauf hinaus, daß sich alles nur um
-das Zusammensetzen von Ziegelsteinen und um die Lage der Korridore und
-der Zimmer in der kommunistischen Kolonie dreht! Die kommunistische
-Kolonie ist fertig, sie verlangt Leben, hat ihren Lebensprozeß noch
-nicht abgeschlossen, es ist zu früh für sie, auf den Kirchhof zu kommen!
-Mit der Logik allein kann man nicht die Natur überspringen! Die Logik
-will drei Fälle voraussetzen, und es gibt ihrer eine Million! Soll man
-die ganze Million Fälle abschneiden und alles bloß zur Frage des
-Komforts konzentrieren? Die leichteste Lösung der Aufgabe! Sie ist
-verlockend einfach und man braucht nicht zu denken! Und das ist die
-Hauptsache -- man braucht nicht zu denken! Das ganze Lebensgeheimnis
-findet auf zwei Druckbogen Platz!«
-
-»Wie es dich gepackt hat, du schlugst fest die Trommel! Man muß dich
-festhalten,« lachte Porphyri Petrowitsch. »Stellen Sie sich vor,« wandte
-er sich an Raskolnikoff, »so war es auch gestern abend, und das in einem
-Zimmer, angefüllt mit sechs Mann, die er dazu noch vorher mit Punsch
-bewirtet hat, -- können Sie sich so was vorstellen? Nein, Bruder, du
-schwindelst, -- >die Gesellschaft< hat bei einem Verbrechen viel zu
-bedeuten; das kann ich dir bestätigen.«
-
-»Ich weiß es selbst, daß sie viel zu bedeuten hat, aber sage mir, --
-wenn ein Vierzigjähriger ein Mädchen von zehn Jahren vergewaltigt, --
-hat ihn etwa die Gesellschaft, die Umgebung dazu gezwungen?«
-
-»Ja, im strengen Sinne vielleicht auch die Gesellschaft,« bemerkte
-Porphyri Petrowitsch mit merkwürdiger Wichtigkeit, »ein Verbrechen an
-einem kleinen Mädchen kann man sehr, sehr gut durch >die Gesellschaft<
-erklären.«
-
-Rasumichin geriet nun fast in Wut.
-
-»Nun, willst du, so werde ich dir sofort beweisen,« brüllte er »daß du
-weiße Wimpern einzig und allein darum hast, weil der Turm von Iwan
-Weliki fünfundsiebzig Meter hoch ist, und ich will es dir klar, genau,
-fortschrittlich, und sogar mit einem liberalen Anfluge beweisen! Ich
-übernehme es! Nun, willst du mit mir wetten?«
-
-»Ich nehme die Wette an! Wollen wir mal hören, wie er es beweisen will!«
-
-»Ja, du stellst dich bloß so an, zum Teufel!« rief Rasumichin aus,
-sprang von seinem Stuhle und wehrte mit der Hand ab. »Nun, lohnt es sich
-mit dir zu sprechen? Er tut dies nur absichtlich, du kennst ihn noch
-nicht, Rodion! Auch gestern war er auf ihrer Seite, bloß, um sie alle
-anzuführen. Und was er gestern alles sagte, oh Gott! Und die waren um
-ihn froh! ... Er kann in dieser Weise zwei Wochen aushalten. Im vorigen
-Jahre erzählte er uns aus irgendeinem Grunde, daß er ins Kloster gehe,
--- zwei Monate blieb er dabei! Vor kurzem wollte er uns aufbinden, daß
-er heiraten würde, und daß alles schon zur Hochzeit bereit sei. Sogar
-einen neuen Anzug hatte er sich bestellt. Wir fingen schon an, ihm zu
-gratulieren. Keine Braut, nichts war da, -- alles Phantasiespiel!«
-
-»Da hast du wieder geschwindelt! Den Anzug hatte ich vorher bestellt!
-Wegen des neuen Anzuges kam es mir auch in den Sinn, euch alle
-anzuführen!«
-
-»Können Sie sich wirklich so verstellen?« fragte Raskolnikoff
-nachlässig.
-
-»Und Sie glauben es nicht? Warten Sie, auch Sie will ich anführen --
-ha--ha--ha! Nein, hören Sie, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Bei
-allen diesen Fragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleinen Mädchen erinnere
-ich mich plötzlich, -- übrigens habe ich mich stets dafür interessiert,
--- an einen Aufsatz von Ihnen, -- >Über Verbrechen ...< oder wie er
-heißt, ich habe den Titel vergessen, ich erinnere mich nicht genau an
-ihn. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in dem >Periodischen
-Worte< zu lesen.«
-
-»Meinen Aufsatz? In dem >Periodischen Worte?<« fragte verwundert
-Raskolnikoff, »ich habe tatsächlich vor einem halben Jahre, als ich die
-Universität verließ, einen Aufsatz geschrieben, aber ich habe ihn damals
-der Zeitung >Das wöchentliche Wort< und nicht dem >Periodischen<
-übergeben.«
-
-»Er ist aber im >Periodischen< erschienen.«
-
-»Das >Wöchentliche Wort< hörte damals auf zu erscheinen, darum druckte
-man ihn auch nicht ...«
-
-»Das ist richtig; und das >Wöchentliche Wort< verschmolz mit dem
->Periodischen< und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten
-dort. Sie wußten es nicht?«
-
-Raskolnikoff wußte tatsächlich nichts davon.
-
-»Erlauben Sie, Sie können doch Geld für den Aufsatz verlangen! Was Sie
-für ein Mensch sind! Sie leben so einsam, daß Sie selbst von solchen
-Dingen, die Sie doch direkt angehen, keine Ahnung haben.«
-
-»Bravo, Rodja! Auch ich wußte nichts,« rief Rasumichin aus. »Ich gehe
-heute noch in die Lesehalle und verlange die Nummer. Vor zwei Monaten
-war es! Welches Datum? Na, einerlei, ich werde ihn schon finden! Das ist
-mal eine Sache! Und er sagte nichts davon!«
-
-»Woher haben Sie zu wissen bekommen, daß der Aufsatz von mir ist? Er ist
-nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.«
-
-»Zufällig, und auch erst in diesen Tagen. Durch den Redakteur; ich kenne
-ihn ... Ich war sehr interessiert.«
-
-»Ich betrachtete, soweit ich mich erinnere, den psychologischen Zustand
-eines Verbrechers während des ganzen Vorganges.«
-
-»Ja, und Sie behaupteten, daß die Vollbringung eines Verbrechens stets
-von einer Krankheit begleitet wird. Sehr, sehr originell, aber ... mich
-interessierte eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein
-gewisser Gedanke, der zum Schlusse vorkommt, den Sie aber leider nur
-unklar andeuteten ... Wenn Sie sich entsinnen, es ist da angedeutet, daß
-in der Welt offenbar Menschen existieren, die tun können ... das heißt
-nicht bloß können, sondern volles Recht dazu haben, allerhand
-Scheußlichkeiten und Verbrechen zu vollbringen, und daß für sie das
-Gesetz nicht geschrieben ist.«
-
-Raskolnikoff lächelte über die starke absichtliche Verdrehung seiner
-Idee.
-
-»Wie? Was? Ein Recht auf Verbrechen? Aber doch nicht aus dem Grunde,
-weil die Gesellschaft schuld ist?« erkundigte sich Rasumichin voll
-Schrecken.
-
-»Nein, nein, nicht aus dem Grunde,« antwortete Porphyri Petrowitsch.
-»Die ganze Sache dreht sich darum, daß in seinem Aufsatze die Menschen
-in >gewöhnliche< und >ungewöhnliche< eingeteilt werden. Die Gewöhnlichen
-müssen in Gehorsam leben und haben kein Recht, ein Gesetz zu
-überschreiten, weil sie -- eben Gewöhnliche sind. Und die Ungewöhnlichen
-haben das Recht, allerhand Verbrechen zu vollbringen und in jeder Weise
-das Gesetz zu verletzen, und das, weil sie Ungewöhnliche sind. So
-scheint es mir in Ihrem Aufsatze zu stehen, wenn ich nicht irre?«
-
-»Aber wie ist denn das? Es kann nicht sein, daß es so gemeint ist!«
-murmelte Rasumichin zweifelnd.
-
-Raskolnikoff lächelte wieder. Er hatte sofort verstanden, wie die Sache
-stand und worauf man ihn bringen wollte; er entsann sich der Stelle und
-beschloß, die Herausforderung anzunehmen.
-
-»Es steht nicht ganz so in meinem Aufsatze,« begann er schlicht und
-bescheiden. »Übrigens, ich muß gestehen, daß Sie ihn nahezu richtig
-wiedergegeben haben, und wenn Sie es wünschen, auch vollkommen richtig
-...« Es paßte ihm anscheinend, zuzugeben, daß der Gedanke vollkommen
-richtig wiedergegeben war. »Der Unterschied besteht einzig darin, daß
-ich gar nicht behauptete, daß die ungewöhnlichen Menschen unbedingt
-allerhand Scheußlichkeiten vollbringen müssen und dazu verpflichtet
-sind, wie Sie es sagen. Ich glaube auch, daß man einen solchen Aufsatz
-in der Presse nicht zugelassen hätte. Ich habe einfach angedeutet, daß
-ein >ungewöhnlicher< Mensch das Recht habe ... das heißt kein
-offizielles Recht, sondern in sich selbst das Recht trage, seinem
-Gewissen zu gestatten ... einige Hindernisse zu überschreiten, und
-einzig in dem Falle, wenn die Erfüllung seiner Idee, -- die zuweilen
-vielleicht für die ganze Menschheit heilbringend ist, -- dieses
-verlangt. Sie beliebten zu sagen, daß mein Aufsatz nicht deutlich sei;
-ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Ich irre mich
-vielleicht nicht, wenn ich annehme, daß Sie es wünschen, gut. Meine
-Ansicht geht dahin, -- wenn die Entdeckungen von Newton und Kepler,
-infolge irgendwelcher Kombinationen, in keiner Weise der Menschheit
-anders bekannt werden konnten als durch den Verlust des Lebens von
-einem, zehn, hundert und mehr Menschen, die der Erfindung störend waren,
-oder ihr als ein Hindernis im Wege standen, so hätte Newton das Recht
-gehabt und wäre sogar verpflichtet gewesen ... diese zehn oder hundert
-Menschen zu beseitigen, um seine Erfindungen der ganzen Menschheit
-bekannt zu machen. Daraus läßt sich übrigens gar nicht schließen, daß
-Newton das Recht hatte, jeden beliebigen, den ersten besten zu ermorden
-oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Weiter entwickelte ich --
-soweit ich mich erinnern kann -- in meinem Aufsatze, daß alle ... nun,
-nehmen wir zum Beispiel die Gesetzgeber und Führer der Menschheit,
-angefangen von den allerältesten Lykurg, Solon bis Mahomet, Napoleon und
-so weiter herauf: alle waren ohne Ausnahme Verbrecher, schon dadurch
-allein, daß sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft
-heilig geehrte und von den Vätern übernommene Gesetz verletzten, -- und
-sie schraken sicher nicht vor dem Blutvergießen zurück, wenn ihnen nur
-das Blut, -- und es war zuweilen ganz unschuldiges und tapfer für das
-alte Gesetz vergossenes Blut -- helfen konnte. Es ist sogar auffallend,
-daß der größte Teil dieser Wohltäter und Führer der Menschheit besonders
-grausame Blutvergießer waren. Mit einem Worte, ich ziehe den Schluß, daß
-auch alle, nicht bloß die Großen, sondern auch die kaum über das Maß
-hervortretenden Menschen, das heißt, die auch nur eine geringe Fähigkeit
-haben, etwas Neues zu sagen, unbedingt ihrer Natur nach mehr oder
-weniger Verbrecher sein müssen. Anders würde es ihnen schwer fallen, aus
-dem Gleise herauszukommen; und im Gleise zu bleiben können sie gar nicht
-wollen, wiederum ihrer Natur nach, und meiner Ansicht nach sind sie
-sogar verpflichtet, es nicht zu wollen. Mit einem Worte, Sie sehen, daß
-bis dato etwas besonders Neues nicht in dem Aufsatze steht. Das wurde
-schon tausendmal gedruckt und gelesen. Was meine Einteilung der Menschen
-in gewöhnliche und ungewöhnliche anbetrifft, gebe ich zu, daß sie ein
-wenig willkürlich ist, aber ich klammere mich auch nicht an genaue
-Zahlen. Ich glaube nur an meinen Hauptgedanken. Er besteht gerade darin,
-daß die Menschen infolge eines Naturgesetzes überhaupt in zwei Gattungen
-zerfallen, -- eine niedrige, die gewöhnlichen, das heißt sozusagen das
-Material, das einzig zur Weitererzeugung dient, und eigentliche
-Menschen, das heißt solche, die die Begabung oder das Talent haben, in
-ihrem Kreise ein neues Wort zu sagen. Selbstverständlich gibt es hier
-endlose Unterabteilungen, aber die bezeichnenden Merkmale beider
-Gattungen sind ziemlich scharf, -- die erste Gattung, das heißt das
-Material, besteht, im allgemeinen gesagt, aus Menschen, die ihrer Natur
-nach konservativ und gesittet sind, in Gehorsam leben und es lieben,
-gehorsam zu sein. Meiner Ansicht nach sind sie auch verpflichtet,
-gehorsam zu sein, denn das ist ihre Bestimmung und dabei ist entschieden
-nichts Erniedrigendes für sie. Die zweite Gattung, -- die überschreiten
-alle das Gesetz, sind Zerstörer oder neigen dazu, je nach ihren
-Fähigkeiten. Die Verbrechen dieser Menschen sind selbstverständlich
-relativ und verschieden; meistens verlangen sie die Zerstörung des
-Gegenwärtigen im Namen eines Besseren. Wenn er aber seiner Idee wegen,
--- sagen wir -- über eine Leiche schreiten oder Blut vergießen muß, so
-kann er, meine ich, innerlich von seinem Gewissen aus sich die Erlaubnis
-geben, über diese Leiche hinwegzuschreiten, -- das heißt, je nach der
-Idee und ihrem Umfange, -- halten Sie das fest! Nur in diesem Sinne
-spreche ich auch in meinem Aufsatze über ihr Recht auf Verbrechen. Sie
-entsinnen sich doch, daß wir mit einer juristischen Frage anfingen.
-Übrigens, es ist nicht wert, sich viel aufzuregen, -- die Menge erkennt
-fast nie dieses Recht für sie an, sie läßt sie hinrichten und hängen --
-mehr oder weniger -- und erfüllt dadurch vollkommen richtig ihre
-konservative Bestimmung, jedoch mit dem Unterschiede, daß dieselbe Menge
-in den folgenden Generationen die Hingerichteten auf das Piedestal
-stellen und sie anbeten wird -- mehr oder weniger. Die erste Gattung ist
-immer der Herr der Gegenwart, die zweite -- der Herr der Zukunft. Die
-ersten bewahren die Welt und vermehren sie der Zahl nach; die zweiten
-bewegen die Welt und führen sie zum Ziele. Wie die einen, so haben auch
-die anderen das vollkommen gleiche Recht, zu existieren. Mit einem
-Worte, in meinem Aufsatze haben alle gleich großes Recht und -- _vive la
-guerre éternelle_{[1]}, -- bis zum Neuen Jerusalem, versteht sich!«
-
-»Also, Sie glauben trotzdem an Neu-Jerusalem?«
-
-»Ich glaube daran,« antwortete Raskolnikoff fest. Indem er dies sagte,
-blickte er zu Boden, wie er auch während seiner langen Rede auf einen
-Punkt des Teppiches geblickt hatte.
-
-»Und, und glauben Sie auch an Gott? Entschuldigen Sie meine Neugier.«
-
-»Ich glaube an ihn,« wiederholte Raskolnikoff und hob die Augen zu
-Porphyri Petrowitsch empor.
-
-»Und, und glauben Sie an die Auferstehung des Lazarus?«
-
-»Ich glau--be. Warum wollen Sie das wissen?«
-
-»Glauben Sie buchstäblich daran?«
-
-»Buchstäblich.«
-
-»So, so ... ich fragte bloß aus Neugier. Entschuldigen Sie. Aber
-erlauben Sie, -- ich kehre zu dem Gesagten zurück, -- jene werden doch
-nicht immer hingerichtet, manche ganz im Gegenteil ...«
-
-»Triumphieren während ihres Lebens? Oh ja, manche erreichen es auch
-während ihrer Lebenszeit, und dann ...«
-
-»Beginnen sie selbst hinzurichten?«
-
-»Wenn es nötig ist, und wissen Sie, eigentlich meistenteils. Ihre
-Bemerkung war treffend.«
-
-»Danke. Aber sagen Sie bitte, wie soll man diese Ungewöhnlichen von den
-Gewöhnlichen unterscheiden? Gibt es etwa bei der Geburt solche Merkmale?
-Ich meine, daß hier mehr Klarheit, sozusagen mehr äußerliche Genauigkeit
-sein müßte, -- entschuldigen Sie bei mir die natürliche Besorgnis eines
-praktischen und loyalen Menschen, aber könnte man hier nicht zum
-Beispiel eine besondere Kleidung einführen, irgend etwas tragen,
-irgendwie sie kennzeichnen? ... Denn, gestehen Sie selbst, wenn eine
-Verwechslung stattfindet, und einer aus der einen Gattung sich
-einbildet, daß er zu der anderen Gattung gehöre und anfängt >alle
-Hindernisse zu beseitigen<, wie Sie sich sehr treffend ausdrückten, so
-kann dabei ...«
-
-»Oh, das kommt sehr oft vor! Ihr letzter Einwurf ist noch besser als der
-vorige ...«
-
-»Danke sehr ...«
-
-»Keine Ursache; aber ziehen Sie doch in Betracht, daß ein Irrtum nur
-seitens der ersten Gattung, das heißt der >gewöhnlichen< Menschen, wie
-ich sie vielleicht sehr unglücklich genannt habe, möglich ist. Trotz
-ihrer angeborenen Neigung zum Gehorsam lieben es sehr viele von ihnen,
-aus einem gewissen, lebhaften Naturell, das auch einer Kuh nicht versagt
-ist, sich einzubilden Fortschrittsmänner, >Zerstörer<, zu sein und
-glauben es mit einem neuen Worte erreicht zu haben, und sie tun
-vollkommen aufrichtig. Und die tatsächlich Neuen bemerken sie darüber
-sehr oft nicht, verachten sie sogar als rückschrittliche und
-untergeordnete Menschen. Meiner Ansicht nach aber kann hier keine große
-Gefahr vorliegen, denn sie erreichen nie viel im Leben. Für ihre
-Verblendung könnte man sie zuweilen züchtigen, um sie an ihren Platz zu
-erinnern, aber auch nicht mehr; man braucht aber dabei oftmals keinen
-Vollstrecker, sie werden sich selbst züchtigen, weil sie sehr
-wohlgesittet sind, -- manche erweisen einander diesen Dienst, andere
-aber tun es eigenhändig ... Sie legen sich dabei allerhand öffentliche
-Bußen auf, -- es macht sich das hübsch und wirkt belehrend: mit einem
-Worte, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen ... Für sie besteht ein
-Gesetz.«
-
-»Nun, in diesem Punkte haben Sie mich wenigstens etwas beruhigt, aber da
-haben wir noch einen bösen Punkt, -- sagen Sie mir bitte, gibt es viele
-solche Leute, die das Recht haben, andere zu morden, sogenannte
->Ungewöhnliche<? Ich bin selbstverständlich bereit, mich vor Ihnen zu
-beugen, aber Sie müssen doch selbst zugeben, daß es ängstlich ist, wenn
-es viele von der Art gäbe?«
-
-»Oh, regen Sie sich auch in diesem Punkte nicht auf,« fuhr Raskolnikoff
-in demselben Tone fort, »Menschen mit neuen Gedanken, sogar solche, die
-nur einigermaßen befähigt sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt
-ungewöhnlich wenige geboren, sogar merkwürdig wenig. Eines ist mir klar,
-daß die Ordnung für das Entstehen und Gedeihen aller dieser Kategorien
-und Subkategorien sehr genau und sicher durch irgendein Naturgesetz
-bestimmt ist. Dieses Gesetz ist uns selbstverständlich unbekannt, aber
-ich glaube, daß es existiert und späterhin vielleicht auch einmal
-bekannt werden wird. Die ungeheure Menge Menschen, das Material
-existiert bloß in der Welt, um schließlich durch irgendeine Anstrengung,
-durch einen geheimnisvollen Vorgang, durch eine Kreuzung von
-Geschlechtern und Gattungen sich zusammen zu fassen und einen einzigen
--- sagen wir von tausend -- einigermaßen selbständigen Menschen in die
-Welt zu setzen. Mit einer noch größeren Selbständigkeit wird vielleicht
-nur ein einziger von zehntausend geboren, -- ich spreche bildlich. Mit
-einer noch größeren von hunderttausend ein einziger. Geniale Menschen
-von Millionen und große Genies, die Vollender der Menschheit, kommen
-vielleicht zur Welt nach dem Ableben von vielen tausend Millionen
-Menschen. Mit einem Worte, ich habe keinen Blick in die Retorte
-geworfen, in der dies alles vorgeht. Aber ein bestimmtes Gesetz
-existiert unbedingt und muß existieren; hier kann es keinen Zufall
-geben.«
-
-»Ja, sagt einmal, scherzt ihr etwa beide?« rief Rasumichin endlich aus.
-»Führt ihr einander an der Nase herum oder nicht? Sie sitzen und treiben
-miteinander Spaß! Meinst du es ernst, Rodja?«
-
-Raskolnikoff erhob sein bleiches und fast trauriges Gesicht zu ihm und
-antwortete nichts. Und merkwürdig erschien Rasumichin, im Vergleiche zu
-diesem stillen und traurigen Gesichte, der offene, zudringliche,
-gereizte und unhöfliche, beißende Spott von Porphyri Petrowitsch.
-
-»Nun, Bruder, wenn es tatsächlich ernst ist, so ... Du hast gewiß recht,
-wenn du sagst, daß dies nicht neu sei und allem, was wir tausendmal
-gelesen und gehört haben, gleiche. Aber was tatsächlich originell in
-alledem ist, -- und in der Tat dir zu meinem Entsetzen allein gehört,
-ist der Punkt, daß du trotzdem Blutvergießen dem Gewissen nach
-gestattest und es -- entschuldige mich, -- sogar mit so einem Fanatismus
-tust ... In diesem also besteht auch der Hauptgedanke deines Aufsatzes.
-Diese Erlaubnis, dem Gewissen nach Blut zu vergießen, das ... das ist
-meiner Meinung nach schrecklicher als eine offizielle Erlaubnis, Blut zu
-vergießen, sozusagen eine gesetzliche ...«
-
-»Vollkommen richtig, -- es ist schrecklicher,« pflichtete Porphyri
-Petrowitsch bei.
-
-»Nein, du hast dich von irgend etwas hinreißen lassen! Das muß ein
-Irrtum sein. Ich will den Aufsatz lesen ... Du hast dich bestimmt
-hinreißen lassen! Du kannst nicht so denken ... Ich will es lesen.«
-
-»Im Aufsatze steht dies alles nicht, es ist dort bloß angedeutet,« sagte
-Raskolnikoff.
-
-»So, so,« Porphyri Petrowitsch rückte auf seinem Stuhle hin und her,
-»mir ist es jetzt ziemlich klar, wie Sie belieben Verbrechen zu
-betrachten, aber ... entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit, -- ich
-belästige Sie zu sehr, schäme mich selbst darüber, -- aber sehen Sie, --
-Sie haben mich vorhin sehr beruhigt über die Möglichkeit einer
-Verwechslung der beiden Kategorien, aber ... mich quälen nun allerhand
-praktische Fälle! Nehmen wir an, irgendein Mann oder Jüngling bildet
-sich plötzlich ein, er sei Lykurg oder Mahomet ... ein Zukünftiger,
-verstehen Sie, und -- beginnt nun alle Hindernisse zu beseitigen ... Es
-steht ihm, sagt er sich, ein langer Weg bevor und für diesen Weg braucht
-er Geld ... so beginnt er sich das Geld zu verschaffen ... wissen Sie?«
-
-Sametoff prustete plötzlich vor Lachen; Raskolnikoff würdigte ihn nicht
-eines Blickes.
-
-»Ich muß zugeben,« antwortete er ruhig, »daß solche Fälle in der Tat
-vorkommen müssen. Dümmere und besonders eitle Menschen fallen darauf
-herein; insbesondere die Jugend.«
-
-»Sehen Sie. Nun, was soll da geschehen?«
-
-»Ja, was denn,« lächelte ein wenig Raskolnikoff, »ich bin doch daran
-nicht schuld. So ist es einmal und wird immer so bleiben. Er« -- er wies
-auf Rasumichin -- »sagte soeben, daß ich Blutvergießen gestatte. Was ist
-denn dabei? Die Gesellschaft ist doch mit Verbannung, Gefängnissen,
-Untersuchungsrichtern, Zuchthäusern genug gesichert, -- wozu denn sich
-beunruhigen? Sucht den Dieb! ...«
-
-»Nun, und wenn wir ihn finden?«
-
-»Fort mit ihm.«
-
-»Das ist sehr logisch. Nun, und wie steht es mit dem Gewissen?«
-
-»Was kümmert Sie das?«
-
-»Doch, aus Humanität.«
-
-»Wer ein Gewissen hat, mag darunter leiden, wenn er seinen Irrtum
-einsieht. Das ist auch eine Strafe für ihn, -- außer der Zwangsarbeit.«
-
-»Nun, und die tatsächlich Genialen,« fragte Rasumichin mit düsterem
-Gesichte, »die nämlich, denen das Recht gegeben ist zu morden, die
-sollen gar nicht, auch nicht wegen des vergossenen Blutes leiden?«
-
-»Warum sagst du: sollen? Es gibt hier weder eine Erlaubnis, noch ein
-Verbot. Mag er leiden, wenn ihm das Opfer leid tut ... Leiden und
-Schmerz hängen immer mit einer weiten Erkenntnis und einem tiefen Herzen
-zusammen. Die wirklich großen Menschen müssen auf Erden großes Leid
-empfinden,« fügte er plötzlich nachdenklich, nicht im Tone des
-Gespräches, hinzu.
-
-Er hob die Augen auf, blickte alle sinnend an, lächelte und nahm seine
-Mütze. Er war im Vergleiche mit seinem Eintritt zu ruhig, und er fühlte
-es auch. Alle erhoben sich.
-
-»Nun, schelten Sie mich oder nicht, ärgern Sie sich über mich oder
-nicht, aber ich kann es nicht unterlassen,« sagte Porphyri Petrowitsch
-wieder, »erlauben Sie mir noch eine kleine Frage -- ich belästige Sie
-sehr, -- nur eine einzige kleine Idee möchte ich aussprechen, bloß um es
-nicht zu vergessen ...«
-
-»Gut, sagen Sie Ihre kleine Idee.« Raskolnikoff stand ernst und bleich
-in Erwartung vor ihm.
-
-»Ja, sehen Sie ... ich weiß wirklich nicht, wie ich mich glücklich
-ausdrücken soll ... die Idee ist zu gelungen ... ist psychologisch ...
-Sehen Sie, als Sie Ihren Aufsatz schrieben, -- da war es doch nicht ganz
-ohne, he--he--he--, -- daß Sie sich selbst, -- nun, sagen wir, ein
-bißchen vielleicht, -- auch für einen >ungewöhnlichen< Menschen hielten,
-der ein neues Wort -- in Ihrem Sinne, versteht sich, -- sagt ... War es
-nicht so?«
-
-»Sehr möglich,« antwortete Raskolnikoff verächtlich. Rasumichin machte
-eine Bewegung.
-
-»Und wenn es so ist, würden Sie in diesem Falle sich entschließen, --
-nun, sagen wir, wegen irgendwelcher Fehlschläge und beschränkter
-Verhältnisse oder auch um irgendwie die Menschheit zu fördern, -- über
-ein Hindernis hinweg zu schreiten? ... Nun, zum Beispiel, zu morden und
-zu rauben? ...«
-
-Und wieder schien er ihm plötzlich mit dem linken Auge zuzuzwinkern und
-lachte unhörbar, -- genau wie vorhin.
-
-»Wenn ich auch über eines hinweg schreiten würde, so würde ich es Ihnen
-sicher nicht sagen,« antwortete Raskolnikoff mit herausfordernder
-hochmütiger Verachtung.
-
-»Ach was, ich interessiere mich doch in rein literarischer Hinsicht, um
-eigentlich Ihren Aufsatz mehr zu verstehen ...«
-
-»Jetzt wird er deutlich und unverschämt!« dachte Raskolnikoff voll
-Widerwillen.
-
-»Gestatten Sie mir gütigst zu bemerken,« antwortete er trocken, »daß ich
-mich weder für einen Mahomet noch für einen Napoleon halte ... für keine
-von solchen Persönlichkeiten, also kann ich, da ich keiner von denen
-bin, Ihnen auch keine befriedigende Erklärung geben, wie ich handeln
-würde.«
-
-»Nun, aber bitte, wer hält sich jetzt in Rußland nicht für einen
-Napoleon?« sagte Porphyri Petrowitsch plötzlich mit großer Familiarität.
-
-Sogar im Tone seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches.
-
-»Möglicherweise hat auch ein künftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna
-in der vorigen Woche mit dem Beile erschlagen?« platzte Sametoff heraus.
-
-Raskolnikoff schwieg und blickte unverwandt und fest Porphyri
-Petrowitsch an. Rasumichins Gesicht verfinsterte sich. Ihm war schon
-vorher etwas aufgefallen. Er blickte zornig um sich. Eine Minute
-düsteren Schweigens verging. Raskolnikoff wandte sich, um wegzugehen.
-
-»Sie wollen schon fortgehen?« sagte Porphyri Petrowitsch freundlich und
-reichte ihm außerordentlich liebenswürdig die Hand. »Ich freue mich
-sehr, sehr über Ihre Bekanntschaft. Und was Ihre Bitte anbetrifft, seien
-Sie ohne Sorge. Schreiben Sie nur so, wie ich Ihnen sagte. Oder noch
-besser, kommen Sie selber einmal zu mir ... vielleicht in diesen Tagen
-... morgen ... ich werde gegen elf Uhr da sein. Wir wollen dann alles
-besorgen ... uns auch etwas unterhalten ... Sie, als einer der letzten,
-die dort gewesen waren, könnten uns vielleicht etwas mitteilen ...«
-
-»Sie wollen mich offiziell, mit allem Zubehör, verhören?« fragte
-Raskolnikoff scharf.
-
-»Warum denn? Vorläufig ist das gar nicht nötig. Sie haben das falsch
-verstanden. Sehen Sie, ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen und ...
-und habe schon mit allen Pfandgebern gesprochen ... manche Aussagen habe
-ich zu Protokoll genommen ... und Sie, als der letzte ... Ja, a propos!«
-rief er plötzlich, sich über etwas freuend, »ich erinnere mich jetzt,
-was ist denn mit mir! ...« wandte er sich an Rasumichin. »Siehst du, du
-hast mir von diesem Nikolai die Ohren vollgeblasen ... nun, ich weiß
-auch selbst, ich weiß,« wandte er sich an Raskolnikoff, »daß der Bursche
-unschuldig ist, aber was ist da zu machen, ich mußte auch Dmitri
-belästigen ... ja, die Sache ist nun die, -- als Sie damals die Treppe
-hinaufgingen ... erlauben Sie, -- Sie waren doch in der achten Stunde
-dort?«
-
-»Ja, in der achten,« antwortete Raskolnikoff und empfand es im selben
-Momente unangenehm, da er dies doch nicht zu sagen brauchte.
-
-»Also, als Sie die Treppe in der achten Stunde hinaufgingen, haben Sie
-da nicht im zweiten Stock, in einer offenstehenden Wohnung -- erinnern
-Sie sich? -- zwei Arbeiter oder wenigstens einen von ihnen gesehen? Sie
-strichen dort an, haben Sie sie nicht bemerkt? Das ist sehr, sehr
-wichtig für die beiden! ...«
-
-»Anstreicher? Nein, ich habe sie nicht gesehen ...« antwortete
-Raskolnikoff langsam und wie in seiner Erinnerung suchend, dabei spannte
-er unter schweren Qualen sein ganzes Wesen an, um alsbald die gestellte
-Falle zu erkennen und nichts zu übersehen. »Nein, ich habe sie nicht
-gesehen und eine offenstehende Wohnung auch nicht bemerkt ... aber ich
-erinnere mich -- (er hatte die Falle jetzt erkannt und triumphierte) --
-daß im vierten Stock ein Beamter aus der Wohnung auszog ... gerade
-gegenüber Aljona Iwanowna ... ich erinnere mich dessen ... erinnere mich
-klar ... Soldaten trugen ein Sofa hinaus und preßten mich dabei an die
-Wand ... Anstreicher, nein, deren erinnere ich mich nicht ... und eine
-offenstehende Wohnung habe ich nirgends gesehen. Ja, nirgends ...«
-
-»Ja, was ist denn das!« rief plötzlich Rasumichin, als sei er zu sich
-gekommen und hätte es sich überlegt, »ja, die Anstreicher arbeiteten
-doch am Tage des Mordes dort und er war drei Tage vorher dort? Was
-fragst du denn?«
-
-»Ach! Ich habe es verwechselt!« schlug sich Porphyri Petrowitsch vor die
-Stirn. »Zum Teufel, ich verliere noch den Verstand durch diese Sache!«
-wandte er sich wie entschuldigend an Raskolnikoff. »Uns ist es so
-wichtig, zu erfahren, ob man jemand in der achten Stunde in der Wohnung
-gesehen hat und da bildete ich mir ein, daß Sie es auch sagen könnten
-... ich habe es rein verwechselt!«
-
-»Man muß eben aufmerksamer sein,« bemerkte Rasumichin grimmig.
-
-Die letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesagt. Porphyri Petrowitsch
-begleitete sie außerordentlich liebenswürdig bis zur Türe. Beide traten
-finster und verdrießlich auf die Straße hinaus und redeten einige
-Schritte kein Wort. Raskolnikoff tat einen tiefen Atemzug.
-
-
- VI.
-
-»... Ich glaube nicht daran! Ich kann es nicht glauben!« wiederholte
-Rasumichin bestürzt und versuchte mit aller Kraft die Einwände
-Raskolnikoffs zu widerlegen.
-
-Sie näherten sich schon den »Möblierten Zimmern« von Bakalejeff, wo
-Pulcheria Alexandrowna und Dunja sie seit langem erwarteten. Rasumichin
-blieb alle Augenblicke im Eifer des Gespräches stehen, verwirrt und
-schon dadurch allein aufgeregt, daß sie zum erstenmale _darüber_ klar
-gesprochen hatten.
-
-»Du glaubst es nicht!« antwortete Raskolnikoff mit einem kalten und
-nachlässigen Lächeln. »Du hast nach deiner Gewohnheit nicht acht gehabt,
-aber ich wog jedes Wort ab.«
-
-»Du bist argwöhnisch, darum legtest du auch jedes Wort auf die Wage ...
-Hm ... in der Tat, ich gebe zu, der Ton von Porphyri war ziemlich
-merkwürdig; besonders aber dieser Schuft Sametoff! ... Du hast recht,
-etwas war an ihm, -- aber warum? Warum?«
-
-»Er hat sich's über Nacht überlegt.«
-
-»Aber im Gegenteil, im Gegenteil! Wenn sie diesen hirnlosen Gedanken
-wirklich hätten, so würden sie mit allen Kräften ihn zu verbergen suchen
-und ihre Karten verdeckt halten, um dich später plötzlich zu fangen ...
-Jetzt aber ist es unverschämt und unvorsichtig!«
-
-»Wenn sie Tatsachen, das heißt wirklich Tatsachen oder einen
-einigermaßen begründeten Verdacht hätten, dann würden sie wirklich
-versuchen, ihr Spiel zu verbergen, -- in der Hoffnung, noch mehr zu
-gewinnen und ... hätten übrigens auch längst eine Haussuchung
-vorgenommen! Aber sie haben keine Tatsache, keine einzige, -- alles ist
-Phantasie, alles hat zwei Seiten, sie haben nur im allgemeinen eine
-Idee, -- so versuchen sie durch Unverschämtheit zu verwirren. Vielleicht
-aber ist er auch wütend darüber, daß er keine Tatsachen hat, und aus
-Ärger läßt er sich gehen. Vielleicht aber hat er auch damit einen Zweck
-verfolgt ... Er scheint ein kluger Mann zu sein ... Er wollte mich
-vielleicht erschrecken damit, daß er etwas weiß ... Hier, Bruder, liegt
-eine eigene Psychologie ... Übrigens aber, ist es gemein, dies alles zu
-erklären. Laß es!«
-
-»Und beleidigend, beleidigend! Ich verstehe dich! Aber ... da wir schon
-einmal deutlich darüber reden -- und es ist gut, daß wir endlich klar
-darüber sprechen können, ich freue mich darüber, -- so will ich dir
-jetzt offen gestehen, daß ich lange schon bei ihnen diesen Gedanken, in
-dieser ganzen Zeit gemerkt habe, selbstverständlich in einer kaum
-merkbaren, in einer schleichenden Form. Warum aber? Wie können sie es
-wagen? Wo liegen bei ihnen die Gründe? Wenn du wüßtest, wie ich wütend
-war! Wie, -- aus dem Grunde, weil da ein armer Student ist,
-heruntergekommen durch große Armut und Hypochondrie, am Vorabend einer
-schrecklichen Krankheit, verbunden mit Fieberwahn, die vielleicht längst
-in ihm saß, -- merk dir das! -- ein argwöhnischer, ehrgeiziger Mensch,
-der seinen Wert kennt und der sechs Monate in einem Winkel gesessen und
-niemand gesehen hat; er steht in Lumpen und in Stiefeln ohne Sohlen vor
-allerhand Polizisten und leidet unter ihren Schmähungen; dazu kommt noch
-eine unerwartete Schuld, ein nicht eingelöster Wechsel von Hofrat
-Tschebaroff, dumpfer Farbengeruch, dreißig Grad Wärme, stickige Luft,
-eine Menge Menschen, die Erzählung von der Ermordung einer Person, bei
-der er am Vorabend war, und dies alles -- auf leeren Magen! Ja, wie soll
-man dabei nicht ohnmächtig werden! Und darauf, darauf wird alles
-begründet! Zum Teufel! Ich verstehe, daß es einen ärgert, aber an deiner
-Stelle, Rodja, würde ich ihnen allen ins Gesicht lachen, oder noch
-besser, ihnen allen ordentlich in die Fratze spucken, ich würde noch ein
-paar Dutzend Ohrfeigen verteilen, selbstverständlich in kluger Weise,
-wie man sie stets geben muß, und würde damit die Sache abschließen.
-Pfeif darauf! Halt dich fest! Es ist eine Schande!«
-
-»Er hat es gut dargestellt,« dachte Raskolnikoff.
-
-»Pfeif darauf? Und morgen ist wieder Verhör!« sagte er bitter. »Soll ich
-mich etwa in Verhandlungen mit ihnen einlassen? Ich ärgere mich schon,
-daß ich mich gestern in dem Restaurant bis zu Sametoff erniedrigt habe
-...«
-
-»Zum Teufel! Ich will selbst zu Porphyri gehen! Und ich will ihn schon
-_in verwandtschaftlicher Weise_ vorkriegen; er soll mir alles haarklein
-erzählen. Und Sametoff ...«
-
-»Endlich kommt er auf ihn!« dachte Raskolnikoff.
-
-»Halt!« rief Rasumichin und packte ihn plötzlich an der Schulter, »halt!
-Du hast geschwindelt! Ich habe es mir überlegt, du hast geschwindelt!
-Wieso ist das eine Falle? Du sagst, daß die Frage über die Anstreicher
-eine Falle war? Denk doch nach, -- wenn du _es_ getan hättest, hättest
-du es zugegeben, daß du gesehen hast, wie die Wohnung gemalt wurde ...
-und die Arbeiter? Im Gegenteil, -- du hättest gesagt, ich habe nichts
-gesehen, wenn du es auch gesehen hättest! Wer zeugt denn gegen sich
-selbst?«
-
-»Wenn ich _es_ getan hätte, so würde ich unbedingt gesagt haben, daß ich
-wie die Anstreicher, so auch die Wohnung gesehen habe,« antwortete
-Raskolnikoff unwillig und mit sichtlichem Ekel.
-
-»Ja, warum gegen sich selbst aussagen?«
-
-»Weil nur Bauern oder ganz unerfahrene Neulinge beim Verhör offen und
-alles nacheinander leugnen. Ein einigermaßen gebildeter und schlauer
-Mann versucht unbedingt und nach Möglichkeit alle äußeren,
-unverfänglichen Tatsachen zu bestätigen; er sucht bloß andere Gründe
-anzuführen, bringt seine eigene besondere und unerwartete Erklärung
-hinein, die eine vollkommen andere Bedeutung gibt und alles in einem
-anderen Lichte erscheinen läßt. Porphyri konnte gerade damit rechnen,
-daß ich unbedingt in dieser Weise antworten und sicher sagen würde, daß
-ich sie gesehen habe, nur der Wahrscheinlichkeit halber, und dabei
-irgend etwas zur Erklärung hinzufügen würde.«
-
-»Er hätte dir sofort gesagt, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter dort
-gewesen sein konnten, und daß also du gerade am Tage des Mordes, um acht
-Uhr, dort gewesen bist. Er hätte dich mit dieser Kleinigkeit gefangen.«
-
-»Er rechnete auch damit, daß ich keine Zeit haben werde, es mir zu
-überlegen und mich beeilen würde, wahrheitsgetreuer zu antworten und
-dabei vergessen würde, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter da sein
-konnten.«
-
-»Wie kann man aber das vergessen?«
-
-»Sehr leicht! Auf solche geringfügigen Dinge fallen am ehesten schlaue
-Menschen herein. Je schlauer ein Mensch ist, um so weniger ahnt er, daß
-man ihn bei etwas Einfachem ertappen würde. Den schlauesten Menschen muß
-man gerade mit dem Einfachsten verwirren. Porphyri ist gar nicht so
-dumm, wie du denkst ...«
-
-»Er ist nach alledem ein Schuft!«
-
-Raskolnikoff konnte sich des Lachens nicht erwehren. Aber im selben
-Augenblicke erschien ihm seine eigene Lust und die Begeisterung, mit der
-er seine letzte Erklärung abgegeben hatte, überaus sonderbar; das ganze
-vorangehende Gespräch hatte er mit einem düsteren Widerwillen, nur unter
-dem Zwange der Situation geführt.
-
-»Ich bekomme noch Geschmack daran!« dachte er.
-
-Jedoch gleich darauf wurde er unruhig, als hätte ihn ein unerwarteter
-und beunruhigender Gedanke überrascht. Seine Unruhe wuchs. Sie waren
-schon am Eingange zu den möblierten Zimmern von Bakalejeff.
-
-»Geh allein hinein,« sagte plötzlich Raskolnikoff, »ich komme sofort
-zurück.«
-
-»Wohin willst du? Wir sind ja schon da!«
-
-»Ich muß, ich muß; ich habe etwas zu tun ... ich komme nach einer halben
-Stunde wieder ... Sage es ihnen.«
-
-»Wie du willst, ich begleite dich aber!«
-
-»Was, willst auch du mich quälen!« rief er mit solcher bitteren
-Gereiztheit und solcher Verzweiflung im Blicke, daß Rasumichin
-fassungslos wurde.
-
-Er blieb eine Weile auf der Außentreppe stehen und sah finster zu, wie
-jener schnell in der Richtung nach seiner Wohnung dahinschritt.
-Schließlich biß er die Zähne zusammen, ballte die Faust, schwur sich
-selbst, daß er heute noch den ganzen Porphyri wie eine Zitrone
-ausquetschen würde, und ging die Treppe hinauf, um Pulcheria
-Alexandrowna, die durch ihre lange Abwesenheit schon aufgeregt war, zu
-beruhigen.
-
-Als Raskolnikoff bei seinem Hause anlangte, waren seine Schläfen mit
-Schweiß bedeckt und er atmete schwer. Er eilte die Treppe hinauf, trat
-in seine nicht abgeschlossene Wohnung und hakte sofort die Türe zu. Dann
-stürzte er erschreckt und wie wahnsinnig zu der Ecke, zu dem Loche
-hinter den Tapeten, wohin er damals die Sachen gelegt hatte, steckte die
-Hand hinein und scharrte einige Minuten aufs höchste erregt in dem Loche
-und untersuchte alle Ecken und Falten der Tapete. Als er nichts fand,
-stand er auf und holte tief Atem. Als er sich vorhin der Treppe von
-Bakalejeff näherte, war es ihm plötzlich in den Sinn gekommen, daß
-irgendeine Sache, eine Kette oder ein Manschettenknopf etwa, oder auch
-ein Stück Papier, in dem sie eingewickelt waren, mit einem Vermerk von
-der Hand der Alten auf irgendeiner Spalte liegen geblieben sein konnte
-und als ein unerwarteter und unabwendbarer Beweis vor ihnen auftauchen
-konnte.
-
-Er stand, wie in Nachdenken versunken und ein sonderbares, demütiges,
-halb sinnloses Lächeln umspielte seine Lippen. Er nahm seine Mütze und
-ging langsam hinaus. Seine Gedanken irrten umher. Nachdenklich trat er
-unter das Tor.
-
-»Da ist der Herr selbst!« rief eine laute Stimme; er erhob den Kopf.
-
-Der Hausknecht stand an der Türe seiner Kammer und zeigte auf einen
-nicht sonderlich großen Mann, der wie ein Kleinbürger aussah, und der
-mit einem Mantel, einem Schlafrock ähnlich, und einer Weste bekleidet
-war und von weitem eine große Ähnlichkeit mit einem Weibe hatte. Sein
-Kopf, mit einer fettigen Mütze bedeckt, hing nach vorne, die ganze
-Gestalt schien gekrümmt. Sein schlaffes, runzeliges Gesicht deutete auf
-ein Alter über fünfzig; die kleinen verschwommenen Augen blickten
-finster, ernst und mißvergnügt drein.
-
-»Was soll's?« fragte Raskolnikoff und trat zu dem Hausknechte.
-
-Der Kleinbürger wendete seine Augen zu ihm und blickte ihn unter der
-Stirn hervor durchdringend, aufmerksam und andauernd an; dann wandte er
-sich um und ging, ohne ein Wort gesagt zu haben, zum Tore auf die Straße
-hinaus.
-
-»Ja, was ist denn das?« rief Raskolnikoff.
-
-»Dieser da fragte, ob hier ein Student wohne, nannte Ihren Namen, und
-bei wem Sie wohnen. Sie kamen gerade, ich zeigte Sie ihm, nun ist er
-fortgegangen. Das ist komisch.«
-
-Der Hausknecht hatte auch gewisse Bedenken, er dachte eine kleine Weile
-nach, drehte sich aber um und ging in seine Kammer.
-
-Raskolnikoff stürzte dem Kleinbürger nach und erblickte ihn sofort, wie
-er auf der anderen Seite der Straße gleichmäßig und nicht eilig, mit zu
-Boden gerichteten Augen und anscheinend nachdenklich dahinschritt. Er
-holte ihn bald ein, ging eine Weile hinter ihm; schließlich trat er
-neben ihn und blickte ihm von der Seite ins Gesicht. Der Kleinbürger
-bemerkte ihn sofort und schaute ihn schnell von oben bis unten an, ließ
-aber wieder die Augen sinken, und in dieser Weise gingen sie eine
-Strecke nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen.
-
-»Haben Sie nach mir gefragt ... beim Hausknecht?« sagte Raskolnikoff
-endlich, aber nicht sehr laut.
-
-Der Kleinbürger gab ihm keine Antwort und blickte ihn nicht an. Wieder
-gingen sie stumm dahin.
-
-»Ja, warum ... kommen Sie und fragen ... und schweigen jetzt ... ja, was
-ist denn das?« Raskolnikoffs Stimme stockte und die Worte kamen ihm
-schwer über die Lippen.
-
-Der Kleinbürger erhob diesmal die Augen und sah mit einem drohenden,
-finsteren Blicke Raskolnikoff an. »Mörder!« sagte er plötzlich mit
-leiser, aber klarer und deutlicher Stimme ...
-
-Raskolnikoff ging neben ihm weiter. Seine Füße wurden plötzlich
-schrecklich schwach, im Rücken fühlte er Kälte und sein Herz schien auf
-einen Augenblick still zu stehen; dann fing es an zu klopfen, als wollte
-es sich losreißen. So gingen sie etwa hundert Schritte nebeneinander und
-wieder vollkommen stumm.
-
-Der Kleinbürger blickte ihn nicht an.
-
-»Was fällt Ihnen ein ... was ... wer ist ein Mörder?« murmelte
-Raskolnikoff kaum hörbar.
-
-»_Du_ bist ein Mörder,« sagte jener, noch deutlicher und
-bedeutungsvoller und blickte mit dem Lächeln eines haßerfüllten
-Triumphes in das bleiche Gesicht Raskolnikoffs und seine erloschenen
-Augen.
-
-Sie kamen zu einer Straßenkreuzung. Der Kleinbürger bog links in eine
-Straße ein und ging weiter, ohne sich umzusehen. Raskolnikoff blieb
-stehen und sah ihm lange nach. Er sah, wie jener nach fünfzig Schritten
-ungefähr sich umwandte und ihn, der immer noch unbeweglich auf derselben
-Stelle stand, anblickte. Man konnte nicht sehen, aber Raskolnikoff
-schien es, als hätte er auch diesmal sein kaltes, haßvolles und
-triumphierendes Lächeln gehabt.
-
-Mit langsamen, schweren Schritten, mit zitternden Knien und fröstelnd
-kehrte Raskolnikoff zurück und ging in sein Zimmer hinauf. Er nahm seine
-Mütze ab und legte sie auf den Tisch hin und stand etwa zehn Minuten
-unbeweglich daneben. Dann legte er sich völlig ermattet auf das Sofa und
-streckte sich mit einem schwachen, krankhaften Stöhnen aus; seine Augen
-waren geschlossen. So lag er eine halbe Stunde.
-
-Er dachte an nichts. Es waren wohl Gedanken oder Fetzen von Gedanken da,
-Vorstellungen, ohne Ordnung und Zusammenhang, -- Gesichter von Menschen,
-die er noch als Kind gesehen hatte, oder denen er irgendwo nur ein
-einziges Mal begegnet war, und an die er sich nie mehr erinnert hatte,
--- der Turm der W.schen Kirche, ein Billard, Zigarrengeruch in einem
-Tabaksladen im Kellergeschosse, eine Kneipe, eine Küchentreppe, ganz
-dunkel, ganz mit Unrat begossen und mit Eierschalen bedeckt, und
-irgendwo ertönte das Sonntagsgeläute der Glocken ... Die Gegenstände
-wechselten und drehten sich wie im Wirbelwinde. Manche gefielen ihm
-sogar und er wollte sich an ihnen festklammern, aber sie erloschen, es
-bedrückte ihn innerlich etwas, aber nicht sehr stark. Zuweilen war es
-sogar gut ... Ein leichtes Frösteln blieb und selbst das war fast
-angenehm. Er hörte die eiligen Schritte Rasumichins und seine Stimme, er
-schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Türe
-und blieb eine Weile auf der Schwelle, wie unschlüssig, stehen. Dann
-trat er leise in das Zimmer und ging vorsichtig zu dem Sofa. Man hörte
-Nastasja flüstern.
-
-»Laß ihn; mag er schlafen; er kann nachher essen.«
-
-»Das ist wahr,« antwortete Rasumichin.
-
-Beide gingen leise hinaus und machten die Türe zu. Noch eine halbe
-Stunde verging. Raskolnikoff öffnete die Augen, legte sich wieder auf
-den Rücken und steckte die Hände unter den Kopf ...
-
-»Wer ist er? Wer ist dieser wie aus der Erde hervorgewachsener Mensch?
-Wo war er und was hat er gesehen? Er hat alles gesehen, das ist
-zweifellos. Wo war er damals und von wo sah er es? Warum erscheint er
-erst jetzt, wie aus der Erde gestiegen? Und wie konnte er es sehen, --
-ist es denn möglich? ... Hm ...« fuhr Raskolnikoff fort, erstarrend und
-zusammenfahrend, »aber das Etui, das Nikolai hinter der Türe gefunden
-hat, -- war denn das nicht auch möglich? Beweise? Ein Hunderttausendstel
-übersieht man, -- und der Beweis wächst zu einer ägyptischen Pyramide!
-Eine Fliege ist vorbeigeflogen, sie hat es gesehen! Aber ist es denn
-möglich?«
-
-Und er fühlte mit Ekel, wie er plötzlich schwach, physisch schwach
-geworden war.
-
-»Ich hätte es wissen müssen,« dachte er mit einem bitteren Lächeln, »und
-wie durfte ich, indem ich mich kannte und ahnte, wie ich sein würde, ein
-Beil nehmen und mit Blut mich besudeln. Ich war verpflichtet, es vorher
-zu wissen ... Ach! Ich wußte es doch vorher!« ...
-
-Zuweilen blieb er unbeweglich an irgendeinem Gedanken haften.
-
-»Nein, die Menschen sind nicht so gemacht; ein wahrer Herrscher, dem
-alles erlaubt ist, zerstört Toulon, veranstaltet eine Abschlachtung in
-Paris, vergißt eine Armee in Ägypten, verbraucht eine halbe Million
-Menschen im russischen Feldzuge und wird in Wilna durch ein Wortspiel
-damit fertig; und ihm stellt man nach dem Tode Standbilder auf, -- somit
-ist auch alles erlaubt. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht aus
-Fleisch und Blut, sondern aus Eisen!«
-
-Ein plötzlicher Nebengedanke brachte ihn fast zum Lachen.
-
-»Napoleon, Pyramiden, Waterloo, -- und eine magere Beamtenwitwe,
-Wucherin, mit einer roten Truhe unter dem Bett, -- nun, wie soll das --
-sagen wir selbst Porphyri Petrowitsch -- verdauen können! ... Wie sollen
-sie es auch verdauen! ... Die Ästhetik wird sie hindern. >Will ein
-Napoleon,< werden sie sagen, >unter das Bett zu einer Alten kriechen!<
-Ach, Unsinn! ...« Ab und zu fühlte er, daß er phantasiere, -- er verfiel
-dann einer fieberhaften verzückten Stimmung.
-
-»Die Alte ist Unsinn!« dachte er und wühlte eifrig und heftig seine
-Gedankengänge weiter:
-
-»Daß es diese Alte war, war vielleicht ein Irrtum, aber die Hauptsache
-liegt nicht an ihr. Die Alte war nur eine Krankheit ... ich wollte
-schneller darüber hinweg schreiten ... ich habe nicht einen Menschen
-getötet, ich habe ein Prinzip getötet! Das Prinzip habe ich wohl
-getötet, bin aber nicht darüber hinweg geschritten, ich bin auf dieser
-Seite geblieben ... Ich habe bloß verstanden, zu töten. Auch das habe
-ich nicht mal verstanden, wie es sich zeigt ... Prinzip? Warum hat
-vorhin der Dummkopf Rasumichin die Sozialisten gescholten? Sie sind
-fleißige Leute und arbeitsam; sie beschäftigen sich mit dem >allgemeinen
-Glück<. Nein, mir ist das Leben einmal gegeben und nie kommt es wieder;
-ich will nicht auf das >allgemeine Glück< warten. Ich will auch selbst
-leben, sonst lieber gar nicht. Was denn? Ich konnte nicht an einer
-hungrigen Mutter vorbeigehen und meinen Rubel in der Erwartung des
->allgemeinen Glücks< in der Tasche festhalten. >Ich trage<, konnte ich
-sagen, >einen kleinen Stein bei zum allgemeinen Glück, und darum habe
-ich Seelenruhe.< Ha--ha--ha! Warum seid ihr an mir vorbeigegangen? Ich
-lebe doch bloß einmal, ich will doch auch ... Ach was, ich bin eine
-ästhetische Laus und mehr nicht,« fügte er hinzu und lachte plötzlich
-wie ein Irrsinniger. »Ja, ich bin tatsächlich eine Laus,« fuhr er fort,
-indem er sich voll Schadenfreude an den Gedanken klammerte, sich
-hineinbohrte, mit ihm spielte und sich mit ihm amüsierte, »und schon aus
-dem Grunde allein, weil ich erstens jetzt darüber räsonniere, daß ich
-eine Laus bin, und zweitens, weil ich einen ganzen Monat die allgütige
-Vorsehung belästige, indem ich sie als Zeuge anrief, daß ich es nicht
-meines Fleisches und meiner Lust willen unternehme, sondern ein
-prächtiges und herrliches Ziel im Auge habe, -- ha--ha--ha! Drittens,
-weil ich mir vorgenommen hatte, möglichst Gerechtigkeit bei der
-Ausführung walten zu lassen und Gewicht und Maß, wie auch Berechnung
-einzuhalten, -- von allen Läusen wählte ich die allernutzloseste und
-beschloß, nachdem ich sie ermordet haben würde, genau so viel zu nehmen,
-als ich zum ersten Schritt brauche, -- nicht mehr und nicht weniger ...
-und das übrige würde also laut dem Vermächtnis dem Kloster zugefallen
-sein ... ha--ha--ha! Und zu guter Letzt bin ich selber eine Laus,« fügte
-er mit Zähneknirschen hinzu, »weil ich vielleicht selbst noch schlimmer
-und abscheulicher bin als die getötete Laus, und weil ich im voraus
-ahnte, daß ich mir dies sagen würde, nachdem ich sie ermordet haben
-würde! Kann ich denn mit diesem Entsetzen irgend etwas vergleichen! Oh,
-Trivialität! Oh, Gemeinheit! ... Oh, wie ich den >Propheten< zu Pferde
-mit einem Säbel in der Hand begreife, -- Allah befiehlt und die
->zitternden< Kreaturen sollen gehorchen! Der >Prophet< ist
-tausendmal im Rechte, wenn er irgendwo mitten in der Straße eine
-aus--ge--zeich--ne--te Batterie aufstellt und auf Unschuldige und
-Schuldige schießt, ohne sich herabzulassen, eine Erklärung abzugeben!
-Gehorcht, zitternde Kreaturen und -- wünscht nichts, denn -- ihr _habt_
-nichts zu wünschen! ... Oh, um nichts in der Welt, um keinen Preis will
-ich der Alten verzeihen!« Sein Haar war mit Schweiß bedeckt, die
-bebenden Lippen waren trocken und der unbewegliche Blick auf die
-Zimmerdecke gerichtet.
-
-»Mutter und Schwester, -- wie ich sie geliebt habe! Warum hasse ich sie
-jetzt? Ja, ich hasse sie, hasse sie physisch, ich kann sie nicht mehr
-neben mir ertragen ... Vorhin ging ich zur Mutter hin und küßte sie, ich
-erinnere mich dessen ... Sie zu umarmen und denken zu müssen, wenn sie
-es wüßte, so ... soll ich ihr es sagen? Man kann mir das zutrauen ...
-Hm! Sie muß ebenso sein wie ich ...« fügte er hinzu, mühsam seinen
-Gedanken verfolgend, als kämpfe er mit dem ihn packenden Fieber. »Oh,
-wie ich jetzt diese Alte hasse! Ich könnte sie noch einmal ermorden,
-wenn sie zu sich käme! Arme Lisaweta! Warum kam sie hinzu? ...
-Sonderbar, warum ich an sie fast gar nicht denke, als hätte ich sie
-nicht ermordet! ... Lisaweta! Ssonja! Ihr armen sanften Geschöpfe mit
-euren sanften Augen ... Ihr Lieben! ... Warum weinen sie nicht? Warum
-stöhnen sie nicht? ... Sie geben alles hin ... blicken sanft und still
-... Ssonja, Ssonja! Stille Ssonja! ...«
-
-Er verlor das Bewußtsein; merkwürdig erschien es ihm, daß er sich nicht
-entsann, wie er auf die Straße gekommen. Es war schon später Abend. Die
-Dämmerung nahm zu, der volle Mond leuchtete immer heller und heller;
-aber die Luft war besonders dumpf. Menschen gingen in Haufen in den
-Straßen; Handwerker und Geschäftsleute wanderten nach Hause; andere
-gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und stehendem Wasser.
-Raskolnikoff schritt traurig und sorgenvoll dahin, -- er erinnerte sich
-sehr gut, daß er zu irgendeinem Zwecke aus dem Hause gegangen sei und
-daß er etwas tun sollte und sich dabei beeilen müßte, was es aber war,
--- hatte er vergessen. Plötzlich blieb er stehen und sah, daß auf der
-anderen Seite der Straße, auf dem Fußwege, ein Mann stand und ihm mit
-der Hand winkte. Er ging über die Straße zu ihm hin, da wandte sich
-dieser Mann um, ging weiter, als wäre nichts gewesen, mit gesenktem
-Kopfe, ohne sich umzuwenden und ohne merken zu lassen, daß er ihn
-gerufen habe. »Ja, hatte er mich auch gerufen?« dachte Raskolnikoff und
-ging ihm nach. Kaum zehn Schritte entfernt von ihm, erkannte er ihn
-plötzlich -- und erschrak; es war der Kleinbürger von vorhin, im selben
-Schlafrocke und ebenso gekrümmt. Raskolnikoff folgte ihm von weitem;
-sein Herz klopfte; sie bogen in eine Gasse ein, -- der Kleinbürger
-wandte sich noch immer nicht um.
-
-»Weiß er, daß ich ihm folge?« dachte Raskolnikoff. Der Kleinbürger trat
-in das Tor eines großen Hauses. Raskolnikoff ging schnell zu dem Tore
-hin, um hineinzusehen, ob er sich nicht umschaue und ihn rufen würde.
-Und in der Tat, als der Kleinbürger durch das Tor geschritten war und
-schon in den Hof trat wandte er sich wieder um und schien ihm wieder zu
-winken. Raskolnikoff durchschritt sofort das Tor, aber der Kleinbürger
-war nicht mehr auf dem Hofe. Also muß er hier die erste Treppe
-hinaufgegangen sein. Raskolnikoff stürzte ihm nach. Ein paar Treppen
-höher vernahm man gleichmäßige, nicht eilige Schritte. Sonderbar, die
-Treppe kam ihm bekannt vor! Hier im ersten Stock ist ein Fenster; durch
-die Scheiben schimmert traurig und geheimnisvoll der Mond; da ist auch
-der zweite Stock. Oh! Das ist dieselbe Wohnung, in der die Arbeiter
-anstrichen ... Wie hatte er das Haus nicht sofort wiedererkennen können?
-Die Schritte des vorangehenden Menschen waren verhallt, »er ist also
-stehen geblieben oder hat sich irgendwo versteckt«. Da ist der dritte
-Stock; soll ich weitergehen? Und welch eine Stille hier herrscht, es ist
-zum Fürchten ... Er ging jedoch höher hinauf. Das Geräusch seiner
-eigenen Schritte erschreckte und beunruhigte ihn. Mein Gott, wie dunkel
-es ist! Der Kleinbürger hat sich sicher irgendwo in einer Ecke
-versteckt. Ah! Die Wohnung ist weit offen; er dachte nach und trat ein.
-Im Vorzimmer war es sehr dunkel und leer, keine Menschenseele, als hätte
-man alles fortgebracht; leise, auf den Fußspitzen ging er in die
-Wohnstube hinein, -- das ganze Zimmer war hell vom Mondenschein
-überflutet; alles war hier wie vorher, -- die Stühle standen da, der
-Spiegel, das gelbe Sofa und die eingerahmten Bilder. Der große, runde,
-kupferrote Mond blickte durch die Fensterscheiben hinein. »Diese Stille
-kommt vom Monde,« dachte Raskolnikoff, »er gibt jetzt sicher ein Rätsel
-auf.« Er stand und wartete, wartete lange, und je stiller der Mond war,
-um so stärker klopfte sein Herz, es tat ihm sogar weh. Und immer noch
-diese Stille. Plötzlich ertönte ein kurzes trockenes Knacken, als hätte
-man einen Holzspan zerbrochen und wieder wurde alles still. Eine
-aufgewachte Fliege stieß im Fluge an die Scheibe und summte kläglich. Im
-selben Augenblicke entdeckte er in der Ecke zwischen einem kleinen
-Schrank und dem Fenster, wie es ihm schien, einen an der Wand hängenden
-Pelzmantel. »Warum hängt da ein Pelzmantel?« dachte er, »er war doch
-früher nicht da ...« Er trat sehr leise heran und erriet; daß hinter dem
-Pelzmantel sich jemand versteckt hielt. Er schob vorsichtig mit der Hand
-den Mantel zur Seite und entdeckte einen Stuhl, und auf dem Stuhle in
-der Ecke saß die Alte, ganz zusammengekauert und mit gesenktem Kopfe, so
-daß er das Gesicht gar nicht sehen konnte, aber sie war es. Er stand
-eine Weile vor ihr; »sie fürchtet sich!« dachte er; zog dann leise das
-Beil aus der Schlinge und versetzte der Alten einen Schlag auf den Kopf
-und noch einen zweiten. Aber merkwürdig, -- sie rührte sich nicht bei
-den Schlägen, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, beugte sich über sie
-und begann sie zu betrachten, da ließ sie den Kopf noch mehr sinken. Er
-beugte sich dann fast zu Boden und blickte ihr von unten ins Gesicht; er
-sah sie an und erstarrte, -- die Alte saß und lachte, -- sie schüttelte
-sich vor Lachen, ein leises, unhörbares Lachen, sie hielt aus
-Leibeskräften an sich, damit er es nicht hören solle. Da schien es ihm,
-als würde die Tür zum Schlafzimmer ein wenig geöffnet, und auch da
-schien man zu lachen und zu flüstern. Die Wut übermannte ihn, -- er
-begann aus voller Kraft der Alten auf den Kopf zu schlagen, aber mit
-jedem Schlage hörte man immer stärker das Lachen und Flüstern im
-Schlafzimmer, und die Alte schüttelte sich nur so vor Lachen. Er stürzte
-hinaus, da war das ganze Vorzimmer schon voll von Menschen, die Tür zu
-der Treppe war weit geöffnet und auf dem Flure, auf der Treppe und dort
-unten standen Menschen, Kopf an Kopf, und blickten alle auf ihn, sie
-waren alle still, sie schienen auf etwas zu warten und schwiegen! ...
-Sein Herz krampfte sich, die Füße ließen sich nicht mehr bewegen, waren
-wie angewachsen ... Er wollte schreien und -- wachte auf.
-
-Er holte schwer Atem, -- aber merkwürdig, der Traum schien sich immer
-noch fortzusetzen, -- seine Tür war weit geöffnet und auf der Schwelle
-stand ein völlig unbekannter Mann und betrachtete ihn aufmerksam.
-
-Raskolnikoff hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet und schloß sie
-auch sofort wieder. Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. »Ist
-das noch der Traum oder nicht?« dachte er und hob kaum merklich die
-Wimpern, um zu sehen, -- der Unbekannte stand auf derselben Stelle und
-blickte ihn weiter unverwandt an. Auf einmal trat er vorsichtig über die
-Schwelle, schloß leise die Türe hinter sich zu, ging an den Tisch und
-wartete eine Weile, -- während dieser Zeit wandte er kein Auge von
-Raskolnikoff ab, -- er setzte sich leise auf einen Stuhl neben das Sofa
-hin; seinen Hut stellte er auf den Boden neben sich, stützte sich mit
-beiden Händen auf seinen Stock und legte das Kinn auf die Hände. Man
-konnte sehen, daß er sich anschickte, lange zu warten. Soweit
-Raskolnikoff durch die blinzelnden Wimpern sehen konnte, war dieser Mann
-nicht mehr jung, und hatte einen dichten, hellblonden, fast weißen Bart.
-
-Es vergingen etwa zehn Minuten. Es war noch hell, aber der Abend nahte
-schon. Im Zimmer herrschte eine vollkommene Stille. Sogar von der Treppe
-drang kein Ton herein. Bloß eine große Fliege summte und schlug sich im
-Fluge an die Fensterscheibe. Dies wurde endlich unerträglich. --
-Raskolnikoff erhob sich plötzlich und setzte sich auf das Sofa hin.
-
-»Nun sagen Sie, was wünschen Sie?«
-
-»Sehen Sie, ich wußte es doch, daß Sie nicht schlafen, sondern sich bloß
-den Anschein geben,« antwortete der Unbekannte eigentümlich und lachte
-ruhig. »Erlauben Sie mich Ihnen vorzustellen: Arkadi Iwanowitsch
-Sswidrigailoff ...«
-
-
-
-
- Vierter Teil
-
-
- I.
-
-»Ist das etwa die Fortsetzung des Traumes?« dachte Raskolnikoff noch
-einmal.
-
-Er betrachtete vorsichtig und mißtrauisch den unerwarteten Besucher.
-
-»Sswidrigailoff? Welch ein Unsinn! Es kann nicht sein!« sagte er
-schließlich laut und zweifelnd.
-
-Der Besucher schien über diesen Ausruf gar nicht erstaunt zu sein.
-
-»Ich bin zu Ihnen aus zwei Gründen gekommen, -- erstens wollte ich Sie
-persönlich kennenlernen, da ich längst über Sie sehr Interessantes und
-Vorteilhaftes gehört habe; zweitens aber bilde ich mir ein, daß Sie sich
-vielleicht nicht weigern werden, mir bei einem Vorhaben zu helfen, das
-besonders die Interessen Ihrer Schwester Awdotja Romanowna betrifft.
-Mich allein, ohne Empfehlung, wird sie vielleicht jetzt nicht mal ins
-Haus lassen infolge eines Vorurteiles; mit Ihrer Hilfe rechne ich
-darauf.«
-
-»So rechnen Sie schlecht,« unterbrach ihn Raskolnikoff.
-
-»Ihre Angehörigen sind doch erst gestern angekommen, erlauben Sie mir
-die Frage?«
-
-Raskolnikoff antwortete nicht.
-
-»Ja, gestern, ich weiß es. Ich bin selbst erst seit vorgestern hier.
-Doch, was soll ich Ihnen weiter sagen, Rodion Romanowitsch; ich halte es
-für überflüssig, mich zu rechtfertigen, nur eins lassen Sie mich
-bemerken, -- habe ich denn tatsächlich etwas verbrochen, wenn man alles
-ohne Vorurteile, mit ruhiger Vernunft betrachtet?«
-
-Raskolnikoff betrachtete ihn immer noch schweigend.
-
-»Der Umstand, daß ich in meinem Hause ein wehrloses, junges Mädchen
-verfolgt und >sie mit meinen abscheulichen Anerbieten beleidigt habe<,
-soll ein Verbrechen sein? Ich komme Ihnen zuvor. -- Denken Sie doch
-daran, daß ich auch nur ein Mensch bin, _et nihil humanum_ ... mit einem
-Worte, daß ich auch fähig bin, Reize zu empfinden und zu lieben, -- was
-sicher nicht mit unserem Wollen geschieht, sondern in unserer Natur
-liegt, und damit läßt sich alles auf die allernatürlichste Weise
-erklären. Die Frage ist nur die, bin ich ein Scheusal oder selbst ein
-Opfer? Nun, und wenn ich das Opfer bin? Und sehen Sie, indem ich dem
-Gegenstande meiner Liebe anbot, mit mir nach Amerika oder in die Schweiz
-zu fliehen, empfand ich dabei die allerehrerbietigsten Gefühle und
-glaubte uns zum gegenseitigen Glück zu verhelfen! ... Der Verstand dient
-doch der Leidenschaft, und ich richtete mich selbst dabei zugrunde, das
-müssen Sie doch auch in Betracht ziehen! ...«
-
-»Darum handelt es sich gar nicht,« unterbrach ihn Raskolnikoff voll
-Widerwillen. »Sie sind mir einfach widerlich, ob Sie schuldig sind oder
-nicht, und man will mit Ihnen nichts zu tun haben, man jagt Sie fort und
-so gehen Sie doch Ihrer Wege! ...«
-
-Sswidrigailoff lachte laut auf.
-
-»Aber Sie sind ... man kann Sie nicht verwirren!« sagte er und lachte
-offen heraus, »ich dachte es schlau angefangen zu haben, aber es gelang
-nicht, Sie stellten sich gleich auf den richtigsten Standpunkt.«
-
-»Ja, und Sie wollen auch in diesem Augenblicke schlau sein.«
-
-»Was wäre dabei? Nun, was wäre dabei?« wiederholte Sswidrigailoff und
-lachte weiter. »Es ist doch _bonne guerre_{[4]}, wie man es nennt und
-eine höchst erlaubte Schlauheit! ... Aber Sie haben mich unterbrochen;
-ich wiederhole noch einmal, ob es so oder anders gekommen wäre, es wären
-keine Unannehmlichkeiten vorgefallen, wenn nicht noch der Auftritt im
-Garten hinzugekommen wäre. Marfa Petrowna ...«
-
-»Marfa Petrowna, sagt man, haben Sie auch ins Grab gebracht?« unterbrach
-ihn schroff Raskolnikoff.
-
-»Sie haben auch davon gehört? Wie sollten Sie es übrigens nicht zu hören
-bekommen ... Hier weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll,
-obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung im höchsten Maße ruhig
-ist. Glauben Sie ja nicht, daß ich irgend etwas dabei fürchte; dies
-alles ist in völliger Ordnung und mit Genauigkeit geprüft worden, -- die
-ärztliche Untersuchung hat einen Herzschlag nachgewiesen, der infolge
-sofortigen Badens nach einem reichlichen Mittagessen erfolgt ist, wobei
-fast eine ganze Flasche Wein geleert wurde, und anderes konnte nicht
-festgestellt werden ... Nein, sehen Sie, ich habe eine Zeitlang,
-besonders im Eisenbahnwagen auf dem Wege hierher nachgedacht, ob ich zu
-diesem ... Unglück irgendwie, moralisch, durch Reizung oder etwas
-ähnliches, nicht beigetragen habe? Ich bin zu dem Resultate gekommen,
-daß dies positiv nicht der Fall sein konnte.«
-
-Raskolnikoff lachte.
-
-»Warum fällt es Ihnen denn noch ein, sich so zu beunruhigen?«
-
-»Worüber lachen Sie denn? Denken Sie doch nach, -- ich habe sie nur
-zweimal mit der Reitgerte geschlagen, ohne daß Spuren zu sehen waren ...
-Halten Sie mich, bitte, nicht für frivol; ich weiß sehr wohl, daß das
-schändlich von mir war ... und so weiter; aber ich weiß auch sicher, daß
-Marfa Petrowna vielleicht froh war über meinen, sagen wir, Mangel an
-Beherrschung. Die Geschichte mit Ihrer Schwester war bis zum letzten
-Tropfen erschöpft. Marfa Petrowna sah sich gezwungen, den dritten Tag
-schon zu Hause zu sitzen; sie hatte nichts, womit sie sich im Städtchen
-zeigen konnte, und außerdem war sie allen mit diesem Briefe -- über das
-Vorlesen dieses Briefes haben Sie doch gehört, -- lästig geworden. Da
-kamen ihr diese zwei Schläge mit der Reitgerte wie vom Himmel geschickt,
--- ihr erstes war, sofort den Wagen vorfahren zu lassen! ... Ich spreche
-nicht mal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen sehr, sehr
-angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der zur Schau getragenen
-Entrüstung! Diese Fälle kommen bei allen vor. -- Der Mensch liebt es im
-allgemeinen sehr, beleidigt zu sein; haben Sie das noch nicht bemerkt?
-Bei Frauen aber ist dies besonders der Fall. Man kann so weit gehen und
-sagen, daß sie sich damit gern die Zeit vertreiben.«
-
-Einen Augenblick dachte Raskolnikoff aufzustehen und wegzugehen, um
-dadurch diesem Besuche ein Ende zu machen. Eine gewisse Neugier aber und
-vielleicht Berechnung hielten ihn für eine Weile zurück.
-
-»Sie prügeln wohl gerne?« fragte er ihn zerstreut.
-
-»Nein, nicht besonders,« antwortete Sswidrigailoff ruhig. »Und mit Marfa
-Petrowna habe ich mich fast nie geprügelt. Wir lebten in großer
-Eintracht und sie war stets mit mir zufrieden. Die Gerte habe ich in den
-sieben Jahren nur zweimal gebraucht, wenn man ein drittes Mal, das
-übrigens sehr zweifelhaft ist, nicht mitzählt; das erste Mal war es zwei
-Monate nach unserer Heirat, gleich nach der Ankunft auf dem Gut, und nun
-der jetzige, letzte Fall. Sie dachten schon, ich sei so ein Scheusal,
-Rückschrittler und Anhänger der Leibeigenschaft? He--he--he ... Ja,
-nebenbei gesagt, -- erinnern Sie sich nicht, Rodion Romanowitsch, wie
-vor einigen Jahren, noch zu Zeiten der wohltätigen Pressefreiheit, man
-einen Edelmann -- ich habe seinen Namen vergessen, -- der eine Deutsche
-im Eisenbahnwagen verprügelte, öffentlich an den Pranger stellte,
-erinnern Sie sich noch? Es war im selben Jahre, glaube ich, als die
->Egyptischen Nächte< öffentlich vorgetragen wurden und ein Skandal
-passierte, erinnern Sie sich jetzt? >Schwarze Augen! Oh, wo bist du,
-goldene Zeit unserer Jugend! ...< So, und hier haben Sie meine Meinung,
--- für den Herrn, der die Deutsche verprügelte, habe ich keine
-Sympathie, denn warum soll man in der Tat ... mit dem sympathisieren!
-Hierbei kann ich nicht umhin zu bemerken, daß zuweilen sich solche
-anregende >Deutsche< finden, und daß es keinen einzigen Fortschrittler,
-wie es mir scheint, gibt, der für sich vollkommen garantieren könnte.
-Von diesem Standpunkte hatte damals niemand die Sache betrachtet,
-indessen aber ist er der eigentlich humane Standpunkt wahrhaftig, so ist
-es!«
-
-Nachdem er das gesagt hatte, lachte Sswidrigailoff von neuem.
-Raskolnikoff war es klar, daß dieser Mensch, der sich etwas fest
-vorgenommen hatte, darauf bestimmt lossteuerte.
-
-»Sie haben jedenfalls einige Tage nacheinander mit niemandem
-gesprochen?« fragte er ihn.
-
-»Das könnte stimmen. Warum? Sie wundern sich wohl, daß ich so gesprächig
-bin.«
-
-»Nein, ich wundere mich, daß Sie so vernünftig reden.«
-
-»Weil ich mich durch die Grobheit Ihrer Zwischenfragen nicht gekränkt
-fühlte? Ist es so? Ja ... warum sollte ich gekränkt sein? Wie man mich
-fragte, so antwortete ich auch,« fügte er mit wunderbarer Gutmütigkeit
-hinzu. »Ich interessiere mich fast für nichts, bei Gott,« fuhr er fort,
-wie sinnend. »Ich bin besonders jetzt mit nichts beschäftigt ...
-Übrigens ist es begreiflich, wenn Sie denken, ich wollte mich bei Ihnen
-einschmeicheln und um so mehr, weil ich ein Anliegen, wie ich selbst
-erklärte, an Ihre Schwester habe. Aber ich will Ihnen offen sagen, --
-mir ist es langweilig, besonders seit diesen drei Tagen, so daß ich mich
-auf Ihre Gesellschaft freute ... Seien Sie mir aber nicht böse, Rodion
-Romanowitsch, Sie kommen mir aber selbst sehr merkwürdig vor. Fassen Sie
-es auf wie Sie wollen, aber es ist etwas an Ihnen und gerade jetzt,
-nicht nur in diesem Augenblicke, sondern überhaupt jetzt ... Nun, nun,
-ich will nicht mehr davon reden, verziehen Sie nur nicht gleich die
-Stirn! Ich bin doch nicht solch ein Bär, wie Sie glauben.«
-
-Raskolnikoff blickte ihn finster an.
-
-»Sie sind vielleicht gar kein Bär,« sagte er. »Mir scheint es sogar, Sie
-gehören zur guten Gesellschaft oder Sie verstehn wenigstens bei
-Gelegenheit auch ein anständiger Mann zu sein.«
-
-»Ich interessiere mich auch nicht besonders für irgend wessen Meinung
-über mich,« antwortete Sswidrigailoff trocken, mit einem Anfluge von
-Hochmut, »und warum soll man nicht fade sein, wenn diese Art unserem
-Lande so geläufig ist und ... und wenn man noch eine natürliche Neigung
-dazu hat,« fügte er hinzu und lachte wieder.
-
-»Ich habe gehört, daß Sie hier viele Bekannte haben. Sie sind doch nicht
-ohne das, was man >Verbindungen< nennt. Wozu haben Sie mich denn nötig,
-wenn nicht zu einem bestimmten Zwecke?«
-
-»Ganz richtig, ich habe Bekannte hier,« fuhr Sswidrigailoff fort, ohne
-die Hauptfrage zu beantworten, »ich habe auch einige getroffen; ich
-wandre schon den dritten Tag herum, erkenne manche selbst wieder und
-mich scheint man auch wiederzuerkennen. Ich bin anständig angezogen und
-werde für keinen armen Menschen gehalten; uns hat die Aufhebung der
-Leibeigenschaft nicht berührt, -- uns sind Wälder und Wiesen geblieben,
-das Einkommen ist demnach nicht vermindert worden. Aber ... ich will
-meine Beziehungen nicht pflegen, auch früher waren sie mir langweilig.
-Ich gehe nun den dritten Tag herum und gebe mich nicht zu erkennen ...
-Dazu kommt noch diese Stadt! Sagen Sie mir bitte, wie ist sie
-entstanden! Eine Stadt von Beamten und allerhand Seminaristen! Ich habe
-wirklich früher vieles nicht bemerkt, als ich vor acht Jahren mich hier
-herumtrieb ... Ich setzte alle meine Hoffnungen nur noch ganz allein auf
-die Anatomie, bei Gott!«
-
-»Was für eine Anatomie?«
-
-»Nun, ich hoffe auf alle diese Klubs und französischen Restaurants und
-vielleicht noch auf den Fortschritt, -- nun, der möge nach unserem Tode
-kommen,« fuhr er fort, ohne wieder die Frage zu beachten. »Und was ist
-das für ein Vergnügen, Falschspieler zu sein?«
-
-»Waren Sie denn auch Falschspieler?«
-
-»Warum denn auch nicht? Wir waren eine ganze Gesellschaft vor acht
-Jahren und eine höchst anständige; wir vertrieben uns die Zeit, und
-wissen Sie, es waren alles Menschen mit guten Umgangsformen, es waren
-Dichter und reiche Leute darunter. Ja, und überhaupt bei uns in der
-russischen Gesellschaft trifft man bei denen, die schon Prügel bekommen
-haben, die allerbesten Umgangsformen, -- haben Sie es noch nicht
-gemerkt? Ich bin auf dem Lande ein wenig heruntergekommen. Und trotzdem
-wollte mich damals ein Griechenkerl aus Njeschin wegen Schulden ins
-Gefängnis einsperren lassen. Da tauchte Marfa Petrowna auf, handelte ein
-wenig und löste mich für dreißigtausend Silberlinge aus -- im ganzen
-schuldete ich siebzigtausend. Wir traten in den gesetzlichen Ehestand
-und sie brachte mich sofort auf ihr Gut, als habe sie einen Schatz
-gehoben. Sie war um fünf Jahre älter als ich. Liebte mich sehr. Sieben
-Jahre habe ich dort gelebt. Und stellen Sie sich vor, sie hatte ihr
-ganzes Leben das Dokument in Händen, es war auf einen fremden Namen über
-diese dreißigtausend von mir ausgestellt, so daß, wenn ich
-beabsichtigte, mich gegen sie zu empören, -- ich sofort ins Loch
-gekommen wäre. Und sie hätte es getan! Bei Frauen ist alles möglich.«
-
-»Und wäre das Dokument nicht vorhanden gewesen, so wären Sie auch
-sicherlich schon lange ausgekniffen?«
-
-»Ich weiß nicht, was ich Ihnen da sagen soll. Dieses Dokument genierte
-mich fast gar nicht. Ich hatte keine Lust, irgendwohin zu reisen, und
-Marfa Petrowna riet mir selbst ein paarmal eine Auslandsreise, als sie
-merkte, daß ich mich langweile. Wozu aber? Im Auslande war ich vorher
-gewesen und da war es mir immer langweilig. Eigentlich langweilte ich
-mich nicht, aber sehen Sie, man sieht die Sonne untergehen, ringsum ist
-das Meer -- die Bucht von Neapel, und es wird einem traurig zumute. Am
-unangenehmsten ist es, daß man tatsächlich Sehnsucht nach Hause bekommt.
-Nein, in der Heimat ist es besser, -- hier schiebt man die Schuld immer
-den andern zu und nimmt sich selbst in Schutz. Ich würde mich vielleicht
-jetzt gegebenenfalls an einer Expedition nach dem Nordpol beteiligen,
-denn -- _j'ai le vin mauvais_{[5]}, es widert mich an, zu trinken, und
-außer dem Wein bleibt mir nichts übrig. Man sagt, daß Berg am Sonntag im
-Jussupoffschen Garten in einem großen Ballon aufsteigen will und
-Mitreisende gegen eine bestimmte Bezahlung auffordert, ist das wahr?«
-
-»Was, Sie wollen wohl mitfliegen?«
-
-»Ich? Nein ... so ...« murmelte Sswidrigailoff und wurde wirklich
-nachdenklich.
-
-»Was ist mit dem nur los?« dachte Raskolnikoff.
-
-»Nein, das Dokument genierte mich nicht,« fuhr Sswidrigailoff sinnend
-fort. »Ich verließ freiwillig nicht das Gut. Ja und es wird bald ein
-Jahr, seit Marfa Petrowna mir zu meinem Namenstage dieses Dokument
-zurückgab und außerdem mir noch eine nennenswerte Summe schenkte. Sie
-hatte ein schönes Vermögen. >Sehen Sie, wie ich Ihnen vertraue, Arkadi
-Iwanowitsch<, wahrhaftig, so sagte sie. Sie glauben nicht, daß sie so
-gesagt hat? Wissen Sie, ich bin auf dem Lande ein anständiger Hauswirt
-geworden; man kennt mich im ganzen Umkreise. Ich ließ mir auch Bücher
-kommen. Marfa Petrowna fand es zuerst gut, später aber fürchtete sie
-immer, ich könnte mich durch zu vieles Lesen überanstrengen.«
-
-»Sie vermissen Marfa Petrowna, wie es scheint, sehr?«
-
-»Ich? Vielleicht. Wahrhaftig, vielleicht. Ja, nebenbei gesagt, glauben
-Sie an Gespenster?«
-
-»Was für Gespenster?«
-
-»An gewöhnliche Gespenster!«
-
-»Sie glauben daran?«
-
-»Vielleicht, vielleicht auch nicht, _pour vous plaire_{[6]} ... Das
-heißt eigentlich, glaube ich ...«
-
-»Erscheinen sie bei Ihnen etwa?«
-
-Sswidrigailoff blickte ihn sonderbar an.
-
-»Marfa Petrowna geruht mich zu besuchen,« sagte er und verzog seinen
-Mund zu einem merkwürdigen Lächeln.
-
-»Was heißt es, sie geruht Sie zu besuchen?«
-
-»Ja, sie ist schon dreimal dagewesen. Zum erstenmal sah ich sie am Tage
-der Beerdigung, eine Stunde nach ihrem Begräbnis. Das war am Tage vor
-meiner Abreise. Das zweitemal war es vorgestern auf der Reise, am frühen
-Morgen auf der Station Malaja Wischera, und zum dritten Male heute, vor
-zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich abgestiegen bin; ich war allein.«
-
-»Sehen Sie sie im wachen Zustande?«
-
-»Vollkommen. Alle dreimal im wachen Zustande. Sie tritt herein, spricht
-einen Augenblick und geht durch die Tür hinaus, stets durch die Türe.
-Man kann es sogar hören.«
-
-»Ich habe es mir gleich gedacht, daß mit Ihnen unbedingt irgend etwas
-dieser Art vorgehen muß!« sagte plötzlich Raskolnikoff und staunte im
-selben Augenblicke, daß er das gesagt hatte. Er war in großer Aufregung.
-
-»So, so? Sie haben es sich gedacht?« fragte Sswidrigailoff verwundert.
-»Ist es möglich? Sagte ich nicht, daß es zwischen uns einen gemeinsamen
-Punkt geben muß.«
-
-»Das haben Sie nie gesagt!« antwortete scharf und außer sich
-Raskolnikoff.
-
-»Habe ich es nicht gesagt?«
-
-»Nein!«
-
-»Mir war, als hätte ich es gesagt. Als ich vorhin eintrat und sah, daß
-Sie mit geschlossenen Augen liegen und sich bloß schlafend stellten, da
-sagte ich mir, >er ist derselbe!<«
-
-»Was heißt das -- er ist derselbe? Was meinen Sie damit?« rief
-Raskolnikoff aus.
-
-»Was ich meine? Wirklich, ich weiß es nicht ...« murmelte Sswidrigailoff
-offenherzig und scheinbar selbst verwirrt vor sich hin. Sie schwiegen
-etwa eine Minute und blickten einander unablässig an.
-
-»Das ist alles Unsinn!« rief Raskolnikoff ärgerlich. »Was sagt sie Ihnen
-denn, wenn sie erscheint?«
-
-»Sie? Stellen Sie sich vor, sie spricht über die geringsten
-Kleinigkeiten und mögen Sie sich über mich wundern oder nicht, -- gerade
-das ärgert mich. Das erstemal, als sie erschien, -- wissen Sie, ich war
-müde nach der Totenmesse und dem Begräbnis und dem Essen und war in
-meinem Schreibzimmer allein geblieben, hatte mir eine Zigarre angesteckt
-und war in Gedanken versunken, -- da trat sie also durch die Türe ein
-und sagte: >Arkadi Iwanowitsch, Sie haben heute bei all dem Trubel
-vergessen, die Uhr im Speisezimmer aufzuziehen.< Diese Uhr habe ich
-tatsächlich all die sieben Jahre jede Woche selbst aufgezogen, und wenn
-ich es vergessen hatte, erinnerte sie mich stets daran. Am anderen
-Morgen war ich schon auf der Reise hierher. Ich komme am frühen Morgen
-auf einer Station an, hatte die Nacht nur wenig geschlummert, fühlte
-mich zerschlagen, die Augen waren müde, und als ich mir eine Tasse
-Kaffee nahm, sah ich plötzlich, wie sich Marfa Petrowna neben mich mit
-einem Kartenspiel in der Hand hinsetzte. >Soll ich Ihnen nicht die
-Karten legen, Arkadi Iwanowitsch?< fragte sie mich. Sie war eine
-Meisterin im Kartenlegen. Nein, ich werde es mir nie verzeihen, daß ich
-mir die Karten nicht legen ließ. Ich lief im Schrecken fort, es war auch
-höchste Zeit, denn es wurde zum Abfahren geläutet. Heute sitze ich nun
-nach einem sehr schlechten Essen aus einer Stadtküche mit schwerem Magen
-da und rauche, -- da erscheint wieder Marfa Petrowna sehr geputzt, in
-einem neuen grünen Seidenkleide mit einer sehr langen Schleppe. >Guten
-Tag, Arkadi Iwanowitsch!< sagte sie. >Wie gefällt Ihnen mein Kleid?
-Anisja kann es nicht so gut machen.< Anisja, wissen Sie, ist unsere
-Schneiderin auf dem Lande, eine frühere Leibeigene, hat ihr Handwerk in
-Moskau erlernt, -- ein hübsches Mädel. Also, Marfa Petrowna steht vor
-mir und zeigt sich von allen Seiten. Ich besah mir das Kleid und blickte
-ihr dann aufmerksam ins Gesicht. >Was ist es für ein Vergnügen, Marfa
-Petrowna, wegen solcher Kleinigkeiten zu mir zu kommen und mich zu
-belästigen.< -- >Ach, mein Gott, man darf Sie auch nicht mal fragen!<
-Und ich sagte ihr, um sie zu necken: >Ich will mich verheiraten, Marfa
-Petrowna.< -- >Das kann man von Ihnen erwarten, Arkadi Iwanowitsch; Sie
-legen damit nicht viel Ehre ein, da Sie kaum Ihre Frau beerdigt haben
-und schon heiraten wollen. Und wenn Sie noch gut gewählt hätten, so aber
--- ich weiß es -- werden weder Sie selbst, noch Ihre Auserwählte es gut
-haben.< Darauf ging sie hinaus mit rauschender Schleppe. Ist das nicht
-alles Unsinn?«
-
-»Ich glaube, das sind alles ausgedachte Lügen?« erwiderte Raskolnikoff.
-
-»Ich lüge selten,« antwortete Sswidrigailoff sinnend und als hätte er
-die Grobheit der Frage gar nicht gemerkt.
-
-»Haben Sie nie vorher Gespenster gesehen?«
-
-»Nein, ich habe wohl ein einziges Mal im Leben vor sechs Jahren ein
-Gespenst gesehen. Ich hatte einen Diener Filka; gerade, als man ihn
-beerdigt hatte, rief ich in der Zerstreutheit: >Filka, die Pfeife!< und
-er kam herein und ging zu dem Pfeifenständer. Ich saß und dachte, >er
-wird sich wohl rächen wollen<, denn vor seinem Tode hatten wir uns
-ordentlich gezankt. >Wie, wagst du<, sagte ich zu ihm, >zu mir mit einem
-zerrissenen Ellenbogen zu kommen, -- hinaus, Hallunke!< Er wandte sich
-um, ging hinaus und erschien nie mehr. Ich habe es Marfa Petrowna nicht
-erzählt. Ich wollte für ihn eine Totenmesse abhalten lassen, aber
-genierte mich.«
-
-»Gehen Sie zu einem Arzte!«
-
-»Ich weiß auch ohne Sie, daß ich nicht gesund bin, obwohl ich wahrhaftig
-nicht weiß, wo es mir fehlt; meiner Ansicht nach bin ich sicher fünfmal
-gesünder als Sie. Ich habe Sie jedoch nicht danach gefragt. Ich habe Sie
-vielmehr gefragt, glauben Sie, daß es Gespenster gibt?«
-
-»Nein, ich kann um nichts in der Welt daran glauben!« rief Raskolnikoff
-wütend aus.
-
-»Wie spricht man von solchem Falle gewöhnlich?« murmelte Sswidrigailoff
-vor sich hin, sah dabei zur Seite und hatte ein wenig den Kopf gesenkt.
-»Die einen sagen, -- du bist krank, und das, was sich dir vorstellt, ist
-ein nicht existierender Wahn. Das ist aber doch unlogisch. Ich gebe zu,
-daß Gespenster nur Kranken erscheinen, aber das beweist doch bloß, daß
-die Gespenster niemand anderen als Kranken erscheinen können, jedoch
-nicht, daß sie an und für sich nicht existieren.«
-
-»Gewiß, sie existieren auch nicht!« bestand Raskolnikoff gereizt auf
-seiner Ansicht.
-
-»Nicht? Sie meinen es?« fuhr Sswidrigailoff langsam fort und blickte ihn
-an. »Nun, man kann es auch so betrachten, -- Sie müssen mir helfen, --
-Gespenster sind sozusagen Teile und Stückchen aus anderen Welten, ihr
-Anfang. Ein gesunder Mensch braucht sie selbstverständlich nicht zu
-sehn, denn ein Gesunder ist der meist irdische Mensch und soll also der
-Ordnung und Vollständigkeit wegen nur das gegenwärtige Leben leben. Nun,
-wenn er aber erkrankt und wenn die normale irdische Ordnung im
-Organismus ein wenig ins Wanken geraten ist, beginnt sich sofort die
-Möglichkeit einer anderen Welt zu zeigen, und je stärker er erkrankt, um
-so mehr gibt es für ihn Berührungspunkte mit dieser Welt, bis er, wenn
-er schließlich stirbt, in die andere Welt übergeht. Ich habe darüber
-seit langem nachgedacht. Wenn Sie an ein zukünftiges Leben glauben, so
-können Sie auch an diesen Gedanken glauben.«
-
-»Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben,« sagte Raskolnikoff.
-
-Sswidrigailoff saß nachdenklich da.
-
-»Wenn es aber dort drüben nur Spinnen oder dergleichen gibt,« sagte er
-rasch.
-
-»Er ist verrückt,« dachte Raskolnikoff.
-
-»Uns erscheint immer die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen
-kann, als etwas ungeheuer Großes. Aber warum soll sie denn unbedingt
-ungeheuer groß sein? Und schließlich stellen Sie sich vor, anstatt
-dessen wird dort ein kleines Zimmer sein, ähnlich einer Badestube auf
-dem Lande; verräuchert, in allen Ecken Spinnen, und das wird die ganze
-Ewigkeit sein. Wissen Sie, ich stelle sie mir zuweilen in dieser Art
-vor.«
-
-»Und stellen Sie sich tatsächlich nichts tröstlicheres und gerechteres
-vor, als dieses!« rief Raskolnikoff aufgeregt.
-
-»Gerechteres? Woher wissen wir es, vielleicht _ist_ dies auch gerecht;
-und wissen Sie, _ich_ würde es unbedingt so einrichten!« antwortete
-Sswidrigailoff und lächelte unbestimmt.
-
-Es überlief Raskolnikoff bei dieser abscheulichen Antwort kalt.
-Sswidrigailoff erhob den Kopf, blickte ihn aufmerksam an und lachte
-plötzlich laut auf.
-
-»Nein, bedenken Sie bloß,« rief er aus, »vor einer halben Stunde hatten
-wir einander noch nicht gesehen, hielten uns für Feinde, hatten eine
-Angelegenheit auszutragen; wir ließen die Sache fallen und verwirren uns
-in diese Ideen! Nun, habe ich nicht die Wahrheit gesagt, daß wir von
-_einem_ Stamme sind?«
-
-»Tun Sie mir den Gefallen,« fuhr Raskolnikoff gereizt fort, »erklären
-Sie sich schneller und teilen Sie mir mit, warum Sie mir die Ehre
-erwiesen haben, mich zu besuchen ... und ... und ich habe Eile, habe
-keine Zeit, ich will fortgehen ...«
-
-»Bitte, bitte. Ihre Schwester Awdotja Romanowna heiratet Herrn Peter
-Petrowitsch Luschin?«
-
-»Können Sie nicht jede Frage über meine Schwester vermeiden und ihren
-Namen unerwähnt lassen? Ich begreife nicht, wie Sie es wagen, in meiner
-Gegenwart ihren Namen auszusprechen, wenn Sie tatsächlich Sswidrigailoff
-sind.«
-
-»Ich bin doch gekommen, um über sie zu sprechen, wie soll ich denn ihren
-Namen nicht erwähnen?«
-
-»Gut. Reden Sie, aber schnell!«
-
-»Ich bin überzeugt, daß Sie sich Ihre Meinung über diesen Herrn Luschin,
-einen Verwandten meiner Frau, schon gebildet haben, wenn Sie ihn nur
-eine halbe Stunde gesehen oder irgend etwas Sicheres und Genaues über
-ihn gehört haben. Er paßt nicht für Awdotja Romanowna. Meiner Ansicht
-nach bringt sich Awdotja Romanowna hier sehr großmütig und uneigennützig
-zum Opfer für ... für ihre Familie. Mir schien es, auf Grund all dessen,
-was ich über Sie gehört habe, daß Sie Ihrerseits sehr zufrieden sein
-würden, wenn diese Heirat ohne Verletzung der Interessen nicht
-zustandekommen würde. Jetzt aber, nachdem ich Sie persönlich
-kennengelernt habe, bin ich davon sogar überzeugt.«
-
-»Ihrerseits ist dies alles sehr naiv, entschuldigen Sie, ich wollte
-sagen, frech,« erwiderte Raskolnikoff.
-
-»Das heißt, Sie sagen damit, daß ich für meinen eigenen Nutzen sorge.
-Seien Sie ruhig, Rodion Romanowitsch, wenn ich meine eigenen Vorteile im
-Auge haben würde, so hätte ich mich nicht so offen ausgesprochen, ich
-bin doch nicht ganz dumm. In dieser Beziehung will ich Ihnen eine
-psychologische Merkwürdigkeit offenbaren. Vorhin sagte ich, als ich
-meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, daß ich selbst ein Opfer
-dieser Liebe sei. Nun, mögen Sie wissen, daß ich jetzt gar keine Liebe
-mehr, absolut gar keine empfinde, so daß ich mich über mich selbst
-wundere, denn ich hatte doch tatsächlich so empfunden ...«
-
-»Aus Müßiggang und Unsittlichkeit,« unterbrach ihn Raskolnikoff.
-
-»Ich bin wirklich ein Nichtstuer und Wüstling. Aber, Ihre Schwester hat
-so viele Vorzüge, daß ich einem gewissen Eindrucke unterliegen mußte.
-Doch das ist alles Unsinn, wie ich es selbst jetzt auch einsehe.«
-
-»Haben Sie es seit langem eingesehen?«
-
-»Ich habe es schon früher gemerkt, mich aber vorgestern im Augenblicke
-meiner Ankunft in Petersburg endgültig davon überzeugt. Übrigens, in
-Moskau noch stellte ich mir vor, daß ich nur reise, um mit Herrn Luschin
-in Konkurrenz zu treten und um Awdotja Romanownas Hand anzuhalten.«
-
-»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber tun Sie mir den
-Gefallen, sich kürzer zu fassen und direkt auf den Zweck Ihres Besuches
-überzugehen. Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...«
-
-»Mit größtem Vergnügen. Als ich hier angekommen war und mich
-entschlossen hatte, jetzt eine ... Reise anzutreten, wollte ich einige
-notwendige Anordnungen vorher treffen. Meine Kinder sind bei der Tante
-geblieben und sind reich; mich persönlich brauchen sie nicht. Was für
-ein Vater wäre ich auch? Ich habe mir selbst nur das genommen, was mir
-Marfa Petrowna vor einem Jahre geschenkt hatte. Für mich reicht es.
-Entschuldigen Sie, ich komme sofort zur Sache selbst. Vor meiner Reise,
-die vielleicht bald verwirklicht wird, will ich aber mit Herrn Luschin
-abrechnen. Nicht etwa, daß ich ihn gar nicht ausstehen kann, aber um
-seinetwillen entstand der Streit mit Marfa Petrowna, nachdem ich
-erfahren hatte, daß sie diese Heirat eingeleitet hat. Ich möchte jetzt,
-durch Ihre Vermittlung, Awdotja Romanowna sehen und meinetwegen in Ihrer
-Anwesenheit ihr erklären, daß sie von seiten des Herrn Luschin nicht nur
-nicht den geringsten Vorteil, sondern sicher eine unbedingte
-Enttäuschung erfahren wird. Dann möchte ich, nachdem ich sie wegen aller
-Unannehmlichkeiten um Entschuldigung gebeten habe, mir die Erlaubnis
-einholen, ihr zehntausend Rubel anzubieten, um ihr in dieser Weise den
-Bruch mit Herrn Luschin zu erleichtern; ich bin überzeugt, daß sie sich
-gegen einen Bruch mit ihm nicht sträubt, wenn sich nur eine Möglichkeit
-bietet.«
-
-»Sie sind aber tatsächlich, tatsächlich verrückt!« rief Raskolnikoff,
-mehr erstaunt als ärgerlich. »Wie können Sie sich unterstehen, so zu
-sprechen!«
-
-»Ich wußte es, daß Sie mich anschreien werden, aber trotzdem ich nicht
-reich bin, kann ich vollkommen über diese zehntausend Rubel verfügen,
-ich brauche sie gar nicht. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht annehmen
-will, werde ich sie vielleicht in der dümmsten Art verwenden. Das ist
-das eine. Mein Gewissen ist vollkommen ruhig, ich biete sie ohne
-jeglichen Hintergedanken an. Nun zweitens. Glauben Sie es, oder glauben
-Sie es nicht, später werden Sie und Awdotja Romanowna es erfahren. Die
-ganze Sache dreht sich doch darum, daß ich tatsächlich Mühe und
-Unannehmlichkeiten Ihrer verehrten Schwester verursacht habe; und da ich
-eine aufrichtige Reue empfinde, wünsche ich von Herzen, -- mich nicht
-etwa loskaufen und die Unannehmlichkeiten bezahlen, sondern einfach ihr
-etwas Vorteilhaftes aus dem Grunde zu erweisen, weil ich doch
-schließlich kein Privilegium habe, nur Böses zu tun. Wenn sich in meinem
-Anerbieten eine winzige Spur von Berechnung fände, so würde ich ihr doch
-nicht bloß zehntausend anbieten, da ich vor fünf Wochen ihr viel mehr
-angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht sehr, sehr bald ein junges
-Mädchen heiraten, folglich muß dadurch der ganze Verdacht, daß ich gegen
-Awdotja Romanowna etwas im Schilde führe, fortfallen. Zum Schlusse
-möchte ich noch sagen, daß Awdotja Romanowna, indem sie Herrn Luschin
-heiratet, dasselbe Geld nimmt, nur von anderer Seite ... Ärgern Sie
-bitte sich nicht, Rodion Romanowitsch, überlegen Sie es sich ruhig und
-kaltblütig ...«
-
-Sswidrigailoff war, während er dies sagte, selbst außerordentlich
-kaltblütig und ruhig.
-
-»Ich bitte Sie, zu Ende zu kommen,« sagte Raskolnikoff. »Jedenfalls ist
-es unverzeihlich frech.«
-
-»Keineswegs. Demnach könnte ein Mensch einem anderen in dieser Welt nur
-Böses zufügen und hat im Gegenteil kein Recht wegen leerer
-konventioneller Formalitäten, ihm ein bißchen Gutes zu erweisen. Das ist
-unsinnig. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und diese Summe Ihrer
-Schwester laut Testament hinterlassen hätte, würde sie sich auch dann
-weigern, sie anzunehmen?«
-
-»Sehr möglich.«
-
-»Nein, das glaube ich nicht. Übrigens, wenn sie nein sagt, mag es dabei
-bleiben, zehntausend aber sind unter Umständen eine angenehme Sache. In
-jedem Falle bitte ich Sie, Awdotja Romanowna das Gesagte mitzuteilen.«
-
-»Nein, ich werde es ihr nicht mitteilen.«
-
-»In diesem Falle, Rodion Romanowitsch, werde ich gezwungen sein, eine
-persönliche Zusammenkunft herbeizuführen, also auch sie belästigen.«
-
-»Und wenn ich es ihr mitteilen werde, wollen Sie dann von einer
-persönlichen Zusammenkunft absehen?«
-
-»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll. Einmal möchte ich
-sie doch gerne sehen.«
-
-»Hoffen Sie nicht darauf!«
-
-»Schade. Sie kennen mich noch nicht. Vielleicht werden wir uns
-näherkommen.«
-
-»Sie meinen, daß wir einander näherkommen werden?«
-
-»Warum denn nicht?« sagte Sswidrigailoff lächelnd, stand auf und nahm
-seinen Hut. »Nicht, daß es mir Spaß machte, Sie zu belästigen, und als
-ich hierher ging, rechnete ich nicht mit dieser Möglichkeit, obwohl mir
-Ihr Gesicht schon vorhin, heute morgen, auffiel ...«
-
-»Wo haben Sie mich heute früh gesehen?« fragte Raskolnikoff voll Unruhe.
-
-»Zufällig ... Mir kommt es immer vor, als wäre etwas in Ihnen, was
-meinem Wesen entspricht ... Regen Sie sich nicht auf, ich bin nicht
-aufdringlich; ich bin mit Falschspielern gut ausgekommen, war dem
-Fürsten Sswirbei, einem entfernten Verwandten und Würdenträger, nicht
-zur Last gefallen, habe es verstanden, Frau Prilukoff ins Album ein
-Gedicht über die Raphaelsche Madonna zu schreiben, habe mit Marfa
-Petrowna sieben Jahre auf einem Fleck verlebt, in früheren Zeiten im
-Hause Wjasemski auf dem Heumarkte geschlafen und werde nun vielleicht
-mit Berg im Luftballon aufsteigen.«
-
-»Nun, schon gut. Erlauben Sie mir die Frage, wollen Sie bald Ihre Reise
-antreten?«
-
-»Welch eine Reise?«
-
-»Von der Sie sprachen ... Sie sagten es doch selbst.«
-
-»Ach ja! ... in der Tat, ich sprach von der Reise ... Nun, das ist eine
-große Frage ... Wenn Sie aber wüßten, wonach Sie mich soeben fragten!«
-fügte er hinzu und lachte laut und kurz. »Ich werde vielleicht anstatt
-zu reisen, mich verheiraten. Man freit mir eine Braut.«
-
-»Hier?«
-
-»Ja.«
-
-»Wann haben Sie denn dazu Zeit gefunden?«
-
-»Mit Awdotja Romanowna jedoch möchte ich sehr gern einmal
-zusammentreffen. Ich bitte Sie in allem Ernst. Nun, auf Wiedersehen, ach
-... ja! Ich hätte bald vergessen, Rodion Romanowitsch! Teilen Sie bitte
-Ihrer Schwester mit, daß sie im Testamente Marfa Petrownas mit
-dreitausend Rubeln bedacht ist. Das ist absolut richtig. Marfa Petrowna
-hat es eine Woche vor ihrem Tode angeordnet, und zwar in meiner
-Anwesenheit. Nach zwei oder drei Wochen kann Awdotja Romanowna auch das
-Geld erhalten.«
-
-»Sagen Sie die Wahrheit?«
-
-»Die volle Wahrheit. Teilen Sie es ihr mit. Nun, Ihr Diener. Ich wohne
-nicht sehr weit von Ihnen.«
-
-Beim Weggehen stieß Sswidrigailoff in der Tür mit Rasumichin zusammen.
-
-
- II.
-
-Es war schon fast acht Uhr; beide eilten zu Bakalejeff, um früher als
-Luschin da zu sein.
-
-»Wer war denn das?« fragte Rasumichin, als sie auf die Straße
-hinaustraten.
-
-»Es war Sswidrigailoff, derselbe Gutsbesitzer, in dessen Hause meine
-Schwester als Gouvernante Kränkungen dulden mußte. Weil er ihr
-nachstellte, verließ sie das Haus, von seiner Frau Marfa Petrowna
-hinausgejagt. Dieselbe Marfa Petrowna hat nachher Dunja um Verzeihung
-gebeten und ist jetzt plötzlich gestorben. Vorhin sprachen wir von ihr.
-Ich weiß nicht warum, aber ich fürchte diesen Menschen sehr. Er reiste
-sofort nach der Beerdigung seiner Frau hierher, ist sehr sonderbar und
-hat sich zu etwas entschlossen ... Er scheint etwas zu wissen ... Man
-muß Dunja vor ihm schützen ... und das wollte ich dir auch sagen, hörst
-du?«
-
-»Schützen! Was kann er denn gegen Awdotja Romanowna vorhaben? Nun, ich
-danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst ... Wir wollen sie schützen!
-... Wo lebt er?«
-
-»Ich weiß es nicht.«
-
-»Warum hast du ihn nicht gefragt? Ach, schade! Ich werde es übrigens
-bald erfahren!«
-
-»Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikoff nach einigem Schweigen.
-
-»Nun ja, ich habe ihn mir gemerkt; gut gemerkt!«
-
-»Hast du ihn wirklich gesehen? Deutlich gesehen?« wiederholte
-Raskolnikoff.
-
-»Freilich, ich erinnere mich seiner deutlich; unter tausend erkenne ich
-ihn wieder, ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.«
-
-Sie schwiegen wieder.
-
-»Hm ... das ist gut ...« murmelte Raskolnikoff. »Sonst, weißt du ...
-dachte ich ... mir scheint es manchmal, als wenn es eine Einbildung von
-mir wäre.«
-
-»Was meinst du damit? Ich verstehe dich nicht ganz.«
-
-»Ihr sprecht doch alle davon,« fuhr Raskolnikoff fort und verzog den
-Mund zu einem Lächeln, »daß ich verrückt sei; mir schien es nun
-augenblicklich, als ob ich tatsächlich verrückt sei und bloß ein
-Gespenst gesehen habe.«
-
-»Was fällt dir ein?«
-
-»Wer weiß es denn! Vielleicht bin ich wahrhaftig verrückt, und alles,
-was in diesen Tagen vorgefallen ist, geschah vielleicht nur in meiner
-Einbildung ...«
-
-»Ach, Rodja! Man hat dich wieder aufgeregt! ... Ja, was sagte er denn,
-warum kam er?«
-
-Raskolnikoff antwortete nicht, Rasumichin sann eine Weile nach.
-
-»Nun, höre mir zu,« begann er. »Ich war bei dir gewesen, da schliefst
-du. Dann aßen wir zu Mittag und ich ging nachher zu Porphyri. Sametoff
-war noch immer da. Ich wollte anfangen mit ihm zu sprechen, aber es kam
-nichts heraus. Ich konnte nie in richtiger Weise beginnen. Sie schienen
-auch nicht zu begreifen und wollten nichts begreifen und waren gar nicht
-beschämt. Ich führte Porphyri zum Fenster hin und begann zu sprechen,
-aber es kam wieder nichts dabei heraus, -- er blickte zur Seite und ich
-blickte zur Seite. Schließlich streckte ich ihm die Faust drohend
-entgegen und sagte, daß ich ihn in verwandtschaftlicher Weise
-zerschmettern werde. Er sah mich bloß an und sagte nichts. Ich ließ die
-Sache fallen und ging weg, das ist alles. Sehr dumm, nicht wahr. Mit
-Sametoff redete ich kein Wort. Siehst du aber, -- ich dachte anfangs,
-ich habe die Sache verschlimmert, aber wie ich die Treppe hinunterstieg,
-kam mir, nein besser, erleuchtete mich der Gedanke, warum beunruhigen
-wir uns eigentlich? Wenn dir wenigstens eine Gefahr drohen würde oder
-etwas ähnliches in Aussicht wäre, nun, dann wäre es verständlich! Was
-geht es aber dich an? Du hast mit der Sache nichts zu tun, also pfeife
-auf sie; wir werden noch später über sie lachen und ich würde an deiner
-Stelle sie noch mystifizieren. Wie sie sich nachher schämen werden!
-Pfeif darauf; wir können sie auch nachher verprügeln, jetzt aber wollen
-wir über sie lachen!«
-
-»Du hast recht, versteht sich!« antwortete Raskolnikoff.
-
-»Aber was wirst du morgen sagen?« dachte er sofort.
-
-Sonderbar, bis jetzt war ihm noch nie der Gedanke gekommen, »was wird
-Rasumichin denken, wenn er es erfährt?« Und bei diesem Gedanken blickte
-Raskolnikoff ihn gespannt an. An dem jetzigen Berichte Rasumichins über
-seinen Besuch bei Porphyri hatte er weniger Interesse, -- seit der Zeit
-war vieles verschwunden und hinzugekommen! ...
-
-Im Korridor stießen sie mit Luschin zusammen, -- er war punkt acht Uhr
-erschienen und suchte das Zimmer, so daß alle drei zugleich eintraten,
-ohne aber einander anzublicken und ohne sich zu grüßen. Die jungen Leute
-gingen sofort in die Stube hinein, Peter Petrowitsch verblieb aus
-Anstand eine Weile im Vorzimmer und nahm den Mantel ab. Pulcheria
-Alexandrowna ging ihm sofort entgegen, um ihn an der Schwelle zu
-empfangen. Dunja begrüßte den Bruder.
-
-Peter Petrowitsch trat ein und verneigte sich ziemlich liebenswürdig,
-aber auch mit besonderer Zurückhaltung vor den Damen. Er sah aus, als
-wäre er ein wenig verwirrt und als ob er sich noch nicht gefaßt hätte.
-Pulcheria Alexandrowna, auch ein wenig aufgeregt, beeilte sich sofort,
-alle um einen Tisch, auf dem ein Samowar brannte, zu placieren. Dunja
-und Luschin setzten sich einander gegenüber zu beiden Seiten des
-Tisches. Rasumichin und Raskolnikoff kamen Pulcheria Alexandrowna
-gegenüber zu sitzen, -- Rasumichin neben Luschin, Raskolnikoff neben der
-Schwester.
-
-Es trat Schweigen ein. Peter Petrowitsch zog langsam ein
-Batisttaschentuch hervor, das nach Parfüm duftete und schneuzte sich mit
-der Miene eines tugendhaften, in seiner Würde gekränkten Menschen, der
-fest entschlossen ist, Erklärungen zu verlangen. Im Vorzimmer war ihm
-der Gedanke gekommen, -- den Mantel nicht abzunehmen und fortzugehen und
-dadurch die Damen streng und nachdrücklich zu bestrafen, um sie mit
-einem Male ihr Unrecht fühlen zu lassen. Aber er konnte sich nicht dazu
-entschließen. Außerdem liebte er keine Ungewißheit, und hier galt es,
-festzustellen, aus welchem Grunde sein Befehl so offensichtlich nicht
-befolgt wurde, es mußte irgend etwas Besonderes sein, und so war es
-besser abzuwarten; zu strafen war immer Zeit genug, es lag ja in seinen
-Händen.
-
-»Ich hoffe, die Reise ist glücklich abgelaufen?« wandte er sich im
-offiziellen Tone an Pulcheria Alexandrowna.
-
-»Gottlob ja, Peter Petrowitsch.«
-
-»Sehr angenehm zu hören. Und Awdotja Romanowna ist auch nicht ermüdet?«
-
-»Ich bin jung und stark und werde nicht müde, aber für Mama war es sehr
-schwer gewesen,« antwortete Dunetschka.
-
-»Was ist da zu machen; die Entfernungen in unserm Lande sind groß. Groß
-ist das sogenannte >Mütterchen Rußland< ... Ich aber konnte beim besten
-Willen Sie gestern nicht empfangen. Ich hoffe jedoch, daß alles ohne
-Aufregung gut verlaufen ist?«
-
-»Ach nein, Peter Petrowitsch, wir waren sehr mutlos,« beeilte sich
-Pulcheria Alexandrowna mit besonderer Betonung zu bemerken, »und wenn
-uns nicht Gott selbst Dmitri Prokofjitsch gestern gesandt hätte, so
-wären wir sehr verlassen gewesen. Das ist er, Dmitri Prokofjitsch
-Rasumichin,« fügte sie hinzu, ihn Luschin vorstellend.
-
-»Ich hatte schon das Vergnügen ... gestern,« murmelte Luschin und sah
-Rasumichin dabei feindselig von der Seite an, sein Gesicht verdüsterte
-sich und er schwieg.
-
-Peter Petrowitsch gehörte zu den Leuten, die in der Gesellschaft
-außerordentlich liebenswürdig sind und auf Liebenswürdigkeit besonderen
-Anspruch erheben, die aber auch sofort, wenn das geringste nicht nach
-ihrem Geschmack ist, alle ihre guten Eigenschaften verlieren und eher
-Mehlsäcken als gewandten und die Gesellschaft belebenden Kavalieren
-gleichen. Alle verstummten wieder eine Weile, -- Raskolnikoff schwieg
-hartnäckig und Awdotja Romanowna wollte das Schweigen nicht vorzeitig
-unterbrechen. Rasumichin hatte nichts zu sagen, so daß Pulcheria
-Alexandrowna wieder unruhig wurde.
-
-»Marfa Petrowna ist gestorben, Sie haben es wohl gehört?« begann sie zu
-einem ihrer Hauptaushilfemittel greifend.
-
-»Ich habe es gehört. Ich wurde sofort benachrichtigt und bin sogar jetzt
-gekommen, Ihnen mitzuteilen, daß Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff
-unverzüglich nach der Beerdigung seiner Gattin nach Petersburg abgereist
-ist. So lauten wenigstens die sichersten Nachrichten, die ich empfangen
-habe.«
-
-»Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunja voll Unruhe und wechselte mit
-der Mutter einen Blick.
-
-»Ja, es ist ganz sicher und er kommt selbstverständlich nicht ohne
-Absichten, wenn man die Eile der Abreise und überhaupt die
-vorangegangenen Umstände in Betracht zieht.«
-
-»Mein Gott! Will er etwa auch hier Dunetschka nicht in Ruhe lassen?«
-rief Pulcheria Alexandrowna aus.
-
-»Mir scheint es, weder Sie noch Awdotja Romanowna brauchen sich
-besonders aufzuregen, wenn Sie natürlich nicht selbst mit ihm in
-Verbindung treten wollen. Was mich anbetrifft, so werde ich nach ihm
-forschen und mich erkundigen, wo er abgestiegen ist ...«
-
-»Ach, Peter Petrowitsch, Sie werden nicht glauben, wie Sie mich jetzt
-erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn bloß
-zweimal gesehen, er erschien mir schrecklich, fürchterlich! Ich bin
-überzeugt, daß er die Ursache von Marfa Petrownas Tode ist.«
-
-»Darüber läßt sich nichts sagen. Ich habe genaue Nachrichten. Ich
-bestreite nicht, daß er vielleicht den Gang der Dinge sozusagen durch
-den moralischen Einfluß von Kränkungen beschleunigt habe; denn im Urteil
-über sein Benehmen und überhaupt über seinen sittlichen Charakter bin
-ich mit Ihnen völlig einig. -- Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und
-was Marfa Petrowna ihm hinterlassen hat, darüber werde ich in kürzester
-Zeit erfahren, aber hier, in Petersburg, wird er selbstverständlich,
-wenn er nur einigermaßen Mittel besitzt, sofort seinen alten
-Gewohnheiten nachgehen. Er ist der verdorbenste und in Lastern
-verkommenste Mensch seines Geschlechts. Ich habe einen triftigen Grund
-anzunehmen, daß Marfa Petrowna, die das Unglück hatte, sich in ihn zu
-verlieben und ihn vor acht Jahren von Schulden befreite, auch in anderer
-Hinsicht ihm geholfen hat, -- einzig und allein dank ihrer Bemühungen
-und Opfer wurde eine kriminelle Sache mit einem Beigeschmack von
-tierischer und sozusagen phantastischer Roheit vertuscht, für die er mit
-größter Wahrscheinlichkeit nach Sibirien geschickt worden wäre. Sehen
-Sie, so ist dieser Mensch, wenn Sie es wissen wollen.«
-
-»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Petrowna aus.
-
-Raskolnikoff hörte aufmerksam zu.
-
-»Sagen Sie die Wahrheit, daß Sie darüber genaue Nachrichten besitzen?«
-fragte Dunja streng und nachdrücklich.
-
-»Ich erzähle bloß das, was ich selbst, als Geheimnis, von der
-verstorbenen Marfa Petrowna gehört habe. Ich muß bemerken, daß diese
-Sache vom juristischen Standpunkte sehr dunkel ist. Hier lebte und
-scheint noch jetzt eine gewisse Rößlich zu leben, eine Ausländerin, eine
-kleine Wucherin, die aber sich auch mit anderen Geschäften abgibt. Zu
-dieser Rößlich stand seit langem Herr Sswidrigailoff in gewissem sehr
-nahem und geheimnisvollem Verhältnisse. Bei der Rößlich wohnte eine
-entfernte Verwandte, eine Nichte, glaube ich, ein taubstummes Mädchen
-von fünfzehn oder vierzehn Jahren, die diese Rößlich grenzenlos haßte,
-der sie jedes Stück Brot vorwarf und die sie sogar unmenschlich schlug.
-Eines Tages wurde dieses Mädchen auf dem Boden erhängt aufgefunden. Es
-wurde festgestellt, daß sie mit Selbstmord geendet hatte. Nach den
-gewöhnlichen Formalitäten wurde die Sache abgeschlossen, später aber
-lief eine Denunziation ein, daß das Kind von Herrn Sswidrigailoff ...
-grausam mißhandelt worden sei. Es ist wahr, die Sache war sehr dunkel,
-die Denunziation stammte von einer anderen Deutschen, einem
-verwerflichen Frauenzimmer, die kein Vertrauen genoß; schließlich ergab
-es sich dank den Bemühungen und dem Gelde Petrownas, daß im Grunde
-genommen gar keine Denunziation eingelaufen sei; alles beschränkte sich
-auf ein Gerücht. Aber dieses Gerücht war bedeutsam genug. Sie, Awdotja
-Romanowna, haben sicher auch von der Geschichte mit dem Diener Filka
-gehört, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, an
-Mißhandlungen gestorben ist.«
-
-»Ich habe im Gegenteil gehört, daß dieser Filka sich selbst erhängt
-habe.«
-
-»Das stimmt, aber die ununterbrochenen Verfolgungen und Strafen des
-Herrn Sswidrigailoff haben ihn gezwungen oder besser gesagt, zum
-Selbstmorde getrieben.«
-
-»Davon weiß ich nichts,« antwortete Dunja trocken, »ich habe bloß eine
-sehr sonderbare Geschichte gehört, -- dieser Filka war ein Hypochonder,
-ein Philosoph, die Menschen sagten von ihm, er habe zu viel gelesen, und
-er hat sich eher wegen der Spötteleien, als wegen der Schläge von Herrn
-Sswidrigailoff erhängt. Als ich dort im Hause war, behandelte er die
-Leute gut, und die Leute liebten ihn sogar, obwohl sie ihm an dem Tode
-Filkas die Schuld gaben.«
-
-»Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie auf einmal geneigt sind, ihn zu
-entschuldigen,« bemerkte Luschin und verzog den Mund zu einem
-zweideutigen Lächeln. »Er ist in der Tat ein schlauer Mensch und für
-Damen verführerisch, wofür Marfa Petrowna, die eines eigentümlichen
-Todes gestorben ist, als trauriges Beispiel dient. Ich wollte bloß Ihnen
-und Ihrer Frau Mutter mit meinem Ratschlage einen Dienst erweisen,
-in Anbetracht seiner neuen und zweifellos bevorstehenden
-Annäherungsversuche. Was mich anbetrifft, so bin ich fest überzeugt, daß
-dieser Mensch selbstverständlich wieder im Schuldgefängnisse
-verschwinden wird. Marfa Petrowna hat nie und nimmer die Absicht gehabt,
-irgend etwas auf seinen Namen zu übertragen, weil sie die Kinder im Auge
-hatte, und wenn sie ihm etwas hinterlassen hat, so ist es höchstens das
-Notwendigste, kaum nennenswert und was für einen Menschen von seinen
-Gewohnheiten auch nicht ein Jahr ausreicht.«
-
-»Peter Petrowitsch, ich bitte Sie,« sagte Dunja, »hören wir auf, von
-Herrn Sswidrigailoff zu sprechen. Es macht mich schwermütig.«
-
-»Er war soeben bei mir,« sagte plötzlich Raskolnikoff, zum ersten Male
-sein Schweigen brechend.
-
-Von allen Seiten ertönten Ausrufe und alle wandten sich an ihn. Sogar
-Peter Petrowitsch wurde aufgeregt.
-
-»Vor anderthalb Stunden, als ich schlief, kam er herein, weckte mich auf
-und stellte sich vor,« fuhr Raskolnikoff fort. »Er war ziemlich
-ungezwungen und lustig und hofft sicher, daß ich mit ihm in nähere
-Beziehungen treten werde. Unter anderem bittet er sehr um eine
-Zusammenkunft mit dir, Dunja, und bat mich, der Vermittler dieser
-Zusammenkunft zu sein. Er will dir ein Anerbieten machen; worin dies
-besteht, hat er mir mitgeteilt. Außerdem teilte er mir positiv mit, daß
-Marfa Petrowna Zeit gefunden hat, eine Woche vor ihrem Tode, dir, Dunja,
-dreitausend Rubel zu vermachen, und daß du dieses Geld in sehr kurzer
-Zeit erhalten kannst!«
-
-»Gott sei Dank!« rief Pulcheria Alexandrowna und schlug ein Kreuz. »Bete
-für sie, Dunja, bete!«
-
-»Das ist tatsächlich wahr?« entschlüpfte es Luschin.
-
-»Nun und weiter?« drängte Dunja.
-
-»Dann sagte er, daß er selbst nicht reich sei und das ganze Vermögen
-seinen Kindern, die jetzt bei der Tante sind, zufällt. Er sagte auch,
-daß er irgendwo nicht weit von mir abgestiegen sei, wo aber -- das weiß
-ich nicht, ich habe ihn nicht gefragt ...«
-
-»Aber, was will er denn Dunetschka anbieten?« fragte die erschrockene
-Pulcheria Alexandrowna. »Hat er es dir gesagt?«
-
-»Ja, er hat es gesagt.«
-
-»Was ist es denn?«
-
-»Ich will es nachher sagen.« Raskolnikoff verstummte und wandte sich zu
-seinem Glase Tee.
-
-Peter Petrowitsch sah auf seine Uhr.
-
-»Ich muß in einer notwendigen Angelegenheit weggehen und werde dann
-nicht stören,« fügte er mit merklich gekränkter Miene hinzu und erhob
-sich halb vom Stuhle.
-
-»Bleiben Sie, Peter Petrowitsch,« sagte Dunja, »Sie hatten doch die
-Absicht, den ganzen Abend hier zu verbringen. Außerdem schrieben Sie
-selbst, daß Sie wünschen, über etwas mit Mama zu sprechen.«
-
-»Das ist richtig, Awdotja Romanowna,« sagte Peter Petrowitsch mit
-Nachdruck, setzte sich wieder hin, behielt aber den Hut in der Hand,
-»ich wollte tatsächlich mit Ihnen und mit Ihrer verehrten Frau Mutter,
-und sogar über sehr wichtige Punkte, sprechen. Aber, wie Ihr Bruder in
-meiner Gegenwart sich über einige Angebote Herrn Sswidrigailoffs nicht
-näher erklären kann, so wünschte ich auch nicht und kann nicht ... in
-Gegenwart von anderen ... über einige äußerst wichtige Punkte sprechen.
-Außerdem ist meine Haupt- und eindringlichste Bitte nicht erfüllt worden
-...« Luschin nahm eine bittre Miene an und schwieg würdevoll.
-
-»Ihre Bitte, daß mein Bruder bei unserer Zusammenkunft nicht zugegen
-wäre, ist einzig auf mein Verlangen nicht erfüllt worden,« sagte Dunja.
-»Sie schrieben, daß Sie von meinem Bruder beleidigt worden sind; ich
-denke, daß sich dies sofort aufklären läßt und Sie beide werden sich
-vertragen. Und wenn Rodja Sie tatsächlich beleidigt hat, so _muß_ und
-_wird_ er Sie um Entschuldigung bitten.«
-
-Peter Petrowitsch wurde sofort kouragierter.
-
-»Es gibt gewisse Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten
-Willen nicht vergessen kann. In allem gibt es eine Grenze, die zu
-überschreiten gefährlich ist; denn, _ist_ sie einmal überschritten, so
-ist es unmöglich, zurückzukehren.«
-
-»Ich sprach eigentlich nicht darüber, Peter Petrowitsch,« unterbrach ihn
-Dunja ein wenig ungeduldig, »verstehn Sie mich so, daß die ganze Zukunft
-jetzt davon abhängt, ob dieses alles sich möglichst schnell aufklären
-und erledigen wird oder nicht? Ich sage offen, daß ich anders es nicht
-ansehen kann, und wenn Sie mich nur ein wenig schätzen, so muß die ganze
-Geschichte, wie schwer es auch sein mag, heute noch beigelegt werden.
-Ich wiederhole Ihnen, wenn mein Bruder die Schuld trägt, wird er um
-Verzeihung bitten.«
-
-»Ich bin erstaunt, daß sie die Frage so stellen, Awdotja Romanowna,«
-wurde Luschin immer mehr gereizt, »wenn ich Sie schätze und sozusagen
-verehre, brauche ich doch gleichzeitig nicht jeden aus Ihrer Familie
-besonders gern zu haben. Wenn ich auf den glücklichen Besitz ihrer Hand
-Anspruch erhebe, brauche ich doch nicht gleichzeitig Verpflichtungen zu
-übernehmen, die unvereinbar ...«
-
-»Ach, lassen Sie diese Empfindlichkeit, Peter Petrowitsch,« unterbrach
-ihn Dunja mit Wärme, »und seien Sie der kluge und edle Mensch, für den
-ich Sie stets gehalten habe und halten will. Ich habe Ihnen ein großes
-Versprechen gegeben, ich bin Ihre Braut geworden; vertrauen Sie doch mir
-in dieser Sache und glauben Sie mir, ich werde die Kraft haben,
-unparteiisch zu urteilen. Der Umstand, daß ich die Rolle eines Richters
-übernehme, ist für meinen Bruder ebenso eine Überraschung wie für Sie.
-Als ich ihn heute nach dem Empfang Ihres Briefes aufforderte, unbedingt
-zu unserer Zusammenkunft zu kommen, habe ich ihm nichts von meinen
-Absichten mitgeteilt. Verstehn Sie doch, daß, wenn Sie sich nicht
-vertragen, ich zwischen Ihnen beiden wählen muß, -- entweder Sie oder
-ihn. So ist die Frage, wie von seiner, so auch von Ihrer Seite gestellt.
-Ich will und darf mich nicht in der Wahl irren. Ihretwegen muß ich mit
-meinem Bruder brechen; meines Bruders wegen muß ich mit Ihnen brechen.
-Ich will und kann jetzt sicher erfahren, -- ist er mir wirklich ein
-Bruder? Und von Ihnen, ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen und
-Sie mir ein Gatte sein können?«
-
-»Awdotja Romanowna,« sagte Luschin verletzt. »Ihre Worte sind für mich
-zu bedeutungsvoll, ich will sogar sagen, kränkend, in Anbetracht der
-Stellung, die ich die Ehre habe Ihnen gegenüber einzunehmen. Ich spreche
-schon gar nicht von der kränkenden und sonderbaren Gegenüberstellung
-zwischen mir ... und einem aufgeblasenen Jüngling, aber in Ihren Worten
-geben Sie mir die Möglichkeit zu, das mir gegebene Versprechen zu
-brechen. Sie sagen, >entweder Sie, oder er<? also zeigen Sie damit, wie
-wenig ich für Sie bedeute ... ich kann dies bei den Beziehungen ... und
-Umständen, die zwischen uns bestehen, nicht zulassen.«
-
-»Wie!« flammte Dunja auf. »Ich stelle Ihre Interessen auf eine Stufe mit
-allem, was mir im Leben bis jetzt teuer war, was bis jetzt mein _ganzes_
-Leben ausmachte, und Sie sind gekränkt, daß ich Sie _zu wenig_ schätze!«
-
-Raskolnikoff lächelte schweigend und höhnisch, Rasumichin war empört;
-Peter Petrowitsch aber ließ die Erwiderung nicht gelten, er wurde im
-Gegenteil mit jedem Worte immer zudringlicher und gereizter, als hätte
-er daran Geschmack gefunden.
-
-»Die Liebe zum künftigen Lebensgefährten, zum Manne, muß die Liebe zum
-Bruder überwiegen,« sagte er sentenziös, »in jedem Falle aber kann ich
-nicht auf ein und derselben Stufe stehn ... Aber obwohl ich vorhin
-bestimmt sagte, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders nicht wünsche, alles
-zu erklären, und nicht sagen könne, weswegen ich hierhergekommen bin,
-habe ich jetzt trotzdem die Absicht, mich an Ihre verehrte Frau Mutter
-zu wenden, um eine notwendige Aufklärung über einen sehr wichtigen und
-mich beleidigenden Punkt zu erhalten. Ihr Sohn,« wandte er sich an
-Pulcheria Alexandrowna, »hat mich gestern in Gegenwart des Herrn
-Rassudkin« ... (»Nicht wahr, der Name ist doch richtig, ich habe Ihren
-Namen vergessen, entschuldigen Sie,« verbeugte er sich höflich vor
-Rasumichin) »durch die Verdrehung eines Gedankens von mir, den ich Ihnen
-einmal in einem Privatgespräch bei einer Tasse Kaffee mitteilte,
-beleidigt. Mein Gedanke war, daß die Heirat mit einem armen Mädchen, das
-schon die Sorgen des Lebens erfahren hat, meiner Ansicht nach vom
-Standpunkte der Ehe aus vorteilhafter sei, als mit einem, das im
-Überflusse lebt, weil es in moralischer Hinsicht nützlicher sei. Ihr
-Sohn hat absichtlich den Sinn meiner Worte äußerst entstellt und mich
-böswilliger Absichten beschuldigt, indem er sich meiner Ansicht nach auf
-Ihren eigenen Brief stützte. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn es
-Ihnen, Pulcheria Alexandrowna, möglich wäre, mich vom Gegenteil zu
-überzeugen und mich dadurch sehr zu beruhigen. Teilen Sie mir mit, in
-welchen Ausdrücken Sie meine Worte in Ihrem Briefe an Rodion
-Romanowitsch wiedergegeben haben?«
-
-»Ich entsinne mich nicht,« sagte Pulcheria Alexandrowna verwirrt, »ich
-habe sie aber wiedergegeben, wie ich sie selbst verstanden hatte. Ich
-weiß nicht, wie Rodja es Ihnen erzählt hat ... Vielleicht hat er auch
-einiges übertrieben.«
-
-»Ohne Ihren Anstoß konnte er sie nicht übertreiben.«
-
-»Peter Petrowitsch,« erwiderte Pulcheria Alexandrowna voll Würde, »der
-Beweis, daß ich und Dunja Ihre Worte nicht in sehr schlechtem Sinne
-aufgefaßt haben, ist, daß wir _hier_ sind.«
-
-»Das war gut, Mama!« sagte Dunja lobend.
-
-»Also, auch daran bin ich schuld!« bemerkte Luschin gekränkt.
-
-»Sehen Sie, Peter Petrowitsch, Sie beschuldigen immer Rodion, Sie selbst
-aber haben vorhin in dem Briefe über ihn die Unwahrheit geschrieben,«
-fügte Pulcheria Alexandrowna ermutigt hinzu.
-
-»Ich erinnere mich nicht, daß ich irgendeine Unwahrheit geschrieben
-hätte.«
-
-»Sie haben geschrieben,« sagte Raskolnikoff scharf, ohne sich zu Luschin
-umzuwenden, »daß ich gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen
-gegeben habe, wie es in der Tat war, sondern seiner Tochter, die ich
-nebenbei gesagt niemals vor dem gestrigen Tage gesehen habe. Sie haben
-dies geschrieben, um mich mit meinen Verwandten zu entzweien, und haben
-auch aus dem Grunde sich in abscheulichen Ausdrücken über den
-Lebenswandel des jungen Mädchen geäußert, das Sie nicht einmal kennen.
-Das sind alles gemeine Klatschereien.«
-
-»Entschuldigen Sie, mein Herr,« antwortete Luschin zitternd vor Wut, »in
-meinem Briefe habe ich mich über Ihre Eigenschaften und Handlungen
-einzig aus dem Grunde geäußert, um die Bitte Ihrer Schwester und Mutter
-zu erfüllen und ihnen zu beschreiben, wie ich Sie gefunden und welch
-einen Eindruck Sie auf mich gemacht haben. Was das in meinem Briefe
-Erwähnte anbetrifft, so zeigen Sie mir wenigstens eine unwahre Zeile,
-das heißt, daß Sie das Geld nicht verbraucht haben und daß in dieser
-wenn auch unglücklichen Familie keine unwürdigen Personen sich
-befinden?«
-
-»Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen nicht den kleinen
-Finger dieses unglücklichen Mädchens wert, auf das Sie einen Stein
-werfen.«
-
-»Nun, können Sie sich auch entschließen, sie in die Gesellschaft Ihrer
-Mutter und Schwester einzuführen?«
-
-»Ich habe es schon getan, wenn Sie es wissen wollen. Ich habe sie heute
-neben meine Mutter und Dunja gesetzt.«
-
-»Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
-
-Dunetschka errötete; Rasumichin zog die Augenbrauen zusammen. Luschin
-lächelte höhnisch und hochmütig.
-
-»Sie belieben selbst zu sehen, Awdotja Romanowna,« sagte er, »daß hier
-keine Verständigung möglich ist. Ich hoffe jetzt, daß diese Sache
-abgetan und ein für allemal aufgeklärt ist. Ich will mich entfernen, um
-die weitere angenehme Zusammenkunft der Verwandten und die Mitteilung
-von Geheimnissen nicht zu stören.« Er erhob sich vom Stuhle und nahm
-seinen Hut. »Beim Weggehen erlaube ich mir zu bemerken, daß ich hoffe,
-künftig von ähnlichen Begegnungen und sozusagen Ausgleichsversuchen
-befreit zu sein. Sie, verehrte Pulcheria Alexandrowna, möchte ich
-besonders bitten, um so mehr, als auch mein Brief an Sie und nicht an
-andere adressiert war.«
-
-Pulcheria Alexandrowna fühlte sich gekränkt.
-
-»Was, wollen Sie uns ganz in Ihre Macht nehmen, Peter Petrowitsch? Dunja
-hat uns den Grund gesagt, warum Ihr Wunsch nicht erfüllt worden ist, --
-sie hatte gute Absichten damit verfolgt. Ja, und Sie schreiben mir, als
-ob Sie mir zu befehlen hätten. Sollen wir denn jeden Ihrer Wünsche als
-Befehl ansehen? Ich will Ihnen im Gegenteil sagen, daß Sie jetzt uns
-gegenüber besonders delikat und nachgiebig sein sollten, weil wir alles
-im Stich gelassen haben und im Vertrauen zu Ihnen hierhergereist sind,
-also auch uns sowieso fast in Ihrer Gewalt befinden.«
-
-»Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und besonders im
-gegenwärtigen Augenblick nicht, wo Ihnen über die von Marfa Petrowna
-nachgelassenen dreitausend Rubel Mitteilung zukam, was Ihnen sehr
-willkommen zu sein scheint, wie man nach dem neuen Tone, in dem Sie mit
-mir sprechen, annehmen kann,« fügte er höhnisch hinzu.
-
-»Nach dieser Bemerkung zu urteilen, haben Sie tatsächlich auf unsere
-Hilflosigkeit gerechnet,« sagte Dunja gereizt.
-
-»Jetzt wenigstens kann ich dies nicht mehr, und ich möchte besonders
-nicht die Mitteilung der geheimnisvollen Angebote von Arkadi Iwanowitsch
-Sswidrigailoff stören, mit denen er Ihren Bruder betraut hat, und die
-für Sie, wie ich sehe, eine wichtige und vielleicht auch sehr angenehme
-Überraschung sind.«
-
-»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
-
-Rasumichin konnte nicht mehr auf dem Stuhle sitzen.
-
-»Und du schämst dich jetzt nicht, Schwester?« fragte Raskolnikoff.
-
-»Ich schäme mich, Rodja,« sagte Dunja. »Peter Petrowitsch, gehen Sie
-hinaus!« wandte sie sich zu ihm, bleich vor Zorn.
-
-Mit einem solchen Ende hatte Peter Petrowitsch nicht gerechnet. Er hatte
-zu sehr auf sich selbst, auf seine Macht und die Hilflosigkeit seiner
-Opfer gebaut. Aber er glaubte es auch jetzt noch nicht. Er erbleichte
-und seine Lippen zitterten.
-
-»Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt zu dieser Türe hinausgehe mit einem
-solchen Abschiede, so -- bedenken Sie es -- kehre ich nie mehr zurück.
-Überlegen Sie es sich gut! Mein Wort ist unerschütterlich.«
-
-»Welch eine Frechheit!« rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem
-Platze, »ich will gar nicht, daß Sie zurückkehren!«
-
-»Wie! Also so steht es!« rief Luschin aus, der bis zum letzten
-Augenblicke an solchen Ausgang nicht geglaubt hatte, und der nun
-vollkommen den Faden verlor, »also, so ist es gemeint! Aber wissen Sie
-auch, Awdotja Romanowna, daß ich dagegen protestieren könnte.«
-
-»Welch ein Recht haben Sie, in solcher Weise mit ihr zu sprechen!« trat
-Pulcheria Alexandrowna hitzig ein. »Wie können Sie protestieren? Und was
-für Rechte haben Sie? Und soll ich Ihnen, solch einem, meine Dunja
-geben? Gehen Sie, verlassen Sie uns! Wir sind selbst schuld, daß wir auf
-solch eine ungerechte Sache eingingen und am meisten ich ...«
-
-»Sie haben mich doch, Pulcheria Alexandrowna,« ereiferte sich Luschin in
-seiner Wut, »durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt
-lossagen ... und endlich ... endlich haben Sie mich dadurch sozusagen in
-Unkosten gestürzt ...«
-
-Diese letzte Anmaßung war dem Charakter von Peter Petrowitsch so
-entsprechend, daß Raskolnikoff, bleich vor Zorn und Anstrengung an sich
-zu halten, sich nicht enthalten konnte und -- laut auflachte. Pulcheria
-Alexandrowna aber war außer sich.
-
-»In Unkosten? In was für Unkosten? Meinen Sie etwa damit unseren Koffer?
-Es hat doch ein Schaffner ihn umsonst hergeschafft. Mein Gott, wir haben
-Sie gebunden! Besinnen Sie sich doch, Peter Petrowitsch, Sie haben uns
-an Händen und Füßen gebunden und nicht wir Sie!«
-
-»Genug, Mama, bitte, genug!« bat Awdotja Romanowna. »Peter Petrowitsch,
-tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie!«
-
-»Ich gehe sofort, aber noch ein letztes Wort!« sagte er, völlig außer
-sich. »Ihre Mutter scheint vollkommen vergessen zu haben, daß ich mich
-entschlossen hatte, trotz den Gerüchten in der Stadt, die im ganzen
-Umkreise über Ihren Ruf verbreitet waren, Sie zu heiraten. Indem ich
-Ihretwegen die öffentliche Meinung nicht beachtete und Ihren Ruf
-herstellte, konnte ich sicher sehr auf eine Vergeltung hoffen und sogar
-Ihre Dankbarkeit verlangen ... Und jetzt erst sind mir die Augen
-geöffnet worden! Ich sehe selbst, daß ich sehr übereilt gehandelt habe,
-indem ich der öffentlichen Stimme keine Beachtung schenkte ...«
-
-»Ja, hat er denn zwei Köpfe!« rief Rasumichin aus, sprang vom Stuhle auf
-und schickte sich schon an, ihm einen Denkzettel zu geben.
-
-»Sie sind ein gemeiner und böser Mensch!« sagte Dunja.
-
-»Kein Wort mehr! Keine Bewegung!« rief Raskolnikoff und hielt Rasumichin
-zurück; dann trat er dicht an Luschin heran.
-
-»Gehen Sie sofort hinaus!« sagte er leise und deutlich, »und kein Wort
-mehr, sonst ...«
-
-Peter Petrowitsch blickte ihn einige Sekunden mit bleichem vor Wut
-verzogenem Gesichte an, wandte sich um und ging hinaus, und sicher hat
-selten jemand soviel Haß auf einen andern in seinem Herzen
-davongetragen, wie dieser Mann gegen Raskolnikoff. Ihn und nur ihn
-allein machte er für alles verantwortlich. Merkwürdig, daß er sich, als
-er schon die Treppe hinabstieg, immer noch einbildete, daß die Sache
-vielleicht nicht ganz verloren und bei den Damen wenigstens sogar »sehr
-leicht« ins Geleise zu bringen sei.
-
-
- III.
-
-Die Hauptsache war, daß er bis zum letzten Augenblicke einen derartigen
-Ausgang gar nicht erwartet hatte. Er spielte bis zum letzten Momente den
-Überlegenen, ohne auch nur die Möglichkeit zu ahnen, daß zwei arme und
-schutzlose Frauen sich seiner Macht entziehen könnten. Zu dieser
-Überzeugung trugen seine Eitelkeit und sein übermäßiges Selbstbewußtsein
-viel bei, das man am besten Selbstverliebtheit nennen kann. Peter
-Petrowitsch, der sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet hatte,
-hatte die krankhafte Angewohnheit, sich selbst mit Wohlgefallen zu
-betrachten, schätzte seinen Verstand und seine Fähigkeiten hoch ein, ja,
-er besah sogar zuweilen, wenn er allein war, sein Gesicht mit Liebe im
-Spiegel. Am meisten in der Welt aber liebte und schätzte er sein Geld,
-das er durch Arbeit und allerhand Machinationen erworben hatte, -- es
-stellte ihn nach seinem Dafürhalten auf gleiche Stufe mit allem, was
-höher war als er.
-
-Indem er voll Bitterkeit Dunja daran erinnerte, daß er sich entschlossen
-hatte, sie, trotz der schlechten Gerüchte über sie, zu heiraten, sprach
-Peter Petrowitsch vollkommen aufrichtig, er empfand eine tiefe
-Entrüstung über solch einen »schwarzen Undank«. Als er aber damals um
-Dunja anhielt, war er schon von der Sinnlosigkeit aller dieser
-Klatschgeschichten völlig überzeugt, die von Marfa Petrowna selbst
-öffentlich widerrufen und schon längst vom ganzen Städtchen, das Dunja
-warm in Schutz nahm, vergessen waren. Er würde es selber jetzt nicht
-geleugnet haben, daß er alles damals schon gewußt hatte. Aber trotzdem
-rechnete er seinen Entschluß, Dunja zu sich zu erheben, hoch an und
-hielt ihn für eine große Tat. Indem er dies gegen Dunja aussprach,
-drückte er einen geheimen längst gehegten Gedanken aus, an dem er mehr
-als einmal sich selber erbaut hatte, und er konnte es nicht begreifen,
-daß die anderen seine große Tat nicht mit gleicher Bewunderung ansahen.
-Als er damals Raskolnikoff einen Besuch machte, kam er mit den Gefühlen
-eines Wohltäters, der sich anschickt, die Früchte seiner Taten zu ernten
-und schmeichelhaftes Lob zu hören. Auch jetzt, als er die Treppe
-hinabstieg, hielt er sich selbstverständlich für im höchsten Grade
-gekränkt und verkannt.
-
-Dunja hatte er einfach nötig; es war ihm undenkbar, auf sie zu
-verzichten. Lange schon, seit einigen Jahren, träumte er mit Behagen von
-einer Heirat, aber er sparte fortwährend noch mehr Geld und wartete. Er
-dachte mit Begeisterung in seinen geheimsten Träumen an ein
-wohlgesittetes und armes (sie mußte unbedingt arm sein) Mädchen, das
-jung, sehr hübsch, aus guter Familie, gebildet, sehr eingeschüchtert
-sein mußte, das außerordentlich viel Unglück durchgemacht hatte und das
-sich vor ihm vollkommen beugen würde, an ein solches Mädchen, das ihr
-ganzes Leben lang ihn als ihren Retter ansehen, ihn verehren, sich ihm
-unterordnen und ihn, nur ihn allein bewundern würde. Wieviel Szenen,
-wieviel wonnige Episoden hatte er sich in der Phantasie über dieses
-verführerische und reizende Thema ausgemalt, wenn er in aller Stille von
-der Arbeit ausruhte! Und siehe da, der Traum von so viel Jahren wurde
-fast ganz zur Wirklichkeit, -- die Schönheit und die Bildung Awdotja
-Romanownas hatten ihn überrascht, und ihre hilflose Lage reizte ihn aufs
-äußerste. Hier war mehr noch vorhanden, als er geträumt hatte; er hatte
-ein stolzes, charakterfestes, tugendhaftes Mädchen getroffen, das an
-Erziehung und Bildung höher stand, als er selber (das fühlte er), und
-solch ein Wesen wird ihm ihr ganzes Leben wegen seiner großen Tat
-sklavisch dankbar sein und in Verehrung sich vor ihm in den Staub
-werfen, er aber wird grenzenlos und unbedingt über sie herrschen ... Als
-hätte es so sein müssen, hatte er sich kurz vorher nach langem Wägen und
-Warten entschlossen, seine Laufbahn zu ändern und in einen größeren
-Wirkungskreis überzugehen, um gleichzeitig allmählich in die höhere
-Gesellschaft, an die er lange schon mit Sehnsucht gedacht hatte,
-hineinzukommen ... Mit einem Worte, er entschloß sich, es in Petersburg
-zu versuchen. Er wußte, daß man durch Frauen sehr viel machen konnte.
-Der Zauber einer reizenden, tugendhaften und gebildeten Frau konnte
-wunderbar seinen Weg ebnen, Leute an ihn heranziehen, ihm einen
-Glorienschein verleihen ... und nun war alles zerstört! Dieser
-plötzliche abscheuliche Bruch traf ihn wie ein Donnerschlag. Aber es war
-ein schlechter Spaß, war Unsinn! Er hat doch nur ein bißchen
-übertrieben; er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich auszusprechen, er
-hatte bloß gescherzt, ließ sich ein wenig gehen, und es hat so ein
-ernstes Ende genommen! Und schließlich, er liebte doch Dunja in seiner
-Weise, er herrschte schon über sie in seinen Träumen, -- und nun
-plötzlich dieses! ... Nein! Morgen, morgen schon muß alles wieder
-ausgeglichen, aufgeklärt und gutgemacht werden, Hauptsache war -- diesen
-aufgeblasenen Milchbart, der an allem Schuld war, zu vernichten. Mit
-Unbehagen dachte er plötzlich an Rasumichin ... aber er beruhigte sich
-gleich -- »es fehlte gerade noch, daß auch er auf eine Stufe mit ihm
-gestellt würde!« Wen er aber tatsächlich allen Ernstes fürchtete -- war
-Sswidrigailoff ... Mit einem Worte, es standen viel Mühe und Sorgen
-bevor ...
-
- * * * * *
-
-»Nein, ich, ich bin am meisten schuld!« sagte Dunja, umarmte und küßte
-die Mutter, »ich habe mich von seinem Gelde verlocken lassen, aber ich
-schwöre dir, Bruder, -- ich konnte nicht glauben, daß er so unwürdig
-ist. Hätte ich ihn vorher erkannt, hätte ich mich um alles in der Welt
-nicht verlocken lassen! Klage mich nicht an, Bruder!«
-
-»Gott hat uns gerettet! Gott hat uns gerettet!« murmelte Pulcheria
-Alexandrowna, aber wie unbewußt, als hätte sie noch nicht ganz
-begriffen, was vorgefallen war.
-
-Alle freuten sich, und nach fünf Minuten lachten sie sogar. Zuweilen
-erblaßte Dunetschka ein wenig und verzog die Augenbrauen bei der
-Erinnerung an das Vorgefallene. Pulcheria Alexandrowna konnte es nicht
-begreifen, daß sie sich auch freute; der Bruch mit Luschin war ihr heute
-früh noch als ein schreckliches Unglück erschienen. Rasumichin aber war
-entzückt. Er wagte noch nicht ganz sein Entzücken zu äußern, aber er
-bebte am ganzen Körper wie im Fieber, als hätte sich eine zentnerschwere
-Last von seinem Herzen gelöst. Jetzt hat er das Recht, ihnen sein ganzes
-Leben hinzugeben, ihnen zu dienen ... und noch mehr. -- Aber sofort
-jagte er ängstlich alle Zukunftsgedanken fort, er fürchtete sich vor
-seiner Phantasie. Nur Raskolnikoff allein saß auf demselben Platze, fast
-düster und zerstreut. Er, der am meisten auf den Bruch mit Luschin
-bestanden hatte, schien sich jetzt am allerwenigsten für das
-Vorgefallene zu interessieren. Dunja dachte unwillkürlich, daß er immer
-noch sehr böse auf sie sei, und Pulcheria Alexandrowna betrachtete ihn
-ängstlich.
-
-»Was hat dir denn Sswidrigailoff gesagt?« trat Dunja an ihn heran.
-
-»Ach ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
-
-Raskolnikoff erhob den Kopf.
-
-»Er will dir unbedingt zehntausend Rubel schenken und äußert dabei den
-Wunsch, dich einmal in meiner Gegenwart zu sehen.«
-
-»Sie zu sehen! Um keinen Preis in der Welt!« rief Pulcheria
-Alexandrowna, »und wie wagt er es, ihr Geld anzubieten!«
-
-Darauf teilte Raskolnikoff ziemlich trocken sein Gespräch mit
-Sswidrigailoff mit, wobei er von dem Erscheinen Marfa Petrownas als
-Gespenst nichts erwähnte, um nicht zu weit zu gehen, und weil er einen
-Widerwillen empfand, irgendeine Unterhaltung, außer der notwendigsten,
-zu führen.
-
-»Was hast du ihm geantwortet?« fragte Dunja.
-
-»Ich sagte zuerst, daß ich dir keine Mitteilung machen wolle. Darauf
-erklärte er mir, daß er dann selbst mit allen Mitteln versuchen werde,
-dich zu sehen. Er beteuerte, daß seine Leidenschaft zu dir eine Torheit
-gewesen sei und daß er jetzt dir gegenüber nichts mehr empfinde ... Er
-will nicht, daß du Luschin heiratest ... Er sprach überhaupt verworren.«
-
-»Wie erklärst du ihn dir, Rodja? Wie ist er dir erschienen?«
-
-»Ich muß gestehen, daß ich mir nicht so ganz klar über ihn bin. Er
-bietet zehntausend an, sagt aber selbst, er sei nicht reich. Er erklärt,
-daß er irgendwohin reisen will, und nach zehn Minuten vergißt er, daß er
-darüber gesprochen hat. Plötzlich sagt er auch, daß er heiraten will und
-daß man ihm schon eine Braut freit ... Sicher hat er Absichten und am
-wahrscheinlichsten -- schlimme ... Aber wieder ist es sonderbar
-anzunehmen, daß er so dumm die Sache anfassen würde, wenn er dir
-gegenüber schlimme Absichten hätte ... Ich habe selbstverständlich
-dieses Geld in deinem Namen ein für allemal ausgeschlagen. Überhaupt
-erschien er mir sehr eigentümlich und ... sogar ... mit Anzeichen von
-Geistesstörung. Ich kann mich jedoch auch irren; er kann einfach
-geschwindelt haben. Der Tod von Marfa Petrowna scheint aber einen
-Eindruck auf ihn gemacht zu haben ...«
-
-»Gott schenke ihrer Seele Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna, »ich will
-ewig, ewig für sie zu Gott beten! Nun, wie würde es mit uns jetzt
-stehen, Dunja, ohne diese dreitausend Rubel! Mein Gott, sie sind wie vom
-Himmel geschickt! Ach, Rodja, wir hatten ja am Morgen im ganzen noch
-drei Rubel, und ich überlegte mit Dunetschka die ganze Zeit, wie wir am
-schnellsten irgendwo die Uhr versetzen könnten, um bloß nicht von diesem
-... zu fordern, bis es ihm selbst in den Sinn kommt.«
-
-Dunja hatte das Anerbieten Sswidrigailoffs zu stark überrascht. Sie
-stand die ganze Zeit in Gedanken versunken.
-
-»Er hat irgend etwas Schreckliches im Sinn!« sagte sie fast im
-Flüstertone zu sich selbst und schauderte.
-
-Raskolnikoff bemerkte diese maßlose Furcht.
-
-»Ich glaube, ich werde ihn noch einmal sehen,« sagte er zu Dunja.
-
-»Wir wollen ihn beobachten! Ich werde ihn finden!« rief Rasumichin
-energisch. »Ich will mein Auge nicht von ihm lassen! Rodja hat es mir
-erlaubt. Er hat mir selbst vorhin gesagt: Beschütze die Schwester! Und
-wollen Sie es auch erlauben, Awdotja Romanowna?«
-
-Dunja lächelte und reichte ihm die Hand, aber die Sorge verließ nicht
-ihr Gesicht. Pulcheria Alexandrowna blickte sie schüchtern an; die
-dreitausend Rubel hatten sie sichtlich beruhigt.
-
-Nach einer Viertelstunde waren alle in lebhaftester Unterhaltung. Sogar
-Raskolnikoff hörte einige Zeit aufmerksam zu, obwohl er sich nicht am
-Gespräch beteiligte.
-
-Rasumichin redete in einem fort.
-
-»Und warum, warum sollen Sie abreisen!« ergoß er sich mit Wonne in einer
-begeisterten Rede, »und was wollen Sie in dem Städtchen machen? Und die
-Hauptsache, Sie leben alle hier zusammen, und der eine besucht den
-anderen, ... braucht ihn sehr, verstehen Sie mich! So versuchen Sie es
-wenigstens eine Weile ... Mich nehmen Sie als Ihren Freund, als
-Kompagnon, und ich versichere Sie, wir wollen ein ausgezeichnetes
-Unternehmen gründen. Hören Sie, ich will Ihnen alles genau erklären, --
-das ganze Projekt mit allen Details! Schon heute Morgen, als noch nichts
-vorgefallen war, kam es mir in den Sinn ... Sehen Sie, die Sache besteht
-aus folgendem, -- ich habe einen Onkel, -- ich will Sie mit ihm bekannt
-machen, ein ausgezeichneter und verehrungswürdiger alter Herr, -- und
-dieser Onkel hat ein Vermögen von tausend Rubel, er selbst lebt von
-seiner Pension und leidet keine Not. Fast zwei Jahre schon quält er
-mich, daß ich diese tausend Rubel für ihn anlegen und ihm sechs Prozent
-dafür zahlen soll. Ich weiß ja, wie der Hase läuft, -- er will mir
-einfach helfen; im vorigen Jahre aber brauchte ich es nicht, in diesem
-Jahre jedoch wartete ich bloß auf seine Ankunft und habe mich
-entschlossen, es anzunehmen. Sie geben dann das zweite Tausend von Ihren
-drei, und sehen Sie, das genügt für den Anfang, und wir verbünden uns.
-Was machen wir aber damit?«
-
-Und nun begann Rasumichin sein Projekt zu entwickeln und redete viel
-darüber, wie wenig fast alle unsere Buchhändler und Verleger von ihrer
-Sache verstehen, darum seien sie auch gewöhnlich schlechte Verleger,
-während anständige Buchausgaben sich sicher bezahlt machten und einen
-zuweilen bedeutenden Nutzen abwürfen. Von der Tätigkeit eines Verlegers
-träumte also Rasumichin; er hatte schon zwei Jahre für andere gearbeitet
-und beherrschte drei europäische Sprachen recht gut, wenn er auch vor
-sechs Tagen Raskolnikoff erklärt hatte, daß er im Deutschen »schwach«
-sei, aber das tat er, um ihn zu bewegen, die Hälfte der
-Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen. Er log
-damals, und Raskolnikoff wußte, daß er log.
-
-»Warum denn sollen wir unseren eigenen Vorteil versäumen, wenn wir
-plötzlich eines der Hauptmittel besitzen, -- und zwar eigenes Geld?«
-ereiferte sich Rasumichin. »Gewiß, man muß viel arbeiten, aber wir
-wollen arbeiten, Sie, Awdotja Romanowna, ich, Rodion ... manche
-Buchausgaben rentieren jetzt prächtig! Und die Hauptunterlage des
-Unternehmens besteht darin, daß wir wissen werden, was gerade übersetzt
-werden muß. Wir wollen übersetzen und verlegen und lernen, alles
-zusammen. Jetzt kann ich nützlich sein, denn ich habe darin Erfahrung.
-Es sind bald zwei Jahre, seit ich bei den Verlegern herumlaufe, und ich
-kenne alle ihre Schliche; es ist keine Hexerei, glauben Sie mir! Und
-warum soll man nicht nach dem Bissen greifen! Ich kenne selbst und
-bewahre es als ein Geheimnis, zwei oder drei solcher Werke; für den
-Gedanken allein, sie zu übersetzen und zu verlegen, kann man hundert
-Rubel für jedes Buch nehmen, und das eine Werk, die Idee allein schon,
-gebe ich nicht um fünfhundert Rubel. Was meinen Sie, wenn ich es jemand
-mitteilen würde, so ein Holzklotz täte vielleicht noch daran zweifeln.
-Und was die geschäftlichen Dinge -- Druckerei, Papier, Verkauf --
-anbetrifft, so überlassen Sie dies mir. Ich kenne alle Schliche! Wir
-wollen mit kleinem anfangen und großes erreichen; wenigstens ernähren
-können wir uns und erhalten in jedem Falle unser Geld zurück.«
-
-Dunjas Augen leuchteten.
-
-»Was Sie vorbringen, gefällt mir sehr, Dmitri Prokofjitsch,« sagte sie.
-
-»Ich verstehe hiervon gar nichts,« sagte Pulcheria Alexandrowna,
-»vielleicht ist es auch gut, aber Gott weiß. Es ist neu und unbekannt.
-Gewiß müssen wir hierbleiben, wenigstens eine Zeitlang ...«
-
-Sie blickte Rodja an.
-
-»Was meinst du, Bruder?« sagte Dunja.
-
-»Ich meine, daß er einen sehr guten Gedanken hat,« antwortete er. »Von
-einer Firma muß man selbstverständlich vorher nicht träumen, aber fünf
-oder sechs Bücher kann man tatsächlich mit zweifellosem Erfolg verlegen.
-Ich kenne auch selbst ein Werk, das unbedingt gehen wird. Und daß er die
-Sache zu leiten versteht, unterliegt keinem Zweifel, -- er versteht die
-Sache ... Übrigens habt ihr noch Zeit, euch zu besprechen ...«
-
-»Hurra!« rief Rasumichin. »Warten Sie, hier im selben Hause und bei
-denselben Wirtsleuten ist eine Wohnung frei. Sie ist ganz abgeschlossen,
-hat mit diesen Zimmern keine Verbindung und besteht aus drei möblierten
-Stuben, der Preis ist mäßig. Die können Sie fürs erste nehmen. Die Uhr
-will ich für Sie morgen versetzen und Ihnen das Geld bringen und das
-weitere wird sich finden. Die Hauptsache aber ist, daß Sie alle drei
-zusammen leben können, auch Rodja mit Ihnen. Wohin willst du denn,
-Rodja?«
-
-»Wie, Rodja, gehst du schon fort?« fragte Pulcheria Alexandrowna
-erschreckt.
-
-»In solch einem Augenblick!« rief Rasumichin.
-
-Dunja blickte den Bruder mit mißtrauischem Erstaunen an. Er hielt die
-Mütze in den Händen und schickte sich an, wegzugehen.
-
-»Ihr tut ja, als ob ihr mich beerdigen oder auf ewig Abschied nehmen
-müßtet,« sagte er eigentümlich.
-
-Er wollte lächeln, aber dieses Lächeln gelang ihm schlecht.
-
-»Wer weiß, vielleicht sehen wir uns auch zum letztenmal,« fügte er
-unvermutet hinzu.
-
-Er wollte es bloß denken, doch die Worte entschlüpften ihm.
-
-»Um Gottes willen, was ist mit dir!« rief die Mutter aus.
-
-»Wohin willst du gehen, Rodja?« fragte ihn Dunja in angstvollem Tone.
-
-»Ich muß jetzt fortgehen,« antwortete er unklar, als sei er im Zweifel,
-was er sagen wollte.
-
-In seinem bleichen Gesichte drückte sich eine feste Entschlossenheit
-aus.
-
-»Ich wollte sagen ... als ich hierher ging ... ich wollte Ihnen, Mama
-... und dir, Dunja, sagen, daß es besser sei, wenn wir uns für eine
-Zeitlang trennen. Ich fühle mich nicht wohl, ich bin unruhig ... ich
-will später wiederkommen, ich werde von selbst kommen, wenn ... es mir
-möglich sein wird. Ich denke an euch und liebe euch ... Doch laßt mich!
-Laßt mich allein! Ich habe es so beschlossen, schon früher ... Ich habe
-es bestimmt beschlossen ... Was mit mir auch geschieht, ob ich zugrunde
-gehen werde oder nicht, ich will allein sein. Vergeßt mich ganz und gar.
-Es ist so am besten. Erkundigt euch auch nicht nach mir. Wenn es nötig
-sein wird, komme ich von selbst oder ... ich rufe euch. Vielleicht wird
-noch alles gut! ... Jetzt aber sagt euch von mir los, wenn ihr mich
-liebt ... Sonst muß ich euch hassen, ich fühle es ... Lebt wohl!«
-
-»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.
-
-Die Mutter und die Schwester waren furchtbar erschrocken; Rasumichin
-ebenfalls.
-
-»Rodja, Rodja! Versöhne dich mit uns, wir wollen wieder wie früher
-sein!« rief die arme Mutter aus.
-
-Er wandte sich langsam der Türe zu und ging langsam hinaus. Dunja holte
-ihn ein.
-
-»Bruder! Was tust du deiner Mutter an!« flüsterte sie, und ihr Blick
-leuchtete vor Empörung.
-
-Er schaute sie schwermütig an.
-
-»Es hat nichts zu bedeuten, ich komme, ich werde kommen!« murmelte er
-halblaut, als ob er sich nicht völlig bewußt sei, was er sagen wollte,
-und ging aus dem Zimmer.
-
-»Gefühlloser, böser Egoist!« rief Dunja.
-
-»Er ist ver--rückt und nicht gefühllos! Er ist geistesgestört! Sehen Sie
-es denn nicht? Sonst sind Sie gefühllos! ...« flüsterte Rasumichin ihr
-zu und drückte stark ihre Hand.
-
-»Ich komme sofort!« wandte er sich an die erstarrte Pulcheria
-Alexandrowna und lief aus dem Zimmer. Raskolnikoff erwartete ihn am Ende
-des Korridors.
-
-»Ich wußte, daß du mir nachgehen wirst,« sagte er. »Gehe zu ihnen zurück
-und bleibe bei ihnen ... Sei auch morgen bei ihnen ... und stets. Ich
-komme ... vielleicht ... wenn ich kann. Leb wohl!«
-
-Und ohne ihm die Hand zu reichen, ging er weiter.
-
-»Ja, wohin gehst du? Was ist mit dir? Was ist geschehen? Kann man denn
-so! ...« murmelte Rasumichin fassungslos.
-
-Raskolnikoff blieb noch einmal stehen.
-
-»Ich sage dir ein für allemal, -- frage mich nicht und über nichts. Ich
-habe dir nichts zu antworten ... Komme nicht zu mir. Vielleicht komme
-ich selbst hierher ... Laß mich ... sie aber _verlasse nicht_. Verstehst
-du?«
-
-Es war ziemlich dunkel auf dem Korridor, sie standen unter einer
-spärlich brennenden Lampe. Eine Minute blickten sie einander schweigend
-an. Rasumichin erinnerte sich sein ganzes Leben dieser Minute. Der
-brennende und starre Blick Raskolnikoffs schien mit jedem Momente sich
-zu verstärken und drang in seine Seele und in sein Bewußtsein. Da zuckte
-Rasumichin zusammen. Ein fürchterliches Etwas trat zwischen sie ... Ein
-Gedanke, spürbar wie ein Hauch; ein schauerlicher gräßlicher Gedanke von
-beiden gedacht, von beiden verstanden ... Rasumichin wurde bleich wie
-ein Toter.
-
-»Verstehst du jetzt?« sagte Raskolnikoff plötzlich mit schmerzlich
-verzogenem Gesichte. »Kehre zurück, gehe zu ihnen,« fügte er sofort
-hinzu, drehte sich schnell um und verließ das Haus.
-
-Ich will nicht beschreiben, was an diesem Abend bei Pulcheria
-Alexandrowna geschah, wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie
-beruhigte, wie er schwur, daß man Rodja in seiner Krankheit Ruhe geben
-müsse, wie er schwur, daß Rodja unbedingt kommen würde, daß er jeden Tag
-herkommen würde, daß er sehr, sehr aufgeregt sei, daß man ihn nicht
-reizen dürfe; wie er, Rasumichin, auf ihn aufpassen werde, ihm einen
-guten Arzt, den besten, ein ganzes Konsilium verschaffen werde ... Mit
-einem Worte, Rasumichin wurde an diesem Abend ihr Sohn und Bruder. --
-
-
- IV.
-
-Raskolnikoff aber ging direkt zu dem Hause am Kanal, wo Ssonja wohnte.
-Es war ein dreistöckiges Haus, alt und grün angestrichen. Er suchte den
-Hausknecht auf und erhielt von ihm die ungefähre Auskunft, wo der
-Schneider Kapernaumoff wohne. Er fand in einer Ecke auf dem Hofe einen
-Eingang zu einer schmalen, dunklen Treppe, er stieg zum zweiten Stock
-hinauf und kam auf eine Galerie, die das Haus auf der Hofseite umgab.
-Während er in der Dunkelheit und voll Ungewißheit, wo der Eingang zu
-Kapernaumoff sein könne, herumirrte, öffnete sich plötzlich drei
-Schritte von ihm eine Türe; er griff mechanisch nach ihr.
-
-»Wer ist da?« fragte eine weibliche Stimme ängstlich.
-
-»Ich bin es ... komme zu Ihnen,« antwortete Raskolnikoff und trat in ein
-winziges Vorzimmer ein. Hier brannte auf einem durchgesessenen Stuhle
-ein Licht in einem kupfernen Leuchter.
-
-»Sie sind es! Oh, Gott!« rief Ssonja mit schwacher Stimme und blieb wie
-versteinert stehen.
-
-»Wo geht es in Ihr Zimmer? Hier?«
-
-Raskolnikoff suchte nicht ihren Blick und ging schnell in ihr Zimmer
-hinein.
-
-Nach einer Minute kam auch Ssonja mit dem Lichte, stellte es hin und
-blieb vor ihm stehen, vollkommen verwirrt, in einer unbeschreiblichen
-Aufregung und sichtbar erschrocken durch seinen unerwarteten Besuch.
-Eine Röte stieg in ihr bleiches Gesicht, und Tränen traten in ihre Augen
-... Es war ihr schwer zumute, sie schämte sich auch, und doch war es ihr
-lieb ... Raskolnikoff wandte sich schnell von ihr ab und setzte sich auf
-einen Stuhl neben dem Tisch. Er fand Zeit, einen flüchtigen Blick auf
-das Zimmer zu werfen.
-
-Es war ein großes Zimmer, aber außerordentlich niedrig, das einzige
-Zimmer, das Kapernaumoffs vermieteten; in der Wand links war eine
-verschlossene Tür, die zu ihnen führte. Auf der entgegengesetzten Seite,
-rechts in der Wand, befand sich noch eine Tür, die immer verschlossen
-war. Hinter ihr war eine andere Wohnung unter einer anderen Nummer.
-Ssonjas Zimmer glich einer Scheune, hatte die Gestalt eines
-unregelmäßigen Vierecks, was ihm etwas Eigentümliches verlieh. Die eine
-Wand mit drei Fenstern, die auf den Kanal hinausgingen, durchschnitt das
-Zimmer etwas schief, wodurch die eine Ecke sehr spitz war und in der
-Tiefe verlief, so daß man bei schwacher Beleuchtung sie nicht gut
-überschauen konnte; die andere Ecke war wieder häßlich stumpf. In diesem
-ganzen Zimmer waren fast gar keine Möbel. In einer Ecke rechts war ein
-Bett, neben ihm näher zur Türe ein Stuhl. An derselben Wand, wo das Bett
-war, standen an der Türe gegen die fremde Wohnung ein einfacher Tisch,
-bedeckt mit einem blauen Tischtuche und daneben zwei geflochtene Stühle.
-An der entgegengesetzten Wand, in der Nähe der spitzen Ecke, befand sich
-eine kleine Kommode aus einfachem Holze, verloren wie in einer Wüste.
-Das war das ganze Mobiliar. Die gelblichen, abgerissenen und
-beschmutzten Tapeten waren an allen Ecken schwarz geworden; im Winter
-mußte es hier feucht und dunstig sein. Die Armut war offensichtlich;
-selbst am Bette waren keine Gardinen angebracht.
-
-Ssonja blickte schweigend ihren Besucher an, der so aufmerksam und
-ungeniert ihr Zimmer betrachtete und begann vor Angst zu zittern, als
-stände sie vor einem Richter, der über ihr Schicksal entscheiden sollte.
-
-»Ich komme spät ... Es ist wohl schon elf Uhr?« fragte er sie und erhob
-noch immer nicht die Augen zu ihr.
-
-»Ja,« murmelte Ssonja. »Ach, ja, es ist soviel!« beeilte sie sich zu
-sagen, als wäre es ein Ausweg, »soeben schlug bei dem Hauswirte die Uhr
-... und ich habe die Schläge gezählt ... Es ist soviel.«
-
-»Ich komme zum letztenmal zu Ihnen,« fuhr Raskolnikoff düster fort,
-obwohl es doch zum erstenmal war, daß er hier war, »ich werde Sie
-vielleicht nicht mehr sehen ...«
-
-»Reisen Sie ... fort?«
-
-»Ich weiß es nicht ... alles hängt von morgen ab ...«
-
-»Also, Sie werden morgen nicht bei Katerina Iwanowna sein?« bebte
-Ssonjas Stimme.
-
-»Ich weiß es nicht. Alles hängt von morgen früh ab ... Aber darum
-handelt es sich nicht, ich bin gekommen, Ihnen ein paar Worte zu sagen
-...«
-
-Er erhob seinen nachdenklichen Blick zu ihr auf und bemerkte jetzt erst,
-daß er saß, während sie noch immer vor ihm stand.
-
-»Warum stehen Sie denn? Setzen Sie sich doch,« sagte er mit veränderter
-Stimme leise und weich.
-
-Sie setzte sich. Er blickte sie freundlich, fast mitleidig eine Minute
-an.
-
-»Wie mager Sie sind! Sehen Sie nur Ihre Hand! Ganz durchsichtig. Diese
-Finger, wie bei einer Toten.«
-
-Er nahm ihre Hand. Ssonja lächelte schwach.
-
-»Ich war immer so,« sagte sie.
-
-»Auch, als Sie zu Hause lebten?«
-
-»Ja.«
-
-»Ach, selbstverständlich ja!« sagte er abgerissen, und sein
-Gesichtsausdruck und der Ton seiner Stimme veränderten sich wieder.
-
-Er blickte sich noch einmal um.
-
-»Sie mieteten das Zimmer von Kapernaumoff?«
-
-»Ja ...«
-
-»Diese wohnen dort hinter der Türe?«
-
-»Ja ... Sie haben auch ein solches Zimmer.«
-
-»Sie leben alle in einem Zimmer?«
-
-»Ja, in einem Zimmer.«
-
-»Ich würde mich nachts in Ihrem Zimmer fürchten,« bemerkte er düster.
-
-»Die Wirtsleute sind sehr gut, sehr freundlich,« antwortete Ssonja, die
-immer noch nicht zu sich gekommen schien und seine Bemerkung nicht
-verstanden hatte, »und alle Möbel und alles ... alles gehört den
-Wirtsleuten. Sie sind sehr gut, und die Kinder kommen auch oft zu mir
-...«
-
-»Die stotternden?«
-
-»Ja ... Er stottert auch und ist dazu auch lahm. Und die Frau auch ...
-Das heißt, sie stottert nicht so sehr, sie spricht bloß nicht alles aus.
-Sie ist sehr gut. Er ist früher Leibeigener gewesen. Und sie haben
-sieben Kinder ... und bloß der Älteste stottert, die anderen sind nur
-immer krank ... stottern nicht ... Woher wissen Sie das aber?« fügte sie
-ein wenig verwundert hinzu.
-
-»Ihr Vater hat es mir damals erzählt. Er hat mir auch alles über Sie
-erzählt ... Auch davon, wie Sie um sechs Uhr fortgingen und um neun
-zurückkamen, auch, wie Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien
-gelegen hat.«
-
-Ssonja wurde verlegen.
-
-»Mir schien es, als hätte ich ihn heute gesehen,« flüsterte sie
-unentschlossen.
-
-»Wen?«
-
-»Den Vater. Ich ging in die Straße dort, nebenan, an der Ecke in der
-zehnten Stunde, und er schien vor mir zu gehen, ganz, als wäre er es.
-Ich wollte eben zu Katerina Iwanowna hingehen ...«
-
-»Waren Sie spazieren gegangen?«
-
-»Ja,« flüsterte Ssonja abgerissen, wurde wieder verlegen und senkte die
-Augen.
-
-»Katerina Iwanowna hat Sie doch wohl geschlagen, als Sie beim Vater
-lebten?«
-
-»Ach nein, wie kommen Sie darauf, nein, nein!« Ssonja blickte ihn voll
-Schrecken an.
-
-»Also, Sie lieben sie?«
-
-»Sie? Warum denn nicht!« sagte Ssonja klagend und faltete mit leidendem
-Ausdruck die Hände. »Ach! Sie ... Wenn Sie nur wüßten. Sie ist ja ganz
-wie ein Kind ... Ihr Verstand ist ja wie gestört ... vor lauter Kummer.
-Und wie sie klug war ... wie großmütig ... wie gut! Sie wissen nichts,
-nichts ... ach!«
-
-Ssonja sagte dies wie in Verzweiflung, aufgeregt, darunter leidend und
-händeringend. Ihre bleichen Wangen erröteten wieder und in ihren Augen
-drückte sich eine tiefe Qual aus. Man sah, daß in ihr sehr vieles durch
-seine Worte wachgerufen worden war und daß sie gern etwas äußern und
-sagen und für Katerina Iwanowna eintreten wollte. Ein _unerschöpfliches_
-Mitleid, wenn man sich so ausdrücken darf, lag in ihrem Gesichte.
-
-»Sie soll mich geschlagen haben! Ja, wie kommen Sie dazu! Oh, Gott, sie
-mich schlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre dabei!
-Was wäre dabei! Sie wissen nichts, gar nichts ... Sie ist so
-unglücklich, ach, wie unglücklich sie ist! Und sie ist krank ... Sie
-sucht Gerechtigkeit ... Sie ist rein. Sie glaubt so daran, daß in allem
-Gerechtigkeit sein müsse und verlangt sie ... Und Sie können sie quälen,
-sie wird nichts Ungerechtes tun. Sie merkt selbst nicht, wie unmöglich
-es ist, daß es unter den Menschen gerecht zugehe und ist reizbar ... Sie
-ist wie ein Kind, wie ein Kind! Sie ist gerecht, gerecht!«
-
-»Und was wird mit Ihnen geschehen?«
-
-Ssonja blickte ihn fragend an.
-
-»Die Last ist doch auf Ihren Schultern geblieben. Es ist wahr, auch
-früher lag alles auf Ihren Schultern, und der Verstorbene kam auch zu
-Ihnen mit seinen Bitten, um zu einem Gläschen zu kommen. Aber was wird
-jetzt werden?«
-
-»Ich weiß es nicht,« erwiderte Ssonja traurig.
-
-»Werden sie dort bleiben?«
-
-»Ich weiß nicht, sie sind der Wirtin die Wohnung schuldig; und die
-Wirtin hat heute gesagt, ich hörte es, daß sie ihr kündigen will;
-Katerina Iwanowna jedoch sagte schon, daß sie auch selbst keinen
-Augenblick länger dort bleiben will.«
-
-»Aus welchem Grunde ist sie denn so tapfer? Hofft sie auf Sie?«
-
-»Ach, nein, sagen Sie nicht so etwas ... Wir leben zusammen, gehören
-zueinander,« Ssonja wurde wieder erregt und selbst gereizt, genau wie
-wenn ein Kanarienvogel oder ein anderer kleiner Vogel böse wird. »Ja,
-was soll sie denn tun? Was denn, was soll sie tun?« fragte sie, sich
-ereifernd und erregt. »Und wie, wie lange sie heute geweint hat! Ihr
-Verstand ist gestört, haben Sie es nicht gemerkt? Er ist gestört; bald
-regt sie sich wie ein Kind darüber auf, ob morgen auch alles anständig
-sei, die Speisen und alles da sei ... bald ringt sie die Hände, speit
-Blut, weint und schlägt die Stirne gegen die Wand aus lauter
-Verzweiflung. Dann wird sie wieder ruhiger, hofft auf Sie, -- sagt, daß
-Sie ihr ein Helfer sein werden und daß sie bei irgend jemand Geld leihen
-und nach ihrer Heimatsstadt mit mir reisen wird; sie will dort eine
-Pension für junge Mädchen aus guter Familie errichten, mich als
-Aufseherin anstellen, und ein ganz neues, schönes Leben soll für uns
-beginnen; sie küßt mich, umarmt und tröstet mich und glaubt fest an die
-Ausführung ihres Planes. Sie glaubt so stark an diese Träume. Kann man
-ihr denn da widersprechen? Und sie wusch, säuberte und besserte heute
-den ganzen Tag alles aus; hat selbst mit ihren schwachen Kräften eine
-Wanne ins Zimmer hereingeschleppt, geriet dabei außer Atem und fiel auf
-das Bett hin. Wir sind heute am frühen Morgen mit ihr in den Läden
-gewesen, um Poletschka und Lene Stiefel zu kaufen, denn die ihrigen sind
-ganz zerrissen, da reichte das Geld nach der Berechnung nicht aus, es
-fehlte noch sehr viel. Und sie hat so hübsche Stiefelchen ausgesucht,
-denn sie hat Geschmack, Sie glauben nicht ... Sie fing dort selbst in
-dem Laden, in Gegenwart der Verkäufer, zu weinen an, da das Geld nicht
-ausreichte ... Ach, wie leid es einem tat, sie zu sehen.«
-
-»Dann ist es begreiflich, daß Sie ... so leben,« sagte Raskolnikoff mit
-bitterem Lächeln.
-
-»Und tut es Ihnen denn nicht auch leid? Nicht auch weh?« fuhr Ssonja
-wieder fort. »Ich weiß doch, Sie haben selbst Ihr letztes abgegeben,
-ohne je wieder etwas davon zu sehen. Und wenn Sie erst alles wüßten, oh,
-Gott! Und wie oft, wie oft habe ich sie zu Tränen gereizt! In der
-vorigen Woche noch! Ach, ich ... Genau eine Woche vor seinem Tode. Ich
-habe grausam gehandelt! Und wie oft, wie oft war ich es! Ach, wie es weh
-tut, ich wurde heute den ganzen Tag daran erinnert!«
-
-Ssonja rang in schmerzlicher Erinnerung die Hände, während sie sprach.
-
-»Sie wollen grausam sein?«
-
-»Ja, ich, ich bin es! Ich kam damals hin,« fuhr sie weinend fort, »als
-der Verstorbene zu mir sagte, >lies mir vor, Ssonja,< sagte er, >mein
-Kopf tut mir etwas weh, lies mir vor ... hier ist ein Buch<, er hatte
-irgendein Buch von Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff erhalten; er
-wohnt auch dort und hat immer solche spaßige Bücher. Und ich sagte, >ich
-muß gehen<, wollte ihm also nicht vorlesen. Ich war hauptsächlich zu
-ihnen gekommen, um Katerina Iwanowna die Kragen zu zeigen, hübsche, neue
-und ausgewählte Kragen und Manschetten, die mir Lisaweta, eine
-Händlerin, billig besorgt hatte. Und Katerina Iwanowna gefielen sie
-sehr, sie legte einen Kragen um, besah sich im Spiegel, und sie gefielen
-ihr sehr. >Schenk sie mir, Ssonja,< sagte sie, >bitte schenk sie mir.<
-Sie hatte bitte gesagt, und sie wollte sie so gern haben. Wann soll sie
-aber die Kragen umlegen? Sie dachte nur an die frühere, glücklichere
-Zeit. Sie sah sich im Spiegel, betrachtete sich mit Wohlgefallen und hat
-doch keine passenden Kleider, gar keine Sachen dazu, -- wer weiß, wie
-viele Jahre schon! Und niemals wird sie etwas von jemand erbitten, --
-sie ist stolz und gibt eher das letzte fort, nun aber hatte sie mich
-gebeten, -- so hatten ihr die Kragen gefallen! Mir aber tat es leid sie
-wegzugeben. >Wozu brauchen Sie sie, Katerina Iwanowna<, sagte ich, so
-direkt: wozu? Das hätte ich ihr nicht sagen dürfen. Sie blickte mich
-schmerzlich an und wurde sehr traurig, daß ich sie ihr abgeschlagen
-hatte, und es war so traurig anzusehen ... Nicht der Kragen wegen,
-sondern weil ich es ihr abgeschlagen habe, ich hatte doch ... Ihnen ist
-dies doch gleichgültig!«
-
-»Haben Sie diese Händlerin Lisaweta gekannt?«
-
-»Ja ... Sie auch?« fragte Ssonja ihn mit einigem Erstaunen.
-
-»Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht im höchsten Grade, sie wird bald
-sterben,« sagte Raskolnikoff nach einigem Schweigen, ohne auf ihre Frage
-zu antworten.
-
-»Ach nein, nein, nein!« Und Ssonja ergriff unbewußt seine beiden Hände,
-als ob es an ihm läge, dies zu verhindern und als könnte sie das von ihm
-erflehen.
-
-»Es ist doch besser, wenn sie stirbt!«
-
-»Nein, es ist nicht, es ist gar nicht besser!« wiederholte sie
-erschrocken und ohne Überlegung.
-
-»Und was wird aus den Kindern? Sie werden sie sicher zu sich nehmen?«
-
-»Ach, ich weiß es nicht!« rief Ssonja fast in Verzweiflung aus und faßte
-sich an den Kopf.
-
-Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Male ihr aufgetaucht war und
-daß sie ihn immer wieder abgewiesen hatte.
-
-»Und wenn Sie noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten krank werden und man
-Sie ins Krankenhaus schafft, was dann?« drang er erbarmungslos weiter in
-sie.
-
-»Ach, wie ist es möglich! Das kann doch nicht sein!« und Ssonjas Gesicht
-verzog sich in furchtbarem Schrecken.
-
-»Wieso kann es nicht sein?« fuhr Raskolnikoff mit einem harten Lächeln
-fort. »Sie sind doch nicht davor geschützt? Was wird dann mit jenen
-geschehen? Sie werden auf die Straße alle zusammen gehen, Katerina
-Iwanowna wird husten und betteln und mit der Stirn an die Wand schlagen,
-wie heute, und die Kinder werden weinen ... Dann wird sie hinfallen, man
-bringt sie zur Wache, nachher ins Krankenhaus, nachher wird sie sterben,
-und was wird aus den Kindern ...«
-
-»Ach nein! ... Gott wird es nicht zulassen!« entrang es sich der
-zusammengeschnürten Brust Ssonjas.
-
-Sie hörte ihm ängstlich zu, blickte ihn flehend an und faltete in
-stummer Bitte die Hände, als hinge alles von ihm ab. Raskolnikoff stand
-auf und begann im Zimmer auf- und abzugehen. Es vergingen Minuten.
-Ssonja stand mit gesenktem Kopfe und herabhängenden Händen da in
-unsäglichem Leid.
-
-»Kann man nicht sparen? Einen Notgroschen sammeln?« fragte er und blieb
-vor ihr stehen.
-
-»Nein,« flüsterte Ssonja.
-
-»Versteht sich, nein! Haben Sie es aber auch schon versucht?« fragte er
-spöttisch.
-
-»Ich habe es versucht.«
-
-»Und es gelang nicht! Nun, das ist ja selbstverständlich! Was ist da
-noch zu fragen!«
-
-Und er wanderte wieder im Zimmer auf und nieder. Es verstrich wieder
-eine Weile.
-
-»Sie erhalten nicht jeden Tag Geld?«
-
-Ssonja wurde noch mehr betreten, und wieder stieg ihr das Blut ins
-Gesicht.
-
-»Nein,« flüsterte sie mit qualvoller Anstrengung.
-
-»Mit Poletschka wird sicher dasselbe geschehen,« sagte er plötzlich.
-
-»Nein, nein! Das darf nicht sein, unmöglich!« rief sie laut, vollkommen
-verzweifelt, als hätte man ihr einen Stich ins Herz gegeben. »Gott, Gott
-wird so was Schreckliches nicht zulassen! ...«
-
-»Bei Ihnen läßt er es doch zu.«
-
-»Nein, nein! Gott wird sie schützen! ...« wiederholte sie ganz außer
-sich.
-
-»Ja, vielleicht gibt es gar keinen Gott,« antwortete Raskolnikoff mit
-einem Anflug von Schadenfreude, lachte und blickte sie an. Ssonjas
-Gesicht verzerrte sich krampfhaft. Mit einem unbeschreiblichen Vorwurf
-schaute sie ihn an, wollte etwas sagen, konnte aber nichts
-herausbringen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte dann
-bitterlich.
-
-»Sie sagen, Katerina Iwanownas Verstand sei gestört. Ihr eigener ist
-auch gestört,« sagte er nach einigem Schweigen.
-
-Es vergingen wieder etwa fünf Minuten, während er schweigend auf und ab
-ging, ohne sie anzublicken. Endlich trat er an sie heran; seine Augen
-funkelten. Er packte sie mit beiden Händen an den Schultern und sah in
-ihr weinendes Gesicht. Seine Augen hatten einen heißen, trockenen,
-durchdringenden Blick, und seine Lippen bebten vor Erregung ...
-Plötzlich beugte er sich nieder, warf sich auf den Boden und küßte ihren
-Fuß. Ssonja fuhr entsetzt vor ihm zurück, wie vor einem Irrsinnigen. Er
-sah wirklich ganz wie ein Irrsinniger aus.
-
-»Was ist mit Ihnen, was tun Sie? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und
-ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
-
-Er stand sofort auf.
-
-»Ich habe mich nicht vor dir verneigt, sondern vor dem ganzen
-menschlichen Leiden,« sagte er mit eigentümlichem Ton und ging zum
-Fenster hin. »Höre,« setzte er hinzu, als er nach einem Augenblick zu
-ihr zurückkam, »ich habe vorhin zu einem bösen Menschen gesagt, daß er
-deinen kleinen Finger nicht wert sei ... und daß ich meiner Schwester
-heute eine Ehre erwiesen habe, indem ich sie neben dich hingesetzt habe
-...«
-
-»Ach, was haben Sie gesagt! Und in ihrer Gegenwart?« rief Ssonja
-erschrocken aus. »Neben mir zu sitzen! Eine Ehre! Ja, ich bin doch ...
-ehrlos ... Ach, warum haben Sie das gesagt?«
-
-»Nicht wegen deiner Ehrlosigkeit und Sünde habe ich es von dir gesagt,
-sondern wegen deines großen Leides. Daß du eine große Sünderin bist, ist
-wahr,« fügte er fast entzückt hinzu, »und am meisten bist du dadurch
-eine Sünderin, weil du dich _umsonst_ getötet und verkauft hast. Ist das
-nicht entsetzlich! Ist es nicht entsetzlich, daß du in diesem Schmutze
-lebst, den du so haßt und gleichzeitig es selbst weißt, -- man braucht
-dir nur die Augen zu öffnen -- daß du niemandem damit hilfst und
-niemanden dadurch rettest! Ja, sage mir doch endlich,« fuhr er fast in
-Wut fort, »wie kannst du solche Schande und solche Gemeinheit mit deinen
-anderen besten und heiligsten Gefühlen in dir vereinigen? Es wäre doch
-gerechter, tausendmal gerechter und vernünftiger, sich mit dem Kopfe
-voran ins Wasser zu stürzen und allem ein Ende zu machen!«
-
-»Und was wird mit ihnen allen geschehen?« fragte Ssonja mit schwacher
-Stimme, blickte ihn leidend an, zeigte aber über seinen Vorschlag gar
-kein Erstaunen. Raskolnikoff blickte sie eigentümlich an.
-
-Er hatte alles in ihrem Blicke gelesen. Auch sie hatte tatsächlich schon
-selbst diesen Gedanken gehabt. Vielleicht hatte sie sich in der
-Verzweiflung oft und ernstlich überlegt, dem Leben schneller ein Ende zu
-machen, so daß sie jetzt gar nicht über seinen Vorschlag erstaunt war.
-Sie hatte selbst die Härte seiner Worte nicht empfunden, auch den Sinn
-seiner Vorwürfe und seine besondere Ansicht über ihre Schande hatte sie
-nicht erfaßt, das konnte er sehen. Er aber begriff vollkommen, wie
-grauenhaft und schmerzlich sie schon seit langem der Gedanke an ihre
-ehrlose und schmachvolle Lage gequält hatte. Was aber war es, was konnte
-es sein, -- dachte er, -- das ihren Entschluß, mit einem Schlage allem
-ein Ende zu machen, aufhielt? Jetzt erst verstand er völlig, was für sie
-diese armen, kleinen verwaisten Kinder und diese beklagenswerte
-halbverrückte Katerina Iwanowna mit ihrer Schwindsucht und mit ihrer
-Verzweiflung bedeuteten.
-
-Aber ebenso klar war es ihm, daß Ssonja mit ihrem Charakter und ihrer
-Bildung, die sie doch immerhin genossen hatte, in keinem Falle weiter in
-dieser Lage aushalten konnte. Und dennoch blieb die Frage offen, -- wie
-hatte sie so lange, zu lange schon, in dieser Lage aushalten können,
-ohne den Verstand zu verlieren, wenn sie nicht die Kraft besaß, sich ins
-Wasser zu stürzen? Gewiß, er begriff, daß Ssonjas Lage eine häufige
-Erscheinung in der Gesellschaft war, und unglücklicherweise bei weitem
-keine einzelne Ausnahme. Aber dieser Umstand selbst, ihre Bildung und
-ihr ganzes vorheriges Leben hätten sie doch sofort beim ersten Schritt
-auf diesem widerwärtigen Wege töten müssen. Was hielt sie denn? Doch
-nicht die Unzucht? Diese ganze Schande hatte sie offenbar nur mechanisch
-berührt; die echte Unzucht war noch mit keinem Tropfen in ihr Herz
-gedrungen; er sah es; sie stand völlig rein vor ihm da ...
-
-»Sie hat drei Wege,« dachte er, »entweder sich in den Kanal zu stürzen,
-ins Irrenhaus zu kommen oder ... oder sich schließlich wirklich dem
-Laster zu ergeben, das den Verstand betäubt und das Herz versteinert«.
-
-Der letzte Gedanke war ihm am widerwärtigsten; aber er war schon zu sehr
-Skeptiker, er war jung, abstrakt und somit grausam, darum mußte er auch
-glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt das Laster, am
-allerwahrscheinlichsten sei.
-
-»Aber ist es denn möglich,« rief er innerlich aus, »soll sich auch
-dieses Wesen, das sich noch die Reinheit des Herzens bewahrt hat, bewußt
-in diesen abscheulichen stinkenden Schlamm hinabziehen lassen? Hat diese
-Erniedrigung schon begonnen und konnte sie etwa dieses Leben schon aus
-diesem Grunde leben, weil das Laster ihr nicht mehr widerwärtig
-erschien? Nein, nein, es kann nicht sein!« rief er bei sich aus, wie
-vorhin Ssonja laut gerufen, »nein, vom Wasser hielt sie bis jetzt der
-Gedanke an die Sünde zurück und an _jene_ ... Wenn sie aber bis jetzt
-den Verstand nicht verloren hat ... aber wer sagt es denn, daß sie den
-Verstand noch nicht verloren hat? Ist sie denn bei gesundem Verstande?
-Kann man denn so reden, wie sie es tut? Kann man denn bei gesundem
-Verstande so urteilen, wie sie es tut? Kann man denn so über dem
-Abgrunde, über dem stinkenden Schlamm sitzen und in der Gefahr, jeden
-Augenblick hineingezogen zu werden, trotzdem mit den Händen sich gegen
-die Mahnungen wehren und sich die Ohren zuhalten? Was, erwartet sie etwa
-ein Wunder? Sicher, so ist es. Sind dies nicht Anzeichen von
-Geistesstörung?«
-
-Er blieb hartnäckig bei diesem Gedanken stehen. Dieser Ausweg gefiel ihm
-sogar besser, als jeder andere. Er begann sie aufmerksamer zu
-betrachten.
-
-»Also du betest sehr oft zu Gott, Ssonja?« fragte er sie.
-
-Ssonja schwieg, er stand neben ihr und wartete auf die Antwort.
-
-»Was wäre ich denn ohne Gott?« flüsterte sie schnell und energisch,
-indem sie ihn flüchtig mit funkelnden Augen anblickte und seine Hand
-stark drückte.
-
-»Ja, es ist so, wie ich gedacht!« sagte er zu sich.
-
-»Und was tut Gott dir dafür?« fragte er sie weiter ausforschend.
-
-Ssonja schwieg lange, als könnte sie nicht antworten. Ihre schwache
-Brust hob und senkte sich in heftiger Aufregung.
-
-»Schweigen Sie! Fragen Sie nicht! Sie sind es nicht wert ...« rief sie
-plötzlich und sah ihn streng und zornig an.
-
-»Es ist so! Es ist so!« wiederholte er hartnäckig vor sich hin.
-
-»Alles tut er!« flüsterte sie schnell und schlug wieder die Augen
-nieder.
-
-»Das ist ihr Ausweg! Das ist die Lösung!« entschied er bei sich und
-betrachtete sie mit gesteigertem Interesse.
-
-Mit einem neuen, eigentümlichen, fast krankhaften Gefühle schaute er in
-dieses bleiche magere und regelmäßig eckige Gesichtchen, diese sanften
-blauen Augen, die mit so einem Feuer, mit so einem strengen energischen
-Blick leuchten konnten, diesen kleinen Körper, der vor Empörung und Zorn
-noch bebte, und dies alles erschien ihm noch merkwürdiger und
-unfaßlicher.
-
-»Sie ist närrisch! Sie hat den religiösen Wahnsinn!« wiederholte er für
-sich.
-
-Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal, wenn er auf und ab ging, hatte
-er es bemerkt; jetzt nahm er es und sah es sich an. Es war das Neue
-Testament in russischer Übersetzung. Das Buch, in Leder gebunden, war
-alt und viel gebraucht.
-
-»Woher hast du es?« rief er. Sie stand immer noch auf derselben Stelle,
-drei Schritte vom Tische entfernt.
-
-»Man hat es mir gebracht,« antwortete sie unwillig und ohne ihn
-anzublicken.
-
-»Wer hat es dir gebracht?«
-
-»Lisaweta hat es gebracht, ich habe sie darum gebeten.«
-
-»Lisaweta! Wie seltsam!« dachte er.
-
-Alles erschien ihm bei Ssonja mit jeder Minute merkwürdiger,
-wunderlicher. Er holte das Buch zum Lichte und begann darin zu blättern.
-
-»Wo steht hier die Geschichte vom armen Lazarus?« fragte er.
-
-Ssonja blickte unverwandt zu Boden und antwortete nicht. Sie stand ein
-wenig abgewandt vom Tische.
-
-»Von der Auferstehung des Lazarus, wo ist es? Suche es mir, Ssonja.«
-
-Sie sah ihn mit einem Seitenblick an.
-
-»Nicht dort ... im vierten Evangelium steht es ...« flüsterte sie
-streng, ohne sich ihm zu nähern.
-
-»Suche es und lies es mir vor,« sagte er, setzte sich, stützte die
-Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Hand legend, blickte düster zur
-Seite und bereitete sich vor zuzuhören.
-
-»Nach drei Wochen ist sie im städtischen Irrenhause! Ich werde
-vielleicht selbst auch dort sein, wenn es nicht noch schlimmer enden
-wird,« murmelte er vor sich hin.
-
-Ssonja trat unschlüssig an den Tisch, nachdem sie das sonderbare
-Verlangen Raskolnikoffs mißtrauisch gehört hatte. Sie nahm das Buch.
-
-»Haben Sie es denn nicht gelesen?« fragte sie und blickte ihn unter der
-Stirn hervor an. Ihre Stimme wurde immer ernster und ernster.
-
-»Vor langer Zeit ... Als ich noch zur Schule ging. Lies!«
-
-»Und haben Sie es nicht in der Kirche gehört?«
-
-»Ich ... bin nie in der Kirche gewesen. Gehst du oft hin?«
-
-»N--nein,« flüsterte Ssonja.
-
-Raskolnikoff lächelte.
-
-»Ich verstehe ... Du wirst wohl morgen auch nicht zur Beerdigung des
-Vaters hineingehen?«
-
-»Ich werde hingehen. Ich war auch in der vorigen Woche in der Kirche ...
-habe eine Totenmesse halten lassen.«
-
-»Für wen?«
-
-»Für Lisaweta. Man hat sie mit einem Beile erschlagen.«
-
-Seine Nerven wurden immer reizbarer. Der Kopf begann ihm zu schwindeln.
-
-»Warst du mit Lisaweta befreundet?«
-
-»Ja ... Sie war gerecht ... sie kam ... selten ... sie konnte nicht. Wir
-lasen zusammen und ... sprachen. Sie wird Gott schauen!«
-
-Eigentümlich klangen für ihn diese Worte aus der Bibel und wieder erfuhr
-er eine Neuigkeit, -- sie hatte mit Lisaweta geheimnisvolle
-Zusammenkünfte gehabt und beide waren religiös wahnsinnig.
-
-»Man kann hier selbst geisteskrank werden! Es steckt an!« dachte er.
-
-»Lies!« rief er plötzlich hartnäckig und gereizt.
-
-Ssonja war noch immer unentschlossen. Ihr Herz klopfte. Sie wagte nicht
-ihm vorzulesen. Er sah mit Qual die »unglückliche Geisteskranke« an.
-
-»Wozu denn? Sie glauben doch nicht daran? ...« flüsterte sie leise und
-mit stockendem Atem.
-
-»Lies! Ich will es haben!« bestand er. »Du hast doch auch Lisaweta
-vorgelesen.«
-
-Ssonja schlug das Buch auf und suchte die Stelle. Ihre Hände zitterten,
-die Stimme versagte. Zweimal begann sie und konnte über das erste Wort
-nicht hinwegkommen.
-
-»Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus, von Bethanien ...« sagte sie
-endlich mit Anstrengung, aber bei dem dritten Worte zitterte plötzlich
-ihre Stimme und brach ab, wie eine zu straff gespannte Saite. Der Atem
-versagte ihr und die Brust schnürte sich zusammen.
-
-Raskolnikoff begriff zum Teil, warum Ssonja sich nicht entschließen
-konnte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so entschiedener
-und gereizter bestand er darauf. Er verstand zu gut, wie schwer es ihr
-jetzt fiel, alles _eigene_ preiszugeben und zu enthüllen. Er hatte
-begriffen, daß diese Gefühle tatsächlich ihr wahres und vielleicht seit
-langer Zeit gehegtes _Geheimnis_ bildeten, vielleicht schon seit der
-Jugendzeit, schon in der Familie, neben dem unglücklichen Vater und der
-vor Kummer wahnsinnig gewordenen Stiefmutter, mitten unter den hungrigen
-Kindern, ihrem häßlichen Geschrei und den fortwährenden Vorwürfen. Aber
-gleichzeitig erkannte er, und zwar mit Sicherheit, daß sie trotz ihres
-Grams und ihrer Furcht, in dem sie jetzt vorzulesen begann, doch gern,
-sehr gern es tat und zwar vor ihm, damit er es höre und unbedingt
-_jetzt_ -- mochte kommen, was da wolle! ... Er hatte das in ihren Augen
-gelesen und es aus ihrer verzückten Erregung entnommen! ... Sie überwand
-sich, unterdrückte den Krampf im Halse, der ihr die Stimme am Anfange
-benommen hatte, und fuhr fort, aus dem elften Kapitel des Evangeliums
-St. Johannis vorzulesen. So kam sie bis zum 19. Vers: »Und viele Juden
-waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder.
-Als Martha nun hörete, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria
-aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: Herr, wärest du
-hiergewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch,
-daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.«
-
-Hier blieb sie wieder stehn, in schamhafter Vorahnung, daß ihre Stimme
-zittern und versagen würde ... »Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll
-auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen
-wird in der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin
-die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob
-er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird
-nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: (und wie mit
-Schmerz atemholend, las Ssonja deutlich und voller Kraft, als lege sie
-selbst öffentlich ein Glaubensbekenntnis ab):
-
->Herr, ja, ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die
-Welt gekommen ist.<«
-
-Sie hielt einen Moment inne, erhob schnell zu _ihm_ die Augen, überwand
-sich aber rasch und las weiter. Raskolnikoff saß und hörte unbeweglich
-zu, ohne sich umzuwenden, den Ellbogen auf den Tisch gestützt und zur
-Seite blickend. Sie las bis zum 32. Vers:
-
-»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sahe ihn, fiel sie zu seinen Füßen
-und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht
-gestorben. Als Jesus sie sahe weinen und die Juden auch weinen, die mit
-ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst. Und sprach:
-Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und siehe es.
-Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er
-ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem
-Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht
-stürbe?«
-
-Raskolnikoff wandte sich zu ihr um und sah sie mit Erregung an, -- ja,
-es ist so! Sie zitterte am ganzen Körper in wahrem, wirklichem Fieber.
-Er hatte es erwartet. Sie näherte sich den Worten über das größte und
-unerhörte Wunder, und das Gefühl eines großen Triumphes erfaßte sie.
-Ihre Stimme wurde klingend wie Metall; Triumph und Freude klangen darin
-und stärkten sie. Die Zeilen verwischten sich, weil es vor ihren Augen
-dunkel wurde, aber sie kannte auswendig, was sie las. Bei dem letzten
-Vers: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat ...« ließ sie die
-Stimme sinken und gab heiß und leidenschaftlich den Zweifel, den Vorwurf
-und Tadel der ungläubigen, blinden Juden wieder, die gleich darauf, nach
-einer Minute, wie vom Donner getroffen, niederfallen, schluchzen und
-glauben werden ... »Auch er, er -- ebenfalls verblendet und ungläubig,
-wird es gleich hören, auch er wird glauben, ja, ja, gleich, jetzt
-gleich,« durchzuckte es sie und sie bebte in freudiger Erwartung.
-
-»Jesus aber ergrimmete abermals in ihm selbst und kam zum Grabe. Es war
-aber eine Kluft und ein Stein daraufgelegt. Jesus sprach: Hebet den
-Stein ab. Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr,
-er stinket schon; denn er ist vier Tage gelegen.«
-
-Sie betonte energisch das Wort -- _vier_.
-
-»Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest,
-du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein ab, da
-der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: Vater,
-ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich
-allezeit erhörest; sondern um des Volkes Willen, das umher stehet, sage
-ich es, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte,
-rief er mit lauter Stimme: Lazare, komme heraus! _Und der Verstorbene
-kam heraus_ ...« (Laut und verzückt las sie es, zitternd und fröstelnd,
-als sähe sie es mit eigenen Augen.)
-
-»Gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Angesicht
-verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf
-und laßt ihn gehen.«
-
-»_Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus
-tat, glaubten an ihn._«
-
-Weiter las sie nicht und konnte auch nicht lesen, sie schloß das Buch
-und stand schnell vom Stuhle auf. »Das ist alles über die Auferstehung
-des Lazarus,« flüsterte sie abgerissen und streng und blieb unbeweglich,
-zur Seite gekehrt, stehen, ohne zu wagen und als schäme sie sich, die
-Augen zu ihm zu erheben. Ihr fieberhaftes Frösteln dauerte noch an. Der
-Lichtstumpf begann in dem schiefen Leuchter auszugehen und beleuchtete
-trübe in diesem armseligen Zimmer den Mörder und die Dirne, die so
-sonderbar beim Lesen des ewigen Buches zusammengekommen waren. Es
-vergingen fünf Minuten oder noch mehr.
-
-»Ich bin gekommen, um über eine Angelegenheit mit dir zu sprechen,«
-sagte Raskolnikoff plötzlich laut und mit düsterem Gesichte, stand auf
-und trat an Ssonja heran. Sie erhob schweigend die Augen zu ihm. Sein
-Blick war besonders streng und drückte eine wilde Entschlossenheit aus.
-
-»Ich habe heute meine Verwandten verlassen,« sagte er, »meine Mutter und
-Schwester. Ich werde nicht mehr zu ihnen gehen. Ich habe mit allem dort
-gebrochen.«
-
-»Warum?« fragte ihn Ssonja bestürzt. Ihre Begegnung mit seiner Mutter
-und Schwester hatte in ihr einen ungewöhnlichen, wenn auch ihr selbst
-nicht klaren Eindruck hinterlassen. Die Mitteilung von seinem Bruche mit
-ihnen hörte sie fast mit Entsetzen.
-
-»Ich habe jetzt dich allein,« fügte er hinzu. »Gehen wir zusammen ...
-Ich bin zu dir gekommen. Wir sind beide verflucht und so wollen wir auch
-beide zusammengehen!«
-
-Seine Augen leuchteten. »Wie ein Wahnsinniger!« dachte Ssonja.
-
-»Wohin sollen wir gehen?« fragte sie voll Angst und trat unwillkürlich
-einen Schritt zurück.
-
-»Woher soll ich es wissen? Ich weiß nur eins, daß wir einen und
-denselben Weg haben, das weiß ich sicher, -- und weiter nichts. Ein und
-dasselbe Ziel.«
-
-Sie blickte ihn an und verstand nichts. Sie begriff nur eins, daß er
-furchtbar, grenzenlos unglücklich sei.
-
-»Niemand von ihnen wird etwas verstehn, wenn du zu ihnen sprechen
-wirst,« fuhr er fort, »ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich,
-darum bin ich auch zu dir gekommen.«
-
-»Ich begreife nicht ...« flüsterte Ssonja.
-
-»Du wirst später begreifen. Hast du denn nicht ebenso gehandelt. Auch du
-bist hinüber geschritten ... du hast es vermocht. Du hast Hand an dich
-gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... _dein Leben_, das ist
-einerlei! Du hättest im Geist und in der Vernunft leben können und wirst
-auf dem Heumarkte enden ... Auch du kannst es nicht aushalten, und wenn
-du _allein_ bleibst, wirst du den Verstand verlieren, wie ich auch. Du
-bist schon jetzt wie geistesgestört; also müssen wir zusammengehen, ein
-und denselben Weg! Gehen wir ihn also!«
-
-»Warum? Warum sagen Sie das?« sagte Ssonja eigentümlich berührt und tief
-erregt durch seine Worte.
-
-»Warum? Weil es so nicht bleiben darf -- das ist der Grund! Man muß doch
-endlich ernst und offen es bedenken, und nicht wie ein Kind weinen und
-ausrufen, daß Gott es nicht zulassen wird! Nun, was wird geschehen, wenn
-man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Die da ist nicht
-bei Verstand und hat Schwindsucht, wird bald sterben und was soll aus
-den Kindern werden? Wird denn Poletschka nicht auch zugrunde gehen? Hast
-du denn nicht hier Kinder an allen Ecken gesehen, die ihre Mütter
-betteln schicken? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter leben und in
-welcher Umgebung. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist
-ein siebenjähriger lasterhaft und ein Dieb. Und die Kinder sind doch
-Ebenbilder Christi. >Ihrer ist das Himmelreich.< Er hat geboten, sie zu
-achten und zu lieben, sie sind das künftige Menschengeschlecht ...«
-
-»Was soll, was soll ich denn tun?« wiederholte Ssonja nervös weinend und
-händeringend.
-
-»Was tun? Ein für allemal das, was nötig ist, abbrechen und weiter
-nichts, -- und das Leiden auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht?
-Du wirst es nachher verstehen ... Freiheit und Macht, hauptsächlich
-Macht! Über alle zitternde Kreaturen und über den ganzen Ameisenhaufen!
-... Das ist das Ziel! Denk daran! Das ist mein Geleitwort dir auf den
-Weg! Vielleicht spreche ich mit dir zum letzten Male. Wenn ich morgen
-nicht zu dir komme, wirst du selbst von allem hören, und dann erinnere
-dich meiner jetzigen Worte. Und irgendwann, nachher, nach Jahren, mit
-der Zeit, wirst du auch vielleicht verstehn, was sie bedeuteten. Wenn
-ich aber morgen zu dir komme, will ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet
-hat. Leb wohl!«
-
-Ssonja fuhr vor Schreck zusammen.
-
-»Ja, wissen Sie denn, wer sie ermordet hat?« fragte sie und erstarrte
-vor Entsetzen und blickte ihn wild an.
-
-»Ich weiß es und will es sagen ... Dir, nur dir allein! Ich habe dich
-gewählt. Ich werde nicht kommen zu dir, um Verzeihung zu bitten, ich
-will es bloß sagen. Ich habe dich seit langem gewählt, um es dir zu
-sagen, damals noch, als dein Vater über dich erzählte, und ich dachte
-daran, als Lisaweta noch lebte. Leb wohl. Gib mir nicht die Hand.
-Morgen!«
-
-Er ging hinaus. Ssonja sah ihm wie einem Geistesgestörten nach; aber
-auch sie selbst war wie verrückt und fühlte es. Der Kopf schwindelte
-ihr.
-
-»Mein Gott, wie weiß er es, wer Lisaweta ermordet hat? Was bedeuteten
-diese Worte? Es ist furchtbar!«
-
-Aber _ein_ Gedanke kam ihr nicht in den Sinn. Durchaus nicht! ...
-
-»Oh, er muß furchtbar unglücklich sein! ... Er hat Mutter und Schwester
-verlassen. Warum? Was ist vorgefallen? Und was für Absichten hat er? Was
-hat er zu ihr gesagt? Er hat ihren Fuß geküßt und gesagt ... gesagt ...
-ja, er hat es deutlich gesagt, daß er ohne sie nicht mehr leben kann ...
-Oh, Gott!«
-
-Ssonja verbrachte in Fieber und Träumen die ganze Nacht. Sie sprang
-zuweilen auf, weinte, rang die Hände und bald verfiel sie wieder in
-Fieberträume und sie träumte von Poletschka, Katerina Iwanowna,
-Lisaweta, von Vorlesen aus dem Evangelium und von ihm ... ihm mit dem
-bleichen Gesicht, mit den funkelnden Augen ... Er küßt ihr die Füße,
-weinte ... Oh, Gott!
-
-Hinter der Türe rechts, hinter derselben Türe, die das Zimmer Ssonjas
-von der Wohnung von Gertrude Karlowna Rößlich abteilte, war ein
-Durchgangszimmer, seit langem unbewohnt, das zu der Wohnung der Frau
-Rößlich gehörte und das zu vermieten war, worauf die Zettel an dem Tore
-und an den Scheiben der Fenster, die zum Kanal hinausgingen, hinwiesen.
-Ssonja war seit langem gewöhnt, dieses Zimmer als unbewohnt zu
-betrachten. Indessen aber hatte in dem leeren Zimmer die ganze Zeit an
-der Türe Herr Sswidrigailoff gestanden und heimlich gelauscht. Als
-Raskolnikoff fortgegangen war, blieb er stehn, dachte nach, ging auf den
-Fußspitzen in sein Zimmer, das an das leere grenzte, holte dort einen
-Stuhl und stellte ihn leise an die Türe, die zu Ssonjas Zimmer führte.
-Das Gespräch erschien ihm amüsant und bedeutungsvoll und hatte ihm sehr
-gefallen, -- hatte ihm so gefallen, daß er einen Stuhl hinbrachte, um
-künftig, zum Beispiel morgen schon, nicht wieder der Unannehmlichkeit
-ausgesetzt zu sein, eine ganze Stunde stehen zu müssen, sondern sich's
-bequemer zu machen, um in jeder Beziehung völlig befriedigt zu werden.
-
-
- V.
-
-Als Raskolnikoff am anderen Morgen, punkt elf Uhr, in das Haus des
---schen Polizeireviers, in die Abteilung des Untersuchungsrichters
-eingetreten war und gebeten hatte, ihn Porphyri Petrowitsch anzumelden,
-war er verwundert, wie lange man ihn warten ließ, -- es vergingen
-mindestens zehn Minuten, ehe man ihn rief. Seiner Berechnung nach mußte
-man sich sofort auf ihn stürzen. Er stand indessen im Wartezimmer, es
-gingen Menschen an ihm vorüber, die offenbar sich gar nicht für ihn
-interessierten. In dem anderen Zimmer, das einer Kanzlei glich, saßen
-und schrieben einige Schreiber, und es war ersichtlich, daß niemand auch
-eine Ahnung davon hatte, -- wer und was Raskolnikoff sei? Mit unruhigem
-und mißtrauischem Blicke beobachtete er alles umher, und suchte, -- ob
-nicht neben ihm irgendeine Wache stehe, und ob er keinen geheimnisvollen
-Wink sähe, bestimmt, auf ihn acht zu geben, daß er nicht entrinne? Aber
-nichts von alledem, -- er sah bloß sorgenvolle Kanzleigesichter und
-einige andere Leute, und niemand kümmerte sich um sein Kommen und Gehen.
-Immer mehr befestigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser
-geheimnisvolle Mensch von gestern, dieses Gespenst, das aus der Erde
-hervorgestiegen schien, tatsächlich alles wußte und alles gesehen hatte,
--- man ihm, Raskolnikoff, nicht erlauben würde, jetzt so dazustehen und
-ruhig abzuwarten? Und würde man auf ihn bis elf Uhr gewartet haben, bis
-es ihm selbst eingefallen wäre, zu erscheinen? Es zeigte sich also, daß
-dieser Mensch entweder noch nichts mitgeteilt hatte, oder ... oder er
-einfach nichts wußte und mit seinen eigenen Augen nichts gesehen hatte,
--- ja, und wie konnte er es auch gesehen haben? -- und schließlich war
-alles, was gestern mit ihm, Raskolnikoff, vorgefallen war, nichts als
-eine Wahnerscheinung, die seine gereizte und kranke Einbildung
-übertrieben hatte. Diese Vermutung hatte ja gestern schon während der
-stärksten Aufregungen und der Verzweiflung in ihm sich zu befestigen
-angefangen. Nachdem er sich dies alles jetzt noch einmal überlegt hatte
-und sich zu einem neuen Kampfe anschickte, fühlte er plötzlich, daß er
-zittre, -- und eine Empörung erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß er aus
-Furcht vor dem verhaßten Porphyri Petrowitsch zittere. Am
-schrecklichsten für ihn war es, mit diesem Menschen wieder
-zusammenzutreffen; er haßte ihn über alle Maßen, grenzenlos, und
-fürchtete direkt, seinen Haß irgendwie zu offenbaren. Seine Empörung
-über sich selbst war so stark, daß das Zittern sofort aufhörte; er
-schickte sich an, mit einer kalten und frechen Miene hineinzugehen und
-versprach sich selbst, möglichst viel zu schweigen, zu beobachten und
-zuzuhören und dieses Mal um jeden Preis seine krankhafte gereizte Natur
-zu überwinden. In diesem Augenblicke rief man ihn zu Porphyri
-Petrowitsch hinein.
-
-Es traf sich, daß in diesem Momente Porphyri Petrowitsch in seinem
-Arbeitszimmer allein war. Sein Arbeitszimmer war weder klein, noch groß;
-es standen darin ein großer Schreibtisch vor einem Divan, der mit
-Wachstuch bezogen war, ein Schrank in einer Ecke und einige Stühle, --
-alles gehörte dem Staate und war aus gelbem poliertem Holze. In einer
-Ecke der Hinterwand oder besser gesagt der Scheidewand, war eine
-verschlossene Türe, -- also, mußten hinter dieser Wand sich noch andere
-Zimmer befinden. Nach Raskolnikoffs Eintritt schloß Porphyri Petrowitsch
-sofort die Türe, durch die er eingetreten war, und sie waren allein. Er
-begrüßte seinen Besuch mit sichtlich fröhlichstem und freundlichstem
-Ausdruck, und erst nach einigen Minuten merkte Raskolnikoff aus einigen
-Anzeichen eine gewisse Bestürztheit, als sei er plötzlich aus dem
-Konzept gebracht, oder als hatte man ihn auf etwas Verstecktem und
-Geheimem ertappt.
-
-»Ah, Verehrtester! Da sind Sie ja ... in unserer Gegend ...« begann
-Porphyri Petrowitsch und streckte ihm beide Hände entgegen. »Nun, nehmen
-Sie Platz, Väterchen! Oder vielleicht haben Sie es nicht gern, daß man
-Sie Verehrtester und ... Väterchen nennt, -- sozusagen _tout
-court_{[7]}? Halten Sie es bitte nicht für familiär ... Bitte, hierher
-auf den Divan.«
-
-Raskolnikoff setzte sich, ohne die Augen von ihm zu wenden.
-
-»Ja unserer Gegend,« Entschuldigung wegen Familiarität, das französische
-»_tout court_{[7]}« und dergleichen mehr, dies alles waren
-charakteristische Anzeichen. »Er hat mir beide Hände entgegengestreckt,
-hat aber keine Hand gereicht, hat sie rechtzeitig zurückgezogen,« dachte
-er mißtrauisch. Beide beobachteten einander, aber kaum begegneten sich
-ihre Blicke, als sie beide mit Blitzesschnelle sie voneinander
-abwandten.
-
-»Ich habe Ihnen diese Anmeldung ... über die Uhr gebracht ... hier haben
-Sie es. Ist es richtig geschrieben, oder soll ich es umschreiben?«
-
-»Was? Die Anmeldung? Ja, so ... machen Sie sich keine Sorge, es ist
-richtig,« sagte Porphyri Petrowitsch, als hätte er Eile, und erst
-nachdem er das gesagt hatte, nahm er das Schriftstück und sah es durch.
-»Ja, es ist richtig. Mehr ist auch nicht nötig,« bestätigte er noch
-einmal schnell und legte das Papier auf den Tisch.
-
-Nach einer Minute, als er schon von etwas anderem sprach, nahm er es
-wieder in die Hand und legte es in seinen Schreibtisch.
-
-»Ich glaube, Sie sagten gestern, daß Sie wünschten, mich ... in aller
-Form ... über meine Bekanntschaft mit dieser ... Ermordeten zu fragen?«
-begann wieder Raskolnikoff. »Nun, warum habe ich >ich glaube< gesagt?«
-durchfuhr es ihn. »Warum beunruhige ich mich denn so, daß ich dieses
->ich glaube< hinzugefügt habe?« kam ihm alsbald ein zweiter Gedanke. Und
-plötzlich empfand er, daß seine Zweifelsucht, nur bei der Berührung mit
-Porphyri Petrowitsch, nur nach zwei Worten, nur von zwei Blicken, in
-einem einzigen Augenblick schon ins Ungeheure gestiegen sei ... und daß
-dies sehr gefährlich sei, -- seine Nerven wurden gereizt, die Erregung
-steigerte sich. »Es ist ein Unglück! Ein Unglück! ... Ich werde mich
-wieder versprechen.« --
-
-»Ja, ja, ja! Haben Sie keine Sorge! Es hat Zeit, hat Zeit!« murmelte
-Porphyri Petrowitsch und ging vor dem Tische auf und ab, wie
-absichtslos. Bald eilte er zu dem Fenster, bald zum Schreibtisch, bald
-zu dem anderen Tisch, bald mied er den mißtrauischen Blick
-Raskolnikoffs, bald blieb er plötzlich stehen und sah ihm unverwandt ins
-Gesicht. Sonderbar erschien dabei seine kleine, dicke und runde Gestalt,
-die wie ein Gummiball überall hinrollte und sofort von den Wänden und
-den Ecken absprang.
-
-»Wir haben Zeit, wir haben Zeit! ... Rauchen Sie? Haben Sie was zu
-rauchen? Bitte, hier ist eine Zigarette,« fuhr er fort und reichte dem
-Besucher Zigaretten ... »Wissen Sie, ich empfange Sie hier, meine
-Wohnung aber ist hier hinter der Zwischenwand ... freie Dienstwohnung,
-ich wohne jetzt noch in meiner alten, eigenen. Man mußte hier einige
-kleine Reparaturen vornehmen. Jetzt ist alles fast in Ordnung ... eine
-freie Dienstwohnung ist eine schöne Sache? Meinen Sie nicht?«
-
-»Ja, es ist eine schöne Sache,« antwortete Raskolnikoff und blickte ihn
-fast spöttisch an.
-
-»Eine schöne Sache, eine schöne Sache ...« wiederholte Porphyri
-Petrowitsch, als ob er an etwas ganz anderes denke, »ja! eine schöne
-Sache!« rief er zum Schlusse laut, erhob plötzlich die Augen zu
-Raskolnikoff und blieb zwei Schritte vor ihm stehen.
-
-Diese fortwährende dumme Wiederholung, daß eine Dienstwohnung eine
-schöne Sache sei, widersprach sehr dem ernsten sinnenden und
-rätselhaften Blicke, mit dem er jetzt seinen Besuch anstarrte.
-
-Dies aber reizte noch mehr die Wut Raskolnikoffs, so daß er eine
-spöttische und ziemlich unvorsichtige Herausforderung nicht unterdrücken
-konnte.
-
-»Sie wissen doch,« sagte er unerwartet, indem er ihn fast dreist
-anblickte, und als empfände er einen Genuß von seiner Dreistigkeit, »daß
-es eine juristische Regel, ein juristischer Kniff mancher
-Untersuchungsrichter ist, -- zuerst von weitem her mit Kleinigkeiten,
-oder auch mit etwas Ernstem aber Fernliegendem zu beginnen, um den zu
-Verhörenden sozusagen zu ermutigen, oder besser gesagt, abzulenken,
-seine Vorsicht einzuschläfern, um ihn nachher plötzlich und unversehens
-mit einer verhängnisvollen und gefährlichen Frage zu betäuben, habe ich
-recht? Das wird, glaube ich, in allen Lehrbüchern und Vorschriften bis
-heute als unfehlbarer Kunstgriff festgehalten.«
-
-»Es ist richtig ... und Sie meinen, daß ich es mit der freien
-Dienstwohnung bei Ihnen versucht habe ... ah?«
-
-Als Porphyri Petrowitsch dies gesagt hatte, kniff er die Augen zusammen
-und blinzelte ihm zu; etwas Lustiges und Schlaues huschte über sein
-Gesicht, die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, die Augen wurden
-schmäler, die Gesichtszüge erweiterten sich, und plötzlich brach er in
-ein nervöses langandauerndes Lachen aus, das seinen ganzen Körper
-erschütterte, dabei sah er Raskolnikoff unentwegt in die Augen.
-Raskolnikoff zwang sich in das Lachen einzustimmen. Als aber Porphyri
-Petrowitsch sah, daß auch er lache, brach er in ein Gelächter aus, daß
-ihm das Blut zu Kopf stieg. Raskolnikoffs Widerwillen überwog seine
-Vorsicht, -- er hörte auf zu lachen, sein Gesicht verfinsterte sich und
-er sah Porphyri Petrowitsch lange und voll Haß an während dieses
-anhaltenden und wie absichtlich nicht aufhörenden Lachens. Übrigens war
-die Unvorsichtigkeit beiderseits -- es war doch klar, daß Porphyri
-Petrowitsch über seinen Besucher lachte und daß er über dessen
-unverhohlenen Mißmut sich nicht im geringsten kümmerte. Das aber war für
-Raskolnikoff sehr wichtig -- er hatte begriffen, daß Porphyri
-Petrowitsch auch vorhin sich gar nicht verlegen gefühlt hatte, daß im
-Gegenteil er, Raskolnikoff, wahrscheinlich in eine Falle geraten sei,
-daß es hier etwas gab, was er nicht ahnte, daß vielleicht schon alles
-vorbereitet sei, um sich im nächsten Augenblick zu zeigen und ihn zu
-überrumpeln ...
-
-Er ging gerade auf das Ziel los, stand von seinem Platze auf und nahm
-seine Mütze.
-
-»Porphyri Petrowitsch,« begann er gereizt, aber entschlossen, »Sie
-äußerten gestern den Wunsch, daß ich zu einem Verhöre herkommen sollte.«
-(Er betonte besonders das Wort _Verhör_.) »Ich bin gekommen, und wenn
-Sie etwas wünschen, fragen Sie mich, sonst aber gestatten Sie mir,
-wegzugehen. Ich habe keine Zeit, denn ich habe zu tun ... Ich muß zu der
-Beerdigung eines Beamten, der überfahren worden ist und von dem ... Sie
-auch ... schon wissen ...« fügte er hinzu, ärgerte sich aber sofort, daß
-er das hinzugefügt hatte und wurde noch gereizter. »Ich bin des Ganzen
-überdrüssig, hören Sie, und seit langem schon ... ich bin zum Teil auch
-deshalb krank gewesen ... mit einem Worte,« schrie er fast, als er
-fühlte, daß die Phrase über seine Krankheit sehr überflüssig war, »mit
-einem Worte, -- belieben Sie mich entweder zu fragen oder zu entlassen,
-und zwar sofort ... und wenn Sie mich fragen wollen, dann nicht anders,
-als nach der gesetzlichen Form! Anders werde ich es nicht erlauben, und
-darum sage ich Ihnen einstweilen, leben Sie wohl, da wir jetzt beide
-nichts miteinander zu schaffen haben.«
-
-»Mein Gott! Ja, was ist mit Ihnen? Ja, worüber soll ich Sie denn
-fragen,« sagte auf einmal Porphyri Petrowitsch aufgeregt, indem er
-sofort den Ton und seine Miene änderte und aufhörte zu lachen, »bitte,
-regen Sie sich doch nicht auf,« bemühte er sich um Raskolnikoff, bald
-nötigte er ihn, seinen Platz wieder einzunehmen, bald lief er im Zimmer
-umher, »es hat Zeit, es hat Zeit und alles sind doch bloß Kleinigkeiten!
-Ich bin im Gegenteil so froh, daß Sie endlich zu mir gekommen sind ...
-Ich empfange Sie als meinen Gast. Und dieses verfluchte Lachen bitte ich
-Sie zu entschuldigen, Väterchen, Rodion Romanowitsch. -- Rodion
-Romanowitsch, so ist doch Ihr Vatername, nicht wahr? ... Ich bin ein
-nervöser Mensch. Sie haben mich durch Ihre witzige Bemerkung stark zum
-Lachen gebracht; zuweilen schüttelt es mich wirklich, als wäre ich aus
-Kautschuk, und das dauert manchmal eine halbe Stunde ... Ich neige zum
-Lachen. Bei meiner Statur fürchte ich dadurch einmal einen Schlaganfall
-zu bekommen. Ja, setzen Sie sich doch, warum stehn Sie? ... Bitte,
-setzen Sie sich, Väterchen, sonst denke ich, daß Sie mir böse sind ...«
-
-Raskolnikoff schwieg, hörte zu und beobachtete ihn, noch immer zornig
-und mit düsterem Gesichte. Er nahm Platz, legte aber die Mütze nicht aus
-der Hand.
-
-»Ich will Ihnen, Väterchen Rodion Romanowitsch, von mir selbst etwas
-sagen, um Ihnen meinen Charakter sozusagen zu erklären,« fuhr Porphyri
-Petrowitsch fort, indem er im Zimmer hin und her eilte und wie vorhin
-den Blick seines Gastes zu meiden schien. »Wissen Sie, ich bin ein alter
-Junggeselle, ohne weltmännische Art und ohne Beziehungen, außerdem ein
-abgetaner Mensch, der schon über die Reife hinaus und in Samen
-geschossen ist ... Und Rodion Romanowitsch, haben Sie nicht auch schon
-beobachtet, daß bei uns, das heißt bei uns in Rußland, und meistens in
-unseren Petersburger Kreisen, wenn zwei kluge Menschen zusammenkommen,
-die einander noch nicht gut kennen, aber sich sozusagen gegenseitig
-achten, wie wir jetzt zusammengekommen sind, so können sie kaum vor
-Ablauf einer halben Stunde ein Gesprächsthema finden, -- sie sitzen,
-starren einander an und genieren sich. Alle haben einen Gesprächsstoff,
-Damen zum Beispiel ... Leute aus der großen Welt zum Beispiel haben
-immer ein Thema zur Unterhaltung, _c'est de rigueur_{[8]}. Die Leute
-aber aus den mittleren Schichten, das heißt denkende Menschen, wie wir,
--- sind alle verlegen und nicht gesprächig. Woher kommt das, Väterchen?
-Haben wir keine gemeinsamen Interessen, oder sind wir zu ehrlich und
-wollen einander nicht betrügen, ich weiß es nicht? Ah? Wie meinen Sie?
-Legen Sie doch bitte die Mütze fort, es sieht so aus, als wollten Sie
-gleich fortgehen, das ist wirklich peinlich ... Ich freue mich im
-Gegenteil sehr, daß Sie hier sind ...«
-
-Raskolnikoff legte die Mütze weg, verhielt sich aber schweigend und
-hörte ernst und mit düsterem Gesichte dem leeren und verworrenen
-Geschwätz von Porphyri Petrowitsch zu.
-
-»Will er tatsächlich mit seinem dummen Geschwätz meine Aufmerksamkeit
-ablenken?« dachte er.
-
-»Ich kann Ihnen leider keinen Kaffee anbieten, es geht hier nicht an;
-doch warum soll man sich nicht fünf Minuten mit einem guten Bekannten
-zerstreuen,« redete Porphyri Petrowitsch ohne Unterbrechung fort, »und
-wissen Sie, alle diese dienstlichen Pflichten ... aber seien Sie bitte,
-Väterchen, nicht böse, daß ich in einem fort auf und ab gehe;
-entschuldigen Sie, Väterchen, ich fürchte sehr, Sie zu kränken, Bewegung
-aber tut mir einfach nötig. Ich sitze die ganze Zeit und bin sehr froh,
-so fünf Minuten herumgehen zu können ... Hämorrhoiden ... ich will mich
-durch Gymnastik behandeln; man erzählt, daß Staatsräte, wirkliche
-Staatsräte und sogar Geheimräte, sehr gern ab und zu über die Schnur
-springen; ja, ja, die Wissenschaft in unserem Jahrhundert ... leistet
-viel ... Und diese dienstlichen Pflichten, Verhöre und diese ganzen
-Formalitäten ... Sie erwähnten, Väterchen, soeben etwas von Verhören ...
-ja, wissen Sie, Väterchen Rodion Romanowitsch, diese Verhöre verwirren
-zuweilen den Verhörer selbst mehr als den zu Verhörenden ... Das haben
-Sie, Väterchen, sehr richtig und witzig soeben bemerkt« (Raskolnikoff
-hatte gar keine derartige Bemerkung gemacht). -- »Man wird konfus!
-Wirklich, man wird konfus, und immer hat man ein und dasselbe, immer ein
-und dasselbe, es geht in einer Leier so fort! Die Reform ist im Anzuge,
-wir werden wenigstens einen anderen Titel erhalten, he--he--he! Und was
-unser Verfahren, über das Sie vorhin so gelungen sprachen, anbetrifft,
-so bin ich ganz Ihrer Meinung. Aber, sagen Sie bitte, welcher
-Angeklagte, und wäre es der dümmste Bauer, wüßte nicht, daß man zuerst
-anfängt, ihn durch nebensächliche Fragen einzuschläfern, wie Sie
-treffend bemerkten, um ihn dann plötzlich mit einem Schlage zu betäuben,
-he--he--he! ihn zu betäuben, nach Ihrem glücklichen Ausdruck!
-He--he--he! Also, Sie dachten tatsächlich, daß ich es bei Ihnen mit der
-Dienstwohnung versuchen wollte ... he, he! Sie sind ein spöttischer
-Mensch! Also, ich werde nicht mehr darüber reden! Ach ja, beiläufig, das
-eine Wort zieht ja das andere nach, und ein Gedanke ruft den andern, --
-Sie haben vorhin auch die gesetzliche Form erwähnt, wissen Sie, in bezug
-auf das Verhör ... Wozu denn eine gesetzliche Form? Die Form ist, wissen
-Sie, in vielen Fällen ein Unsinn. Manchesmal ist es vorteilhafter, in
-aller Freundschaft miteinander zu sprechen. Die Form läuft nie davon,
-darin gestatte ich mir Sie zu beruhigen; ja, und was ist eigentlich die
-Form, frage ich Sie? Die gesetzliche Form darf nicht bei jedem Schritt
-den Untersuchungsrichter hemmen. Die Arbeit eines Untersuchungsrichters
-ist doch sozusagen freie Kunst in ihrer Art, oder etwas Ähnliches ...
-he! he!«
-
-Porphyri Petrowitsch machte für einen kurzen Augenblick eine Pause. Er
-redete in einem fort, ohne zu ermüden, bald sinnloses und inhaltloses
-Zeug, bald machte er plötzlich rätselhafte Anspielungen und verlor sich
-von neuem in sinnloses Geschwätz. Er lief schon fast im Zimmer herum und
-bewegte immer schneller und schneller seine dicken kurzen Beine; blickte
-dabei die ganze Zeit zu Boden, hatte die rechte Hand auf dem Rücken und
-machte mit der linken allerhand Bewegungen, die jedesmal nur wenig mit
-seinen Worten übereinstimmten. Raskolnikoff bemerkte plötzlich, daß er
-ein paarmal neben der Tür stehen blieb und zu lauschen schien ...
-
-»Wartet er etwa auf etwas?« dachte er.
-
-»Und Sie sind vollkommen im Rechte,« begann von neuem Porphyri
-Petrowitsch und blickte heiter und mit ungewöhnlicher Treuherzigkeit
-Raskolnikoff an, was jenen zu vermehrter Achtsamkeit veranlaßte. »Sie
-haben tatsächlich recht, daß Sie über die Rechtsformen sich so lustig
-machen, he--he! Diese tiefsinnigen psychologischen Kunstgriffe -- einige
-natürlich nur -- sind äußerst lächerlich, ja und vielleicht nutzlos,
-wenn sie durch die gesetzliche Form zu sehr beschränkt sind. Ja ... ich
-komme wieder auf die gesetzliche Form zurück, -- also, wenn ich den
-einen oder den anderen sozusagen für den Verbrecher halte, oder besser
-gesagt, ihn im Verdacht habe, in irgendeiner mir übertragenen
-Angelegenheit ... Sie bereiten sich doch vor, Jurist zu werden, Rodion
-Romanowitsch?«
-
-»Ja, ich wollte es werden ...«
-
-»Nun, da möchte ich Ihnen sozusagen ein Beispiel für die Zukunft
-anführen, -- das heißt, glauben Sie nicht, daß ich es wage, Sie zu
-belehren, -- Sie lassen doch selber große Artikel über Verbrechen
-drucken! Nein, ich will Ihnen nur, als eine Tatsache, ein Beispiel
-erwähnen, -- also falls ich den einen oder den anderen für den
-Verbrecher halten sollte, fragt es sich, soll ich ihn vor der Zeit
-beunruhigen, wenn ich auch Beweise gegen ihn habe? Den einen muß ich zum
-Beispiel schneller verhaften, ein anderer aber hat einen ganz anderen
-Charakter, wirklich, -- warum soll man ihm denn nicht gestatten, in der
-Stadt herumzuspazieren -- he--he--he! Nein, ich sehe, daß Sie nicht ganz
-verstehn, ich will es Ihnen deutlicher erklären, -- wenn ich ihn zum
-Beispiel zu früh einsperre, so gebe ich ihm vielleicht dadurch eine
-moralische Stütze, sozusagen, he--he! Sie lachen?« (Raskolnikoff dachte
-gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Zähnen und
-wandte seinen glühenden Blick von den Augen Porphyri Petrowitschs nicht
-ab.) »Das kann bei dem einen Subjekt genau das richtige sein, denn die
-Menschen sind verschieden, und da muß vor allem die Praxis entscheiden.
-Sie werden jetzt einwenden -- und die Beweise! Ja, nehmen wir an, es
-sind Beweise da, aber Beweise haben doch meistenteils, Väterchen, zwei
-Seiten, und ich bin doch Untersuchungsrichter, also auch nur ein
-schwacher Mensch, und ich gestehe, daß ich die Untersuchung sozusagen
-mathematisch klarstellen möchte, und solch einen Beweis zu erbringen
-wünsche, daß es so klar wäre, wie zweimal zwei vier ist! Daß es einer
-klaren unbestreitbaren Tatsache gleiche! Wenn ich ihn aber vor der Zeit
-einsperre, -- und wäre ich fest überzeugt, daß er es ist, -- so kann ich
-mich selbst vielleicht der Mittel berauben, ihn weiter zu überführen,
-und warum? Weil ich ihm sozusagen eine bestimmte Lage gebe, ihn
-sozusagen psychologisch bestimme und festlege, und da wird er sich vor
-mir in seine Schale verkriechen, -- er wird endlich begreifen, daß er
-Gefangener ist. Man erzählt sich, daß kluge Leute in Sebastopol sofort
-nach der Schlacht bei Alma schreckliche Angst hatten, daß der Feind
-gleich darauf einen offenen Sturm auf Sebastopol machen und die Stadt
-einnehmen würde; als sie aber sahen, daß der Feind eine regelrechte
-Belagerung vorzog und die erste Parallele zog, da haben sich die klugen
-Leute ordentlich gefreut und sich beruhigt, -- die Sache zieht sich
-wenigstens noch zwei Monate hin, denn es dauert ein Endchen, ehe sie
-durch eine regelrechte Belagerung die Stadt einnehmen können. Sie lachen
-wieder, Sie glauben wieder nicht? Sie sind selbstverständlich auch im
-Recht. Sie sind im Recht, Sie sind im Recht! Ich bin mit Ihnen
-einverstanden, es sind alles Einzelfälle; der angeführte Fall steht
-tatsächlich vereinzelt da! Aber sehen Sie, lieber Rodion Romanowitsch,
-man muß dabei folgendes nicht außer acht lassen, -- es gibt doch keinen
-allgemeinen Fall, einen solchen, auf den alle rechtlichen Formen und
-Regeln passen, nach dem sie berechnet und in Bücher eingetragen sind,
-aus dem bloßen Grunde, weil jede Tat, jedes Verbrechen, zum Beispiel
-sofort, kaum daß es in Wirklichkeit geschehen ist, sich in einen
-vollkommenen Einzelfall verwandelt und zuweilen in einen solchen, der
-einem früheren ganz und gar nicht ähnlich ist. Zuweilen passieren in
-dieser Hinsicht ganz komische Sachen. Wenn ich nun einen Herrn ganz
-allein lasse, ihn nicht festnehme und nicht beunruhige, aber er soll
-jede Stunde und jeden Augenblick wissen oder wenigstens ahnen, daß ich
-alles weiß, sein ganzes Geheimnis, Tag und Nacht ihn beobachten lasse,
-über ihn rastlos wache, und wenn er sich bewußt unter ewigem Verdachte
-und in ewiger Angst fühlt, -- bei Gott, da wird er nicht aus und ein
-wissen, er wird tatsächlich selbst kommen und wird vielleicht noch etwas
-tun, was dem Zweimalzwei bestimmt ähnlich sein wird, was sozusagen wie
-ein mathematisches Exempel aussieht, -- und das ist sehr angenehm. Das
-kann auch mit einem plumpen Bauern geschehen, aber um so mehr mit
-unsereinem, einem modern gebildeten und nach einer bestimmten Richtung
-entwickelten Menschen! Denn, mein Lieber, es ist sehr wichtig zu wissen,
-in welcher Richtung ein Mensch entwickelt ist. Und die Nerven, die
-Nerven, die haben Sie ganz vergessen! Die sind doch heutzutage krank,
-schlecht und gereizt! ... Und die Galle, -- wieviel Galle sie alle
-haben! Das ist ja, will ich Ihnen nur sagen, in manchen Fällen eine
-Fundgrube in ihrer Art! Und warum soll ich beunruhigt sein, daß er
-ungefesselt in der Stadt herumgeht? Mag er, mag er vorläufig spazieren
-gehen; ich weiß auch ohnedem, daß er mein Opfer ist und niemals von mir
-fortläuft! Ja, und wohin soll er auch fliehen, he--he! Ins Ausland etwa?
-Ein Pole wird ins Ausland fliehen, aber nicht er, um so mehr, da ich ihn
-beobachte und Maßregeln ergriffen habe. Soll er ins Innere des
-Vaterlandes etwa fliehen? Dort leben aber Bauern, echte, ungewaschene
-Russen; da wird ein modern entwickelter Mensch eher das Gefängnis
-vorziehen, als mit solchen Ausländern, wie es unsere Bauern sind, leben,
-he--he--he! Aber das ist Unsinn, sind reine Äußerlichkeiten. Was heißt,
--- er wird fliehen! Das ist formell gemeint, es ist nicht die
-Hauptsache; er wird mir nicht entfliehen, nicht, weil er nirgends
-hinfliehen könnte, -- er wird mir _psychologisch_ nicht entfliehen,
-he--he! Was sagen Sie zu dem Ausdruck? Er wird dem Naturgesetze nach mir
-nicht entfliehen, wenn er auch irgendwohin fliehen könnte. Haben Sie
-einen Schmetterling vor einem Lichte gesehen? Nun, er wird auch so die
-ganze Zeit um mich, wie um ein Licht, herumflattern; die Freiheit wird
-ihm unlieb werden, er wird nachdenklich werden, sich verwirren, sich
-selbst wie in ein Netz verwickeln und sich zu Tode zappeln! ... Nicht
-das allein, -- er wird mir selbst irgendein mathematisches Exempel, wie
-Zweimalzwei, bringen, -- wenn ich ihm bloß genügend Zeit dazu lasse ...
-Und er wird die ganze Zeit, wird die ganze Zeit mich umkreisen und immer
-kleinere und kleinere Kreise ziehen und -- bardautz! Er wird mir direkt
-in den Mund fliegen und ich werde ihn verschlucken, und das ist aber
-sehr angenehm, he--he--he! Sie glauben nicht?«
-
-Raskolnikoff antwortete nicht, er saß bleich und unbeweglich und sah die
-ganze Zeit Porphyri Petrowitsch starr ins Gesicht.
-
-»Die Lehre ist gut!« dachte er erschauernd. »Das ist nicht mehr ein
-Spiel, wie die Katze mit der Maus, wie es gestern der Fall war. Und er
-zeigt mir doch nicht nutzlos seine Macht und ... souffliert mir; er ist
-dazu zu klug ... Er verfolgt einen anderen Zweck, aber was für einen?
-He, es ist Unsinn, Bruder, du willst mir nur Furcht einjagen und spielst
-den Schlauen! Du hast keine Beweise und der Mann von gestern existiert
-gar nicht! Du willst mich bloß verwirren, vorzeitig reizen und in diesem
-Zustande auf mich losschlagen, aber nein, du schlägst vorbei! Aber
-warum, warum souffliert er mir in dieser Weise? ... Rechnet er etwa mit
-meinen kranken Nerven! ... Nein, Bruder, das wird dir nicht gelingen,
-obwohl du etwas vorbereitet hast ... Nun, wollen wir mal sehen, was du
-da vorbereitet hast.«
-
-Und er nahm alle Kräfte zusammen, um sich auf eine furchtbare und
-unbekannte Katastrophe gefaßt zu machen. Zuweilen fühlte er einen
-heftigen Drang, sich auf Porphyri Petrowitsch zu stürzen und ihn auf der
-Stelle zu erwürgen. Als er hereintrat, fürchtete er sich vor dieser Wut.
-Er fühlte, daß seine Lippen trocken waren, sein Herz klopfte und daß der
-Schaum vor dem Munde eingetrocknet war. Er beschloß trotzdem zu
-schweigen. Er begriff, daß das die beste Taktik in seiner Situation sei,
-weil er nicht bloß keine Gelegenheit hatte, sich zu versprechen, sondern
-im Gegenteil durch sein Schweigen den Gegner reizen konnte, und jener
-vielleicht noch sich selbst verraten würde. Er hoffte wenigstens darauf.
-
-»Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sie meinen, daß ich Ihnen
-unschuldige Späße erzähle,« sagte Porphyri Petrowitsch, indem er
-lustiger wurde, vor Vergnügen ununterbrochen kicherte und wieder im
-Zimmer herumwanderte. »Sie haben selbstverständlich ein Recht dazu. Gott
-hat mir so eine Gestalt verliehen, daß sie nur lächerliche Gedanken bei
-anderen erregt; bin der Possenreißer, aber ich will nur eins sagen und
-wiederhole noch einmal, entschuldigen Sie mich alten Mann, Väterchen
-Rodion Romanowitsch, -- Sie sind noch ein junger Mann, sozusagen in der
-Jugendblüte, und schätzen darum am höchsten, wie überhaupt die Jugend,
-den menschlichen Verstand. Schärfe des Verstandes und abstrakte
-Vernunftschlüsse ziehen Sie an. Das ist genau, wie mit dem früheren
-österreichischen Hofkriegsrat, soweit ich über Kriegsereignisse urteilen
-kann, -- auf dem Papier hatten sie Napoleon geschlagen und gefangen
-genommen, haben in ihrem Arbeitszimmer alles in der scharfsinnigsten
-Weise ermessen und berechnet, und zuguterletzt ergibt sich General Mack
-mit seiner ganzen Armee, he--he--he! Ich sehe, ich sehe, Väterchen
-Rodion Romanowitsch, Sie lachen über mich, daß so ein Zivilist, wie ich,
-Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführt. Ja, was soll ich tun, ich
-habe einmal diese Schwäche, liebe alles Militärische und lese sehr gern
-alle diese Kriegsrelationen ... ich habe entschieden in der Wahl meines
-Berufes gefehlt. Ich sollte als Militär dienen, gewiß, zum Napoleon
-hätte ich es nicht gebracht, höchstens bis zum Major, he--he--he! Nun,
-ich will Ihnen jetzt die volle Wahrheit in bezug auf _den Einzelfall_
-sagen, mein Lieber. Wirklichkeit und Natur, mein Herr, sind wichtige
-Dinge und machen zuweilen die allerglänzendste Berechnung zuschanden!
-He, hören Sie auf mich, einen alten Mann, ich spreche im Ernst. Rodion
-Romanowitsch,« -- (indem er dies sagte, schien der kaum
-fünfunddreißigjährige Porphyri Petrowitsch tatsächlich gealtert zu sein,
--- sogar seine Stimme hatte sich verändert und sie schien wie verfallen)
--- »und außerdem bin ich aufrichtig ... Bin ich nicht aufrichtig? Was
-meinen Sie? Mir scheint, ich bin es im vollen Maße, -- teile Ihnen
-solche Dinge umsonst mit, und verlange dafür gar keine Belohnung,
-he--he--he! Nun, also, ich fahre fort, -- Scharfsinn ist meiner Meinung
-nach ein prächtiges Ding; er ist sozusagen eine Zierde der Natur und ein
-Trost des Lebens, und kann solche Kunststücke produzieren, daß zuweilen
-ein armer Untersuchungsrichter beim besten Willen sie nicht erraten
-kann, der zudem von seiner eigenen Phantasie geleitet wird, wie es oft
-genug vorkommt, denn er ist auch nur ein Mensch! Aber die Natur hilft
-dem armen Untersuchungsrichter, das ist das Unglück! Daran aber denkt
-die von ihrem Scharfsinn hingerissene Jugend nicht, >die über alle
-Hindernisse hinwegschreitet<, -- wie Sie sich scharfsinnig und trefflich
-auszudrücken beliebten. Er wird -- nehmen wir es an -- lügen, das heißt,
-der Mensch, _der Einzelfall_, der Inkognito, und wird ausgezeichnet und
-in der schlauesten Weise lügen; nun müßte er, sollte man meinen,
-triumphieren und die Früchte seines Scharfsinnes genießen, aber es kommt
-ein Krach, -- bei der interessantesten, skandalösesten Stelle fällt er
-in Ohnmacht. Angenommen, es kann von Krankheit und zuweilen von der
-dumpfen Luft in einem Zimmer kommen, aber trotzdem! Trotzdem ist der
-Gedanke gegeben! Er hat unvergleichlich gelogen, hat aber nicht
-verstanden, mit der Natur zu rechnen. Darin aber lag die Tücke! Ein
-anderes Mal läßt er sich von der Lebhaftigkeit seines Scharfsinnes
-hinreißen, beginnt einen Menschen, der ihn im Verdacht hat, zum Narren
-zu halten, erbleicht, wie absichtlich, wie im Scherze, aber erbleicht
-_schon zu natürlich_, so daß es zu sehr wirklichem Erbleichen gleicht,
-und wieder ist der Gedanke gegeben! Wenn ihm auch der Betrug zum ersten
-Male gelingt, aber über Nacht denkt jener nach und überlegt es sich
-anders, wenn er nicht dumm ist. Und so geschieht es auf Schritt und
-Tritt! Das ist noch nichts, -- er beginnt sich selbst vorzudrängen,
-beginnt sich hineinzumischen, wo man ihn nicht fragt, spricht in einem
-fort über Dinge, über die er im Gegenteil schweigen müßte, läßt
-allerhand Allegorien vom Stapel, he--he!, kommt selbst und fragt, warum
-man ihn so lange nicht festnimmt, he--he--he! und das kann auch mit dem
-scharfsinnigsten Menschen, mit einem Psychologen und Literaten,
-passieren! Die Natur ist ein Spiegel, der durchsichtigste Spiegel! Sieh
-hinein und betrachte dich, ja so ist es! Ja, warum sind Sie so blaß
-geworden, Rodion Romanowitsch, ist es für Sie hier zu dumpf, soll ich
-nicht das Fenster aufmachen?«
-
-»Oh, bemühen Sie sich, bitte, nicht,« -- rief Raskolnikoff aus und
-lachte plötzlich laut, -- »bitte, bemühen Sie sich nicht.«
-
-Porphyri Petrowitsch blieb vor ihm stehen, wartete eine Weile und
-stimmte dann in das Lachen ein. Raskolnikoff erhob sich vom Diwan und
-brach plötzlich seinen Lachanfall ab.
-
-»Porphyri Petrowitsch!« -- sagte er laut und deutlich, obwohl er kaum
-auf den zitternden Füßen stehen konnte, -- »ich sehe endlich klar, daß
-Sie mich positiv im Verdacht haben, diese Alte und ihre Schwester
-Lisaweta ermordet zu haben. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß ich all
-dessen längst überdrüssig bin. Wenn Sie finden, daß Sie ein Recht haben,
-mich gesetzlich zu verfolgen, so verfolgen Sie mich, zu arretieren, so
-arretieren Sie mich. Aber ich erlaube nicht, daß man mir ins Gesicht
-lacht und mich quält ...«
-
-Seine Lippen zitterten plötzlich, die Augen loderten vor Wut und die bis
-jetzt gemäßigte Stimme schwoll an. »Ich erlaube es nicht!« rief er
-plötzlich und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch, --
-»hören Sie, Porphyri Petrowitsch? Ich erlaube es nicht!«
-
-»Ach, mein Gott, was ist Ihnen!« rief Porphyri Petrowitsch, offenbar
-völlig erschreckt; -- »Väterchen! Rodion Romanowitsch! Lieber! Was ist
-mit Ihnen?«
-
-»Ich erlaube es nicht!« -- rief Raskolnikoff noch einmal.
-
-»Leise, Väterchen! Man könnte es hören und herkommen! Und, was wollen
-wir ihnen dann sagen, bedenken Sie!« -- flüsterte Porphyri Petrowitsch
-entsetzt und näherte sein Gesicht dem Raskolnikoffs.
-
-»Ich erlaube es nicht, ich erlaube es nicht!« -- wiederholte
-Raskolnikoff mechanisch, aber plötzlich ganz leise.
-
-Porphyri Petrowitsch wandte sich schnell um und lief, um das Fenster zu
-öffnen.
-
-»Frische Luft hereinlassen! und etwas Wasser müssen Sie trinken, mein
-Lieber, es ist ja ein Anfall!« -- und er wollte zur Türe stürzen, um
-nach Wasser zu schicken, fand jedoch hier selbst in einer Ecke eine
-volle Karaffe.
-
-»Da, Väterchen, trinken Sie,« -- flüsterte er, mit der Karaffe zu ihm
-eilend, -- »vielleicht hilft es ...«
-
-Die Angst und selbst die Teilnahme von Porphyri Petrowitsch waren so
-natürlich, daß Raskolnikoff verstummte und mit Neugier ihn betrachtete.
-Das Wasser nahm er nicht an.
-
-»Rodion Romanowitsch! Lieber! Ja, in dieser Weise werden Sie noch den
-Verstand verlieren, ich versichere Sie! Ach! Trinken Sie! Trinken Sie
-wenigstens etwas!«
-
-Er zwang ihn doch, das Glas Wasser in die Hand zu nehmen. Raskolnikoff
-führte es mechanisch an die Lippen, besann sich aber und stellte es mit
-Widerwillen auf den Tisch.
-
-»Ja, Sie haben einen kleinen Anfall gehabt! In dieser Weise werden Sie,
-mein Lieber, wieder, wie früher schon, krank,« -- begann mit
-freundschaftlicher Teilnahme Porphyri Petrowitsch, und anscheinend noch
-fassungslos. -- »Mein Gott! Ja, wie kann man sich so wenig schonen?
-Gestern war Dmitri Prokofjitsch bei mir gewesen, -- ich gebe zu, ich
-habe einen schlimmen, böswilligen Charakter, -- aber was sie alles für
-Schlüsse daraus ziehen ... Mein Gott! Er kam gestern zu mir, als Sie
-fortgegangen waren, wir saßen beim Mittagessen, er redete und redete,
-ich staunte bloß ... kam er etwa in Ihrem Auftrage? Ja, so setzen Sie
-sich doch, Väterchen, nehmen Sie Platz um Christi willen!«
-
-»Nein, er kam nicht in meinem Auftrage! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen
-gehen und warum er zu Ihnen gehen würde,« -- antwortete Raskolnikoff
-scharf.
-
-»Sie wußten es?«
-
-»Ich wußte es. Nun, was ist denn dabei?«
-
-»Ja, Väterchen, Rodion Romanowitsch, ich weiß noch ganz andere Dinge von
-Ihnen; ich weiß alles! Ich weiß auch, wie Sie, als es dunkelte, in der
-Nacht _eine Wohnung zu mieten_ gingen, an der Glocke klingelten, und
-nach dem Blut fragten, und die Arbeiter und die Hausknechte verwirrt
-machten. Ich verstehe auch Ihre damalige Seelenstimmung ... aber Sie
-werden sich in dieser Weise um den Verstand bringen, bei Gott! Werden
-zugrundegehen! Eine starke, edle Entrüstung kocht in Ihnen gegen die
-empfangenen Kränkungen, zuerst vom Schicksal, dann von den
-Polizeibeamten, darum stürzen Sie auch hierhin und dorthin, um sozusagen
-schneller alle zum Sprechen zu bringen, und um allem mit einem Male ein
-Ende zu machen, denn dieser Unsinn und dieser ganze Verdacht ist Ihnen
-zum Überdruß. Ist es nicht so? Habe ich die Stimmung erraten? ... Und in
-dieser Weise werden Sie nicht allein zugrunde gehen, sondern ziehen auch
-unseren Rasumichin hinein, er ist doch dafür ein _zu guter_ Mensch, Sie
-wissen es ja selbst. Bei Ihnen ist es eine Krankheit, bei ihm Tugend ...
-die Krankheit könnte auch ihn anstecken ... Ich will Ihnen, Väterchen,
-wenn Sie sich beruhigt haben, etwas erzählen ... aber setzen Sie sich
-doch um Christi willen, Väterchen! Bitte, ruhen Sie sich aus, Sie sehen
-blaß aus, ja, setzen Sie sich doch!« Raskolnikoff setzte sich hin, das
-Zittern ging vorüber, und sein ganzer Körper begann zu glühen. Mit
-tiefem Erstaunen und aufmerksam hörte er dem erschrockenen und
-freundschaftlich um ihn bemühten Porphyri Petrowitsch zu. Aber er
-glaubte keinem einzigen seiner Worte, obwohl er eine seltsame Neigung
-empfand zu glauben. Die unerwarteten Worte Porphyri Petrowitsch' über
-die Wohnung hatten ihn äußerst bestürzt. -- »Wie, er weiß also von der
-Wohnung?« -- dachte er plötzlich, -- »und erzählt es mir selbst!«
-
-»Ja, in unserer Gerichtspraxis gab es einmal einen fast ähnlichen Fall,
-auch einen psychopathischen, krankhaften Fall,« -- fuhr Porphyri
-Petrowitsch schnell fort, -- »da hat auch einer einen Mord sich
-zugedichtet und wie, -- eine ganze Halluzination führte er an, brachte
-Tatsachen, erzählte einzelne Umstände, verwirrte alle und machte jeden
-konfus, und aus welchem Grunde? Er selbst war völlig ohne Absicht und
-Wissen mit die Ursache an dem Morde, und als er erfuhr, daß er den
-Mördern Veranlassung zu ihrer Tat gegeben hatte, wurde er schwermütig
-und tiefsinnig, hatte Erscheinungen, verlor ganz den Verstand und
-bildete sich ein, daß er selbst der Mörder sei! Aber der Senat klärte
-schließlich die Sache auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und
-in Pflege gegeben. Dank dem Senate! Ach, ja, ja! Ja, wie soll es mit
-Ihnen enden, Väterchen? In dieser Weise kann man leicht an Nervenfieber
-erkranken, wenn man solche Anwandlungen hat, seine Nerven zu reizen,
-nachts die Klingel zu ziehen und nach Blut zu fragen! Ich habe diese
-ganze Psychologie in der Praxis studiert. In dieser Weise packt es einen
-Menschen zuweilen, aus dem Fenster oder von einem Turme zu springen, und
-es ist eine verführerische Empfindung. Ebenso ist es auch mit dem
-Klingelziehen ... Es ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, Sie sind
-krank! Sie vernachlässigen Ihre Krankheit zu sehr. Sie sollten zu einem
-erfahrenen Arzt hingehen, der Dicke kann Ihnen doch nicht viel nützen!
-... Sie haben Fieberwahn! Sie tun alles nur im Fieberwahne! ...«
-
-Auf einen Augenblick drehte sich alles vor Raskolnikoffs Augen.
-
-»Ist es möglich,« -- schwirrte es in seinem Kopfe, -- »ist es möglich,
-daß er auch jetzt lügt? Es ist undenkbar, unmöglich!« -- er stieß diesen
-Gedanken von sich, da er fühlte, in welchen Grad von Zorn und Raserei
-ihn derselbe bringen müßte, und daß er vor Wut den Verstand verlieren
-könne.
-
-»Das war nicht im Fieberwahn, das war im wachen Zustande!« -- rief er
-aus und spannte alle Kräfte seines Verstandes an, um das Spiel Porphyri
-Petrowitsch' zu durchschauen. -- »Im wachen Zustande, bei vollem
-Verstande! Hören Sie?«
-
-»Ja, ich verstehe und höre es! Sie sagten auch gestern, daß es nicht im
-Fieberwahne war, Sie betonten sogar, daß es nicht im Fieberwahne war!
-Ich begreife alles, was Sie sagen! Ach! ... Hören Sie doch, Rodion
-Romanowitsch, mein lieber Mensch, ziehen Sie doch diesen Umstand in
-Erwägung. Wenn Sie tatsächlich in dieser verfluchten Sache schuldig oder
-irgendwie darin verwickelt wären, würden Sie dann -- ich bitte Sie --
-selbst betonen, daß Sie dies alles nicht im Fieberwahne, sondern im
-Gegenteil bei vollem Verstande getan haben? Und es ganz besonders
-betonen, mit einer besonderen Hartnäckigkeit es betonen, -- wäre es denn
-möglich, wäre es denkbar, ich bitte Sie? Meiner Meinung nach würden Sie
-das Gegenteil behaupten. Wenn Sie kein reines Gewissen hätten, so müßten
-Sie unbedingt betonen, -- daß Sie es unbedingt im Fieberwahne getan
-haben! Ist es nicht so? Meine Annahme ist doch richtig?«
-
-Etwas Heimtückisches klang in dieser Frage. Raskolnikoff wich vor
-Porphyri Petrowitsch zurück, der sich zu ihm gebeugt hatte, und
-betrachtete ihn schweigend, starr und voller Zweifel.
-
-»Oder nehmen wir den Fall mit Rasumichin, das heißt, ob er gestern aus
-freien Stücken kam zu sprechen, oder ob Sie ihn dazu gebracht haben? Ja,
-Sie müßten unbedingt gesagt haben, daß er aus eigenem Antriebe gekommen
-war, und verheimlichen, daß er es in Ihrem Auftrage getan hat! Sie aber
-verheimlichen es nicht! Sie betonen gerade, daß er in Ihrem Auftrage
-hier gewesen war!«
-
-Raskolnikoff hatte es niemals betont. Ein Schauer durchzog seinen
-Rücken.
-
-»Sie lügen wieder,« -- sagte er langsam und schwach, und seine Lippen
-verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln, -- »Sie wollen mir wieder
-zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel kennen und alle meine Antworten im
-voraus wissen,« -- sagte er und fühlte selbst nicht, daß er seine Worte
-nicht mehr genügend erwog, -- »Sie wollen mir Furcht einjagen ... oder
-Sie lachen einfach über mich ...«
-
-Er fuhr fort, ihn starr anzusehen, als er dies sagte, und wieder
-leuchtete eine grenzenlose Wut in seinen Augen auf.
-
-»Sie lügen alles!« -- rief er aus. -- »Sie wissen selbst ausgezeichnet,
-daß der beste Ausweg für einen Verbrecher ist, nach Möglichkeit nichts
-zu verheimlichen, was man nicht verheimlichen kann. Ich glaube Ihnen
-nicht!«
-
-»Wie spitzfindig Sie sind!« -- kicherte Porphyri Petrowitsch, -- »man
-wird mit Ihnen, Väterchen, nicht fertig; eine Art Monomanie steckt tief
-in Ihnen. Also, Sie glauben mir nicht? Ich sage Ihnen aber, daß Sie mir
-schon glauben, daß Sie mir schon zu einem Viertel glauben, und ich will
-mein Möglichstes tun, daß Sie mir noch ganz und gar glauben werden, denn
-ich habe Sie wirklich gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.«
-
-Raskolnikoffs Lippen bebten.
-
-»Ja, ich wünsche Ihnen Gutes, sage ich Ihnen noch einmal,« -- fuhr er
-fort, und faßte Raskolnikoff leicht und freundschaftlich am Arm, ein
-wenig über dem Ellbogen, -- »ich will es Ihnen auch noch einmal sagen,
--- achten Sie auf Ihre Krankheit. Außerdem sind auch Ihre allernächsten
-Verwandten jetzt angekommen; denken Sie auch an die. Sie sollen sie
-pflegen und hüten, und Sie erschrecken sie bloß ...«
-
-»Was geht das Sie an? Woher wissen Sie es? Warum interessieren Sie sich
-in dieser Weise für mich? Also, Sie beobachten mich und wollen es mir
-zeigen?«
-
-»Väterchen! Ich habe es doch von Ihnen, von Ihnen selbst erfahren! Sie
-merken nicht mal, daß Sie in Ihrer Erregung mir selbst alles und anderen
-auch erzählen. Auch von Dmitri Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern
-viele interessante Details erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen,
-ich sage aber, daß Sie durch Ihren Argwohn, trotz Ihres ganzen
-Scharfsinnes, den gesunden Blick für die Dinge verlieren. Nun, nehmen
-wir, zum Beispiel, wieder das Klingelziehen, -- solch eine Krankheit,
-diese Tatsache, -- es ist doch eine ganze Tatsache, -- liefere ich Ihnen
-ohne weiteres aus, ich, der Untersuchungsrichter! Und Sie sehen darin
-gar nichts? Nun, sagen Sie, wenn ich nur einen kleinen Verdacht auf Sie
-hätte, würde ich so handeln können? Ich müßte im Gegenteil Ihren Argwohn
-zuerst einschläfern und nicht mal zeigen, daß ich diese Tatsache schon
-kenne, ich müßte Sie in entgegengesetzter Richtung ablenken, um Sie
-plötzlich, wie mit einem Schlage auf den Kopf, mit der Frage zu
-betäuben, -- >was suchten Sie -- würde ich fragen, -- um zehn Uhr
-abends, oder es kann auch elf Uhr gewesen sein, in der Wohnung der
-Ermordeten? Warum haben Sie an der Klingel gezogen? Und warum fragten
-Sie nach dem Blute? Warum machten Sie die Hausknechte konfus und
-forderten sie auf, auf das Polizeibureau, zum Revieraufseher,
-mitzugehen?< Sehen Sie, in dieser Weise müßte ich handeln, wenn ich den
-winzigsten Verdacht gegen Sie hätte. Ich müßte Sie in aller Form
-verhören, eine Haussuchung bei Ihnen vornehmen und Sie möglicherweise
-auch arretieren ... Also kann ich doch keinen Verdacht gegen Sie hegen,
-wenn ich anders gehandelt habe! Sie haben aber den gesunden Blick
-verloren und sehen gar nichts, wiederhole ich!«
-
-Raskolnikoff zuckte zusammen, so daß Porphyri Petrowitsch es zu deutlich
-bemerkte.
-
-»Sie lügen alles!« -- rief er aus, -- »ich kenne Ihre Absichten nicht,
-aber Sie lügen ... Vorhin haben Sie nicht in diesem Sinne gesprochen und
-ich kann mich nicht irren ... Sie lügen!«
-
-»Ich lüge?« -- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch, sich scheinbar
-ereifernd, behielt jedoch das lustigste und spöttischste Aussehen bei,
-als kümmerte es ihn wenig, welch eine Meinung Herr Raskolnikoff über ihn
-habe. -- »Ich lüge? ... Und wie habe ich vorhin Ihnen gegenüber
-gehandelt, ich, der Untersuchungsrichter? Ich habe Ihnen selbst alle
-Mittel zur Verteidigung genannt und ausgeliefert, habe selbst Ihnen die
-ganze Psychologie erklärt, habe Krankheit, Fieberwahn, Kränkungen,
-Melancholie und Polizeibeamte und dergleichen mehr erwähnt! Ah!
-He--he--he! Obwohl -- nebenbei gesagt, -- alle diese psychologischen
-Mittel zur Verteidigung, Ausflüchte und Ausreden äußerst unstichhaltig
-sind und zwei Seiten haben. >Ich war krank, hatte Fieberträume, war im
-Wahne, erinnere mich nicht<, -- alle diese Ausreden sind ja richtig,
-aber es fragt sich, Väterchen, warum in der Krankheit und im Fieberwahne
-immer solche Vorstellungen auftauchen und nicht andere? Es können einem
-doch auch andere Vorstellungen erscheinen? Ist es nicht so? He--he--he!«
-
-Raskolnikoff blickte ihn stolz und voll Verachtung an.
-
-»Mit einem Worte,« -- sagte er laut und eindringlich, indem er aufstand
-und dabei Porphyri Petrowitsch ein wenig zur Seite stieß -- »mit einem
-Worte, ich will endgültig wissen, ob Sie mich frei von jedem Verdacht
-finden oder _nicht_? Sagen Sie es, Porphyri Petrowitsch, sagen Sie es
-mir positiv, endgültig, und schnell, sofort!«
-
-»Das ist eine Geschichte! Ist das eine Plage mit Ihnen,« -- rief
-Porphyri Petrowitsch mit vollkommen lustiger, schlauer und gar nicht
-bewegter Miene, -- »ja, wozu wollen Sie es wissen, wozu wollen Sie so
-vieles wissen, wenn man noch nicht einmal begonnen hat, Sie in
-irgendeiner Weise zu belästigen? Sie sind wie ein Kind, dem man Feuer in
-die Hand geben soll! Warum beuunruhigen Sie sich in dieser Weise? Warum
-drängen Sie sich uns auf, aus welchen Gründen? Ah? He--he--he!«
-
-»Ich wiederhole Ihnen,« -- rief Raskolnikoff in blinder Wut, -- »daß ich
-es länger nicht ertragen kann ...«
-
-»Was denn? Die Ungewißheit?« -- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch.
-
-»Höhnen Sie nicht! Ich will es nicht haben! Ich sage Ihnen, ich will es
-nicht! ... Ich kann und will es nicht! ... Hören Sie! Hören Sie!« --
-rief er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch.
-
-»Stiller, leiser! Man könnte es hören! Ich warne Sie in allem Ernst, --
-schonen Sie sich. Ich scherze nicht!« -- sagte Porphyri Petrowitsch im
-Flüstertone, aber diesmal lag in seinem Gesichte nicht mehr der frühere
-weibisch gutmütige und erschrockene Ausdruck; im Gegenteil, er _befahl_
-es streng, mit zusammengezogenen Augenbrauen und ließ alle
-Geheimnistuerei und Zweideutigkeit fallen. Das dauerte jedoch nur einen
-kurzen Augenblick. Der bestürzte Raskolnikoff geriet in die höchste Wut,
-und doch, merkwürdig, -- wie hypnotisiert gehorchte er wieder dem
-Befehle, leiser zu sprechen.
-
-»Ich lasse mich nicht quälen!« -- flüsterte er, wie vorhin, indem er
-sofort voll Schmerz und Haß einsah, daß er dem Befehle gehorchen mußte,
-und geriet bei diesem Gedanken in immer größere Wut, -- »arretieren Sie
-mich, lassen Sie bei mir Haussuchung halten, aber handeln Sie nach
-gesetzlicher Form und spielen Sie nicht mit mir! Wagen Sie es nicht ...«
-
-»So regen Sie sich doch nicht wieder wegen der gesetzlichen Form auf,«
--- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch mit dem früheren schlauen Lächeln
-und betrachtete scheinbar Raskolnikoff mit Vergnügen, -- »Väterchen, ich
-habe Sie doch in aller Gemütlichkeit, in aller Freundschaft eingeladen!«
-
-»Ich will nicht Ihre Freundschaft, ich pfeife darauf! Hören Sie? Und
-jetzt nehme ich meine Mütze und gehe fort. Nun, was willst du jetzt
-sagen, wenn du mich arretieren willst?«
-
-Er nahm seine Mütze und ging zu der Türe.
-
-»Wollen Sie nicht noch die Überraschung sehen, die ich für Sie habe?«
-kicherte Porphyri Petrowitsch, faßte ihn wieder am Arme und hielt ihn an
-der Türe zurück. Er wurde sichtlich wieder lustiger und lebhafter, was
-Raskolnikoff ganz außer sich brachte.
-
-»Was für eine Überraschung? Was ist es?« -- fragte er, stehen bleibend
-und Porphyri Petrowitsch erschreckt anblickend.
-
-»Die Überraschung sitzt hier hinter der Türe, he--he--he!« -- er zeigte
-mit dem Finger auf die verschlossene Tür in der Scheidewand, die in
-seine Amtswohnung führte. -- »Ich habe sie dort eingeschlossen, damit
-sie nicht fortläuft.«
-
-»Was sagen Sie? Wo? Was? ...« -- Raskolnikoff trat an die Türe und
-wollte sie öffnen, jedoch sie war verschlossen.
-
-»Sie ist verschlossen, den Schlüssel habe ich!«
-
-Und er zog aus seiner Tasche einen Schlüssel hervor und zeigte ihn ihm.
-
-»Du lügst!« -- schrie Raskolnikoff, ohne sich noch einen weiteren Zwang
-aufzuerlegen,-- »du lügst, verfluchter Hanswurst!« Er stürzte sich auf
-Porphyri Petrowitsch, der sich zwar zur Türe zurückgezogen hatte, aber
-keineswegs aus Furcht.
-
-»Ich merke alle deine Absichten, alle! -- Du lügst und neckst mich,
-damit ich mich verraten soll.«
-
-»Ja, mehr kann man sich doch nicht verraten, als Sie es tun, Väterchen
-Rodion Romanowitsch. -- Sie haben ja einen Anfall von Tobsucht. Schreien
-Sie nicht so, ich rufe sonst nach Hilfe.«
-
-»Du lügst, nichts wird geschehen! Rufe deine Leute! Du weißt, daß ich
-krank bin und willst mich wütend machen, damit ich mich verraten soll,
-das ist deine Absicht! Nein, zeige mir Tatsachen! Ich habe alles
-begriffen! Ich weiß, du hast keine Tatsachen, du hast bloß elende,
-nichtige Vermutungen von Sametoff! ... Du kanntest meinen Charakter,
-wolltest mich in rasende Wut bringen, und dann mich plötzlich mit
-Priestern und Delegierten überrumpeln ... Du wartest auf sie? Ah! Was
-wartest du? Wo? komm doch mit ihnen!«
-
-»Was für Delegierte sollte ich haben, Väterchen? Was dem Menschen nicht
-alles einfällt! In dieser Weise kann man doch gar nicht nach der
-gesetzlichen Form handeln, wie Sie meinen, Sie kennen diesen
-gesetzlichen Weg überhaupt nicht, mein Lieber ... Die gesetzliche Form
-läuft nicht davon, Sie werden es noch selbst sehen ... --« murmelte
-Porphyri Petrowitsch und lauschte an der Türe.
-
-In diesem Augenblicke hörte man wirklich im anderen Zimmer in der Nähe
-der Türe einen Lärm.
-
-»Ah, sie kommen!« -- rief Raskolnikoff aus, -- »du hast nach ihnen
-geschickt! ... Die hast du erwartet! Hast auf sie gerechnet ... Nun,
-komme mit ihnen allen, mit den Delegierten, Zeugen ... komme mit was du
-willst! Ich bin bereit! Bin bereit!«
-
-Aber in diesem Momente trat ein merkwürdiges Ereignis ein, für den
-gewöhnlichen Gang der Dinge so unerwartet, daß weder Raskolnikoff noch
-Porphyri Petrowitsch einen solchen Ausgang erwartet hatte.
-
-
- VI.
-
-Raskolnikoffs Erinnerung an diesen Moment war in späterer Zeit folgende:
-
-Das Geräusch hinter der Türe verstärkte sich und die Türe wurde ein
-wenig geöffnet.
-
-»Was soll das?« -- rief Porphyri Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch
-gesagt ...«
-
-Einen kurzen Augenblick erfolgte keine Antwort, jedoch man merkte, daß
-hinter der Türe einige Leute standen, die jemanden zurückzuhalten
-schienen.
-
-»Was ist denn los?« -- wiederholte Porphyri Petrowitsch beunruhigt.
-
-»Man hat den Arrestanten Nikolai gebracht,« -- ertönte eine Stimme.
-
-»Es ist nicht nötig! Fort mit ihm! Soll warten! ... Weshalb hat man ihn
-hierher gebracht? Was ist das für eine Unordnung!« -- rief Porphyri
-Petrowitsch, zur Türe stürzend.
-
-»Ja, er ...,« -- begann dieselbe Stimme und brach plötzlich ab.
-
-Nicht länger als zwei Sekunden währte ein regelrechter Kampf, als jemand
-mit aller Kraft zurückgestoßen wurde, und darauf ein sehr bleicher Mann
-direkt in das Arbeitszimmer von Porphyri Petrowitsch eintrat.
-
-Dieser Mensch sah sehr eigentümlich aus. Er blickte vor sich hin, ohne
-von seiner Umgebung etwas zu merken. In seinen Augen funkelte eine
-Entschlossenheit, Totenblässe bedeckte sein Gesicht, als hätte man ihn
-zum Schafott gebracht. Seine blutleeren Lippen zuckten.
-
-Er war gekleidet wie ein Mann aus dem Volke, war noch sehr jung, von
-mittlerem Wuchse, hager, mit rund beschnittenen Haaren und feinen,
-herben Gesichtszügen. Der von ihm unerwartet Zurückgestoßene, ein
-Gefängniswärter, stürzte als erster ihm ins Zimmer nach und packte ihn
-an den Schultern. Nikolai zog seinen Arm zurück und riß sich abermals
-von ihm los.
-
-In der Türe drängten sich die Neugierigen. Manche von ihnen wollten
-eintreten. Alles das geschah in einem Augenblick.
-
-»Fort, es ist zu früh! Warte, bis ich dich rufen lasse! ... Warum hat
-man ihn schon jetzt hergebracht?« murmelte ärgerlich Porphyri
-Petrowitsch, ganz außer sich.
-
-Da warf sich Nikolai auf die Knie nieder.
-
-»Was ist mir dir?« -- rief Porphyri Petrowitsch erstaunt.
-
-»Ich bin schuldig! Ich bin der Sünder! Ich bin der Mörder!« -- sagte
-plötzlich Nikolai, stockend, aber mit ziemlich lauter Stimme.
-
-Ein Schweigen, als wären alle erstarrt, trat ein; der eskortierende
-Soldat wich zurück und trat nicht mehr an Nikolai heran, er ging
-mechanisch zur Türe und blieb dort unbeweglich stehen.
-
-»Was sagst du?« -- rief Porphyri Petrowitsch, aus seiner Erstarrung
-erwachend.
-
-»Ich ... bin der Mörder ...,« -- wiederholte Nikolai nach kurzem
-Schweigen.
-
-»Wie ... du ... wie ... Wen hast du ermordet?«
-
-Porphyri Petrowitsch war sichtbar betreten.
-
-Nach einer kurzen Pause antwortete Nikolai wieder.
-
-»Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna habe ich ... mit
-dem Beile ... erschlagen. Eine Verblendung kam über mich ... --« fügte
-er plötzlich hinzu und verstummte von neuem, immer noch auf den Knien
-liegend.
-
-Porphyri Petrowitsch stand nachdenklich da; als er wieder zu sich kam,
-winkte er mit den Händen den ungebetenen Zeugen, fortzugehen. Sie
-verschwanden sogleich und die Türe wurde zugemacht. Dann blickte er
-Raskolnikoff an, der in einer Ecke stand und Nikolai verstört ansah, er
-ging auf ihn zu, blieb jedoch auf halbem Wege wieder stehen, betrachtete
-ihn nochmals, wandte dann seinen Blick Nikolai zu, und so besah er beide
-abwechselnd, bis er sich plötzlich auf Nikolai stürzte, von einem
-Gedanken gepackt.
-
-»Was kommst du mir mit deiner Verblendung daher?« -- rief er ihm wütend
-zu. -- »Ich habe doch noch gar nicht gefragt, ob eine Verblendung über
-dich gekommen ist oder nicht ... sage mir, hast du gemordet?«
-
-»Ich bin der Mörder ... ich mache das Bekenntnis ...« -- sagte Nikolai.
-
-»Ach was! Und womit hast du gemordet?«
-
-»Mit einem Beile. Ich hatte es mir vorher besorgt.«
-
-»Nur langsam, nicht so schnell! Du allein?«
-
-Nikolai verstand die Frage nicht.
-
-»Hast du allein gemordet?«
-
-»Allein. Dmitri ist unschuldig und ganz unbeteiligt.«
-
-»Eile nicht so mit Dmitri! ...«
-
-»Wie bist du denn damals die Treppe hinuntergelaufen? Die Hausknechte
-haben doch euch beide zusammen gesehen?«
-
-»Ich bin absichtlich ... damals ... mit Dmitri hinuntergelaufen,« --
-antwortete Nikolai schnell als hätte er sich vorher vorbereitet.
-
-»Ja, da haben wir's wieder!« rief Porphyri Petrowitsch wütend aus, --
-»er glaubt selbst nicht, was er sagt!« -- murmelte er scheinbar vor sich
-hin und bemerkte im selben Augenblick Raskolnikoff wieder.
-
-Er war so stark mit Nikolai beschäftigt, daß er für eine kurze Zeit die
-Anwesenheit Raskolnikoffs offenbar vergessen hatte. Er wurde verlegen
-...
-
-»Rodion Romanowitsch, Väterchen! Entschuldigen Sie mich, es geht nicht
-an ... bitte ... Sie haben hier nichts zu tun ... ich bin auch selbst
-... Sie sehen, welch eine Überraschung! ... Bitte! ...«
-
-Er nahm ihn bei der Hand und zeigte auf die Türe.
-
-»Das haben Sie nicht erwartet?« -- sagte Raskolnikoff, der die Sache
-selbst noch nicht begriff, jedoch seine Fassung wiedergefunden hatte.
-
-»Auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Wie Ihre Hand zittert!
-He--he--he!«
-
-»Auch Sie zittern, Porphyri Petrowitsch.«
-
-»Ja, ich zittere auch; hätte das nie für möglich gehalten! ...«
-
-Sie standen beide schon an der Türe. Porphyri Petrowitsch wartete mit
-Ungeduld auf Raskolnikoffs Hinausgehen.
-
-»Und Ihre Überraschung, wollen Sie sie mir nicht zeigen?« -- sagte
-Raskolnikoff höhnisch.
-
-»Sie fangen schon wieder so an, während Ihnen die Zähne noch ordentlich
-klappern, he--he! Sie sind ein eigener Mensch! Nun, auf Wiedersehen.«
-
-»Es wäre besser, _Lebewohl_ zu sagen!«
-
-»So Gott will, so Gott will!« -- murmelte Porphyri Petrowitsch mit einem
-schiefen Lächeln.
-
-Als Raskolnikoff durch die Kanzlei ging, bemerkte er, daß viele ihn
-aufmerksam anblickten. Im Vorzimmer sah er unter der Menge die beiden
-Hausknechte aus _jenem_ Hause, die er damals in der Nacht mit zum
-Polizeiaufseher gehen hieß. Sie standen und warteten. Kaum hatte er die
-Treppe erreicht, als er die Stimme Porphyri Petrowitschs hinter sich
-vernahm. Er kehrte sich um und bemerkte, daß dieser ihm ganz außer Atem
-nachkam.
-
-»Nur ein Wort noch, Rodion Romanowitsch, über die Sache ... nun, wie
-Gott will! aber dennoch muß ich Sie über einiges der Form wegen fragen
-... so sehen wir uns noch, nicht wahr?«
-
-Und Porphyri Petrowitsch blieb lächelnd vor ihm stehen.
-
-»Nicht wahr?« -- fügte er noch einmal hinzu.
-
-Man hatte den Eindruck, daß er noch etwas sagen wollte, aber es erfolgte
-nichts.
-
-»Ich bitte Sie, Porphyri Petrowitsch, mich zu entschuldigen wegen des
-vorhin Vorgefallenen ... ich habe mich hinreißen lassen,« -- begann
-Raskolnikoff, vollkommen gefaßt und dem unwiderstehlichen Wunsche
-nachgebend, sich wichtig zu tun.
-
-»Hat nichts zu sagen, hat nichts auf sich,« -- fiel Porphyri Petrowitsch
-fast freudig ein. -- »Auch ich selbst ... ich habe einen gehässigen
-Charakter, ich gebe es zu, ich gebe es zu! Wir werden uns ja
-wiedersehen. Wenn Gott will, werden wir uns sehr bald wiedersehen! ...«
-
-»Und dann einander endgültig kennenlernen?« -- fiel Raskolnikoff ein.
-
-»Und dann einander endgültig kennenlernen,« -- pflichtete ihm Porphyri
-Petrowitsch bei, kniff die Augen zusammen und sah ihn durchdringend an.
--- »Jetzt eilen Sie zum Namenstage?«
-
-»Zur Beerdigung.«
-
-»Ja, richtig, zur Beerdigung! Schonen Sie Ihre Gesundheit vor allem,
-Ihre Gesundheit ...«
-
-»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen meinerseits wünschen soll!« --
-fiel Raskolnikoff ein, der schon die Treppe hinabstieg und sich wieder
-zu Porphyri Petrowitsch umwandte, -- »ich möchte Ihnen >guten Erfolg<
-wünschen, aber Ihr Amt ist zu eigenartig!«
-
-»Wieso denn, eigenartig?« -- Porphyri Petrowitsch spitzte die Ohren,
-obwohl er sich schon umgekehrt hatte, um fortzugehen.
-
-»Warum denn nicht; diesen armen Nikolai haben Sie wahrscheinlich auch
-ordentlich psychologisch in Ihrer Weise gequält und gemartert, bis er
-gestanden hat; haben ihm wahrscheinlich Tag und Nacht vorinspiriert, --
->du bist der Mörder, du bist der Mörder ...<, und jetzt, wo er es
-eingestanden hat, werden Sie ihn wieder anders vorkriegen. Jetzt heißt
-es: >Du lügst, du bist nicht der Mörder! Du kannst es nicht sein! Du
-glaubst nicht an deine eigenen Worte!< Nun, ist Ihr Amt nicht komisch?«
-
-»He--he--he! Sie haben es also gehört, daß ich zu Nikolai gesagt habe,
-er glaube nicht an seine eigenen Worte?«
-
-»Warum sollte ich es nicht gehört haben?«
-
-»He--he! Sie sind scharfsinnig, sehr scharfsinnig! Sie bemerken alles!
-Sie haben einen ausgezeichneten lebhaften Verstand! Und erwischen immer
-die komischeste Seite ... he--he! Sagt man nicht, von den
-Schriftstellern hatte Gogol am ausgeprägtesten diese Eigenschaft.«
-
-»Ja, Gogol.«
-
-»Ja, Gogol ... Auf angenehmes Wiedersehen!«
-
-»Auf angenehmes Wiedersehen!«
-
-Raskolnikoff ging direkt nach Hause. Er war zuletzt so verwirrt und
-konfus geworden, daß er, als er nach Hause kam, sich auf das Sofa warf
-und erst eine Viertelstunde ausruhen mußte, ehe er versuchen konnte,
-seine Gedanken einigermaßen zu sammeln. Den Fall mit Nikolai wollte er
-gar nicht einmal erörtern, er fühlte eine mächtige Erregung in sich, und
-fühlte, daß in dem Geständnis Nikolais etwas Unerklärliches und
-Seltsames war; er war jetzt noch nicht imstande, dies alles zu fassen.
-Das Geständnis Nikolais war eine unbestreitbare Tatsache. Die Folgen
-dieser Tatsache wurden ihm sofort klar, -- die Lüge mußte sich
-offenbaren und dann nahm man _ihn_ wieder vor. Aber bis dahin war er
-wenigstens frei, er muß nun unbedingt irgend etwas für sich tun, denn
-die Gefahr war unvermeidlich.
-
-Jedoch, in welcher Weise? Die Lage begann sich zu klären. Während er
-sich im allgemeinen des ganzen Auftrittes bei Porphyri Petrowitsch
-entsann, durchlief es ihn eiskalt. Gewiß kannte er noch nicht alle
-Absichten Porphyri Petrowitschs, konnte alle seine Berechnungen vorhin
-nicht enträtseln. Doch ein Teil des Spieles war offenbar;
-selbstverständlich konnte niemand besser als er selbst verstehen, wie
-schrecklich für ihn dieser »Schachzug« im Spiele Porphyri Petrowitschs
-sei. Noch ein wenig, und er hätte sich vollkommen verraten. Indem
-Porphyri Petrowitsch die Empfindlichkeit seines Charakters erkannt hatte
-und vom ersten Augenblick richtig eingeschätzt und durchschaut hatte,
-handelte er sehr entschlossen, und fast mit sicherem Erfolge. Es war
-nicht zu bestreiten, daß Raskolnikoff sich schon stark kompromittiert
-hatte, doch bis zu _Tatsachen_ war es noch nicht gekommen; dies alles
-war nur relativ. Faßte er jedoch jetzt auch alles richtig auf? Irrte er
-sich nicht? Zu welchem Resultate wollte heute Porphyri Petrowitsch
-kommen? Hatte er heute wirklich etwas vorbereitet? Und was war es?
-Wartete er wirklich auf etwas oder nicht? Wie würden sie sich heute
-getrennt haben, wenn der unerwartete Vorfall mit Nikolai nicht
-eingetreten wäre?
-
-Porphyri Petrowitsch hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt; es war
-selbstverständlich von ihm riskiert, aber er hatte es doch getan, und --
-hatte alles aufgedeckt, wie es Raskolnikoff schien, -- wenn Porphyri
-Petrowitsch wirklich mehr gehabt hätte, würde er es auch aufgedeckt
-haben. Was war nur diese »Überraschung«? War es etwa Fopperei? Hatte sie
-eine Bedeutung oder nicht? Konnte sich darunter etwas, das einer
-Tatsache, einem positiven Beweis glich, verbergen? Vielleicht der Mann
-von gestern? Wo ist er hinverschwunden? Wo war er heute? Wenn Porphyri
-Petrowitsch etwas Positives hatte, so hing es sicher mit dem Manne von
-gestern zusammen ... Er saß auf dem Sofa, hatte den Kopf tief sinken
-lassen, stützte sich auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit beiden
-Händen. Ein nervöses Zittern durchlief immer noch seinen ganzen Körper.
-Schließlich stand er auf, nahm seine Mütze in die Hand, dachte eine
-Weile nach und ging zur Türe.
-
-Ein Gefühl, daß er wenigstens heute sich in Sicherheit fühlen könne,
-rief fast Freude in seinem Herzen wach, -- er wollte jetzt schnell zu
-Katerina Iwanowna gehen. Zur Beerdigung kam er selbstverständlich zu
-spät, zum Essen langte es noch und er würde dort Ssonja sehen.
-
-Er blieb stehen, sann nach und ein schmerzliches Lächeln zeigte sich auf
-seinen Lippen.
-
-»Heute! Heute!« -- wiederholte er vor sich, -- »ja, heute noch! Es muß
-so sein ...«
-
-Er wollte gerade die Türe öffnen, als sie auch schon von außen geöffnet
-wurde. Er erzitterte und sprang zurück. Sie öffnete sich langsam und
-leise, und die Gestalt -- des Mannes von gestern kam zum Vorschein.
-
-Der Mann blieb auf der Schwelle stehen, sah Raskolnikoff schweigend an
-und machte einen Schritt in das Zimmer. Er war genau wie gestern
-gekleidet, er hatte die gleiche gebückte Gestalt, nur in seinem Gesicht
-und im Blick war eine große Veränderung vorgegangen, -- er sah traurig
-drein, und nachdem er eine Weile dagestanden hatte, seufzte er tief. Es
-fehlte bloß, daß er die Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur
-Seite beugte, um völlig einem Weibe zu ähneln.
-
-»Was wünschen Sie?« -- fragte Raskolnikoff.
-
-Der Mann schwieg und verneigte sich auf einmal tief, so tief, daß er mit
-einem Finger der rechten Hand den Boden berührte.
-
-»Was ist mit Ihnen?« -- rief Raskolnikoff aus.
-
-»Verzeihen Sie,« -- sagte leise der Mann.
-
-»Was soll ich verzeihen?«
-
-»Meine bösen Gedanken.«
-
-Sie blickten einander an.
-
-»Es quälte mich. Als Sie damals kamen, vielleicht berauscht, und die
-Hausknechte aufforderten, mit auf die Polizei zu gehen und nach dem Blut
-fragten, quälte es mich, daß man die Sache so ohne weiteres ließ und Sie
-für einen Betrunkenen ansah. Und es quälte mich so stark, daß ich den
-Schlaf verlor. Und da ich mich Ihrer Adresse erinnerte, bin ich gestern
-hierher gekommen und habe den Hausknecht gefragt ...«
-
-»Wer ist hergekommen?« -- unterbrach ihn Raskolnikoff und da erinnerte
-er sich wieder.
-
-»Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.«
-
-»Also, Sie sind aus jenem Hause?«
-
-»Ja, ich stand damals mit den anderen am Tore, erinnern Sie sich nicht?
-Ich habe dort seit langem eine Werkstatt. Ich bin Kürschner,
-Kleinbürger, arbeite zu Hause ... Am meisten aber quälte es mich ...«
-
-Und Raskolnikoff erinnerte sich auf einmal klar der ganzen Szene von
-vorgestern am Tore; er entsann sich, daß außer den Hausknechten dort
-noch einige Menschen, darunter auch Frauen, gestanden hatten. Er
-erinnerte sich einer Stimme, die vorschlug, ihn auf die Polizei zu
-bringen. Auf das Gesicht des Sprechenden konnte er sich nicht entsinnen
-und erkannte ihn auch jetzt nicht, aber er wußte noch, daß er ihm damals
-geantwortet und sich nach ihm umgewandt habe ...
-
-Also, das war die Lösung des ganzes Schreckens von gestern. Am
-furchtbarsten war ihm der Gedanke, daß er dadurch fast zugrunde gegangen
-wäre, eines solch _nichtigen_ Verhängnisses wegen sich fast zugrunde
-gerichtet hätte. Also, außer des Besuches in der Wohnung und des
-Gespräches über das Blut konnte dieser Mensch gar nichts erzählen. So
-hatte auch Porphyri Petrowitsch gar nichts, keine Tatsachen, nichts
-Positives, nichts außer diesem _Fieberwahn_, und außer der
-_Psychologie_, die ihre _zwei Seiten_ hat. Wenn keine Tatsachen mehr
-auftauchen -- und sie dürfen nicht mehr auftauchen, dürfen, dürfen
-nicht, -- was ... was kann man ihm anhaben? Wodurch kann man ihn denn
-endgültig überführen, selbst wenn sie ihn auch arretieren würden? So hat
-Porphyri Petrowitsch erst jetzt, soeben erst von der Wohnung erfahren,
-und vorher nichts davon gewußt.
-
-»Haben Sie es heute Porphyri Petrowitsch gesagt ... daß ich dort gewesen
-war?« -- rief er aus, von einer neuen Idee überrascht.
-
-»Was für einem Porphyri Petrowitsch?«
-
-»Dem Untersuchungsrichter.«
-
-»Ja, ich habe es gesagt. Die Hausknechte gingen damals nicht hin, und da
-ging ich denn.«
-
-»Heute?«
-
-»Ich war einen Augenblick früher da, als Sie kamen. Ich habe alles mit
-angehört, alles, und wie er Sie peinigte.«
-
-»Wo? Was? Wann?«
-
-»Ich saß die ganze Zeit bei ihm hinter der Wand.«
-
-»Wie? Also Sie waren die Überraschung? Ja, wie konnte es denn zugehen?
-Erlauben Sie!«
-
-»Als ich sah,« -- begann der Kleinbürger, -- »daß die Hausknechte trotz
-meiner Worte nicht hingehen wollten, weil es, wie sie sagten, schon spät
-sei und er vielleicht böse würde, daß sie in so später Stunde noch
-daherkämen, quälte es mich, ich verlor den Schlaf und begann mich zu
-erkundigen. Und nachdem ich mich gestern erkundigt hatte, ging ich heute
-hin. Als ich zum erstenmal kam, war er noch nicht da, als ich nach einer
-Stunde wieder kam, empfing er mich nicht, und als ich zum drittenmal da
-war, -- ließ man mich zu ihm. Ich erzählte ihm alles, wie es war, er
-lief im Zimmer herum und schlug sich mit der Faust vor die Brust. >Was
-macht ihr mit mir,< -- sagte er, -- >ihr Räuber? Hätte ich das gewußt,
-ich würde ihn mit einer Eskorte geholt haben!< Dann lief er aus dem
-Zimmer, rief jemand und begann in einer Ecke mit ihm zu sprechen, dann
-kam er wieder zu mir, frug mich aus, schimpfte mich und machte auch sich
-Vorwürfe. Ich teilte ihm alles mit, sagte auch, daß Sie gestern nicht
-gewagt hätten, mir auf meine Worte zu antworten, und daß Sie mich nicht
-erkannt hätten. Da begann er wieder herumzulaufen, sich vor die Brust zu
-schlagen und zu ärgern. Als man aber Sie anmeldete, sagte er, -- >nun,
-krieche hinter die Wand, sitze dort, rühr dich nicht, was du auch hören
-solltest<, und brachte mir selbst einen Stuhl dorthin und schloß mich
-ein; >vielleicht werde ich dich noch ausfragen<, sagte er. Als man aber
-Nikolai hineingeführt hatte, ließ er mich hinaus, nachdem Sie gegangen
-waren. >Ich werde noch einmal nach dir schicken,< sagte er >und werde
-dich fragen ...<«
-
-»Und hat er Nikolai in deiner Gegenwart verhört?«
-
-»Als er Sie hinausgeleitet und mich hinausgelassen hatte, begann er
-Nikolai zu verhören.«
-
-Der Kleinbürger hielt inne und verneigte sich plötzlich noch einmal tief
-und berührte wieder mit einem Finger den Boden.
-
-»Verzeihen Sie mir die Beschuldigung und meine Bosheit.«
-
-»Gott vergebe dir,« -- antwortete Raskolnikoff, und kaum hatte er es
-gesagt, verneigte sich der Kleinbürger wieder vor ihm, aber diesmal
-nicht bis zum Boden, drehte sich um und verließ das Zimmer.
-
-»Alles hat zwei Seiten, jetzt hat alles zwei Seiten,« -- wiederholte
-Raskolnikoff und ging mutiger als je aus dem Zimmer.
-
-»Ha, jetzt wollen wir noch kämpfen!« -- sagte er mit einem bösen
-Lächeln, als er die Treppe hinabstieg. Das böse Lächeln war für ihn
-selbst bestimmt; er erinnerte sich seines »Kleinmutes« mit Verachtung
-und Beschämung.
-
-
-
-
- Fünfter Teil
-
-
- I.
-
-Der Morgen, der auf die für Peter Petrowitsch Luschin verhängnisvolle
-Erklärung mit Dunetschka und Pulcheria Alexandrowna folgte, verfehlte
-seine ernüchternde Wirkung auch auf Luschin nicht. Er mußte zu seinem
-größten Leidwesen allmählich das Ereignis als eine vollzogene und
-unwiderrufliche Tatsache ansehen, das ihm noch gestern als Phantom, als
-Unmöglichkeit erschienen war. Die schwarze Schlange der verletzten
-Eigenliebe hatte die ganze Nacht an seinem Herzen genagt. Nachdem er das
-Bett verlassen hatte, besah er sich sofort im Spiegel. Er fürchtete, daß
-die Galle ihm übergelaufen sei. Aber es war alles vorläufig in bester
-Ordnung, und als Peter Petrowitsch sein edles, weißes und in der letzten
-Zeit voller gewordenes Antlitz erblickte, tröstete er sich für einen
-Augenblick in der festen Überzeugung, irgendwo anders eine Braut, und
-vielleicht eine noch bessere, zu finden. Er wies den Gedanken alsbald
-von sich und spie energisch aus, wodurch er ein stilles, aber
-sarkastisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Stubengenossen
-Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff hervorrief. Peter Petrowitsch
-bemerkte dieses Lächeln und beschloß sofort, es seinem jungen Freunde
-heimzuzahlen. Es hatte sich in letzter Zeit noch mehr angesammelt. Seine
-Wut vergrößerte sich, als es ihm noch bewußt wurde, daß es ganz unnötig
-gewesen war, Andrei Ssemenowitsch sein gestriges Erlebnis mitzuteilen.
-Das war der zweite Fehler, den er gestern im Eifer, in überflüssiger
-Aufregung, in Gereiztheit gemacht hatte ... Zudem folgte nun diesen
-ganzen Morgen, wie absichtlich, eine Unannehmlichkeit der anderen. Sogar
-im Senate hatte er einen Mißerfolg in der Sache, die er vertrat. Ganz
-besonders aber hatte ihn der Hauswirt gereizt, von dem er in Anbetracht
-seiner baldigen Heirat eine Wohnung gemietet hatte und die er auf eigene
-Rechnung reparieren ließ. Dieser Wirt, irgendein reichgewordener
-deutscher Handwerker, weigerte sich, den soeben abgeschlossenen Vertrag
-rückgängig zu machen und verlangte die volle Bezahlung der im Vertrage
-genannten Entschädigungssumme, obgleich ihm Peter Petrowitsch eine
-nahezu völlig renovierte Wohnung zurückgab. Ebenso wollte man auch in
-dem Möbelgeschäfte keinen einzigen Rubel von der Anzahlungssumme für die
-gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückgeben.
-»Ich kann mich doch nicht der Möbel wegen verheiraten!« -- knirschte
-Peter Petrowitsch mit den Zähnen, und gleichzeitig durchfuhr ihn noch
-einmal eine verzweifelte Hoffnung. -- »Ja, ist denn wirklich alles
-unwiderruflich verloren und abgetan? Kann man es denn nicht noch einmal
-versuchen?« Der Gedanke an Dunetschka traf verführerisch sein Herz. Es
-war ihm ein Augenblick voller Qual, und hätte jetzt gleich der bloße
-Wunsch Raskolnikoff töten können, Peter Petrowitsch hätte unverzüglich
-diesen Wunsch geäußert.
-
-»Mein Fehler war auch der, daß ich ihnen kein Geld gab,« -- dachte er,
-als er traurig in die Stube von Lebesjätnikoff zurückkehrte, -- »und
-warum bin ich, zum Kuckuck, so ein Jude geworden? Hier war es nicht
-angebracht! Ich dachte sie in Not zu halten und sie so weit zu bringen,
-daß sie mich als ihre Vorsehung betrachten müßten, und es kam so anders
-... Pfui! ... Nein, ich hätte ihnen während dieser Zeit, sagen wir,
-anderthalbtausend zur Aussteuer geben müssen, allerhand Geschenke,
-Nähkästchen, Necessaires, Stoffe und anderen Schund, und die Sache war
-gut, war sicher! Man hätte mir nicht so leicht absagen können! Sie
-gehören zu den Leuten, die es unbedingt für ihre Pflicht gehalten
-hätten, im Falle einer Aufhebung der Verlobung die Geschenke und das
-Geld zurückzugeben; und das würde ihnen schwer gefallen sein und hätte
-ihnen leid getan! Auch das Gewissen würde sie geplagt haben; wie kann
-man, hätten sie sich gesagt, plötzlich einen Menschen verjagen, der bis
-jetzt so freigebig und zartfühlend war? ... Ich habe einen schweren
-Fehler begangen!« Peter Petrowitsch knirschte mit den Zähnen und nannte
-sich einen Dummkopf, -- selbstverständlich nur bei sich. Als er zu
-dieser Folgerung gekommen war, kehrte er noch wütender und gereizter
-nach Hause zurück, als er fortgegangen war. Die Vorbereitungen für das
-Essen in Katerina Iwanownas Zimmer zum Angedenken an den Verstorbenen
-nahmen teilweise seine Neugier in Anspruch. Er hatte schon gestern
-einiges über dieses Essen gehört; es schwebte ihm selbst vor, als hätte
-man auch ihn eingeladen; allein bei seinen eigenen Sorgen hatte er all
-dem keine Beachtung geschenkt. Er beeilte sich, sich bei Frau
-Lippewechsel näher zu erkundigen, die während der Anwesenheit Katerina
-Iwanownas auf dem Friedhofe für das Arrangement sorgte, und erfuhr, daß
-das Gedächtnismahl feierlich sein würde. Fast alle Mitbewohner, sogar
-auch solche, die der Verstorbene nicht gekannt hatte, waren eingeladen;
-Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff war auch, ungeachtet seines
-kürzlichen Streites mit Katerina Iwanowna, eingeladen. Auch er selbst,
-Peter Petrowitsch, sei geladen und würde mit großer Ungeduld erwartet,
-weil er der vornehmste Gast von allen sei. Amalie Iwanowna war
-ebenfalls, trotz aller vorgefallenen Unannehmlichkeiten, mit großer Ehre
-eingeladen, und mühte sich jetzt selbst ab, um alle häuslichen
-Anordnungen zu treffen; sie fühlte sich sehr wichtig dabei, sie war
-festlich geputzt, wennschon in Trauer, sie hatte ein ganz neues seidenes
-Kleid an und war nicht wenig stolz darauf. Alle diese Tatsachen und
-Mitteilungen brachten Peter Petrowitsch auf einen Gedanken; etwas
-nachdenklich ging er in sein, das heißt in Andrei Ssemenowitsch
-Lebesjätnikoffs Zimmer. Unter anderem hatte er erfahren, daß unter den
-Eingeladenen auch Raskolnikoff sei.
-
-Andrei Ssemenowitsch blieb diesen ganzen Morgen aus einem bestimmten
-Grunde zu Hause. Zwischen diesem Herrn und Peter Petrowitsch herrschten
-eigentümliche, teilweise auch natürliche Beziehungen, -- Peter
-Petrowitsch verachtete und haßte ihn von dem Tage an, als er sich bei
-ihm einquartierte, über alle Maßen, gleichzeitig ihn ein wenig
-fürchtend. Er war bei ihm nach seiner Ankunft in Petersburg nicht bloß
-aus übertriebener Sparsamkeit abgestiegen; obwohl dies wohl der
-Hauptgrund war, gab es noch eine andere Ursache. Schon in der Provinz
-hatte er von Andrei Ssemenowitsch, seinem früheren Zögling, gehört, als
-einem der ersten jungen Progressisten, der sogar eine bedeutende Rolle
-in gewissen interessanten und vielbesprochenen Kreisen spiele. Das
-überraschte Peter Petrowitsch. Diese mächtigen, alles wissenden, alles
-verachtenden und alle entlarvenden Kreise jagten schon lange Peter
-Petrowitsch einen besonderen, wenn auch ganz unbestimmten Schrecken ein.
-Er selbst konnte sich, zumal er in der Provinz lebte, in keiner Weise
-einen annähernd genauen Begriff davon machen. Er hatte, wie viele
-andere, gehört, daß es besonders in Petersburg Progressisten,
-Nihilisten, Enthüller und dergleichen mehr gebe, aber er übertrieb
-gleich vielen, und verdrehte den Sinn und die Bedeutung dieser
-Benennungen bis ins Absurde. Am meisten fürchtete er, schon seit einigen
-Jahren, _Enthüllungen_, und dies war die hauptsächliche Ursache seiner
-beständigen übertriebenen Unruhe, besonders wenn er daran dachte, seine
-Tätigkeit nach Petersburg zu verlegen. In dieser Hinsicht war er, wie
-man sagt, _verschreckt_, wie zuweilen kleine Kinder verschreckt sind.
-Vor einigen Jahren in der Provinz, als er eben seine Laufbahn begonnen
-hatte, erlebte er zwei Fälle schlimmer Enthüllungen für zwei ziemlich
-bedeutende Persönlichkeiten der Gouvernementsbehörde, zu denen er sich
-bis dahin gehalten und die ihn protegierten. Der eine Fall endete für
-den Kompromittierten mit besonderem Eklat, der zweite wäre fast noch
-schlimmer abgelaufen. Aus diesem Grunde hatte Peter Petrowitsch
-beschlossen, sich sofort nach der Ankunft in Petersburg zu erkundigen,
-wie die Sache eigentlich sei, und falls nötig, vorzubeugen und sich bei
-»unserer jungen Generation« einzuschmeicheln. Dabei rechnete er auf
-Andrei Ssemenowitsch, und er hatte schon gelernt, wie beim Besuche
-Raskolnikoffs, bestimmte Phrasen aus fremder Quelle wiederzugeben ...
-
-Gewiß, es gelang ihm bald, Andrei Ssemenowitsch als einen
-außerordentlich flachen, einfältigen und unbedeutenden Menschen zu
-erkennen. Dies hatte aber keineswegs den Glauben Peter Petrowitschs
-erschüttert oder ihn sicherer gemacht. Selbst wenn er sich überzeugt
-hätte, daß alle Progressisten eben solche Dummköpfe wären, auch dann
-würde sich seine Unruhe nicht gelegt haben. Alle Lehren, Gedanken,
-Systeme, mit denen Andrei Ssemenowitsch sich sofort auf ihn gestürzt
-hatte, interessierten ihn ganz und gar nicht. Er hatte sein eigenes
-Ziel. Er wollte bloß schnell, unverzüglich erfahren, was _hier_ vorginge
-und wie? Hatten _diese Leute_ einen Einfluß oder nicht? Würden sie ihn
-kompromittieren, wenn er dies oder jenes unternähme, oder nicht? Und
-wenn sie einen kompromittierten, fragt es sich, was würden sie dabei im
-Auge haben? Worauf richteten sich jetzt eigentlich die Enthüllungen? Und
-weiter, -- konnte man sich nicht ihnen in irgendeiner Weise anschließen
-und sie irreführen, wenn sie tatsächlich Einfluß haben sollten? Sollte
-man es tun oder nicht? Könnte man nicht, zum Beispiel, durch ihre
-Vermittlung seine Karriere fördern? Mit einem Worte, es standen hunderte
-von Fragen vor ihm.
-
-Andrei Ssemenowitsch war ein kraftloser und skrophulöser Mann von
-kleinem Wuchse, der bei irgend jemand bedienstet war; er war auffallend
-blond und hatte einen Kotelettenbart, auf den er sehr stolz war. Seine
-Augen waren fast immer entzündet. Er hatte ein ziemlich weiches Herz, in
-seinen Reden lag etwas sehr Selbstbewußtes, ja zuweilen etwas
-außerordentlich Herausforderndes -- was im Vergleiche zu seiner kleinen
-Gestalt fast stets lächerlich wirkte. Amalie Iwanowna rechnete auch ihn
-zu ihren angesehensten Mietern, da er nicht trank und sein Zimmer
-pünktlich bezahlte. Alles in allem war Andrei Ssemenowitsch wirklich
-etwas dumm. Er hatte sich den Progressisten und »unserer jungen
-Generation« leidenschaftlich zugesellt. Es war einer aus der bunt
-zusammengesetzten Legion flacher Menschen, verfehlter Existenzen und
-Halbgebildeten, die nichts ordentliches gelernt hatten, die sich an die
-modernste gangbarste Idee heranmachen, um sie sofort zu verflachen und
-um alles in einem Nu zu verzerren, auch wenn sie selbst in der
-aufrichtigsten Weise ihr dienen.
-
-Übrigens konnte Lebesjätnikoff, ungeachtet seiner Gutmütigkeit, seinen
-Stubengenossen und früheren Vormund Peter Petrowitsch nicht leiden. Es
-kam das wie von ungefähr und beruhte auf Gegenseitigkeit. Trotz seiner
-Beschränktheit begann Andrei Ssemenowitsch allmählich zu merken, daß ihn
-Peter Petrowitsch beschwindelte und im geheimen verachtete, und daß er
-nicht der »Rechte« war. Er versuchte, ihm Fouriers System und Darwins
-Theorie darzulegen, aber Peter Petrowitsch begann, besonders in der
-letzten Zeit, sarkastisch zuzuhören und sogar zu schelten. Peter
-Petrowitsch fühlte instinktiv heraus, daß Lebesjätnikoff nicht bloß ein
-flacher und ziemlich beschränkter Mensch, sondern auch ein Prahlhans
-sei, und daß er keine bedeutenden Verbindungen in seinem eigenen Kreise
-hatte, sondern sich nur mit fremden Federn schmückte; mehr noch, -- daß
-er nicht mal seine eigene Sache, _die Propaganda_, ordentlich verstand,
-weil er zu konfus redete, und ein solcher konnte doch kein Ankläger
-sein! Nebenbei wollen wir noch bemerken, daß Peter Petrowitsch in diesen
-anderthalb Wochen, besonders aber im Anfange, sehr gern die
-merkwürdigsten Absichten von Andrei Ssemenowitsch sich beilegen ließ,
-das heißt, er wies sie nicht zurück und erwiderte auch nichts, z. B.,
-wenn Andrei Ssemenowitsch ihm die Bereitwilligkeit zuschrieb, die
-künftige und baldige Gründung einer neuen »_Kommune_« irgendwo in der
-nächsten Nähe zu fördern, oder z. B. Dunetschka nicht hinderlich zu
-sein, wenn es ihr im ersten Monate nach der Hochzeit einfallen sollte,
-sich einen Geliebten anzuschaffen, oder auch seine künftigen Kinder
-nicht taufen zu lassen und dergleichen mehr. Peter Petrowitsch
-widersprach nicht, seiner Gewohnheit nach, wenn ihm diese Eigenschaften
-zugeschrieben wurden, und ließ es zu, daß man ihn dafür lobte, -- so
-angenehm war ihm jedes Lob.
-
-Peter Petrowitsch, der an diesem Morgen einige fünfprozentige
-Staatspapiere gewechselt hatte, saß am Tische und zählte das Papiergeld
-und die Kupons nach. Andrei Ssemenowitsch, der fast nie Geld hatte, ging
-im Zimmer auf und ab und gab sich den Anschein, als betrachte er diesen
-Haufen Geld gleichgültig und geringschätzig. Peter Petrowitsch konnte um
-nichts in der Welt glauben, daß Andrei Ssemenowitsch so viel Geld
-gleichgültig war, und jener wiederum dachte voll Bitterkeit, daß Peter
-Petrowitsch wirklich fähig sei, in dieser Weise von ihm zu denken, und
-sich möglicherweise freue, ihn, seinen jungen Freund, mit den
-aufgebauten Päckchen von Papiergeld zu reizen und zu verhöhnen, indem er
-ihn an seine Unbedeutendheit und den zwischen ihnen bestehenden Abstand
-erinnerte.
-
-Andrei Ssemenowitsch fand ihn heute ungewöhnlich gereizt und
-unaufmerksam, trotzdem er ihm sein Lieblingsthema über die Errichtung
-einer neuen eigenartigen »Kommune« auseinandergesetzt hatte. Die kurzen
-Erwiderungen und Bemerkungen, die Peter Petrowitsch inmitten seiner
-Berechnungen machte, zeugten von einer sehr deutlichen und beabsichtigt
-spöttischen Unhöflichkeit. Aber der »humane« Andrei Ssemenowitsch
-schrieb die Stimmung von Peter Petrowitsch dem gestrigen Bruche mit
-Dunetschka zu und brannte vor Verlangen, schneller dieses Thema zu
-berühren, -- er hätte etwas Fortschrittliches und Propagandistisches für
-ihn, was seinen ehrenwerten Freund trösten und »sicher« seiner weiteren
-Entwicklung von Nutzen sein müßte.
-
-»Was ist das für ein Gedächtnismahl, das diese ... die Witwe da
-arrangiert?« -- fragte plötzlich Peter Petrowitsch, Andrei Ssemenowitsch
-bei der interessantesten Stelle unterbrechend.
-
-»Als ob Sie das nicht selbst wüßten; ich habe doch gestern mit Ihnen
-über dieses Thema gesprochen und Ihnen meine Gedanken über all diese
-Gebräuche entwickelt ... Sie hat Sie ja auch eingeladen, ich habe es
-gehört, als Sie gestern selbst mit ihr sprachen ...«
-
-»Ich hätte keineswegs erwartet, daß diese bettelarme, dumme Person all
-das Geld zu einem Gedächtnismahl verplempern wird, das sie von diesem
-andern Dummkopf ... Raskolnikoff erhalten hat. Ich war erstaunt, als ich
-beim Durchgehen sah, -- was für Vorbereitungen gemacht sind ... Wein ist
-aufgestellt! ... Es sind allerhand Menschen geladen, -- weiß der Teufel,
-was das bedeuten soll!« -- fuhr Peter Petrowitsch fort, der absichtlich
-dieses Gespräch anfing. -- »Was? Sie sagen, man hatte auch mich
-geladen?« -- fügte er plötzlich hinzu und erhob den Kopf. -- »Wann war
-denn das? Ich erinnere mich gar nicht. Ich will übrigens nicht hingehen.
-Was soll ich dort? Ich habe mit ihr gestern bloß im Vorbeigehen über die
-Möglichkeit gesprochen, daß sie, als die arme Witwe eines Beamten,
-seinen Jahresgehalt als eine einmalige Unterstützung erhalten könnte.
-Sollte sie mich deswegen vielleicht eingeladen haben? He--he!«
-
-»Ich habe auch nicht die Absicht hinzugehen,« -- sagte Lebesjätnikoff.
-
-»Das fehlte noch, wo Sie sie eigenhändig verprügelt haben. Das ist doch
-begreiflich, Sie müßten sich schämen, he--he--he!«
-
-»Wer hat verprügelt und wen?« -- fragte Lebesjätnikoff aufgebracht und
-errötete.
-
-»Sie, Sie haben doch Katerina Iwanowna vor einem Monat verprügelt! Ich
-habe es gestern gehört ... Da haben wir die Prinzipien! ... Also die
-Frauenfrage hinkt auch. He--he!«
-
-Und Peter Petrowitsch setzte wie getröstet seine Berechnungen fort.
-
-»Das ist alles Unsinn und Verleumdung!« -- brauste Lebesjätnikoff auf,
-der ungern an diese Geschichte erinnert wurde, -- »das war gar nicht der
-Fall! Es war ganz anders ... Sie haben es nicht richtig gehört; alles
-ist Klatscherei! Ich habe mich damals nur verteidigt. Sie stürzte sich
-zuerst auf mich ... Sie hat mir fast meinen Backenbart ausgerissen ...
-ich hoffe denn doch, daß jedem Menschen erlaubt ist, seine Person zu
-verteidigen. Außerdem gestatte ich niemand, mir Gewalt anzutun ... Aus
-Prinzip. Denn das ist schon Despotismus. Was sollte ich denn tun, --
-etwa alles ruhig mir gefallen lassen? Ich habe sie bloß zurückgestoßen
-...«
-
-»He--he--he!« kicherte Luschin boshaft weiter.
-
-»Sie sticheln mich nur, weil Sie selbst geärgert wurden und nun böse
-darüber sind ... Das ist doch Unsinn und hat gar nichts, rein gar nichts
-mit der Frauenfrage zu tun! Sie haben das nicht richtig aufgefaßt; ich
-denke sogar, wenn man annimmt, daß die Frau in allem dem Manne gleich
-sei, selbst in der physischen Kraft, wie man schon behauptet, so muß
-hier erst recht Gleichheit herrschen. Gewiß, ich habe es mir nachher
-überlegt, daß es so eine Frage überhaupt nicht geben soll, weil
-Prügeleien sowieso nicht stattfinden sollen. In der künftigen
-Gesellschaft wird dies undenkbar sein ... es wäre doch sonderbar, eine
-Gleichberechtigung zum Prügeln anzustreben. So dumm bin ich nicht ...
-obwohl Prügeleien übrigens auch vorkommen können ... ich will sagen,
-nachher nicht vorkommen werden, jetzt aber noch vorkommen ... pfui! zum
-Teufel! Mit Ihnen wird man ganz konfus! Ich gehe nicht zu diesem Essen,
-nicht weil diese Unannehmlichkeit passiert ist, ich gehe vielmehr aus
-Prinzip nicht hin, um nicht bei einem so schändlichen Brauch wie einer
-Gedächtnisfeier mitzutun; ja, das ist der Grund! Man könnte eigentlich
-hingehen, um sich darüber lustig zu machen ... Nur schade, daß keine
-Priester da sein werden. Sonst würde ich unbedingt hingehen.«
-
-»Mit anderen Worten: Gastliches Salz und Brot essen und gleich darauf es
-ebenso beschimpfen wie die, die Sie eingeladen haben. So ist es doch
-gemeint?«
-
-»Durchaus nicht beschimpfen, nur protestieren. Ich gehe mit bester
-Absicht hin. Ich kann indirekt die Entwicklung und die Propaganda
-fördern. Jeder Mensch ist verpflichtet, andere zu fördern und auf sie zu
-wirken, je kräftiger er es tut, desto besser ist es vielleicht. Ich kann
-eine Idee bringen, einen Samen ausstreuen ... Aus diesem Samen wird eine
-Tat entstehen. Womit hätte ich da gekränkt? Anfangs fühlen sie sich
-vielleicht gekränkt, nachher aber werden sie selbst einsehen, daß es
-ihnen nur von Nutzen war. Bei uns beschuldigte man eine Zeitlang
-Terebjewa, -- dieselbe, die jetzt in der Kommune ist, -- weil sie, als
-sie sich von ihrer Familie lossagte und ... sich einem hingab, ihrer
-Mutter und ihrem Vater geschrieben hatte, sie wolle nicht mehr in
-Vorurteilen leben und gehe eine illegale Ehe ein; man fand es
-rücksichtslos, so mit den Eltern umzugehen, und meinte, sie hätte es
-ihnen schonender und milder beibringen sollen. Meiner Ansicht nach ist
-dies alles Unsinn, man soll gar nicht so mild sein, im Gegenteil, ganz
-im Gegenteil, man soll erst recht scharf protestieren. Nehmen wir zum
-Beispiel die Warentz; sie hat sieben Jahre mit ihrem Manne
-zusammengelebt, hat ihn und ihre zwei Kinder verlassen und ihrem Manne
-in einem Briefe die Wahrheit gesagt. -- >Ich habe eingesehen, daß ich
-mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde Ihnen nie vergeben, daß
-Sie mich betrogen haben, indem Sie mir verheimlichten, daß noch eine
-andere gesellschaftliche Einrichtung, nämlich die Kommune existiert. Ich
-habe es vor kurzem durch einen großmütigen Mann erfahren, dem ich mich
-auch hingegeben habe, und mit ihm zusammen begründe ich eine Kommune.
-Ich sage Ihnen dies offen, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu
-betrügen. Tun Sie, was Sie für gut halten. Hoffen Sie nicht, mich
-zurückzuerobern, es ist zu spät. Ich wünsche Ihnen alles Glück.< So muß
-man schreiben!«
-
-»Nicht wahr, diese Terebjewa ist doch die, von der Sie erzählten, daß
-sie in der dritten illegalen Ehe lebe?«
-
-»Richtig betrachtet, erst in der zweiten! Aber mag sie auch in der
-vierten oder fünfzehnten Ehe leben, was ist dabei! Und wenn ich jemals
-bedauerte, daß mein Vater und meine Mutter gestorben sind, so ist es
-sicher jetzt der Fall. Ich habe schon ein paarmal gedacht, wie ich sie
-mit meinem Protest aufrütteln würde, wenn sie noch am Leben wären! Ich
-hätte absichtlich alles so eingerichtet ... Ich hätte es ihnen gezeigt!
-Ich hätte sie staunen gemacht! Es ist wirklich schade, daß ich niemanden
-habe!«
-
-»Um ihn erstaunen zu machen? He--he! Nun, gut!« -- unterbrach ihn Peter
-Petrowitsch, -- »sagen Sie mir lieber, Sie kennen doch die Tochter des
-Verstorbenen, ein zartes, unbedeutendes Ding! Ist es wahr, was man von
-ihr erzählt, hm?«
-
-»Und was wäre dabei? Meiner Meinung, das heißt meiner persönlichen
-Überzeugung nach ist es die normale Lage der Frau. Warum denn nicht? Das
-heißt _distinguons_{[9]}. In der gegenwärtigen Gesellschaft gilt das
-nicht als normal, weil es eine gezwungene Lage ist, in der künftigen
-Gesellschaft ist sie vollkommen normal, weil sie freiwillig sein wird.
-Ja, auch jetzt hatte sie das Recht dazu, -- sie litt Not und das war ihr
-Fond, sozusagen ihr Kapital, über das sie vollkommenes Recht hat zu
-verfügen. Selbstverständlich werden in der künftigen Gesellschaft keine
-Fonds mehr nötig sein, ihre Rolle wird in anderer Hinsicht bestimmt,
-harmonisch und vernünftig bedingt sein. Was Ssofja Ssemenowna persönlich
-anbetrifft, so betrachte ich ihre Handlungen als einen energischen und
-personifizierten Protest gegen die gesellschaftliche Einrichtung und
-achte sie deswegen um so höher, ja ich freue mich ihrer Handlungsweise!«
-
-»Man hat mir aber doch erzählt, daß gerade Sie sie gezwungen haben, von
-hier auszuziehen!«
-
-Lebesjätnikoff wurde wütend.
-
-»Das ist wieder eine Klatscherei!« -- schrie er. -- »Die Sache verhält
-sich ganz und gar nicht so! Das ist absolut nicht so gewesen! Katerina
-Iwanowna hat damals alles geschwindelt, weil sie nichts davon verstanden
-hat! Ich habe mich gar nicht an Ssofja Ssemenowna herangemacht! Ich habe
-sie bloß gefördert, vollkommen ohne Hintergedanken, und versuchte in ihr
-den Protest zu erwecken ... Mir war es bloß um den Protest zu tun, und
-außerdem konnte Ssofja Ssemenowna sowieso nicht mehr hier bleiben!«
-
-»Luden Sie sie in die Kommune ein?«
-
-»Sie machen sich immer lustig über mich, doch ohne Erfolg, erlaube ich
-mir zu bemerken. Sie verstehen gar nichts davon. Solche Rollen gibt es
-in einer Kommune nicht. Darum wird gerade eine Kommune gegründet, damit
-solche nicht mehr existieren sollen. In einer Kommune wird ihr Stand
-sein jetziges Wesen völlig verändern, und was hier dumm ist, wird dort
-vernünftig sein, was jetzt bei den gegenwärtigen Verhältnissen
-unnatürlich ist, wird dort vollkommen natürlich sein. Alles hängt davon
-ab, in welcher Umgebung und in welcher Gesellschaft ein Mensch lebt. Der
-Mensch selbst ist nichts. Mit Ssofja Ssemenowna stehe ich noch jetzt auf
-gutem Fuße, was Ihnen als Beweis dienen kann, daß sie mich nie als ihren
-Feind und Beleidiger angesehen hat. Ja! Ich schlage ihr jetzt vor, in
-eine Kommune einzutreten, aber auf einer ganz anderen Basis! Was
-erscheint Ihnen wieder lächerlich? Wir wollen eine eigene Kommune, eine
-besondere Kommune auf viel breiteren Grundlagen begründen, als alle
-früheren. Wir sind in unseren Überzeugungen weiter gegangen. Wir
-negieren mehr! Wenn Dobroljuboff[10] aus dem Grabe steigen würde, möchte
-ich mit ihm diskutieren! Und Belinski[11] würde ich übel zurichten!
-Vorläufig aber fahre ich fort, Ssofja Ssemenowna zu fördern! Sie ist
-eine herrliche, herrliche Natur!«
-
-»Nun, und Sie benutzen auch die herrliche Natur, ah? He--he!«
-
-»Nein, nein! Oh, nein! Im Gegenteil!«
-
-»Nun, nun im Gegenteil! He--he--he! Was Sie nicht sagen!«
-
-»Glauben Sie mir doch! Warum soll ich es vor Ihnen verheimlichen, ich
-bitte Sie? Im Gegenteil, mir erscheint es selbst merkwürdig, -- sie ist
-mir gegenüber besonders ängstlich, keusch und schamhaft!«
-
-»Und Sie fördern sie selbstverständlich ... he--he! Beweisen ihr, daß
-diese ganze Schamhaftigkeit Unsinn ist? ...«
-
-»Gott bewahre, durchaus nicht! Oh, wie gemein, wie dumm -- verzeihen Sie
-es mir -- Sie das Wort >Förderung< verstehen! Nichts, rein gar nichts
-verstehen Sie! Oh, mein Gott, wie Sie noch ... unreif sind! Wir
-erstreben Freiheit für die Frau, und Sie haben bloß das eine im Sinn ...
-Ich lasse die Frage über Keuschheit und weibliche Schamhaftigkeit
-vollkommen beiseite, als Dinge, die an und für sich nutzlos und voller
-Vorurteile sind, aber ich verstehe sie vollkommen und lasse ihre
-Keuschheit mir gegenüber gelten, weil darin -- ihr Wille, ihr ganzes
-Recht besteht. Wenn sie selbst zu mir sagen würde: -- >Ich will dich
-haben<, -- könnte ich mich eines großen Erfolges rühmen, weil das
-Mädchen mir sehr gefällt. Gegenwärtig behandelt sie gewiß niemand
-höflicher und zuvorkommender und mit größerer Achtung ihrer Würde, als
-ich ... Ich warte und hoffe -- und weiter nichts!«
-
-»Schenken Sie ihr besser etwas. Ich wette, daß Sie daran noch nicht
-gedacht haben.«
-
-»Sie verstehen nichts, gar nichts; ich habe es Ihnen schon oft gesagt!
-Gewiß, ihre Lage ist derart, aber hier ist noch eine andere Frage! Eine
-ganz andere Frage! Sie verachten sie einfach. Wenn Sie eine Tatsache
-sehen, die Sie irrtümlicherweise für verachtungswürdig halten,
-verweigern Sie einem menschlichen Wesen eine humane Betrachtung. Sie
-wissen noch gar nicht, was sie für eine Natur ist! Mir tut es nur sehr
-leid, daß sie in der letzten Zeit fast gänzlich aufgehört hat zu lesen
-und keine Bücher von mir mehr nimmt. Früher hat sie sich öfters Bücher
-geholt. Es ist auch schade, daß sie trotz ihrer Energie und
-Entschlossenheit, zu protestieren, -- die sie schon einmal bewiesen hat,
-immer noch wenig Selbständigkeit, sozusagen Unabhängigkeit, wenig
-Verneinung besitzt, um sich endgültig von einigen Vorurteilen und ...
-Dummheiten loszureißen. Und ungeachtet dessen, daß sie manche Fragen
-ausgezeichnet begreift. Sie hat z. B. glänzend die Frage über das
-Handküssen verstanden, das heißt, daß der Mann das Gesetz der Gleichheit
-mit der Frau überschreitet, wenn er ihr die Hand küßt. Über diese Frage
-wurde bei uns debattiert und ich habe es ihr sofort mitgeteilt. Auch für
-Assoziationen der Arbeiter in Frankreich zeigt sie Interesse. Jetzt
-erörterte ich mit ihr die Frage des ungehinderten Zutritts in alle
-Wohnungen der künftigen Gesellschaft.«
-
-»Was ist das?«
-
-»In letzter Zeit wurde über die Frage debattiert, ob ein Mitglied der
-Kommune das Recht habe, zu jeder Zeit in das Zimmer eines anderen
-Mitgliedes, sei es ein Mann oder eine Frau, eintreten darf ..., und es
-wurde beschlossen, daß er das Recht dazu habe ...«
-
-»Wenn aber der oder die in diesem Augenblicke mit einem natürlichen
-Bedürfnisse beschäftigt ist, he--he!«
-
-Andrei Ssemenowitsch wurde böse.
-
-»Sie reden immer über dasselbe, über die verfluchten >Bedürfnisse<!« --
-rief er voll Haß aus, -- »pfui, wie ärgere ich mich, wie bin ich wütend,
-daß ich damals, als ich Ihnen das System erklärte, so vorzeitig diese
-verfluchten Bedürfnisse erwähnte! Zum Teufel! Das ist immer der Stein
-des Anstoßes für Ihresgleichen, am schlimmsten ist es, daß sie es zur
-Zielscheibe ihrer Witzeleien machen, ehe sie erfahren, wie die Sache
-ist! Als wären sie im Rechte! Als könnten Sie sich etwas darauf
-einbilden! Pfui! Ich habe immer behauptet, daß man diese ganze Frage
-Neulingen erst am Schlusse darstellen kann, wenn sie schon von dem
-System überzeugt sind, wenn sie schon entwickelt und auf dem richtigen
-Wege sich befinden. Ja, und sagen Sie mir bitte, was finden Sie
-Häßliches und Verachtungswürdiges, z. B. an einer Mistgrube? Ich bin der
-erste, der bereit ist, alle beliebigen Mistgruben zu reinigen! Da ist
-noch nicht mal etwas Selbstaufopferndes dabei. Es ist einfach eine
-Arbeit, eine edle, für die Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder
-andern wert ist, nur bedeutend höher steht, als zum Beispiel die
-Tätigkeit irgendeines Rafael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.«
-
-»Und edler vor allem, edler ist, -- he--he!«
-
-»Was heißt edel? Ich verstehe solche Ausdrücke bei der Feststellung von
-menschlicher Tätigkeit nicht. >Edel<, >großmütig< -- Unsinn, Dummheiten,
-alte Worte voller Vorurteile, die ich verneine! Alles, was der
-Menschheit _von Nutzen_ ist, ist auch edel. Ich verstehe nur das eine
-Wort, -- _nützlich_! Kichern Sie, soviel Sie wollen, es ist doch so!«
-
-Peter Petrowitsch lachte laut. Er hatte seine Berechnungen abgeschlossen
-und das Geld eingesteckt. Ein Teil davon blieb noch auf dem Tische
-liegen. Die Frage »über Mistgruben« hatte schon ein paarmal, trotz ihrer
-ganzen Flachheit, zur Folge gehabt, daß es zwischen Peter Petrowitsch
-und seinem jungen Freunde zu Mißverständnissen und Uneinigkeiten
-gekommen war. Die ganze Dummheit war, daß Andrei Ssemenowitsch sich
-tatsächlich ärgerte. Luschin fand nur eine Zerstreuung darin, heute
-jedoch wollte er Lebesjätnikoff ärgern.
-
-»Sie sind wegen Ihres gestrigen Mißerfolges wütend und suchen Streit,«
--- platzte endlich Lebesjätnikoff heraus, der trotz seiner
-»Unabhängigkeit« und aller seiner »Proteste« nicht wagte, Peter
-Petrowitsch entgegenzutreten und noch immer aus früheren Jahren her
-gewohnt war, Respekt zu beobachten.
-
-»Sagen Sie mir lieber,« -- unterbrach ihn Peter Petrowitsch hochmütig
-und ärgerlich, -- »können Sie ... oder besser gesagt, sind Sie
-tatsächlich so gut mit der erwähnten jungen Person bekannt, daß Sie sie
-sofort, auf einen Augenblick, in dieses Zimmer bitten können? Ich
-glaube, sie sind schon alle vom Friedhofe zurückgekehrt ... Ich höre
-Schritte ... Ich möchte diese Person einen Augenblick sehen.«
-
-»Wozu denn?« fragte verwundert Lebesjätnikoff.
-
-»Ich möchte sie sehen. Heute oder morgen verlasse ich diese Wohnung und
-möchte ihr noch etwas mitteilen ... Ich bitte Sie übrigens, während der
-Unterredung hier zu bleiben. Es ist besser. Sonst könnten Sie, Gott weiß
-noch was, denken.«
-
-»Ich denke mir gar nichts dabei ... Ich habe nur gefragt, und wenn Sie
-etwas vorhaben, so gibt's nichts Leichteres, als sie hierher zu bitten.
-Ich will sofort hingehen. Und ich will Sie, seien Sie überzeugt, nicht
-stören.«
-
-Und wirklich, nach etwa fünf Minuten kehrte Lebesjätnikoff mit
-Ssonjetschka zurück. Sie trat äußerst verwundert und schüchtern ein. In
-solchen Fällen war sie stets schüchtern und fürchtete neue Gesichter und
-neue Bekanntschaften, schon als Kind fürchtete sie sich davor und
-wieviel mehr noch jetzt ... Peter Petrowitsch begrüßte sie »freundlich
-und höflich,« und mit einem Anflug von Vertraulichkeit, die bei solch
-einem ehrenwerten und soliden Menschen, wie er, einem jungen und in
-gewissem Sinne _interessanten_ Wesen gegenüber, seiner Meinung nach, gut
-angebracht war. Er beeilte sich, sie »zu ermutigen,« und bot ihr einen
-Platz ihm gegenüber am Tische an. Ssonja setzte sich hin, sah sich um,
--- sah Lebesjätnikoff an, das auf dem Tisch liegende Geld, blickte
-wieder zu Peter Petrowitsch und wandte die Augen nicht mehr von ihm ab.
-Lebesjätnikoff ging zur Türe, Peter Petrowitsch aber stand auf, gab
-Ssonja ein Zeichen, sitzen zu bleiben und hielt Lebesjätnikoff zurück.
-
-»Ist Raskolnikoff dort? Ist er gekommen?« fragte er ihn im Flüstertone.
-
-»Raskolnikoff? Er ist da. Warum? Ja, er ist da ... Er ist soeben
-gekommen, ich habe ihn gesehen ... Was ist mit ihm?«
-
-»Nun, dann bitte ich Sie inständig, hier bei uns zu bleiben und mich
-nicht allein mit diesem ... Fräulein zu lassen. Es ist eine ganz
-unbedeutende Sache, aber man kann, weiß Gott, was daraus schließen. Ich
-will nicht, daß es Raskolnikoff _dort_ erzählt ... Verstehen Sie, was
-ich meine?«
-
-»Ich verstehe, ich verstehe!« -- begriff plötzlich Lebesjätnikoff. --
-»Ja, Sie haben recht ... Nach meiner persönlichen Überzeugung gehen Sie
-in Ihren Befürchtungen zu weit, aber ... Sie haben dennoch recht. Bitte,
-ich bleibe. Ich will mich hier ans Fenster stellen und will Sie nicht
-stören ... Meiner Ansicht nach haben Sie recht ...«
-
-Peter Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, setzte sich Ssonja gegenüber,
-blickte sie aufmerksam an und gab sich ein außergewöhnlich solides und
-sogar ein wenig strenges Aussehen, als möchte er dadurch sagen, -- »du
-sollst dir nichts dabei denken, Verehrteste.« Ssonja wurde ganz
-verlegen.
-
-»Zuerst bitte ich Sie, Ssofja Ssemenowna, mich bei Ihrer verehrten Frau
-Mutter zu entschuldigen ... Es ist doch richtig? Katerina Iwanowna nimmt
-die Stelle einer Mutter bei Ihnen ein?« -- begann er sehr würdevoll und
-ziemlich freundlich.
-
-Man merkte, daß er die freundschaftlichsten Absichten hatte.
-
-»Ja, sie vertritt mir die Mutter,« -- antwortete Ssonja hastig und
-ängstlich.
-
-»Nun, also entschuldigen Sie mich bei ihr, daß ich durch
-unvorhergesehene Umstände gezwungen bin, abzusagen und zu dem Essen
-nicht erscheinen kann, trotz der angenehmen Einladung Ihrer Frau
-Mutter.«
-
-»Ich will es sagen; ihr sofort sagen,« -- und Ssonjetschka sprang hastig
-vom Stuhle auf.
-
-»Das ist _noch_ nicht alles,« -- hielt sie Peter Petrowitsch zurück und
-lächelte über ihre Einfalt und Unkenntnis von Anstand, -- »Sie kennen
-mich wenig, liebe Ssofja Ssemenowna, wenn Sie meinen, daß ich wegen
-dieser unbedeutenden, mich allein angehenden Ursache jemanden wie Sie
-persönlich bemüht und gebeten hätte, zu mir zu kommen. Ich habe noch ein
-anderes Anliegen.«
-
-Ssonja setzte sich wieder hastig hin. Die bunten Banknoten, die auf dem
-Tische lagen, flimmerten wieder vor ihren Augen, sie wandte schnell ihr
-Gesicht von ihnen ab und erhob die Augen zu Peter Petrowitsch; es kam
-ihr auf einmal höchst unanständig vor, besonders weil _sie_ es war,
-fremdes Geld anzublicken. Sie heftete ihren Blick auf den goldenen
-Kneifer in der linken Hand Peter Petrowitschs, und auf den großen,
-massiven, wertvollen Ring mit einem gelben Stein an seinem Mittelfinger,
--- aber schnell wandte sie die Augen auch davon ab, und da sie nicht
-wußte, wohin sie sehen sollte, blickte sie wieder Peter Petrowitsch
-unverwandt ins Gesicht. Nachdem er noch würdevoller, als vorhin, eine
-Weile geschwiegen hatte, fuhr er fort:
-
-»Es traf sich, daß ich gestern im Vorübergehen einige Worte mit der
-unglücklichen Katerina Iwanowna wechselte. Ein paar Worte genügten, um
-zu erfahren, daß sie sich in einem -- unnatürlichen Zustande befindet,
--- wenn man sich so ausdrücken kann ...«
-
-»Ja ... in einem unnatürlichen,« -- pflichtete Ssonja hastig ihm bei.
-
-»Oder einfacher und verständlicher gesagt, -- in einem kranken
-Zustande.«
-
-»Ja, einfacher und verständ... ja, sie ist krank.«
-
-»Nicht wahr, das stimmt. Aus dem Gefühle der Humanität, und ... und
-sozusagen, des Mitleides möchte ich meinerseits, ihr unvermeidliches und
-unglückliches Schicksal voraussehend, irgendwie ihr nützlich sein. Es
-scheint mir, daß die ganze arme Familie jetzt auf Ihnen allein lastet.«
-
-»Erlauben Sie mir zu fragen,« -- stand Ssonja plötzlich auf, -- »was
-haben Sie ihr gestern von der Möglichkeit einer Pension gesagt? Sie
-sagte mir, daß Sie es übernommen hätten, ihr eine Pension zu bewirken.
-Ist das wahr?«
-
-»Keineswegs, und sogar in gewisser Beziehung ein Unsinn. Ich habe nur
-von einer einmaligen Unterstützung, als der Witwe eines im Dienste
-gestorbenen Beamten, erwähnt, -- wenn Protektion da sei, -- aber wie mir
-scheint, hat Ihr verstorbener Vater nicht nur die gesetzliche Frist
-nicht ausgedient, sondern hatte in der letzten Zeit gar nicht im
-staatlichen Dienste gestanden. Mit einem Worte, es konnte Hoffnung, wenn
-auch eine ziemlich zweifelhafte, da sein, denn im Grunde genommen, gibt
-es in diesem Falle keine Rechte auf eine Unterstützung, sondern im
-Gegenteil ... So, sie dachte schon an eine Pension, he--he--he! Eine
-flinke Dame!«
-
-»Ja, an eine Pension ... Sie ist leichtgläubig und gut, und aus Güte
-glaubt sie alles und ... und ... sie hat so einen Verstand ... Ja ...
-entschuldigen Sie,« -- sagte Ssonja und stand wieder auf, um
-fortzugehen.
-
-»Erlauben Sie, Sie haben mich nicht zu Ende gehört.«
-
-»Ja, ich habe nicht zu Ende gehört,« -- murmelte Ssonja.
-
-»Also, setzen Sie sich.«
-
-Ssonja wurde furchtbar verlegen und setzte sich, zum dritten Male.
-
-»Nachdem ich ihre Lage mit den unglücklichen kleinen Kindern sehe,
-möchte ich, -- wie ich schon gesagt habe -- irgendwie nach meinen
-Kräften nützlich sein, das heißt, was man nach Kräften nennt, nicht
-mehr. Man könnte zum Beispiel eine Sammlung veranstalten oder sozusagen
-eine Verlosung ... oder etwas dieser Art, -- wie es auch stets in
-ähnlichen Fällen von den Nächststehenden oder auch Fremden, überhaupt
-von Menschen, die helfen möchten, arrangiert wird. Darüber hatte ich die
-Absicht, mit Ihnen zu reden. Man könnte es tun.«
-
-»Ja, es wäre gut ... Gott wird Sie dafür ...« stammelte Ssonja und
-blickte Peter Petrowitsch unverwandt an.
-
-»Man könnte es, aber ... darüber können wir nachher ... das heißt, man
-könnte gleich heute den Anfang machen. Wir wollen uns noch einmal am
-Abend sehen, es besprechen und sozusagen die Grundlagen festsetzen.
-Kommen Sie so gegen sieben Uhr zu mir. Ich hoffe, daß Andrei
-Ssemenowitsch sich daran beteiligen wird ... Aber ... hier gibt es einen
-Umstand, der vorher und genau erwähnt werden muß. Deshalb habe ich Sie,
-Ssofja Ssemenowna, auch hierher bemüht. Meine Ansicht geht nämlich
-dahin, daß man Katerina Iwanowna selbst kein Geld in die Hände geben
-darf, ja daß es gefährlich ist; der Beweis dafür liegt in dem heutigen
-Gedächtnismahl. Ohne eine trockene Rinde Brot zu morgen und ... Stiefel,
-und andere nötigen Dinge zu haben, -- wird heute Rum und Madeira und ...
-Kaffee eingekauft. Ich habe es im Vorbeigehen gesehen. Morgen hängt
-wieder alles bis auf das letzte Stück Brot an Ihnen, und das ist
-unsinnig. Darum muß die Sammlung nach meiner persönlichen Ansicht so vor
-sich gehen, daß die unglückliche Witwe von dem Gelde nichts wissen darf,
-nur Sie allein würden es zu wissen bekommen. Ist das nicht richtiger?«
-
-»Ich weiß es nicht. Sie ist nur heute so ... nur einmal im Leben ... sie
-wollte so gern sein Gedächtnis feiern, ihm die Ehre erweisen ... Sie ist
-sonst sehr klug. Aber, wie Sie wollen, und ich werde Ihnen sehr, sehr,
-sehr ... und sie werden Ihnen sehr ... Gott wird Ihnen ... und die
-Waisen ...«
-
-Ssonja sprach nicht zu Ende und weinte.
-
-»So. Nun, also behalten Sie es im Auge, jetzt aber belieben Sie zur
-Unterstützung Ihrer Verwandten fürs erste eine meinen Kräften
-angemessene Summe von mir entgegenzunehmen. Ich möchte ausdrücklich
-wünschen, daß mein Name dabei nicht genannt wird. Bitte ... da ich
-sozusagen selbst Sorgen habe, bin ich nicht imstande, mehr ...«
-
-Und Peter Petrowitsch streckte Ssonja einen Zehnrubelschein entgegen,
-wobei er ihn peinlich aufrollte. Ssonja nahm den Schein in Empfang,
-errötete, sprang auf, murmelte etwas und begann sich eilig zu
-verabschieden. Peter Petrowitsch begleitete sie feierlich bis zur Türe.
-Sie sprang aus dem Zimmer, ganz erregt und abgequält und kehrte zu
-Katerina Iwanowna in größter Verlegenheit zurück.
-
-Während dieses Vorganges stand Andrei Ssemenowitsch bald am Fenster,
-bald ging er im Zimmer herum und wollte das Gespräch nicht unterbrechen.
-Als Ssonja fortgegangen war, trat er auf Peter Petrowitsch zu und
-reichte ihm feierlich die Hand.
-
-»Ich habe alles gehört und alles _gesehen_,« sagte er und betonte
-besonders das letzte Wort. »Das ist edel, das heißt, ich wollte sagen,
-human! Sie wollten keinen Dank, ich habe es gesehen! Und obwohl ich,
-offen gestanden, prinzipiell mit der privaten Wohltätigkeit nicht
-sympathisieren kann, weil sie nicht bloß das Übel nicht vertilgt,
-sondern es nur noch mehr stärkt, muß ich gestehn, daß ich Ihre Handlung
-mit Vergnügen gesehen habe, -- ja, ja, mir gefällt es.«
-
-»Oh, das ist Unsinn!« murmelte Peter Petrowitsch ein wenig erregt und
-blickte aufmerksam Lebesjätnikoff an.
-
-»Nein, es ist kein Unsinn! Ein Mann, der wie Sie durch den gestrigen
-Vorfall beleidigt und geärgert ist, und gleichzeitig fähig ist, an das
-Unglück von anderen zu denken, -- ein solcher Mensch ist ... obwohl er
-durch seine Handlungen einen sozialen Fehler begeht, -- dennoch ... der
-Achtung würdig! Ich habe es sogar von Ihnen, Peter Petrowitsch, nicht
-erwartet, um so mehr, nach Ihren Begriffen ... oh, wie Ihre Begriffe
-Ihnen noch hinderlich sind! Wie Sie, zum Beispiel, dieser gestrige
-Mißerfolg aufregt!« rief der gute kleine Andrei Ssemenowitsch aus und
-fühlte wieder eine stärkere Sympathie für Peter Petrowitsch, »und wozu,
-wozu brauchen Sie unbedingt diese Ehe, diese _gesetzliche_ Ehe, lieber,
-edler Peter Petrowitsch? Warum brauchen Sie unbedingt diese
-_Gesetzlichkeit_ in der Ehe? Nun, wenn Sie wollen, schlagen Sie mich,
-aber ich freue mich, freue mich, daß diese Ehe nicht zustande gekommen
-ist, daß Sie frei sind, daß Sie noch nicht ganz für die Menschheit
-verloren sind, ich freue mich ... So, jetzt habe ich mich
-ausgesprochen!«
-
-»Weil ich in Ihrer illegalen Ehe keine Hörner tragen und fremde Kinder
-züchten will, aus diesem Grunde brauche ich die gesetzliche Ehe,« sagte
-Luschin, nur um etwas zu sagen.
-
-Er war besonders besorgt und nachdenklich.
-
-»Kinder? Sie sagen Kinder?« fuhr Andrei Ssemenowitsch auf wie ein
-Kampfroß, das das Signal gehört hatte, »Kinder -- das ist eine soziale
-Frage und eine Frage von größter Wichtigkeit, das gebe ich zu, aber die
-Kinderfrage wird sich anders lösen. Einige verwerfen vollkommen die
-Kinder, wie alles, was mit Familie zu tun hat. Wir wollen über die
-Kinder nachher reden und wollen uns jetzt mit den Hörnern beschäftigen.
-Ich muß Ihnen gestehen, daß das mein schwacher Punkt ist. Dieser üble
-Husarenausdruck, der Ausdruck eines Puschkins ist im künftigen Lexikon
-undenkbar. Ja, und was sind Hörner? Oh, welch eine Verirrung! Was für
-Hörner? Wozu Hörner? Welch ein Unsinn! Im Gegenteil, in der illegalen
-Ehe können sie gar nicht existieren! Die Hörner sind nur die natürliche
-Folge jeder gesetzlichen Ehe, sozusagen, ihre Korrektur, ein Protest, so
-daß sie in diesem Sinne keineswegs erniedrigend sind ... Und wenn ich
-irgendwann, -- diesen Unsinn einmal angenommen, -- gesetzlich
-verheiratet sein sollte, so würde ich mich sogar über diese verfluchten
-Hörner freuen; ich würde dann meiner Frau sagen, -- >mein Freund, ich
-habe dich bis jetzt bloß geliebt, jetzt aber achte ich dich auch, weil
-du verstanden hast, zu protestieren!< Sie lachen! Das kommt davon, weil
-Sie nicht imstande sind, sich von den Vorurteilen loszureißen! Zum
-Teufel, ich begreife doch, worin gerade die Unannehmlichkeit besteht,
-wenn man in gesetzlicher Ehe betrogen wird, -- aber das ist doch bloß
-eine niederträchtige Folge einer niederträchtigen Tatsache, wo beide
-Teile erniedrigt sind. Wenn aber die Hörner einem offen aufgesetzt
-werden, wie in der illegalen Ehe, dann existieren sie nicht mehr, sie
-sind undenkbar und verlieren sogar die Benennung Hörner. Im Gegenteil,
-Ihre Frau wird Ihnen bloß beweisen, wie sie Sie schätzt, indem sie Sie
-für unfähig hält, ihrem Glücke im Wege zu sein und Sie für so reif
-betrachtet, daß Sie wegen ihres neuen Mannes an ihr keine Rache nehmen
-werden. Zum Teufel, ich träume zuweilen, daß, wenn ich mich verheiraten
-würde, pfui! wenn ich heiraten würde, -- ob illegal, ob gesetzlich, das
-ist einerlei, -- würde ich selbst zu meiner Frau einen Liebhaber
-bringen, wenn sie sich noch keinen angeschafft hätte, und würde ihr
-sagen, -- >mein Freund, ich liebe dich, aber ich wünsche auch, daß du
-mich achtest, -- bitte, hier hast du ihn!< Ist das nicht das Richtige?«
-
-Peter Petrowitsch hörte zu und lachte, aber ohne besondere Begeisterung.
-Er hörte fast nicht zu. Er überlegte sich etwas ganz anderes, und
-Lebesjätnikoff merkte es auch schließlich. Peter Petrowitsch war
-aufgeregt, rieb sich die Hände und dachte nach. Das alles kam Andrei
-Ssemenowitsch später erst zum Bewußtsein.
-
-
- II.
-
-Es würde schwer fallen, genau die Gründe anzuführen, aus welchen die
-Idee dieses sinnlosen Gedächtnismahles in dem verstörten Gehirn von
-Katerina Iwanowna entstanden war. Es waren beinahe zehn Rubel von dem
-Gelde daraufgegangen, das ihr Raskolnikoff eigentlich zur Beerdigung
-Marmeladoffs gegeben hatte. Vielleicht hielt sich Katerina Iwanowna dem
-Verstorbenen gegenüber verpflichtet, sein Andenken »wie es sich gehört«
-zu ehren, damit alle Mitbewohner und besonders Amalie Iwanowna wissen
-sollten, daß er »nicht nur gar nicht schlechter als sie, vielleicht weit
-besser war,« und daß niemand von ihnen das Recht hatte, sich über ihn zu
-stellen. Vielleicht hatte hierzu jener besondere _Stolz der Armen_ am
-meisten beigetragen, aus dem viele bei gewissen gesellschaftlichen
-Gebräuchen, die, wie es einmal ist, für alle und jeden verbindlich sind,
-ihre letzten Kräfte anspannen und die letzten Spargroschen ausgeben, um
-bloß »nicht schlechter, als andere« zu sein, und damit die anderen nicht
-darüber »reden« können. Es war auch sehr möglich, daß Katerina Iwanowna
-das Verlangen hatte, gerade in diesem Falle, namentlich in dem
-Augenblicke, wo sie scheinbar von aller Welt verlassen war, allen diesen
-»unbedeutenden und schlimmen Mietern« zu zeigen, daß sie nicht nur
-Lebensart hatte und sich auf Empfänge verstand, sondern daß sie gar
-nicht zu solch einem Lose bestimmt war, daß sie »in einem feinen, ja in
-dem aristokratischen Hause eines Obersten« erzogen war, und daß sie
-durchaus nicht dazu erzogen war, die Diele selbst zu fegen und des
-Nachts Kinderlumpen zu waschen. Diese Anfälle von Stolz und Eitelkeit
-suchen zuweilen die ärmlichsten und unterdrücktesten Menschen heim und
-verwandeln sich oft bei ihnen in ein gereiztes, unüberwindliches
-Bedürfnis. Katerina Iwanowna gehörte eigentlich nicht zu den
-Unterdrückten, man konnte sie durch Umstände töten, aber sie moralisch
-_unterdrücken_, das heißt, sie einschüchtern und ihren Willen
-unterwerfen, -- konnte man nicht. Außerdem sagte Ssonjetschka mit gutem
-Grunde, daß ihr Verstand verstört sei. Man konnte es freilich nicht
-positiv und endgültig sagen, doch in letzter Zeit, in dem letzten Jahre,
-wurde ihr armer Kopf zu stark gequält, als daß er nicht zum Teil
-gelitten hätte. Und eine stark fortgeschrittene Schwindsucht trägt auch,
-wie die Ärzte sagen, zu einer Geistesstörung bei.
-
-_Weine_ in Mehrzahl und verschiedene Sorten gab es freilich nicht,
-ebenso fehlte auch _Madeira_, -- das war übertrieben, Wein war aber da.
-Es gab Branntwein, Rum und Lissaboner, alles von der schlechtesten
-Sorte, aber in genügender Menge. Von Speisen waren außer Kutje drei oder
-vier Gerichte vorhanden, alles aus der Küche von Amalie Iwanowna, dazu
-wurden zwei Samowars aufgestellt für Tee und Punsch, die nach dem Essen
-gereicht werden sollten. Katerina Iwanowna hatte alles selbst
-eingekauft, als Hilfe hatte sie einen Mieter mitgehabt, einen kläglichen
-Polen, der weiß Gott warum bei Frau Lippewechsel wohnte. Er hatte sich
-sofort zu Katerina Iwanownas Verfügung gestellt, lief den ganzen
-gestrigen Tag und den ganzen heutigen Morgen Hals über Kopf und mit
-heraushängender Zunge herum und war besonders bemüht, daß man dies auch
-bemerken solle. Wegen jeder Kleinigkeit kam er zu Katerina Iwanowna
-gelaufen, war ihr sogar in die Kaufläden nachgegangen, nannte sie
-fortwährend »Pani Chorunschina« und wurde ihr zuletzt bis zum Überdrusse
-langweilig, obwohl sie zuerst behauptet hatte, daß sie ohne diesen
-»bereitwilligen und großmütigen« Menschen vollkommen verloren wäre.
-Katerina Iwanowna hatte die Eigenschaft in ihrem Charakter, den ersten
-Besten, der ihr in den Weg lief, mit den hellsten und schönsten Farben
-zu schmücken, ihn so zu loben, daß mancher sich schämte, allerhand
-Umstände, die gar nicht existierten, zu seinem Preise zu erfinden,
-selbst daran vollkommen aufrichtig und ehrlich zu glauben, und dann
-plötzlich, mit einem Male, sich enttäuscht zu fühlen, alles abzubrechen,
-den Menschen zu beschimpfen und hinauszuschmeißen, den sie noch vor
-einigen Stunden buchstäblich angebetet hatte. Von Natur aus hatte sie
-einen heiteren, fröhlichen und friedfertigen Charakter, infolge des
-ununterbrochenen Unglücks und Mißerfolges begann sie geradezu _rasend_
-zu wünschen und zu verlangen, daß alle in Frieden und Freude leben
-sollten und anders _nicht leben dürfen_, und der geringste Mißklang im
-Leben, die allerkleinsten Mißerfolge brachten sie sofort in Wut, und sie
-fing an, unmittelbar nach den stärksten Hoffnungen und Phantasien ihr
-Schicksal zu verfluchen, alles, was ihr unter die Hände geriet, zu
-zerreißen und fortzuwerfen und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.
-Amalie Iwanowna hatte plötzlich in Katerina Iwanownas Augen eine
-ungewöhnliche Bedeutung und außergewöhnliche Achtung errungen,
-vielleicht einzig aus dem Grunde, weil dieses Gedächtnismahl vorbereitet
-wurde und weil Amalie Iwanowna von ganzem Herzen bereit war, an allen
-Besorgungen teilzunehmen. Sie hatte es übernommen, den Tisch zu decken,
-die Wäsche, das Geschirr und alles übrige herzugeben und in ihrer Küche
-das Essen zuzubereiten. Katerina Iwanowna überließ ihr alles und ging
-auf den Friedhof. Und wirklich war alles aufs beste hergerichtet, -- der
-Tisch war ziemlich reinlich gedeckt, das Geschirr, Gabeln, Messer,
-Gläser, Weingläser, Tassen -- all dieses paßte nicht zusammen, war von
-den verschiedenen Mietern zusammengeborgt, aber alles stand zur
-bestimmten Stunde auf seinem Platze, und Amalie Iwanowna, im Vollgefühle
-ihrer gut besorgten Aufgabe, begrüßte die Zurückkehrenden mit einem
-gewissen Stolze; sie war sehr geputzt in einer Haube mit neuen
-Trauerbändern und im schwarzen Kleide. Dieser Stolz, obwohl berechtigt,
-mißfiel aus irgendeinem Grunde Katerina Iwanowna, »als hätte man in der
-Tat ohne Amalie Iwanowna nicht verstanden, den Tisch zu decken«! Auch
-die Haube mit den neuen Bändern erregte ihr Mißfallen, --
-»möglicherweise ist diese dumme Deutsche noch darauf stolz, daß sie die
-Wirtin ist und sich aus Gnade bereit erklärt hat, den armen Mietern zu
-helfen? Aus Gnade? Bitte sehr! Bei Katerina Iwanownas Papa, der Oberst
-und beinahe Gouverneur war, wurde zuweilen der Tisch für vierzig
-Personen gedeckt, so daß irgend eine Amalie Iwanowna oder besser gesagt
-Ludwigowna, dort nicht mal in die Küche zugelassen worden wäre ...«
-Katerina Iwanowna beschloß aber, ihre Gefühle nicht vor der Zeit zu
-äußern, obgleich sie sich im Herzen fest vorgenommen hatte, Amalie
-Iwanowna heute noch unbedingt abzutrumpfen und sie an ihren richtigen
-Platz zu erinnern, sonst würde die sich Gott weiß was einbilden;
-vorläufig behandelte sie sie bloß kalt. Eine andere Unannehmlichkeit
-hatte auch teilweise zu der Gereiztheit von Katerina Iwanowna
-beigetragen, -- zu der Beerdigung war, außer dem Polen, von den
-Geladenen fast niemand erschienen, der aber hatte Zeit genug, auf den
-Friedhof zu laufen; zu dem Gedächtnismahle dagegen waren nur die
-Unansehnlichsten und Armen gekommen, viele sogar nicht ganz nüchtern,
-sozusagen das Pack. Die älteren und angesehensten waren, wie
-absichtlich, ferngeblieben, als hätten sie sich alle verabredet. Peter
-Petrowitsch Luschin zum Beispiel, man kann sagen, der solideste von
-allen Mietern, war nicht erschienen, während Katerina Iwanowna schon
-gestern aller Welt, das heißt Amalie Iwanowna, Poletschka, Ssonjetschka
-und dem Polen, erzählt hatte, daß dieser edelste und großmütigste Mann
-mit besten Verbindungen und von sehr großem Vermögen, ein früherer
-Freund ihres ersten Mannes, der in dem Hause ihres Vaters verkehrt habe,
-ihr versprochen hätte, alle Mittel in Bewegung zu setzen, um ihr eine
-bedeutende Pension zu verschaffen. Wir wollen hierbei bemerken, daß,
-wenn Katerina Iwanowna mit Verbindungen und Vermögen anderer Leute
-prahlte, sie es vollkommen uneigennützig, sozusagen aus übervollem
-Herzen tat, nur aus dem Vergnügen allein, den Gelobten noch mehr zu
-preisen und ihm einen größeren Wert zu verleihen. Nächst Luschin und
-wahrscheinlich »seinem Beispiele folgend« war auch »dieser üble,
-schändliche Lebesjätnikoff« nicht erschienen. Was bildet sich denn
-dieser ein? Man hatte ihn bloß aus Gnade und weil er in einem Zimmer mit
-Peter Petrowitsch lebte und sein Bekannter war, eingeladen; es wäre
-peinlich für ihn gewesen, nicht eingeladen zu sein. Auch eine feine Dame
-mit ihrer Tochter, »einer überreifen alten Jungfer,« die erst seit zwei
-Wochen bei Amalie Iwanowna lebten, waren nicht erschienen; sie hatten
-sich trotz ihres kurzen Aufenthaltes hier schon einige Male über den
-Lärm und das Geschrei in Marmeladoffs Zimmer, besonders, wenn der
-Verstorbene betrunken nach Hause gekommen war, beklagt. Das hatte
-Katerina Iwanowna durch Amalie Iwanowna erfahren, wenn diese sich mit
-Katerina Iwanowna zankte, ihr drohte, sie und die ganze Familie
-hinauszujagen, und dabei aus vollem Halse schrie, daß sie »anständige
-Mieter, deren Fußtritt Sie nicht mal wert sind,« beunruhige. Katerina
-Iwanowna hatte absichtlich beschlossen, diese Dame und ihre Tochter,
-deren »Fußtritt sie angeblich nicht wert sei,« einzuladen, und um so
-mehr, weil jene bei zufälligen Begegnungen sich hochmütig abwandte, --
-damit sie wisse, daß man hier »edler denkt und fühlt und sie, ohne sich
-des Bösen zu erinnern, einlade,« und damit sie sehen sollten, daß
-Katerina Iwanowna nicht gewohnt sei, in solchen Verhältnissen zu leben.
-Es war unbedingt vorausgesetzt, ihnen allen bei Tische zu erklären und
-zu erwähnen, daß ihr verstorbener Vater beinahe Gouverneur gewesen sei,
-und gleichzeitig indirekt zu verstehen zu geben, daß es überflüssig
-wäre, sich bei Begegnungen abzuwenden, und daß es äußerst dumm wäre.
-Ebenso war der dicke Oberstleutnant, eigentlich war er Stabskapitän
-außer Dienst, nicht erschienen, es stellte sich heraus, daß er seit dem
-gestrigen Morgen vor Trunkenheit »ohne Hinterbeine« war. Mit einem
-Worte: es waren bloß erschienen, -- der Pole, dann ein häßlicher
-schweigsamer Kanzlist, in einem stark glänzenden Frack, mit Finnen im
-Gesichte und einem widerlichen Geruche und noch ein tauber und fast
-erblindeter alter Mann, der einst in einem Postamt gedient hatte und den
-jemand seit undenkbaren Zeiten und aus unbekannten Gründen bei Amalie
-Iwanowna untergebracht hatte. Es war auch ein betrunkener
-verabschiedeter Leutnant, eigentlich ein Proviantmeister, erschienen mit
-einem höchst unanständigen lauten Lachen, und: »stellen Sie sich vor,«
-ohne Weste! Einer von den Gästen setzte sich direkt an den Tisch, ohne
-sogar Katerina Iwanowna zu begrüßen, und zuguterletzt tauchte eine
-Person im Schlafrocke auf, da sie keine Kleider besaß, aber das war so
-unanständig, daß es den Bemühungen von Amalie Iwanowna und dem Polen
-gelang, ihn hinauszuexpedieren. Der Pole hatte übrigens noch zwei andere
-Polen mitgebracht, die niemals bei Amalie Iwanowna gewohnt hatten, und
-die niemand vorher in ihrem Hause gesehen hatte. Dies alles reizte
-Katerina Iwanowna in höchstem Grade. »Für wen waren schließlich denn
-alle Vorbereitungen getroffen?« Man hatte sogar die Kinder, um an Platz
-zu gewinnen, nicht am Tische untergebracht, der das ganze Zimmer
-einnahm, sondern für sie in der hinteren Ecke auf einem Kasten gedeckt,
-wobei die beiden kleineren auf einer Bank saßen, Poletschka aber, als
-die Erwachsene, mußte auf sie aufpassen, sie füttern und ihnen »wie
-Kindern aus feinem Hause« die Näschen putzen. Mit einem Worte, Katerina
-Iwanowna glaubte alle mit doppelter Würde und sogar mit Hochmut begrüßen
-zu müssen. Manche blickte sie besonders streng an und bat sie von oben
-herab, sich an den Tisch zu setzen. Da sie aber aus irgendeinem Grunde
-meinte, Amalie Iwanowna für alle Nichterschienenen verantwortlich machen
-zu müssen, begann sie plötzlich, sie äußerst nachlässig zu behandeln,
-was jene sofort merkte und dadurch sehr pikiert wurde. Solch ein Anfang
-deutete auf kein gutes Ende. Endlich hatten alle Platz genommen.
-Raskolnikoff trat fast in demselben Augenblick ein, als sie von dem
-Friedhofe zurückkehrten. Katerina Iwanowna war überaus erfreut, ihn zu
-sehen, erstens, weil er der einzige »gebildete« von allen Gästen war und
-»wie bekannt, nach zwei Jahren in der hiesigen Universität einen
-Lehrstuhl einnehmen werde,« und zweitens, weil er sofort und ehrerbietig
-sich entschuldigte, daß er trotz seines Wunsches zu der Beerdigung nicht
-hatte kommen können. Sie stürzte sich buchstäblich auf ihn, setzte ihn
-bei Tisch neben sich zur linken Hand, zur rechten saß Amalie Iwanowna,
-und wandte sich ununterbrochen an Raskolnikoff, trotz ihrer beständigen
-Unruhe und Sorge, daß das Essen auch richtig herumgereicht wurde und
-alle erhielten, trotz des qualvollen Hustens, der sie alle Augenblicke
-unterbrach und peinigte, und der sich in diesen letzten zwei Tagen
-besonders verstärkt zu haben schien. Sie beeilte sich, ihm halb
-flüsternd alle angesammelten Gefühle und ihre ganze gerechte Entrüstung
-über das mißlungene Gedächtnismahl mitzuteilen, wobei die Entrüstung oft
-unabsichtlich und ohne jede Berechnung, einem ausgelassenen Lachen über
-die versammelten Gäste, besonders aber über die Wirtin, Platz machte.
-
-»An allem ist dieser Kuckuck schuld. Sie wissen, wen ich meine, -- die
-dort, dort!« und Katerina Iwanowna wies mit dem Kopfe auf die Wirtin.
-»Sehen Sie sie an, -- sie hat die Augen aufgesperrt, fühlt, daß wir über
-sie reden, kann aber nichts verstehn. Pfui, so eine Eule! Ha--ha--ha!
-... Kche--kche--kche!« hustete sie. »Und was will sie mit ihrer Haube!
-Kche--kche--kche! Haben Sie gemerkt, sie möchte gern, daß alle Gäste
-meinen sollen, sie beschütze mich und erweise mir mit ihrem Hiersein
-eine Ehre. Ich habe sie gebeten, wie man eine anständige Person bittet,
-bessere Leute, und zwar die Bekannten des Verstorbenen, einzuladen, und
-sehen Sie, wen sie hergebracht hat, -- allerhand Narren! Schmutzfinke!
-Sehen Sie nur diesen da mit dem unreinen Teint, -- das ist doch eine
-Rotznase auf zwei Beinen! Und diese Polen ... ha--ha--ha!
-Kche--kche--kche! Niemand, niemand hat sie vorher hier gesehen, auch ich
-nicht. Wozu sind die gekommen, frage ich Sie? Wie hübsch sie sitzen,
-nebeneinander. -- Pan, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen zu,
-»haben Sie genug vorgelegt? Nehmen Sie noch? Trinken Sie Bier! Wollen
-Sie nicht Schnaps? Sehen Sie, -- er ist aufgesprungen und verbeugt sich,
-sehen Sie, sehen Sie, -- sie sind wahrscheinlich sehr hungrig, die
-Armen! Tut nichts, mögen sie essen! Sie lärmen wenigstens nicht, aber
-... aber ich fürchte ... für die silbernen Löffel der Wirtin! ... Amalie
-Iwanowna!« wandte sie sich plötzlich an die Wirtin laut, »ich sage Ihnen
-im voraus, falls Ihre Löffel gestohlen werden, übernehme ich keine
-Verantwortung! Ha--ha--ha!« lachte sie, wandte sich wieder an
-Raskolnikoff, wies wieder auf die Wirtin und freute sich über ihre
-Bemerkung. »Sie hat es nicht verstanden, sie hat wieder nichts
-verstanden! Sehen Sie, wie sie mit aufgesperrtem Munde dasitzt, -- wie
-eine echte Eule, eine Eule mit neuen Bändern, ha--ha--ha!«
-
-Das Lachen verwandelte sich von neuem in einen unerträglichen Husten,
-der minutenlang anhielt. Auf ihrem Taschentuch zeigte sich Blut, und
-Schweißtropfen traten auf die Stirne. Sie zeigte Raskolnikoff schweigend
-das Blut, und kaum hatte sie sich erholt, flüsterte sie mit roten
-Flecken auf den Wangen ihm lebhaft wieder zu.
-
-»Sehen Sie, ich habe ihr einen sehr heiklen Auftrag gegeben, diese Dame
-und ihre Tochter einzuladen. Sie wissen doch, von wem ich spreche? Hier
-mußte man in der zartesten Weise, in der geschicktesten Art handeln, sie
-war aber so ungeschickt, daß diese angereiste dumme Person, dieses
-aufgeblasene Geschöpf, diese unbedeutende Provinzmadam, sie die Witwe
-irgendeines Majors, die sich hier um eine Pension bemüht und bei den
-Behörden deswegen herumläuft ... und die mit ihren fünfundfünfzig Jahren
-sich schminkt und färbt ... was allgemein bekannt ist ... daß dieses
-Geschöpf nicht nur sich für zu gut hielt, hier zu erscheinen, sondern
-sich nicht einmal entschuldigen ließ, wie es in diesen Fällen doch die
-gewöhnlichste Höflichkeit verlangt! Ich kann nicht begreifen, warum auch
-Peter Petrowitsch nicht gekommen ist? Und wo ist Ssonja? Wo ist sie nur
-hingegangen? Ah, da ist sie ja! Ssonja, wo warst du? Merkwürdig, daß du
-sogar am Beerdigungstage deines Vaters so unpünktlich bist. Rodion
-Romanowitsch, sie soll sich neben Sie setzen. Hier ist dein Platz,
-Ssonjetschka ... nimm, was dir gefällt. Nimm von dem Fisch, er ist gut.
-Hat man den Kindern auch etwas gegeben? Poletschka, habt ihr alles?
-Kche--kche--kche! Nun, gut. Sei ein artiges Kind, Lene und du, Kolja,
-zapple nicht mit den Beinen, sitz, wie ein anständiges Kind sitzen muß.
-Was sagst du, Ssonjetschka?«
-
-Ssonja beeilte sich sofort, ihr die Entschuldigung von Peter Petrowitsch
-mitzuteilen und versuchte so laut zu sprechen, daß es alle hören
-konnten, gebrauchte gewählte und ehrerbietige Ausdrücke, die sie
-absichtlich Peter Petrowitsch andichtete. Sie fügte hinzu, daß Peter
-Petrowitsch sie besonders gebeten habe, mitzuteilen, daß er
-unverzüglich, sobald es ihm nur möglich sei, herkommen würde, um in
-_geschäftlichen Angelegenheiten_ allein mit Katerina Iwanowna zu
-sprechen und zu verabreden, was man jetzt und künftig unternehmen könnte
-und dergleichen mehr.
-
-Ssonja wußte, daß dies Katerina Iwanowna friedlicher stimmen und
-beruhigen würde, sie würde sich dadurch geschmeichelt fühlen und ihr
-Stolz würde befriedigt sein. Sie setzte sich neben Raskolnikoff, den sie
-hastig begrüßte und flüchtig, doch voll Interesse anblickte. Während der
-folgenden Zeit vermied sie aber ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen.
-Sie war zerstreut, obwohl sie die ganze Zeit Katerina Iwanowna im Auge
-behielt, um ihre Wünsche zu erraten. Weder sie, noch Katerina Iwanowna
-waren in Trauer, da sie keine Kleider hatten; Ssonja hatte ein
-dunkelbraunes Kleid an und Katerina Iwanowna ihr einziges, ein
-dunkelgestreiftes Kattunkleid. Die Mitteilung über Peter Petrowitsch
-verbreitete sich rasch. Als Katerina Iwanowna mit Würde Ssonja angehört
-hatte, erkundigte sie sich ebenso würdevoll, wie es Peter Petrowitsch
-gehe? Dann _flüsterte_ sie hörbar Raskolnikoff zu, daß es für einen
-angesehenen und soliden Menschen, wie Peter Petrowitsch, unmöglich
-gewesen wäre, in solch eine »ungewöhnliche Gesellschaft« zu kommen,
-trotz der großen Anhänglichkeit an ihre Familie und der alten
-Freundschaft mit ihrem Papa.
-
-»Sehen Sie, darum bin ich auch Ihnen, Rodion Romanowitsch, so sehr
-dankbar, daß Sie trotz solcher Umgebung Salz und Brot von mir nicht
-verschmäht haben,« fügte sie fast laut hinzu, »übrigens bin ich
-überzeugt, daß nur die besondere Freundschaft zu meinem armen
-Verstorbenen Sie veranlaßt hat, Ihr Wort zu halten.«
-
-Sie blickte noch einmal voll Stolz und Würde ihre Gäste an und
-erkundigte sich plötzlich mit besonderer Fürsorge laut über den Tisch
-hinüber bei dem tauben alten Manne, »ob er nicht mehr vom Braten nehmen
-möchte und ob er Lissaboner bekommen habe?« Der Alte antwortete nicht
-und konnte lange nicht begreifen, wonach man ihn frage, obwohl seine
-Nachbarn aus Scherz ihn anzustoßen begannen. Er blickte nur mit offenem
-Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch mehr
-hervorrief.
-
-»Ist das ein Holzklotz! Sehen Sie doch nur! Wozu hat man den hierher
-gebracht? Was Peter Petrowitsch anbetrifft, so war ich stets seiner
-sicher,« fuhr Katerina Iwanowna fort, Raskolnikoff zu erzählen, »so
-gleicht er selbstverständlich nicht ...« wandte sie sich laut und scharf
-und mit äußerst strenger Miene zu Amalie Iwanowna, daß sie darüber
-erschrak, »so gleicht er nicht jenen aufgedonnerten Madams mit ihren
-Schleppen, die bei meinem Papa nicht mal als Köchinnen ihren Dienst
-verrichten gedurft hätten, und denen mein verstorbener Mann nur deshalb
-die Ehre erwiesen hatte, sie zu empfangen, weil er eine unerschöpfliche
-Güte hatte.«
-
-»Ja, er liebte eins zu trinken, ja, er liebte es und trank auch!« rief
-plötzlich der verabschiedete Proviantmeister und leerte das zwölfte Glas
-Schnaps.
-
-»Mein verstorbener Mann hatte diese Schwäche, das wissen alle,« stürzte
-sich Katerina Iwanowna plötzlich auf ihn, »aber er war ein guter und
-edler Mensch, der seine Familie liebte und achtete; nur das eine war
-schlimm, daß er in seiner Güte allerhand verdorbenen Leuten zu sehr
-traute und weißgott mit wem trank, sogar mit solchen, die seine
-Stiefelsohle nicht wert waren! Stellen Sie sich vor, Rodion
-Romanowitsch, man fand in seiner Tasche einen Pfefferkuchenhahn, -- er
-ging total betrunken heim, und dachte doch an seine Kinder.«
-
-»Einen Ha--hn? Sie belieben zu sagen -- ei--nen Hahn?« rief der
-Proviantmeister.
-
-Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie dachte über etwas
-nach und seufzte.
-
-»Sie meinen auch sicher, wie alle, daß ich zu streng zu ihm war,« fuhr
-sie fort, sich an Raskolnikoff wendend. »Das ist nicht richtig! Er hat
-mich geachtet, er hat mich sehr, sehr geachtet! Er war eine gute Seele.
-Und zuweilen tat er mir so leid! Er saß manchmal in der Ecke und sah
-mich an, da tat er mir so leid, ich wollte zu ihm freundlich sein,
-dachte mir aber, wenn ich jetzt freundlich zu ihm bin, betrinkt er sich
-wieder. Nur mit Strenge konnte man ihn einigermaßen davon zurückhalten.«
-
-»Ja, es ist vorgekommen, daß er an den Haaren gezerrt wurde, es ist
-vorgekommen, öfters,« brüllte wieder der Proviantmeister und leerte noch
-ein Glas.
-
-»Es wäre angebracht, manche Dummköpfe nicht nur an den Haaren zu zerren,
-sondern mit einem Besenstiel zu verprügeln. Ich rede jetzt nicht von dem
-Verstorbenen!« trumpfte Katerina Iwanowna den Proviantmeister ab.
-
-Die roten Flecken auf ihren Wangen traten immer stärker hervor und ihre
-Brust hob sich. Nur wenig fehlte und ein Skandal begann. Viele
-kicherten; das wäre ihnen offenbar sehr angenehm gewesen. Man begann den
-Proviantmeister zu stoßen und ihm etwas zuzuflüstern. Man wollte beide
-aufeinander hetzen.
-
-»Erlau--ben Sie mir zu fragen, wen Sie damit meinten,« begann der
-Proviantmeister wieder, »wessen Ehre ... haben Sie soeben ... Übrigens,
-es ist unnötig! Unsinn! Eine Witwe! Eine arme Witwe! Ich verzeihe ...
-Ich passe!« und er goß sich wieder Schnaps ein.
-
-Raskolnikoff hörte schweigend, voll Widerwillen zu. Er nahm nur aus
-Höflichkeit, rührte kaum die Stücke an, die ihm Katerina Iwanowna alle
-Augenblicke auf den Teller legte und aß bloß, um sie nicht zu kränken.
-Er blickte Ssonja aufmerksam an. Ssonja aber wurde immer unruhiger und
-besorgter; sie ahnte, daß das Gedächtnismahl kein friedliches Ende
-nehmen werde und beobachtete voll Angst die sich steigernde Gereiztheit
-von Katerina Iwanowna. Sie wußte, daß sie der Hauptgrund war, warum die
-beiden zugereisten Damen so verachtungsvoll mit der Einladung Katerina
-Iwanownas umgegangen waren. Sie hatte von Amalie Iwanowna selbst gehört,
-daß die Mutter allein schon durch die Einladung beleidigt worden war und
-die Frage gestellt hatte, »wie sie es verantworten könne, ihre Tochter
-neben _diese Person_ zu setzen?« Ssonja ahnte, daß Katerina Iwanowna
-dies irgendwie erfahren habe, und eine Kränkung Ssonjas bedeutete für
-Katerina Iwanowna mehr, als eine persönliche, mehr als eine Kränkung
-ihrer Kinder, ihres Papas, mit einem Worte, es war für sie eine tödliche
-Beleidigung, und Ssonja wußte, daß Katerina Iwanowna sich nicht eher
-beruhigen werde, »bis sie diesen geputzten Krähen bewiesen hätte, daß
-sie beide ...« und dergleichen mehr. Wie absichtlich, hatte in diesem
-Augenblicke jemand vom anderen Ende des Tisches Ssonja einen Teller
-zugesandt, worauf zwei Herzen, durchbohrt mit einem Pfeile, aus Brot
-geknetet waren. Katerina Iwanowna flammte auf und bemerkte sofort laut
-über den ganzen Tisch weg, daß der Absender sicher »ein betrunkener
-Esel« sei. Amalie Iwanowna, die auch etwas Schlimmes ahnte, und
-gleichzeitig durch den Hochmut Katerina Iwanownas im tiefsten Innern
-gekränkt war, begann ohne jede Veranlassung, nur um die unangenehme
-Stimmung der Gesellschaft abzulenken und gleichzeitig um ihr Ansehen in
-aller Augen zu heben, zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr »Karl aus
-der Apotheke« eines Nachts in einer Droschke nach Hause fuhr und der
-Kutscher ihn ermorden wollte, daß Karl ihn sehr, sehr gebeten habe, ihn
-nicht zu ermorden, »die Hände gefaltet und geweint hätte und so
-erschrocken wäre und daß die Angst sein Herz durchbohrt hätte«. Katerina
-Iwanowna bemerkte aber lächelnd, daß Amalie Iwanowna keine russischen
-Anekdoten erzählen solle. Jene fühlte sich dadurch noch mehr gekränkt
-und erwiderte, daß ihr Vater in Berlin ein sehr, sehr bedeutender Mann
-gewesen sei und daß er »immer die Hände in die Taschen steckte«. Die
-lachlustige Katerina Iwanowna konnte ein lautes Lachen nicht
-unterdrücken, so daß Amalie Iwanowna die letzte Geduld verlor und kaum
-mehr sich beherrschen konnte.
-
-»Das ist mal eine Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna Raskolnikoff zu und
-wurde fast heiter gestimmt, »sie wollte sagen, daß er die Hände in den
-Taschen hatte, sie brachte es aber so heraus, als ob er ein Langfinger
-gewesen wäre, ha--ha! Haben Sie auch schon bemerkt, daß alle diese
-Ausländer in Petersburg, hauptsächlich aber die Deutschen, die
-irgendwoher zu uns kommen, dümmer sind, als wir? Sie müssen doch
-zugeben, daß man nicht erzählen kann, daß >Karls Herz aus Angst
-durchbohrt sei,< und daß er -- so eine Memme! -- anstatt den Kutscher zu
-knebeln, die >Hände gefaltet, geweint und sehr gebeten hat<. Ach, so ein
-Holzklotz! Und sie glaubt noch, daß dies sehr rührend sei und ahnt
-nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist dieser betrunkene
-Proviantmeister noch bei weitem klüger als sie; man sieht, daß er ein
-Bruder Liederlich ist und das bißchen Verstand vertrunken hat, diese
-andere aber tut so ordentlich, sitzt ernst da ... Sehen Sie nur, wie sie
-nun die Augen aufreißt. Sie ist böse! Ärgert sich! Ha--ha--ha!
-Kche--kche--kche!«
-
-Als Katerina Iwanowna so lustig geworden war, kam sie auf allerhand
-Dinge und erzählte plötzlich, wie sie mit Hilfe der in Aussicht
-gestellten Pension unbedingt in ihrer Heimatsstadt T... eine Anstalt für
-junge Mädchen aus besseren Ständen errichten werde. Katerina Iwanowna
-hatte dies Raskolnikoff noch nicht selbst mitgeteilt und sie ließ sich
-auf sehr ausführliche, verlockende Einzelheiten ein. Auf rätselhafte
-Weise tauchte plötzlich in ihren Händen dasselbe »Ehrendiplom« auf, von
-dem der verstorbene Marmeladoff in der Schenke Raskolnikoff schon
-erzählt und dabei erwähnt hatte, daß Katerina Iwanowna, seine Gattin,
-bei der Entlassung aus dem Stift mit einem Shawl »vor dem Gouverneur und
-den übrigen hohen Personen« getanzt habe. Dieses Ehrendiplom mußte
-offenbar Katerina Iwanowna jetzt als Zeugnis dienen, daß sie auch ein
-Recht dazu habe, eine Erziehungsanstalt zu gründen, es war hauptsächlich
-mit der Absicht hervorgeholt und in der Nähe aufbewahrt worden, um
-endgültig »den beiden aufgedonnerten Krähen,« wenn sie zu dem
-Gedächtnismahle gekommen wären, den Hochmut zu nehmen, und um ihnen
-deutlich zu beweisen, daß Katerina Iwanowna aus einem sehr feinen Hause
-stamme, »man kann sogar sagen, aus einem aristokratischen Hause« und die
-Tochter eines Obersten und sicher mehr sei, als manche Abenteurerin, die
-in der letzten Zeit so überhand nahmen. Das Ehrendiplom ging sofort von
-Hand zu Hand unter den betrunkenen Gästen, was Katerina Iwanowna nicht
-hinderte, weil darin tatsächlich _en toutes lettres_{[10]} bemerkt war,
-daß sie die Tochter eines Hofrats und Ritters pp. sei, folglich in der
-Tat beinahe die Tochter eines Obersten. Katerina Iwanowna, einmal
-entflammt, begann unverzüglich über alle Einzelheiten des künftigen
-schönen und ruhigen Lebens in T... sich zu verbreiten, -- über die
-Gymnasiallehrer, die sie auffordern würde, in ihrer Anstalt Unterricht
-zu geben, über einen ehrenwerten, alten Herrn, einen Franzosen Mangot,
-der Katerina Iwanowna noch im Stifte in französischer Sprache
-unterwiesen hatte, und der jetzt in T... sein Leben beschloß und sicher
-für einen angemessenen Preis zu ihr kommen werde. Endlich kam sie auch
-auf Ssonja zu sprechen, »die zusammen mit Katerina Iwanowna nach T...
-reisen und dort in allem ihr behilflich sein solle«. Aber hier prustete
-jemand am andern Ende des Tisches vor Lachen. Katerina Iwanowna gab sich
-sofort den Anschein, als beachte sie nicht das Lachen am anderen Ende
-des Tisches, erhob absichtlich die Stimme und begann mit Begeisterung
-über die unzweifelhaften Vorzüge von Ssofja Ssemenowna als ihrer Stütze
-zu reden, ȟber ihre Sanftmut, Geduld, Selbstaufopferung, edlen Sinn und
-ihre Bildung,« wobei sie Ssonja auf die Wange tätschelte, aufstand und
-sie ein paarmal innig küßte. Ssonja errötete und Katerina Iwanowna brach
-plötzlich in Weinen aus, nannte sich selbst »eine nervenschwache dumme
-Person, die ziemlich angegriffen sei, und daß es Zeit sei, ein Ende zu
-machen, da alle gegessen hätten und daß jetzt Tee kommen könne«. Da
-riskierte Amalie Iwanowna, gänzlich verschnupft, daß sie an der ganzen
-Unterhaltung nicht den geringsten Anteil genommen hatte, und daß man sie
-gar nicht angehört hatte, den letzten Versuch und erlaubte sich mit
-unterdrücktem Ärger, Katerina Iwanowna eine äußerst sachliche und
-tiefsinnige Bemerkung zu machen, daß man nämlich in der künftigen
-Pensionsanstalt besonders auf die reine Wäsche der jüngeren Mädchen
-achthaben müsse, und daß unbedingt eine tüchtige Dame da sein müsse, um
-darauf aufzupassen, und zweitens darauf, daß die jungen Mädchen heimlich
-in der Nacht keine Romane lesen könnten. Katerina Iwanowna, wirklich
-angegriffen und sehr müde, und des Gedächtnismahls überdrüssig, schnitt
-Amalie Iwanowna schroff das Wort mit der Bemerkung ab, daß sie »Unsinn
-quatsche« und nichts verstehe; daß die Sorge um die Wäsche Sache der
-Kastellanin sei und nicht der Vorsteherin einer Anstalt für junge
-Mädchen aus besseren Ständen, und was das Lesen von Romanen anbetrifft,
-sei ihre Bemerkung einfach unanständig, und sie bitte sie endlich zu
-schweigen. Amalie Iwanowna ward rot und antwortete geärgert, daß sie es
-nur gut gemeint hätte, und daß sie für die Wohnung schon lange kein Geld
-erhalten habe. Katerina Iwanowna zeigte ihr sofort den ihr zukommenden
-Platz, indem sie sagte, daß Amalie Iwanowna lüge, wenn sie behaupte, es
-nur gut gemeint zu haben, weil sie schon gestern, als der Verstorbene
-noch auf der Bahre lag, sie wegen der Wohnungsmiete gequält habe. Darauf
-erwiderte Amalie Iwanowna mit großartiger Konsequenz, daß sie jene Damen
-eingeladen hätte, aber daß die Damen darum nicht gekommen seien, weil
-sie feine Damen seien und zu unfeinen Damen nicht gehen könnten.
-Katerina Iwanowna hielt ihr sofort unter die Nase, daß sie, solch ein
-Schmutzfink, gar nicht beurteilen könne, was in Wahrheit fein sei.
-Amalie Iwanowna konnte das nicht vertragen und erklärte sofort, daß »ihr
-Vater aus Berlin ein sehr, sehr wichtiger Mann gewesen sei, beide Hände
-in die Taschen gesteckt habe und immer nur -- puff! puff! gemacht habe«!
-Und um ihren Vater augenscheinlicher vorzustellen, sprang Amalie
-Iwanowna vom Stuhle auf, steckte ihre beiden Hände in die Taschen, blies
-die Wangen auf und begann mit dem Munde unbestimmte Töne, die -- puff!
-puff! ähnelten, hervorzubringen, unter lautem Lachen von allen Mietern,
-die Amalie Iwanowna absichtlich durch ihren Beifall reizten, weil sie
-eine Prügelei voraussahen. Jenes nun konnte wiederum Katerina Iwanowna
-nicht vertragen und sie sagte unverzüglich und laut, daß Amalie Iwanowna
-vielleicht nie einen Vater gehabt habe, daß Amalie Iwanowna einfach eine
-betrunkene Estin aus Petersburg sei und sicher irgendwo früher als
-Köchin gedient habe, vielleicht aber auch etwas schlimmeres gewesen sei.
-Amalie Iwanowna wurde krebsrot und kreischte, daß Katerina Iwanowna
-vielleicht keinen Vater gehabt habe, daß sie aber einen Vater aus Berlin
-gehabt und er einen langen Rock getragen und immer -- puff! puff! --
-gemacht habe! Katerina Iwanowna bemerkte mit Verachtung, daß ihre
-Herkunft allen bekannt sei, und daß in diesem Ehrendiplom gedruckt sei,
-daß ihr Vater Oberst war, daß aber der Vater von Amalie Iwanowna -- wenn
-sie überhaupt einen Vater gehabt habe -- sicher ein Este aus Petersburg
-war und Milch verkauft habe; am wahrscheinlichsten aber sei, daß sie gar
-keinen Vater gehabt habe, weil es bis jetzt noch nicht festzustellen
-sei, wie der Vatername von Amalie Iwanowna laute, ob Iwanowna oder
-Ludwigowna? Da geriet Amalie Iwanowna ganz außer sich, schlug mit der
-Faust auf den Tisch, fing an zu kreischen, daß sie Amalie Iwanowna und
-nicht Ludwigowna heiße, daß der Name ihres Vaters Johann sei und daß er
-Dorfschulze gewesen war und daß der Vater von Katerina Iwanowna niemals
-Dorfschulze gewesen sei. Katerina Iwanowna erhob sich von ihrem Stuhle
-und bemerkte streng, scheinbar mit ruhiger Stimme, -- obwohl sie ganz
-bleich war und ihre Brust schwer atmete, -- daß, wenn sie noch einmal
-wagen werde, ihren dreckigen Vater mit ihrem Papa auf gleiche Stufe zu
-stellen, sie ihr die Haube von ihrem Kopfe herunterreißen und mit den
-Füßen zertreten werde. Als Amalie Iwanowna das hörte, begann sie im
-Zimmer herumzulaufen und schrie aus allen Kräften, daß sie die Wirtin
-sei und daß Katerina Iwanowna sofort das Zimmer räumen solle; dann
-raffte sie die silbernen Löffel vom Tische zusammen. Es erhob sich ein
-Lärm und Getöse; die Kinder weinten. Ssonja stürzte zu Katerina Iwanowna
-hin, um sie zurückzuhalten, als aber Amalie Iwanowna etwas von
-»Sittenkontrolle« schrie, stieß Katerina Iwanowna Ssonja von sich, eilte
-auf Amalie Iwanowna zu, um ihre Drohung bezüglich der Haube sofort wahr
-zu machen. In diesem Augenblicke öffnete sich die innere Tür und auf der
-Schwelle erschien Peter Petrowitsch Luschin. Er blieb stehen und warf
-einen strengen und aufmerksamen Blick auf die ganze Gesellschaft.
-Katerina Iwanowna stürzte zu ihm hin.
-
-
- III.
-
-»Peter Petrowitsch!« rief sie. »Schützen Sie mich! Sagen Sie dieser
-dummen Kreatur, daß sie eine gebildete Dame im Unglück nicht in dieser
-Weise behandeln dürfe, daß es ein Gericht gibt ... ich werde zu dem
-Generalgouverneur gehen ... Sie wird zur Verantwortung gezogen werden
-... Gedenken Sie der Gastfreundschaft bei meinem Vater, schützen Sie die
-Waisen!«
-
-»Erlauben Sie, meine Dame ... Erlauben Sie, erlauben Sie,« wehrte Peter
-Petrowitsch ab. »Ich hatte gar nicht die Ehre, Ihren Herrn Vater gekannt
-zu haben, wie Sie wohl wissen werden ... erlauben Sie, meine Dame!«
-Jemand lachte laut. »Und an Ihren ewigen Zänkereien mit Amalie Iwanowna
-teilzunehmen, habe ich nicht die Absicht ... Ich bin in eigener
-Angelegenheit hergekommen ... und möchte sofort mit Ihrer Stieftochter,
-Ssofja ... Iwanowna ... nicht wahr, so heißt sie ... sprechen. Erlauben
-Sie, daß ich zu ihr gehe ...«
-
-Und Peter Petrowitsch machte einen kleinen Bogen um Katerina Iwanowna
-und ging in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Ssonja befand.
-
-Katerina Iwanowna blieb auf demselben Fleck stehen, wie vom Donner
-gerührt. Sie konnte nicht begreifen, wie Peter Petrowitsch die
-Gastfreundschaft ihres Papas leugnen konnte. Nachdem sie sich einmal
-dies in den Kopf gesetzt hatte, glaubte sie auch schon selber heilig und
-fest daran. Auch der geschäftliche, trockene Ton Peter Petrowitschs ...
-in dem Verachtung, ja etwas Drohendes lag, machte sie bestürzt. Bei
-seinem Erscheinen waren alle allmählich stiller geworden. Abgesehen
-davon, daß dieser »nüchterne und ernste« Mensch von der ganzen
-Versammlung scharf abstach, merkte man, daß er aus einem wichtigen
-Anlasse hergekommen war, daß eine ungewöhnliche Ursache ihn solch eine
-Gesellschaft aufzusuchen veranlaßt hatte, und daß es jetzt wohl etwas
-geben werde. Raskolnikoff, der neben Ssonja stand, wich zur Seite, um
-Peter Petrowitsch vorbei zu lassen; Luschin schien ihn gar nicht bemerkt
-zu haben. Nach einem Augenblick erschien Lebesjätnikoff auf der
-Schwelle; er trat nicht in das Zimmer herein, sondern blieb mit einem
-besonderen Interesse dort stehen; er hörte zu, wie einer, der etwas
-nicht begreift.
-
-»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber es ist eine wichtige
-Angelegenheit,« bemerkte Peter Petrowitsch im allgemeinen, »ich freue
-mich, ein größeres Publikum zu haben. Amalie Iwanowna, ich bitte Sie
-sehr, als Wirtin dieser Wohnung, mein folgendes Gespräch mit Ssofja
-Iwanowna aufmerksam anzuhören. Ssofja Iwanowna,« fuhr er fort, sich
-direkt an die äußerst erstaunte und im voraus erschrockene Ssonja
-wendend, »von meinem Tische, in dem Zimmer meines Freundes Andrei
-Ssemenowitsch Lebesjätnikoff ist mit Ihrem Weggehen eine Reichsbanknote
-im Werte von hundert Rubel, die mir gehörte, verschwunden. Wenn Sie auf
-irgendeine Weise es wissen und uns zeigen, wo die Banknote sich jetzt
-befindet, so versichere ich Ihnen mit meinem Ehrenworte und rufe alle
-als Zeugen auf, daß die Sache damit erledigt sein wird. Im
-entgegengesetzten Falle werde ich gezwungen sein, sehr ernste Maßregeln
-zu ergreifen, und dann ... klagen Sie sich selbst an.«
-
-Ein peinliches Schweigen trat im Zimmer ein. Sogar die weinenden Kinder
-verstummten. Ssonja stand totenblaß da, sah Luschin an und konnte nichts
-antworten. Sie schien ihn immer noch nicht zu verstehen. Es vergingen
-einige Sekunden.
-
-»Nun, wie ist's?« fragte Luschin und blickte sie scharf an.
-
-»Ich weiß nicht ... Ich weiß nichts ...« sagte endlich Ssonja mit
-schwacher Stimme.
-
-»Nicht? Sie wissen nichts?« fragte Luschin sie noch einmal und schwieg
-wieder. »Denken Sie nach, Mademoiselle,« begann er dann streng, aber als
-rede er ihr immer noch im Guten zu, ȟberlegen Sie es sich, ich bin
-bereit, Ihnen noch einige Zeit zum Überlegen zu geben. Sehen Sie, --
-wenn ich nicht so fest überzeugt wäre, so hätte ich selbstverständlich
-bei meiner Erfahrenheit nicht riskiert, Sie in dieser direkten Weise zu
-beschuldigen; denn für eine solche öffentliche und direkte, aber falsche
-oder nur auch irrtümliche Beschuldigung kann ich selbst zur
-Verantwortung gezogen werden. Ich weiß es. Heute Morgen wechselte ich,
-zu meinen eigenen Zwecken, einige fünfprozentige Staatspapiere in der
-nominellen Summe von dreitausend Rubel. Die Berechnung ist in meinem
-Notizbuche eingetragen. Nach Hause gekommen, begann ich, -- mein Zeuge
-ist Andrei Ssemenowitsch, -- das Geld zu zählen, und nachdem ich
-zweitausend und dreihundert Rubel aufgezählt hatte, steckte ich sie in
-meine Brieftasche und die Brieftasche in die Seitentasche meines Rockes.
-Auf dem Tische blieben fünfhundert Rubel in Banknoten liegen und unter
-ihnen drei Noten zu je hundert Rubel. In diesem Augenblick kamen Sie --
-auf meine Bitte hin -- und die ganze Zeit waren Sie äußerst verlegen, so
-daß Sie dreimal mitten im Gespräch aufstanden und sich aus irgendeinem
-Grunde beeilten, fortzugehen, obgleich unsere Unterredung noch nicht
-beendet war. Andrei Ssemenowitsch kann dies alles bestätigen.
-Wahrscheinlich werden Sie selbst, Mademoiselle, nicht ablehnen,
-zuzugeben, daß ich Sie durch Andrei Ssemenowitsch nur aus dem einzigen
-Grunde rufen ließ, um mit Ihnen über die schlimme und hilflose Lage
-Ihrer Verwandten Katerina Iwanowna, zu der ich zum Gedächtnismahl nicht
-kommen konnte, zu sprechen und Ihnen vorzuschlagen, wie es von Nutzen
-wäre, zu ihren Gunsten irgend etwas, wie eine Sammlung, eine Verlosung
-oder ähnliches, zu veranstalten. Sie haben mir gedankt und sogar Tränen
-vergossen -- ich erzähle alles, wie es war, um Sie erstens an alles zu
-erinnern, und zweitens, um Ihnen zu zeigen, daß meinem Gedächtnisse
-nicht das Geringste entschwunden ist. Darauf nahm ich vom Tische einen
-Zehnrubelschein und überreichte ihn Ihnen, als vorläufige Unterstützung
-für Ihre Verwandten. Das alles hat Andrei Ssemenowitsch gesehen. Dann
-begleitete ich Sie zur Türe, -- Sie waren immer noch sehr verlegen. Ich
-blieb mit Andrei Ssemenowitsch allein, unterhielt mich mit ihm etwa zehn
-Minuten, und Andrei Ssemenowitsch ging bald hinaus. Ich wandte mich von
-neuem zu dem Tische, wo das Geld lag, mit der Absicht, es nachzuzählen
-und es, wie ich vorher schon beschlossen hatte, gesondert aufzuheben. Zu
-meiner Verwunderung fehlte von den übrigen eine Banknote von hundert
-Rubel. Bitte, überlegen Sie es sich, -- Andrei Ssemenowitsch kann ich in
-keinem Falle in Verdacht haben, ich würde mich selbst bei diesem
-Gedanken schämen. Bei der Berechnung konnte ich mich auch nicht irren,
-denn eine Minute vor Ihrem Kommen hatte ich alles nachgezählt und die
-Summe richtig gefunden. Sie müssen selbst zugeben, daß, wenn ich Ihrer
-Verlegenheit, Ihrer Eile wegzugehen und des Umstandes denke, daß Sie die
-Hände eine Weile auf dem Tische hatten, und wenn ich schließlich Ihre
-gesellschaftliche Lage und die mit ihr verknüpften Gewohnheiten in
-Betracht zog, ich sozusagen zu meinem Entsetzen und gegen meinen Willen
-_gezwungen_ war, bei diesem Verdachte stehen zu bleiben, -- der sicher
-grausam, aber -- gerechtfertigt ist! Ich füge hinzu und wiederhole, --
-daß trotz meiner ganzen _klaren_ Überzeugung ich vollkommen verstehe,
-daß dennoch in meiner jetzigen Beschuldigung ein gewisses Risiko für
-mich liegt. Aber, ich habe es nicht unterlassen; ich bin gegen Sie
-aufgetreten und will Ihnen auch sagen warum, -- einzig und allein, meine
-Dame, auf Grund Ihres schwärzesten Undankes! Wie? Ich fordere Sie aus
-Interesse für Ihre ärmste Verwandte auf, ich überlasse Ihnen eine meinen
-Kräften entsprechende Gabe von zehn Rubel, und Sie danken mir gleich
-darauf, auf der Stelle, für alles mit dieser Handlung! Nein, das ist
-nicht mehr schön! Eine Lehre ist notwendig! Denken Sie nach; noch mehr,
-ich bitte Sie, als Ihr aufrichtiger Freund, -- denn einen besseren
-Freund können Sie in diesem Augenblicke nicht haben, -- besinnen Sie
-sich! Sonst werde ich unbarmherzig sein! Nun, also!«
-
-»Ich habe nichts von Ihnen genommen,« -- flüsterte Ssonja entsetzt, --
-»Sie gaben mir zehn Rubel, bitte, nehmen Sie sie wieder, hier.«
-
-Ssonja zog ihr Taschentuch aus der Tasche hervor, suchte den Knoten,
-löste ihn, nahm einen Zehnrubelschein heraus und streckte ihn Luschin
-entgegen.
-
-»Und die übrigen hundert Rubel wollen Sie nicht gestehen?« -- sagte er
-vorwurfsvoll und eindringlich, ohne den Schein zu nehmen.
-
-Ssonja blickte ringsum. Alle schauten sie mit schrecklichen, strengen,
-spöttischen und haßerfüllten Gesichtern an. Sie blickte Raskolnikoff an
-... er stand mit gekreuzten Armen an der Wand und sah sie mit einem
-brennenden Blick an.
-
-»Oh, Gott!« -- entrang es Ssonja.
-
-»Amalie Iwanowna, man muß die Polizei benachrichtigen, und darum bitte
-ich Sie sehr, vorläufig nach dem Hausknecht zu schicken,« -- sagte
-Luschin leise und freundlich.
-
-»Gott der Barmherzige! Ich wußte, daß sie es gestohlen hat!« -- schlug
-Amalie Iwanowna die Hände zusammen.
-
-»Sie wußten es?« -- fiel Luschin ein, -- »also hatten Sie auch früher
-wenigstens gewisse Gründe, solches zu glauben. Ich bitte Sie,
-verehrteste Amalie Iwanowna, sich an Ihre Worte zu erinnern, die
-übrigens in Gegenwart von Zeugen ausgesprochen sind.«
-
-Von allen Seiten erhob sich plötzlich lautes Reden. Alle rührten sich.
-
-»Wie -- wie!« -- rief plötzlich Katerina Iwanowna, zu sich gekommen, und
-stürzte zu Luschin, -- »wie! Sie beschuldigen sie des Diebstahls?
-Ssonja? Ach, ihr Schufte, ihr Schufte!«
-
-Und sie eilte zu Ssonja und umarmte sie fest mit ihren hageren Armen.
-
-»Ssonja! Wie durftest du von ihm zehn Rubel nehmen! Oh, du Dumme! Gib
-sie her! Gib mir sofort diese zehn Rubel -- da haben Sie sie!«
-
-Katerina Iwanowna entriß Ssonja das Papier, zerknüllte es und warf es
-direkt Luschin ins Gesicht. Der Papierknäuel traf ihn ins Auge und fiel
-auf die Diele nieder. Amalie Iwanowna beeilte sich, das Geld aufzuheben.
-Peter Petrowitsch wurde böse.
-
-»Halten Sie diese Verrückte!« -- rief er.
-
-In diesem Augenblicke erschienen in der Türe neben Lebesjätnikoff noch
-einige Gesichter, zwischen denen auch die der beiden zugereisten Damen
-hervorguckten.
-
-»Wie! Verrückt? Ich soll verrückt sein? Dummkopf!« -- schrie Katerina
-Iwanowna. -- »Du bist selbst ein Dummkopf, du Rechtsverdreher,
-niederträchtiger Mensch! Ssonja, Ssonja soll von ihm Geld genommen
-haben! Ssonja soll eine Diebin sein! Sie wird dir noch Geld geben,
-Dummkopf!« -- Und Katerina Iwanowna lachte hysterisch. -- »Habt ihr
-schon so einen dummen Kerl gesehen?« -- wandte sie sich nach allen
-Seiten und zeigte auf Luschin. -- »Wie! Auch du!« -- sie erblickte die
-Wirtin, -- »auch du, Wurstmacherin, bestätigst, daß sie gestohlen hat,
-du gemeines preußisches Hühnerbein in Krinoline! Ach, ihr! Ach, ihr! Ja,
-sie hat das Zimmer nicht verlassen, und als sie von dir, Schuft,
-zurückkam, hatte sie sich hier neben Rodion Romanowitsch hingesetzt! ...
-Untersucht sie doch! Wenn sie nirgendwo hingegangen war, muß doch das
-Geld bei ihr sein! Suche, suche, suche doch! Wenn du aber nichts
-findest, dann, lieber Freund, wirst du bestraft! Zu Seiner Majestät, zu
-Seiner Majestät, zum Zaren selbst laufe ich hin, werfe mich dem
-Barmherzigen zu Füßen, sofort, heute noch! Ich bin verwaist! Man wird
-mich zulassen! Du denkst, man wird mich nicht zu ihm lassen? Du lügst,
-ich komme hin! Ich komme zu ihm hin! Du hast darauf gerechnet, daß sie
-schüchtern ist? Du hast darauf gehofft? Ich aber, Bruder, bin dafür
-kühn! Du wirst dein Spiel verlieren! Suche doch! Suche, suche, nun suche
-doch!«
-
-Und Katerina Iwanowna zerrte Luschin in Wut zu Ssonja.
-
-»Ich bin bereit und trage die Verantwortung ... aber nehmen Sie sich
-zusammen, meine Dame, nehmen Sie sich zusammen. Ich sehe zu gut, daß Sie
-kühn sind! ... Das ... das ... das geht nicht an!« -- murmelte Luschin,
--- »das muß in Gegenwart der Polizei ... obwohl, übrigens, auch jetzt
-genügend Zeugen vorhanden sind ... Ich bin bereit ... Aber in jedem
-Falle ist es für einen Mann peinlich ... des Geschlechtes wegen ... Wenn
-Amalie Iwanowna helfen würde ... obwohl, übrigens, die Sache nicht so
-gehandhabt wird ... Das geht nicht an!«
-
-»Wenn Sie wünschen! Mag wer da will sie untersuchen!« -- schrie Katerina
-Iwanowna. -- »Ssonja, wende deine Taschen um! Da! da! Sieh, Scheusal,
-diese Tasche ist leer, hier lag das Taschentuch, die Tasche ist leer,
-siehst du! Da ist die andere Tasche, da, da! Siehst du! Siehst du!«
-
-Und Katerina Iwanowna wandte, nein besser gesagt, riß die beiden
-Taschen, eine nach der anderen mit dem Futter hervor. Aber aus der
-zweiten, rechten Tasche sprang plötzlich ein Stück Papier hervor,
-beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel zu den Füßen Luschins hin.
-Alle hatten es gesehen, manche schrien. Peter Petrowitsch bückte sich,
-hob das Stück Papier mit zwei Fingern von der Diele auf, hielt es so,
-daß alle sehen konnten und faltete es auseinander. Es war ein
-Hundertrubelschein, dreimal zusammengefaltet. Peter Petrowitsch
-umschrieb mit seiner Hand einen Bogen und zeigte allen den Schein.
-
-»Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!« -- heulte Amalie
-Iwanowna, -- »Sie müssen nach Sibirien! Hinaus!«
-
-Von allen Seiten ertönten Ausrufe. Raskolnikoff schwieg, ohne die Augen
-von Ssonja abzuwenden, nur selten und schnell blickte er Luschin an.
-Ssonja stand auf derselben Stelle, wie bewußtlos, -- sie schien nicht
-einmal verwundert zu sein. Plötzlich aber überzog eine Röte ihr ganzes
-Gesicht; sie schrie auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
-
-»Nein, ich war es nicht! Ich habe nichts genommen! Ich weiß von nichts!«
--- rief sie mit einem herzzerreißenden Schrei und stürzte zu Katerina
-Iwanowna.
-
-Jene umfaßte sie und preßte sie fest an sich, als wolle sie mit eigener
-Brust sie vor allen schützen.
-
-»Ssonja! Ssonja! Ich glaube es nicht! Siehst du, ich glaube es nicht!«
--- rief Katerina Iwanowna, trotz des Augenscheins, und schüttelte sie in
-ihren Armen, wie ein Kind, küßte sie unzählige Male, erfaßte ihre Hände
-und küßte sie inbrünstig. -- »Du sollst es genommen haben? Ja, wie dumm
-die Menschen sind! Oh, Gott! Ihr dummen, dummen Leute!« -- rief sie,
-sich an alle wendend, -- »ja, ihr wißt noch gar nicht, ihr wißt nicht,
-was das für ein Herz, was das für ein Mädchen ist! Sie soll es genommen
-haben, sie! Ja, sie wird barfüßig gehen, sie wird ihr letztes Kleid
-ausziehen und es verkaufen, und euch es abgeben, wenn ihr es braucht, --
-so ist sie! Sie hat den gelben Schein genommen, weil meine, meine Kinder
-vor Hunger umkamen, sie hat sich unseretwegen verkauft! ... Ach, der
-Verstorbene, der Verstorbene! Siehst du? Siehst du? Da hast du deine
-Gedächtnisfeier! Oh, Gott! Ja, schützt sie doch, was steht ihr alle!
-Rodion Romanowitsch! Warum treten Sie nicht für sie ein? Glauben Sie
-auch etwa daran? Ihr seid ihres kleinen Fingers nicht wert, ihr alle,
-alle, alle! Oh, Gott! Schütze du sie doch endlich!«
-
-Das Weinen der armen, schwindsüchtigen, verlassenen Katerina Iwanowna
-schien einen starken Eindruck auf alle Anwesenden gemacht zu haben. Es
-war so viel Klägliches, so viel Leidendes in diesem vor Schmerz
-verzogenen, eingetrockneten, schwindsüchtigen Gesichte, in diesen
-geborstenen, blutbedeckten Lippen, in dieser heiser schreienden Stimme,
-in diesem Schluchzen und Weinen, das dem Weinen von Kindern glich, in
-diesem vertrauensvollen, kindlichen und gleichzeitig verzweifelten
-Flehen um Schutz, daß alle die Unglückliche zu bedauern schienen. Sogar
-Peter Petrowitsch schien es sofort leid zu tun.
-
-»Meine Dame! Meine Dame!« -- rief er mit eindringlicher Stimme, -- »Sie
-berührt diese Tatsache nicht! Niemand wird es wagen, Sie der Absicht
-oder der Teilnahme zu beschuldigen, um so mehr, als Sie es selbst
-entdeckt haben, indem Sie die Tasche umwandten, -- Sie haben dies nicht
-vorausgesehen. Ich bin bereit, es sehr, sehr zu bedauern, sollte die
-äußerste Armut Ssofja Ssemenowna dazu bewogen haben, aber warum wollten
-Sie, Mademoiselle, es nicht eingestehen? Fürchten Sie die Schande? Der
-erste Schritt? Sie sind wahrscheinlich bestürzt? Es ist begreiflich,
-sehr begreiflich ... Aber warum läßt man sich auf solche Sachen ein!
-Meine Herrschaften!« wandte er sich an alle Anwesenden, -- »meine
-Herrschaften! Weil ich Bedauern und Mitleid habe, bin ich bereit, es
-sogar jetzt, trotz der empfangenen persönlichen Beleidigungen, zu
-verzeihen. Möge Ihnen, Mademoiselle, die jetzige Schande als eine Lehre
-für die Zukunft dienen,« -- wandte er sich an Ssonja, -- »ich aber
-unterlasse alle weiteren Schritte und erledige hiermit die Sache.
-Genug!«
-
-Peter Petrowitsch blickte Raskolnikoff von der Seite an. Ihre Blicke
-trafen sich. Der flammende Blick Raskolnikoffs wollte ihn zu Asche
-verbrennen. Katerina Iwanowna schien nichts mehr gehört zu haben, sie
-umarmte und küßte Ssonja wie wahnsinnig. Auch die Kinder hatten Ssonja
-von allen Seiten mit ihren Händchen umfaßt und Poletschka, die nicht
-ganz verstand, was vor sich ging, schien vollkommen in Tränen zu
-ertrinken, sie krümmte sich vor lauter Schluchzen und verbarg ihr
-hübsches, von Tränen geschwollenes Gesichtchen an Ssonjas Schulter.
-
-»Ist das gemein!« -- ertönte plötzlich eine laute Stimme in der Türe.
-
-Peter Petrowitsch blickte sich schnell um.
-
-»Welch eine Gemeinheit!« -- wiederholte Lebesjätnikoff und blickte ihm
-unverwandt in die Augen. Peter Petrowitsch zuckte zusammen. Alle hatten
-es bemerkt. Nachher erinnerten sie sich dessen. Lebesjätnikoff trat in
-das Zimmer.
-
-»Und Sie haben es gewagt, mich als Zeugen anzurufen?« -- sagte er und
-trat an Peter Petrowitsch heran.
-
-»Was bedeutet das, Andrei Ssemenowitsch? Worüber sprechen Sie?« --
-murmelte Luschin.
-
-»Das bedeutet, daß Sie ... ein Verleumder sind, das bedeuten meine
-Worte!« -- sagte Lebesjätnikoff eifrig und blickte ihn streng mit seinen
-kurzsichtigen, kleinen Augen an.
-
-Er war furchtbar böse. Raskolnikoff starrte ihn an, als fange er jedes
-Wort auf. Wieder trat ein Schweigen ein. Peter Petrowitsch war bestürzt,
-besonders im ersten Momente.
-
-»Wenn Sie mir ...« -- begann er stotternd, -- »ja, was ist mit Ihnen?
-Sind Sie bei Verstand?«
-
-»Ich bin bei Verstand, Sie aber sind ... ein Gauner! Ach, wie ist das
-gemein! Ich hörte die ganze Zeit zu, ich wartete immer absichtlich, um
-alles zu verstehen, denn offen gestanden, alles ist mir bis jetzt noch
-nicht ganz klar ... Aber warum haben Sie dies alles getan -- ich
-verstehe es nicht!«
-
-»Ja, was habe ich denn getan? Hören Sie doch auf, in Ihren unsinnigen
-Rätseln zu sprechen! Oder haben Sie vielleicht zu viel getrunken?«
-
-»Sie gemeiner Mensch, Sie trinken vielleicht, ich nicht. Ich trinke
-nicht mal Schnaps, weil es gegen meine Überzeugungen ist. Denken Sie
-sich, _er selbst_ hat mit eigenen Händen diesen Hundertrubelschein
-Ssofja Ssemenowna gegeben, -- ich habe es gesehen, war Zeuge, ich kann
-es beschwören! Er, er hat es getan!« -- wiederholte Lebesjätnikoff, sich
-an alle und jeden einzelnen wendend.
-
-»Sind Sie verrückt geworden oder nicht, Sie Milchbart?« -- kreischte
-Luschin, -- »sie hat doch selbst in Ihrer Gegenwart ... sie hat doch
-selbst soeben in Gegenwart aller bestätigt, -- daß sie außer den zehn
-Rubel nichts von mir erhalten hat. Wie konnte ich es denn ihr
-überreichen?«
-
-»Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!« -- rief Lebesjätnikoff, --
-»und obwohl es gegen meine Überzeugungen ist, bin ich doch bereit,
-gleich vor Gericht jeden beliebigen Eid zu leisten, denn ich habe es
-gesehen, wie er ihn ihr heimlich zusteckte! Ich Dummkopf aber dachte,
-daß Sie es ihr aus gutem Herzen zusteckten! Während Sie sich von ihr an
-der Türe verabschiedeten, als sie sich umwandte und Sie ihr die eine
-Hand reichten, steckten Sie mit der anderen, mit der linken Hand ihr
-heimlich das Papier in die Tasche hinein. Ich habe es gesehen! Ich habe
-es gesehen!«
-
-Luschin erbleichte.
-
-»Was lügen Sie da vor!« -- rief er ihm frech zu, -- »ja, und wie konnten
-Sie vom Fenster aus das Papier bemerken! Sie haben es geträumt ... Sie,
-mit Ihren kurzsichtigen Augen. Sie phantasieren!«
-
-»Nein, ich habe es nicht geträumt! Und obwohl ich weit stand, habe ich
-alles, alles gesehen, und obgleich man vom Fenster aus tatsächlich
-schwer ein Stück Papier unterscheiden kann, -- hier sagen Sie die
-Wahrheit, -- wußte ich doch bestimmt, daß es ein Hundertrubelschein war,
-denn als Sie Ssofja Ssemenowna den Zehnrubelschein gaben, -- ich habe es
-selbst gesehen, -- nahmen Sie gleichzeitig vom Tische einen
-Hundertrubelschein. Ich habe es gesehen, weil ich in diesem Augenblicke
-in der Nähe war und weil mir sofort dabei ein Gedanke durch den Sinn
-fuhr, weiß ich genau, daß Sie diesen Schein in der Hand hielten. Sie
-haben ihn zusammengefaltet und hielten ihn die ganze Zeit in der Faust.
-Ich vergaß es später, als Sie aber aufstanden, legten Sie den Schein aus
-der rechten in die linke Hand und ließen ihn beinahe fallen; da besann
-ich mich darauf, weil mir wieder derselbe Gedanke durch den Sinn fuhr,
-und zwar, daß Sie heimlich ihr eine Wohltat erweisen wollen. Sie können
-sich vorstellen, wie ich nun beobachtete, -- und da sah ich auch, wie es
-Ihnen glückte, ihn in ihre Tasche zu stecken. Ich habe es gesehen, habe
-es gesehen und werde schwören!« Lebesjätnikoff geriet fast außer Atem.
-Von allen Seiten ertönten allerhand Ausrufe, die meistens Erstaunen
-bedeuteten, aber in manchen brach auch ein drohender Ton durch. Alle
-drängten sich um Peter Petrowitsch. Katerina Iwanowna stürzte zu
-Lebesjätnikoff hin.
-
-»Andrei Ssemenowitsch! Ich habe mich in Ihnen geirrt! Schützen Sie sie!
-Sie allein treten für sie ein! Sie ist eine Waise, Gott hat Sie gesandt!
-Andrei Ssemenowitsch, mein Lieber, Väterchen!«
-
-Und Katerina Iwanowna, fast ganz außer sich, warf sich vor ihm auf die
-Knie hin.
-
-»Blödes Zeug!« -- brüllte Luschin, rasend vor Wut, -- »Sie reden blödes
-Zeug, mein Herr ... >Ich vergaß es, besann mich, vergaß< -- was soll das
-heißen! Also, ich soll ihr den Schein absichtlich zugesteckt haben?
-Wozu? Zu welchem Zwecke? Was habe ich gemein mit dieser ...«
-
-»Wozu? Das ist es ja, was ich selbst nicht begreife, das aber ist
-sicher, daß ich die Wahrheit erzähle! Ich irre mich nicht, Sie
-niederträchtiger Mensch, Sie Verbrecher; ich entsinne mich, daß mir
-sofort damals die Frage in den Sinn kam, und zwar, als ich Ihnen dankte
-und Ihnen die Hand drückte. Warum haben Sie es ihr heimlich in die
-Tasche gesteckt? Das heißt warum heimlich? Vielleicht bloß aus dem
-Grunde, weil Sie es vor mir verbergen wollten, da Sie wissen, daß ich
-entgegengesetzter Ansicht bin und die Privatwohltätigkeit, als nicht
-radikal heilend, verneine? Nun, und ich kam zu der Überzeugung, daß Sie
-sich in der Tat vor mir schämen, solch einen Haufen Geld fortzugeben,
-und außerdem meinte ich, daß Sie ihr vielleicht eine Überraschung
-bereiten und sie in Staunen setzen wollten, wenn sie in ihrer Tasche
-volle hundert Rubel finden wird. Denn manche Wohltäter lieben es sehr,
-ihre Wohltaten so anzubringen, -- das weiß ich. Ich dachte auch, daß Sie
-sie auf die Probe stellen wollen, das heißt, ob sie, wenn sie es
-gefunden hat, kommen würde, um sich zu bedanken! Ich hatte auch den
-Gedanken, daß Sie jeden Dank vermeiden möchten, damit ... nun, wie man
-es sagt ... damit die rechte Hand nicht wüßte ... kurz, wie man es sagt
-... Nun, mir kamen so viele Gedanken in den Sinn, daß ich beschloß, mir
-alles nachher genauer zu überlegen, ich hielt es auch für unzart, Ihnen
-zu zeigen, daß ich Ihr Geheimnis kenne. Mir kam aber der Gedanke, daß
-Ssofja Ssemenowna möglicherweise das Geld verlieren könnte, ehe sie es
-selbst bemerkt hat. Darum beschloß ich, hierher zu kommen, sie
-herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß man ihr einen Hundertrubelschein
-in ihre Tasche gesteckt hat. Auf dem Wege hierher ging ich zuerst in das
-Zimmer der Damen Kobyljätnikoff hinein, um ihnen die >allgemeinen
-Ergebnisse der positiven Methode< zu überbringen und ihnen besonders den
-Artikel von Piderit -- übrigens auch von Wagner -- zu empfehlen. Ich kam
-dann hierher, und hier ist diese schlimme Geschichte passiert. Sagen
-Sie, konnte ich, konnte ich alle diese Gedanken und Erwägungen gehabt
-haben, wenn ich tatsächlich nicht gesehen hätte, daß Sie ihr hundert
-Rubel in die Tasche gesteckt haben?«
-
-Als Andrei Ssemenowitsch seine langatmige Rede mit so einem logischen
-Abschluß beendet hatte, war er furchtbar ermüdet, und von seinem
-Gesichte rann der Schweiß. Er konnte nicht einmal ordentlich russisch
-sprechen, -- ohne jedoch eine andere Sprache zu kennen, -- so daß er mit
-einem Male vollkommen erschöpft und nach seiner Advokatentat ganz bleich
-war. Trotzdem hatte seine Rede eine außerordentliche Wirkung. Er hatte
-mit solch einer Heftigkeit und solch einer Überzeugung gesprochen, daß
-ihm alle offensichtlich glaubten. Peter Petrowitsch fühlte, daß seine
-Sache schlecht stehe.
-
-»Was geht es mich an, daß Ihnen allerhand dumme Fragen in den Kopf
-gekommen sind,« -- rief er aus. -- »Das ist kein Beweis! Sie konnten
-dies alles im Schlafe geträumt haben, das ist das ganze! Und ich sage
-Ihnen, daß Sie lügen, mein Herr! Sie lügen und verleumden mich aus Wut,
-und zwar aus Ärger, weil ich nicht bereit war, auf Ihre freigeistigen
-und gottlosen sozialen Ideen einzugehen, das ist es!«
-
-Aber diese Ausrede nützte Peter Petrowitsch nicht. Im Gegenteil, von
-allen Seiten vernahm man mißbilligendes Gemurmel.
-
-»Ah, damit kommst du!« -- rief Lebesjätnikoff. -- »Du lügst! Laß die
-Polizei holen, ich werde schwören! Eins kann ich bloß nicht begreifen,
--- warum hat er so eine gemeine Handlung riskiert! Oh, gemeiner,
-niederträchtiger Mensch!«
-
-»Ich kann es erklären, warum er diese Handlung riskiert hat, und wenn es
-nötig ist, werde auch ich einen Eid ablegen!« -- sagte endlich
-Raskolnikoff mit fester Stimme und trat hervor.
-
-Er schien fest und ruhig. Allen wurde es klar bei seinem Anblicke, daß
-er tatsächlich wußte, um was es sich handle, und daß es zu einer Lösung
-gekommen war.
-
-»Jetzt ist mir alles vollkommen klar,« -- fuhr Raskolnikoff fort und
-wandte sich an Lebesjätnikoff. -- »Gleich am Anfange der Geschichte
-hatte ich den Verdacht, daß irgendein gemeiner Kniff dahinter stecke;
-ich schöpfte ihn infolge gewisser besonderer Umstände, die nur mir
-allein bekannt sind, und die ich sogleich allen erklären will, -- um sie
-dreht sich auch die ganze Sache. Sie, Andrei Ssemenowitsch, haben durch
-Ihr wertvolles Zeugnis mir alles endgültig erklärt. Ich bitte alle, alle
-zuzuhören. Dieser Herr,« -- er zeigte auf Luschin, -- »freite vor kurzem
-um ein junges Mädchen, und zwar um meine Schwester, Awdotja Romanowna
-Raskolnikowa. Nach seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich vorgestern
-bei unserem ersten Zusammentreffen mit mir überworfen, und ich habe ihn
-hinausgejagt, ich habe zwei Zeugen dafür. Dieser Mensch ist sehr boshaft
-... Vorgestern wußte ich noch gar nicht, daß er hier bei Ihnen, Andrei
-Ssemenowitsch, lebt, und daß er an demselben Tage, wo wir uns überworfen
-hatten, das heißt vorgestern, Zeuge war, wie ich, als Freund des
-verstorbenen Herrn Marmeladoff, seiner Gattin Katerina Iwanowna etwas
-Geld zur Beerdigung übergab. Er schrieb sofort an meine Mutter einen
-Brief und teilte ihr mit, daß ich das Geld nicht Katerina Iwanowna,
-sondern Ssofja Ssemenowna abgegeben hätte, wobei er in den
-niederträchtigsten Ausdrücken über ... über den Charakter Ssofja
-Ssemenownas sich äußerte, das heißt über die Art meiner Beziehungen zu
-Ssofja Ssemenowna. Dies alles tat er, wie Sie verstehen, in der Absicht,
-mich mit meiner Mutter und Schwester zu entzweien, indem er ihnen
-glaubhaft zu machen suchte, daß ich zu unanständigen Zwecken ihr letztes
-Geld, mit dem sie mich unterstützten, verprasse. Gestern abend stellte
-ich, in Gegenwart meiner Mutter und Schwester und in seiner Anwesenheit,
-die Wahrheit fest, ich bewies, daß ich das Geld Katerina Iwanowna zur
-Beerdigung und nicht Ssofja Ssemenowna überreicht habe, und daß ich
-vorgestern mit Ssofja Ssemenowna noch nicht bekannt war und sie sogar
-zum erstenmal gesehen habe. Dabei fügte ich hinzu, daß er, Peter
-Petrowitsch Luschin, mit allen seinen Vorzügen nicht mal des kleinen
-Fingers von Ssofja Ssemenowna, über die er sich so schlecht geäußert
-habe, wert sei. Auf seine Frage, ob ich Ssofja Ssemenowna neben meine
-Schwester hinsetzen würde, -- antwortete ich, daß ich es bereits am
-selben Tage getan hätte. Da er darüber böse wurde, daß meine Mutter und
-Schwester auf seine Verleumdungen hin sich mit mir nicht überwerfen
-wollten, begann er ihnen unverzeihliche Frechheiten zu sagen. Es kam zu
-einem endgültigen Bruche und man jagte ihn aus dem Hause. Dies alles war
-gestern abend vorgefallen. Ich bitte Sie jetzt um besondere
-Aufmerksamkeit, -- stellen Sie sich vor, wäre es ihm jetzt gelungen,
-Ssofja Ssemenowna des Diebstahls zu überführen, so hätte er doch damit
-meiner Schwester und Mutter bewiesen, erstens, daß er recht hatte mit
-seinen Verdächtigungen; zweitens, daß er mit vollkommenem Rechte darüber
-böse wurde, weil ich meine Schwester und Ssofja Ssemenowna auf gleiche
-Stufe gestellt habe, und drittens, daß er mit seinem Angriffe auf mich
-die Ehre meiner Schwester und seiner Braut verteidigte und in Schutz
-nahm. Mit einem Worte, er konnte mich durch dieses alles mit meinen
-Verwandten entzweien, und hoffte sicher, dadurch wieder bei ihnen zu
-Gnaden zu kommen. Ich rede schon gar nicht davon, daß er zugleich an mir
-persönlich Rache nahm, weil er Gründe hat anzunehmen, daß die Ehre und
-das Glück Ssofja Ssemenownas mir teuer sind. Das war seine ganze
-Berechnung! In dieser Weise fasse ich die Sache auf. Das ist der ganze
-Grund, und einen anderen kann es nicht geben!«
-
-So etwa schloß Raskolnikoff seine Rede, oft durch Ausrufe der Anwesenden
-unterbrochen, die sehr aufmerksam zuhörten. Aber trotz der
-Unterbrechungen sprach er scharf, ruhig, genau, klar und entschlossen.
-Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein strenges Gesicht
-machten auf alle einen ungewöhnlichen Eindruck.
-
-»Ja, so wird es gewesen sein, ja, so ist es!« -- pflichtete
-Lebesjätnikoff entzückt bei. -- »Es muß richtig sein, denn er hat mich
-gerade gefragt, als Ssofja Ssemenowna zu uns ins Zimmer eintrat, -- ob
-Sie hier wären? Ob ich Sie unter den Gästen von Katerina Iwanowna nicht
-gesehen hätte? Er rief mich aus diesem Grunde zum Fenster und fragte
-mich dort leise. Also war es für ihn von Wichtigkeit, daß Sie da sind!
-Das ist richtig, das stimmt!«
-
-Luschin schwieg und lächelte verächtlich. Er war aber sehr blaß
-geworden. Es schien, als überlege er sich, wie er sich aus der Affäre
-ziehen könne. Er hätte vielleicht gern alles mit Vergnügen im Stiche
-gelassen und wäre fortgegangen, aber es war unmöglich; es wäre
-gleichbedeutend gewesen mit einer Anerkennung der Wahrheit der
-angeführten Beschuldigung, daß er Ssofja Ssemenowna verleumdet hatte.
-Die Anwesenden waren zudem etwas angetrunken und zu erregt. Der
-Proviantmeister, der zwar nicht alles verstanden hatte, schrie am
-meisten und schlug einige für Luschin ziemlich peinliche Maßregeln vor.
-Es waren aber auch nicht Angetrunkene darunter; aus allen Zimmern hatten
-sich Menschen eingefunden. Die drei Polen waren furchtbar aufgebracht
-und riefen in einem fort »Pane Strolch!« ihm zu, wobei sie noch einige
-Drohungen in polnischer Sprache murmelten. Ssonja hörte mit Anstrengung
-zu, aber sie schien nicht alles zu begreifen, es war, als erwache sie
-aus einer Ohnmacht. Sie wendete ihre Augen nicht von Raskolnikoff ab,
-sie fühlte, daß er ihr einziger Schutz war. Katerina Iwanowna atmete
-schwer und heiser und schien schrecklich erschöpft zu sein. Am
-allerdümmsten stand Amalie Iwanowna da mit offenem Munde und begriff gar
-nichts. Sie begriff bloß, daß Peter Petrowitsch irgendwie ertappt sei.
-Raskolnikoff bat wieder ums Wort, aber man ließ ihn nicht zu Ende reden,
--- alle schrien und drängten sich mit Geschimpfe und Drohungen um
-Luschin. Ihm aber wurde nicht bange. Als er sah, daß die Sache mit der
-Beschuldigung Ssonjas vollständig verspielt sei, ergriff er seine
-Zuflucht zur Dreistigkeit.
-
-»Erlauben Sie, meine Herrschaften, erlauben Sie, drängen Sie nicht so,
-lassen Sie mich durchgehen!« -- sagte er und zwängte sich durch die
-Menge hindurch, -- »und tun Sie mir den Gefallen und drohen Sie nicht.
-Ich versichere Sie, daß daraus nichts wird, daß Sie nichts tun werden,
-ich bin nicht von den Ängstlichen, im Gegenteil, meine Herrschaften, Sie
-werden noch zur Verantwortung gezogen dafür, daß Sie durch Gewalt eine
-Kriminalsache vertuscht haben. Die Diebin ist mehr als überführt, und
-ich werde sie gerichtlich belangen. Im Gerichte ist man nicht so blind
-und ... nicht betrunken, und wird nicht gleich zwei abgefeimten
-Gottesleugnern, Aufrührern und Freigeistern glauben, die mich aus
-persönlicher Rache beschuldigen, was sie selbst in ihrer Dummheit
-zugeben ... Erlauben Sie!«
-
-»Scheren Sie sich aus meinem Zimmer, ziehen Sie sofort aus. Zwischen uns
-ist alles aus! Und wenn ich denke, wie ich mich angestrengt und bemüht
-habe, ihm alles erklärt habe ... volle zwei Wochen ...«
-
-»Ich habe Ihnen, Andrei Ssemenowitsch, doch vorhin selbst gesagt, daß
-ich ausziehe, als Sie mich noch baten zu bleiben. Jetzt will ich bloß
-hinzufügen, daß Sie ein dummer Kerl sind. Ich wünsche Ihnen Ihren
-Verstand und Ihre halbblinden Augen zu kurieren. Erlauben Sie, meine
-Herrschaften!«
-
-Er drängte sich durch, aber der Proviantmeister wollte ihn nicht so
-leichten Kaufes, bloß mit Schimpfwörtern, herauslassen, -- er ergriff
-vom Tische ein Glas, holte aus und schleuderte es gegen Peter
-Petrowitsch, doch das Glas traf Amalie Iwanowna. Sie kreischte auf, der
-Proviantmeister verlor das Gleichgewicht und fiel schwer unter den
-Tisch. Peter Petrowitsch ging in sein Zimmer, und nach einer halben
-Stunde hatte er das Haus verlassen. Ssonja, schüchtern von Natur, wußte
-es längst, daß man sie leichter als jeden anderen zugrunde richten
-konnte, und daß jeder sie fast straflos beleidigen durfte. Trotzdem aber
-glaubte sie bis zu diesem Augenblick, daß man einem Unglück irgendwie,
-durch Vorsicht, Sanftmut, Nachgiebigkeit allen und jedem einzelnen
-gegenüber entgehen konnte. Ihre Enttäuschung war zu schwer. Sie konnte
-gewiß mit Geduld und ohne zu murren alles, -- auch dies letzte ertragen.
-Aber im ersten Augenblicke war es ihr doch zu schwer gefallen. Trotz
-ihres Triumphes und ihrer Rechtfertigung, -- als der erste Schreck und
-die erste Erstarrung vorüber waren, als sie alles deutlich und klar
-verstanden hatte, -- schnürte das Gefühl der Hilflosigkeit und Kränkung
-ihr qualvoll das Herz zusammen. Sie bekam einen nervösen Anfall und
-hielt es nicht länger aus, stürzte aus dem Zimmer und lief nach Hause.
-Das geschah fast unmittelbar, nachdem Luschin fortgegangen war. Als
-Amalie Iwanowna unter lautem Lachen der Anwesenden von dem Glase
-getroffen wurde, -- hatte sie genug davon, nur für andere zu büßen. Mit
-Gekreisch stürzte sie wie wahnsinnig auf Katerina Iwanowna zu und maß
-ihr die Schuld an allem bei.
-
-»Hinaus aus der Wohnung! Sofort! Marsch!« -- und mit diesen Worten
-begann sie alles, was ihr von den Sachen Katerina Iwanownas unter die
-Hände kam, auf die Diele zu werfen.
-
-Katerina Iwanowna, ohnedem fast halbtot und einer Ohnmacht nahe, sprang
-vom Bette, auf das sie in völliger Ermattung hingesunken war,
-schweratmend und bleich auf und stürzte sich auf Amalie Iwanowna. Der
-Kampf aber war zu ungleich; die letztere stieß sie, wie eine Feder, von
-sich.
-
-»Wie! Nicht genug, daß man mich gottlos verleumdet hat, -- auch diese
-Kreatur ist gegen mich! Wie! Am Tage der Beerdigung meines Mannes jagt
-man mich, nach meinem Festmahl, mit den Waisen auf die Straße hinaus!
-Ja, wohin soll ich denn!« -- sagte die arme Frau mit Schluchzen und
-beinahe erstickend. -- »Oh, Gott!« -- rief sie plötzlich mit funkelnden
-Augen, -- »gibt es denn keine Gerechtigkeit! Wen sollst Du denn
-schützen, wenn nicht uns verlassene Waisen? Aber wir wollen mal sehen?
-Es gibt noch in der Welt Recht und Wahrheit, es gibt sie noch, und ich
-will sie finden! Warte, du gottlose Kreatur! Poletschka, bleibe bei den
-Kindern, ich komme bald zurück. Wartet auf mich, meinetwegen auf der
-Straße! Wir wollen sehen, ob es in der Welt Gerechtigkeit gibt!«
-
-Katerina Iwanowna warf dasselbe grüne große Umlegetuch über den Kopf,
-das der verstorbene Marmeladoff in seiner Erzählung erwähnt hatte,
-drängte sich durch die unordentliche und betrunkene Menge der Mieter,
-die noch immer das Zimmer anfüllten, und lief mit Geheul und unter
-Tränen auf die Straße hinaus, -- mit der unbedingten Absicht, irgendwo
-sofort, unverzüglich und um jeden Preis Gerechtigkeit zu finden.
-Poletschka verkroch sich voller Angst mit den Kindern in einer Ecke; sie
-umschlang, am ganzen Körper zitternd, die beiden Kleinen und begann die
-Rückkehr der Mutter zu erwarten. Amalie Iwanowna lief aufgeregt im
-Zimmer herum, kreischte, klagte, schleuderte alles, was ihr in den Weg
-kam, auf die Diele und lärmte. Die Mieter schrien durcheinander, --
-einige besprachen das Geschehene, wie sie es verstanden, andere zankten
-sich und schimpften, einige wieder stimmten ein Lied an ...
-
-»Jetzt muß ich auch gehen!« -- dachte Raskolnikoff. -- »Nun, Ssofja
-Ssemenowna, wir wollen sehen, was Sie jetzt sagen werden!«
-
-Und er ging nach Ssonjas Wohnung.
-
-
- IV.
-
-Raskolnikoff war ein tüchtiger und mutiger Fürsprecher Ssonjas gegen
-Luschin gewesen, trotzdem so viel eigener Schrecken und eigenes Leid auf
-seiner Seele lasteten. Weil er aber am Morgen so stark gelitten hatte,
-so war er gewissermaßen froh, seine Eindrücke, die ihm unerträglich
-wurden, zu ändern, ganz abgesehen davon, wieviel Persönliches und
-Herzliches in seinem Bestreben lag, für Ssonja einzutreten. Außerdem
-ging ihm die bevorstehende Zusammenkunft mit Ssonja nicht aus dem Sinn
-und beunruhigte ihn in manchen Augenblicken furchtbar, -- er _mußte_ ihr
-sagen, wer Lisaweta ermordet hat, fühlte die schreckliche Qual im voraus
-und suchte sich ihrer zu erwehren. Als er die Wohnung Katerina Iwanownas
-verließ und ausrief: -- »Nun, was werden Sie jetzt sagen, Ssofja
-Ssemenowna?« -- da befand er sich offenbar noch in einem äußerlich
-erregten Zustande der Rüstigkeit und Kampflust, der Freude über den eben
-errungenen Sieg. Aber das hielt nicht vor. Als er die Wohnung von
-Kapernaumoff erreicht hatte, empfand er eine plötzliche Erschlaffung und
-Furcht. Er blieb in Gedanken vor der Türe stehen und legte sich die
-sonderbare Frage vor, -- »muß ich denn sagen, wer Lisaweta ermordet
-hat?« Die Frage war sonderbar, denn er fühlte doch zugleich, daß es
-gesagt werden müsse, und jetzt gleich ohne den geringsten Aufschub. Er
-wußte selber nicht, warum; aber er _fühlte_ es, und dieses qualvolle
-Bewußtsein seiner Schwäche der Notwendigkeit gegenüber erdrückte ihn
-fast. Um nicht mehr zu überlegen und sich nicht mehr zu quälen, öffnete
-er schnell die Türe und schaute Ssonja von der Schwelle aus an. Sie saß
-auf den Tisch gestützt und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt; als
-sie Raskolnikoff erblickte, stand sie schnell auf und ging ihm entgegen,
-als hätte sie ihn erwartet.
-
-»Was wäre aus mir geworden ohne Sie!« -- sagte sie hastig, als sie in
-der Mitte des Zimmers mit ihm zusammentraf.
-
-Offenbar hatte sie ihn erwartet, um ihm dies zu sagen.
-
-Raskolnikoff ging zu dem Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem
-sie soeben aufgestanden war. Sie blieb zwei Schritte vor ihm stehen,
-genau wie gestern.
-
-»Nicht wahr, Ssonja?« -- sagte er und fühlte plötzlich, daß seine Stimme
-zittere, -- »die ganze Sache beruhte doch auf >der gesellschaftlichen
-Lage und auf den damit zusammenhängenden Gewohnheiten<. Haben Sie es
-vorhin verstanden?«
-
-Tiefes Leid zeigte sich auf ihrem Gesichte.
-
-»Sprechen Sie nicht mit mir, wie gestern!« -- unterbrach sie ihn. --
-»Bitte, fangen Sie nicht an. Es ist schon genug Qual ...«
-
-Sie lächelte schnell, aus Angst, daß ihm vielleicht der Vorwurf
-mißfallen könnte.
-
-»Es war dumm von mir, von dort wegzugehen. Was mag jetzt dort geschehen?
-Ich wollte soeben wieder hingehen, aber ich dachte, daß Sie vielleicht
-... kommen werden.«
-
-Er erzählte ihr, daß Amalie Iwanowna sie aus der Wohnung jage, und daß
-Katerina Iwanowna fortgelaufen sei, »Gerechtigkeit zu suchen«.
-
-»Ach, mein Gott!« -- erschrak Ssonja, -- »gehen wir schnell hin ...«
-
-Und sie ergriff ihre Mantille.
-
-»Ewig ein und dasselbe!« -- rief Raskolnikoff gereizt, -- »Sie denken
-bloß immer an die! Bleiben Sie bei mir.«
-
-»Und ... Katerina Iwanowna?«
-
-»Katerina Iwanowna wird Ihnen sicher nicht entgehen, sie wird selbst zu
-Ihnen kommen, wenn sie schon einmal das Haus verlassen hat,« -- fügte er
-mürrisch hinzu. -- »Wenn sie Sie nicht zu Hause antrifft, werden Sie
-doch wieder daran schuld sein ...«
-
-Ssonja setzte sich in qualvoller Unentschlossenheit auf einen Stuhl.
-Raskolnikoff schwieg, blickte zu Boden und überlegte.
-
-»Angenommen, Luschin habe es jetzt nicht gewollt,« -- begann er, ohne
-Ssonja anzublicken. -- »Wie, wenn er es gewollt hätte oder wenn es
-irgendwie in seinen Absichten gelegen wäre, -- so hätte er Sie ins
-Gefängnis gebracht, wenn nicht ich und Lebesjätnikoff zufällig dagewesen
-wären! Nicht?«
-
-»Ja,« -- antwortete sie mit schwacher Stimme, -- »ja!« -- wiederholte
-sie zerstreut und voll Unruhe.
-
-»Ich konnte doch wirklich verhindert sein! Und Lebesjätnikoff kam ganz
-zufällig hinzu.«
-
-Ssonja schwieg.
-
-»Nun, und wenn Sie ins Gefängnis gekommen wären, was dann? Erinnern Sie
-sich, was ich gestern sagte?«
-
-Sie antwortete wieder nicht. Raskolnikoff wartete eine Weile.
-
-»Ich dachte, Sie würden wieder schreien, -- >ach, sprechen Sie nicht,
-hören Sie auf!<« -- lachte Raskolnikoff, scheinbar gezwungen. -- »Was,
-Sie schweigen wieder?« -- fragte er nach einem Augenblick. -- »Man muß
-doch über etwas reden! Mir wäre es interessant zu erfahren, wie Sie
-jetzt eine >Frage<, wie Lebesjätnikoff sagt, lösen würden.« -- Er schien
-den Faden zu verlieren. -- »Nein, ich spreche in allem Ernst. Stellen
-Sie sich vor, Ssonja, daß Sie alle Absichten Luschins im voraus gewußt
-hätten, Sie hätten gewußt, daß dadurch Katerina Iwanowna und auch die
-Kinder völlig zugrunde gehen würden, auch Sie, als Dreingabe, -- Sie
-selber rechnen sich ja nicht, drum sage ich als _Dreingabe_ zu jenen.
-Poletschka ebenfalls ... denn ihr steht derselbe Weg bevor. Nun, also,
--- wenn man Ihnen plötzlich dies alles zur Entscheidung übergeben hätte,
--- soll er oder sollen jene am Leben bleiben, das heißt, soll Luschin am
-Leben bleiben und Scheußlichkeiten vollziehen oder soll Katerina
-Iwanowna sterben? Wie würden Sie entscheiden, wer von den beiden sollte
-sterben? Ich frage Sie!«
-
-Ssonja blickte ihn unruhig an, -- sie ahnte etwas besonderes in dieser
-unsicheren, weit ausgeholten Rede.
-
-»Ich hatte ein Vorgefühl, daß Sie so etwas fragen werden,« -- sagte sie
-und sah ihn forschend an.
-
-»Gut; mag sein, aber, wie soll es entschieden werden?«
-
-»Warum fragen Sie, was unmöglich zu beantworten ist?« -- sagte Ssonja
-mit Widerwillen.
-
-»Also, es ist besser, daß Luschin weiterlebt und Scheußlichkeiten
-verübt! Auch dieses haben Sie nicht gewagt zu entscheiden?«
-
-»Ja, ich kenne doch die Vorsehung Gottes nicht ... Und warum fragen Sie,
-was man nicht fragen darf? Wozu solche leere Fragen? Wie kann es
-vorkommen, daß dieses von meiner Entscheidung abhängen soll? Und wer hat
-mich hier zum Richter bestellt, wer leben soll und wer nicht leben
-soll?«
-
-»Wenn Gottes Vorsehung schon mitredet, da ist freilich nichts zu
-machen,« -- brummte Raskolnikoff finster.
-
-»Sagen Sie besser offen, was Sie wollen!« -- rief Ssonja gramvoll aus.
--- »Sie haben wieder etwas im Sinn ... Sind Sie etwa nur gekommen, um
-mich zu quälen?«
-
-Sie hielt es nicht aus und weinte plötzlich bitter. Er sah sie mit
-düsterer Schwermut an. Es verging eine geraume Weile.
-
-»Du hast recht, Ssonja,« -- sagte er endlich leise.
-
-Er war plötzlich verändert; der gemachte dreiste und kraftlos
-herausfordernde Ton war verschwunden. Selbst seine Stimme war schwächer
-geworden. »Ich habe dir selbst gestern gesagt, daß ich kommen werde,
-nicht um Verzeihung zu bitten, habe aber beinahe schon damit begonnen
-... Von Luschin und Gottes Vorsehung habe ich meinetwegen gesprochen ...
-Ich habe damit um Verzeihung bitten wollen, Ssonja ...«
-
-Er wollte lächeln, aber er brachte es nur zu einem kraftlosen und wehen
-Versuch. Er ließ den Kopf sinken und bedeckte das Gesicht mit den
-Händen.
-
-Da zog in sein Herz ein eigentümliches Gefühl, wie das eines brennenden
-Hasses gegen Ssonja. Selber betroffen und erschrocken über dieses
-Gefühl, erhob er plötzlich den Kopf und blickte sie aufmerksam an, aber
-er begegnete ihrem unruhigen und qualvoll besorgten Blicke; und vor der
-Liebe in diesem Blick verschwand sein Haß wie ein Gespenst. Es war nicht
-also das; er hatte das eine Gefühl für das andere gehalten. Das
-bedeutete bloß, daß _der_ Augenblick gekommen war.
-
-Wieder bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und senkte den Kopf.
-Plötzlich erbleichte er, stand vom Stuhle auf, sah Ssonja an und setzte
-sich, ohne ein Wort gesagt zu haben, mechanisch auf ihr Bett hin.
-
-Dieser Moment war in seiner Empfindung jenem schrecklich ähnlich, als er
-hinter der Alten stand, das Beil aus der Schlinge schon hervorgezogen
-hatte und fühlte, daß »kein Augenblick mehr zu verlieren sei«.
-
-»Was ist Ihnen?« -- fragte Ssonja erschreckt.
-
-Er brachte kein Wort hervor. So hatte er sich das Geständnis nicht
-vorgestellt und begriff selbst nicht, was mit ihm jetzt vorging. Sie
-ging leise zu ihm hin, setzte sich neben ihn auf das Bett hin und
-wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Ihr Herz klopfte und
-stockte. Es wurde unerträglich; er wandte sein totenblasses Gesicht zu
-ihr; seine Lippen verzogen sich kraftlos in der Bemühung, etwas
-auszusprechen. Und Entsetzen drang in Ssonjas Herz.
-
-»Was ist Ihnen?« -- sagte sie und wich ein wenig von ihm zurück.
-
-»Nichts, Ssonja. Ängstige dich nicht ... Unsinn! Wirklich, wenn man es
-sich überlegt, -- ist es Unsinn,« -- murmelte er mit dem Aussehen eines
-besinnungslosen Fieberkranken. -- »Warum bin ich bloß gekommen, um dich
-zu quälen?« -- fügte er plötzlich hinzu, sie anblickend. -- »Wirklich.
-Wozu? Ich lege mir immer diese Frage vor, Ssonja ...«
-
-Er hatte sich vielleicht diese Frage vor einer Viertelstunde vorgelegt,
-jetzt aber sagte er es in völliger Kraftlosigkeit, kaum sich selber
-bewußt, und fühlte ein ständiges Frösteln im ganzen Körper.
-
-»Ach, wie Sie sich quälen!« -- sagte sie mit ihm leidend und betrachtete
-ihn.
-
-»Alles ist Unsinn! ... Höre, Ssonja,« -- er lächelte plötzlich, aber
-bleich und schwach, einen kurzen Moment -- »erinnerst du dich, was ich
-dir gestern sagen wollte?«
-
-Ssonja wartete voll Unruhe. --
-
-»Ich sagte, als ich fortging, daß ich vielleicht für immer von dir
-Abschied nehme, aber wenn ich heute käme, so wollte ich dir sagen ...
-wer Lisaweta ermordet hat.«
-
-Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper.
-
-»Nun, ich bin jetzt gekommen, es dir zu sagen.«
-
-»Haben Sie gestern tatsächlich es ...,« -- flüsterte Ssonja mit Mühe, --
-»woher wissen Sie es denn?« -- fragte sie ihn schnell, als wäre sie
-plötzlich zur Besinnung gekommen.
-
-Ssonja begann schwer zu atmen. Ihr Gesicht wurde immer bleicher und
-bleicher.
-
-»Ich weiß es.«
-
-Sie schwieg einen Augenblick.
-
-»Hat man _ihn_ gefunden?« -- fragte sie zaghaft.
-
-»Nein, man hat ihn nicht gefunden.«
-
-»Wie wissen Sie _es_ denn?« -- fragte sie wieder kaum hörbar und nach
-einem fast minutenlangen Schweigen.
-
-Er wandte sich zu ihr um und blickte sie scharf und unverwandt an.
-
-»Errate es,« -- sagte er mit dem früheren wehen und kraftlosen Lächeln.
-
-Ihren ganzen Körper schienen Krämpfe zu durchziehen. »Ja, Sie ... mich
-... warum ... ängstigen Sie mich so?« -- fragte sie, lächelnd, wie ein
-Kind.
-
-»Ich war doch wohl mit _ihm_ sehr gut bekannt ... wenn ich es weiß,« --
-fuhr Raskolnikoff fort und blickte ihr in einem fort ins Gesicht, als
-wäre er nicht imstande, die Augen abzuwenden, -- »er wollte diese
-Lisaweta ... nicht ermorden ... Er hat sie ... zufällig ermordet ... Er
-wollte die Alte ermorden ... wenn sie allein war ... und kam hin ... Da
-trat aber Lisaweta ein ... Er hat sie dann ... auch ermordet.«
-
-Wieder eine furchtbare Pause. Beide blickten die ganze Zeit einander an.
-
-»Also, du kannst es nicht erraten?« -- sagte er plötzlich mit einem
-Gefühle, als stürze er sich von einem Turme hinab.
-
-»N--nein,« flüsterte Ssonja kaum hörbar.
-
-»Sieh mal ordentlich her.«
-
-Und kaum hatte er es gesagt, als eine schon einmal gehabte Empfindung
-seine Seele erstarren ließ, -- er sah sie an und ihm war plötzlich, als
-erblickte er in ihrem Gesichte Lisawetas Ausdruck. So hatte sie
-ausgesehen, als er sich damals ihr mit dem Beile näherte und sie vor ihm
-mit vorgestreckter Hand, eine völlig kindliche Angst im Gesichte,
-zurückwich, genau, wie wenn kleine Kinder vor irgend etwas Angst
-bekommen, und unbeweglich und unruhig den sie ängstigenden Gegenstand
-anblicken, zurückweichen, die Händchen nach vorne strecken und sich
-anschicken, zu weinen. Fast dasselbe geschah jetzt auch mit Ssonja, --
-ebenso kraftlos, mit derselben Angst sah sie eine Weile ihn an,
-plötzlich streckte sie die linke Hand vor, stieß ihn ganz leicht mit den
-Fingern an die Brust, begann langsam vom Bette aufzustehen, wich immer
-mehr und mehr vor ihm zurück und ihr auf ihn gerichteter Blick wurde
-immer unbeweglicher. Ihr Entsetzen teilte sich plötzlich auch ihm mit,
--- dieselbe Angst erschien auch in seinem Gesichte, -- er begann sie
-ebenso anzusehen und sogar fast mit demselben Lächeln eines geängsteten
-Kindes.
-
-»Hast du es erraten?« -- flüsterte er endlich.
-
-»Oh, Gott!« -- entrang sich ein furchtbarer Schrei ihrer Brust.
-
-Sie fiel kraftlos auf das Bett mit dem Gesichte auf das Kopfkissen hin.
-Aber nach einem Augenblicke erhob sie sich schnell, rückte zu ihm hin,
-erfaßte seine beiden Hände, drückte sie stark mit ihren dünnen Fingern
-und begann von neuem ihm unbeweglich, wie fest gebannt, ins Gesicht zu
-blicken. Mit diesem letzten verzweifelten Blick wollte sie die winzigste
-letzte Hoffnung für sich herauslesen und erspähen. Aber es war keine
-Hoffnung; kein Zweifel blieb nach, alles war _so_! Nachher sogar, wenn
-sie sich an diesen Augenblick entsann, war es ihr seltsam und
-merkwürdig, -- woraus hatte sie damals _sofort_ gesehen, daß es keinen
-Zweifel mehr gab? Es war doch keine Rede davon, daß sie z. B. ein
-Vorgefühl von etwas derartigem gehabt hatte? Nun aber schien es ihr,
-nachdem er es ihr kaum gesagt hatte, als habe sie wirklich _das_ alles
-geahnt.
-
-»Genug, Ssonja, genug! Quäle mich nicht!« -- bat er mit einem Ausdrucke
-schweren Leidens.
-
-Er hatte gar nicht, ganz und gar nicht gedacht, ihr in dieser Weise es
-zu sagen, aber es war so gekommen.
-
-Sie sprang, wie außer sich, auf, rang die Hände und ging bis zur Mitte
-des Zimmers, aber sie wandte sich schnell um, setzte sich wieder neben
-ihn hin, so daß ihre Schultern sich fast berührten. Plötzlich fuhr sie,
-wie durchbohrt, zusammen, schrie auf und stürzte, ohne zu wissen, was
-sie tat, vor ihm auf die Knie hin.
-
-»Was haben Sie, was haben Sie sich angetan!« -- sagte sie voll
-Verzweiflung, sprang von den Knien auf, warf sich ihm um den Hals,
-umarmte ihn und preßte ihn stark an sich.
-
-Raskolnikoff wich zurück und blickte sie mit einem traurigen Lächeln an.
-
-»Wie du sonderbar bist, Ssonja, -- du umarmst und küßt mich, nachdem ich
-dir _dieses_ gesagt habe. Du bist deiner selbst nicht bewußt.«
-
-»Nein, es gibt jetzt niemand in der ganzen Welt, der unglücklicher ist,
-als du!« -- rief sie, wie in Verzückung, ohne seine Bemerkung gehört zu
-haben, und dann weinte sie laut und krankhaft.
-
-Ein ihm seit langem unbekanntes Gefühl überflutete seine Seele und
-machte sie erweichen. Er sträubte sich nicht dagegen, -- zwei Tränen
-rollten aus seinen Augen und blieben an den Wimpern hängen.
-
-»Du wirst mich also nicht verlassen, Ssonja?« -- sagte er und blickte
-sie fast mit Hoffnung an.
-
-»Nein, nein. Nie und nimmer!« -- rief Ssonja aus, -- »ich werde dir
-folgen, ich werde dir überall hin folgen! Oh, Gott! ... Ach, ich
-Unglückliche! ... Und warum, warum habe ich dich nicht früher gekannt!
-Warum bist du nicht früher gekommen? Oh, Gott!«
-
-»Ich _bin_ doch gekommen.«
-
-»Jetzt! Oh, was ist jetzt zu tun! ... Zusammen, zusammen!« --
-wiederholte sie, wie bewußtlos, und umarmte ihn von neuem, -- »ich werde
-mit dir in die Zwangsarbeit nach Sibirien gehen!«
-
-Er zuckte zusammen, das frühere haßerfüllte und fast hochmütige Lächeln
-zeigte sich auf seinen Lippen.
-
-»Ich will vielleicht nicht einmal in die Zwangsarbeit gehen, Ssonja,« --
-sagte er.
-
-Ssonja blickte ihn schnell an.
-
-Nach dem ersten leidenschaftlichen und qualvollen Ausbruche des
-Mitgefühles für den Unglücklichen erschütterte sie wieder der
-schreckliche Gedanke an den Mord. In dem veränderten Tone seiner Worte
-spürte sie den Mörder. Sie blickte ihn erstaunt an. Sie wußte noch gar
-nichts, weder warum, noch wie, noch zu welchem Zwecke es geschehen war.
-Jetzt tauchten alle diese Fragen mit einem Male in ihrem Bewußtsein auf.
-Und wieder glaubte sie nicht, -- »er, er ein Mörder! Ja, ist es denn
-möglich?«
-
-»Was ist denn? Wo stehe ich denn?« -- sagte sie in tiefem Zweifel, als
-wäre sie noch nicht zu sich gekommen, -- »wie konnten, wie konnten Sie,
-_solch ein Mensch_ ... sich dazu entschließen ... Was war es denn!«
-
-»Doch wohl, um zu rauben. Höre auf, Ssonja!« -- antwortete er müde und
-fast ärgerlich.
-
-Ssonja stand wie betäubt, plötzlich aber rief sie aus: »Du warst
-hungrig! Du ... um der Mutter zu helfen? Ja?«
-
-»Nein, Ssonja, nein,« -- murmelte er, sich abwendend und ließ den Kopf
-sinken, -- »ich war nicht so hungrig ... ich wollte wohl der Mutter
-helfen, aber ... auch das ist nicht ganz richtig ... quäl mich nicht,
-Ssonja!«
-
-Ssonja schlug die Hände zusammen.
-
-»Ist es wirklich, ist es wirklich wahr! Oh, Gott, was ist das für eine
-Wahrheit? Wer kann denn daran glauben? ... Und wie, gaben Sie nicht
-selbst das Letzte fort, und haben ermordet, um zu rauben! Ah! ...« --
-rief sie plötzlich, -- »das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben
-haben ... dieses Geld ... oh, Gott, ist auch dieses Geld ...«
-
-»Nein, Ssonja,« -- unterbrach er sie hastig, -- »dieses Geld war nicht
-von dort, beruhige dich! Dieses Geld hat mir meine Mutter durch einen
-Kaufmann geschickt, und ich habe es erhalten, als ich krank war, am
-selben Tage, als ich es fortgegeben habe ... Rasumichin hat es gesehen
-... er hat es für mich empfangen ... dieses Geld war mein eigenes,
-gehörte wirklich mir.«
-
-Ssonja hörte ihm unentschlossen zu und versuchte mit allen Kräften etwas
-zu begreifen.
-
-»Und _jenes_ Geld ... ich weiß übrigens nicht mal, ob auch Geld da war,«
--- fügte er leise und wie sinnend hinzu, -- »ich habe ihr damals einen
-Beutel aus Sämischleder vom Halse genommen ... einen dicken,
-vollgestopften Beutel ... ich habe aber nicht hineingeblickt;
-wahrscheinlich hatte ich keine Zeit ... Nun, und die Sachen, allerhand
-Manschettenknöpfe und Ketten, -- alle diese Sachen und den Beutel habe
-ich auf einem fremden Hofe, am W--schen Prospekt, unter einem Steine
-versteckt ... am andern Morgen noch ... Alles liegt jetzt noch dort ...«
-
-Ssonja hörte angestrengt zu.
-
-»Warum denn ... wenn Sie selbst sagten, um zu rauben, haben Sie doch
-nichts genommen?« -- fragte sie ihn schnell, nach einem letzten
-Strohhalme greifend.
-
-»Ich weiß es nicht ... ich habe mich noch nicht entschlossen, -- ob ich
-dieses Geld nehmen soll oder nicht,« -- sagte er wieder, wie sinnend,
-und plötzlich lächelte er schnell und kurz, -- »ach, welch eine Dummheit
-habe ich soeben gesagt!«
-
-Ssonja durchfuhr ein Gedanke, -- »ist er etwa verrückt?« Aber sie ließ
-ihn sofort fallen, -- »nein, hier ist etwas anderes«. Aber sie begriff
-gar nichts, rein gar nichts!
-
-»Weißt du, Ssonja,« -- sagte er plötzlich, wie in einer Eingebung, --
-»weißt du, was ich dir sagen will, -- wenn ich bloß darum ermordet
-hätte, weil ich hungrig war,« -- fuhr er fort, betonte jedes Wort und
-blickte sie rätselhaft, aber aufrichtig an, -- »so würde ich jetzt ...
-_glücklich_ sein! Das sollst du wissen!«
-
-»Und was läge, was läge dir daran,« -- rief er nach einem Augenblicke
-verzweifelt, -- »nun, was läge dir daran, wenn ich sofort zugeben würde,
-daß ich schlecht gehandelt habe! Nun, was liegt dir an diesem dummen
-Triumphe über mich? Ach, Ssonja, bin ich etwa deswegen jetzt zu dir
-gekommen?«
-
-Ssonja wollte etwas sagen, aber schwieg.
-
-»Darum bat ich dich auch gestern mit mir zu gehen, weil ich jetzt dich
-nur allein habe.«
-
-»Wohin gehen?« -- fragte Ssonja schüchtern.
-
-»Nicht um zu stehlen und um zu morden, gewiß, nicht dazu,« -- lächelte
-er mit Spott, -- »wir sind zu verschieden ... Und weißt du, Ssonja, ich
-habe erst jetzt, erst soeben begriffen, -- _wohin_ ich dich gestern rief
-mitzugehen! Gestern aber, als ich dich bat, wußte ich selbst nicht,
-wohin. Nur deshalb habe ich dich gebeten, nur deshalb bin ich gekommen,
--- daß du mich nicht verlassest. Wirst du mich verlassen, Ssonja?«
-
-Sie drückte ihm fest die Hand.
-
-»Und warum, warum habe ich es ihr gesagt, warum habe ich es ihr
-mitgeteilt,« -- rief er nach einem Augenblick voll Verzweiflung aus und
-sah sie mit grenzenloser Qual an, -- »nun, erwartest du Erklärungen von
-mir, Ssonja, du sitzest und wartest, ich sehe es, -- und was soll ich
-dir sagen? Du wirst doch nichts davon verstehen und bloß ganz vor Leid
-vergehen ... meinetwegen! Nun weinst du und umarmst mich wieder, --
-warum umarmst du mich? Weil ich es selbst nicht ertrug und gekommen bin,
-es auf einen andern abzuwälzen, -- >leide auch du, mir wird es leichter
-sein!< Und kannst du solch einen Schuft lieben?«
-
-»Quälst du dich nicht auch?« -- rief Ssonja aus.
-
-Wieder überkam seine Seele das Gefühl von vorhin und machte sie auf
-einen Augenblick weich.
-
-»Ssonja, ich habe ein böses Herz, merk es dir, -- dadurch kann man
-vieles erklären. Ich bin auch darum hergekommen, weil ich böse bin. Es
-gibt solche, die nicht hergekommen wären. Ich aber bin ein Feigling und
-... ein Schuft! Aber ... mag sein! Dies alles ist nicht das ... Jetzt
-gilt es zu reden, ich weiß aber nicht, wo anfangen ...«
-
-Er hielt inne und sann nach.
-
-»Ach, wir sind beide zu verschiedene Leute!« -- rief er wieder aus, --
-»passen nicht zueinander. Und warum, warum bin ich hergekommen! Ich
-werde es mir nie verzeihen.«
-
-»Nein, nein, es ist gut, daß du gekommen bist!« -- rief Ssonja, -- »es
-ist besser, daß ich es weiß! Viel besser!«
-
-Er sah sie voll Schmerz an.
-
-»So war es tatsächlich!« -- sagte er, als hätte er überlegt. -- »Es war
-doch so! Siehst du, -- ich wollte ein Napoleon werden, und darum habe
-ich ermordet ... begreifst du es jetzt?«
-
-»N--nein,« -- flüsterte Ssonja naiv und schüchtern, -- »sprich nur ...
-sprich! Ich werde es verstehen, ich werde _für mich_ alles verstehen!«
--- bat sie ihn.
-
-»Du wirst verstehen? Nun, gut, wir wollen sehen!«
-
-Er schwieg und überlegte lange.
-
-»Siehst du, -- ich habe mir einmal folgende Frage vorgelegt, -- wenn zum
-Beispiel an meiner Stelle Napoleon gewesen wäre, und wenn er, um seine
-Karriere zu beginnen, weder Toulon, noch Ägypten, noch den Übergang über
-den Montblanc gehabt hätte, wenn aber statt aller schönen und
-monumentalen Dinge eine lächerliche Alte, die Witwe eines kleinen
-Beamten gewesen wäre, die man zudem noch ermorden mußte, um aus ihrem
-Koffer Geld zu stehlen -- der Karriere wegen, verstehst du? -- hätte er
-sich dazu entschlossen, wenn es keinen anderen Ausweg gegeben hätte?
-Wäre er nicht schokiert gewesen, weil es zu wenig monumental und ...
-weil es sündhaft war? Ich sage dir, daß ich mich über diese >Frage<
-schrecklich lange abgequält habe, so daß ich mich furchtbar schämte, als
-ich endlich auf den Gedanken kam -- ganz plötzlich kam ich darauf --,
-daß es ihn nicht bloß nicht schokiert hätte, sondern ihm nicht einmal in
-den Sinn gekommen wäre, daß dies nicht monumental sei ... _er_ hätte gar
-nicht begriffen, warum man dabei schokiert sein sollte? Und wenn er
-keinen anderen Ausweg gehabt hätte, so würde er, aber ohne daß sie
-gemuckst hätte, gemordet haben, ohne langes Nachdenken! Nun, und da ließ
-ich ... das Beil fallen ... mordete ... nach diesem Beispiel ... Genau
-so ist es vor sich gegangen! Dir erscheint es lächerlich? Ja, Ssonja,
-das Lächerlichste ist dabei, daß es vielleicht genau so vorgefallen war
-...«
-
-Ssonja war es nicht lächerlich.
-
-»Sagen Sie es mir lieber ... ohne Beispiele,« -- bat sie noch
-schüchterner und leiser.
-
-Er wandte sich zu ihr um, blickte sie traurig an und ergriff ihre Hände.
-
-»Du hast wieder recht, Ssonja. Das ist alles Unsinn, ist leeres
-Geschwätz! Siehst du, -- du weißt doch, daß meine Mutter fast nichts
-hat. Meine Schwester hat zufällig eine Erziehung erhalten und ist
-verurteilt, sich als Gouvernante ihr Leben lang durchzuschlagen. All
-ihre Hoffnung war ich allein. Ich studierte, fand aber nicht genügenden
-Unterhalt und war gezwungen, zeitweilig die Universität zu verlassen.
-Und selbst wenn es sich weiter hingezogen hätte, konnte ich etwa in zehn
-oder zwölf Jahren -- und vorausgesetzt, daß meine Verhältnisse sich
-verbesserten, -- hoffen, Lehrer oder Beamter mit tausend Rubel Gehalt zu
-werden ...« -- Er sprach, als hätte er es auswendig gelernt. -- »Bis
-dahin wäre meine Mutter vor Sorgen und Kummer verkommen, und mir wäre es
-nicht gelungen, ihr ein ruhiges Leben zu schaffen, und meine Schwester
-... nun, mit der Schwester konnte noch Schlimmeres passiert sein! ...
-Ja, und was für ein Vergnügen ist es, das ganze Leben an allem
-vorbeigehen und von allem sich abwenden zu müssen, die Mutter zu
-vergessen und die Beleidigung der Schwester zum Beispiel, demütig zu
-ertragen? Wozu? Um sich andere anzuschaffen, nachdem man sie beerdigt
-hat, -- Frau und Kinder, um auch sie nachher ohne einen Groschen und
-ohne ein Stück Brot zu hinterlassen? So ... nun, da beschloß ich, mich
-des Geldes der Alten zu bemächtigen, es zu meinem Unterhalte an der
-Universität, ohne die Mutter mehr quälen zu müssen, und zu meinen ersten
-Schritten nach Beendigung des Studiums zu benutzen, -- und dies alles
-gleich groß und radikal auszuführen, um eine vollkommen neue Laufbahn
-beginnen und einen neuen unabhängigen Weg betreten zu können ... das ist
-alles ... selbstverständlich, schlecht war, daß ich die Alte ermordet
-habe ... und jetzt genug davon!«
-
-Völlig erschöpft schloß er seinen Bericht und ließ den Kopf sinken.
-
-»Ach, es war nicht das, nicht das,« -- rief Ssonja gramvoll aus, --
-»kann man denn so ... nein, es ist nicht richtig, es ist nicht so!«
-
-»Jetzt siehst du selbst, daß es nicht so war! ... Und ich habe doch
-aufrichtig berichtet, habe die Wahrheit gesagt!«
-
-»Was ist denn das für eine Wahrheit! Oh, Gott!«
-
-»Ich habe doch, Ssonja, bloß eine unnütze, häßliche, bösartige Laus
-ermordet.«
-
-»Wie, ein Mensch ist eine Laus?«
-
-»Ich weiß es auch selbst, daß es keine Laus ist,« -- antwortete er und
-blickte sie eigentümlich an. -- »Aber ich lüge, Ssonja,« -- fügte er
-hinzu, »es ist alles gelogen ... Es war nicht das; du sagst die
-Wahrheit. Es waren ganz andere, vollkommen andere Gründe! ... Ich habe
-seit langem mit niemand gesprochen, Ssonja ... Der Kopf tut mir jetzt so
-weh.«
-
-Seine Augen brannten in fieberhaftem Glanze. Er begann fast zu
-phantasieren; ein unruhiges Lächeln irrte um seine Lippen. Die ungeheure
-Erregung verbarg kaum die äußerste Schwäche. Ssonja begriff seine
-Selbstqual. Auch ihr begann der Kopf zu schwindeln. Und wie sonderbar er
-sprach, als sei alles selbstverständlich ... »aber wie denn ... Wie war
-es nur möglich? Oh, Gott!« Und sie rang in Verzweiflung die Hände.
-
-»Nein, Ssonja, es war nicht das!« -- begann er wieder, erhob plötzlich
-den Kopf, als hätte ihn eine andere Wendung der Gedanken überrascht und
-von neuem angeregt, -- »es war nicht das! Besser ... du stellst dir vor
-... ja! es ist wirklich besser! ... stell dir vor, daß ich ehrgeizig,
-neidisch, böse, niederträchtig, rachsüchtig bin ... nun ... und
-meinetwegen zum Irrsinn neige ... Mag alles gleich mitgerechnet werden!
-Davon, daß ich verrückt sei, sprach man schon früher, ich habe es wohl
-gemerkt! Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich auf der Universität selber
-meinen Unterhalt nicht finden konnte. Weißt du aber, daß ich es
-vielleicht doch hätte ermöglichen können? Meine Mutter hätte mir das
-Nötige fürs Studium geschickt, und Stiefel, Kleider und Essen hätte ich
-selbst verdient, sicher sogar! Es fanden sich Unterrichtsstunden für
-mich; man bot fünfzig Kopeken. Rasumichin arbeitet doch auch! Aber ich
-wurde böse und wollte es nicht. _Ich wurde böse_ -- das ist ein guter
-Ausdruck! Ich verkroch mich dann, wie eine Spinne, in meine Ecke. Du
-warst doch in meinem elenden Loche, hast es gesehen ... Aber weißt du
-auch, Ssonja, daß niedrige Decken und enge Zimmer die Seele und den
-Verstand bedrücken? Oh, wie ich dieses elende Loch haßte! Dennoch wollte
-ich nicht heraus! Ich wollte es absichtlich nicht! Tagelang ging ich
-nicht aus und wollte nicht arbeiten, wollte nicht mal essen und lag die
-ganze Zeit. Wenn mir Nastasja etwas brachte, -- aß ich, wenn sie nichts
-brachte, -- verging auch so der Tag; absichtlich, aus Bosheit, bat ich
-um nichts! Wenn ich nachts kein Licht hatte, lag ich im Dunkel, wollte
-aber nicht arbeiten, um ein Licht kaufen zu können. Ich mußte studieren,
--- habe aber die Bücher verkauft; auf dem Tische bei mir, auf den
-Kollegheften und Notizen liegt jetzt fingerdick der Staub. Ich zog es
-vor, zu liegen und zu grübeln. Und ich dachte die ganze Zeit ... immer
-hatte ich solche Träume, allerhand seltsame Träume, es lohnt sich nicht,
-von ihnen zu sprechen! Dann aber begann es mir vorzuschweben, daß ...
-Nein, es ist nicht richtig! Ich erzähle wieder nicht in der richtigen
-Weise! Siehst du, -- ich fragte mich damals immer, warum bin ich so
-dumm, daß, wenn andere dumm sind, und wenn ich es sicher weiß, daß sie
-dumm sind, ich selbst nicht klüger sein will? Ich erkannte später,
-Ssonja, daß es zu lange dauern wird, wollte man warten, bis alle klug
-werden ... Ich erkannte auch, daß es niemals der Fall sein wird, daß die
-Menschen sich nicht verändern, daß niemand sie ändern kann, und daß es
-sich der Mühe nicht lohnt! Ja, es ist so! Das ist ihr Gesetz ... Das
-Gesetz, Ssonja! Es ist so! ... Und ich weiß jetzt, Ssonja, daß wer an
-Verstand und Geist stark und kräftig ist, der auch der Herrscher über
-sie ist! Wer viel wagt, der ist bei ihnen im Rechte! Wer auf das größere
-pfeifen kann, der ist bei ihnen auch Gesetzgeber, wer aber am meisten
-von allen wagen kann, der ist mehr im Rechte, als alle! In dieser Weise
-ist es bis jetzt vor sich gegangen und so wird es immer bleiben! Nur ein
-Blinder merkt es nicht!«
-
-Während Raskolnikoff dies sagte, sah er wohl Ssonja an, aber er kümmerte
-sich nicht mehr darum, ob sie ihn verstehen würde oder nicht. Das Fieber
-hatte ihn völlig gepackt. Er war in einem finstern Enthusiasmus. Er
-hatte in der Tat zu lange mit niemand gesprochen. Und Ssonja verstand,
-daß dieser finstere Katechismus sein Glaube und sein Gesetz geworden
-war.
-
-»Ich kam damals darauf, Ssonja,« -- fuhr er immer noch enthusiastisch
-fort, -- »daß die Macht bloß demjenigen gegeben wird, der es wagt, sich
-zu bücken und sie zu nehmen. Das ist das einzige, nur das allein, -- man
-muß wagen! Mir kam damals ein Gedanke, zum erstenmal im Leben, den
-niemand je vor mir gedacht hat. Niemand! Klar wie die Sonne erschien mir
-plötzlich der Gedanke: Warum hat bis jetzt kein einziger gewagt und wagt
-es nicht, wenn er an diesem ganzen Unsinn vorbeigeht, alles einfach am
-Schwanze zu packen und es zum Teufel zu werfen! Ich ... ich wollte _es
-wagen_ und tötete ... ich wollte bloß wagen, Ssonja, das ist der ganze
-Grund!«
-
-»Oh, schweigen Sie, schweigen Sie!« -- rief Ssonja und schlug die Hände
-zusammen. -- »Sie haben Gott verlassen und Gott hat Sie gestraft, hat
-Sie dem Teufel überliefert! ...«
-
-»Ja, Ssonja, -- als ich damals in der Dunkelheit lag und mir all das
-vorschwebte, da hat mich der Teufel versucht? Nicht wahr?«
-
-»Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslästerer; nichts, nichts
-begreifen Sie! Oh, Gott! Er wird nichts, nichts verstehen!«
-
-»Schweig, Ssonja, ich lache gar nicht, ich weiß es auch selbst, daß mich
-der Teufel zog. Schweig, Ssonja, schweig!« -- wiederholte er düster und
-beharrlich. -- »Ich weiß alles. Ich habe mir dies alles überlegt und
-zugeflüstert, als ich damals im Dunkeln lag ... Ich habe über dies alles
-mit mir selbst bis zum kleinsten Punkt gestritten und weiß alles, alles!
-Und mir war dies ganze Geschwätz damals so zum Überdruß, so zum
-Überdruß! Ich wollte alles vergessen und von neuem anfangen, Ssonja, und
-aufhören zu schwatzen! Und denkst du etwa, daß ich, wie ein Dummkopf,
-blindlings hingegangen bin? Ich bin, wie ein Kluger, hingegangen, und
-das hat mich auch zugrunde gerichtet! Und meinst du etwa, ich hätte zum
-Beispiel nicht gewußt, daß, _wenn_ ich überhaupt damit anfing, mich zu
-fragen und auszuhorchen, -- ob ich ein Recht auf Macht habe, -- ich
-schon deswegen dies Recht auf Macht _nicht_ hatte. Oder wenn ich mir die
-Frage vorlegte, -- ist der Mensch eine Laus? -- da war schon der Mensch
-_für mich_ keine Laus mehr, sondern war es eben für denjenigen, dem
-diese Frage _nicht_ in den Sinn kam, und der ohne Fragen auf sein Ziel
-losgeht ... Als ich mich soviel Tage abquälte, ob Napoleon es getan
-hätte oder nicht, -- da fühlte ich es doch deutlich, daß ich kein
-Napoleon war ... Ich habe die ganze Qual dieses ganzen Geschwätzes
-ertragen, Ssonja, und wollte sie ganz und gar von mir abschütteln, --
-ich wollte, Ssonja, ohne Kasuistik töten, meinetwegen, für mich allein
-töten! Ich wollte es nicht mal mir selbst vorlügen! Ich habe nicht darum
-getötet, um meiner Mutter zu helfen, -- das ist Unsinn! Ich habe nicht
-darum getötet, um Mittel und Macht zu erhalten, und dann ein Wohltäter
-der Menschheit zu werden. Unsinn! Ich habe einfach getötet; für mich,
-für mich ganz allein habe ich getötet; ob ich aber irgend wessen
-Wohltäter geworden wäre, oder ob ich mein ganzes Leben, wie eine Spinne,
-alle in mein Gewebe eingefangen und aus allen die Lebenssäfte ausgesaugt
-hätte, -- mußte mir in jenem Augenblicke vollkommen gleichgültig sein!
-... Und nicht um das Geld war es mir in erster Linie zu tun, Ssonja, als
-ich tötete; nicht das Geld war mir so wichtig, es war etwas ganz anderes
-... Ich weiß jetzt alles ... Verstehe mich, -- wenn ich vielleicht
-denselben Weg weitergegangen wäre, würde ich niemals mehr einen Mord
-begangen haben. Ich mußte etwas anderes erfahren, etwas anderes trieb
-mich dazu, -- ich mußte damals und schleunigst erfahren, ob ich eine
-Laus bin, wie alle, oder ein Mann? Bin ich imstande, hinwegzuschreiten
-oder nicht? Werde ich es wagen, mich zu bücken und die Macht aufzuheben
-oder nicht? Bin ich eine zitternde Kreatur oder habe ich _ein Recht_
-...«
-
-»Zu töten? Ein Recht zu töten?« -- schlug Ssonja die Hände zusammen.
-
-»Ach, Ssonja!« -- rief er gereizt aus, wollte ihr etwas erwidern,
-schwieg aber verächtlich. -- »Unterbrich mich nicht, Ssonja! Ich wollte
-mir bloß beweisen, -- daß der Teufel mich damals hinschleppte, mir aber
-nachher erklärte, daß ich kein Recht hatte, dort hinzugehen, weil ich
-eben so eine Laus bin, wie alle! Er hat seinen Spott mit mir getrieben,
-nun bin ich zu dir gekommen! Nimm den Gast auf! Wenn ich nicht eine Laus
-wäre, würde ich dann zu dir gekommen sein? Höre, -- als ich damals zu
-der Alten hinging, ging ich bloß, es _zu versuchen_ ... Nun weißt du
-es!«
-
-»Und haben getötet! Haben getötet!«
-
-»Wie habe ich getötet? Ermordet man denn in dieser Weise? Geht man denn
-so hin zu töten, wie ich damals ging! Ich will dir einmal erzählen, wie
-ich hinging ... Habe ich denn die Alte getötet? Ich habe mich getötet,
-und nicht die Alte! Da habe ich mich mit einem Schlage auf ewig
-getroffen! ... Und diese Alte hat der Teufel getötet, aber nicht ich ...
-Genug, genug, Ssonja, genug! Laß mich,« -- rief er plötzlich in
-krankhaftem Grame, -- »laß mich!«
-
-Er stützte sich auf seine Knie und umklammerte mit beiden Händen den
-Kopf.
-
-»Wie Sie leiden!« -- entrang sich Ssonja ein qualvoller Schrei.
-
-»Was soll ich jetzt tun, sprich!« -- fragte er, erhob plötzlich den Kopf
-und blickte sie mit einem vor Verzweiflung schrecklich verzerrten
-Gesichte an.
-
-»Was tun!« -- rief sie aus, sprang von ihrem Platze auf, und ihre Augen,
-die bis jetzt voll Tränen waren, funkelten plötzlich. -- »Steh auf!« --
-Sie packte ihn an den Schultern; er erhob sich und sah sie fast
-verwundert an. -- »Geh sofort, gleich, stell dich auf einen Kreuzweg
-hin, beuge dich, küß zuerst die Erde, die du besudelt hast, dann beuge
-dich vor der ganzen Welt, in allen vier Richtungen und sage allen laut:
--- >ich habe getötet!< Dann wird dir Gott wieder Leben senden. Willst du
-gehen? Willst du gehen?« -- fragte sie ihn, am ganzen Körper zitternd,
-wie in einem Anfall, und faßte dabei seine beiden Hände und drückte sie
-stark und sah ihn mit feurigen Blicken an.
-
-Er war erstaunt, ja, durch ihre plötzliche Begeisterung bestürzt.
-
-»Du meinst die Zwangsarbeit, Sibirien, Ssonja? Daß ich mich selbst
-anzeigen soll?« -- fragte er finster.
-
-»Das Leiden auf sich nehmen und dadurch Erlösung finden, das sollst du.«
-
-»Nein! Ich gehe nicht zu ihnen, Ssonja.«
-
-»Wie wirst du aber leben, leben? Wie wirst du weiterleben?« -- rief
-Ssonja. -- »Ist es denn jetzt möglich? Und wie wirst du mit deiner
-Mutter sprechen? Oh, was wird, was wird jetzt mit ihnen geschehen! Ja,
-was sage ich! Du hast ja schon deine Mutter und Schwester verlassen. Du
-hast sie doch verlassen, sie verlassen. Oh, Gott!« -- rief sie, -- »er
-weiß ja alles selbst! Nun, wie kann man denn ohne einen Menschen
-weiterleben! Was wird jetzt mit dir werden!«
-
-»Sei kein Kind, Ssonja,« -- sagte er leise. -- »Welche Schuld habe ich
-vor ihnen? Wozu soll ich hingehen? Was soll ich ihnen sagen? Das sind
-alles bloß Gespenster ... Sie vertilgen selbst Millionen von Menschen
-und halten es noch für eine Tugend. Sie sind Gauner und Schufte, Ssonja!
-... Ich gehe nicht. Und was soll ich sagen, -- daß ich getötet und nicht
-gewagt habe, das Geld zu nehmen, daß ich es unter einem Stein versteckt
-habe?« -- fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. -- »Sie werden doch
-selbst über mich lachen, werden sagen, -- er ist ein Dummkopf, daß er es
-nicht genommen hat. Ein Feigling und ein Dummkopf! Sie werden nichts,
-gar nichts verstehen, Ssonja, und sie sind nicht wert, es zu verstehen.
-Wozu soll ich hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Ssonja ...«
-
-»Du wirst dich zu Tode quälen, zu Tode quälen,« -- wiederholte sie und
-streckte ihm in verzweifeltem Flehen die Hände entgegen.
-
-»Ich habe mich vielleicht _bloß_ verleumdet,« -- bemerkte er finster,
-wie sinnend, -- »vielleicht bin ich _doch_ ein Mensch und keine Laus,
-vielleicht habe ich mich übereilt verurteilt ... Ich will _noch_
-kämpfen.«
-
-Ein hochmütiges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
-
-»Solche Qual zu tragen! Und das ganze, ganze Leben hindurch! ...«
-
-»Ich werde mich gewöhnen ...,« -- sagte er düster und nachdenklich. --
-»Höre,« -- begann er nach einer Weile, -- »es ist genug geweint, jetzt
-ist Zeit, die Sache zu bedenken, -- ich bin gekommen, dir zu sagen, daß
-man mich jetzt sucht, mir nachstellt ...«
-
-»Ach!« -- rief Ssonja erschrocken aus.
-
-»Nun, warum schreist du? Du willst doch selbst, daß ich nach Sibirien
-gehe, jetzt aber erschrakst du? Eins aber will ich sagen, -- ich ergebe
-mich ihnen nicht. Ich will mit ihnen noch kämpfen, und sie werden mir
-nichts tun können. Sie haben keine wirklichen Beweise. Gestern war ich
-in großer Gefahr und dachte, daß ich schon verloren sei; heute hat es
-sich verbessert. Alle ihre Beweise haben zwei Seiten, das will sagen, --
-ich kann ihre Beschuldigungen zu meinen Gunsten verwenden, verstehst du?
-Und ich werde sie zu meinen Gunsten verwenden, denn ich habe es jetzt
-gelernt ... Ins Gefängnis aber wird man mich sicher sperren. Wenn nicht
-ein Zufall hinzugekommen wäre, hätte man mich vielleicht schon heute
-geholt; vielleicht geschieht es heute _noch_ ... Aber das tut nichts,
-Ssonja, -- ich werde eine Zeitlang sitzen und man wird mich freilassen
-... denn sie haben keinen einzigen wirklichen Beweis und werden ihn auch
-nicht bekommen, ich gebe mein Wort darauf. Mit dem aber, was sie
-besitzen, kann man einen Menschen nicht verurteilen. Nun, genug ... Ich
-sagte es bloß, damit du es weißt ... Mit meiner Mutter und Schwester
-will ich es so einzurichten versuchen, daß sie nicht daran glauben,
-damit sie nicht erschrecken ... Meine Schwester ist jetzt übrigens, wie
-es scheint, versorgt ... also auch meine Mutter ... Nun, das ist alles.
-Sei übrigens vorsichtig. Willst du zu mir ins Gefängnis kommen, wenn ich
-dort sein werde?«
-
-»Oh, ich werde, werde kommen!«
-
-Sie saßen nebeneinander, traurig und niedergeschlagen, als wären sie
-nach einem Sturme allein an einen einsamen Strand geschleudert worden.
-Er sah Ssonja an und fühlte ihre große Liebe, und seltsam, es fiel ihm
-plötzlich schwer und schmerzlich aufs Herz, daß er so geliebt wurde. Es
-war ein seltsames und furchtbares Gefühl! Als er zu Ssonja ging, empfand
-er, daß in ihr seine ganze Hoffnung und sein letzter Ausweg liege; er
-glaubte wenigstens einen Teil seiner Qualen abzuwälzen und jetzt, wo ihr
-ganzes Herz sich ihm zugewandt hatte, fühlte und erkannte er, daß er um
-vieles unglücklicher geworden war.
-
-»Ssonja,« -- sagte er, -- »komm lieber nicht zu mir, wenn ich im
-Gefängnis sein werde.«
-
-Ssonja antwortete nicht, sie weinte. Es vergingen ein paar Minuten.
-
-»Hast du ein Kreuz?« -- fragte sie plötzlich unerwartet, als sei es ihr
-eben eingefallen.
-
-Er verstand zuerst die Frage nicht.
-
-»Nein, du hast keins? -- Hier, nimm dieses Kreuz aus Zypressenholz. Ich
-habe ein anderes, kupfernes von Lisaweta. Ich habe mit Lisaweta
-getauscht, -- sie hat mir ihr Kreuz gegeben und ich ihr mein
-Heiligenbildchen. Ich will jetzt das Kreuz von Lisaweta tragen, dieses
-aber gebe ich dir. Nimm ... es gehört doch mir! Es ist doch mein Kreuz!«
--- bat sie ihn, -- »wir werden doch zusammen gehen und leiden, also
-wollen wir auch zusammen das Kreuz tragen! ...«
-
-»Gib her!« sagte Raskolnikoff.
-
-Er wollte sie nicht betrüben, zog aber gleich wieder die Hand zurück,
-die er nach dem Kreuze ausgestreckt hatte.
-
-»Nicht jetzt, Ssonja. Lieber später,« -- fügte er hinzu, um sie zu
-beruhigen.
-
-»Ja, ja, es ist besser, es ist besser,« -- pflichtete sie ihm mit
-Begeisterung bei, -- »wenn du gehst, um das Leiden auf dich zu nehmen,
-dann legst du es um. Du kommst dann zu mir, ich werde es dir umhängen,
-wir wollen dann beten und beide gehen.«
-
-In diesem Augenblicke klopfte jemand dreimal an die Türe.
-
-»Ssofja Ssemenowna, kann ich hereinkommen?« -- ertönte eine sehr
-bekannte höfliche Stimme.
-
-Ssonja stürzte erschrocken zur Türe. Herr Lebesjätnikoff blickte in das
-Zimmer hinein.
-
-
- V.
-
-Lebesjätnikoff sah aufgeregt aus.
-
-»Ich komme zu Ihnen, Ssofja Ssemenowna. Entschuldigen Sie ... Ich dachte
-mir, daß ich auch Sie treffen werde,« -- wandte er sich schnell an
-Raskolnikoff, -- »das heißt, ich dachte nichts ... in dieser Hinsicht
-... aber ich dachte ... Dort bei uns ist Katerina Iwanowna verrückt
-geworden,« -- schloß er plötzlich, zu Ssonja gewandt.
-
-Ssonja schrie auf.
-
-»Das heißt, es scheint wenigstens so ... Wir wissen nicht, was wir tun
-sollen, das ist es! Sie kam zurück ... man scheint sie irgendwo
-hinausgejagt, vielleicht auch geschlagen zu haben ... es scheint
-wenigstens so ... Sie war zu dem Vorgesetzten des verstorbenen Ssemjon
-Sacharytsch gelaufen, hatte ihn nicht zu Hause getroffen; er war bei
-einem anderen General zu Mittag geladen ... Und stellen Sie sich vor,
-sie lief dann dorthin, ... zu diesem anderen General, stellen Sie sich
-vor, -- sie bestand auf ihrem Verlangen, den Vorgesetzten von Ssemjon
-Sacharytsch zu sehen, und sie hat, wie es scheint, ihn von der Tafel
-rufen lassen. Sie können sich denken, was passiert ist. Man jagte sie
-selbstverständlich hinaus; sie erzählte, daß sie den General beschimpft
-und ihm sogar etwas ins Gesicht geschleudert habe. Das kann man ihr
-schon glauben ..., daß man sie nicht zur Polizei gebracht hat, --
-verstehe ich nicht! Jetzt erzählt sie es allen, auch Amalie Iwanowna,
-doch es ist schwer zu verstehen, was sie meint, denn sie schreit und
-wirft sich dabei mit dem Kopfe an die Wand ... Ach ja -- sie sagt und
-schreit, da sie jetzt von allen verlassen sei, jetzt wolle sie mit den
-Kindern auf die Straße gehen, die einen Leierkasten tragen sollen, die
-Kinder müßten singen und tanzen, auch sie würde singen und Geld
-einsammeln, und Tag für Tag wolle sie vor den Fenstern des Generals
-stehen ... >Mögen alle sehen,< sagt sie, >wie die edlen Kinder eines
-angesehenen Beamten als Bettler in den Straßen herumgehen müssen!< Sie
-schlägt die weinenden Kinder, Lene lehrt sie ein Lied singen, den Knaben
-tanzen und Poletschka ebenfalls; reißt alle Kleider entzwei; macht ihnen
-Mützen, wie die Gaukler sie haben; sie selbst will ein Becken tragen,
-darauf schlagen, an Stelle der Musik ... Uns will sie gar nicht anhören
-... Stellen Sie sich vor, wie soll das werden? Das geht doch nicht an!«
-
-Lebesjätnikoff hätte noch weiter gesprochen, aber Ssonja, die ihm mit
-angehaltenem Atem zugehört hatte, griff rasch nach ihrer Mantille und
-ihrem Hut, lief aus dem Zimmer und kleidete sich im Gehen an.
-Raskolnikoff ging ihr nach und Lebesjätnikoff folgte ihm.
-
-»Sie ist ganz gewiß verrückt geworden!« -- sagte er zu Raskolnikoff und
-trat mit ihm auf die Straße, -- »ich wollte nur Ssofja Ssemenowna nicht
-so erschrecken und sagte deshalb -- >es scheint<, aber es kann keinen
-Zweifel darüber geben. Man hört oft, daß bei Schwindsucht im Gehirn
-solche Knollen entstehen; schade, daß ich nicht Medizin studiert habe.
-Ich versuchte übrigens, sie zu überzeugen, aber sie will nichts hören.«
-
-»Haben Sie ihr von diesen Knollen gesprochen?«
-
-»Das heißt, eigentlich nicht von den Knollen. Sie würde es doch nicht
-verstanden haben. Ich sage aber, -- wenn man einen Menschen logisch
-überzeugen kann, daß er eigentlich keinen Grund hat, zu weinen, so hört
-er auch auf zu weinen. Das ist klar. Oder meinen Sie, daß er nicht
-aufhören wird?«
-
-»Dann wäre das Leben leicht,« -- antwortete Raskolnikoff.
-
-»Erlauben Sie, erlauben Sie bitte; gewiß, bei Katerina Iwanowna würde es
-ziemlich schwer fallen, sie verstände es nicht. Aber ist Ihnen nicht
-bekannt, daß in Paris schon ernste Versuche gemacht worden sind über die
-Möglichkeit, durch Anwendung von logischer Überredung Wahnsinnige zu
-heilen? Ein Professor dort, der vor kurzem gestorben ist, ein großer
-Gelehrter, hat sich ausgedacht, daß man sie in dieser Weise heilen kann.
-Sein Grundgedanke ist, daß bei den Wahnsinnigen eine besondere Störung
-im Organismus nicht vorgeht, und daß der Wahnsinn sozusagen ein
-logischer Fehler, ein Fehler der Urteilsfähigkeit, eine falsche Ansicht
-von Dingen ist. Er widerlegte allmählich den Kranken, und denken Sie
-sich, er soll Erfolge erzielt haben. Da er außerdem auch Duschen
-anwandte, so wurden die Erfolge dieser Behandlung bezweifelt ... Es
-scheint wenigstens so ...«
-
-Raskolnikoff hörte ihm längst nicht mehr zu. Als er an seinem Hause
-ankam, nickte er mit dem Kopfe Lebesjätnikoff zu und bog in den Torweg
-ein. Lebesjätnikoff kam zu sich, blickte sich um und lief weiter.
-
-Raskolnikoff trat in seine Kammer und blieb mitten darin stehen. Warum
-war er hierher zurückgekehrt? Er sah diese gelblichen, abgerissenen
-Tapeten, diesen Staub, sein Sofa an ... Vom Hofe drang ein hartes
-ununterbrochenes Klopfen; man schien Nägel einzuschlagen ... Er trat an
-das Fenster, hob sich auf den Zehen und blickte lange mit
-außerordentlicher Aufmerksamkeit im Hofe umher. Der Hof aber war leer
-und man sah die Klopfenden nicht. Links, im Seitengebäude war hie und da
-ein geöffnetes Fenster; auf den Fensterbrettern standen kleine Töpfe mit
-schwächlichen Geranien. Vor den Fenstern hing Wäsche ... Das ganze Bild
-kannte er auswendig. Er wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa.
-Noch nie, nie hatte er sich so furchtbar einsam gefühlt!
-
-Ja, er fühlte es noch einmal, daß er vielleicht Ssonja hassen werde, und
-zwar jetzt, wo er sie unglücklicher gemacht hatte.
-
-Warum war er zu ihr hingegangen? Um um ihre Tränen zu bitten? Warum
-mußte er so unbedingt ihr Leben verkümmern? Oh, welche Gemeinheit.
-
-»Ich bleibe allein!« -- sagte er plötzlich entschlossen, -- »und sie
-soll nicht ins Gefängnis zu mir kommen!«
-
-Nach etwa fünf Minuten erhob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Es
-war ein merkwürdiger Gedanke: -- »Vielleicht ist es in Sibirien
-tatsächlich besser.«
-
-Er erinnerte sich nicht, wie lange er in seinem Zimmer sich mit den
-einstürmenden unklaren Gedanken abgegeben hatte. Da öffnete sich
-plötzlich die Türe und Awdotja Romanowna trat herein. Sie blieb zuerst
-stehen und blickte ihn von der Schwelle an, so wie er gestern Ssonja
-angeblickt hatte; kam dann herein und setzte sich auf einen Stuhl, auf
-ihren gestrigen Platz, ihm gegenüber. Er sah sie schweigend und
-augenscheinlich gedankenlos an.
-
-»Sei mir nicht böse, Bruder, ich komme nur auf einen Augenblick,« --
-sagte Dunja.
-
-Der Ausdruck ihres Gesichtes war nachdenklich, aber nicht streng. Der
-Blick war klar und still. Er sah, daß auch sie mit Liebe zu ihm gekommen
-war.
-
-»Bruder, ich weiß jetzt alles, _alles_. Mir hat Dmitri Prokofjitsch
-alles erklärt und erzählt. Man verfolgt und quält dich mit einem dummen
-und schändlichen Verdacht! ... Dmitri Prokofjitsch hat mir gesagt, daß
-für dich keine Gefahr vorhanden sei, daß du dich unnütz mit solch einem
-Schrecken befassest. Ich denke nicht, wie er, ich _verstehe vollkommen_,
-wie alles in dir empört sein muß, und daß diese Empörung in dir für
-immer Spuren hinterlassen kann. Davor habe ich Angst. Ich verurteile
-dich nicht und darf dich nicht verurteilen, daß du uns verlassen hast,
-verzeih mir, daß ich dir dies vorgeworfen habe. Ich weiß selbst, daß
-auch ich von allen fortgehen würde, wenn ich solch einen großen Kummer
-hätte. Ich werde der Mutter _davon_ nichts sagen, will aber mit ihr
-immer über dich sprechen, und will in deinem Namen sagen, daß du sehr
-bald kommen wirst. Quäle dich nicht ihretwegen; _ich_ werde sie
-beruhigen; aber quäle auch sie nicht zu sehr, -- komm wenigstens noch
-einmal zu ihr; erinnere dich, daß sie unsere Mutter ist! Ich bin nur
-gekommen, um zu sagen,« -- Dunja stand auf, -- »daß, falls du irgendwie
-mich brauchen solltest und wenn es ... mein Leben gälte ... so rufe
-mich, ich werde kommen. Leb wohl!«
-
-Sie wandte sich schnell um und ging zur Türe.
-
-»Dunja!« -- rief Raskolnikoff, stand auf und ging zu ihr, -- »dieser
-Dmitri Prokofjitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.«
-
-Dunja errötete ein wenig.
-
-»Nun!« -- fragte sie nach einer Weile.
-
-»Er ist ein tüchtiger, fleißiger, ehrlicher Mensch und ist starker Liebe
-fähig ... Leb wohl, Dunja.«
-
-Dunja errötete, dann wurde sie unruhig.
-
-»Was ist dir, Bruder, trennen wir uns denn wirklich für immer, daß du
-mir ... solch ein Vermächtnis machst?«
-
-»Wie dem auch sei ... leb wohl ...«
-
-Er kehrte sich um und ging zum Fenster. Sie blieb eine Weile stehen, sah
-ihn sorgenvoll an und ging mit dem Gefühle der Angst hinaus.
-
-Er war ihr gegenüber nicht kälter! Es hatte einen Augenblick, in letzter
-Minute, gegeben, wo er die größte Lust verspürte, sie innig zu umarmen,
-von ihr _Abschied zu nehmen_ und ihr alles zu _sagen_, aber er wagte ihr
-nicht einmal die Hand zu reichen.
-
-»Sie würde vielleicht später noch erschauern bei dem Gedanken, daß ich
-sie umarmt habe, und würde sagen, daß ich ihr einen Kuß gestohlen
-hätte!«
-
-»Würde sie dies ertragen können oder nicht?« -- fügte er nach einigen
-Minuten hinzu. -- »Nein, sie würde es nicht ertragen können; eine
-_solche Natur_ nicht ...«
-
-Er dachte an Ssonja.
-
-Vom Fenster kam eine kühle Luft. Draußen war es nicht mehr hell. Er nahm
-seine Mütze und ging hinaus.
-
-Er konnte und wollte nicht auf seinen krankhaften Zustand achten. Aber
-diese ununterbrochenen Aufregungen und diese seelischen Erschütterungen
-konnten nicht ohne Folgen bleiben. Und wenn er noch nicht an einem
-heftigen Fieber daniederlag, so war es vielleicht darum, weil diese
-inneren ununterbrochenen Aufregungen ihn vorläufig noch aufrecht und bei
-Bewußtsein hielten.
-
-Er irrte ziellos herum. Die Sonne ging unter. Eine eigenartige Angst
-begann in der letzten Zeit seiner Seele sich zu bemächtigen. Es war kein
-bohrender oder brennender Schmerz; etwas Beständiges oder Bleibendes
-aber ging von ihm aus; die Ahnung einer Reihe endloser kalter, toter
-Jahre lag darinnen, einer Ewigkeit auf dem »ellenbreiten Raume«. In den
-Abendstunden war dieses Gefühl stärker und peinvoller.
-
-»Und mit diesen dummen, rein physischen Schwächen, die vom
-Sonnenuntergang abhängen konnten, soll man sich vor Dummheiten hüten! Da
-läuft man dann nicht bloß zu Ssonja hin, auch zu Dunja!« -- murmelte er
-haßerfüllt vor sich hin. Man rief ihn beim Namen. Er blickte sich um;
-Lebesjätnikoff eilte auf ihn zu.
-
-»Denken Sie, ich war bei Ihnen, ich suchte Sie. Stellen Sie sich vor,
-sie hat wirklich ihre Absicht ausgeführt und die Kinder mitgenommen. Ich
-habe sie mit Ssofja Ssemenowna nur mit Mühe gefunden. Sie selbst schlägt
-auf eine Pfanne, und läßt die Kinder tanzen. Die Kinder weinen. Sie
-bleiben an Straßenecken und vor Läden stehen. Das dumme Volk läuft ihnen
-nach. Wir wollen hingehen!«
-
-»Und Ssonja?« -- fragte Raskolnikoff unruhig und eilte Lebesjätnikoff
-nach.
-
-»Sie ist ganz außer sich. Nicht Ssofja Ssemenowna, sondern Katerina
-Iwanowna ist außer sich; aber auch Ssofja Ssemenowna ist außer sich.
-Katerina Iwanowna ist aber ganz und gar aufgelöst. Ich sage Ihnen, sie
-ist vollkommen verrückt. Man wird sie noch zur Polizei bringen. Sie
-können sich vorstellen, wie das erst auf sie wirken wird ... Jetzt sind
-sie am Kanal bei der N.schen Brücke, gar nicht weit von Ssofja
-Ssemenownas Wohnung.«
-
-Am Kanal, nicht weit von der Brücke und zwei Häuser von der Wohnung
-Ssonjas entfernt, hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt.
-Besonders Knaben und Mädchen liefen hin. Von der Brücke aus konnte man
-die heisere, überanstrengte Stimme von Katerina Iwanowna hören. Es war
-ein merkwürdiges Schauspiel, fähig, das Straßenpublikum zu fesseln.
-Katerina Iwanowna hatte ihr altes, abgetragenes Kleid an, einen Schal
-umgelegt und einen zerrissenen Strohhut auf; sie war tatsächlich ganz
-außer sich. Dabei war sie müde und rang nach Atem. Ihr abgehärmtes
-schwindsüchtiges Gesicht sah noch leidender aus; außerdem sieht ein
-Schwindsüchtiger draußen im Sonnenlicht stets kränklicher und mehr
-entstellt aus als zu Hause, -- ihr aufgeregter Zustand nahm kein Ende,
-sie wurde mit jedem Augenblicke gereizter. Bald stürzte sie sich auf die
-Kinder, schrie sie an, redete ihnen zu, lehrte sie auf der Straße in
-Gegenwart aller, wie sie tanzen und was sie singen sollten, begann ihnen
-zu erklären, warum dies nötig sei, geriet in Verzweiflung, daß sie nicht
-begreifen wollten, und schlug sie ... Dann stürzte sie wieder ins
-Publikum, -- wenn sie einen einigermaßen besser gekleideten Menschen
-entdeckte, der stehen blieb, um sich die Sache anzusehen, beeilte sie
-sich sofort, ihm zu erklären, daß es so weit, -- mit -- den Kindern »aus
-einem feinen, man kann sogar sagen aristokratischen Hause,« gekommen
-war. Wenn sie unter den Zuschauern Lachen oder ein freches Wort hörte,
-wandte sie sich sofort an die Dreisten und begann sie zu schelten.
-Einige lachten darüber, andere wieder schüttelten die Köpfe; aber allen
-war es interessant, die Wahnsinnige mit ihren erschrockenen Kindern
-anzusehen. Die Pfanne, die Lebesjätnikoff erwähnt hatte, war nicht da;
-Raskolnikoff sah sie wenigstens nicht. Katerina Iwanowna schlug den Takt
-nicht auf einer Pfanne, sondern mit ihren mageren Händen, wenn sie
-Poletschka zum singen und Lene und Kolja zum tanzen veranlaßte. Sie fing
-selbst an mitzusingen, wurde jedoch jedesmal beim zweiten Tone von einem
-quälenden Husten unterbrochen; dann wurde sie von neuem verzweifelt,
-fluchte ihrem Husten und weinte sogar. Am meisten brachte sie das Weinen
-und die Angst Koljas und Lenes auseinander. Sie hatte wirklich den
-Versuch gemacht, die Kinder aufzuputzen, wie Straßentänzer und Gaukler.
-Der Knabe hatte einen Turban aus rotem und weißem Stoff, damit er einem
-Türken ähnle. Für Lene reichte es zu einem Kostüm nicht aus; sie hatte
-nur ein rotes, gestricktes Käppchen des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch
-auf dem Kopfe und an dieses Käppchen war eine abgebrochene Straußfeder
-befestigt worden, die noch der Großmutter von Katerina Iwanowna gehört
-hatte und die bis jetzt, als ein altes Familienstück, im Koffer
-aufbewahrt wurde. Poletschka war in ihrem gewöhnlichen Kleidchen. Sie
-blickte schüchtern und weltvergessen die Mutter an, wich nicht von ihrer
-Seite, verbarg die Tränen, ahnend, daß die Mutter wahnsinnig geworden
-sei, und sah unruhig um sich. Die Straße und die Menschenmenge hatten
-sie äußerst erschreckt. Ssonja wich keinen Schritt von Katerina
-Iwanowna, weinte und flehte sie an, nach Hause zurückzukehren. Katerina
-Iwanowna aber blieb unerbittlich.
-
-»Höre auf, Ssonja, höre auf!« -- schrie sie hastig, außer Atem und
-hustend. -- »Du weißt selbst nicht, was du bittest, du bist wie ein
-Kind! Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich zu dieser vertrunkenen
-Deutschen nicht zurückkehren will. Mögen alle, ganz Petersburg sehen,
-wie die Kinder eines edlen Vaters, der sein ganzes Leben treu und
-redlich gedient hat, und man kann sagen, im Dienste gestorben ist,
-betteln gehen müssen.« -- Katerina Iwanowna hing schon an dieser
-Erfindung eigener Phantasie mit blindem Glauben. -- »Mag es nur dieser
-schändliche Kerl von einem General sehen. Ja, du bist dumm, Ssonja, --
-was sollen wir denn essen, sage mir? Wir haben dich genug gepeinigt, ich
-will es nicht mehr! Ach, Rodion Romanowitsch, Sie sind es!« -- rief sie
-aus, als sie Raskolnikoff erblickte, und stürzte zu ihm hin, --
-»erklären Sie bitte dieser dummen kleinen Person, daß wir nichts
-klügeres tun konnten! Sogar Leierkastenmänner verdienen, bei uns aber
-werden alle bemerken und erfahren, daß wir eine arme feine Familie und
-Waisen sind, die an den Bettelstab gebracht wurden, und dieser Kerl von
-einem General wird seine Stelle verlieren. Sie werden es sehen! Wir
-werden jeden Tag vor seinen Fenstern stehen, und wenn der Kaiser
-vorbeifahren wird, will ich mich auf die Knie werfen und auf die Kinder
-will ich zeigen und sagen: -- >Schütze sie, Vater!< Er ist der Vater
-aller Waisen, er ist barmherzig, er wird sie schützen, Sie werden es
-sehen, und diesen Kerl von einem General ... Lene! _Tenez vous
-droite!_{[11]} Du, Kolja, wirst sofort wieder tanzen. Was heulst du? Er
-heult wieder! Nun, warum fürchtest du dich, Dummköpfchen! Oh, Gott! Was
-soll ich mit ihnen tun, Rodion Romanowitsch! Wenn Sie wüßten, wie
-unvernünftig sie sind! Was soll man mit ihnen tun! ...«
-
-Und sie zeigte, fast weinend, was sie jedoch nicht hinderte,
-ununterbrochen und unaufhörlich zu reden, -- auf die schluchzenden
-Kinder. Raskolnikoff versuchte sie zu überreden, nach Hause zu gehen und
-sagte ihr sogar, in der Meinung auf ihre Eigenliebe zu wirken, daß es
-für sie unpassend sei, wie Leierkastenleute in den Straßen
-umherzuziehen, weil sie doch beabsichtigte, die Vorsteherin einer
-Pension für junge Mädchen aus besseren Ständen ...
-
-»Einer Pension für junge Mädchen, ha! ha! ha! Was weit herkommt, hat gut
-lügen -- sagt das Sprichwort!« -- rief Katerina Iwanowna aus; nach dem
-Lachen überfiel sie ein starker Husten, -- »nein, Rodion Romanowitsch,
-der Traum ist vorüber! Alle haben uns verlassen! ... Und dieser Kerl von
-einem General ... Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, ich habe ihm ein
-Tintenfaß an den Kopf geworfen, -- es stand gerade eins da, im
-Vorzimmer, neben dem Buche, wo alle ihre Namen eintragen, auch ich habe
-mich eingetragen, ich warf ihm das Tintenfaß an den Kopf und lief davon.
-Oh, gemeine, niederträchtige Menschen! Ich pfeife auf sie alle, ich will
-selbst die da füttern, will niemanden mehr anbetteln! Wir haben sie
-genug gequält!« -- und sie wies auf Ssonja. -- »Poletschka, wieviel
-haben wir eingesammelt, zeige mir mal! Wie? Bloß zwei Kopeken? Oh,
-schändliche Menschen! Sie geben nichts, laufen uns bloß mit
-ausgestreckter Zunge nach! Nun, was lacht dieser Holzklotz?« -- sie
-zeigte auf einen in der Menge. -- »Das kommt alles daher, weil Kolja so
-einfältig ist, man hat nur Schererei mit ihm! Was willst du, Poletschka?
-Sprich mit mir französisch, _parlez moi français_{[12]}. Ich habe dich
-doch gelehrt, du kennst doch einige Sätze! ... Wie kann man denn
-erkennen, daß ihr aus feiner Familie, wohlerzogene Kinder seid und keine
-Leierkastenleute. Wir machen doch kein Kasperletheater auf den Straßen,
-wir wollen eine schöne feine Romanze singen ... Ach ja! Was sollen wir
-denn singen? Ihr unterbrecht mich in einem fort, wir sind ... sehen Sie,
-Rodion Romanowitsch, wir sind hier stehen geblieben, um auszusuchen, was
-wir singen sollen, -- etwas, was auch Kolja vortanzen kann ... denn
-alles machen wir, Sie können es sich vorstellen, ohne Vorbereitungen.
-Wir wollen uns besprechen, um alles ordentlich durchzunehmen, dann gehen
-wir auf den Newski Prospekt, wo es bedeutend mehr Menschen aus der
-höchsten Gesellschaft gibt, die uns sofort bemerken werden. Lene kennt
-das Lied >Die Troika< ... Aber das kann man doch nicht immerwährend
-singen, die ganze Welt singt es ja! Wir müssen etwas viel Besseres
-singen ... Nun, was meinst du, Poletschka, du könntest doch der Mutter
-helfen! Ich erinnere mich an nichts mehr, ich habe alles vergessen! Ach,
-wollen wir doch französisch >_Cinq sous_<{[13]} singen! Ich habe es euch
-doch gelehrt! Und da es französisch ist, werden alle sofort sehen, daß
-ihr adlige Kinder seid, und das ist bedeutend rührender ... Wir könnten
-sogar >_Malbrough s'en va-t-en guerre!_{[14]}< singen, da es ein
-ausgesprochenes Kinderlied ist und in allen aristokratischen Häusern
-gesungen wird, wenn die Kinder zum Schlafen gebracht werden.«
-
- _Malbrough s'en va-t-en guerre_
- _Ne sait quand reviendra ..._{[14]}
-
-begann sie zu singen ... »Nein, es ist besser >_Cinq sous!_{[13]}< Nun,
-Kolja, stemme die Händchen in die Seiten, aber schneller, und du Lene,
-drehe dich in entgegengesetzter Richtung, ich werde mit Poletschka
-singen und in die Hände klatschen!
-
- _Cinq sous, cinq sous_
- _Pour monter notre ménage ..._{[15]}
-
-Kche--kche--kche!« (Und sie krümmte sich vor Husten.) »Bring dein Kleid
-in Ordnung, Poletschka, die Schultern sind entblößt,« bemerkte sie,
-zwischen dem Husten atemholend. -- »Ihr müßt euch jetzt besonders
-anständig und in feinem Tone benehmen, damit es alle sehen, daß ihr
-adlige Kinder seid. Ich habe damals gesagt, daß man die Taille länger
-und in doppelter Breite zuschneiden soll. Du kamst aber mit deinen
-Ratschlägen, Ssonja, -- es kürzer und kürzer zu machen, nun jetzt siehst
-du, ist das Kind völlig verunstaltet ... Ihr weint wieder! Ja, warum
-weint ihr Dummen! Kolja, fang schneller an, schneller, -- ach, wie dies
-Kind unerträglich ist! ...
-
- _Cinq sous, cinq sous --_{[13]}
-
-Wieder ein Schutzmann! Nun, was willst du?«
-
-Es drängte sich ein Schutzmann durch die Menge. Gleichzeitig näherte
-sich ihr ein Herr im Dienstrocke und Mantel, ein höherer Beamter, mit
-einem Orden am Halsbande -- dieser Umstand war Katerina Iwanowna sehr
-erwünscht und hatte selbst Einfluß auf den Schutzmann, -- und
-überreichte ihr schweigend einen grünen Dreirubelschein. Sein Gesicht
-drückte aufrichtiges Mitleid aus. Katerina Iwanowna nahm das Geld und
-verbeugte sich höflich, fast förmlich.
-
-»Ich danke Ihnen, mein Herr,« begann sie von oben herab, »die Gründe,
-die uns gezwungen haben ... nimm das Geld, Poletschka. Du siehst, es
-gibt noch edle und großmütige Menschen, die sofort bereit sind, einer
-armen adligen Dame im Unglücke zu helfen. Sie sehen adlige Waisen vor
-sich, mein Herr, man kann sogar sagen, mit aristokratischsten
-Verbindungen ... Und dieser Kerl von einem General saß am Tische und aß
-Haselhühner ... stampfte mit den Füßen, weil ich ihn gestört habe ...
->Eure Exzellenz,< sagte ich, >schützen Sie die Waisen, da Sie den
-verstorbenen Ssemjon Sacharytsch gut kannten,< sagte ich, >und weil der
-gemeinste aller Schufte seine leibliche Tochter an seinem Todestage
-verleumdet hat ...< Wieder kommt dieser Schutzmann! Schützen Sie mich!«
-rief sie dem Beamten zu, -- »was will dieser Schutzmann von mir? Wir
-sind schon vor einem weggelaufen ... Nun, was geht es dich an,
-Dummkopf!«
-
-»Es ist in den Straßen verboten. Machen Sie keinen Skandal!«
-
-»Du bist selbst ein Skandalmacher! Ich gehe herum, wie jeder
-Leierkastenmann, was geht es dich an?«
-
-»Zu einem Leierkasten muß man eine Erlaubnis haben. Sie sammeln aber in
-dieser Weise das Volk an. Wo wohnen Sie?«
-
-»Wie, Erlaubnis,« schrie Katerina Iwanowna. -- »Ich habe heute meinen
-Mann beerdigt, was ist da für eine Erlaubnis nötig!«
-
-»Bitte, beruhigen Sie sich, Madame,« begann der vornehme Beamte, »kommen
-Sie, ich will Sie begleiten ... Hier unter den Leuten ist es unpassend
-... Sie sind krank ...«
-
-»Mein Herr, mein Herr, Sie wissen gar nicht!« schrie Katerina Iwanowna,
-»wir wollen auf den Newski Prospekt gehen ... Ssonja, Ssonja! Wo ist sie
-denn? Sie weint auch! Was ist denn mit euch allen! ... Kolja, Lene,
-wohin geht ihr denn?« rief sie plötzlich im Schreck, »oh, die dummen
-Kinder! Kolja, Lene, ja, wohin laufen sie denn? ...«
-
-Als Kolja und Lene, bis aufs äußerste von der Menschenmenge und von der
-wahnsinnigen Mutter erschreckt, den Schutzmann erblickten, der sie
-nehmen und irgendwohin führen wollte, faßten sie einander wie auf
-Verabredung an den Händchen und liefen davon. Mit Geschrei und Weinen
-stürzte die arme Katerina Iwanowna ihnen nach, um sie einzuholen. Es war
-widerwärtig und traurig zu sehen, wie sie weinend und keuchend lief.
-Ssonja und Poletschka eilten ihr nach.
-
-»Bring sie zurück, bring sie zurück, Ssonja! Oh, die dummen, undankbaren
-Kinder! ... Polja! Fange sie ein ... Ich habe es doch für euch ...«
-
-Sie stolperte im vollen Laufe und fiel hin.
-
-»Sie hat sich blutig geschlagen! Oh, Gott!« rief Ssonja aus, sich über
-sie beugend.
-
-Alle liefen hin und drängten sich um sie. Raskolnikoff und
-Lebesjätnikoff waren als die ersten zur Stelle, der Beamte eilte auch
-hinzu und ihm folgte der Schutzmann, der etwas wie »Ach ja!« brummte und
-den Kopf schüttelte, in der Vorahnung, daß die Sache ihm viel zu
-schaffen machen würde.
-
-»Geht weiter, geht!« er jagte die Menschen, die umherstanden,
-auseinander.
-
-»Sie stirbt!« rief jemand.
-
-»Sie hat den Verstand verloren!« sagte ein anderer.
-
-»Gott schütze sie!« bemerkte eine Frau und schlug ein Kreuz. -- »Hat man
-den Jungen und das Mädel gekriegt? Ja, da bringt man sie, die älteste
-hat sie eingeholt ... Was ihnen nur einfiel!«
-
-Als man aber Katerina Iwanowna näher betrachtet hatte, sah man, daß sie
-sich gar nicht an den Steinen blutig geschlagen hatte, wie Ssonja
-angenommen, sondern daß das Blut, das den Fahrdamm besudelte, aus Brust
-und Mund kam.
-
-»Das kenne ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte leise zu Raskolnikoff
-und Lebesjätnikoff, »das ist Schwindsucht; das Blut stürzt hervor und
-man erstickt. Einer Verwandten von mir ist es jüngst ähnlich gegangen,
-ich habe es selbst gesehen, ein halbes Glas kam ... und so plötzlich ...
-Was soll man tun, sie wird gleich sterben.«
-
-»Bringt sie zu mir, hier in der Nähe!« flehte Ssonja, »ich wohne hier
-... in dem Hause, das zweite von hier ... Schnell, schnell! ...« wandte
-sie sich aufgeregt an alle. »Holt einen Arzt ... Oh Gott!«
-
-Dank der Bemühungen des Beamten ging die Sache glatt vor sich, sogar der
-Schutzmann half Katerina Iwanowna hinübertragen. Man brachte sie fast
-tot in Ssonjas Zimmer und legte sie auf das Bett. Das Blut hörte noch
-nicht auf zu fließen, aber Katerina Iwanowna kam langsam zu sich. In das
-Zimmer traten gleichzeitig außer Ssonja, Raskolnikoff und
-Lebesjätnikoff, der Beamte und der Schutzmann, nachdem er vorher die
-Menge auseinandergejagt hatte, von der einige bis zur Türe gefolgt
-waren. Poletschka kam auch mit Kolja und Lene, die zitterten und
-weinten; sie hielt sie an den Händen. Auch von Kapernaumoff kamen Leute,
-er selbst, lahm und krumm, von seltsamem Aussehen mit borstigen Haaren
-und Backenbart; seine Frau, die immer ein erschrockenes Aussehen hatte
-und einige ihrer Kinder mit offenem Munde und immer erstauntem,
-hölzernem Gesichtsausdruck. Unter diesem Publikum befand sich auch
-Sswidrigailoff. Raskolnikoff blickte ihn verwundert an, ohne zu
-begreifen, wie er hierher gekommen sei, da er sich seiner unter der
-Menge nicht entsann. Man sprach davon, einen Arzt und einen Priester
-holen zu lassen. Obwohl der Beamte Raskolnikoff auch zugeflüstert hatte,
-daß ein Arzt, wie es ihm schien, jetzt wohl überflüssig sei, sandte man
-doch nach ihm. Kapernaumoff lief selbst fort.
-
-Unterdessen war Katerina Iwanowna zu sich gekommen und das Blut hörte
-für eine Weile auf zu fließen. Sie sah unverwandt mit einem
-schmerzlichen und durchdringenden Blick auf die bleiche und bebende
-Ssonja, die ihr mit einem Taschentuche die Schweißtropfen auf der Stirn
-abtrocknete; schließlich bat sie, man möge sie aufrichten. Man setzte
-sie auf und stützte sie von beiden Seiten.
-
-»Wo sind die Kinder?« fragte sie mit schwacher Stimme. -- »Hast du sie
-gebracht, Polja? Oh, ihr dummen ... Warum lieft ihr fort ... Ach!«
-
-Blut bedeckte noch ihre trockenen Lippen. Sie blickte sich um.
-
-»Also, hier lebst du, Ssonja! Ich war nie bei dir gewesen ... jetzt erst
-bin ich dazu gekommen ...«
-
-Sie blickte sie unendlich traurig an.
-
-»Wir haben dich ausgesaugt, Ssonja ... Polja, Lene, Kolja, kommt her ...
-Da sind sie alle, Ssonja, nimm sie ... aus meiner Hand ... ich bin
-fertig! ... Das Fest ist aus! H--a ... Legt mich nieder und laßt mich
-wenigstens ruhig sterben ...«
-
-Man legte sie wieder auf die Kissen zurück.
-
-»Was? Einen Priester? ... Ist nicht nötig. Habt ihr einen überflüssigen
-Rubel? ... Ich habe keine Sünden! ... Gott muß mir auch ohnedem vergeben
-... Er weiß, wie ich gelitten habe! ... Und wenn er nicht vergibt, so
-ist es auch gut! ...«
-
-Ein unruhiges Phantasieren bemächtigte sich ihrer mehr und mehr.
-Zuweilen fuhr sie auf, blickte um sich, erkannte alle auf einen
-Augenblick, und das Bewußtsein schwand wieder. Sie atmete schwer und
-röchelnd.
-
-»Ich sagte ihm: >Ew. Exzellenz!< ...!« rief sie und holte nach jedem
-Worte Atem, »diese Amalie Ludwigowna ... ach! Lene, Kolja! Die Händchen
-in die Hüften, schneller, schneller, _glissez, glissez, pas de
-basque_!{[16]} Stampf mit den Füßchen ... Sei ein graziöses Kind.
-
- Du hast Diamanten und Perlen ...
-
-Wie geht es weiter? Das sollten wir singen ...
-
- Du hast die schönsten Augen
- Mädchen, was willst du noch mehr? ...
-
-Das ist nicht ganz richtig! Was willst du noch mehr -- was sich dieser
-Holzklotz dabei gedacht hat? ... -- Ach ja, oder ein anderes Lied
-
- In mittäglicher Glut ...
-
-Ach, wie ich es liebte ... Ich habe dieses Lied sehr geliebt,
-Poletschka! ...
-
- In mittäglicher Glut im Tale Daghestans ...
-
-Weißt du, dein Vater sang es ... als Bräutigam noch ... Oh, die Tage!
-... Das sollten wir singen! Nun, wie heißt es denn ... ich habe es
-vergessen ... helft mir doch dabei ... wie heißt es denn?« -- Sie war in
-furchtbarer Erregung und versuchte aufzustehen. Mit schrecklicher,
-heiserer und überschnappender Stimme, bei jedem Worte außer Atem,
-schreiend und mit einer sich steigernden Angst begann sie zu singen:
-
- »In mittäglicher Glut ... im Tale ... Daghestans ...
- Mit Blei in der Brust ...
-
-Ew. Exzellenz!« schrie sie plötzlich herzzerreißend und in Tränen
-ausbrechend, »schützen Sie die Waisen! Eingedenk der Gastfreundschaft
-des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch! ... Man kann sogar sagen, aus
-einem aristokratischen ... Ha--a!« fuhr sie auf, zur Besinnung kommend
-und betrachtete alle mit Entsetzen, erkannte aber sofort Ssonja. --
-»Ssonja, Ssonja!« sagte sie sanft und freundlich, als wäre sie erstaunt,
-sie vor sich zu sehen, »Ssonja, liebe Ssonja, du bist auch hier?«
-
-Man richtete sie wieder auf.
-
-»Genug! ... Es ist Zeit! ... Lebwohl, Armselige! ... Die Stute ist
-abgehetzt! ... Zu Tode gehetzt!« rief sie verzweifelt und haßerfüllt aus
-und fiel mit dem Kopfe auf das Kissen zurück.
-
-Sie verlor von neuem das Bewußtsein, und ohne es wieder erlangt zu
-haben, fiel ihr blaßgelbes abgemagertes Gesicht nach hinten, der Mund
-öffnete sich, die Füße streckten sich krampfhaft aus. Sie stöhnte tief
-auf und starb.
-
-Ssonja warf sich auf die Leiche, faßte sie mit den Händen, lehnte den
-Kopf an die magere Brust der Verstorbenen und verharrte so lange.
-Poletschka fiel zu den Füßen der Mutter nieder und küßte sie laut
-schluchzend. Kolja und Lene, die noch nicht verstanden hatten, was
-geschehen war, aber etwas Schreckliches ahnten, faßten einander mit
-beiden Händen an den Schultern, starrten einander in die Augen und
-begannen zu schreien. Beide waren noch aufgeputzt, -- er im Turban, sie
-in dem Käppchen mit der Straußenfeder.
-
-Und wie kam das Ehrendiplom auf das Bett neben Katerina Iwanowna hin? Es
-lag neben dem Kissen, Raskolnikoff hatte es gesehen.
-
-Er ging zum Fenster. Lebesjätnikoff kam eilig zu ihm.
-
-»Sie ist gestorben!« sagte Lebesjätnikoff.
-
-»Rodion Romanowitsch, ich muß Ihnen ein paar wichtige Worte sagen,« trat
-Sswidrigailoff heran.
-
-Lebesjätnikoff trat ihm sofort seinen Platz ab und verschwand
-zartfühlend. Sswidrigailoff führte den erstaunten Raskolnikoff in eine
-abgelegene Ecke hin.
-
-»Diese ganze Schererei, das heißt die Beerdigung und alles übrige nehme
-ich auf mich. Wissen Sie, es kommt doch bloß auf das Geld an, und ich
-habe Ihnen doch gesagt, daß ich überflüssiges habe. Diese zwei
-Sprößlinge und diese Poletschka will ich in einer besseren Anstalt für
-Waisenkinder unterbringen und will für jeden bis zur Volljährigkeit
-fünfzehnhundert Rubel in eine Bank einzahlen, so daß Ssofja Ssemenowna
-vollkommen unbesorgt sein kann. Auch sie will ich aus dem Pfuhle
-herausziehen, denn sie ist ein gutes Mädchen, nicht wahr? Und so teilen
-Sie Awdotja Romanowna mit, daß ich ihre zehntausend in dieser Weise
-verbraucht habe.«
-
-»Welche Absichten verfolgen Sie bei diesen übergroßen Guttaten?« fragte
-Raskolnikoff.
-
-»Ach! Sie mißtrauischer Mensch!« lachte Sswidrigailoff. -- »Ich habe
-doch gesagt, daß dieses Geld bei mir überflüssig liegt. Einfach aus
-Menschlichkeit, das lassen Sie bei mir nicht gelten? Sie war doch keine
->Laus< gewesen -- (er zeigte mit dem Finger auf die Ecke, wo die
-Verstorbene lag) -- wie irgendeine alte Wucherin. Gestehen Sie doch
-selbst, -- >soll Luschin tatsächlich weiterleben und Scheußlichkeiten
-verüben, oder sie sterben?< Und wenn ich nicht helfe, so muß doch
-Poletschka den nämlichen Weg gehen ...«
-
-Er sagte es spöttisch mit zugekniffenen Augen und ohne den Blick von
-Raskolnikoff abzuwenden. Raskolnikoff erbleichte, es durchzog ihn ein
-Schauer, als er seine eigenen Worte wieder hörte, die er zu Ssonja
-gesprochen hatte. Er fuhr zurück und blickte Sswidrigailoff fassungslos
-an.
-
-»Wo--woher ... wissen Sie?« flüsterte er, kaum atmend.
-
-»Ich wohne ja hier, hinter der Wand bei Madame Rößlich. Hier wohnt
-Kapernaumoff und dort Madame Rößlich, eine alte und sehr ergebene
-Bekannte von mir. Ich bin ihr Nachbar.«
-
-»Sie?«
-
-»Ja, ich,« fuhr Sswidrigailoff fort, sich vor Lachen schüttelnd, »und
-ich kann Sie auf Ehre versichern, lieber Rodion Romanowitsch, daß Sie
-mich kolossal interessiert haben. Ich habe doch gesagt, daß wir einander
-näher kommen werden, ich habe es Ihnen vorausgesagt, -- nun sind wir
-auch einander näher gekommen. Und Sie werden sehen, wie verträglich ich
-bin. Sie werden sehen, daß es sich mit mir noch leben läßt ...«
-
-
-
-
- Sechster Teil
-
-
- I.
-
-Für Raskolnikoff war eine merkwürdige Zeit angebrochen. -- Es war, als
-wäre plötzlich ein schwerer Nebel auf ihn herabgesunken und hätte für
-ihn eine undurchdringliche und tiefe Einsamkeit beschlossen. Als er
-später, lange nachher, sich dieser Zeit entsann, dachte er es sich so,
-daß sein Bewußtsein zeitweise sich verdunkelte und daß dies mit wenigen
-Unterbrechungen bis zur endgültigen Katastrophe gedauert hatte. Er war
-vollkommen überzeugt, daß er sich damals öfters geirrt haben müsse, zum
-Beispiel in der Zeit und der Dauer verschiedener Ereignisse. Wenigstens,
-als er sich späterhin auf dies oder jenes besinnen wollte und sich das
-Erinnerte zu erklären versuchte, erfuhr er vieles über sich selbst,
-indem er sich nach den Mitteilungen richtete, die er von anderen
-erhalten. So verwechselte er ein Ereignis z. B. mit einem anderen; ein
-anderes hielt er für die Folge eines Vorfalls, der nur in seiner
-Einbildung existierte. Zuweilen erfaßte ihn eine qualvolle Unruhe, die
-sich zu einem panischen Schrecken steigern konnte. Er entsann sich auch,
-daß es Minuten, Stunden, vielleicht sogar ganze Tage gab, die er im
-Gegensatz zu der Angst, in völliger Apathie verbrachte, -- eine Apathie,
-die dem schmerzhaft gleichgültigen Zustand Sterbender ähnlich war.
-Überhaupt trieb es ihn in diesen letzten Tagen, einem klaren und vollen
-Verständnis seiner Lage aus dem Wege zu gehen; alltägliche Dinge, die
-eine unverzügliche Erledigung verlangten, lasteten auf ihm; wie froh
-wäre er dagegen gewesen, von manchen Sorgen sich befreien und loslösen
-zu können, die im Falle ihrer Vernachlässigung ihm den völligen,
-unvermeidlichen Untergang bringen mußten.
-
-Am meisten beunruhigte ihn Sswidrigailoff, -- ja, man konnte sagen, daß
-Sswidrigailoff seine einzige Sorge war. Seit der Zeit, als er von
-Sswidrigailoff in Ssonjas Zimmer, in Katerina Iwanownas Todesstunde die
-drohenden und unzweideutigen Worte gehört hatte, schien der gewöhnliche
-Fluß seiner Gedanken gestört zu sein. Und obgleich ihn diese neue
-Tatsache äußerst beunruhigte, beeilte sich Raskolnikoff nicht, die Sache
-aufzuklären. Zuweilen, wenn er sich irgendwo in einem abgelegenen und
-menschenleeren Stadtteile, in einem kläglichen Restaurant an einem
-Tische allein in Gedanken versunken vorfand und sich kaum entsann, wie
-er hierher gekommen war, fiel ihm mit einem Male Sswidrigailoff ein, --
-er sah nur zu deutlich ein, daß er sich möglichst schnell mit diesem
-Menschen verständigen und zu einem Ende mit ihm kommen müsse. Einmal,
-als er vor die Stadt geraten war, bildete er sich sogar ein, daß er hier
-Sswidrigailoff erwarte, daß sie hier eine Zusammenkunft verabredet
-hätten. Ein anderes Mal erwachte er vor Tagesanbruch irgendwo auf der
-Erde im Gebüsch und begriff nicht, wie er hierhergekommen war. In den
-zwei, drei auf Katerina Iwanownas Tode folgenden Tagen hatte er ein
-paarmal Sswidrigailoff getroffen, fast immer in der Wohnung Ssonjas,
-wohin er ziellos, stets aber nur einen kurzen Augenblick gegangen war.
-Sie wechselten stets einige kurze Worte und berührten kein einziges Mal
-den Hauptpunkt, als wäre es zwischen ihnen so verabredet worden,
-vorläufig darüber zu schweigen. Die Leiche von Katerina Iwanowna lag
-noch im offenen Sarge. Sswidrigailoff gab die Anordnungen für die
-Beerdigung und sorgte für alles. Ssonja war auch sehr in Anspruch
-genommen. Bei der letzten Begegnung hatte Sswidrigailoff ihm mitgeteilt,
-daß er die Frage bezüglich der Kinder Katerina Iwanownas gelöst habe und
-sehr glücklich sei, daß dank einiger Verbindungen alle drei Waisen
-sofort in sehr anständige Anstalten untergebracht werden könnten und daß
-das für sie deponierte Geld viel dazu beigetragen habe, weil wohlhabende
-Waisen leichter als arme unterzubringen seien. Er redete auch über
-Ssonja, versprach Raskolnikoff in den nächsten Tagen selbst aufzusuchen,
-um sich mit ihm zu beraten, da in dieser Angelegenheit Notwendiges zu
-besprechen sei.
-
-Das Gespräch fand im Korridor, an der Treppe statt. Sswidrigailoff sah
-unverwandt Raskolnikoff in die Augen und fragte ihn nach einigem
-Schweigen mit gesenkter Stimme.
-
-»Was ist mit Ihnen, Rodion Romanowitsch, Sie sind so vollkommen
-verändert? Wirklich! Sie hören zu und schauen einen dabei an, scheinen
-aber nichts zu verstehen. Geben Sie acht auf sich. Wir wollen einmal
-miteinander sprechen; schade nur, daß ich jetzt so viel für andere und
-für mich selbst zu tun habe ... Ach, Rodion Romanowitsch,« fügte er
-unmittelbar hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft ... Vor
-allen Dingen!«
-
-Er trat zur Seite, um den eben heraufkommenden Priester und den Küster
-vorbeizulassen. Sie kamen, die Totenmesse zu halten. Sswidrigailoff
-hatte angeordnet, daß pünktlich zweimal am Tage Totenmessen abgehalten
-würden. Sswidrigailoff ging seinen Angelegenheiten nach und Raskolnikoff
-blieb eine Weile stehen, dachte nach und folgte dann dem Priester in
-Ssonjas Wohnung.
-
-Er blieb an der Türe stehen. Der Gottesdienst begann leise, andächtig,
-traurig. In dem Bewußtsein, sterben zu müssen und in der Empfindung der
-Gegenwart des Todes lag für ihn stets, von früher Kindheit an, etwas
-Schweres, Drückendes und Mystisches, und er hatte seit langem keiner
-Totenmesse mehr beigewohnt. Außerdem peinigte ihn noch ein anderes
-Gefühl. Er sah auf die Kinder, -- sie lagen alle vor dem Sarge auf den
-Knien und Poletschka weinte. Hinter ihnen stand Ssonja, still und
-schüchtern weinend und betete.
-
-»Sie hat mich in diesen Tagen kein einziges Mal angeblickt und mir noch
-kein Wort gesagt,« dachte Raskolnikoff. Die Sonne beleuchtete hell das
-Zimmer; der Weihrauch stieg in feinen Wolken empor; der Priester las
-»Gott schenke dir Ruhe ...« Raskolnikoff blieb während des ganzen
-Gottesdienstes. Als der Priester den Segen erteilte und sich
-verabschiedete, blickte er sich eigentümlich um. Nach Beendigung der
-Messe trat Raskolnikoff an Ssonja heran. Sie nahm plötzlich seine beiden
-Hände und lehnte den Kopf an seine Schulter. Diese kurze Bewegung
-überraschte ihn. Wie? war es möglich? -- Nicht der geringste Widerwille,
-nicht der geringste Ekel ihm gegenüber, nicht das leiseste Beben ihrer
-Hand. War das nicht eine grenzenlose Demütigung seines eigenen Ichs. In
-dieser Weise faßte er es auf. Ssonja sagte nichts und Raskolnikoff
-drückte ihr nur die Hand und ging fort. Ihm war schwer zumute. Hätte er
-in diesem Augenblicke irgendwohin gehen können, um völlig allein zu
-bleiben, und selbst fürs ganze Leben, er würde sich glücklich gepriesen
-haben. Trotzdem er in der letzten Zeit fast immer allein war, war er
-nicht imstande, ein Fürsichsein zu empfinden. Er ging öfters außerhalb
-der Stadt auf Landwegen herum, einmal sogar war er in einen Wald
-geraten, aber je einsamer der Ort war, desto stärker empfand er die
-beunruhigende Nähe von irgend etwas, das wohl nichts furchterweckendes,
-wohl aber etwas belästigendes war, so daß er jedesmal schneller in die
-Stadt zurückkehrte, sich unter die Menschen mischte, in Restaurants oder
-Schenken ging, den Trödelmarkt oder den Heumarkt aufsuchte. Hier ward es
-ihm leichter und hier fühlte er sich allein. Eines Tages war er in einer
-Schenke, wo man kurz vor Abend zu singen begann; er blieb eine ganze
-Stunde sitzen, hörte zu und erinnerte sich, daß ihm dies wohlgetan
-hatte. Zum Schluß aber wurde er wieder unruhig, als ob sein Gewissen
-wach würde. »Ich sitze hier und höre zu, wie gesungen wird, habe ich
-denn nichts anderes zu tun!« dachte er mit einemmale. Es wurde ihm bald
-klar, daß nicht dieser Umstand ihn allein beunruhige; es gab etwas
-anderes, das eine unverzügliche Lösung verlangte, was er aber sich weder
-klar vorstellen, noch durch Worte wiedergeben konnte. Alles verwickelte
-sich zu einem Knäuel. »Nein, es ist doch besser, einen Kampf zu führen!
-Mag Porphyri Petrowitsch wieder auftreten ... oder Sswidrigailoff ...
-Mag nun wieder eine Herausforderung, ein Angriff erfolgen ... Ja! Ja!«
--- Er verließ die Schenke und lief fast nach Hause. Der Gedanke an Dunja
-und die Mutter jagte ihm plötzlich eine panische Angst ein.
-
-Es war in der Nacht, aber der Morgen graute schon, als er auf der
-Krestowski-Insel im Gebüsch fröstelnd vor Fieber erwachte; er ging nach
-Hause. Nach einigen Stunden Schlaf war das Fieber vorüber, er erwachte
-sehr spät, -- es war zwei Uhr nachmittags.
-
-Es kam ihm wieder in Erinnerung, daß Katerina Iwanowna heute beerdigt
-werden sollte, und er war froh, daß er nicht zugegen sein mußte.
-Nastasja brachte ihm etwas zu essen; er aß und trank mit großem Appetit,
-fast mit einem Heißhunger. Sein Kopf wurde frischer, er selbst ruhiger,
-als in diesen letzten drei Tagen. Er wunderte sich sogar flüchtig über
-die früheren Anfälle seiner panischen Angst. Da öffnete sich die Türe
-und Rasumichin trat herein.
-
-»Ah! Du ißt, so bist du auch nicht krank!« sagte Rasumichin, nahm einen
-Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikoff gegenüber. Er war
-aufgeregt und versuchte nicht, es zu verbergen und sprach mit sichtbarem
-Ärger, aber ohne sich zu überhasten und ohne die Stimme besonders zu
-erheben. Man konnte denken, daß ihn eine ganz bestimmte Absicht
-herführe. »Höre,« begann er entschlossen, »ich kehre mich den Teufel um
-euch alle und zwar, weil ich jetzt sehe, deutlich sehe, daß ich nichts
-davon verstehen kann; bitte, glaube nicht, daß ich gekommen bin, dich
-auszufragen. Ich pfeife darauf! Ich will es gar nicht wissen! Und wenn
-du mir jetzt selbst alles anvertrauen, alle eure Geheimnisse entdecken
-wolltest, ich würde sie vielleicht nicht mal anhören, ich pfeife auf
-alles und gehe fort. Ich bin nur gekommen, um persönlich und endgültig
-zu erfahren, ob es wahr ist, daß du verrückt bist? Siehst du, es besteht
-die Meinung über dich, -- irgendwo, das ist ja einerlei -- daß du
-möglicherweise verrückt bist, jedenfalls aber starke Anlagen dazu
-habest. Ich muß dir gestehen, ich selbst war stark geneigt, diese
-Meinung zu teilen, erstens wegen deiner dummen und zum Teil schmählichen
-Handlungen, die durch nichts erklärt werden können, und zweitens wegen
-deines kürzlichen Benehmens deiner Mutter und Schwester gegenüber. Nur
-ein Scheusal und ein Schuft, oder ein Wahnsinniger konnte sie in dieser
-Weise behandeln, wie du sie behandelt hast; folglich bist du wahnsinnig
-...«
-
-»Hast du sie lange nicht gesehen?«
-
-»Ich war soeben bei ihnen. Und du hast sie seit dieser Zeit nicht mehr
-gesehen? Sage mir bitte, wo treibst du dich herum, ich bin schon dreimal
-bei dir gewesen. Deine Mutter ist seit gestern ernstlich erkrankt. Sie
-wollte zu dir gehen; Awdotja Romanowna hielt sie davon ab; doch sie
-wollte auf nichts hören. >Wenn er krank ist,< sagte sie, >wenn sein
-Geist gestört ist, wer soll ihm denn helfen, wenn nicht die eigene
-Mutter?< So kamen wir alle hierher, denn wir konnten sie doch nicht
-allein gehen lassen. Bis zu deiner Tür haben wir sie gebeten, sich zu
-beruhigen. Wir traten in dein Zimmer, da warst du nicht da; hier, auf
-diesem Platz, hat sie gesessen. Sie saß über zehn Minuten da, wir
-standen schweigend in ihrer Nähe. Sie stand dann auf und sagte, -- >wenn
-er ausgeht, ist er gesund und hat die Mutter vergessen; es ist unpassend
-und eine Schande für eine Mutter, weiter noch an der Schwelle zu stehen
-und um Liebkosung, wie um ein Almosen zu betteln<. Sie kehrte nach Hause
-zurück, mußte sich zu Bett legen und liegt jetzt im Fieber. >Ich sehe,<
-sagte sie, >für die _Seine_ hat er Zeit.< Sie meinte mit der _Seinen_
-Ssofja Ssemenowna, deine Braut oder deine Geliebte, ich weiß es nicht.
-Ich ging sofort zu Ssofja Ssemenowna, denn ich wollte alles erfahren,
-Bruder; ich komme hin und sehe, -- ein Sarg steht dort, die Kinder
-weinen, Ssofja Ssemenowna probiert ihnen Trauerkleider an, du bist aber
-nicht da. Ich sah das alles an, entschuldigte mich und ging fort und
-habe Awdotja Romanowna alles erzählt. Alles ist Unsinn und es gibt gar
-keine >_Seine_,< also ist es ganz Wahnsinn. Doch jetzt sitzest du hier
-und frißt gekochtes Fleisch, als hättest du drei Tage nichts gegessen.
-Es ist wahr, Wahnsinnige essen auch und du hast kein Wort mit mir
-gesprochen, du bist aber ... nicht verrückt. Das kann ich beschwören.
-Unter keinen Umständen verrückt. Also, hol euch alle der Teufel, es
-steckt etwas dahinter, es gibt irgendein Geheimnis, und ich habe keine
-Lust, über eure Geheimnisse mir den Kopf zu zerbrechen. Ich bin bloß
-gekommen, zu schimpfen,« schloß er und stand auf, »mir Luft zu machen
-und nun weiß ich, was ich zu tun habe!«
-
-»Was willst du jetzt tun?«
-
-»Was geht es dich an, was ich jetzt tun will?«
-
-»Gib acht, du fängst zu trinken an!«
-
-»Woher ... woher weißt du das?«
-
-»Das ist leicht zu erraten!«
-
-Rasumichin schwieg eine Weile.
-
-»Du warst immer ein sehr vernünftiger Mensch und nie, niemals warst du
-verrückt,« bemerkte er plötzlich voll Eifer. »Das stimmt, -- ich werde
-anfangen zu trinken! Lebwohl!«
-
-Und er schickte sich an zu gehen.
-
-»Vorgestern, glaube ich, habe ich von dir mit der Schwester gesprochen,
-Rasumichin.«
-
-»Von mir! Ja ... wo konntest du sie denn vorgestern gesehen haben?«
-Rasumichin blieb stehen und wurde ein wenig blaß.
-
-Man konnte bemerken, wie sein Herzschlag langsamer und schwerer ging.
-
-»Sie war hierhergekommen, allein, saß hier und sprach mit mir.«
-
-»Sie!«
-
-»Ja, sie!«
-
-»Was hast du denn gesprochen ... ich will sagen, -- von mir?«
-
-»Ich sagte ihr, daß du ein sehr guter, ehrlicher und arbeitsamer Mensch
-seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, denn das weiß sie
-selbst.«
-
-»Sie weiß es selbst?«
-
-»Nun, und ob! Wohin ich auch reisen mag, was mit mir auch geschehen mag,
--- du würdest bei ihnen, als ihre Vorsehung, bleiben. Ich übergab sie
-beide deiner Obhut, Rasumichin. Ich sage es, weil ich sehr gut weiß, wie
-du sie liebst und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt
-bin. Ich weiß auch, daß auch sie dich lieben kann und vielleicht sogar
-schon liebt. Jetzt beschließe selbst, wie es dir am besten erscheint, --
-ob du trinken willst oder nicht?«
-
-»Rodja ... Siehst du ... Nun ... Ach, Teufel! Wohin willst du aber
-gehen? Siehst du, wenn es ein Geheimnis ist, laß es! Aber ich ... ich
-werde das Geheimnis erfahren ... Und bin überzeugt, daß es sicher
-irgendein Unsinn und eine lächerliche Kleinigkeit ist, und daß du allein
-dir alles andere eingebrockt hast. Im übrigen aber bist du ein
-ausgezeichneter Mensch! Ein ausgezeichneter Mensch! ...«
-
-»Und ich wollte gerade hinzufügen, da hast du mich aber unterbrochen,
-daß du vorhin sehr gut und richtig geäußert hast, diese Geheimnisse
-nicht erfahren zu wollen. Laß es vorläufig sein, rege dich nicht auf. Du
-wirst alles rechtzeitig zu wissen bekommen und dann, wenn es nötig sein
-wird. Gestern hat ein Mann zu mir gesagt, daß die Menschen Luft
-brauchen, Luft, Luft! Ich will gleich zu ihm hingehen und erfahren, was
-er darunter versteht.«
-
-Rasumichin stand in Gedanken versunken, aufgeregt schien er über etwas
-nachzudenken.
-
-»Er ist ein politischer Verschwörer! Sicher! Und er steht vor einem
-entscheidenden Schritt, -- das ist auch sicher! Anders kann es nicht
-sein und ... Dunja weiß es ...« dachte er.
-
-»Also zu dir kommt Awdotja Romanowna,« sagte er und betonte jedes Wort,
-»und du selbst willst einen Menschen treffen, der da sagt, daß mehr Luft
-nötig sei, mehr Luft und ... und, also hängt auch dieser Brief ...
-irgendwie damit zusammen.«
-
-»Was für ein Brief?«
-
-»Sie hat einen Brief erhalten, heute; der hat sie sehr aufgeregt. Sehr.
-Fast zu sehr ... Als ich von dir zu sprechen anfing, -- bat sie mich zu
-schweigen. Dann ... dann sagte sie, daß wir uns vielleicht sehr bald
-trennen müßten, und begann mir für etwas heiß zu danken; ging darauf in
-ihr Zimmer und schloß sich ein.«
-
-»Sie hat einen Brief erhalten?« wiederholte Raskolnikoff nachdenklich.
-
-»Ja, einen Brief, und du weißt nichts davon? Hm!« Beide schwiegen eine
-Weile.
-
-»Lebwohl, Rodion. Ich, Bruder ... es gab eine Zeit ... übrigens aber,
-lebwohl; siehst du, es gab eine Zeit ... Nun, lebwohl! Ich muß auch
-gehen. Ich werde nicht trinken. Jetzt ist es nicht mehr nötig ... wird
-nicht gemacht!«
-
-Er hatte Eile, aber als er schon draußen war und die Türe fast
-geschlossen hatte, öffnete er sie plötzlich wieder und sagte, indem er
-zur Seite blickte:
-
-»Apropos! Erinnerst du dich dieses Mordes, der Sache, die Porphyri
-Petrowitsch führt, -- der Ermordung der Alten? Nun, du sollst wissen,
-daß der Mörder gefunden ist, er hat alles eingestanden und alle Beweise
-geliefert. Stell dir vor, es ist einer von denselben Arbeitern, den
-Anstreichern, die ich -- erinnerst du dich -- noch bei dir im Zimmer
-verteidigte. Kannst du es glauben, er hat diese ganze Szene mit der
-Schlägerei und dem Lachanfall auf der Treppe mit seinem Kameraden, als
-der Hausknecht und die zwei Zeugen hinaufgingen, -- absichtlich
-vorgeführt und zwar um jeden Verdacht von sich abzulenken. Welch eine
-Schlauheit, welch eine Geistesgegenwart in so einem jungen Hunde steckt!
-Es ist schwer zu glauben; er hat aber selbst die Sache aufgeklärt, alles
-selbst eingestanden! Und wie ich hereingefallen bin! Nun, meiner Ansicht
-nach ist er bloß ein Genie der Verstellung und Geschicklichkeit, ein
-Genie gegenüber juristischer Verhörskunst, -- folglich ist hier nichts
-staunenswertes! Kann es denn nicht auch solche Genies geben? Und weil er
-es nicht bis zu Ende durchgeführt, sondern eingestanden hat, aus dem
-Grunde glaube ich ihm noch mehr. Es ist überzeugender! ... Aber wie ich
-damals hereingefallen bin! Ich kletterte ja um ihretwillen an die Wände
-hinauf!«
-
-»Sage mir bitte, woher hast du es erfahren, und warum interessiert es
-dich so sehr?« fragte ihn Raskolnikoff sichtbar erregt.
-
-»Nun, was frägst du bloß! Warum sollte es mich nicht interessieren! Das
-ist auch eine Frage! ... Ich habe es unter anderem von Porphyri
-Petrowitsch erfahren. Übrigens, ich habe fast alles durch ihn erfahren.«
-
-»Von Porphyri Petrowitsch?«
-
-»Ja, von Porphyri Petrowitsch.«
-
-»Was ... was meint er?« fragte Raskolnikoff angstvoll.
-
-»Er hat es mir ausgezeichnet erklärt. Psychologisch erklärt, auf seine
-Weise.«
-
-»Er hat es dir erklärt? Er hat es dir selbst erklärt?«
-
-»Ja, selbst, selbst; lebwohl! Ich will dir später noch mehr erzählen,
-jetzt aber habe ich zu tun. Ja ... es gab eine Zeit, wo ich glaubte ...
-Nun, was ist da zu reden ... später davon ... Warum soll ich jetzt
-anfangen zu trinken. Du hast mich auch ohne Wein betrunken gemacht. Ich
-bin ja betrunken, Rodja! Ohne Wein bin ich betrunken; nun, aber lebwohl!
-Ich komme zu dir. Sehr bald.«
-
-Er ging hinaus.
-
-»Er ist, er ist ein politischer Verschwörer, das ist sicher, das steht
-fest!« sagte sich Rasumichin endgültig, indem er langsam die Treppe
-hinabstieg. »Und die Schwester hat er auch hineingezogen; das ist sehr,
-sehr begreiflich bei dem Charakter von Awdotja Romanowna. Sie haben
-Zusammenkünfte ... Und sie hat es mir auch angedeutet. Aus vielen ihrer
-Worte ... und Andeutungen ... und Anspielungen ergibt sich dies alles!
-Ja, wie kann man denn sonst diesen ganzen Wirrwarr erklären? Hm! Und ich
-dachte ... Oh, Gott, was ich gemeint habe. Ja, das war eine Verblendung
-und ich habe gefehlt vor ihm! Damals bei der Lampe im Korridor hat er
-mich verwirrt und verblendet! Pfui! Welch ein häßlicher, roher, gemeiner
-Gedanke von mir! Nikolai ist ein braver Bursche, daß er es eingestanden
-hat ... Und wie sich jetzt alles Vorhergegangene leicht erklären läßt!
-Seine Krankheit damals, alle seine sonderbaren Handlungen, auch früher
-schon, in der Universität noch, als er immer so düster und verschlossen
-war ... Aber was bedeutet jetzt dieser Brief? Hier steckt vielleicht
-auch etwas dahinter. Von wem ist dieser Brief? Ich habe einen Verdacht
-... Hm! Nein, ich will alles erfahren.«
-
-Da erinnerte er sich an Dunetschka, und sein Herz blieb ihm fast
-stillstehen. Er riß sich von seinen Gedanken los und lief weiter.
-
- * * * * *
-
-Kaum war Rasumichin fortgegangen, so stand Raskolnikoff auf, wandte sich
-zum Fenster, ging von einer Ecke in die andere, als hätte er die Enge
-seiner Kammer vergessen, und ... setzte sich wieder auf das Sofa hin. Er
-schien ganz wie ausgewechselt zu sein; wieder -- hatte sich ein Ausweg
-gefunden!
-
-Ja, es hat sich ein Ausweg gefunden! sagte er sich. Alles war schon zu
-vollgestopft, es hatte angefangen, ihn qualvoll zu drücken, ein
-förmlicher Taumel hatte ihn überfallen. Seit dem Auftritte mit Nikolai
-bei Porphyri Petrowitsch vermeinte er, ohne einen Ausweg ersticken zu
-müssen. Nach Nikolai folgte am selben Tage der Auftritt bei Ssonja; er
-hatte ihn nicht so, wie er's sich vorgenommen, begonnen und durchgeführt
-... also hatte ihn die Schwäche plötzlich und vollständig übermannt! Mit
-einemmale! Er war ja doch damals mit Ssonja einverstanden, aus vollem
-Herzen einverstanden, daß er mit solch einer Sache auf der Seele allein
-nicht leben könne! Und Sswidrigailoff? Sswidrigailoff ist ein Rätsel ...
-Sswidrigailoff beunruhigt ihn, das ist wahr, aber nicht nach dieser
-Richtung hin. Mit Sswidrigailoff steht vielleicht auch ein Kampf bevor.
-Mit Sswidrigailoff gibt es vielleicht auch einen Ausweg, mit Porphyri
-Petrowitsch -- das ist freilich eine andere Sache.
-
-Aber Porphyri Petrowitsch hat selbst Rasumichin alles erklärt,
-_psychologisch_ ihm erklärt! Wieder fängt er mit seiner verfluchten
-Psychologie an! Porphyri Petrowitsch? Was, Porphyri Petrowitsch soll
-auch nur einen Augenblick geglaubt haben, daß Nikolai schuldig sei, --
-nach allem, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war, vor Nikolais
-Erscheinen, nach jenem Auftritt, Auge in Auge, für den man keine andere
-Erklärung finden konnte, außer _einer einzigen_? -- (Raskolnikoff war
-einigemal in diesen Tagen dieser Auftritt mit Porphyri Petrowitsch in
-der Erinnerung stückweise vorgeschwebt; sich des Auftritts in seiner
-ganzen Bedeutung zu erinnern, hätte er nicht ertragen können.) --
-Während dieser Szene hatten sie beide Worte gewechselt, waren Bewegungen
-und Gesten vorgekommen, Blicke getauscht, war einiges in einem Tone
-gesagt worden, und die ganze Szene hatte einen Charakter angenommen, daß
-auf keinen Fall ein Nikolai, -- den Porphyri Petrowitsch doch sofort
-beim ersten Worte und bei der ersten Bewegung richtig erkannt hatte, --
-die Grundlage seiner Überzeugung erschüttern konnte.
-
-Wie weit war es aber auch schon gekommen! Sogar Rasumichin hatte
-begonnen, Verdacht zu schöpfen! Die Szene im Korridor bei der Lampe ist
-an ihm nicht spurlos vorübergeglitten. Er ist doch zu Porphyri
-Petrowitsch hingelaufen ... Aber aus welchem Grunde will jener ihn
-irreführen? Was hat er für einen Zweck, Rasumichin auf Nikolai zu
-bringen? Er hat unbedingt etwas vor; er verfolgt damit bestimmte Zwecke,
-aber welcher Art sind sie? Es ist wahr, seit diesem Morgen ist viel Zeit
-vergangen, -- viel zu viel Zeit und von Porphyri Petrowitsch habe ich
-weder etwas gehört, noch gesehen. Das ist sicher kein gutes Zeichen ...
-
-Raskolnikoff nahm seine Mütze, versank in Gedanken und schickte sich an,
-das Zimmer zu verlassen. Es war der erste Tag, während dieser ganzen
-Zeit, daß er sich wenigstens bei gesundem Bewußtsein fühlte. »Ich muß
-dieser Sache mit Sswidrigailoff ein Ende machen,« -- dachte er, -- »um
-jeden Preis und möglichst schnell; er scheint zu erwarten, daß ich
-selbst zu ihm komme.« -- In diesem Augenblicke entstand in seinem
-bedrückten Herzen ein wilder Haß, daß er einen von beiden, --
-Sswidrigailoff oder Porphyri Petrowitsch hätte ermorden können. Er
-fühlte wenigstens, daß er, wenn nicht jetzt, so später, imstande sei, es
-zu tun. -- »Wir wollen sehen, wir wollen sehen,« wiederholte er vor
-sich. --
-
-Als er aber gerade die Türe zur Treppe öffnete, stieß er mit Porphyri
-Petrowitsch zusammen. Der kam zu ihm. Raskolnikoff war im ersten
-Augenblick erstarrt. Aber sonderbar, sein Staunen über Porphyris
-Erscheinen und sein Schrecken waren gering. Er zuckte bloß zusammen,
-sammelte sich aber sofort augenblicklich. »Vielleicht ist es die Lösung!
-Aber wie leise er gekommen war, wie eine Katze, ich habe ihn nicht
-gehört! Hat er etwa gelauscht?«
-
-»Sie haben diesen Besuch nicht erwartet, Rodion Romanowitsch,« rief
-Porphyri Petrowitsch lachend. »Wollte schon lange Sie aufsuchen; ging
-nun vorbei und dachte mir, -- warum soll ich nicht auf fünf Minuten
-hinaufgehen. Sie wollen ausgehen? Ich will Sie nicht aufhalten. Bloß auf
-eine Zigarette, wenn Sie gestatten.«
-
-»Ja, nehmen Sie Platz, Porphyri Petrowitsch, nehmen Sie bitte Platz,«
-Raskolnikoff bot seinem Besuche mit solch einer sichtlich zufriedenen
-und freundschaftlichen Miene einen Platz an, daß er über sich selbst
-verwundert gewesen wäre, wenn er sich hätte sehen können.
-
-Es war auch der letzte Rest seiner Kraft. So hegt ein Mensch eine halbe
-Stunde lang tödliche Angst vor dem Räuber, wenn aber das Messer ihm
-endgiltig an die Kehle gesetzt wird, schwindet die Angst. Er setzte sich
-Porphyri Petrowitsch gegenüber und blickte ihn, ohne die Augen für einen
-Moment abzuwenden, an. Porphyri Petrowitsch kniff die Augen zusammen und
-steckte sich eine Zigarette an.
-
-»Nun, sprich, sprich doch,« schien es aus dem Herzen Raskolnikoffs
-herauszurufen. -- »Nun, warum redest, warum redest du nicht?«
-
-
- II.
-
-»Nehmen wir einmal die Zigaretten!« sagte endlich Porphyri Petrowitsch,
-nachdem er die Zigarette angesteckt und Atem geholt hatte, »sie sind
-schädlich, ganz und gar schädlich, ich kann sie aber nicht lassen! Ich
-huste, im Halse beginnt es zu kratzen und ich leide an Atemnot. Wissen
-Sie, ich bin ängstlich, war vor ein paar Tagen bei B. gewesen, -- er
-untersucht jeden Kranken, minimum, eine halbe Stunde; er lachte, als er
-mich sah, -- dann hat er mich beklopft und ausgehorcht und sagte unter
-anderem, daß Tabak für mich nicht gut sei, meine Lungen seien erweitert.
-Und, wie kann ich das Rauchen lassen? Wodurch soll ich es ersetzen? Ich
-trinke nicht, das ist das ganze Unglück, he--he--he, es ist ein Unglück,
-daß ich nicht trinke! Alles ist doch wie man's nimmt, Rodion
-Romanowitsch, wie man's nimmt!«
-
-»Was fängt er wieder mit seinem alten Kram an?« dachte Raskolnikoff voll
-Widerwillen. Die ganze letzte Szene stieg vor ihm auf und dasselbe
-Gefühl wie damals überflutete wie eine Welle sein Herz.
-
-»Ich war schon einmal bei Ihnen, vorgestern abend. Sie wissen es nicht?«
-fuhr Porphyri Petrowitsch fort und blickte sich im Zimmer um, »ich war
-in demselben Zimmer gewesen. Ich ging ebenso, wie heute, vorbei und
-dachte, -- ich will ihm mal eine Gegenvisite machen. Komme hierher, das
-Zimmer steht weit offen; ich sah mich um, wartete eine Weile, habe mich
-nicht mal Ihrem Dienstmädchen gemeldet -- und ging wieder fort. Sie
-schließen das Zimmer nicht ab?«
-
-Raskolnikoffs Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Porphyri Petrowitsch
-schien seine Gedanken zu erraten. »Ich bin gekommen, lieber Rodion
-Romanowitsch, Ihnen eine Erklärung zu geben. Ich bin Ihnen eine solche
-schuldig,« fuhr er mit einem Lächeln fort und schlug ihm mit der Hand
-leicht auf das Knie, aber zu gleicher Zeit nahm sein Gesicht einen
-ernsten und besorgten Ausdruck an, es schien, zu Raskolnikoffs
-Erstaunen, wie mit Trauer umflort. Er hatte noch nie bei Porphyri
-Petrowitsch solch einen Ausdruck gesehen und ihn auch nicht bei ihm
-vermutet. -- »Eine merkwürdige Szene hat sich das letzte Mal zwischen
-uns abgespielt, Rodion Romanowitsch. Ich gestehe, daß es vielleicht auch
-bei unserer ersten Zusammenkunft sonderbar hergegangen ist, aber damals
-... Nun, jetzt kommt es auf dasselbe hinaus! Hören Sie, ich habe eine
-große Schuld Ihnen gegenüber, ich fühle es. Erinnern Sie sich, wie wir
-uns trennten, -- bei Ihnen vibrierten die Nerven und zitterten die Knie,
-auch bei mir vibrierten die Nerven und zitterten die Knie. Und wissen
-Sie, es war auch zwischen uns damals nicht ganz anständig, nicht
-gentlemanlike zugegangen. Wir sind aber doch Gentlemen, das heißt in
-jedem Falle und vor allen Dingen Gentlemen; das ist im Auge zu behalten.
-Sie erinnern sich doch, wie weit es kam ... geradezu unanständig.«
-
-»Was ist mit ihm, für wen hält er mich denn?« fragte sich Raskolnikoff
-verwundert, indem er den Kopf erhob und Porphyri Petrowitsch aufmerksam
-anblickte.
-
-»Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß es besser für uns ist, jetzt in
-aller Offenheit zu verhandeln,« fuhr Porphyri Petrowitsch fort, seinen
-Kopf ein wenig zurückwerfend und die Augen senkend, als wünsche er nicht
-mehr durch seinen Blick sein früheres Opfer zu verwirren, und als
-verschmähe er seine frühere Methode und seine Kniffe; -- »ja, solche
-Verdächtigungen und solche Szenen dürfen nicht andauern. Uns hat damals
-Nikolai erlöst, sonst wüßte ich nicht, was alles zwischen uns passiert
-wäre. Dieser verfluchte Kleinbürger saß damals die ganze Zeit bei mir
-hinter der Scheidewand, -- können Sie es sich vorstellen? Sie wissen es
-sicher schon; es ist mir bekannt, daß er später bei Ihnen gewesen ist;
-das aber, was Sie damals annahmen, war nicht der Fall, -- ich hatte nach
-keinem Menschen geschickt und hatte damals auch keine Anordnungen
-getroffen! Sie werden mich fragen, warum ich keine Anordnungen getroffen
-hatte? Ja, wie soll ich es sagen, -- mich selbst hat dieses alles damals
-überfallen. Ich hatte kaum Zeit gefunden, die Hausknechte holen zu
-lassen, -- Sie haben die Hausknechte wahrscheinlich bemerkt, als Sie
-durch das Vorzimmer gingen. -- Ein Gedanke durchfuhr mich damals, wie
-ein Blitz, -- ich war, sehen Sie, Rodion Romanowitsch, damals so gut wie
-überzeugt. Warte, dachte ich mir, -- wenn ich auch vorläufig das eine
-versäume, so packe ich dafür das andere am Schwanz, -- will jedenfalls
-das meinige nicht versäumen. Sie sind von Natur aus sehr reizbar, Rodion
-Romanowitsch, sogar übermäßig reizbar bei allen anderen Grundzügen Ihres
-Charakters und Herzens, die ich mir schmeichle teilweise erkannt zu
-haben. Selbstverständlich konnte ich mir auch damals schon sagen, daß es
-nicht oft der Fall sei, daß ein Mensch plötzlich aufsteht und sein
-ganzes Geheimnis ausplaudert. Das kommt wohl vor, besonders, wenn einem
-Menschen die letzte Geduld reißt, aber jedenfalls immerhin selten. Ja,
-das konnte ich mir sagen. Ich dachte, wenn ich bloß ein Zipfelchen
-erwische! Meinetwegen ein ganz winziges Endchen, nur ein einziges, aber
-ein derartiges, daß man es fassen kann, daß es ein Ding ist und nicht
-immer bloß diese Psychologie. Dann dachte ich mir, wenn ein Mensch
-schuldig ist, so kann man jedenfalls etwas wesentliches von ihm
-erwarten; es ist selbst statthaft, auch auf ein ganz unerwartetes
-Resultat zu rechnen. Ich habe damals mit Ihrem Charakter gerechnet,
-Rodion Romanowitsch, am meisten mit Ihrem Charakter! Ich hoffte damals
-zu stark auf Sie selbst.«
-
-»Aber ... aber warum sprechen Sie jetzt in dieser Weise,« murmelte
-Raskolnikoff endlich, ohne seine eigene Frage sich zu überlegen. --
-»Worüber spricht er,« verlor er sich in Mutmaßungen, »hält er mich
-tatsächlich für unschuldig?«
-
-»Warum ich in dieser Weise spreche? Ich bin gekommen, Ihnen Erklärungen
-zu geben, halte es für meine heilige Pflicht. Ich will Ihnen alles bis
-aufs haarkleinste erzählen, wie alles war, diese ganze Geschichte der
-damaligen Verblendung. Ich habe Ihnen viel Leid zugefügt, habe Sie stark
-leiden lassen, Rodion Romanowitsch. Ich bin kein so großes Scheusal. Ich
-begreife auch, was es für einen niedergedrückten, aber stolzen,
-eigenartigen und ungeduldigen, besonders ungeduldigen Menschen heißt,
-dies alles ertragen zu müssen. Ich halte Sie in jedem Falle für einen
-edlen Menschen, mit großmütiger Veranlagung, obgleich ich nicht mit
-allen Ihren Überzeugungen einverstanden bin und ich halte es für meine
-Pflicht im voraus, offen und aufrichtig Ihnen das zu sagen, ich will Sie
-nicht betrügen. Nachdem ich Sie erkannt hatte, fühlte ich eine Neigung
-zu Ihnen. Sie werden wohl über meine Worte lachen? Und Sie haben ein
-Recht dazu. Ich weiß, daß Sie mich auf den ersten Blick schon nicht
-leiden konnten, und im Grunde genommen ist auch nichts an mir, warum man
-mich gern haben könnte. Fassen Sie es jedoch auf, wie Sie wollen, ich
-wünsche meinerseits mit allen Mitteln, diesen Eindruck von mir zu
-verwischen und Ihnen zu beweisen, daß auch ich ein Mensch mit einem
-Herzen und einem Gewissen bin. Und dies sage ich aufrichtig.«
-
-Porphyri Petrowitsch hielt würdevoll inne. Raskolnikoff fühlte den
-Andrang eines neuen Schreckens. Der Gedanke, daß Porphyri Petrowitsch
-ihn für unschuldig hielt, begann ihn zu peinigen.
-
-»Ich denke, es ist unnötig und überflüssig, alles der Reihenfolge nach
-zu erzählen, wie es damals begonnen hatte,« fuhr Porphyri Petrowitsch
-fort. »Ja, und es ist fraglich, ob ich imstande bin, es zu tun. Denn,
-wie soll man es genau erklären? Im Anfange tauchten Gerüchte auf.
-Darüber, was es für Gerüchte waren, und von wem sie stammten, und wann
-... und aus welchem Anlaß eigentlich Sie hineingezogen wurden, -- ist
-auch, denke ich, überflüssig zu erwähnen. Bei mir persönlich fing es mit
-einer Zufälligkeit, mit einer völlig unvorgesehenen Zufälligkeit an, die
-ebenso gut sein wie nicht sein konnte, -- was es aber war? Hm, ich
-denke, dies ist auch nicht zu erwähnen. Dies alles, wie die Gerüchte, so
-auch die Zufälligkeiten, schmolzen sich bei mir zu einem Gedanken
-zusammen. Ich muß offen gestehen, denn, wenn man schon einmal
-eingesteht, soll es auch alles sein, -- ich war der erste, der auf Sie
-damals kam. Die Vermerke der Alten auf den versetzten Sachen und
-dergleichen mehr sind, ich gebe es zu, alles Unsinn. In dieser Weise
-kann man hundert solche Dinge aufzählen. Ich hatte auch damals die
-Gelegenheit, die Szene auf dem Polizeibureau in allen ihren Einzelheiten
-zu erfahren, ebenfalls zufällig und nicht sozusagen im Vorbeigehen,
-sondern von einem besonders zuverlässigen Erzähler, der ohne es selbst
-zu ahnen, diese Szene vortrefflich aufgefaßt hatte. So reihte sich alles
-eins ans andere, gesellte sich eins zu dem andern, lieber Rodion
-Romanowitsch! Und wie sollte man da sich nicht nach einer bestimmten
-Richtung wenden? Aus hundert Kaninchen wird nie ein Pferd, aus hundert
-Verdachtsgründen kommt nie ein Beweis heraus, -- so lautet ein
-englisches Sprichwort, aber da rechnet man bloß mit dem Intellekte, man
-soll jedoch auch mit den Leidenschaften rechnen, denn ein
-Untersuchungsrichter ist doch auch nur ein Mensch. Ich erinnerte mich
-auch Ihrer Abhandlung in der Zeitschrift, über die ich mit Ihnen --
-erinnern Sie sich -- bei Ihrem ersten Besuch eingehend sprach. Ich habe
-damals gespottet, aber nur um von Ihnen mehr herauszulocken. Ich
-wiederhole, Sie sind ungeduldig und sehr krank, Rodion Romanowitsch. Daß
-Sie kühn, herausfordernd, ernst sind und ... vieles durchgedacht, vieles
-durchgedacht haben, das alles wußte ich längst. Alle diese Empfindungen
-kenne ich, und Ihre kleine Abhandlung habe ich wie etwas Wohlvertrautes
-gelesen. In schlaflosen Nächten und in Aufregungen mit wogendem und
-klopfendem Herzen, mit unterdrücktem Enthusiasmus ist diese Arbeit
-entstanden. Aber dieser unterdrückte, stolze Enthusiasmus in jungen
-Jahren ist gefährlich! Ich habe damals gespottet, will Ihnen aber jetzt
-sagen, daß ich überhaupt solche ersten, jugendlichen, hitzigen Versuche
-mit der Feder über alles das gewissermaßen als Amateur liebe. Ein Rauch,
-ein Nebel ist es, und im Nebel klingt eine Saite. Ihr Artikel ist
-unsinnig und phantastisch, aber darin schimmert solch eine
-Aufrichtigkeit, darin steckt ein jugendlicher und unbestechlicher Stolz,
-eine Kühnheit der Verzweiflung; es ist ein finsterer Artikel, und das
-ist seine Stärke. Ich las Ihren Artikel und legte ihn beiseite, und ...
-als ich ihn beiseite gelegt hatte, dachte ich schon damals, >nun, mit
-diesem Menschen geht es nicht so weiter!< Nun, sagen Sie mir jetzt, wie
-sollte man sich da nach all dem Vorangegangenen von dem Darauffolgenden
-nicht hinreißen lassen! Ach, mein Gott! Was sage ich denn jetzt?
-Behaupte ich denn jetzt etwas? Ich habe es mir damals bloß gemerkt. Was
-ist denn alles dabei, -- dachte ich? Es ist ja nichts, rein gar nichts,
-und vielleicht im höchsten Grade ein Nichts. Ja, und es ziemt sich ganz
-und garnicht für mich, den Untersuchungsrichter, mich so hinreißen zu
-lassen, -- ich habe doch Nikolai in den Händen, und mit Beweisen, -- es
-ist gleichgiltig, wie man darüber denkt, Beweise sind es in jedem Fall.
-Und er hat auch seine Psychologie; ich muß mich mit ihm beschäftigen,
-denn es handelt sich hier um Tod und Leben. Wozu erkläre ich Ihnen jetzt
-dies alles? Damit Sie es wissen und mich mit Ihrem Verstande und Herzen
-wegen meines damaligen bösen Benehmens nicht anklagen sollen. Es war
-nicht böse gemeint, ich sage es aufrichtig, he--he--he! Meinen Sie etwa,
-daß ich keine Haussuchung bei Ihnen vorgenommen hätte? Ich habe es
-getan, habe es getan, he--he--he, habe sie vorgenommen, als Sie krank im
-Bett lagen. Es war nicht offiziell und nicht von mir persönlich, aber in
-jedem Fall, sie wurde vorgenommen. Bis aufs letzte Haar wurde bei Ihnen
-in der Wohnung alles, sogar nach frischen Spuren, besehen, -- aber
-umsonst. Da dachte ich, -- jetzt kommt dieser Mensch zu mir, kommt
-selbst und sehr bald zu mir; wenn er schuldig ist, wird er unbedingt
-kommen. Ein anderer würde nicht kommen, dieser aber unbedingt. Und
-erinnern Sie sich, wie Herr Rasumichin sich Ihnen gegenüber zu
-versprechen begann? Das haben wir arrangiert, um Sie aufzuregen, darum
-haben wir absichtlich auch das Gerücht verbreitet, damit er sich Ihnen
-gegenüber verspreche, Herr Rasumichin aber ist so ein Mensch, der keine
-Entrüstung bei sich behalten kann. Herrn Sametoff fiel zuerst Ihr Zorn
-und Ihre offene Kühnheit auf; wie kann einer in einem Restaurant
-plötzlich herausplatzen, -- >ich habe ermordet!< Es ist zu kühn, es ist
-zu frech und wenn er schuldig ist, -- dachte ich, -- so ist er ein
-furchtbarer Gegner! In dieser Weise habe ich damals gedacht. Ich wartete
-auf Sie! Wartete mit größter Ungeduld, Sametoff haben Sie damals einfach
-niedergeschmettert und ... das ist ja das Fatale, daß diese ganze
-Psychologie zwei Seiten hat! Nun, ich erwarte also Sie und siehe, Gott
-schickt Sie selbst, -- Sie kommen! Mein Herz klopfte stark! Ach! Nun,
-warum mußten Sie damals kommen? Ihr Lachen, Ihr Lachen damals, als Sie
-hereinkamen, -- erinnern Sie sich -- ich erriet sofort alles, als sähe
-ich durch ein Glas; hätte ich aber auf Sie in dieser besonderen Art
-nicht gewartet, würde ich auch in Ihrem Lachen nichts gemerkt haben.
-Sehen Sie, was es heißt, in Stimmung zu sein. Und Herr Rasumichin
-damals, -- ach! und der Stein, der Stein, -- erinnern Sie sich -- der
-Stein, unter dem noch die Sachen versteckt sind? Mir war es, als sähe
-ich ihn irgendwo in einem Gemüsegarten. -- Sie hatten doch Sametoff
-schon davon erzählt und erwähnten ihn dann bei mir zum zweiten Male! Als
-Sie aber damals begannen, Ihren Artikel bis aufs einzelne durchzunehmen,
-als Sie sich näher darüber ausließen, -- da faßte ich jedes Ihrer Worte
-doppelt auf, als stecke noch ein anderes darunter! Nun, sehen Sie,
-Rodion Romanowitsch, in dieser Weise kam ich auch bis zu den letzten
-Schranken, und erst als ich mit der Stirn dagegen rannte, kam ich zur
-Besinnung. Nein, -- sagte ich mir -- was ist mit dir? Wenn man will, --
-sagte ich mir -- kann man dies alles bis zum letzten Punkte auf andere
-Weise erklären, und es wird immer noch natürlicher erscheinen. Es war
-eine Qual! Nein, -- dachte ich, -- wenn ich doch nur ein Zipfelchen
-erwischen könnte! ... Und als ich gar von diesem Klingelzeichen hörte,
-erstarrte ich, ein Frösteln packte mich. -- Jetzt ist das Zipfelchen da!
-dachte ich. Ich habe es! Da überlegte ich nicht mehr, wollte es einfach
-nicht mehr tun. Tausend Rubel hätte ich in diesem Augenblicke aus meiner
-eigenen Tasche hingegeben, um nur Sie _mit meinen eigenen Augen_ gesehen
-zu haben, -- wie Sie damals hundert Schritte neben dem Kleinbürger
-hingingen, nachdem er Ihnen ins Gesicht >Mörder!< gesagt hatte, und Sie
-nicht gewagt hatten, ihn irgend etwas, ganze hundert Schritte lang, zu
-fragen! ... Nun, und dieses Gefühl von Kälte im Rückenmark? War dieses
-Klingelzeichen auch im kranken Zustande, im halbbewußten Fieberwahne?
-Und da müssen Sie sich, Rodion Romanowitsch, nach alldem auch nicht
-wundern, daß ich damals mit Ihnen solche Scherze getrieben habe. Und
-warum kamen Sie selbst im selben Augenblicke? Es war, als hätte Sie
-jemand gestoßen, zu kommen, bei Gott, und wenn uns Nikolai nicht
-auseinander gebracht hätte, so ... erinnern Sie sich an Nikolai damals?
-Erinnern Sie sich seiner gut? Er kam, wie ein Blitz aus heiterm Himmel.
-Nun, und wie empfing ich ihn? Dem Blitze glaubte ich nicht das
-geringste, Sie geruhten es selbst zu sehen! Und noch mehr! Als Sie schon
-fortgegangen waren, und als er begann, sehr, sehr vernünftig manche
-Punkte zu beantworten, so daß ich selbst verwundert war, auch dann
-glaubte ich ihm noch nicht das geringste! Sehen Sie, was es heißt,
-felsenfest überzeugt zu sein. Nein -- dachte ich -- daran ist nichts zu
-machen! Nikolai ändert daran garnichts!«
-
-»Mir erzählte soeben Rasumichin, daß Sie auch jetzt Nikolai
-beschuldigen, und daß Sie Rasumichin selbst davon überzeugt hätten ...«
-
-Der Atem stockte ihm, und er beendete den Satz nicht. Er hörte mit
-unbeschreiblicher Erregung zu, wie ein Mensch, der ihn vollkommen
-durchschaut hatte, sich vor sich selbst verleugnete. -- Er fürchtete
-daran zu glauben und glaubte nicht. In den zweideutigen Worten suchte er
-gierig und haschte nach etwas Bestimmterem und Genauerem.
-
-»Herr Rasumichin!« rief Porphyri Petrowitsch wie erfreut über die Frage
-Raskolnikoffs, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. -- »He--he--he! Ja,
-Herrn Rasumichin mußte man auch abschieben, -- zu zweit ist es ein
-Vergnügen, der dritte soll wegbleiben. Herr Rasumichin soll aus dem
-Spiele bleiben, und ist außerdem ein fremder Mensch; er kam zu mir ganz
-blaß gelaufen ... Nun, Gott sei mit ihm, wozu sollen wir ihn in die
-Sache hereinbringen! ... Und was Nikolai betrifft, -- so sollen Sie
-wissen, was das für ein Subjekt ist, das heißt, wie ich ihn auffasse.
-Vor allen Dingen ist er noch das reine Kind, und nicht etwa eine
-ängstliche Natur, sondern er ist eine Art Künstler. Sie sollen sich
-nicht darüber lustig machen, daß ich ihn so darstelle. Er ist ein
-unschuldiger, reiner und für alles empfänglicher Mensch. Hat ein Herz,
-ist ein Phantast. Man sagt, daß er singen und tanzen kann und Märchen so
-zu erzählen versteht, daß Leute aus anderen Orten sich versammeln, um
-ihn zu hören. Auch zur Schule, zu den Abendkursen geht er, kann sich
-krank lachen, wenn man ihm den Finger zeigt, kann sich bewußtlos
-betrinken, nicht etwa aus Verdorbenheit, sondern gelegentlich, wenn man
-ihm zu trinken gibt, alles in kindlicher Weise. Er hat damals gestohlen,
-weiß es aber selbst nicht, denn nach seiner Ansicht -- >ist es doch kein
-Diebstahl, wenn er etwas auf der Erde gefunden hat?< Wissen Sie aber,
-daß er zu den Altgläubigen gehört, nein, eigentlich ist er kein
-Altgläubiger, sondern ein Sektierer; aus seiner Familie gehörten einige
-der Sekte >Bewegung< an, auch er selbst hat vor kurzem noch zwei Jahre
-auf dem Lande bei einem gottesfürchtigen Greis gelebt, um sich in den
-Grundsätzen der Religion zu festigen. Das alles habe ich von Nikolai und
-seinen Nachbarn aus dem Dorfe erfahren. Noch mehr! Er wollte Einsiedler
-werden! Er hatte die feste Absicht, betete nächtelang zu Gott, las in
-den alten >echten, wahren<[12] Büchern und hat vor lauter Lesen den
-Verstand verloren. Petersburg hat auf ihn einen starken Eindruck
-gemacht, besonders das weibliche Geschlecht, nun, und auch der Wein. Er
-ist empfänglich, hat den gottesfürchtigen Greis und alles vergessen. Ich
-habe erfahren, daß ihn hier ein Künstler lieb gewonnen hat, er ging zu
-ihm zu Besuch, da kam aber diese Geschichte dazwischen. Nun, er bekam
-Angst, -- und wollte sich erhängen! Wollte davonlaufen! Was soll man da
-tun bei dem Begriffe, den das Volk nun einmal von unserer Rechtspflege
-besitzt! Manchen erschrickt schon das Wort >vors Gericht gestellt zu
-werden<. Wer ist daran schuld! Wir wollen sehen, wie die Gerichtsreform
-wirken wird. Ach, möge es Gott bald geben! Nun, also, -- im Gefängnisse
-erinnerte er sich offenbar wieder des gottesfürchtigen Greises; auch die
-Bibel erschien wieder. Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, was es bei
-manchen von diesen Leuten bedeutet, >das Leiden auf sich zu nehmen<? Das
-bedeutet nicht etwa, für jemand anderen zu leiden, sondern einfach man
-soll >Leiden auf sich nehmen< und besonders gilt das, wenn die Behörden
-im Spiele sind. Zu meiner Dienstzeit noch saß im Gefängnisse ein ganzes
-Jahr ein äußerst stiller, ruhiger Arrestant, er las nächtelang auf dem
-Ofen liegend die Bibel, und verlor vor lauter Lesen den Verstand, wissen
-Sie, verlor ihn ganz und gar, so daß er eines schönen Tages ohne jede
-Veranlassung, ohne jeden Grund einen Ziegelstein packte und ihn auf den
-Vorgesetzten schleuderte. Ja, und wie tat er es, -- absichtlich
-schleuderte er den Stein eine Elle vorbei, um dem Vorgesetzten bloß
-keinen Schaden anzufügen! Nun, es ist ja bekannt, was mit einem
-Arrestanten geschieht, der bewaffneten Widerstand gegen seinen
-Vorgesetzten leistet, -- und da hatte er also >das Leiden auf sich
-genommen<! Ich habe nun den Verdacht, daß Nikolai auch >das Leiden auf
-sich nehmen< oder etwas derartiges tun will. Das weiß ich sicher, aus
-Tatsachen. Er weiß bloß selbst nicht, daß ich es weiß. Was -- geben Sie
-es etwa nicht zu, daß aus solch einem Volke phantastische Menschen
-hervortreten? Aber sicher auf Schritt und Tritt. Der gottesfürchtige
-Greis hat jetzt wieder bei ihm zu wirken begonnen, ist ihm besonders
-nach dem Selbstmordversuch in Erinnerung gekommen. Übrigens aber, er
-wird mir selbst alles erzählen, er wird zu mir kommen. Sie glauben, er
-wird es bis zu Ende aushalten können? Warten Sie nur, er wird seine
-Aussage noch zurücknehmen! Ich warte stündlich, daß er kommen wird, um
-seine Aussage zurückzunehmen. Ich habe diesen Nikolai liebgewonnen und
-will ihn genau ergründen. Und können Sie sich denken! He--he--he! Manche
-Punkte hat er mir ziemlich vernünftig beantwortet, hat offenbar die
-nötigen Mitteilungen erhalten und sich gut vorbereitet; nun, und bei
-anderen Punkten blamierte er sich mordsmäßig, wußte rein gar nichts,
-hatte keine Ahnung, und weiß selbst nicht mal, daß er nichts ahnt! Nein,
-Väterchen, Rodion Romanowitsch, mit dieser Sache hat Nikolai nichts zu
-tun! Es ist eine phantastische, finstere Sache, eine moderne Sache, ein
-Fall unserer Zeit, wo das menschliche Herz sich getrübt hat -- wo die
-Phrase zitiert wird, daß Blutvergießen >erfrischt<, wo von einem Leben
-in Komfort gepredigt wird. Hier -- sind Ideen aus Büchern, hier spricht
-ein durch Theorien gereiztes Herz, hier sieht man eine Entschlossenheit
-zum ersten Schritt, aber eine Entschlossenheit besonderer Art, -- er hat
-sich dazu entschlossen, wie man sich entschließt, von einem Felsen oder
-von einem Turme sich herabzustürzen, und ist zu dem Verbrechen nicht wie
-auf eigenen Füßen geschritten. Er hatte vergessen, die Türe hinter sich
-zu schließen und hat getötet, zwei Menschen getötet, nach der Theorie.
-Er hat getötet, aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen, was er aber
-zusammengerafft hat, steckte er unter einen Stein. Es genügte ihm nicht,
-daß er eine Qual durchgemacht hatte, als er hinter der Tür stand und an
-der Tür gerüttelt und an der Klingel gerissen wurde, -- nein, er geht
-noch einmal nachher in die leere Wohnung in halbbewußtem Zustande, um
-sich dieses Läuten in Erinnerung zu bringen, es verlangt ihn wieder,
-diese Kälte im Rücken zu spüren ... Nun ja, dies ist im kranken Zustande
-geschehen, aber noch eins, -- er hat ermordet, hält sich aber für einen
-ehrlichen Menschen, verachtet alle Leute, wandert als bleicher Engel
-herum, -- nein, was hat Nikolai damit zu tun, lieber Rodion
-Romanowitsch, nein, Nikolai ist es nicht!«
-
-Diese letzten Worte waren nach allem vorher Gesagten, das einem Aufgeben
-des früher Angenommenen so ähnlich war, zu unerwartet gekommen.
-Raskolnikoff erzitterte am ganzen Körper, wie vom Blitze getroffen.
-
-»Wer hat sie denn ... getötet ...« fragte er mit erstickender Stimme,
-ohne doch die Frage zurückhalten zu können. Porphyri Petrowitsch warf
-sich gegen die Stuhllehne zurück, wie aufs äußerste überrascht und
-erstaunt über diese Frage.
-
-»Wie, wer sie getötet hat? ...« wiederholte er, als traue er seinen
-Ohren nicht. -- »Ja, _Sie_ haben getötet, Rodion Romanowitsch! Sie haben
-getötet ...« fügte er fast im Flüstertone, aber bestimmt hinzu.
-
-Raskolnikoff sprang vom Sofa auf, stand einige Sekunden und setzte sich
-wieder, ohne ein Wort zu sagen. Über sein Gesicht ging ein krampfhaftes
-Zucken.
-
-»Die Lippe bebt wieder bei Ihnen, wie damals,« murmelte scheinbar voll
-Teilnahme Porphyri Petrowitsch. -- »Sie haben, Rodion Romanowitsch, mich
-nicht richtig verstanden,« fügte er nach einigem Schweigen hinzu, »darum
-sind Sie auch so überrascht. Ich bin gerade darum gekommen, um Ihnen
-alles zu sagen und die Sache offen mit Ihnen zu behandeln.«
-
-»Ich habe nicht getötet,« flüsterte Raskolnikoff, genau wie ein Kind im
-Schreck, wenn es auf frischer Tat ertappt wurde.
-
-»Nein, Sie haben es getan, Rodion Romanowitsch, Sie und niemand anders,«
-flüsterte Porphyri Petrowitsch streng und fest.
-
-Sie schwiegen beide und das Schweigen dauerte merkwürdig lange, etwa
-zehn Minuten. Raskolnikoff hatte sich auf den Tisch gestützt und fuhr
-schweigend mit den Fingern durch die Haare. Porphyri Petrowitsch saß
-still und wartete. Plötzlich blickte Raskolnikoff Porphyri Petrowitsch
-verächtlich an.
-
-»Sie kommen wieder mit der alten Weise, Porphyri Petrowitsch! Immer Ihre
-alte Taktik, -- wird es Ihnen in der Tat nicht langweilig?«
-
-»Ach, lassen Sie doch, was soll es denn für eine Taktik sein! Ja, wenn
-Zeugen zur Stelle wären; wir sprechen aber doch Auge in Auge. Sie sehen
-selbst, ich bin nicht dazu hergekommen, um Sie zu hetzen und zu
-umgarnen, wie ein flüchtiges Wild. Ob Sie gestehen oder nicht, -- in
-diesem Augenblicke ist es mir einerlei. Für meine Person bin ich auch
-ohne das überzeugt.«
-
-»Wenn die Sache so steht, warum sind Sie denn gekommen?« fragte
-Raskolnikoff gereizt. -- »Ich stelle Ihnen die frühere Frage, -- wenn
-Sie mich für den Schuldigen halten, warum sperren Sie mich nicht ins
-Gefängnis?«
-
-»Das ist doch einmal ein Wort! Darum will ich Ihnen diese Frage genau
-beantworten, -- erstens, Sie einfach ins Gefängnis zu sperren, ist für
-mich unvorteilhaft.«
-
-»Wieso unvorteilhaft? Wenn Sie überzeugt sind, so müssen Sie sogar ...«
-
-»Ach, was hat es denn zu sagen, daß ich überzeugt bin? Alles ist doch
-vorläufig ein Gedanke von mir, eine Einbildung. Ja und warum soll ich
-Sie dort _zur Ruhe_ setzen? Sie wissen das selbst, wenn Sie darauf
-drängen. Ich bringe zum Beispiel den Kleinbürger hin, um Sie zu
-überführen, Sie werden ihm aber sagen, -- bist du betrunken oder nicht?
-Wer hat dich mit mir zusammen gesehen? Ich habe dich einfach für einen
-Betrunkenen gehalten, und du warst es auch, -- was soll ich Ihnen darauf
-erwidern, umsomehr, als Ihre Worte überzeugender sind als seine, denn in
-seiner Aussage steckt nur eine psychologische Mutmaßung, -- das paßt
-aber zu seiner Fratze nicht mal, -- Sie aber treffen den Kernpunkt, denn
-der gemeine Kerl trinkt sehr stark und ist dafür bekannt. Und ich habe
-selbst Ihnen offen schon einigemal gesagt, daß diese Psychologie zwei
-Seiten hat, und daß die zweite Seite die größere Wahrscheinlichkeit für
-sich hat, und habe hinzugefügt, daß ich außer diesem vorläufig gar
-nichts gegen Sie in den Händen habe. Und obwohl ich Sie einsperren
-werde, und sogar selbst gekommen bin -- (was doch sicher nicht gang und
-gäbe ist) -- Ihnen im voraus alles mitzuteilen, trotzdem sage ich Ihnen
-offen -- (was wieder nicht gang und gäbe ist) -- daß dies für mich
-unvorteilhaft sein wird. Und zweitens, bin ich darum zu Ihnen gekommen
-...«
-
-»Und zweitens?« Raskolnikoff rang immer noch nach Atem.
-
-»Weil ich mich, wie ich Ihnen schon vorhin erklärte, für verpflichtet
-halte, Ihnen eine Erklärung abzugeben. Ich will nicht, daß Sie mich für
-ein Scheusal ansehen sollen, umsomehr, als ich zu Ihnen eine aufrichtige
-Neigung gefaßt habe, ob Sie mir glauben oder nicht. Und deswegen bin
-ich, drittens, gekommen, Ihnen den offenen und direkten Vorschlag zu
-machen -- sich selbst anzuzeigen und ein Geständnis abzulegen. Das ist
-für Sie das Gescheiteste, und auch für mich am vorteilhaftesten, -- dann
-bin ich die Sache los. Nun, war ich meinerseits offen oder nicht?«
-
-Raskolnikoff dachte einen Augenblick nach.
-
-»Hören Sie, Porphyri Petrowitsch, Sie sagen doch selbst, -- es ist nur
-auf Psychologie begründet, indessen aber ziehen Sie die Mathematik
-herein. Nun wie, wenn Sie sich selbst irren?«
-
-»Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe ein Endchen in
-der Hand. Das Endchen hatte ich auch damals erwischt; Gott hat es mir
-geschenkt!«
-
-»Was für ein Endchen?«
-
-»Das sage ich nicht, Rodion Romanowitsch. In jedem Falle aber habe ich
-jetzt nicht mehr das Recht, es hinauszuschieben; ich werde Sie
-verhaften. Also ziehen Sie dies in Betracht, -- für mich ist _es jetzt_
-gleichgültig, folglich tue ich es bloß um Ihretwillen. Bei Gott, es wird
-für Sie besser sein, Rodion Romanowitsch!«
-
-Raskolnikoff lächelte boshaft.
-
-»Es ist doch nicht bloß lächerlich, es ist unverschämt. Und mag ich
-schuldig sein, -- was ich noch gar nicht sage, -- nun, warum soll ich
-denn zu Ihnen mit einem freiwilligen Geständnis kommen, wenn Sie schon
-selbst sagen, daß ich dort bei Ihnen mich _zur Ruhe_ setzen werde?«
-
-»Ach, Rodion Romanowitsch, trauen Sie nicht ganz den Worten; vielleicht
-wird es auch nicht ganz >_zur Ruhe_< sein! Es ist doch bloß eine Theorie
-und zudem noch meine eigene, was für eine Autorität aber bin ich für
-Sie? Vielleicht verheimliche ich auch jetzt noch irgend etwas vor Ihnen.
-Ich kann Ihnen doch nicht alles offenbaren und zeigen. He--he! Außerdem,
-Sie fragen, welchen Vorteil Sie haben werden? Ja, wissen Sie auch, welch
-eine Strafermäßigung Sie erhalten werden? Wann werden Sie kommen, in
-welchem Augenblick? Überlegen Sie es sich doch bloß! In dem Momente, wo
-schon ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze
-Angelegenheit verwirrt hat! Und ich will, -- so wahr ein Gott ist --
-alles >dort< so einrichten und arrangieren, daß Ihr Geständnis wie
-vollkommen unerwartet erscheinen wird. Diese ganze Psychologie wollen
-wir ganz vernichten, allen Verdacht will ich in nichts verwandeln, so
-daß Ihr Verbrechen, wie eine Art Verblendung erscheinen wird, denn --
-offen gestanden, -- es war auch eine Verblendung. Ich bin ein ehrlicher
-Mensch, Rodion Romanowitsch, und werde mein Wort halten.«
-
-Raskolnikoff schwieg traurig und ließ den Kopf sinken; er dachte lange
-nach, plötzlich lächelte er wieder, aber sein Lächeln war diesmal schon
-sanft und traurig.
-
-»Ach, es ist nicht nötig!« sagte er, als ob er sich gar nicht mehr vor
-Porphyri Petrowitsch verberge. -- »Es lohnt sich nicht! Ich brauche gar
-nicht Ihre Strafermäßigung!«
-
-»Das fürchtete ich gerade!« rief Porphyri Petrowitsch innig und
-unwillkürlich, -- »das fürchtete ich gerade, daß Sie unsere Ermäßigung
-nicht brauchen.«
-
-Raskolnikoff blickte ihn traurig und eindringlich an.
-
-»Hören Sie, verschmähen Sie das Leben nicht!« fuhr Porphyri Petrowitsch
-fort. -- »Sie haben noch viel von ihm zu erwarten. Warum ist eine
-Strafermäßigung nicht nötig, warum nicht? Sie ungeduldiger Mensch!«
-
-»Was habe ich denn noch viel vor?«
-
-»Zu leben! Was sind Sie für ein Prophet, wissen Sie denn wie viel?
-Suchet und ihr werdet finden. Vielleicht hat Sie Gott hier geprüft. Ja,
-und nicht ewig wird doch die Kette angelegt ...«
-
-»Eine Ermäßigung wird sein ...« lachte Raskolnikoff.
-
-»Haben Sie etwa Furcht vor der Bourgeoisschande? Das ist wohl möglich,
-daß Sie dieses schreckt, und Sie wissen es vielleicht selbst nicht, --
-denn Sie sind noch jung! Aber Sie sollten sich wenigstens doch nicht
-fürchten oder etwa schämen, ein Geständnis abzulegen.«
-
-»Ach, ich pfeife darauf!« flüsterte Raskolnikoff verächtlich und mit
-Widerwillen, als ob er darüber auch nicht mehr reden wolle. Er war
-wieder aufgestanden, als ob er irgendwohin gehen wollte, setzte sich
-aber von neuem in sichtlicher Verzweiflung.
-
-»Da haben wir es -- ich pfeife darauf! Sie haben den Glauben verloren,
-und meinen auch, daß ich Ihnen grob schmeichle; haben Sie denn so lange
-gelebt? Verstehen Sie denn so viel davon? Haben sich eine Theorie
-ausgedacht, und schämen sich nun, daß nichts daraus wurde, und daß es zu
-wenig originell herauskam. Es nahm ein gemeines Ende, das ist wahr, aber
-Sie sind doch kein hoffnungsloser Schuft! Sie haben sich wenigstens
-nicht lange Sand in die Augen gestreut, Sie sind mit einem bis zu den
-äußersten Grenzen gegangen. Für wen halte ich Sie denn? Ich halte Sie
-für einen von der Sorte Menschen, denen man den Leib aufschlitzen kann,
-die aber ruhig dastehen und mit einem Lächeln auf ihre Peiniger blicken,
--- wenn sie nur einen Glauben oder einen Gott gefunden haben. Nun, gehen
-Sie und finden Sie es und Sie werden leben. Außerdem müssen Sie schon
-längst eine Luftveränderung haben. Was, das Leiden ist auch eine gute
-Sache. Leiden Sie eine Zeit. Nikolai hat vielleicht auch recht, daß er
-Leiden sucht. Ich weiß, daß Sie noch nicht glauben können, -- grübeln
-Sie aber nicht zu viel; geben Sie sich einfach, ohne viel zu überlegen,
-dem Leben hin; seien Sie sicher, -- es bringt Sie an das Ufer und stellt
-Sie auf die Beine. An was für ein Ufer weiß ich nicht. Woher soll ich es
-auch wissen? Ich glaube nur daran, daß Sie noch viel zu leben haben. Ich
-weiß auch, daß Sie meine Worte jetzt wie eine auswendig gelernte Predigt
-auffassen; aber vielleicht werden Sie sich ihrer einmal später erinnern
-und sie werden Ihnen von Nutzen sein können. Aus diesem Grunde spreche
-ich auch. Es ist gut, daß Sie nur diese Alte ermordet haben. Wenn Sie
-aber sich eine andere Theorie ausgedacht hätten, so würden Sie
-vielleicht eine um hundert Millionen schlimmere Sache vollbracht haben!
-Man muß vielleicht noch Gott danken; woher wissen Sie es? Vielleicht
-behütet Sie Gott aus irgend einem Grunde. Sie sollten aber ein großes
-Herz haben und sich weniger fürchten. Ihnen ist bange vor der Größe
-dessen, was jetzt zu geschehen hat? Nein, in diesem Falle muß man sich
-schämen, bange zu sein. Wenn Sie einen solchen Schritt getan haben, so
-nehmen Sie sich auch jetzt zusammen. Darin liegt die ausgleichende
-Gerechtigkeit. Erfüllen Sie nun mal, was die Gerechtigkeit verlangt. Ich
-weiß, daß Sie nicht glauben, aber -- bei Gott -- das Leben wird Ihnen zu
-weiterem verhelfen. Nachher werden Sie es selbst gern haben. Sie
-brauchen jetzt bloß Luft, Luft und Luft!«
-
-Raskolnikoff zuckte zusammen.
-
-»Ja, wer sind Sie denn?« rief er aus. -- »Sind Sie etwa ein Prophet?
-Woher haben Sie diese hohe majestätische Ruhe, um mir superkluge
-Prophezeiungen vorzuorakeln?«
-
-»Wer ich bin? Ich bin ein abgetaner Mensch, mehr nicht. Ein Mensch, der
-vielleicht empfindet und Mitgefühl besitzt, vielleicht auch etwas weiß,
-aber schon vollkommen abgetan ist. Sie aber -- mit Ihnen steht es
-anders; Ihnen hat Gott das Leben vorbehalten; wer weiß, vielleicht geht
-bei Ihnen alles wie ein Dunst vorüber, nichts wird zurückbleiben. Nun,
-was ist denn dabei, daß Sie in eine andere Gattung von Menschen
-übergehen werden? Sie mit Ihrem Herzen sollten doch nicht den Komfort
-bedauern? Was ist denn dabei, daß man Sie vielleicht lange nicht mehr
-sehen wird? Hier handelt es sich nicht um die Zeit, sondern um Sie
-selbst. Werden Sie eine Sonne, und alle werden Sie sehen. Eine Sonne muß
-vor allen Dingen eine Sonne sein. Warum lächeln Sie wieder, -- daß ich
-solch ein Schiller bin? Und ich gehe eine Wette ein, Sie meinen, daß ich
-mich an Sie heranschmeichle! Nun, vielleicht schmeichle ich mich auch
-tatsächlich heran, he--he--he! Sie brauchen mir, Rodion Romanowitsch,
-meinetwegen kein Wort zu glauben, meinetwegen, glauben Sie auch niemals,
--- ich habe schon so eine Art, gebe es zu; aber eins füge ich hinzu, --
-ob ich ein gemeiner und wie weit ich ein ehrlicher Mensch bin, können
-Sie, glaube ich, selbst beurteilen!«
-
-»Wann denken Sie mich zu verhaften?«
-
-»Nun, anderthalb oder zwei Tage kann ich Sie noch frei herumgehen
-lassen. Denken Sie nach, mein Lieber, beten Sie zu Gott. Ja, es ist
-vorteilhafter, -- bei Gott -- vorteilhafter.«
-
-»Wenn ich aber fliehen werde?« fragte Raskolnikoff mit einem sonderbaren
-Lächeln.
-
-»Nein, Sie werden nicht fliehen. Ein Bauer wird davonlaufen, ein
-moderner Sektierer wird fliehen -- ein Lakai, der von fremden Gedanken
-zehrt, dem man bloß eine Fingerspitze zu zeigen braucht und der an
-alles, was Sie wollen, sein Lebelang glauben wird. Sie aber glauben doch
-nicht mehr an Ihre Theorie, -- warum wollen Sie fliehen? Ja, und was
-wollen Sie in einem freiwilligen Exil? Im Exil ist es häßlich und
-schwer, Sie aber brauchen vor allen Dingen Leben und eine bestimmte
-Lage, eine entsprechende Luft, und gibt es für Sie im Exil die nötige
-Luft? Wenn Sie fliehen werden, kehren Sie selbst zurück. _Ohne uns
-können Sie nicht auskommen._ Und wenn ich Sie ins Gefängnis setze, --
-nun, Sie werden einen Monat sitzen, meinetwegen auch zwei oder drei, und
-dann werden Sie plötzlich, -- denken Sie an meine Worte, -- selbst zu
-mir kommen und gestehen, und möglicherweise für Sie selbst unerwartet.
-Sie werden selbst noch eine Stunde vorher nicht wissen, daß Sie ein
-Geständnis ablegen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie auf den
-Gedanken kommen werden, das Leiden auf sich zu nehmen. Sie glauben mir
-jetzt nicht auf mein bloßes Wort hin, Sie werden selbst aber darauf
-verfallen. Denn das Leiden, Rodion Romanowitsch, ist ein großes Ding;
-lassen Sie außer acht, daß ich fett und dick geworden bin, das tut
-nichts, ich weiß es dennoch; lachen Sie nicht darüber, -- im Leiden
-liegt eine tiefe Idee. Nikolai hat recht. Nein, Sie werden nicht
-davonlaufen, Rodion Romanowitsch.«
-
-Raskolnikoff stand von seinem Platz auf und nahm seine Mütze. Porphyri
-Petrowitsch erhob sich auch.
-
-»Sie wollen spazieren gehen? Der Abend wird schön werden, es möge nur
-kein Gewitter kommen. Es wäre zwar besser, wenn es frischer würde ...«
-
-Er nahm auch seine Mütze.
-
-»Porphyri Petrowitsch,« sagte Raskolnikoff mit strenger
-Eindringlichkeit, »bitte, setzen Sie sich nicht in den Kopf, daß ich
-Ihnen heute gestanden habe. Sie sind ein sonderbarer Mensch und ich habe
-Ihnen aus bloßer Neugier zugehört. Ich habe Ihnen aber nichts
-eingestanden ... Vergessen Sie es nicht.«
-
-»Nun gut, ich werde es nicht vergessen, -- sehen Sie nur, wie Sie
-zittern. Seien Sie ruhig, mein Lieber; Ihren Willen sollen Sie haben.
-Gehen Sie ein wenig spazieren; zu viel aber sollen Sie nicht gehen. Ich
-habe an Sie für jeden Fall noch eine kleine Bitte,« fügte er mit
-gesenkter Stimme hinzu, -- »eine peinliche, aber wichtige Bitte, -- wenn
-Sie, das heißt, für jeden Fall ... woran ich übrigens nicht glaube und
-Sie zu ähnlichem für ganz und gar nicht fähig halte, ... falls -- ich
-sage es bloß für jeden Fall -- Sie in diesen vierzig oder fünfzig
-Stunden Lust verspüren sollten, die Sache irgendwie anders, in einer
-phantastischen Weise aus der Welt zu schaffen, -- sagen wir, Hand an
-sich legen zu wollen ... es ist ja eine unsinnige Annahme, entschuldigen
-Sie bitte, -- hinterlassen Sie dann eine kurze aber genaue Mitteilung.
-Es brauchen bloß zwei Zeilen, zwei kurze Zeilen zu sein und erwähnen Sie
-auch den Stein; das wird anständiger sein. Nun, auf Wiedersehen ... Ich
-wünsche Ihnen gute Gedanken und die rechten Vorsätze!«
-
-Porphyri Petrowitsch ging gebückt hinaus, und vermied es, Raskolnikoff
-anzublicken. -- Raskolnikoff trat an das Fenster und wartete gereizt und
-ungeduldig, bis jener auf der Straße sein konnte und weitergegangen war.
-Dann verließ auch er selbst schnell das Zimmer.
-
-
- III.
-
-Er eilte zu Sswidrigailoff. Was er von diesem Menschen erwartete, --
-wußte er selbst nicht. Er wußte nur das eine, daß der eine Macht über
-ihn hatte. Nachdem er dies einmal eingesehen hatte, konnte er sich nicht
-länger mehr beunruhigen und außerdem war jetzt die richtige Zeit
-gekommen. -- Auf dem Wege quälte ihn besonders die eine Frage, -- war
-Sswidrigailoff bei Porphyri Petrowitsch gewesen?
-
-Soweit er beurteilen konnte, und er hätte darauf schwören mögen, -- war
-er nicht dort gewesen! Er dachte wiederholt nach, rief den ganzen Besuch
-Porphyri Petrowitschs in seine Erinnerung zurück und überlegte: -- nein,
-er war nicht bei ihm gewesen, ganz gewiß nicht!
-
-Aber wenn er noch nicht dort gewesen war, würde er oder würde er nicht
-zu Porphyri Petrowitsch hingehen?
-
-Vorläufig schien es Raskolnikoff, als ob er nicht hingehen würde. Warum?
-Er konnte sich selber dies nicht erklären, aber wenn er es auch gekonnt
-hätte, so wollte er sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dies
-alles quälte ihn, und doch hatte er zugleich für etwas anderes
-Interesse. Es war erstaunlich und niemand würde es vielleicht geglaubt
-haben, -- um sein jetziges unumgängliches Schicksal war er wenig
-besorgt, er dachte nur zerstreut daran. Ihn quälte etwas anderes,
-anscheinend Wichtigeres, etwas Außergewöhnliches, -- das nur ihn selbst
-und niemand anderen betraf. Außerdem empfand er eine grenzenlose
-seelische Erschlaffung, obgleich sein Verstand an diesem Morgen besser
-arbeitete, als in allen diesen letzten Tagen.
-
-Und war es der Mühe wert, nach alledem, was vorgefallen war, diese neuen
-winzigen Bedrängnisse zu überwinden? War es der Mühe wert, zum Beispiel,
-zu intrigieren, damit Sswidrigailoff nicht zu Porphyri Petrowitsch
-hingehe; ihn zu studieren, auszukundschaften und Zeit zu verlieren für
-einen Sswidrigailoff?
-
-Oh, wie ihm dies alles langweilig war!
-
-Indessen eilte er aber doch zu Sswidrigailoff; erwartete er etwa von ihm
-etwas _neues_, oder Fingerzeige oder einen Ausweg? Man greift in der Not
-auch nach einem Strohhalm! Führte sie etwa jetzt das Schicksal oder ein
-Instinkt zusammen? Vielleicht war es bloß Müdigkeit, Verzweiflung,
-vielleicht brauchte er gar nicht Sswidrigailoff, sondern jemand anderen,
-und Sswidrigailoff war ihm nur in den Weg gelaufen. Ssonja? Ja, wozu
-sollte er jetzt zu Ssonja gehen? Wieder um ihre Tränen betteln? Ssonja
-war ihm jetzt schrecklich. In Ssonja stellte er sich ein unerbittliches
-Urteil, einen unwandelbaren Entschluß vor. Hier aber handelte es sich
-darum, entweder ihr oder sein Weg. Besonders im gegenwärtigen
-Augenblicke war er außerstande, sie zu sehen. Nein, es wäre besser,
-Sswidrigailoff auszuforschen, -- was wäre dabei? Er konnte sich nicht
-innerlich eingestehen, daß er tatsächlich jenen schon längst zu irgend
-etwas gebrauchte.
-
-Aber was konnte es zwischen ihnen beiden gemeinsames geben? Selbst eine
-Freveltat konnte sie beide nicht auf gleiche Stufe bringen. Dieser
-Mensch war ihm sehr unangenehm, offenbar äußerst verdorben, sicher aber
-schlau und unzuverlässig, und vielleicht auch bösartig. Von ihm wurde
-allerhand erzählt. Es war ja richtig, er hat sich der Kinder Katerina
-Iwanownas angenommen; aber wer weiß, zu welchem Zwecke und was es noch
-auf sich hatte? Dieser Mensch hatte stets seine Absichten und Pläne.
-
-In all diesen Tagen schwebte ständig Raskolnikoff noch ein Gedanke vor
-und beunruhigte ihn sehr, obwohl er ihn stets von sich zu weisen suchte;
-so schwer lastete dieser Gedanke auf ihm! Er dachte -- Sswidrigailoff
-hat die ganze Zeit sich mit ihm beschäftigt; Sswidrigailoff hat sein
-Geheimnis erfahren und hatte schon böse Absichten gegenüber Dunja. Man
-könnte doch fast mit Bestimmtheit sagen, daß _er sie noch haben_ werde.
-Und wenn er jetzt, nachdem er sein Geheimnis erfahren und so über ihn
-eine Macht erhalten hätte, sie als eine Waffe gegen Dunja benutzen
-wollte?
-
-Dieser Gedanke quälte ihn sogar im Traume, aber noch nie war er ihm so
-deutlich gekommen, wie jetzt. Und dieser Gedanke allein versetzte ihn in
-die äußerste Wut. Dann würde sich alles verändern, sogar seine eigene
-Lage, -- er muß dann sofort sein Geheimnis Dunetschka mitteilen. Er
-mußte sich vielleicht selbst verraten, um Dunetschka von einem
-unvorsichtigen Schritt abzuhalten. Und der Brief? Heute früh hatte
-Dunetschka einen Brief erhalten! Von wem in Petersburg kann sie Briefe
-empfangen? Etwa von Luschin? Es ist ja wahr, dort paßt Rasumichin auf,
-aber Rasumichin weiß doch nichts von alldem. Vielleicht muß er sich auch
-Rasumichin anvertrauen. Raskolnikoff dachte mit Widerwillen an diese
-Möglichkeit.
-
-Er beschloß endgültig, Sswidrigailoff in jedem Falle möglichst bald
-aufzusuchen. Gott sei Dank, hier handelt es sich nicht so sehr um die
-Einzelheiten, als um den Kernpunkt der Sache, -- aber wenn er, wenn er
-schon fähig war ... wenn Sswidrigailoff irgend etwas gegen Dunja
-vorhatte, -- so ...
-
-Raskolnikoff war während dieser ganzen Zeit, während dieses ganzen
-Monats so abgespannt geworden, daß er jetzt ähnliche Fragen nicht anders
-mehr lösen konnte, als bloß durch das eine, -- »dann töte ich ihn!« Das
-dachte er auch in diesem Augenblicke mit kalter Verzweiflung. Schwer
-bedrückte es sein Herz; er blieb mitten auf der Straße stehen und begann
-sich umzusehen, -- welchen Weg er ging und wohin er gekommen war? Er
-befand sich auf dem N.schen Prospekt, dreißig oder vierzig Schritte vom
-Heumarkt entfernt, den er passiert hatte. Der ganze zweite Stock eines
-Hauses linker Hand war von einem Restaurant eingenommen. Alle Fenster
-waren weit geöffnet; das Restaurant war, nach den vielen an den Fenstern
-sich bewegenden Gestalten zu urteilen, stark besetzt. Im Saale sang ein
-Chor, Lieder, Klarinetten und Geigen tönten und eine türkische Trommel
-lärmte. Man hörte auch das Gekreische einiger Weiber. Er wollte umkehren
-und begriff gar nicht, wie er auf den N.schen Prospekt gekommen war, als
-er plötzlich in einem der letzten offenen Fenster des Restaurants
-Sswidrigailoff erblickte, der dort hinter einem Teetisch mit einer
-Pfeife im Munde saß. Er erschrak, und sein Schrecken ward zum Entsetzen.
-Sswidrigailoff blickte ihn an und beobachtete ihn schweigend und wollte
--- was Raskolnikoff ebenfalls betroffen machte, wie es schien,
-aufstehen, um leise und unbemerkt fortzugehen. Raskolnikoff gab sich
-sofort den Anschein, als hätte auch er ihn nicht bemerkt, und blickte in
-Gedanken versunken zur Seite, ohne aber ihn ganz aus dem Auge zu lassen.
-Sein Herz klopfte unruhig. Es war richtig, -- Sswidrigailoff wollte
-offenbar nicht gesehen werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und
-wollte sich verbergen; als er aber aufstand und den Stuhl zur Seite
-schob, hatte er wahrscheinlich gemerkt, daß Raskolnikoff auch ihn
-gesehen und beobachtet hatte. Es war etwas, was der Szene ihres ersten
-Zusammentreffens bei Raskolnikoff, während seines Schlafes, glich. Ein
-spöttisches Lächeln zeigte sich auf dem Gesichte Sswidrigailoffs. Beide
-wußten, daß sie einander gesehen und beobachtet hatten. Zuletzt lachte
-Sswidrigailoff laut auf.
-
-»Nun! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie wollen; ich bin hier!« rief er
-ihm aus dem Fenster zu.
-
-Raskolnikoff ging in das Restaurant hinauf. Er fand ihn in einem sehr
-kleinen Hinterzimmer mit einem Fenster, das an den großen Saal anstieß,
-in dem an etwa zwanzig kleinen Tischen beim greulichen Gebrüll eines
-Sängerchores Kaufleute, Beamte und andere Leute Tee tranken. Aus einer
-anderen Ecke vernahm man das Anprallen von Billardkugeln. Auf dem Tische
-vor Sswidrigailoff stand eine angebrochene Flasche Champagner und ein
-Glas, zur Hälfte mit Wein gefüllt. In dem kleinen Zimmer befanden sich
-außerdem ein Knabe, der eine kleine Drehorgel hatte, und ein kräftiges
-rotwangiges Mädchen, in einem gestreiften aufgebauschten Rocke und einem
-Tiroler Hütchen mit Bändern. Es war eine Sängerin, etwa achtzehn Jahre
-alt, die, trotz des Chorgesanges in dem anderen Zimmer, unter Begleitung
-der Drehorgel einen Gassenhauer mit ziemlich heiserer Kontrealtstimme
-sang ...
-
-»Nun, genug!« unterbrach Sswidrigailoff sie beim Eintritt Raskolnikoffs.
-
-Das Mädchen brach sofort ab und blieb in ehrerbietiger Erwartung stehen.
-Auch ihren Gassenhauer hatte sie mit einem ehrerbietigen und ernsten
-Ausdrucke im Gesichte gesungen.
-
-»He, Philipp, ein Glas!« rief Sswidrigailoff.
-
-»Ich werde keinen Wein trinken,« sagte Raskolnikoff.
-
-»Wie Sie wollen, aber ich habe das Glas nicht Ihretwegen bestellt.
-Trink, Katja! Heute brauche ich euch nicht mehr, geht!« -- Er goß ihr
-ein volles Glas Wein ein und legte einen Rubelschein für sie auf den
-Tisch.
-
-Katja leerte das Glas mit einem Male, wie die Frauen Wein trinken, das
-heißt, ohne das Glas abzusetzen und zwanzigmal schluckend, sie nahm dann
-den Schein, küßte Sswidrigailoff die Hand, was er sehr ernst zuließ und
-verließ das Zimmer, ihr folgte der Knabe mit der Drehorgel. Man hatte
-beide von der Straße heraufgeholt. Sswidrigailoff wohnte noch nicht
-einmal eine Woche in Petersburg und alles verkehrte schon mit ihm auf
-recht patriarchalischem Fuße. Auch der Kellner Philipp kannte ihn schon
-und bediente ihn unterwürfigst. Die Tür zum Saale wurde geschlossen,
-Sswidrigailoff war in diesem Zimmer wie bei sich zu Hause und verbrachte
-hier jedenfalls ganze Tage. Das Restaurant war schmutzig, schlecht und
-nicht einmal von mittlerer Sorte.
-
-»Ich wollte zu Ihnen gehen und suchte Sie,« begann Raskolnikoff, »bog
-aber unversehens vom Heumarkte zu dem N.schen Prospekt ab! Ich gehe nie
-diesen Weg und komme nie hierher. Ich nehme vom Heumarkte immer den Weg
-zur rechten Hand. Auch der Weg zu Ihnen führt hier nicht vorbei. Doch
-kaum als ich einbog, erblickte ich Sie sofort. Das ist seltsam!«
-
-»Warum sagen Sie nicht offen heraus, -- das ist ein Wunder!«
-
-»Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.«
-
-»Wie sonderbar all diese Leute beschaffen sind!« lachte Sswidrigailoff,
-»Sie wollen es nicht eingestehen, wenn Sie auch innerlich selbst an
-Wunder glauben! Sie sagen doch selbst, daß es -- >vielleicht< -- bloß
-ein Zufall ist. Und wie sie alle hier feig sind, eine eigene Meinung zu
-haben, können Sie sich gar nicht vorstellen, Rodion Romanowitsch. Ich
-meine nicht Sie. Sie haben eine eigene Meinung und fürchten sich nicht,
-sie zu haben. Darum haben Sie auch mein Interesse gefesselt.«
-
-»Sonst durch nichts?«
-
-»Aber das genügt doch.«
-
-Sswidrigailoff war offenbar in erregtem Zustande, doch nur ein klein
-wenig; von dem Wein hatte er nur ein halbes Glas getrunken.
-
-»Mir scheint es, Sie kamen schon zu mir, ehe Sie erfuhren, daß ich fähig
-bin, das zu haben, was Sie eine eigene Meinung nennen,« bemerkte
-Raskolnikoff.
-
-»Nun, damals war es eine andere Sache. Jeder hat seine eigenen Wege. Was
-aber das Wunder anbetrifft, muß ich Ihnen sagen, daß Sie anscheinend
-diese letzten zwei oder drei Tage verschlafen haben. Ich habe Ihnen
-selbst dieses Restaurant angegeben, und es war gar kein Wunder, daß Sie
-hierher kamen; ich habe Ihnen selbst den ganzen Weg beschrieben und
-Ihnen den Ort und die Stunden gesagt, wann man mich hier treffen kann.
-Erinnern Sie sich?«
-
-»Ich habe es vergessen,« antwortete Raskolnikoff verwundert.
-
-»Es scheint so. Zweimal habe ich es Ihnen gesagt. Die Adresse hat sich
-Ihrem Gedächtnisse mechanisch eingeprägt. Sie schlugen auch diesen Weg
-mechanisch ein, indessen streng der Adresse folgend, ohne es selbst zu
-wissen. Als ich es Ihnen damals sagte, glaubte ich nicht, daß Sie mich
-verstanden hatten. Sie verraten sich zu sehr, Rodion Romanowitsch. Noch
-eins: -- ich bin überzeugt, daß es in Petersburg viele Leute gibt, die
-im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist eine Stadt von Halbverrückten.
-Wenn wir die Wissenschaften mehr pflegten, so könnten Mediziner,
-Juristen und Philosophen, jeder auf seinem Spezialgebiete die
-wertvollsten Untersuchungen über Petersburg anstellen. Selten findet man
-so viel finstere, tiefeinschneidende und eigentümliche Einflüsse auf die
-Seele eines Menschen vor, wie in Petersburg. Was allein sind die
-klimatischen Einflüsse wert! Indessen ist es das administrative Zentrum
-von ganz Rußland, und sein Charakter muß sich in allem geltend machen.
-Aber es handelt sich jetzt nicht darum, sondern, daß ich Sie ein paarmal
-schon heimlich beobachtet habe. Sie verlassen Ihre Wohnung -- halten den
-Kopf nach oben. Nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn schon sinken und
-die Hände legen Sie auf den Rücken. Sie blicken vor sich und sehen
-offenbar weder vor sich etwas, noch neben sich. Schließlich beginnen Sie
-die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie
-zuweilen die eine Hand frei machen und deklamieren, endlich bleiben Sie
-mitten auf dem Wege lange stehen. Das ist nicht gut. Vielleicht
-beobachtet jemand Sie außer mir, und das ist nicht vorteilhaft. Mir ist
-es im Grunde genommen gleichgültig, und ich werde Sie nicht heilen, aber
-Sie verstehen mich sicher.«
-
-»Wissen Sie es, daß man mich beobachtet?« fragte Raskolnikoff und
-blickte ihn forschend an.
-
-»Nein, ich weiß nichts davon,« antwortete Sswidrigailoff, wie
-verwundert.
-
-»Nun, lassen wir meine Person aus dem Spiel,« murmelte Raskolnikoff mit
-verdüstertem Gesichte.
-
-»Gut, lassen wir Sie aus dem Spiel.«
-
-»Sagen Sie mir lieber, -- wenn Sie hierher gehen zu trinken und mir
-selbst diesen Ort zweimal genannt haben, damit ich hierher zu Ihnen
-kommen soll, warum versteckten Sie sich denn und wollten weggehen, als
-ich Sie von der Straße aus am Fenster sah? Ich habe es sehr gut
-gemerkt.«
-
-»He--he! Warum lagen Sie auf Ihrem Sofa mit geschlossenen Augen und
-stellten sich schlafend, während Sie doch gar nicht schliefen, als ich
-damals bei Ihnen auf der Schwelle stand? Ich habe es sehr gut bemerkt.«
-
-»Ich konnte ... Gründe haben ... Sie wissen es selbst.«
-
-»Auch ich konnte meine Gründe haben, obwohl Sie sie nicht erfahren
-werden.«
-
-Raskolnikoff setzte den rechten Ellenbogen auf den Tisch, stützte mit
-den Fingern der rechten Hand sein Kinn und starrte unverwandt
-Sswidrigailoff an. Er betrachtete eine Weile sein Gesicht, das auch
-früher ihn stets in Staunen gesetzt hatte. Es war ein auffallendes
-Gesicht, das einer Maske zu gleichen schien, -- weiß, rotwangig, mit
-roten, purpurroten Lippen, mit einem hellblonden Barte und noch ziemlich
-dichten hellblonden Haaren. Die Augen waren zu blau und ihr Blick zu
-schwer und unbeweglich. Es lag etwas äußerst Unangenehmes in diesem
-hübschen und für sein Alter viel zu jugendlichen Gesichte.
-Sswidrigailoffs Kleidung war elegant, leicht, sommerlich; besonders
-elegant war seine Wäsche. An einem Finger hatte er einen großen Ring mit
-einem kostbaren Stein.
-
-»Ja, soll ich mich denn auch mit Ihnen abgeben,« sagte Raskolnikoff
-plötzlich, indem er mit krampfhafter Ungeduld auf sein Ziel losging,
-»obgleich Sie vielleicht der gefährlichste Mensch sind, wenn Sie Lust
-bekommen sollten, mir zu schaden, aber ich will mich nicht mehr
-verstellen und Komödie spielen. Ich will Ihnen gleich zeigen, daß ich
-gar keinen großen Wert auf meine Person lege, wie Sie wahrscheinlich
-annehmen. Wissen Sie, ich bin gekommen, Ihnen offen zu erklären, wenn
-Sie noch Ihre frühere Absicht gegenüber meiner Schwester hegen, und wenn
-Sie zu diesem Zwecke irgend etwas von dem, was Ihnen in der letzten Zeit
-bekannt geworden ist, zu benutzen gedenken, -- ich Sie eher töten werde,
-bevor Sie mich ins Gefängnis bringen. Mein Wort ist sicher, -- Sie
-wissen, daß ich es zu halten imstande bin. Zweitens, wenn Sie mir irgend
-etwas zu sagen haben, -- denn es schien mir die ganze Zeit, als wollten
-Sie mir etwas mitteilen, -- tun Sie es schnell, denn die Zeit ist
-kostbar, und vielleicht ist es sehr bald zu spät.«
-
-»Was haben Sie denn für eine Eile?« fragte Sswidrigailoff und blickte
-ihn neugierig an.
-
-»Jeder hat seine eigenen Wege,« sagte Raskolnikoff finster und
-ungeduldig.
-
-»Sie haben mich selbst soeben gebeten, offen zu sein, und die erste
-Frage lehnen Sie schon ab, zu beantworten,« bemerkte Sswidrigailoff mit
-einem Lächeln.
-
-»Ihnen scheint es immer, daß ich irgend welche Zwecke verfolgen muß und
-darum betrachten Sie mich argwöhnisch. Nun, das ist in Ihrer Lage
-vollkommen begreiflich. Aber wie sehr ich auch wünsche, mit Ihnen in
-nähere Beziehungen zu kommen, werde ich mir doch nicht die Mühe machen,
-Sie vom Gegenteile zu überzeugen. Bei Gott, es ist nicht der Mühe wert,
-und ich hatte gar nicht die Absicht, mit Ihnen über irgend etwas
-besonderes zu sprechen.«
-
-»Wozu brauchten Sie mich dann? Sie scharwenzelten doch um mich herum?«
-
-»Ganz einfach, als ein interessantes Beobachtungsobjekt. Mir gefielen
-Sie durch das Phantastische Ihrer Lage, -- das ist der Grund. Außerdem
-sind Sie der Bruder einer Persönlichkeit, die mich sehr interessierte,
-und schließlich habe ich seinerzeit von derselben Persönlichkeit sehr
-viel und oft über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie einen großen
-Einfluß auf die Dame haben; ist denn das nicht genügend Grund?
-He--he--he! Ich muß übrigens gestehen, Ihre Frage ist für mich sehr
-kompliziert, und es fällt mir etwas schwer, Ihnen darauf zu antworten.
-Nun, zum Beispiel jetzt, -- Sie sind zu mir nicht bloß wegen der einen
-Angelegenheit gekommen, sondern auch wegen etwas ganz neuem? Es stimmt
-doch? Nicht wahr?« sagte Sswidrigailoff mit einem spöttischen Lächeln.
--- »Nun, stellen Sie sich vor, daß ich selbst, noch auf der Reise
-hierher im Eisenbahnwagen, auf Sie rechnete, daß Sie mir auch etwas
-_neues_ sagen würden, und daß es mir gelingen würde, etwas von Ihnen zu
-entlehnen! Sehen Sie, wie reich wir sind!«
-
-»Was denn entlehnen?«
-
-»Ja, was soll ich Ihnen sagen? Weiß ich etwa, -- was es ist? Sehen Sie,
-in was für einem Restaurant ich die ganze Zeit hocke, und das ist mir
-höchst unangenehm, das heißt, eigentlich nicht, aber ich muß mich doch
-irgendwo hinhocken. Nun, und diese arme Katja -- haben Sie sie gesehen?
-... Wäre ich wenigstens ein Vielfresser oder ein Feinschmecker, Sie
-sehen aber selbst, was ich esse. -- (Er zeigte mit dem Finger in eine
-Ecke, wo auf einem Tischchen das Überbleibsel von einem entsetzlichen
-Beefsteak mit Kartoffeln stand.) -- Apropos, haben Sie zu Mittag
-gegessen? Ich habe etwas zu mir genommen und möchte nichts mehr. Wein,
-z. B., trinke ich gar nicht. Außer Champagner gar keinen Wein, und davon
-trinke ich auch den ganzen Abend ein einziges Glas, davon tut mir schon
-der Kopf weh. Ich habe ihn bloß bestellt, um mir auf die Beine zu
-helfen, denn ich will irgendwohin gehen, Sie sehen mich in einer
-besonderen Stimmung. Ich habe mich darum auch vorhin wie ein Schulbube
-versteckt, weil ich meinte, daß Sie mich stören werden; aber ich glaube
--- (er zog seine Uhr hervor) -- ich kann mit Ihnen noch eine Stunde
-zusammen sein; es ist jetzt halb fünf. Glauben Sie mir, wenn ich
-wenigstens etwas wäre, sagen wir, Gutsbesitzer, Landwirt, oder Vater,
-ein Ulan, Photograph oder Journalist ... Aber nichts, ich habe gar keine
-Spezialität! Zuweilen ist mir das langweilig. Wirklich, ich glaubte, von
-Ihnen etwas neues zu hören.«
-
-»Ja, wer sind Sie denn eigentlich und warum sind Sie hierher gereist?«
-
-»Wer ich bin? Sie wissen doch, -- bin vom Adel, habe zwei Jahre in der
-Kavallerie gedient, mich dann hier in Petersburg herumgetrieben, habe
-Marfa Petrowna geheiratet und auf dem Lande gelebt. Da haben Sie meine
-Lebensbeschreibung!«
-
-»Sie sind wohl ein Spieler?«
-
-»Nein, ich bin kein Spieler. Ein Falschspieler ist kein Spieler.«
-
-»Waren Sie denn Falschspieler?«
-
-»Ja, ich war Falschspieler.«
-
-»Hat man Sie auch gefaßt?«
-
-»Es ist auch vorgekommen. Was ist dabei?«
-
-»Nun, Sie konnten doch gefordert werden ... Das bringt doch auch mehr
-Leben ins Dasein.«
-
-»Ich widerspreche Ihnen nicht und bin außerdem kein Meister im
-Philosophieren. Ich will Ihnen gestehen, daß ich mehr der Weiber wegen
-hierher gekommen bin.«
-
-»Nachdem Sie kaum Marfa Petrowna beerdigt hatten?«
-
-»Nun ja,« lächelte Sswidrigailoff mit einer frappanten Offenheit. --
-»Was ist dabei? Mir scheint, Sie finden etwas schlechtes darin, daß ich
-über die Weiber so rede.«
-
-»Das will wohl sagen, ob ich etwas schlechtes in der Unsittlichkeit
-finde oder nicht?«
-
-»In der Unsittlichkeit! Nun, Sie gehen zu weit! Übrigens aber will ich
-Ihnen zuerst im allgemeinen über die Frauen antworten. Wissen Sie, ich
-liebe gerade jetzt zu plaudern. Sagen Sie mir, wozu soll ich mich
-enthalten? Warum soll ich die Frauen lassen, wenn ich ein großer Freund
-davon bin? Sie sind doch wenigstens eine Beschäftigung.«
-
-»Also Sie rechnen hier bloß auf die Unsittlichkeit?«
-
-»Was ist dabei, ja, meinetwegen auf Unsittlichkeit. Wie Sie sich darauf
-versessen haben. Ich liebe aber wenigstens eine offene Frage. In dieser
-Unsittlichkeit ist etwas beständiges, in der Natur begründetes und der
-Phantasie nicht unterworfenes, etwas, das stets wie eine feurige Glut im
-Blute steckt, ewig anfeuert und das man lange nicht, auch mit den Jahren
-vielleicht nicht, so schnell auslöschen kann. Geben Sie doch selbst zu,
-ist das nicht eine Art von Beschäftigung?«
-
-»Wie soll man sich dabei freuen? Es ist eine Krankheit, und eine
-gefährliche.«
-
-»Ah, Sie kommen _damit_! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, wie
-auch alles, was über das Maß hinausgeht, -- und hier wird man unbedingt
-das Maß überschreiten, -- aber das ist doch, erstens, bei dem einen so,
-bei dem anderen anders, und zweitens, muß man eben wie in allem Maß
-einhalten; es ist Berechnung und eine gemeine dazu, aber was soll man
-tun? Wenn es dies nicht gäbe, müßte man sich möglicherweise erschießen.
-Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch verpflichtet ist, sich lieber zu
-langweilen, aber dennoch ...«
-
-»Könnten Sie sich erschießen?«
-
-»Aber, hören Sie!« erwiderte Sswidrigailoff mit Widerwillen. »Tun Sie
-mir den Gefallen und sprechen Sie nicht davon,« fügte er hastig hinzu
-und ohne jegliche Großtuerei, die sich in allen seinen früheren Worten
-ausprägte. Sogar sein Gesicht schien sich verändert zu haben. -- »Ich
-gestehe diese unverzeihliche Schwäche ein, aber was soll ich tun, -- ich
-fürchte den Tod und liebe nicht, daß man darüber spricht. Wissen Sie,
-ich bin teilweise Mystiker?«
-
-»Ah! Die Erscheinungen von Marfa Petrowna! Wie, kommt sie noch immer?«
-
-»Ach, erinnern Sie mich nicht daran; in Petersburg ist es noch nicht
-vorgekommen; und hol der Teufel die Erscheinungen!« rief er mit
-gereizter Miene aus. -- »Nein, wir wollen lieber über ... ja übrigens
-... Hm! Ach, ich habe zu wenig Zeit, kann nicht lange bei Ihnen bleiben,
-es ist schade! Ich hätte Ihnen etwas mitzuteilen.«
-
-»Was, ist es eine Frau, die Sie erwartet?«
-
-»Ja, eine Frau, ein ganz unerwarteter Zufall ... nein, ich meine nicht
-das.«
-
-»Nun, und die Schändlichkeit dieser ganzen Umgebung wirkt schon nicht
-mehr auf Sie? Sie haben schon die Kraft verloren, zu stoppen?«
-
-»Sie machen auch Ansprüche an Kraft? He--he! Sie haben mich soeben
-überrascht, Rodion Romanowitsch, obwohl ich im voraus wußte, daß es so
-kommen werde. Sie reden mit mir über Unsittlichkeit und über Ästhetik!
-Sie -- ein Schiller, Sie -- ein Idealist! Dies alles muß natürlich so
-sein, und man müßte erstaunt sein, wenn es anders wäre, aber trotzdem
-ist etwas merkwürdiges vor der Wirklichkeit ... Ach, schade, daß ich so
-wenig Zeit habe, Sie sind ein äußerst interessantes Subjekt! Ja,
-nebenbei gefragt, lieben Sie Schiller? Ich liebe ihn außerordentlich.«
-
-»Was Sie aber für ein Großtuer sind!« sagte Raskolnikoff mit einem
-gewissen Abscheu.
-
-»Ich bin es nicht, bei Gott!« antwortete Sswidrigailoff mit lautem
-Lachen, »aber ich will es nicht bestreiten, mag ich ein Großtuer sein;
-doch warum soll man auch nicht wichtigtun, wenn es harmlos ist. Ich habe
-sieben Jahre auf dem Lande bei Marfa Petrowna gelebt, schon darum freue
-ich mich zu plaudern, nachdem ich jetzt auf einen klugen Menschen wie
-Sie, -- auf einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen
-gestoßen bin, und außerdem habe ich dieses halbe Glas Wein getrunken und
-es ist mir ein bißchen zu Kopfe gestiegen. Die Hauptsache aber ist, daß
-es einen Umstand gibt, der mich sehr aufgerüttelt hat, den ich aber ...
-verschweigen werde. Wohin gehen Sie denn?« fragte Sswidrigailoff
-plötzlich erschrocken.
-
-Raskolnikoff machte Miene, sich zu erheben. Ihm wurde es schwer,
-beengend und peinlich, daß er hierher gekommen war. Von Sswidrigailoff
-hatte er die feste Meinung gewonnen, daß er der unbedeutendste und
-inhaltloseste Bösewicht der Welt sei.
-
-»Ach! Setzen Sie sich, bleiben Sie noch,« bat Sswidrigailoff, »und
-bestellen Sie sich doch wenigstens Tee. Bleiben Sie sitzen, ich will
-keinen Unsinn mehr, das heißt, über mich schwatzen. Ich will Ihnen etwas
-erzählen. Wollen Sie? Ich werde Ihnen erzählen, wie mich eine Frau, um
-in Ihrem Stile zu reden, >retten wollte<? Das wird sogar eine Antwort
-auf Ihre erste Frage sein, weil diese Dame -- Ihre Schwester ist. Darf
-ich erzählen? Wir schlagen auch die Zeit damit tot.«
-
-»Erzählen Sie, aber ich hoffe, Sie ...«
-
-»Oh, seien Sie ruhig! Außerdem kann Awdotja Romanowna sogar bei solch
-einem schlimmen und oberflächlichen Menschen, wie ich, bloß die höchste
-Achtung hervorrufen.«
-
-
- IV.
-
-»Sie wissen vielleicht, -- ich habe es Ihnen übrigens selbst erzählt,«
-begann Sswidrigailoff, »daß ich hier im Schuldgefängnis wegen ungeheurer
-Schulden saß, ohne die geringste Aussicht, sie zu tilgen. Es lohnt sich
-nicht, die Einzelheiten zu erwähnen, wie mich damals Marfa Petrowna
-loskaufte; wissen Sie, bis zu welcher Bewußtlosigkeit eine Frau sich
-zuweilen verlieben kann? Sie war eine ehrliche, ziemlich kluge, obwohl
-vollkommen ungebildete Frau. Stellen Sie sich vor, daß diese
-eifersüchtige und ehrliche Frau nach vielen schrecklichen Wutausbrüchen
-und Vorwürfen sich entschlossen hatte, mit mir sozusagen einen Vertrag
-abzumachen, den sie während unserer Verheiratung erfüllte. Die Sache war
-die, daß sie bedeutend älter war als ich, und außerdem ständig eine
-Gewürznelke im Munde hatte. Ich hatte in meiner Seele trotz aller
-Gemeinheit so viel Ehrlichkeit, ihr offen zu erklären, daß ich ihr
-vollkommene Treue nicht halten könne. Dieses Geständnis versetzte sie in
-Wut, aber meine grobe Offenheit schien ihr in gewisser Weise gefallen zu
-haben. >Er will also selbst nicht betrügen,< dachte sie, >wenn er im
-voraus es in dieser Weise erklärt,< -- nun, und für eine eifersüchtige
-Frau ist es das wichtigste. Nach vielen Tränen kam zwischen uns
-folgender mündlicher Vertrag zustande, -- erster Punkt, ich werde Marfa
-Petrowna nie verlassen und stets ihr Mann bleiben; zweitens, ohne ihre
-Erlaubnis werde ich nirgendwohin verreisen; drittens, eine ständige
-Geliebte werde ich mir nie anschaffen; viertens, dagegen gestattet mir
-Marfa Petrowna, mir zuweilen eine von den Stubenmädchen auszusuchen,
-jedoch nicht anders, als mit ihrem geheimen Wissen; fünftens, Gott soll
-mich behüten, daß ich mich in eine Frau aus unserem Stande verliebe;
-sechstens, falls aber, was Gott verhüte, mich irgend eine große und
-ernste Leidenschaft heimsuchen sollte, muß ich mich Marfa Petrowna
-anvertrauen. In Bezug auf den letzten Punkt war Marfa Petrowna übrigens
-die ganze Zeit ziemlich ruhig; sie war eine kluge Frau, und folglich
-konnte sie mich nicht anders, als für einen liederlichen und
-lasterhaften Menschen, betrachten, der nicht imstande ist, sich
-ernstlich zu verlieben. Aber eine kluge Frau und eine eifersüchtige Frau
-sind zwei verschiedene Dinge, und das ist ein Unglück. Übrigens, um
-unparteiisch über einige Menschen urteilen zu können, muß man sich
-vorher von manchen voreingenommenen Ansichten und von der alltäglichen
-Gewöhnung an die uns umgebenden Menschen und Gegenstände lossagen. Ich
-habe ein Recht, auf Ihr Urteil mehr, als von jemanden anderen, zu
-hoffen. Vielleicht haben Sie schon sehr viel lächerliches und unsinniges
-über Marfa Petrowna gehört. In der Tat, sie hatte manche lächerliche
-Angewohnheit, aber ich will Ihnen offen sagen, daß ich die zahllosen
-Bekümmernisse, die ich ihr verursacht habe, aufrichtig bedauere. Das
-scheint für einen sehr anständigen _Oraison funèbre_{[17]} der
-zärtlichsten Frau von dem zärtlichsten Manne zu genügen. Bei unseren
-Streitigkeiten schwieg ich meistenteils und war nicht gereizt, und
-dieses gentlemanlike Benehmen erreichte fast stets das Ziel; es wirkte
-auf sie und gefiel ihr sogar; es gab auch Fälle, wo sie sogar auf mich
-stolz war. Aber Ihr Fräulein Schwester hat sie trotzdem nicht ertragen.
-Und wie war es möglich, daß sie riskiert hatte, solch eine Schönheit in
-ihr Haus als Gouvernante zu nehmen! Ich erkläre es mir dadurch, daß
-Marfa Petrowna eine feurige und empfängliche Frau war, und daß sie sich
-ganz einfach selbst in Ihre Schwester verliebt, -- buchstäblich verliebt
-hatte. Nun, und Awdotja Romanowna hat selbst den ersten Schritt getan,
--- ob Sie mir glauben oder nicht? Können Sie sich denken, daß Marfa
-Petrowna sogar zuerst auf mich wegen meines ständigen Schweigens über
-Ihre Schwester böse wurde, weil ich mich gegen ihre ewigen und
-verliebten Lobsprüche auf Awdotja Romanowna gleichgültig verhielt? Ich
-begreife selbst nicht, was sie eigentlich wollte! Und selbstverständlich
-erzählte Marfa Petrowna alles, meine ganze Vergangenheit Awdotja
-Romanowna. Sie hatte die unglückliche Eigenschaft, allen unsere ganzen
-Familiengeheimnisse zu erzählen und vor allen ständig über mich zu
-klagen; wie sollte sie da solch eine neue und schöne Freundin damit
-verschonen? Ich nehme selbst an, daß zwischen ihnen kein anderes
-Gespräch geführt wurde, als über mich, und zweifellos bekam Awdotja
-Romanowna alle diese finsteren geheimnisvollen Märchen zu hören, die
-über mich im Umlauf sind ... Ich wette, daß Sie auch irgend etwas
-derartiges schon gehört haben.«
-
-»Ich habe etwas gehört. Luschin beschuldigte Sie, daß Sie sogar die
-Ursache des Todes eines Kindes waren. Ist es wahr?«
-
-»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich mit allen diesen
-Abgeschmacktheiten in Ruhe,« sagte Sswidrigailoff mit Abscheu und Ekel,
-»wenn Sie unbedingt wünschen, über diesen ganzen Unsinn näheres zu
-erfahren, will ich es Ihnen einmal erzählen, jetzt aber ...«
-
-»Man sprach auch von einem Diener auf Ihrem Gute und daß Sie angeblich
-auch die Ursache ...«
-
-»Tun Sie mir den Gefallen, genug davon!« unterbrach ihn Sswidrigailoff
-von neuem mit sichtbarer Ungeduld.
-
-»Ist das nicht derselbe Diener, der Ihnen nach seinem Tode die Pfeife
-stopfen wollte ... Sie haben mir noch selbst davon erzählt?« fuhr
-Raskolnikoff immer gereizter fort.
-
-Sswidrigailoff blickte Raskolnikoff aufmerksam an, und jenem schien es,
-daß in diesem Blicke, gleich einem Blitze, ein boshaftes Lächeln
-aufzuckte, Sswidrigailoff aber bemeisterte sich und antwortete sehr
-höflich:
-
-»Es ist derselbe. Ich sehe, daß auch dies alles Sie außerordentlich
-interessiert, und werde es für meine Pflicht halten, bei der ersten
-besten Gelegenheit Ihre Neugier in allen Punkten zu befriedigen. Zum
-Teufel! Ich sehe, daß ich tatsächlich jemand als eine romantische Person
-erscheinen kann. Beurteilen Sie selbst, wie dankbar ich der verstorbenen
-Marfa Petrowna sein muß, daß sie Ihrem Fräulein Schwester so viel
-Geheimnisvolles und Interessantes über mich erzählt hatte. Ich nehme mir
-nicht die Freiheit, über den Eindruck zu urteilen, aber in jedem Falle
-war es für mich vorteilhaft. Bei dem ganzen natürlichen Widerwillen
-Awdotja Romanownas gegen mich und trotz meines ständigen finsteren und
-abstoßenden Aussehens -- tat ich ihr endlich leid, tat ihr der verlorene
-Mensch leid. Wenn aber dem Herzen eines jungen Mädchens etwas _leid
-tut_, ist dies selbstverständlich für sie am gefährlichsten. Da bekommt
-man unbedingt Lust >zu retten<, aufzurütteln, zu überzeugen, zu edleren
-Zielen zu rufen und zu neuem Leben und neuer Tätigkeit zu erwecken, --
-nun, es ist bekannt, was man in dieser Art zusammenträumen kann. Ich
-habe sofort gemerkt, daß das Vögelchen selbst ins Netz fliegt, und habe
-mich meinerseits vorbereitet. Sie scheinen mir das Gesicht zu verziehen,
-Rodion Romanowitsch? Hat nichts auf sich, die Sache hat, wie Sie wissen,
-mit Kleinigkeiten geendet. -- Zum Teufel, wie viel Wein ich heute
-trinke! -- Wissen Sie, ich bedauerte immer von Anfang an, daß es Ihrer
-Schwester nicht vergönnt war, im zweiten oder dritten Jahrhundert
-unserer Zeitrechnung irgendwo als Tochter eines kleinen regierenden
-Fürsten oder eines Regenten oder eines Prokonsuls in Kleinasien zur Welt
-zu kommen. Sie würde zweifellos eine von jenen gewesen sein, die das
-Martyrium erduldet haben, und sie hätte sicher gelächelt, wenn man ihr
-die Brust mit glühenden Zangen gebrannt hätte. Sie hätte dies
-absichtlich auf sich genommen, im vierten oder fünften Jahrhundert aber
-würde sie in eine Wüste von Ägypten gegangen sein, hätte dort dreißig
-Jahre gelebt und sich von Wurzeln, Verzückung und Erscheinungen genährt.
-Sie dürstet bloß und verlangt darnach, irgend eine Marter für jemand auf
-sich zu nehmen, wenn man ihr aber diese Marter nicht geben wird, so
-springt sie möglicherweise zum Fenster hinaus. Ich habe etwas von einem
-Herrn Rasumichin gehört. Man sagt, er sei ein vernünftiger Bursche,
-worauf auch sein Familienname deutet, wahrscheinlich aus dem geistlichen
-Stande, nun mag er Ihre Schwester hüten. Mit einem Worte, mir scheint
-es, ich habe sie verstanden, was ich auch mir als eine Ehre anrechne.
-Damals aber, das heißt am Anfang der Bekanntschaft, wie Sie selbst
-wissen, ist man immer leichtsinniger und dümmer, sieht vieles im
-falschen Lichte, sieht nicht das richtige. Zum Teufel, warum ist sie
-auch so schön? Ich habe keine Schuld! Mit einem Worte, es begann bei mir
-mit einer sehr starken wollüstigen Neigung. Awdotja Romanowna ist
-unbeschreiblich und unerhört keusch. Merken Sie sich, ich teile Ihnen
-dieses als eine Tatsache über Ihre Schwester mit. Sie ist vielleicht bis
-zur Krankhaftigkeit keusch, trotz ihres ganzen großen Verstandes, und
-das wird ihr schaden. Bei uns tauchte ein Mädchen Parascha, die
-schwarzäugige Parascha auf, die man soeben von einem anderen Gute zu uns
-gebracht hatte, als Stubenmädchen, und die ich vorher nie gesehen hatte,
--- sie war sehr hübsch, aber unglaublich dumm, -- sie weinte, erhob über
-den ganzen Hof ein Geheul und es passierte ein Skandal. Eines Tages
-suchte Awdotja Romanowna nach dem Essen mich absichtlich allein in einer
-Allee im Garten auf und _verlangte_ von mir mit blitzenden Augen, daß
-ich die arme Parascha in Ruhe lassen sollte. Das war beinahe unser
-erstes Gespräch zu zweien. Ich hielt es selbstverständlich für eine
-Ehre, ihrem Wunsche nachzukommen, versuchte mich überrascht, beschämt zu
-stellen, nun, mit einem Worte, ich spielte meine Rolle nicht übel. Es
-begannen Beziehungen, geheimnisvolle Gespräche, Moralpredigten, Bitten,
-Flehen, sogar Tränen, -- können Sie es glauben, sogar Tränen! Sehen Sie,
-wie stark und weit bei manchen jungen Mädchen die Leidenschaft
-Propaganda machen geht! Ich schob selbstverständlich alles auf mein
-Schicksal, stellte mich hin als einen nach Erleuchtung Hungernden und
-Dürstenden, und schließlich machte ich von dem größten und
-unerschütterlichen Mittel, Frauenherzen zu erobern, Gebrauch, von dem
-Mittel, das nie und nimmer trügt und das entschieden auf alle, ohne jede
-Ausnahme, wirkt. Es ist ein bekanntes Mittel -- die Schmeichelei. Es
-gibt nichts schwereres in der Welt, als offener Freimut, und nichts
-leichteres, als Schmeichelei. Wenn im Freimut bloß ein hundertster Teil
-des Tones falsch ist, so tritt sofort eine Dissonanz und nach ihr -- ein
-Skandal ein. Wenn aber in der Schmeichelei alles, bis zum geringsten
-Tone falsch ist, auch dann ist sie angenehm und wird mit Vergnügen
-angehört, und wenn auch mit grobem Vergnügen, so doch mit Vergnügen. Und
-mag die Schmeichelei noch so derb sein, so wird doch unbedingt
-wenigstens die Hälfte als Wahrheit geglaubt. Und das gilt für alle
-Entwicklungsstufen und Schichten der Gesellschaft. Sogar eine Vestalin
-kann man durch Schmeichelei verführen. Von gewöhnlichen Menschen lohnt
-sich nicht mal zu reden. Ich kann mich nicht ohne Lachen daran erinnern,
-wie ich einmal eine Dame, die ihrem Manne, ihren Kindern und ihren
-Tugenden ergeben war, verführt habe. Wie amüsant es war und wie wenig
-Arbeit es mir machte! Die Dame war tatsächlich tugendhaft, wenigstens in
-ihrer Art. Meine ganze Taktik bestand darin, daß ich jeden Augenblick
-von ihrer Keuschheit einfach erdrückt war und mich davor in den Staub
-warf. Ich schmeichelte ihr gottlos und kaum, wenn ich von ihr einen
-Händedruck, selbst einen Blick erhaschte, machte ich mir Vorwürfe, daß
-ich dies ihr mit Gewalt abgenötigt habe, daß sie sich dem widersetzt,
-sich dem so widersetzt habe, daß ich sicher nie etwas von ihr erlangt
-hätte, wenn ich selbst nicht so verdorben wäre, daß sie in ihrer
-Unschuld meine Arglist nicht vorgesehen habe und unabsichtlich, ohne es
-selbst zu wissen und zu ahnen, mir entgegengekommen wäre, und
-dergleichen mehr. Mit einem Worte, ich erreichte alles, meine Dame aber
-blieb im höchsten Grade davon überzeugt, daß sie unschuldig und keusch
-wäre und alle Pflichten und Schuldigkeiten erfüllt habe, daß sie aber
-zufällig gefallen war. Und wie böse wurde sie auf mich, als ich ihr zu
-guter Letzt erklärte, daß meiner aufrichtigen Überzeugung nach, sie
-ebenso, wie ich, einen Genuß gesucht habe. Die arme Marfa Petrowna war
-auch schrecklich empfänglich für Schmeichelei, wenn ich nur gewollt
-hätte, so hätte sie sicher ihr ganzes Vermögen auf meinen Namen noch bei
-ihren Lebzeiten umgeschrieben. -- Jedoch, ich trinke viel Wein und
-schwatze. -- Ich hoffe, Sie werden nicht böse werden, wenn ich jetzt
-erwähne, daß sich auch bei Awdotja Romanowna dasselbe Resultat zu zeigen
-begann. Ich war aber selbst dumm und ungeduldig und habe die ganze Sache
-verdorben. Awdotja Romanowna mißfiel furchtbar der Ausdruck meiner
-Augen, schon einige Male vorher, -- das eine Mal aber ganz besonders, --
-glauben Sie es? Mit einem Worte, in meinen Augen leuchtete immer stärker
-und unvorsichtiger ein gewisses Feuer, das sie bange machte und ihr
-schließlich verhaßt wurde. Die Einzelheiten lohnen sich nicht zu
-erzählen, aber wir kamen auseinander. Da machte ich wieder eine
-Dummheit. Ich begann in der gröbsten Weise alle diese Propaganda und
-Bekehrungen zu verhöhnen; Parascha erschien wieder auf der Bildfläche,
-und nicht allein sie, -- mit einem Worte, es begann ein Sodom. Ach,
-Rodion Romanowitsch, wenn Sie nur ein einziges Mal im Leben die Augen
-Ihrer Schwester gesehen hätten, wie sie zuweilen zu blitzen verstehen!
-Es tut nichts, daß ich jetzt betrunken bin und schon ein ganzes Glas
-Wein getrunken habe, ich sage die Wahrheit; ich versichere Sie, daß ich
-von diesem Blicke träumte; ich konnte schließlich nicht mehr das
-Rauschen ihres Kleides ertragen. Ich dachte in der Tat, daß ich die
-Fallsucht bekomme, nie habe ich es mir träumen lassen, daß ich so außer
-mir geraten könne. Mit einem Worte, es war notwendig Frieden zu
-schließen, aber es war schon unmöglich. Und stellen Sie sich vor, was
-ich dann tat? Bis zu welchem Stumpfsinn die rasende Wut einen Menschen
-bringen kann! Unternehmen Sie niemals etwas in rasender Wut, Rodion
-Romanowitsch. In der Annahme, daß Awdotja Romanowna im Grunde genommen
-bettelarm ist -- (ach, entschuldigen Sie, ich wollte nicht das sagen ...
-ist es aber nicht einerlei, wenn es nur einen Begriff wiedergibt?) --
-mit einem Worte, daß sie von ihrer Hände Arbeit lebt, -- daß sie ihre
-Mutter und Sie unterhalten muß -- (ach, zum Teufel, Sie verziehen wieder
-Ihr Gesicht ...) -- beschloß ich ihr mein ganzes Geld anzubieten, -- ich
-konnte damals etwa dreißigtausend realisieren, -- damit sie mit mir --
-nun, meinetwegen, -- hierher nach Petersburg fliehen solle. Es versteht
-sich, daß ich ihr dabei ewige Liebe, Seligkeit und dergleichen mehr
-geschworen habe. Können Sie mir glauben, daß ich damals so von ihr
-benommen war, daß, hätte sie zu mir gesagt, -- ermorde oder vergifte
-Marfa Petrowna und heirate mich, -- ich es sofort getan hätte! Alles
-aber endete mit der Ihnen schon bekannten Katastrophe, und Sie können
-sich selbst ausmalen, in was für eine Wut ich geriet, als ich erfuhr,
-daß Marfa Petrowna damals diese gemeine Schreiberseele Luschin
-aufgegabelt und beinahe die Heirat zustande gebracht hatte, -- was im
-Grunde genommen dasselbe gewesen wäre, was auch ich anbot. Ist es etwa
-nicht so? Ist es nicht dasselbe? Nicht wahr, es ist dasselbe? Ich merke,
-daß Sie mir zu aufmerksam zuhören ... interessierter junger Mann ...«
-
-Sswidrigailoff schlug voll Ungeduld mit der Faust auf den Tisch. Er war
-rot geworden. Raskolnikoff sah deutlich, daß das eine oder die
-anderthalb Glas Champagner, den er unmerklich in kleinen Schlucken
-getrunken hatte, krankhaft auf ihn gewirkt hatten, -- und beschloß diese
-Gelegenheit wahrzunehmen. Sswidrigailoff erschien ihm sehr verdächtig.
-
-»Nach all dem Gesagten bin ich völlig überzeugt, daß Sie auch hierher
-gereist sind, weil Sie meine Schwester im Auge haben,« sagte er zu
-Sswidrigailoff offen und ohne sich zu verstellen, um ihn nur noch mehr
-zu reizen.
-
-»Ach, lassen Sie es,« Sswidrigailoff schien sich plötzlich
-zusammenzunehmen, »ich habe Ihnen schon gesagt ... und außerdem kann
-Ihre Schwester mich gar nicht leiden.«
-
-»Ja, davon bin ich auch überzeugt, daß sie es nicht kann, aber es
-handelt sich jetzt nicht darum.«
-
-»Sind Sie wirklich überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?«
-Sswidrigailoff kniff die Augen zusammen und lächelte spöttisch. -- »Sie
-haben recht, sie liebt mich nicht, aber übernehmen Sie nie eine
-Gewährleistung in Dingen, die zwischen einem Manne und einer Frau oder
-zwischen einem Liebhaber und seiner Geliebten vorgefallen sind. Es gibt
-hier stets einen Winkel, der immer der ganzen Welt verborgen bleibt, und
-der nur den beiden bekannt ist. Übernehmen Sie die Gewährleistung, daß
-Awdotja Romanowna mich stets mit Widerwillen angeschaut hat?«
-
-»Ich merke aus einigen Ihrer Worte und Andeutungen während Ihrer
-Erzählung, daß Sie auch jetzt noch unbedingt Absichten gegen Dunja
-haben, und selbstverständlich gemeiner Natur.«
-
-»Wie! Mir sollten solche Worte und Andeutungen entschlüpft sein?« sagte
-erschreckt Sswidrigailoff und in der naivsten Weise, ohne dem Epitheton,
-der seinen Absichten beigelegt worden war, die geringste Beachtung zu
-schenken.
-
-»Auch jetzt entschlüpften sie Ihnen. Warum fürchten Sie sich so? Worüber
-erschraken Sie jetzt plötzlich?«
-
-»Ich soll mich fürchten und erschrocken sein? Soll ich etwa vor Ihnen
-erschrocken sein? Eher haben Sie Grund, mich zu fürchten, _cher
-ami_{[18]}. Ach, was für Unsinn ... Ich bin berauscht, ich sehe es;
-beinahe hätte ich mich wieder versprochen. Der Teufel soll den Wein
-holen! Heda, Wasser!«
-
-Er packte die Flasche und schleuderte sie ohne viel Federlesens zum
-Fenster hinaus. Philipp brachte ihm Wasser.
-
-»Dies alles ist Unsinn,« sagte Sswidrigailoff, indem er ein Handtuch
-anfeuchtete und es an den Kopf hielt, -- »ich kann Sie aber mit einem
-einzigen Worte zurückweisen und Ihren ganzen Verdacht zunichte machen.
-Wissen Sie zum Beispiel, daß ich heirate?«
-
-»Sie haben es mir schon erzählt!«
-
-»Habe ich es? Das hatte ich vergessen. Damals aber konnte ich es noch
-nicht mit Bestimmtheit sagen, denn ich hatte die Braut gar nicht
-gesehen; ich hatte bloß die Absicht. Jetzt aber habe ich schon eine
-Braut und die Sache ist beschlossen, und wenn ich bloß nicht etwas
-Unaufschiebbares zu tun hätte, würde ich Sie unbedingt und sofort zu
-einem Besuche dort mitnehmen, -- denn ich möchte Sie um Rat fragen. Ach,
-zum Teufel! Ich habe bloß zehn Minuten übrig. Sie sehen selbst nach der
-Uhr; ich will es Ihnen übrigens erzählen, denn meine Heirat ist auch
-eine interessante Sache, in ihrer Art, versteht sich, -- wohin wollen
-Sie? Wollen Sie wieder fortgehen?«
-
-»Nein, jetzt gehe ich schon nicht mehr fort.«
-
-»Sie wollen gar nicht fortgehen? Nun, wir wollen es sehen! Ich werde Sie
-mitnehmen und Ihnen die Braut zeigen, das ist wahr, aber bloß nicht
-jetzt; es ist bald Zeit für Sie zu gehen. Sie gehen nach rechts und ich
-nach links. Kennen Sie diese Rößlich? Ich meine, dieselbe Rößlich, bei
-der ich jetzt wohne, -- ah? Hören Sie? Nein, denken Sie sich, ich meine
-dieselbe, von der man erzählt, daß das kleine Mädchen damals im Winter
-... Nun, hören Sie! Hören Sie? Sie ist es auch, die mir diese Geschichte
-arrangiert hat; du langweilst dich, -- sagte sie, -- zerstreue dich ein
-wenig. Ich bin aber ein finsterer, langweiliger Mensch. Sie meinen, ich
-sei fröhlich? Nein, ich bin finster, -- ich füge niemandem Schaden zu,
-sitze in der Ecke, und zuweilen kann man mich drei Tage nicht zum Reden
-bringen. Die Rößlich ist eine Spitzbübin, sage ich Ihnen; sie hat dabei
-folgendes im Sinn, -- mir wird es überdrüssig werden, ich werde meine
-Frau verlassen und fortreisen, meine Frau wird dann ihr zufallen, und
-sie wird sie in unseren Kreisen und höher hinauf in Umsatz bringen. Sie
-sagte mir, -- es gibt solch einen gelähmten Vater, einen verabschiedeten
-Beamten, der im Sessel sitzt und das dritte Jahr die Beine nicht rühren
-kann; auch eine Mutter ist da, eine sehr vernünftige Dame; der Sohn
-dient irgendwo in der Provinz, hilft ihr aber nicht; die eine Tochter
-ist verheiratet, sucht aber die Eltern nicht mehr auf; die Eltern haben
-für zwei kleine Neffen zu sorgen -- da sie an ihren eigenen Sorgen nicht
-genug hatten, -- und haben ihre letzte Tochter, ohne daß sie den Kursus
-absolviert hat, aus der Schule genommen; sie werde nach einem Monat erst
-sechzehn Jahre alt, also könnte man sie auch nach einem Monat
-verheiraten. Ich sollte sie also heiraten. Wir fuhren hin; wie bei ihnen
-alles lächerlich zuging; ich stellte mich vor, -- Gutsbesitzer, Witwer,
-aus bekannter Familie, mit den und den Verbindungen, vermögend, -- nun,
-was ist dabei, daß ich fünfzig Jahre alt bin und jene nicht mal
-sechzehn? Wer achtet darauf? Nun, es ist doch verlockend, ah? Nicht
-wahr, es ist verlockend, ha! ha! ha! Sie sollten mich gesehen haben, wie
-ich mich mit dem Papa und der Mama unterhalten habe! Man müßte etwas
-dafür bezahlen, um mich nur damals gesehen zu haben. Sie kommt endlich,
-macht einen Knicks, nun, können Sie sich vorstellen, sie war noch in
-kurzem Kleidchen, eine noch unaufgebrochene Knospe, sie errötete,
-flammte wie die Morgenröte auf -- man hat ihr selbstverständlich alles
-mitgeteilt. Ich weiß nicht, wie Sie sich zu Frauengesichtern stellen,
-aber meiner Ansicht nach sind diese sechzehn Jahre, diese noch
-kindlichen Augen, diese Verlegenheit und Tränen der Beschämtheit --
-besser als jede Schönheit, und sie ist außerdem wie ein Bild. Hellblonde
-Haare, in kleinen Locken gekräuselt, volle, rote kleine Lippen, Füßchen
--- mit einem Worte reizend! ... Nun, ich wurde also dort bekannt,
-erklärte, daß ich es infolge häuslicher Angelegenheiten eilig habe, und
-am anderen Tage, also vorgestern, erhielten wir den Segen. Seit dem
-Tage, wenn ich bloß hinkomme, nehme ich sie sofort auf meinen Schoß und
-lasse sie nicht herunter ... Nun, sie errötet, ich aber küsse sie alle
-Augenblicke; die Mama sagt ihr selbstverständlich, daß ich ihr Mann sei
-und daß es sich so gehöre, mit einem Worte, ich habe es dort
-ausgezeichnet. Und meine jetzige Lage als Bräutigam ist vielleicht auch
-besser, als die eines verheirateten Mannes. Hier ist, was man _la nature
-et la vérité_{[19]} nennt! Ha! Ha! Ich habe mich mit ihr ein paarmal
-unterhalten, -- das Mädel ist gar nicht dumm; zuweilen blickt sie mich
-so verstohlen an, -- daß es mich einfach durchschauert. Wissen Sie, sie
-hat ein Gesicht wie die Madonna von Raphael. Die Sixtinische Madonna hat
-doch ein phantastisches Gesicht, das Gesicht einer leidenden, im
-heiligen Wahne befangenen, ist Ihnen das nicht aufgefallen? Nun, sie hat
-ein Gesicht von dieser Art. Kaum hatte man uns den Segen erteilt, als
-ich am anderen Tage ihr für anderthalb Tausend Geschenke mitbrachte, --
-einen Brillantenschmuck, ein Perlenhalsband und einen silbernen
-Toilettenkasten für Damen -- von dieser Größe, mit allerhand Dingen
-darin, so daß ihr Gesichtchen, das Madonnengesichtchen, errötete. Ich
-setzte sie gestern auf meinen Schoß hin, habe es aber wahrscheinlich zu
-ungeniert getan, -- sie errötete ganz und gar und Tränen kamen zum
-Vorschein, sie wollte sich aber nicht verraten und brannte wie im
-Fieber. Alle gingen auf einen Augenblick, ich blieb mit ihr ganz allein
-zurück, plötzlich fiel sie mir -- zum ersten Male von selbst -- um den
-Hals, umarmte mich mit ihren Händchen, küßte mich und schwur, daß sie
-mir eine folgsame, treue und gute Frau sein werde, daß sie mich
-glücklich machen wolle, daß sie ihr ganzes Leben, jeden Augenblick ihres
-Lebens dazu verwenden und alles, alles opfern werde, dafür wünscht sie
-bloß _meine Achtung allein_ zu besitzen und weiter, -- sagte sie
->brauche ich nichts, gar nichts, keine Geschenke.< Geben Sie selbst zu,
-daß ein derartiges Geständnis unter vier Augen von solch einem
-sechzehnjährigen Engel mit jungfräulicher Schamröte und enthusiastischen
-Tränen in den Augen anzuhören, -- ziemlich verlockend ist? Nicht wahr,
-es ist verlockend? Es ist doch etwas wert, ah? Nicht wahr? Nun ... nun
-hören Sie ... fahren wir zu meiner Braut hin ... aber nicht sofort!«
-
-»Mit einem Worte, dieser unerhörte Unterschied im Alter und in der
-Entwicklung erregt gerade in Ihnen die Wollust! Und Sie wollen sie
-tatsächlich heiraten?«
-
-»Wieso? Ich heirate sie unbedingt. Jeder sorgt für sich selbst, und am
-lustigsten von allen lebt der, welcher es am besten von allen versteht,
-sich selbst zu betrügen. Ha! ha! Haben Sie sich in die Tugend denn ganz
-vernarrt? Erbarmen Sie sich meiner, Väterchen, ich bin ein sündhafter
-Mensch. He! he! he!«
-
-»Sie haben doch die Kinder von Katerina Iwanowna untergebracht und
-versorgt. Übrigens ... übrigens Sie hatten dazu Ihre Gründe ... ich
-begreife jetzt alles.«
-
-»Kinder habe ich überhaupt gern, ich liebe Kinder sehr,« lachte
-Sswidrigailoff. -- »In dieser Hinsicht kann ich Ihnen sogar ein sehr
-interessantes Erlebnis erzählen, das auch jetzt noch nicht zu Ende ist.
-Am ersten Tage nach meiner Ankunft ging ich in all diesen Kloaken herum,
-nun -- nach sieben Jahren stürzte ich mich hinein. Sie haben
-wahrscheinlich gemerkt, daß ich keine Eile habe, den Verkehr mit den
-früheren Freunden und Bekannten aufzunehmen. Und ich will noch möglichst
-lange ohne sie auskommen. Wissen Sie, -- bei Marfa Petrowna auf dem
-Lande haben mich die Erinnerungen an alle diese geheimnisvollen Orte und
-Winkel, in denen einer vieles finden kann, der es kennt, bis zu Tode
-gequält. Hol der Teufel! Das Volk säuft, die gebildete Jugend geht vor
-Nichtstun in unmöglichen Träumen und Phantasien auf, wird vor lauter
-Theorien zum Krüppel; irgendwoher sind Juden herbeigeströmt und sammeln
-Geld, alles übrige aber ergibt sich der Unzucht. Von den ersten Stunden
-an wehte mich auch von dieser Stadt ein bekannter Geruch an. Ich geriet
-zu einem sogenannten Tanzabend, -- in einer entsetzlichen Kloake -- ich
-liebe aber gerade die Kloaken mit etwas Schmutz, -- und
-selbstverständlich wurde kankaniert, wie man eigentlich nirgends
-kankaniert, und wie man es zu meiner Zeit noch nicht tat. Ja, darin ist
-Fortschritt. Plötzlich sehe ich ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren,
-sehr nett angezogen, wie sie mit einem Subjekt tanzt; ein anderer, als
-ihr vis-a-vis. An der Wand auf einem Stuhle sitzt ihre Mutter. Sie
-können sich vorstellen, wie kankaniert wurde! Das Mädchen wurde
-beschämt, verlegen, errötete, schließlich faßte sie es als Kränkung auf
-und begann zu weinen. Das Subjekt erfaßt sie, fängt an sie
-herumzuschwenken und vor ihr zu tanzen, ringsum lachen alle und -- ich
-habe das Publikum in solchen Augenblicken gern, mag es auch ein
-kankanierendes Publikum sein, -- schreien, -- >Geschieht mit Recht! Man
-soll keine Kinder hierherbringen!< Nun, ich pfiff darauf und mich ging
-es auch nichts an, ob sie sich logisch oder unlogisch, diese Menschen
-da, trösteten! Ich hatte mir meinen Plan sofort zurechtgelegt, setzte
-mich neben die Mutter hin und begann damit, daß ich auch fremd wäre, daß
-hier alle so unerzogen wären, daß sie nicht verstünden, wahre Vorzüge zu
-unterscheiden und die gebührende Achtung zu bewahren. Ich gab zu
-verstehen, daß ich viel Geld hätte, schlug vor, in meinem Wagen sie nach
-Hause zu bringen. Ich geleitete sie nach Hause und wurde mit ihnen
-bekannt, sie sind soeben angekommen und leben in einem kleinen
-möblierten Zimmer. Man teilte mir mit, daß sie meine Bekanntschaft, wie
-sie, so auch die Tochter bloß als eine große Ehre auffassen könnten; ich
-erfuhr, daß sie weder Haus noch Hof haben, und daß sie gekommen sind, um
-in irgend einer Behörde eine Sache durchzuführen; ich bot ihnen meine
-Dienste und Geld an; ich erfuhr auch, daß sie irrtümlicherweise zu
-diesem Tanzabend hingefahren sind, in der Annahme, daß man dort
-tatsächlich tanzen lehre. Ich bot meinerseits an, zu der Erziehung des
-jungen Mädchens beizutragen, sie französischen Unterricht und
-Tanzstunden nehmen zu lassen. Man nimmt es mit Begeisterung auf, hält es
-für eine Ehre, und ich verkehre bei ihnen noch immer. -- Wollen Sie mit
-mir zu ihnen hinfahren? -- Aber nicht gleich.«
-
-»Lassen Sie, lassen Sie Ihre niederträchtigen, gemeinen Anekdoten, Sie
-verdorbener, gemeiner, wollüstiger Mensch!«
-
-»Sehen Sie mal den Schiller, unsern Schiller! _Où va-t-elle la vertu se
-nicher?_{[20]} Wissen Sie, ich will Ihnen absichtlich solche Dinge
-erzählen, um Sie aufschreien zu hören. Es ist ein Genuß!«
-
-»Und ob, bin ich mir denn jetzt nicht selbst lächerlich?« murmelte
-Raskolnikoff voll Wut.
-
-Sswidrigailoff lachte aus vollem Halse; schließlich rief er Philipp,
-bezahlte seine Rechnung und begann sich fertig zu machen.
-
-»Ich bin jetzt betrunken, _assez causé_!« sagte er, »es ist ein Genuß!«
-
-»Das glaube ich,« rief Raskolnikoff aus, sich auch erhebend, »ist es
-denn für einen abgebrühten Wüstling kein Genuß, von solchen Erlebnissen
-zu erzählen, -- wobei er sich schon wieder mit unerhörten Absichten von
-derselben Art trägt, -- außerdem unter diesen Umständen und vor solch
-einem Menschen, wie ich es bin, ... das muß ein Genuß sein ... Es muß
-ihn förmlich heiß machen.«
-
-»Und wenn die Sache so ist,« antwortete Sswidrigailoff ein wenig
-verwundert und betrachtete Raskolnikoff, »wenn dem so ist, so sind Sie
-auch selbst ein großer Zyniker. Sie enthalten wenigstens in sich ein
-ungeheures Material dazu. Sie können vieles verstehen, vieles ... und,
-Sie können auch vieles tun. Jedoch, genug darüber. Ich bedauere
-aufrichtig, daß ich mich nicht länger mit Ihnen unterhalten kann, aber
-Sie entgehen mir nicht ... Warten Sie nur ...«
-
-Sswidrigailoff verließ das Restaurant. Raskolnikoff folgte ihm.
-Sswidrigailoff war nicht sehr stark berauscht; der Wein war ihm bloß auf
-einen Augenblick zu Kopf gestiegen und der Rausch verschwand mit jedem
-Augenblick mehr. Er hatte etwas äußerst wichtiges vor und sein Gesicht
-verfinsterte sich. Eine Erwartung regte ihn augenscheinlich auf und
-beunruhigte ihn. In den letzten Minuten ihres Zusammenseins wurde er
-plötzlich gegen Raskolnikoff gröber und spöttischer. Raskolnikoff hatte
-alles gemerkt und war auch in Unruhe geraten. Sswidrigailoff schien ihm
-sehr verdächtig; er beschloß ihm nachzugehen.
-
-Sie gelangten auf das Trottoir.
-
-»Sie müssen nach rechts, ich aber nach links, oder vielleicht auch
-umgekehrt, also -- _adieu bon plaisir_{[21]}, auf freudiges
-Wiedersehen!«
-
-Und er ging nach rechts dem Heumarkte zu.
-
-
- V.
-
-Raskolnikoff folgte ihm.
-
-»Was ist das!« rief Sswidrigailoff, »ich habe Ihnen doch gesagt ...«
-
-»Das bedeutet, daß ich Ihnen jetzt folgen werde.«
-
-»Wa--as?«
-
-Beide blieben stehen und blickten einander eine Minute lang an, als ob
-sie sich messen wollten.
-
-»Aus allen Ihren halbbetrunkenen Erzählungen,« sagte Raskolnikoff
-scharf, »habe ich eins _positiv_ entnommen, daß Sie nicht bloß Ihre
-niederträchtigen Pläne gegen meine Schwester nicht aufgegeben haben,
-sondern daß Sie sich mehr als je damit abgeben. Ich weiß, daß meine
-Schwester heute früh einen Brief empfangen hat. Sie konnten die ganze
-Zeit nicht ruhig sitzen ... Sie konnten gewiß irgend eine Frau auf der
-Straße aufgegabelt haben, aber das hat nichts zu sagen. Ich will mich
-persönlich überzeugen ...«
-
-Raskolnikoff hätte schwerlich sagen können, was er jetzt wünschte, und
-wovon er sich persönlich überzeugen wollte.
-
-»So! Wollen Sie, ich werde sofort die Polizei rufen?«
-
-»Rufen Sie die Polizei!«
-
-Wieder standen sie eine Minute lang einander gegenüber. Schließlich
-veränderte sich das Gesicht Sswidrigailoffs. Nachdem er sich überzeugt
-hatte, daß Raskolnikoff seine Drohung nicht fürchtete, nahm er plötzlich
-eine sehr lustige und freundliche Miene an.
-
-»Wie sonderbar Sie sind! Ich habe absichtlich mit Ihnen kein Wort über
-Ihre Sache gesprochen, obwohl mich selbstverständlich die Neugier plagt.
-Es ist eine phantastische Geschichte. Ich hätte es bis auf ein andermal
-verschoben, aber wirklich, Sie sind fähig, einen Toten zu reizen ...
-Nun, gehen wir, ich sage Ihnen aber im voraus, -- ich gehe jetzt bloß
-auf einen Augenblick nach Hause, um Geld zu holen; dann schließe ich die
-Wohnung ab, nehme eine Droschke und fahre für den ganzen Abend auf die
-Insel. Wollen Sie mir da folgen?«
-
-»Ich gehe vorläufig in die Wohnung mit, und auch nicht zu Ihnen, sondern
-zu Ssofja Ssemenowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht beim
-Begräbnis war.«
-
-»Tun Sie, wie Sie wünschen, aber Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause.
-Sie ist mit allen Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer sehr
-vornehmen alten Dame, zu einer alten Bekannten von mir aus früheren
-Zeiten, die Vorstandsmitglied von einigen Waisenanstalten ist. Ich habe
-diese Dame bezaubert, indem ich für alle drei Sprößlinge von Katerina
-Iwanowna Geld deponierte und außerdem den Anstalten eine Schenkung
-machte; schließlich erzählte ich ihr die Geschichte von Ssofja
-Ssemenowna, mit all ihren Einzelheiten, ohne etwas zu verheimlichen. Das
-machte einen unbeschreiblichen Eindruck. Darum wurde auch Ssofja
-Ssemenowna für heute noch in das --sche Hotel bestellt, wo, aus der
-Sommerfrische kommend, meine Dame einstweilen abgestiegen ist.«
-
-»Tut nichts, ich werde doch zu ihr gehen.«
-
-»Wie Sie wollen, ich bin Ihnen bloß kein Weggenosse; mir ist's einerlei.
-Wir sind gleich da. Sagen Sie mir, ich bin überzeugt, daß Sie mich aus
-dem Grunde so argwöhnisch betrachten, weil ich selbst so zartfühlend war
-und Sie bis jetzt mit Fragen nicht belästigt habe ... Sie verstehen
-mich? Ihnen erschien dies ungewöhnlich; ich gehe eine Wette ein, daß es
-so ist! Nun, da soll man noch zartfühlend sein.«
-
-»Und an der Türe horchen!«
-
-»Ah, Sie meinen damals!« lachte Sswidrigailoff, »ja, ich würde erstaunt
-sein, wenn Sie nach all dem vorher Gesagten dieses nicht erwähnt hätten.
-Ha! ha! Ich habe wohl einiges davon verstanden, was Sie damals ... dort
-... losgelassen und Ssofja Ssemenowna selbst erzählt haben, aber was ist
-es denn eigentlich? Ich bin vielleicht ein vollkommen zurückgebliebener
-Mensch und kann schon nichts mehr begreifen. Erklären Sie es mir um
-Gotteswillen, mein Lieber! Erleuchten Sie mich mit den allerneuesten
-Ideen!«
-
-»Sie konnten nichts gehört haben, Sie lügen!«
-
-»Ja, ich meine gar nicht dies, -- obwohl ich übrigens einiges auch
-gehört habe, -- nein, ich meine, daß Sie immer ächzen und stöhnen! Der
-Schiller in Ihnen wird alle Augenblicke rebellisch. Jetzt sagen Sie
-auch, man soll nicht an fremden Türen lauschen. Wenn das Ihre Meinung
-ist, so gehen Sie doch und sagen den Behörden, daß mit Ihnen solch ein
-Kasus geschehen ist, -- in der Theorie nur ist ein kleiner Irrtum
-unterlaufen. Wenn Sie aber überzeugt sind, daß man bei fremden Türen
-nicht lauschen darf, aber alte Weiber zu seinem Vergnügen umbringen
-kann, so fahren Sie schnell irgendwohin nach Amerika! Fliehen Sie,
-junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit dazu. Ich sage es Ihnen
-aufrichtig. Haben Sie etwa kein Geld? Ich will Ihnen zur Reise geben.«
-
-»Ich denke gar nicht daran,« unterbrach ihn Raskolnikoff mit
-Widerwillen.
-
-»Ich verstehe Sie; Sie brauchen sich übrigens keine Mühe zu geben, --
-wenn Sie nicht wollen, sprechen Sie doch nicht. Ich verstehe, was für
-Fragen in Ihnen auftauchen, -- etwa moralische? Die Bedenken eines
-Staatsbürgers und Menschen? Lassen Sie sie lieber fallen; wozu brauchen
-Sie jetzt diese Fragen und Bedenken? He--he--he! Darum, weil Sie immer
-noch Staatsbürger und Mensch sind? Wenn das der Fall ist, so sollten Sie
-sich auch nicht hineingemischt haben; Sie sollten dann auch so etwas
-nicht unternommen haben. Nun, erschießen Sie sich; was, oder Sie haben
-keine Lust dazu?«
-
-»Sie wollen mich, wie es mir scheint, absichtlich reizen, damit Sie mich
-jetzt loswerden ...«
-
-»Sie sind ein komischer Kauz, wir sind ja schon da, bitte steigen Sie
-die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Ssofja Ssemenowna,
-Sie sehen, es ist niemand da! Sie glauben nicht? Fragen Sie
-Kapernaumoff, sie gibt ihnen den Schlüssel ab. Da ist auch Madame de
-Kapernaumoff selbst. Was? Sie ist ein wenig taub. Ist fortgegangen?
-Wohin? Nun, Sie haben es jetzt gehört! Sie wird erst vielleicht spät am
-Abend zurückkehren. Nun, kommen Sie jetzt zu mir. Sie wollen doch auch
-zu mir kommen? Wir sind da. Madame Rößlich ist nicht zu Hause. Diese
-Frau hat ewig etwas vor, aber sie ist eine gute Frau, ich versichere Sie
-... sie würde Ihnen vielleicht von Nutzen sein, wenn Sie ein wenig
-vernünftig sein würden. Nun, Sie sehen, -- ich nehme aus dem
-Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier, -- sehen Sie, wie viel
-ich noch übrig habe! -- und dieses wandert heute noch zu einem Bankier.
-Haben Sie gesehen? Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Der
-Schreibtisch wird abgeschlossen, die Wohnung ebenfalls, und wir sind
-wieder auf der Treppe. Wollen wir eine Droschke nehmen? Ich fahre doch
-hinaus auf die Insel. Wollen Sie nicht ein Stück spazieren fahren? Ich
-nehme diese Droschke zur Jelagin-Insel, was? Sie wollen nicht? Haben
-doch nicht bis zu Ende ausgehalten? Fahren Sie mit, tut nichts. Es
-scheint, ein Regen zieht auf, tut nichts, wir lassen das Verdeck herab
-...«
-
-Sswidrigailoff saß schon im Wagen. Raskolnikoff kam zu der Überzeugung,
-daß sein Verdacht wenigstens in diesem Augenblicke ungerecht sei. Ohne
-ein Wort zu sagen, drehte er sich um und ging in der Richtung zum
-Heumarkte zurück. Hätte er sich wenigstens ein einziges Mal umgedreht,
-so würde er gesehen haben, wie Sswidrigailoff nach etwa hundert
-Schritten die Droschke fortschickte und sich auf dem Trottoir befand.
-Aber er konnte schon nichts mehr sehen und war um die Ecke eingebogen.
-Ein tiefer Abscheu zog ihn von Sswidrigailoff fort. »Und ich konnte nur
-einen Augenblick irgend etwas von diesem rohen Bösewicht, von diesem
-ekelhaften Wüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich aus.
-Freilich, Raskolnikoffs Urteil war übereilt und leichtsinnig. Es war
-etwas in der ganzen Art Sswidrigailoffs, was ihm wenigstens eine gewisse
-Originalität, wenn nicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine
-Schwester betraf, war Raskolnikoff dennoch fest überzeugt, daß
-Sswidrigailoff sie nicht in Ruhe lassen würde. Aber es wurde ihm jetzt
-zu schwer und unerträglich, an dies alles zu denken und es sich zu
-überlegen!
-
-Nach seiner Gewohnheit war er, als er allein geblieben war, schon nach
-den ersten zwanzig Schritten in tiefes Nachdenken versunken. Als er die
-Brücke betrat, blieb er plötzlich an dem Geländer stehen und begann in
-das Wasser zu blicken. Plötzlich stand Awdotja Romanowna hinter ihm.
-
-Er war ihr am Brückeneingange begegnet, war aber vorbeigegangen, ohne
-sie zu sehen. Dunetschka hatte ihn noch nie in dieser Weise auf der
-Straße gesehen und war sehr überrascht. Sie blieb stehen und wußte
-nicht, ob sie ihn anrufen solle oder nicht? Da bemerkte sie
-Sswidrigailoff, der eilig aus der Richtung des Heumarktes kam.
-
-Er schien sich ihr geheimnisvoll und vorsichtig zu nähern. Er betrat
-nicht die Brücke, sondern blieb seitwärts auf dem Fußsteig stehen und
-gab sich alle Mühe, daß Raskolnikoff ihn nicht bemerke. Dunja hatte er
-schon lange bemerkt und begann ihr Zeichen zu geben. Ihr schien es, als
-bäte er sie mit seinen Zeichen, den Bruder nicht anzurufen und ihn in
-Ruhe zu lassen.
-
-Dunja tat auch so. Sie ging still um den Bruder herum und näherte sich
-Sswidrigailoff.
-
-»Gehen wir schneller,« flüsterte ihr Sswidrigailoff zu. »Ich möchte
-nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft wisse. Ich sage
-Ihnen im voraus, daß ich mit ihm unweit von hier in einem Restaurant
-gesessen habe, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und ich wurde ihn mit
-Mühe los. Er weiß aus irgend einem Grunde von meinem Briefe an Sie und
-argwöhnt etwas. Sie haben ihm sicher nichts gesagt? Wenn Sie es aber
-nicht gesagt haben, wer dann?«
-
-»Jetzt sind wir schon um die Ecke,« unterbrach ihn Dunja, »jetzt kann
-mein Bruder uns nicht sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich mit Ihnen nicht
-weiter gehen werde. Sagen Sie mir alles gleich hier; man kann das alles
-auch auf der Straße sagen.«
-
-»Erstens kann man dies auf keinen Fall auf der Straße sagen; zweitens,
-müssen Sie auch Ssofja Ssemenowna anhören; drittens, will ich Ihnen
-einige Dokumente zeigen ... Nun und schließlich, wenn Sie nicht
-einverstanden sind, zu mir zu kommen, so weigere ich mich, irgend welche
-Erklärungen zu geben und gehe sofort weg. Dabei bitte ich Sie, nicht zu
-vergessen, daß das sehr interessante Geheimnis Ihres geliebten Bruders
-sich vollkommen in meinen Händen befindet.«
-
-Dunja blieb unentschlossen stehen und sah Sswidrigailoff mit einem
-durchbohrenden Blicke an.
-
-»Was fürchten Sie,« bemerkte er ruhig, »eine Stadt ist kein Dorf. Und im
-Dorfe schon haben Sie mir mehr Schaden, als ich Ihnen, zugefügt, hier
-aber ...«
-
-»Ist Ssofja Ssemenowna benachrichtigt?«
-
-»Nein, ich habe ihr kein Wort darüber gesagt und bin auch nicht ganz
-sicher, ob sie jetzt zu Hause ist. Sie ist aber wahrscheinlich zu Hause.
-Sie hat heute ihre Stiefmutter beerdigt, -- das ist kein Tag, an dem man
-Besuche macht. Vorläufig will ich mit niemanden über diese Sache reden
-und bereue sogar teilweise, daß ich Ihnen davon mitgeteilt habe. Die
-geringste Unvorsichtigkeit ist in diesem Falle einer Denunzierung
-gleich. Ich wohne hier in diesem Hause da, wir nähern uns schon meiner
-Wohnung. Das ist der Hausknecht von unserem Hause; der Hausknecht kennt
-mich sehr gut; da grüßt er auch; er sieht, daß ich mit einer Dame komme
-und hat sicher sich schon Ihr Gesicht gemerkt, das aber kann Ihnen von
-Nutzen sein, falls Sie sich sehr fürchten und mir mißtrauen.
-Entschuldigen Sie, daß ich so derb rede. Ich habe mir ein paar möblierte
-Zimmer gemietet. Ssofja Ssemenowna wohnt Wand an Wand neben mir, auch in
-einem möblierten Zimmer. Der ganze Stock ist bewohnt. Warum sollen Sie
-sich denn fürchten, wie ein Kind? Oder bin ich so furchterregend?«
-
-Sswidrigailoffs Gesicht verzog sich zu einem herablassenden Lächeln,
-aber es war ihm nicht lächerlich zumute. Sein Herz klopfte und der Atem
-stockte ihm in der Brust. Er sprach absichtlich lauter, um seine
-steigende Erregung zu verbergen, Dunja hatte gar nicht diese besondere
-Erregung bemerkt; sie war zu sehr durch seine Bemerkung gereizt, daß sie
-ihn fürchte wie ein Kind und daß er ihr so furchtbar sei.
-
-»Obwohl ich weiß, daß Sie ein Mensch ... ohne Ehre sind, fürchte ich
-mich doch gar nicht vor Ihnen. Gehen Sie voran,« sagte sie scheinbar
-ruhig, aber mit bleichem Gesichte.
-
-Sswidrigailoff blieb an Ssonjas Wohnung stehen.
-
-»Erlauben Sie mir, mich zu erkundigen, ob sie zu Hause ist ... Sie ist
-nicht da. Das ist ein Mißgeschick. Aber ich weiß, daß sie sehr bald
-zurückkehren wird. Wenn sie ausgegangen ist, so ist sie höchstens zu
-einer Dame wegen der Waisen. Ihre Mutter ist gestorben. Ich habe mich
-hier hineingemischt und Anordnungen getroffen. Wenn Ssofja Ssemenowna
-nach zehn Minuten nicht zurückkehren sollte, so schicke ich sie selbst
-zu Ihnen hin, wenn Sie wünschen, noch heute; und nun, das ist meine
-Wohnung. Das sind meine zwei Zimmer. Hinter der Türe wohnt meine Wirtin,
-Frau Rößlich. Jetzt blicken Sie bitte hierher, ich will Ihnen meine
-Hauptdokumente zeigen, -- aus meinem Schlafzimmer führt diese Tür in
-zwei vollkommen leere Zimmer, die zu vermieten sind. Das sind sie ...
-dieses müssen Sie etwas aufmerksam betrachten ...«
-
-Sswidrigailoff bewohnte zwei möblierte ziemlich geräumige Zimmer.
-Dunetschka sah mißtrauisch um sich, aber bemerkte nichts besonderes,
-weder in der Ausstattung noch in der Lage der Zimmer, obgleich man schon
-etwas bemerken konnte, zum Beispiel, daß Sswidrigailoffs Wohnung
-zwischen zwei anderen fast unbewohnten Wohnungen lag. Der Eingang zu ihm
-war nicht direkt vom Korridor aus, sondern durch zwei fast leere Zimmer
-der Wirtin. Vom Schlafzimmer aus zeigte Sswidrigailoff Dunetschka,
-nachdem er eine verschlossene Türe geöffnet hatte, eine andere leere
-Wohnung, die zu vermieten war. Dunetschka blieb auf der Schwelle stehen,
-ohne zu verstehen, warum man sie aufforderte, das anzusehen, aber
-Sswidrigailoff beeilte sich, eine Erklärung abzugeben.
-
-»Sehen Sie dieses zweite große Zimmer. Merken Sie sich diese Türe, sie
-ist verschlossen. Neben der Türe steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in
-beiden Zimmern. Ich habe ihn aus meiner Wohnung hierher gebracht, um
-bequemer zuzuhören. Gleich hinter dieser Tür steht der Tisch von Ssofja
-Ssemenowna; dort saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Ich aber
-lauschte hier, auf dem Stuhl sitzend, zwei Abende nacheinander und beide
-Male gegen zwei Stunden, -- und selbstverständlich konnte ich einiges
-erfahren, was meinen Sie?«
-
-»Sie haben gelauscht?«
-
-»Ja, ich habe gelauscht, jetzt wollen wir zu mir gehen; hier kann ich
-Ihnen keinen Platz anbieten.«
-
-Er führte Awdotja Romanowna in das erste Zimmer zurück, das ihm als
-Salon diente, und bat sie, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich ans
-andere Ende des Tisches hin, wenigstens zwei Meter von ihr entfernt,
-doch in seinen Augen leuchtete schon dasselbe Feuer, das einst
-Dunetschka so erschreckt hatte. Sie zuckte zusammen und blickte sich
-noch einmal mißtrauisch um. Ihre Bewegung war unwillkürlich; sie wollte
-offenbar ihr Mißtrauen nicht zeigen. Aber die Lage von Sswidrigailoffs
-Wohnung hatte sie schließlich überrascht. Sie wollte ihn fragen, ob
-wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, aber sie frug ... aus Stolz nicht.
-Außerdem war in ihrem Herzen ein anderer unermeßlich größerer Kummer,
-als die Angst für sich. Sie litt unerträglich.
-
-»Hier haben Sie Ihren Brief,« begann sie und legte den Brief auf den
-Tisch. -- »Ist es denn möglich, was Sie schreiben? Sie deuten ein
-Verbrechen an, das angeblich mein Bruder verübt hat. Sie deuten es zu
-klar an, Sie dürfen jetzt keine Ausreden gebrauchen. Sie sollen auch
-wissen, daß ich vor Ihnen schon von diesem dummen Märchen gehört habe,
-und keinem einzigen Worte davon glaube. Es ist ein niederträchtiger und
-lächerlicher Verdacht. Ich kenne die Geschichte, und wie und warum sie
-entstanden ist. Sie können keine Beweise haben. Sie haben versprochen,
-es mir zu beweisen, -- reden Sie doch! Aber Sie sollen im voraus wissen,
-daß ich Ihnen nicht glaube! Ich glaube nicht!«
-
-Dunetschka sagte dies sehr schnell, und auf einen Augenblick stieg ihr
-das Blut ins Gesicht.
-
-»Wenn Sie nicht glauben würden, könnte es denn passiert sein, daß Sie es
-riskiert hätten, allein zu mir herzukommen? Warum sind Sie denn
-gekommen? Aus bloßer Neugier?«
-
-»Quälen Sie mich nicht, sprechen Sie, sprechen Sie!«
-
-»Es ist nicht zu leugnen, daß Sie ein tapferes Mädchen sind. Bei Gott,
-ich dachte, daß Sie Herrn Rasumichin bitten werden, Sie hierher zu
-begleiten. Aber er war weder mit Ihnen noch in Ihrer Nähe, ich habe mich
-umgesehen, -- das ist kühn; Sie wollten also Rodion Romanowitsch
-schonen. Ach, alles ist an Ihnen göttlich ... Was Ihren Bruder
-anbetrifft, was soll ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn soeben selbst
-gesehen. Wie er aussieht?«
-
-»Ihre Gründe ruhen doch nicht darauf allein?«
-
-»Nein, nicht darauf, sondern auf seinen eigenen Worten. Er war zweimal
-nacheinander hierher zu Ssofja Ssemenowna gekommen. Ich habe Ihnen
-gezeigt, wo sie gesessen haben. Er hat ihr eine volle Beichte abgelegt.
-Er ist ein Mörder. Er hat eine alte Beamtenwitwe, eine Wucherin
-ermordet, bei der er auch selbst Sachen versetzt hatte; er hat auch ihre
-Schwester, eine Händlerin, dem Namen nach Lisaweta, ermordet, die
-zufällig während der Ermordung der Schwester eingetreten war. Er hat sie
-beide mit einem Beile, das er mitgebracht hatte, erschlagen. Er hatte
-sie getötet, um sie zu berauben, und hat auch geraubt, -- er hat Geld
-und einige Sachen genommen ... Er hat das alles selbst Wort für Wort
-Ssofja Ssemenowna mitgeteilt, die allein auch sein Geheimnis kennt, die
-aber an dem Morde weder durch Tat noch Wort teilgenommen hat und die im
-Gegenteil ebenso sich entsetzte, wie auch Sie jetzt. Seien Sie ruhig,
-sie wird ihn nicht verraten.«
-
-»Das kann nicht sein!« murmelte Dunetschka mit blassen trockenen Lippen;
-sie rang nach Atem, »es kann nicht sein, es gibt keinen, nicht den
-geringsten Grund, keinen Anlaß ... Das ist Lüge! Eine Lüge!«
-
-»Er hat geraubt, das ist der ganze Grund. Er hat Geld und Sachen
-genommen. Es ist wahr, er hat nach seinem eigenen Geständnis weder vom
-Gelde, noch von den Sachen einen Gebrauch gemacht, sondern sie irgendwo
-unter einem Stein versteckt, wo sie auch jetzt noch liegen. Aber
-deshalb, weil er nicht wagte, davon Gebrauch zu machen.«
-
-»Ja, ist es denn zu glauben, daß er stehlen, rauben konnte. Daß er bloß
-daran denken konnte?« rief Dunja und sprang von ihrem Stuhle auf. --
-»Sie kennen ihn doch, haben ihn gesehen? Kann er denn ein Dieb sein?«
-
-Es war, als flehe sie Sswidrigailoff an; sie hatte ihre ganze Furcht
-vergessen.
-
-»Hier gibt es, Awdotja Romanowna, tausende und Millionen von
-Kombinationen und Arten. Ein Dieb stiehlt, er weiß dafür auch selbst,
-daß er ein Schuft ist; ich hörte aber zum Beispiel von einem sehr
-anständigen Herrn, der die Post beraubt hatte; wer weiß, vielleicht
-glaubte er auch tatsächlich, daß er eine anständige Sache getan hat.
-Selbstverständlich hätte ich es auch selbst nicht geglaubt, ebenso wenig
-wie Sie, wenn es mir andere gesagt hätten. Meinen eigenen Ohren aber
-habe ich geglaubt. Er hat Ssofja Ssemenowna auch alle Gründe erklärt;
-aber auch sie hatte zuerst ihren Ohren nicht getraut, jedoch den Augen,
-ihren eigenen Augen hatte sie schließlich glauben müssen. Er hat ihr es
-doch persönlich mitgeteilt.«
-
-»Was waren es für ... Gründe?«
-
-»Es ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es spielt hierbei, wie
-soll ich es Ihnen erklären, eine Art Theorie mit, es ist dasselbe, warum
-ich zum Beispiel finde, daß eine einzelne Freveltat erlaubt ist, wenn
-der Hauptzweck gut ist. Ein einziges böses und hundert gute Werke! Es
-ist auch sicher für einen jungen Mann mit Vorzügen und unermeßlichem
-Ehrgeiz kränkend, zu wissen, daß seine ganze Karriere, die ganze
-Zukunft, seine Lebensziele sich anders gestalten würden, wenn er bloß
-dreitausend hätte; aber er hat sie eben nicht. Fügen Sie dazu, was ihn
-reizen mußte: der Hunger, die enge Wohnung, seine Lumpen, das starke
-Bewußtsein seiner großen sozialen Not und gleichzeitig die Lage seiner
-Schwester und Mutter. Am meisten aber Eitelkeit und Stolz, übrigens aber
-Gott weiß, vielleicht auch gute Eigenschaften ... Ich klage ihn nicht
-an, glauben Sie; ja und mich geht es auch nichts an. Er hatte auch
-hierbei eine eigene Theorie, -- eine annehmbare Theorie, -- nach der die
-Menschen in Material und besondere Menschen eingeteilt werden, d. h.
-solche Menschen, für die das Gesetz, dank ihrer hohen Veranlagung, nicht
-geschrieben ist, die vielmehr selbst Gesetze für die übrigen Menschen,
-für das Material, für den Kehricht geben. Es ist nicht übel, eine
-passable Theorie, -- _une théorie comme une autre_{[22]}. Vor allem hat
-ihn Napoleon begeistert, d. h., eigentlich noch mehr der Umstand, daß es
-genialen Menschen auf eine einzelne böse Tat nicht ankam, sondern daß
-sie ohne groß nachzudenken, darüber hinwegkamen. Es scheint mir, er hat
-sich eingebildet, auch ein genialer Mensch zu sein, -- das will sagen,
-er war davon eine Zeitlang überzeugt. Er hat sehr viel gelitten und
-leidet jetzt unter dem Gedanken, daß er verstanden hatte, sich eine
-Theorie auszudenken, aber nicht imstande war, ohne Nachdenken darüber
-hinwegzukommen und somit kein genialer Mensch sei. Und das ist für einen
-jungen Mann voll Ehrgeiz erniedrigend genug, in unserem Zeitalter
-besonders ...«
-
-»Und Gewissensbisse? Sie sprechen ihm also jedes sittliche Gefühl ab?
-Ja, ist es denn so?«
-
-»Ach, Awdotja Romanowna, jetzt hat sich bei ihm alles getrübt, d. h., er
-war übrigens wohl nie in völliger Ordnung. Die Russen sind überhaupt
-großangelegte Naturen, Awdotja Romanowna, sie sind ebenso großangelegt,
-wie ihr Land und haben eine äußerst starke Neigung zum Phantastischen,
-Extravaganten; es ist aber ein Unglück, großangelegt zu sein, ohne
-wirklich genial zu sein. Erinnern Sie sich, wie viel wir in dieser Art
-und über dieses Thema gesprochen haben, wenn wir Abends auf der Terrasse
-im Garten jedesmal nach dem Essen saßen. Sie haben mir auch dieses
-Großangelegtsein vorgeworfen. Wer weiß, vielleicht sprachen wir gerade
-in der Zeit darüber, als er hier lag und über dasselbe grübelte. Bei uns
-in der gebildeten Gesellschaft gibt es doch keine besonders heiligen
-Überlieferungen, Awdotja Romanowna, -- kommt wohl vor, daß sich jemand
-irgendwie es aus den Büchern zusammenstellt ... oder etwas aus alten
-Chroniken hervorholt. Aber das sind doch meistenteils Gelehrte und,
-wissen Sie, in ihrer Art alle Schlafmützen, so daß es sogar für einen
-Mann aus der Gesellschaft unpassend ist. Übrigens, meine Ansichten
-kennen Sie im allgemeinen, ich klage entschieden niemand an. Ich bin
-selbst Nichtstuer und halte mich daran. Wir haben ja mehr als einmal
-darüber gesprochen. Ich hatte sogar das Glück, Sie für meine Meinungen
-zu interessieren ... Sie sind sehr blaß, Awdotja Romanowna!«
-
-»Ich kenne seine Theorie. Ich habe seinen Artikel in der Zeitschrift
-über Menschen, denen alles erlaubt ist, gelesen ... Rasumichin hat ihn
-mir gebracht ...«
-
-»Herr Rasumichin? Den Artikel Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Gibt
-es solch einen Artikel? Ich wußte es nicht. Das ist interessant! Aber
-wohin wollen Sie denn, Awdotja Romanowna!«
-
-»Ich will Ssofja Ssemenowna sehen,« sagte Dunetschka mit schwacher
-Stimme. -- »Wie kann ich zu ihr kommen? Sie ist vielleicht
-zurückgekommen; ich will sie unbedingt sofort sehen. Mag sie ...«
-
-Awdotja Romanowna konnte nicht zu Ende sprechen; der Atem verging ihr
-buchstäblich.
-
-»Ssofja Ssemenowna wird vor Anbruch der Nacht nicht zurückkehren. Ich
-nehme es an. Sie mußte gleich zurückkommen, sonst kommt sie sehr spät
-...«
-
-»Ah, also du lügst! Ich sehe ... du hast gelogen ... du hast alles
-gelogen! ... Ich glaube dir nicht! Ich glaube nicht! Ich glaube nicht!«
-schrie Dunetschka in wahrer Wut und verlor vollkommen den Kopf.
-
-Sie fiel fast ohnmächtig auf einen Stuhl hin, den Sswidrigailoff sich
-beeilte, ihr unterzuschieben.
-
-»Awdotja Romanowna, was ist mit Ihnen, kommen Sie zu sich! Hier ist
-Wasser! Trinken Sie einen Schluck ...«
-
-Er bespritzte sie mit Wasser. Dunetschka fuhr zusammen und kam zu sich.
-
-»Es hat stark gewirkt!« murmelte Sswidrigailoff vor sich hin und sein
-Gesicht verdüsterte sich. -- »Awdotja Romanowna, beruhigen Sie sich!
-Vergessen Sie nicht, daß er Freunde hat. Wir werden ihn retten,
-herausreißen. Wenn Sie es wollen, bringe ich ihn ins Ausland? Ich habe
-Geld; in drei Tagen verschaffe ich einen Reisepaß. Und was das
-anbetrifft, daß er getötet hat, so wird er noch so viel Gutes tun, so
-daß dies alles sich ausgleichen wird; beruhigen Sie sich. Er kann noch
-ein großer Mann werden. Wie geht's mit Ihnen? Wie fühlen Sie sich?«
-
-»Sie böser Mensch! Er verspottet es noch. Lassen Sie mich ...«
-
-»Wohin? Wohin wollen Sie?«
-
-»Zu ihm. Wo ist er? Sie wissen es? Warum ist diese Tür verschlossen? Wir
-sind durch diese Tür hereingekommen und jetzt ist sie verschlossen. Wann
-haben Sie sie abschließen können?«
-
-»Man konnte doch nicht durch alle Zimmer schreien, was wir hier
-sprachen. Ich spotte gar nicht; ich bin bloß überdrüssig, diese Sprache
-zu führen. Nun, wohin wollen Sie in diesem Zustande gehen? Oder wollen
-Sie ihn verraten? Sie bringen ihn in Wut und er wird sich selbst
-anzeigen. Sie sollen wissen, daß man ihn schon verfolgt, daß man auf
-seine Spur gekommen ist. Sie werden ihn bloß verraten. Warten Sie, --
-ich habe ihn gesehen und mit ihm soeben gesprochen; man kann ihn noch
-retten. Warten Sie, setzen Sie sich, überlegen wir es zusammen. Ich habe
-Sie auch darum gerufen, um mit Ihnen allein darüber zu sprechen und
-alles gut zu überlegen. Ja, setzen Sie sich doch!«
-
-»Wie können Sie ihn retten? Kann man ihn denn retten?«
-
-Dunja setzte sich. Sswidrigailoff setzte sich neben sie.
-
-»Das alles hängt von Ihnen ab, von Ihnen, von Ihnen allein,« begann er
-mit funkelnden Augen, fast im Flüstertone, verwirrt und manche Worte vor
-Erregung nicht aussprechend.
-
-Dunja wich erschrocken vor ihm zurück. Er zitterte auch am ganzen
-Körper.
-
-»Sie ... ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet! Ich ... ich
-werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich werde ihn sofort ins
-Ausland senden, ich selbst nehme den Reisepaß, zwei Reisepässe. Den
-einen für ihn, den anderen für mich. Ich habe Freunde; ich habe
-Geschäftsleute an der Hand ... Wollen Sie? Ich will auch für Sie einen
-Reisepaß nehmen ... für Ihre Mutter ... wozu brauchen Sie Rasumichin?
-Ich liebe Sie auch ... Ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den
-Saum Ihres Kleides küssen, lassen Sie mich! Lassen Sie mich! Ich kann
-nicht hören, wie es rauscht. Sagen Sie zu mir, -- tue das, und ich will
-es tun! Ich will alles tun! Ich will das Unmöglichste tun! Woran Sie
-glauben, will ich auch glauben! Ich will alles, alles tun! Sehen Sie
-mich, sehen Sie mich nicht so an! Wissen Sie es auch, daß Sie mich töten
-...«
-
-Er fing selbst an zu phantasieren. Mit ihm war plötzlich etwas
-geschehen, als wäre es ihm zu Kopfe gestiegen. Dunja sprang auf und
-stürzte zur Türe.
-
-»Öffnen Sie! Öffnen Sie!« schrie sie durch die Türe, als riefe sie
-jemand zu Hilfe und rüttelte an der Türe. -- »Öffnen Sie doch! Ist denn
-niemand da!«
-
-Sswidrigailoff war aufgestanden und zur Besinnung gekommen. Ein
-boshaftes und spöttisches Lächeln zeigte sich langsam auf seinen noch
-bebenden Lippen.
-
-»Niemand ist dort zu Hause,« sagte er leise und mit Nachdruck, »die
-Wirtin ist fortgegangen, und es ist unnütze Mühe, so zu schreien, -- Sie
-regen sich bloß unnütz auf.«
-
-»Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Türe, sofort, du gemeiner
-Mensch!«
-
-»Ich habe den Schlüssel verloren und kann ihn nicht finden.«
-
-»Ah! Also das ist Gewalt!« rief Dunja aus, erblaßte wie der Tod und
-stürzte in eine Ecke, wo sie sich schleunigst mit einem Tischchen
-schützte, das ihr in die Hand fiel. Sie schrie nicht, aber sie bohrte
-sich mit den Blicken an ihren Peiniger fest und verfolgte scharf jede
-seiner Bewegungen. Sswidrigailoff rührte sich auch nicht vom Fleck und
-stand ihr gegenüber am anderen Ende des Zimmers. Er hatte sich gefaßt,
-wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war, wie früher, bleich. Ein
-spöttisches Lächeln verließ es nicht.
-
-»Sie sagten soeben >Gewalt<, Awdotja Romanowna. Wenn es Gewalt ist, so
-können Sie selbst begreifen, daß ich die nötigen Maßregeln getroffen
-habe. Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause; bis zu Kapernaumoffs ist es
-sehr weit, fünf leere Zimmer liegen dazwischen. Schließlich bin ich
-wenigstens doppelt so stark, als Sie, und außerdem brauche ich nichts zu
-befürchten, denn Sie können auch nachher sich nicht beklagen, -- Sie
-werden doch nicht Ihren Bruder verraten wollen? Ja, und Ihnen wird auch
-niemand glauben, -- warum ist denn ein junges Mädchen allein zu einem
-alleinstehenden Herrn gegangen? Wenn Sie also auch Ihren Bruder opfern,
-so beweisen Sie noch lange nichts, -- eine Gewalttat ist schwer zu
-beweisen, Awdotja Romanowna.«
-
-»Schuft!« flüsterte Dunja empört.
-
-»Wie Sie wünschen, merken Sie sich, ich habe es bloß als eine Mutmaßung
-ausgesprochen. Meiner persönlichen Überzeugung nach aber haben Sie
-vollkommen recht, -- eine Gewalttat ist eine Schändlichkeit. Ich sagte
-es bloß, um zu beweisen, daß Ihr Gewissen nichts verliert, wenn Sie ...
-wenn Sie sich sogar entschließen sollten, Ihren Bruder freiwillig zu
-retten, wie ich es Ihnen angeboten habe. Sie haben sich bloß den
-Umständen gefügt, meinetwegen auch der Gewalt nachgegeben, wenn es sich
-ohne dieses Wort nicht auskommen läßt. Denken Sie darüber nach; das
-Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter liegt in Ihren Händen. Ich will
-aber Ihr Sklave sein ... mein ganzes Leben ... ich will hier Ihre
-Entscheidung erwarten ...«
-
-Sswidrigailoff setzte sich auf das Sofa hin, etwa acht Schritte von
-Dunja entfernt. Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel an seinem
-unerschütterlichen Entschlusse. Außerdem kannte sie ihn ...
-
-Plötzlich holte sie aus ihrer Tasche einen Revolver hervor, spannte den
-Hahn und ließ die Hand mit dem Revolver auf den Tisch sinken.
-Sswidrigailoff sprang von seinem Platz auf.
-
-»Aha! So ist die Geschichte!« rief er verwundert aus und lächelte
-hämisch. »Nun, das ändert vollkommen die Sache! Sie erleichtern mir
-wesentlich die Sache, Awdotja Romanowna! Ja, woher haben Sie sich diesen
-Revolver verschafft? Etwa von Herrn Rasumichin? Bah! Der Revolver gehört
-ja mir! Ein alter Bekannter von mir! Und ich habe ihn damals so gesucht!
-... Unser Schießunterricht auf dem Lande, den ich die Ehre hatte, zu
-erteilen, ist nicht unnütz gewesen.«
-
-»Es ist nicht dein Revolver, sondern Marfa Petrownas, die du ermordet
-hast, du Bösewicht! Du hattest nichts eigenes in ihrem Hause. Ich nahm
-ihn, als ich zu ahnen begann, wozu du fähig bist. Wage bloß einen
-Schritt zu machen und ich schwöre dir, -- ich erschieße dich!«
-
-Dunja war außer sich. Den Revolver hielt sie bereit.
-
-»Nun, und Ihr Bruder? Ich frage aus Neugier?« sagte Sswidrigailoff und
-stand immer noch auf derselben Stelle.
-
-»Zeige ihn an, wenn du willst! Nicht vom Platze! Rühr dich nicht! Ich
-werde schießen! Du hast deine Frau vergiftet, ich weiß es, du bist
-selbst ein Mörder!«
-
-»Sind Sie fest davon überzeugt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?«
-
-»Du hast! Du hast mir es selbst angedeutet; du hast mir von Gift
-gesprochen ... ich weiß, du hast dir Gift verschafft ... Du hattest
-alles vorbereitet ... Du hast es unbedingt getan ... Schuft!«
-
-»Wenn es auch wahr wäre, so habe ich es doch deinetwegen ... du warst
-doch die Ursache!«
-
-»Du lügst! Ich habe dich stets, stets gehaßt ...«
-
-»Na, Awdotja Romanowna! Sie scheinen vergessen zu haben, wie Sie in der
-Hitze der Propaganda geneigter wurden und dahinschmolzen ... Ich habe es
-an den Augen gemerkt, erinnern Sie sich eines Abends, der Mond schien
-und eine Nachtigall trillerte?«
-
-»Du lügst!« in Dunjas Augen funkelte Wut, »du lügst, Verleumder!«
-
-»Ich lüge? Nun, meinetwegen, ich lüge. Ich habe gelogen. Frauen soll man
-an diese Dinge nicht erinnern.« -- Er lächelte halb. -- »Ich weiß, daß
-du schießen wirst, du schönes, wildes Tier! Nun, schieße doch!«
-
-Dunja erhob den Revolver und sah ihn totenblaß, mit kreidebleichen
-bebenden Lippen, mit großen schwarzen, feurig funkelnden Augen
-entschlossen an und wartete die erste Bewegung von ihm ab. Noch niemals
-hatte er sie so schön gesehen. Das Feuer, das in ihren Augen in dem
-Augenblick aufleuchtete, als sie den Revolver erhob, schien ihn
-verbrannt zu haben, und sein Herz zog sich schmerzlicher zusammen. Er
-tat einen Schritt und ein Schuß knallte. Die Kugel streifte seine Haare
-und traf die Wand hinter ihm. Er blieb stehen und lachte leise.
-
-»Eine Wespe hat gestochen! Sie zielt auf den Kopf ... Was ist das?
-Blut!« -- Er zog ein Taschentuch hervor, um das Blut abzuwischen, das
-ganz fein an seiner rechten Schläfe herunterrann; wahrscheinlich hatte
-die Kugel die Haut seines Schädels geritzt. Dunja ließ den Revolver
-sinken und sah Sswidrigailoff nicht etwa erschreckt, sondern stutzig an.
-Es war, als begreife sie selbst nicht, was sie getan hatte und was
-vorgegangen war!
-
-»Nun, das ging vorbei! Schießen Sie noch einmal, ich warte,« sagte
-Sswidrigailoff leise, finster lächelnd. »So kann ich Sie packen, ehe Sie
-den Hahn noch einmal aufspannen!«
-
-Dunetschka fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und erhob wieder den
-Revolver.
-
-»Lassen Sie mich!« sagte sie voll Verzweiflung. »Ich schwöre es Ihnen,
-ich werde von neuem schießen ... Ich ... werde Sie erschießen! ...«
-
-»Nun was ... auf drei Schritte muß man auch treffen können. Nun, wenn
-Sie aber mich nicht erschießen ... dann ...« -- Seine Augen funkelten
-und er trat noch zwei Schritte näher.
-
-Dunetschka drückte ab, -- die Waffe versagte!
-
-»Sie haben nicht gut geladen. Tut nichts! Sie haben noch eine Patrone
-drin. Bringen Sie es in Ordnung, ich will warten.«
-
-Er stand zwei Schritte vor ihr, wartete und sah sie voll wilder
-Entschlossenheit mit einem leidenschaftlichen und schweren Blicke an.
-Dunja begriff, daß er eher sterben würde, als daß er sie losließ. »Und
-sie ... wird ihn jetzt sicher auf zwei Schritte Entfernung töten! ...«
-
-Plötzlich schleuderte sie den Revolver fort.
-
-»Hat ihn fortgeworfen!« sagte Sswidrigailoff und holte tief Atem. Etwas
-schien mit einem Male sich von seinem Herzen losgelöst zu haben, und es
-war vielleicht nicht bloß die Last der Todesangst, -- es war auch
-fraglich, ob er sie in diesem Augenblicke empfunden hatte. Es war eine
-Erlösung von einem anderen, mehr kummervollen und düsteren Gefühle, das
-er selbst nicht in seiner ganzen Macht definieren konnte.
-
-Er trat an Dunja heran und legte still seinen Arm um ihre Taille. Sie
-widersetzte sich ihm nicht, aber sie blickte ihn, am ganzen Körper wie
-ein Blatt bebend, mit flehenden Augen an. Er wollte etwas sagen, seine
-Lippen aber verzogen sich bloß und er konnte nichts sprechen.
-
-»Laß mich!« sagte Dunja flehend.
-
-Sswidrigailoff zuckte zusammen, -- dieses _du_ war in einer anderen
-Weise, als vorhin, gesagt.
-
-»Also du liebst mich nicht?« fragte er leise.
-
-Dunja schüttelte verneinend den Kopf.
-
-»Und ... kannst auch nicht? ... Niemals?« flüsterte er verzweifelt.
-
-»Niemals!« antwortete Dunja im Flüstertone.
-
-Es war der Moment eines schrecklichen stummen Kampfes in Sswidrigailoffs
-Seele. Mit einem unaussprechlichen Blicke sah er sie an. Plötzlich zog
-er seine Hand zurück, wandte sich ab, ging schnell zum Fenster und
-stellte sich dort hin.
-
-Noch ein Augenblick verging.
-
-»Hier ist der Schlüssel zur Türe!« er nahm ihn aus der linken Tasche
-seines Mantels hervor und legte ihn auf den Tisch hinter sich, ohne
-Dunja anzublicken und ohne sich umzudrehen. -- »Nehmen Sie ihn; gehen
-Sie schnell fort! ...«
-
-Er sah starr zum Fenster hinaus.
-
-Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen.
-
-»Schneller! Schneller!« wiederholte Sswidrigailoff, ohne sich zu rühren
-und umzudrehen. Aber in diesem »schneller« klang deutlich ein
-schrecklicher Ton hindurch.
-
-Dunja begriff, erfaßte den Schlüssel, stürzte zur Türe, schloß sie eilig
-auf und sprang aus dem Zimmer. Nach einer Minute lief sie schon, wie
-wahnsinnig, ganz außer sich den Kanal entlang in der Richtung zu der
-X-schen Brücke.
-
-Sswidrigailoff blieb am Fenster noch etwa drei Minuten stehen, wandte
-sich endlich langsam um, warf einen Blick ins Zimmer und fuhr sich leise
-mit der Hand über die Stirn. Ein merkwürdiges Lächeln verzog sein
-Gesicht; es war ein klägliches, trauriges, schwaches Lächeln, ein
-Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das schon einzutrocknen begann,
-hatte seine Hand beschmutzt; er blickte das Blut zornig an; dann machte
-er ein Handtuch naß und wusch sich die Schläfe ab. Der Revolver, den
-Dunja von sich geworfen hatte und der zur Türe geflogen war, fiel ihm
-plötzlich in die Augen. Er hob ihn auf und besah ihn. Es war ein kleiner
-dreiläufiger Taschenrevolver alten Systems; es steckten noch zwei
-Patronen darin und eine Kapsel. Einmal konnte man noch daraus schießen.
-Er sann eine Weile nach, steckte den Revolver in die Tasche, nahm seinen
-Hut und ging hinaus.
-
-
- VI.
-
-Diesen ganzen Abend bis zehn Uhr zog er in allerhand Wirtshäusern und
-Spelunken umher. Irgendwo traf er auch Katja, die einen anderen
-Gassenhauer sang, von einem »Schuft und Tyrannen,« der
-
- »Fing Katja an zu küssen«.
-
-Sswidrigailoff gab Katja und dem Leiermann, den Chorsängern, den
-Kellnern und zwei Schreibern zu trinken. Diese Schreiber hatte er
-eigentlich bloß aufgefordert, weil sie beide schiefe Nasen besaßen, --
-die Nase des einen stand nach rechts, die des anderen nach links. Das
-hatte Sswidrigailoffs Aufmerksamkeit erregt. Zuletzt schleppten sie ihn
-in eine Gartenwirtschaft mit, wo er für sie das Eintrittsgeld bezahlen
-mußte. Dieser Garten bestand aus einer dünnen dreijährigen Tanne und
-drei Sträuchern. Das Restaurant war im Grunde genommen nur ein
-Ausschank, man konnte aber auch Tee erhalten und es standen einige grüne
-Tische und Stühle dort. Ein Chor minderwertiger Sänger und ein
-betrunkener Deutscher aus München, eine Art Clown, mit roter Nase, der
-aber aus irgend einem Grunde sehr niedergeschlagen war, amüsierten das
-Publikum. Die Schreiber fingen mit einigen anderen Schreibern einen
-Streit an und schickten sich schon an, handgreiflich zu werden.
-Sswidrigailoff wurde von ihnen zum Schiedsrichter gewählt. Er waltete
-über eine Viertelstunde seines Amtes, aber sie schrien derartig, daß es
-nicht die geringste Möglichkeit gab, irgend etwas zu verstehen. Am
-wahrscheinlichsten war die Sache so -- einer von ihnen hatte etwas
-gestohlen und hatte Zeit gefunden, es sofort an Ort und Stelle einem
-Juden zu verkaufen, der sich zufällig eingefunden hatte, aber er wollte
-das Geld mit seinem Kameraden nicht teilen; es ergab sich schließlich,
-daß der verkaufte Gegenstand ein Teelöffel war, der dem Restaurant
-gehörte; man vermißte dort den Löffel und die Sache begann eine
-unangenehme Wendung zu nehmen. Sswidrigailoff bezahlte den Löffel, erhob
-sich und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte
-während der ganzen Zeit keinen einzigen Tropfen Wein getrunken und hatte
-in der Gartenwirtschaft sich nur Tee bestellt, und das nur, um überhaupt
-etwas zu nehmen. Der Abend war schwül und düster. Gegen zehn Uhr hatte
-sich der Himmel mit dunklen Wolken überzogen; es fing an zu donnern und
-der Regen strömte nieder. Das Wasser fiel nicht in Tropfen, sondern
-peitschte in ganzen Strömen die Erde. Es folgte Blitz auf Blitz. Ganz
-durchnäßt kam Sswidrigailoff nach Hause, schloß sich ein, öffnete seinen
-Schreibtisch, nahm sein ganzes Geld an sich und zerriß einige Papiere.
-Er steckte darauf das Geld in die Tasche, wollte seine Kleider wechseln,
-aber nachdem er zum Fenster hinausgeblickt und dem Gewitter und dem
-Regen gelauscht hatte, tat er es doch nicht, ergriff seinen Hut und ohne
-seine Wohnung abzuschließen, ging er hinaus und direkt zu Ssonja. Sie
-war zu Hause.
-
-Sie war nicht allein; sie hatte die vier Kinder von Kapernaumoff um
-sich. Ssofja Ssemenowna gab ihnen Tee zu trinken. Sie begrüßte
-Sswidrigailoff schweigend und ehrerbietig, warf einen erstaunten Blick
-auf seine durchnäßten Kleider, sagte aber kein Wort. Die Kinder liefen
-sofort in unbeschreiblicher Furcht davon.
-
-Sswidrigailoff setzte sich an den Tisch und bat Ssonja, neben ihm Platz
-zu nehmen. Sie schickte sich schüchtern an, ihm zuzuhören.
-
-»Ssofja Ssemenowna, ich reise vielleicht nach Amerika,« sagte
-Sswidrigailoff, »und da wir uns wahrscheinlich zum letzten Male sehen,
-bin ich gekommen, einige Anordnungen zu treffen. Haben Sie heute diese
-Dame gesehen? Ich weiß, was sie Ihnen gesagt hat, Sie brauchen es mir
-nicht zu erzählen,« -- (Ssonja machte eine Bewegung und errötete.) --
-»Diese Leute haben eine bestimmte Manier. Was Ihre Schwestern und Ihren
-Bruder anbetrifft, so sind sie untergebracht und das ihnen zukommende
-Geld habe ich für jeden gegen Quittung in sicherer Hand deponiert.
-Nehmen Sie übrigens diese Quittungen für jeden Fall an sich. Nehmen Sie
-sie! Das ist also erledigt. Hier sind drei fünfprozentige Obligationen,
-im ganzen dreitausend Rubel. Nehmen Sie das für sich, für sich ganz
-allein, und mag es unter uns bleiben, damit niemand etwas davon erfährt.
-Das Geld wird Ihnen von Nutzen sein, denn, Ssofja Ssemenowna, ein Leben,
-wie Sie es bisher lebten, ist schlimm und Sie haben es nicht nötig.«
-
-»Sie haben mich mit so vielen Wohltaten überschüttet; auch die Waisen
-und die Verstorbene,« stammelte Ssonja, »wenn ich Ihnen bis jetzt so
-wenig gedankt habe, so ... halten Sie es nicht ...«
-
-»Aber bitte, es ist nicht der Rede wert.«
-
-»Und für dieses Geld danke ich Ihnen sehr, Arkadi Iwanowitsch, aber ich
-brauche es jetzt wirklich nicht. Ich kann immer für mich allein sorgen,
-halten Sie es nicht für Undank, -- wenn Sie schon gütig sind, so soll
-dieses Geld ...«
-
-»Ihnen, Ssofja Ssemenowna, Ihnen soll es gehören, und bitte ohne viele
-Worte, denn ich habe auch keine Zeit dazu. Es wird Ihnen sehr von Nutzen
-sein. Rodion Romanowitsch hat zwei Auswege, -- entweder eine Kugel durch
-den Kopf oder Sibirien.« -- (Ssonja blickte ihn wild an und erbebte.) --
-»Seien Sie ruhig, ich weiß alles von ihm selbst und bin kein Schwätzer;
-werde es niemand sagen. Sie haben gut daran getan, indem Sie ihm
-vorschlugen, -- er möge hingehen und sich selbst anzeigen. Das wird ihm
-bedeutend nützlicher sein. Nun, wenn der Ausweg Sibirien sein wird,
-werden Sie ihm doch folgen? Nicht wahr? Nicht wahr? Und dann wird Ihnen
-auch das Geld von Nutzen sein. Für ihn selbst werden Sie es brauchen,
-verstehen Sie? Indem ich es Ihnen überreiche, gebe ich es damit doch
-ihm. Außerdem haben Sie versprochen, auch die frühere Wirtin Amalie
-Iwanowna zu bezahlen; ich habe es gehört. Warum übernehmen Sie immer,
-Ssofja Ssemenowna, unüberlegt solche Verpflichtungen? Katerina Iwanowna
-war es doch dieser Deutschen schuldig geblieben, und nicht Sie, also
-sollten Sie auf die Deutsche pfeifen. In dieser Weise kann man auf der
-Welt nicht weiterkommen. Und wenn jemand morgen oder übermorgen nach mir
-fragen sollte, -- und man wird sich an Sie wenden, -- so erwähnen Sie
-nicht, daß ich jetzt bei Ihnen gewesen bin, und zeigen Sie in keinem
-Falle das Geld und sagen Sie niemandem, daß ich es Ihnen gegeben habe.
-Und jetzt auf Wiedersehen.« -- Er stand auf. -- »Grüßen Sie Rodion
-Romanowitsch. Nebenbei gesagt, -- übergeben Sie vorläufig das Geld
-meinetwegen Herrn Rasumichin zur Aufbewahrung. Kennen Sie Herrn
-Rasumichin? Sie kennen ihn sicher. Das ist ein kluger Bursche. Bringen
-Sie das Geld ihm morgen oder ... wenn Sie Zeit haben, hin. Vorläufig
-verstecken Sie es gut.« Er erhob sich.
-
-Ssonja sprang ebenfalls vom Stuhle auf und blickte ihn erschrocken an.
-Sie wollte etwas sagen, etwas fragen, aber sie wagte es nicht gleich und
-wußte auch nicht, wie sie es anfangen sollte.
-
-»... Wie, wollen Sie denn jetzt in solchem Regen ausgehen?«
-
-»Nun, ich will nach Amerika reisen und soll mich vor einem Regen
-fürchten, he! he! Leben Sie wohl, liebe Ssofja Ssemenowna! Leben Sie und
-leben Sie lange, Sie werden anderen von Nutzen sein. Ja ... sagen Sie
-bitte Herrn Rasumichin, daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie ihm, --
-Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff läßt Sie grüßen, -- mit diesen Worten
-sagen Sie es ihm. Sagen Sie es unbedingt.«
-
-Er ging fort und hinterließ Ssonja erstaunt und erschrocken in einer
-unklaren und drückenden Ahnung zurück.
-
-Man erfuhr später, daß er am selben Abend, in der zwölften Stunde, noch
-einen sehr exzentrischen und unerwarteten Besuch gemacht hatte. Der
-Regen hatte noch immer nicht aufgehört. Ganz durchnäßt, trat er zwanzig
-Minuten nach elf in die kleine Wohnung der Eltern seiner Braut ein. Mit
-großer Mühe hatte er sich Einlaß verschafft und zuerst alle in große
-Aufregung versetzt; aber Arkadi Iwanowitsch konnte, wenn er wollte, ein
-Mann von bezauberndem Benehmen sein, so daß die ursprüngliche, übrigens
-sehr naheliegende Annahme der Eltern der Braut, daß Arkadi Iwanowitsch
-wahrscheinlich sich irgendwo stark berauscht habe und seiner selbst
-nicht mächtig sei, -- von selbst zunichte wurde. Den gelähmten Vater
-rollte in einem Sessel die mitleidige Mutter der Braut selbst zu Arkadi
-Iwanowitsch herein und begann nach ihrer Gewohnheit mit weitausholenden
-Fragen. Diese Frau stellte nie direkte Fragen, sondern lächelte und rieb
-sich die Hände zuerst, dann aber, wenn sie etwas unbedingt erfahren
-wollte, wie z. B., -- wann Arkadi Iwanowitsch den Wunsch habe, die
-Hochzeit zu bestimmen, so begann sie mit den neugierigsten Fragen über
-Paris und das dortige Hofleben, um schließlich langsam bis zu ihrer
-Wohnung in Petersburg zu gelangen. Zu anderer Stunde wurde dies alles
-ruhig hingenommen, aber jetzt war Arkadi Iwanowitsch zu ungeduldig und
-wünschte kategorisch seine Braut zu sehen, obgleich man ihm schon bei
-seinem Eintritt erklärt hatte, daß sie schon schlafe. Die Braut erschien
-selbstverständlich, und Arkadi Iwanowitsch teilte ihr sofort mit, daß er
-wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit auf eine Zeit lang Petersburg
-verlassen müsse, und aus diesem Grunde ihr fünfzehntausend Rubel in
-allerhand Papieren mitgebracht habe; er bat sie, dies als ein Geschenk
-von ihm anzunehmen, da er schon längst die Absicht gehabt habe, ihr
-diese Kleinigkeit schon vor der Hochzeit zu überreichen. Ein besonderer
-logischer Zusammenhang zwischen dem Geschenk und der unverzüglichen
-Abreise und der Notwendigkeit, deswegen in der Nacht bei Regen
-herzukommen, zeigte sich in keiner Weise bei seinen Erklärungen, jedoch
-es verlief alles sehr gut. Sogar die unvermeidlichen Ausrufe von »ach«
-und »wie,« das Fragen und Staunen wurden rasch gemäßigt und
-zurückgehalten; dafür aber wurde eine überströmende Dankbarkeit an den
-Tag gelegt und sogar von den Tränen der vernünftigsten aller Mütter
-unterstützt. Arkadi Iwanowitsch stand auf, lachte, küßte die Braut,
-streichelte ihre Wangen, wiederholte noch einmal, daß er bald
-zurückkommen werde, und als er in ihren Augen eine zwar kindliche
-Neugier, aber zugleich eine sehr ernste stumme Frage bemerkte, sann er
-eine Weile nach, küßte sie zum zweitenmal und ärgerte sich darüber, daß
-das Geschenk unverzüglich zur Aufbewahrung der vernünftigsten aller
-Mütter übergeben werden würde. Er ging fort und hinterließ alle in einer
-ungewöhnlichen Aufregung. Aber die gutherzige Mama löste sofort im
-Flüstertone einige sehr wichtige Bedenken, und zwar, daß Arkadi
-Iwanowitsch ein Mann der großen Welt, ein Mann mit Unternehmungen und
-großen Verbindungen, ein reicher Mann sei; weiß Gott, was in seinem
-Kopfe vorgehe, er habe plötzlich den Entschluß gefaßt, abzureisen, habe
-eben plötzlich den Gedanken bekommen, das Geld gegeben, man soll sich
-nicht darüber wundern. Gewiß sei es merkwürdig, daß er ganz durchnäßt
-war, aber die Engländer seien z. B. noch exzentrischer, überhaupt alle
-Menschen aus der höchsten Gesellschaft achteten nicht darauf, was man
-von ihnen sagen werde, und genierten sich nicht. Vielleicht gehe er
-absichtlich in dieser Weise herum, um zu zeigen, daß er nichts fürchte.
-Die Hauptsache aber sei, niemand ein Wort davon zu sagen, denn Gott
-weiß, was dabei noch herauskommen könne, das Geld müsse sofort
-eingeschlossen werden, und sicher sei es das beste, daß das Mädchen in
-der Küche war und nichts gesehen habe, noch wichtiger sei es aber,
-nichts, gar nichts dieser Spitzbübin, dieser Rößlich davon zu sagen, und
-so ging es in gleicher Weise fort. Sie blieben bis zwei Uhr sitzen und
-flüsterten die ganze Zeit. Nur die Braut ging etwas früher schlafen,
-über die ganze Sache verwundert und ein wenig traurig.
-
-Sswidrigailoff wanderte indessen punkt zwölf Uhr über die K.sche Brücke
-in der Richtung nach dem --schen Stadtteil. Es hatte zu regnen
-aufgehört, jedoch der Wind wehte noch stark. Sswidrigailoff begann zu
-zittern, und einen Augenblick sah er mit einer auffallenden Neugier und
-fragend das schwarze Wasser der Kleinen Newa an. Als er so über das
-Wasser geneigt dastand, fühlte er auf einmal ein unangenehmes
-Kältegefühl, er drehte sich um und ging den X.schen Prospekt entlang. Er
-wanderte lange, fast eine halbe Stunde, durch diesen endlosen Prospekt,
-stolperte ein paarmal in der Dunkelheit auf dem hölzernen Trottoir und
-hörte nicht auf, etwas auf der rechten Seite der Straße aufmerksam zu
-suchen. Er hatte hier, fast am Ende des Prospekts kürzlich im
-Vorbeifahren ein hölzernes, aber geräumiges Gasthaus bemerkt, und sein
-Name, soweit er sich erinnern konnte, hatte etwas mit »Adrianopel« zu
-tun. Er hatte sich nicht getäuscht, -- dieses Gasthaus in dieser
-abgelegenen Gegend war so auffallend, daß es selbst in der Dunkelheit
-unmöglich übersehen werden konnte. Es war ein langes hölzernes,
-schwarzgewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunde noch Lichter
-brannten und ein gewisses Leben zu bemerken war. Er trat ein und fragte
-einen im Korridor stehenden, zerlumpten Kerl nach einem Zimmer. Der warf
-einen Blick auf Sswidrigailoff, nahm sich zusammen und führte ihn in ein
-dumpfes, enges Zimmer, das am Ende des Korridors an einer Ecke unter der
-Treppe lag. »Es ist kein anderes da, alle Zimmer sind besetzt.« Der Kerl
-blickte ihn fragend an.
-
-»Gibt es Tee?« fragte Sswidrigailoff.
-
-»Kann besorgt werden.«
-
-»Was gibt es noch?«
-
-»Kalbfleisch, Schnaps, Aufschnitt.«
-
-»Bring mir Kalbfleisch und Tee.«
-
-»Sonst keine Wünsche?« fragte der Kerl erstaunt.
-
-»Nichts mehr.«
-
-Der Kerl verschwand, ganz verwundert.
-
-»Das muß ein guter Ort sein,« dachte Sswidrigailoff, »wie kam mir das
-nicht in den Sinn. Ich habe wahrscheinlich auch das Aussehen eines
-Menschen, der irgendwo aus einem Café chantant kommt und auf dem Wege
-schon etwas erlebt hat. Es wäre interessant, zu erfahren, wer hier alles
-absteigt und übernachtet.«
-
-Er zündete ein Licht an und besah sich das Zimmer genauer. Es war eine
-ganz kleine Kammer, so niedrig, daß Sswidrigailoff beinahe an die Decke
-stieß, mit einem Fenster; ein sehr schmutziges Bett, ein einfacher,
-gestrichener Tisch und ein Stuhl nahmen fast den ganzen Raum ein. Die
-Wände hatten das Aussehen, als wären sie aus Brettern zusammengeschlagen
-und mit alten abgerissenen Tapeten beklebt worden, die so staubig und
-beschmutzt waren, daß man ihre Farbe, ursprünglich gelb, erraten mußte,
-das Muster aber nicht mehr unterscheiden konnte. Der eine Teil der Wand
-und der Decke war schräg abgeschnitten, wie man es gewöhnlich in
-Mansarden sieht, hier aber war es wegen der Treppe. Sswidrigailoff
-stellte das Licht auf den Tisch, setzte sich auf das Bett und versank in
-Gedanken. Aber ein eigentümliches und ununterbrochenes Flüstern im
-Nebenzimmer, das zuweilen fast in ein Schreien überging, lenkte seine
-Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Flüstern hatte seit dem Augenblicke, als
-er im Zimmer eingetreten war, nicht aufgehört. Er begann zu lauschen, --
-jemand schimpfte und machte einem anderen fast weinend Vorwürfe, man
-hörte nur eine Stimme; Sswidrigailoff stand auf, verdeckte mit der einen
-Hand das Licht und an der Wand zeigte sich sofort eine Ritze; er trat
-drauf zu und begann hindurchzusehen. In dem Zimmer, das ein wenig größer
-war, als das seine, befanden sich zwei Menschen. Einer von ihnen ohne
-Rock, mit einem lockigen Kopfe und rotem erregten Gesichte, stand in
-Rednerpose; er hatte die Beine auseinandergespreizt, um das
-Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich vor die Brust und warf dem
-anderen pathetisch vor, daß er ein Bettler sei und daß er nicht mal
-einen Rang habe, daß er ihn aus dem Schmutz herausgezogen habe, und daß
-er ihn, wenn er wolle, fortjagen könne und dies alles sehe der Finger
-Gottes allein. Der angeschnauzte Genosse saß auf einem Stuhl und hatte
-das Aussehen eines Menschen, der sehr gern niesen möchte, aber es
-absolut nicht fertig brachte. Er sah zuweilen mit einem trüben
-Schafsblicke den Redenden an, aber augenscheinlich hatte er keinen
-Begriff davon, worüber jener sprach und höchstwahrscheinlich hörte er es
-nicht einmal. Auf dem Tische brannte der Rest eines Lichtes, und eine
-fast leere Karaffe Branntwein mit Gläsern, Brot, Gurken und ein
-Teegeschirr standen darauf. Nachdem Sswidrigailoff dieses Bild
-aufmerksam betrachtet hatte, verließ er teilnahmslos die Ritze in der
-Wand und setzte sich wieder auf das Bett hin.
-
-Der Kerl, der mit Kalbfleisch und Tee gekommen war, konnte sich nicht
-enthalten, noch einmal zu fragen, ob nichts weiter gewünscht würde, und
-nachdem er wieder eine verneinende Antwort erhalten hatte, ging er
-endgültig aus dem Zimmer. Sswidrigailoff stürzte sich über den Tee, um
-sich zu erwärmen, und leerte ein Glas, essen konnte er nichts, da er den
-Appetit völlig verloren hatte. Er begann sichtlich zu fiebern. Er nahm
-seinen Mantel und Jacke ab, hüllte sich in die Decke ein und legte sich
-auf das Bett. Er ärgerte sich, -- »es wäre diesmal doch besser, gesund
-zu sein,« dachte er und lächelte bitter. Es war im Zimmer dumpf, das
-Licht brannte trübe, draußen heulte der Wind, irgendwo in einer Ecke
-nagte eine Maus, im ganzen Zimmer überhaupt roch es nach Mäusen und nach
-Leder. Er lag und träumte, -- ein Gedanke löste den anderen ab. Es
-schien, als wolle er seiner Phantasie eine bestimmte Richtung geben.
-»Hinter dem Fenster muß ein Garten sein,« -- dachte er, -- »Bäume
-rauschen; was ich in der Nacht nicht liebe, im Sturme und in der
-Dunkelheit bringt das Rauschen der Bäume ein unangenehmes Gefühl
-hervor!« Und er erinnerte sich, wie er vorhin im Vorbeigehen mit
-Widerwillen an den Petrowski-Park gedacht hatte. Dann tauchte in seiner
-Erinnerung auch die K.sche Brücke und die Kleine Newa auf, und wieder
-überrieselte es ihn kalt, wie vorhin, als er über das Wasser geneigt
-stand.
-
-»Ich habe niemals im Leben das Wasser, nicht mal auf Bildern, geliebt,«
-dachte er und lächelte über einen sonderbaren Gedanken. »Jetzt müßte mir
-doch diese ganze Ästhetik und der Komfort gleichgültig sein, aber nein,
-jetzt gerade werde ich wählerisch, wie ein Tier, das sich seine Stelle
-... in ähnlichem Falle aussucht. Ich sollte vorhin in den Petrowski-Park
-einbiegen! Ist mir aber zu dunkel, zu kalt erschienen, he! he! Als
-suchte ich angenehme Gefühle dabei! ... Ja, warum lösche ich das Licht
-nicht aus?« Und er löschte das Licht. »Meine Nachbarn haben sich auch
-schlafen gelegt,« dachte er, als er keinen Schein mehr durch die Ritze
-sah. -- »Nun, Marfa Petrowna, jetzt wäre es Zeit für Sie, zu erscheinen,
--- es ist dunkel, der Ort sehr passend und ein origineller Augenblick.
-Jetzt werden Sie sicher nicht kommen ...«
-
-Es kam ihm auch in den Sinn, daß er vorhin, eine Stunde bevor Dunja in
-seiner Wohnung war, Raskolnikoff empfohlen hatte, sie der Obhut
-Rasumichins anzuvertrauen. »Ich habe es damals wirklich mehr gesagt, um
-mich selbst zu reizen, was Raskolnikoff auch erraten hat. Dieser
-Raskolnikoff ist ein feiner Kopf. Er hat vieles durchgemacht und kann
-mit der Zeit etwas Großes werden, wenn der Unsinn in ihm vergangen sein
-wird, jetzt aber hat er noch ein _zu großes_ Verlangen zu leben. In
-diesem Punkte sind alle diese Leute -- Feiglinge. Nun, mag ihn der
-Teufel holen, mag er tun, was er will, was geht es mich an.«
-
-Er konnte immer noch nicht einschlafen. Allmählich begann vor ihm das
-Bild von Dunetschka aufzutauchen, wie sie vorhin aussah, und ein Zittern
-fuhr durch seinen Körper. -- »Nein, das muß man jetzt schon lassen,«
-dachte er zu sich kommend, »ich muß an etwas anderes denken. Es ist
-sonderbar und lächerlich, -- ich habe niemals jemand stark gehaßt, habe
-auch niemals besonders gewünscht, an jemand Rache zu nehmen, das ist
-doch ein schlimmes Zeichen, ein schlimmes Zeichen! Habe auch nicht
-geliebt, mich herumzustreiten und war nie heftig gewesen, -- ist auch
-ein schlechtes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin versprochen, --
-pfui, Teufel! Sie hätte aus mir doch etwas machen können! ...«
-
-Er verstummte wieder und preßte die Zähne aufeinander, -- wieder
-erschien ihm Dunetschkas Bild, wie sie nach dem ersten Schuß erschrocken
-war, den Revolver sinken ließ und leichenblaß ihn ansah, so daß er sie
-zweimal hätte greifen können, ohne daß sie die Hand zur Gegenwehr hätte
-erheben können, wenn er selbst sie nicht daran erinnert hätte. Er
-erinnerte sich, wie sie ihm in diesem Augenblicke so leid tat, und wie
-sich sein Herz zusammengeschnürt hatte ... »Ah! Zum Teufel! Wieder diese
-Gedanken, man muß sie alle fallen lassen, ja, fallen lassen!«
-
-Er verfiel wieder in Schlaf, -- das fieberhafte Zittern ließ nach; da
-schien etwas unter der Decke über seine Hand und seinen Fuß zu laufen.
-Er zuckte zusammen, -- »pfui, Teufel, das ist ja eine Maus!« dachte er,
-»ich habe das Fleisch auf dem Tische stehen gelassen ...« Er wollte
-nicht die Decke abwerfen, aufstehen und frieren, da stach ihn schon
-wieder etwas am Fuße; er riß die Decke von sich und zündete das Licht
-an. Zitternd vor fieberhafter Kälte, bückte er sich, um im Bette
-nachzusuchen, -- es war nichts da; er schüttelte die Decke und plötzlich
-sprang eine Maus auf das Bettlaken. Er wollte sie fangen; die Maus aber
-sprang vom Bette nicht herunter, sondern lief im Zickzack nach allen
-Seiten hin, glitt ihm durch die Finger, lief über seine Hand und
-verschwand plötzlich unter dem Kissen; er warf das Kissen herunter und
-fühlte sogleich, wie sie ihm unter das Hemd sprang und auf seinem Rücken
-herumkrabbelte. Er erbebte nervös und erwachte. Im Zimmer war es dunkel,
-er lag wie vorhin in der Decke eingewickelt auf dem Bette, hinter dem
-Fenster heulte der Wind. »Wie schaurig!« dachte er ärgerlich. Er stand
-auf und setzte sich mit dem Rücken gegen das Fenster auf das Bett.
-»Lieber schlafe ich gar nicht,« beschloß er. Vom Fenster kam Kälte und
-Feuchtigkeit herein; ohne aufzustehen zog er die Decke über sich und
-hüllte sich ein. Das Licht steckte er nicht an. Er dachte an nichts und
-wollte auch an nichts denken; doch ein Phantasiegebilde nach dem andern
-stand vor ihm auf, abgerissene Gedanken ohne Anfang und Ende und ohne
-Zusammenhang schwebten ihm vor. Er verfiel in einen Halbschlummer. War
-es die Kälte oder die Dunkelheit, war es die Feuchtigkeit oder der Wind,
-der hinter dem Fenster heulte und die Bäume rüttelte, -- die in ihm eine
-hartnäckige phantastische Neigung und den Wunsch nach Blumen
-hervorriefen, -- mit Blumen beschäftigte sich seine Phantasie
-ausschließlich. Ihm schwebte ein reizendes Bild vor, -- ein lichter,
-warmer, beinahe heißer Tag, ein Festtag, ein Pfingsttag; ein reiches
-prachtvolles Landhaus, im englischen Geschmack, bewachsen mit duftenden
-Blumen, und umgeben von Blumenbeeten, die um das Haus sich herumzogen,
-eine Treppe, umrankt von Schlingpflanzen und umringt von Rosenbüschen;
-eine lichte kühle Treppe, bedeckt mit einem prächtigen Teppich und
-ringsum geziert mit seltenen Blumen in chinesischen Vasen. Er hatte auf
-den Fenstern Sträuße von weißen und zarten Narzissen in Glasvasen,
-gefüllt mit Wasser, bemerkt, die auf ihren hellgrünen, dicken und langen
-Stengeln starken aromatischen Duft verbreiteten. Er wollte sich gar
-nicht mehr von ihnen trennen, endlich stieg er aber doch die Treppe
-hinauf und trat in einen großen hohen Saal, und wieder standen hier
-überall auf den Fenstern, an der geöffneten Türe nach der Terrasse, auf
-der Terrasse selbst, Blumen über Blumen. Die Diele war mit frisch
-gemähtem, duftendem Heu bestreut, die Fenster waren geöffnet, eine
-frische leichte kühle Luft drang in das Zimmer, Vögel zwitscherten unter
-den Fenstern, und mitten im Saale auf einem mit weißem Atlas bezogenen
-Tische stand ein Sarg. Dieser Sarg war mit weißem Taft ausgeschlagen und
-mit weißen dichten Rüschen benäht. Girlanden aus Blumen umrankten ihn
-auf allen Seiten. Ganz in Blumen gebettet lag ein kleines Mädchen in
-weißem Tüllkleide; ihre wie aus Marmor gemeißelten Hände waren gefaltet
-und an die Brust gepreßt. Ihr aufgelöstes Haar, ein helles Blondhaar,
-war naß; ein Kranz aus Rosen umgab ihren Kopf. Das strenge und schon
-erstarrte Profil ihres Gesichts war auch wie aus Marmor gemeißelt, in
-dem Lächeln auf ihren blassen Lippen lag ein nicht kindliches
-grenzenloses Weh, eine stille, herzzerreißende Klage. Sswidrigailoff
-kannte dieses Mädchen; weder ein Gottesbild noch brennende Kerzen
-standen an diesem Sarge und man vernahm keine Gebete. Das kleine Mädchen
-war eine Selbstmörderin, -- sie hatte sich ertränkt. Sie war erst
-vierzehn Jahre alt und hatte schon ein gebrochenes Herz, sie war
-zugrunde gerichtet durch eine schändliche Tat, die dieses junge
-kindliche Bewußtsein mit Entsetzen erfüllt und überfallen, die ihre
-engelreine Seele mit unverdienter Schmach bedeckt hatte, und die ihr
-einen letzten Schrei der Verzweiflung entriß, der nicht erhört, sondern
-mit kaltem Herzen und harter Hand in einer dunklen Nacht, in tiefer
-Finsternis, in Kälte, in feuchtem Tauwetter unterdrückt wurde, als der
-Wind heulte.
-
-Sswidrigailoff kam zu sich, stand auf und trat an das Fenster. Er fand
-tastend den Riegel und öffnete es. Der Wind stürmte mit aller Kraft in
-sein enges Zimmer hinein und bedeckte mit einem Frosthauch sein Gesicht
-und die nur mit dem Hemde bedeckte Brust. Hinter dem Fenster war
-wirklich ein Garten und zwar ein Vergnügungsetablissement; am Tage
-traten wohl hier Sänger auf und es wurde an Tischen Tee serviert. Jetzt
-flogen Regentropfen von den Bäumen und Sträuchern zum Fenster herein,
-und es war eine Dunkelheit wie in einem Keller, so daß man kaum einige
-dunkle Flecken, die Gegenstände vorstellten, unterscheiden konnte.
-Sswidrigailoff hatte die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt und
-sich hinausgebeugt, und blickte nun schon fünf Minuten, ohne sich
-losreißen zu können, in diese Finsternis. Da ertönte in die Nacht hinein
-ein Kanonenschuß, ihm folgte ein zweiter. »Ah, das Signal! Das Wasser
-steigt!« dachte er. -- »Gegen Morgen wird das Wasser die Straßen
-überfluten und die Kellerwohnungen und die Gewölbe überschwemmen, die
-Kellerratten werden aus ihren Schlupfwinkeln hervorschwimmen und die
-Menschen werden in Wind und Regen, durchnäßt und schimpfend, ihren Kram
-in die oberen Stockwerke schleppen ... Um welche Zeit ist es nun?« --
-Und kaum hatte er so gedacht, als aus der Nähe, tickend und wie sich
-mächtig beeilend, eine Wanduhr drei Uhr schlug. -- »Aha, nach einer
-Stunde wird es schon hell werden! Warum soll ich länger warten? Ich will
-lieber sofort hier fort und direkt in den Petrowski-Park gehen; dort
-will ich mir ein großes Gebüsch aussuchen, mit Regentropfen so benetzt,
-daß, wenn man nur mit einer Schulter drankommt, Millionen von Tropfen
-den ganzen Kopf mir überströmen werden ...« Er trat vom Fenster zurück,
-schloß es, zündete das Licht an, zog seine Weste und den Mantel an,
-setzte den Hut auf und ging mit dem Lichte auf den Korridor hinaus, um
-in einer Kammer zwischen allerhand Kram und Lichtstumpfen den
-schlafenden Kerl aufzusuchen, ihm das Zimmer zu bezahlen und dann das
-Gasthaus zu verlassen. -- »Es ist der beste Augenblick, man könnte ihn
-nicht besser wählen!«
-
-Er ging lange in dem schmalen und langen Korridor herum, ohne jemand zu
-finden und wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen
-Ecke, zwischen einem alten Schrank und einer Türe, einen sonderbaren
-Gegenstand, anscheinend etwas Lebendes, erblickte. Er beugte sich mit
-dem Lichte darüber und sah ein Kind, -- ein kleines Kind, -- ein kleines
-Mädchen, nicht älter als fünf Jahre, in einem völlig durchnäßten
-Kleidchen, zitternd und weinend, daliegen. Sie schien vor Sswidrigailoff
-keine Furcht zu haben, blickte ihn mit ihren großen schwarzen Äuglein
-voll stillen Staunens an und schluchzte ab und zu, wie Kinder, die lange
-geweint, doch aufhören und sich getröstet haben. Das kleine Gesicht des
-Mädchens war bleich und abgemagert; sie war vor Kälte fast erstarrt,
-aber -- »wie war sie hierher gekommen? Sie mußte sich hier versteckt und
-die ganze Nacht nicht geschlafen haben?« Er begann sie auszufragen. Das
-Kind wurde plötzlich lebhaft und stammelte etwas sehr schnell in seiner
-kindlichen Sprache. Es kam darin etwas von »Mamachen« und das »Mama
-Ruten geben wird,« von einer Tasse, die sie zerschlagen habe, vor. Das
-Mädchen sprach ununterbrochen; einiges konnte man aus ihrer ganzen
-Erzählung herausfinden, -- daß sie nicht geliebt werde, daß ihre Mutter,
-eine ewig betrunkene Köchin, wahrscheinlich im Gartenhause selbst, sie
-zumeist prügele und ihr Schrecken eingejagt habe; daß das Mädchen der
-Mutter eine Tasse zerschlagen habe und so erschrocken wäre, daß sie seit
-gestern Abend weggelaufen sei; wahrscheinlich hatte sie sich lange auf
-dem Hofe im Regen versteckt, endlich sich ins Haus hineingeschlichen,
-sich hinter dem Schrank verkrochen und hatte hier in der Ecke, weinend
-und in Nässe, Dunkelheit und Angst davor zitternd, daß man sie tüchtig
-verprügeln würde, die ganze Nacht gesessen. Sswidrigailoff nahm sie auf
-die Arme, ging in sein Zimmer, setzte sie auf das Bett hin und begann
-sie auszukleiden. Ihre zerlöcherten Stiefel auf die nackten Füße
-angezogen, waren so feucht, als hätten sie die ganze Nacht in einer
-Pfütze gelegen. Nachdem er sie entkleidet hatte, legte er sie ins Bett,
-bedeckte und hüllte sie ganz bis zum Kopfe in die Decke. Sie schlief
-sofort ein. Nachdem er damit fertig war, versank er wieder in sein
-düsteres Nachdenken.
-
-»Was fällt mir auch ein, mich damit abzugeben!« dachte er plötzlich mit
-einem schweren und bitteren Gefühl. -- »Was für ein Unsinn!« Voll Ärger
-nahm er das Licht, um hinauszugehen und um jeden Preis den Kerl zu
-finden und schneller von hier wegzukommen. -- »Ach, so ein Mädel!«
-dachte er fluchend und öffnete schon die Türe, als er sich umkehrte, um
-noch einmal zu sehen, ob das Mädchen schlafe und wie sie schlafe? Er hob
-vorsichtig die Decke auf. Das Mädchen lag im festen und seligen Schlafe.
-Sie war unter der Decke warm geworden, und das Blut war wieder in ihre
-blassen Wangen gestiegen. Aber sonderbar, -- diese Röte war greller und
-auffallender, als sonst bei Kindern. »Das ist eine fieberhafte Röte,«
-dachte Sswidrigailoff, »das ist die Röte nach Weingenuß, es ist, als
-hätte man ihr ein ganzes Glas zu trinken gegeben. Ihre roten Lippen
-brennen, scheinen zu flammen, aber was ist das?« Ihm schien es
-plötzlich, als ob ihre langen schwarzen Wimpern zuckten und blinzelten,
-als ob sie sich erhöben, als ob unter ihnen ein schelmisches, scharfes,
-nicht in kindlicher Weise zwinkerndes Auge hervorblickte, als ob das
-Mädchen nicht schliefe, sich nur so anstelle. Ja, es war auch so, --
-ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, die Mundwinkel zucken, es
-ist, als ob sie das Lächeln noch zurückhalten wollte. Nun aber hört sie
-auf, sich zurückzuhalten, sie lacht schon, sie lacht deutlich; etwas
-Freches und Herausforderndes leuchtet in diesem gar nicht kindlichen
-Gesichte; das ist das Laster; das ist das Gesicht einer Kokotte, das
-freche Gesicht einer verkäuflichen französischen Kokotte. Jetzt öffnen
-sich, ohne jede Verstellung, die beiden Augen, -- sie ruhen auf ihm mit
-einem feurigen und schamlosen Blick, sie locken ihn, sie lachen ...
-Etwas unendlich Widerliches und Beleidigendes lag in diesem Lachen, in
-diesen Augen, in diesem ganzen schamlosen Gesichte des Kindes. »Wie!
-Eine fünfjährige!« flüsterte Sswidrigailoff mit wahrem Entsetzen. --
-»Was ... was ist denn das?« -- Nun wendet sie sich ihm mit dem
-brennenden Gesichtchen ganz zu, streckt die Arme aus ... »Ah,
-Verfluchte!« rief Sswidrigailoff voll Entsetzen und holte seine Hand zum
-Schlage aus ... Aber im selben Augenblick erwachte er.
-
-Er lag im Bette, eingehüllt in die Decke; das Licht war nicht angezündet
-und durch das Fenster leuchtete der volle Tag hinein.
-
-»Ein Albdrücken die ganze Nacht!« Er erhob sich zornig und fühlte, daß
-er ganz zerschlagen war; seine Knochen schmerzten ihn. Draußen war ein
-dichter Nebel und man konnte nichts unterscheiden. Die Uhr ging auf
-fünf; er hatte sich verschlafen! Er stand auf und zog seine Jacke und
-den Mantel an, die beide noch feucht waren. Er fühlte in der Tasche nach
-dem Revolver, zog ihn heraus und setzte die Kapsel zurecht; dann setzte
-er sich hin, nahm aus der Tasche ein Notizbuch hervor und schrieb auf
-der ersten Seite mit großer Schrift ein paar Zeilen. Er las sie nochmals
-durch, stützte sich auf den Tisch und sann nach. Der Revolver und das
-Notizbuch lagen neben seinem Ellbogen. Die erwachten Fliegen krochen auf
-den Kalbfleischstücken herum, die er nicht angerührt hatte und die auf
-dem Tische standen. Er schaute den Fliegen lange zu und versuchte mit
-der freien rechten Hand eine zu fangen. Er bemühte sich lange, konnte
-sie aber nicht kriegen. Als er sich zuletzt bei dieser interessanten
-Beschäftigung ertappte, kam er zu sich, fuhr zusammen, stand auf und
-ging entschlossen aus dem Zimmer. Nach einer Minute war er schon auf der
-Straße.
-
-Ein weißer dichter Nebel lag über der Stadt. Sswidrigailoff ging die
-klebrige schmutzige Straße in der Richtung der Kleinen Newa zu. Ihm
-schwebten das über Nacht stark gestiegene Wasser der Kleinen Newa, der
-Petrowski-Park, nasse Wege, feuchtes Gras, feuchte Bäume und Sträucher,
-und schließlich _jenes_ Gebüsch vor ... Voll Ärger begann er die Häuser
-zu betrachten, um an etwas anderes zu denken. Weder einen Menschen, noch
-eine Droschke traf er auf dem Wege. Trostlos und schmutzig sahen ihn die
-grellgelben hölzernen Häuschen mit den geschlossenen Fensterläden an.
-Kälte und Feuchtigkeit durchzogen seinen ganzen Körper und ihn begann zu
-frösteln. Zuweilen fiel sein Blick auf die Schilder der Kaufläden und
-Gemüsekeller, er las jedes aufmerksam. Der hölzerne Fußsteg war schon zu
-Ende. Er ging an einem großen steinernen Hause vorbei. Ein schmutziger
-durchfrorener Hund mit eingezogenem Schwanze lief ihm über den Weg. Ein
-total betrunkener Mann in einem Uniformmantel lag mit dem Gesichte nach
-unten quer über den Fußweg. Er betrachtete ihn und ging weiter. Ein
-hoher Feuerwehrturm zeigte sich linker Hand. -- »Bah!« dachte er, »das
-ist die beste Stelle, wozu der Petrowski-Park? Es geschieht wenigstens
-in Gegenwart eines offiziellen Zeugen ...« Er lächelte bei diesem neuen
-Gedanken und bog in die N.sche Straße ein. Hier stand ein großes Haus
-mit dem Turm. An dem mächtigen verschlossenen Tore des Hauses stand mit
-der Schulter daran gelehnt ein kleines Menschenkind in einen grauen
-Soldatenmantel eingehüllt und mit einem glänzenden Helm. Es schielte mit
-schlaftrunkenem Blick den herantretenden Sswidrigailoff an. Auf seinem
-Gesichte sah man den ewigen verdrießlichen Kummer, der sich ausnahmslos
-auf allen Gesichtern des jüdischen Volkes eingeprägt hat. Beide,
-Sswidrigailoff und der Soldat, betrachteten einander schweigend eine
-Weile. Dem Soldaten erschien es schließlich nicht in der Ordnung zu
-sein, daß ein Mann nicht betrunken drei Schritte vor ihm stehen blieb,
-ihn unverwandt anblickte und nichts sagte.
-
-»Was wollen Sie denn hier?« sagte er, ohne sich zu rühren und seine
-Stellung zu verändern.
-
-»Ja, nichts, Bruder, guten Tag!« antwortete Sswidrigailoff.
-
-»Hier ist kein Platz, stehen zu bleiben.«
-
-»Ich reise, Bruder, ins Ausland.«
-
-»Ins Ausland?«
-
-»Nach Amerika.«
-
-»Nach Amerika?«
-
-Sswidrigailoff zog den Revolver heraus und spannte den Hahn. Der Soldat
-zog die Augenbrauen nach oben.
-
-»Was, solche Scherze sind hier nicht am Platze!«
-
-»Warum denn nicht?«
-
-»Weil das kein Ort dazu ist.«
-
-»Nun, Bruder, das ist einerlei. Der Ort ist gut; wenn man dich fragen
-wird, antworte bloß, daß ich nach Amerika gereist bin.«
-
-Er legte den Revolver an seine rechte Schläfe an.
-
-»Man darf das nicht, hier ist nicht der Ort!« sagte der Soldat, und
-seine Augen erweiterten sich immer mehr.
-
-Sswidrigailoff drückte den Hahn ab.
-
-
- VII.
-
-Am selben Tage um sieben Uhr näherte sich Raskolnikoff der Wohnung
-seiner Mutter und Schwester, -- jener Wohnung im Hause von Bakalejeff,
-wo sie Rasumichin untergebracht hatte. Der Treppeneingang war von der
-Straße aus. Je näher Raskolnikoff kam, desto mehr verlangsamte er seine
-Schritte, wie unschlüssig, ob er hineingehen solle oder nicht. Er wäre
-jedoch um keinen Preis umgekehrt; sein Entschluß war gefaßt. --
-»Außerdem ist es einerlei, sie wissen ja noch nichts,« dachte er, »und
-haben sich schon gewöhnt, mich als einen närrischen Kauz anzusehen ...«
-Seine Kleidung war schrecklich, -- ganz beschmutzt, zerrissen und
-zerknittert, weil er die ganze Nacht im Regen verbracht hatte. Sein
-Gesicht war vor Müdigkeit, durch das schlechte Wetter, aus physischer
-Ermattung und infolge eines beinahe vierundzwanzigstündigen Kampfes mit
-sich selbst ganz entstellt. Wo er diese ganze Nacht verbracht hatte,
-wußte Gott allein; aber sie hatte wenigstens seinen Entschluß
-herbeigeführt.
-
-Er klopfte an die Türe; die Mutter öffnete ihm. Dunetschka war nicht zu
-Hause. Auch das Dienstmädchen war um diese Zeit nicht da. Pulcheria
-Alexandrowna war zuerst ganz stumm vor freudigem Erstaunen, dann ergriff
-sie seine Hand und zog ihn ins Zimmer.
-
-»Nun, da bist du!« begann sie, und stockte vor Freude. -- »Sei nicht
-böse auf mich, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße, -- mit Tränen; ich
-lache ja und weine nicht. Du denkst, ich weine? Nein, ich freue mich,
-habe aber bloß so eine dumme Angewohnheit, daß mir dann die Tränen
-fließen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters, ich weine bei jeder
-Gelegenheit. Setz dich doch, mein Lieber, du bist wahrscheinlich müde,
-ich sehe es. Ach, wie du beschmutzt bist.«
-
-»Ich war gestern im Regen fort, Mama ...« begann Raskolnikoff.
-
-»Aber nein, nein!« unterbrach ihn Pulcheria Alexandrowna eifrig, »du
-meinst, ich will dich sofort ausfragen, nach meiner früheren
-weiberhaften Gepflogenheit, sei darüber beruhigt. Ich begreife doch, ich
-begreife alles, habe mich jetzt an die hiesigen Gebräuche gewöhnt, und
-sehe wirklich selbst ein, daß man hier gescheiter ist. Ich habe mir ein
-für allemal gesagt, wie kann ich deine Entschlüsse verstehen und von dir
-Rechenschaft verlangen? Du hast vielleicht Gott weiß was für Dinge und
-Pläne im Kopfe und dir kommen allerhand Gedanken; soll ich dich da immer
-anstoßen und fragen, worüber denkst du nach? Ich habe ... Ach, mein
-Gott, Ja, was laufe ich denn herum wie eine Besessene ... Just lese ich
-deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum dritten Male, Rodja; mir hat
-ihn Dmitri Prokofjitsch gebracht. Ich war sehr überrascht, als ich ihn
-las; so dumm bin ich, dachte ich, damit gibt er sich also ab, das ist
-die Lösung der Dinge. Er hat vielleicht neue Gedanken im Kopfe, er
-überlegt sie sich, ich aber quäle ihn und störe ihn. Ich lese den
-Artikel, mein Freund, und verstehe selbstverständlich nicht viel; es muß
-auch übrigens so sein, -- wie kann ich es auch verstehen.«
-
-»Zeigen Sie ihn mir, Mama.«
-
-Raskolnikoff nahm den Artikel in die Hand und blickte ihn flüchtig an.
-Wie sehr es auch seiner Lage und seinem Zustande widersprach, empfand er
-doch jenes eigentümliche und prickelnde süße Gefühl, das ein Verfasser,
-der sich zum ersten Male gedruckt sieht, empfindet, dazu sprachen auch
-seine dreiundzwanzig Jahre mit. Es dauerte einen Augenblick. Nachdem er
-einige Zeilen gelesen hatte, verdüsterte sich sein Gesicht und ein
-furchtbarer Gram preßte sein Herz zusammen. Sein ganzer seelischer Kampf
-in den letzten Monaten kam ihm mit einem Male ins Gedächtnis. Er warf
-mit Widerwillen und voll Ärger die Zeitung auf den Tisch.
-
-»Aber Rodja, wie dumm ich auch sein mag, ich kann doch verstehen, daß du
-sehr bald einer von den Ersten, wenn nicht der Erste unter unseren
-Gelehrten, sein wirst. Und man wagte zu denken, daß du den Verstand
-verloren hättest. Ha! ha! ha! Du weißt es nicht, aber man meinte es
-wirklich! Ach, dieses niedrige Gewürm, woher sollen sie auch begreifen,
-was Verstand haben heißt! Und Dunetschka glaubte auch fast daran -- was
-sagst du dazu! Dein verstorbener Vater hat ein paarmal etliches in
-Zeitschriften eingeschickt, -- zuerst Gedichte (ich habe noch das Heft
-der Gedichte, ich will es dir einmal zeigen) -- und nachher eine ganze
-Novelle, -- (ich hatte ihn gebeten, sie ins Reine schreiben zu dürfen)
--- und trotzdem wir beide beteten, daß es angenommen würde, -- nahmen
-sie es doch nicht an! Rodja, vor sechs oder sieben Tagen, als ich deine
-Kleidung sah, wie du wohnst, was du ißt und wie du herumgehst, war ich
-ganz niedergeschlagen. Jetzt sehe ich, daß ich wieder einmal dumm war,
-denn wenn du Lust hast, kannst du dir alles auf einmal durch deinen
-Verstand und dein Talent verschaffen. Du willst es bloß vorläufig nicht
-und bist mit bedeutend wichtigeren Dingen beschäftigt ...«
-
-»Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?«
-
-»Nein, Rodja. Sie ist jetzt sehr oft nicht zu Hause, läßt mich viel
-allein. Dmitri Prokofjitsch kommt öfters zu mir, um zu plaudern und
-spricht immer von dir, ich bin ihm sehr dankbar dafür. Er liebt dich
-sehr und schätzt dich, mein Freund. Ich kann von deiner Schwester nicht
-gerade sagen, daß sie zu mir unehrerbietig wäre. Ich klage nicht. Sie
-hat ihren Charakter, wie ich den meinen; sie hat allerhand Geheimnisse
-vor mir; und ich habe vor euch keine Geheimnisse. Gewiß, ich bin fest
-überzeugt, daß Dunja klug ist und außerdem auch mich und dich liebt ...
-aber ich weiß wirklich nicht, wohin dies alles führen wird. Du hast mich
-glücklich gemacht, Rodja, weil du mich jetzt besucht hast, sie aber hat
-das versäumt; wenn sie zurückkommt, will ich auch ihr sagen, -- dein
-Bruder war hier, wo hast aber du die Zeit verbracht? Du sollst mich,
-Rodja, nicht verwöhnen; wenn du kannst, komm zu mir, wenn nicht, -- dann
-läßt sich eben nichts tun als warten. Ich werde trotzdem wissen, daß du
-mich liebst, und das genügt mir. Ich werde deine Schriften lesen, werde
-von allen über dich hören, und dann wirst du schon wieder einmal zu mir
-kommen und was kann ich mir besseres wünschen? Du bist doch jetzt auch
-gekommen, um die Mutter zu erfreuen, ich sehe es ...«
-
-Hier weinte plötzlich Pulcheria Alexandrowna.
-
-»Schon wieder weine ich! Achte nicht auf mich dumme Person! Ach, mein
-Gott, was sitze ich hier,« rief sie aus und fuhr von ihrem Platze auf,
-»ich habe doch Kaffee und biete dir nichts an! Siehst du, wie groß der
-Egoismus einer alten Frau ist. Sofort, sofort!«
-
-»Mama, lassen Sie es, ich will gleich wieder fortgehen. Ich bin nicht
-deswegen gekommen. Bitte, hören Sie mich an.«
-
-Pulcheria Alexandrowna trat schüchtern zu ihm.
-
-»Mama, was auch geschehen sollte, was Sie auch über mich hören sollten,
-was man Ihnen auch über mich sagen sollte, -- werden Sie mich dennoch
-ebenso lieben, wie jetzt?« fragte er sie aus vollem Herzen, als bedenke
-er seine Worte nicht und erwäge sie nicht.
-
-»Rodja, Rodja, was ist mit dir? Ja, wie kannst du nur so etwas fragen?
-Ja, wer wird mir denn etwas über dich sagen? Ich werde auch niemand
-glauben, mag kommen, wer da will, ich werde ihn hinausjagen.«
-
-»Ich bin gekommen, Ihnen zu sagen, daß ich Sie geliebt habe, und ich bin
-jetzt froh, daß wir allein sind, bin sogar froh, daß Dunetschka nicht zu
-Hause ist,« fuhr er in derselben Aufwallung fort, -- »ich bin gekommen,
-Ihnen offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich sein werden, Sie
-doch wissen sollen, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr liebt, als sich selbst,
-und daß alles, was Sie über mich gedacht haben, daß ich grausam sei und
-Sie nicht mehr liebe, alles nicht richtig ist. Ich werde nie aufhören,
-Sie zu lieben ... Nun, und genug; mir schien es, daß ich das sagen und
-damit beginnen müßte ...«
-
-Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn schweigend, preßte ihn an ihre Brust
-und weinte still.
-
-»Was mit dir ist, Rodja, weiß ich nicht,« sagte sie schließlich, »ich
-dachte die ganze Zeit, wir langweilen dich, jetzt aber sehe ich in
-meiner Weise, daß dir ein großer Kummer bevorsteht, worüber du dich
-grämst. Ich habe es schon lange gesehen, Rodja. Verzeih mir, daß ich
-darüber spreche; ich denke immer daran und schlafe des Nachts nicht.
-Diese Nacht hat auch deine Schwester die ganze Nacht in unruhigem
-Phantasieren verbracht und immer dich genannt. Ich habe einiges gehört,
-aber nichts verstanden. Den ganzen Morgen ging sie wie ein zu Tode
-Verurteilter herum, erwartete immer etwas, hatte Vorahnungen und nun ist
-es gekommen! Rodja, Rodja, wohin gehst du? Verreisest du etwa und
-wohin?«
-
-»Ich verreise.«
-
-»Ich dachte es mir! Ich kann doch mit dir reisen, wenn es nötig ist.
-Auch Dunja, sie liebt dich, sie liebt dich sehr, auch Ssofja Ssemenowna
-soll meinetwegen mit uns gehen, wenn es nötig ist; ich will sie gern an
-Tochterstatt aufnehmen, siehst du. Dmitri Prokofjitsch wird uns bei der
-Abreise helfen ... aber ... wohin ... reisest du?«
-
-»Leben Sie wohl, Mama.«
-
-»Wie! Heute schon!« rief sie in einem Ton aus, als verliere sie ihn auf
-ewig.
-
-»Ich kann nicht anders, es ist Zeit für mich, ich muß ...«
-
-»Und ich darf nicht mit dir gehen?«
-
-»Nein, knien Sie aber nieder und beten Sie für mich. Ihr Gebet wird
-vielleicht erhört.«
-
-»Laß mich dich bekreuzen, dich segnen! So, so! Oh, Gott, was tun wir!«
-
-Ja, er war froh, er war sehr froh, daß niemand da war, daß er mit der
-Mutter allein war. Es war, als wäre seit dieser ganzen schrecklichen
-Zeit sein Herz mit einem Male weich geworden. Er sank vor ihr hin, küßte
-ihre Füße und beide weinten, einander umarmend. Und sie wunderte sich
-nicht und fragte ihn nichts. Sie hatte schon lange begriffen, daß mit
-ihrem Sohne etwas Furchtbares vorgehe, und daß jetzt der schreckliche
-Augenblick für ihn gekommen war.
-
-»Rodja, mein Lieber, mein Erstgeborener,« sagte sie schluchzend, »du
-bist jetzt ebenso zu mir gekommen, wie du es als kleiner Junge tatest;
-hast mich umarmt und geküßt; als wir noch mit Vater lebten und uns
-kümmerlich durchschlugen, war es schon ein Trost für uns, daß du bei uns
-warst, als ich aber deinen Vater beerdigt hatte, -- wie oft haben wir
-uns da umarmt, genau so wie jetzt, und haben an seinem Grabe geweint.
-Daß ich aber lange schon weine, kommt davon, weil das Mutterherz dein
-Unglück ahnte. Als ich das erste Mal dich damals am Abend sah, --
-erinnerst du dich, -- als wir hier ankamen, habe ich alles an deinem
-Blicke allein erraten und mein Herz zuckte zusammen, heute aber, als ich
-dir öffnete und dich anblickte, dachte ich mir sofort, -- nun ist die
-Schicksalsstunde gekommen. Rodja, Rodja, du reisest doch nicht sofort
-ab?«
-
-»Nein.«
-
-»Du wirst noch einmal herkommen?«
-
-»Ja ... ich werde herkommen.«
-
-»Rodja, sei mir nicht böse, ich darf dich nicht ausfragen. Ich weiß, daß
-ich es nicht darf, aber sag mir bloß, nur zwei kleine Worte sage mir:
-Ist es weit, wohin du reist?«
-
-»Sehr weit.«
-
-»Was, hast du eine Anstellung dort oder ist es für deine Karriere
-wichtig?«
-
-»Was Gott gibt ... beten Sie nur für mich ...«
-
-Raskolnikoff ging zur Türe, aber sie hielt sich an ihm fest und sah ihm
-mit einem verzweifelten Blick in die Augen. Ihr Gesicht war vor
-Entsetzen entstellt.
-
-»Genug, Mama,« sagte Raskolnikoff und bereute tief, daß er auf den
-Gedanken gekommen war, herzukommen.
-
-»Es ist doch nicht für immer? Nicht für ewig? Du wirst doch noch
-herkommen, wirst du morgen kommen?«
-
-»Ich werde kommen, werde kommen, leben Sie wohl!«
-
-Er riß sich endlich los.
-
-Der Abend war frisch, warm und klar; das Wetter war seit dem Morgen
-schön geworden. Raskolnikoff ging eilig nach Hause. Er wollte allem bis
-zu Sonnenuntergang ein Ende machen. Bis dahin sollte ihn niemand sehen.
-Als er zu seiner Wohnung hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja sich vom
-Samowar abwandte, ihn unverwandt beobachtete und mit den Augen
-verfolgte. »Sollte etwa jemand bei mir sein?« dachte er. Voll
-Widerwillen dachte er an Porphyri Petrowitsch. Als er aber sein Zimmer
-erreicht und die Türe geöffnet hatte, erblickte er Dunetschka. Sie saß
-mutterseelenallein in tiefem Nachdenken und schien schon lange auf ihn
-zu warten. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschreckt
-vom Sofa und blieb aufgerichtet vor ihm stehen. Ihr Blick, unverwandt an
-ihm haftend, drückte Entsetzen und einen untilgbaren Kummer aus. Und an
-diesem Blicke merkte er sofort, daß sie alles wußte.
-
-»Soll ich zu dir hineinkommen oder fortgehen?« fragte er mißtrauisch.
-
-»Ich habe den ganzen Tag bei Ssofja Ssemenowna gesessen; wir haben dich
-beide erwartet. Wir dachten, daß du unbedingt dorthin kommen würdest.«
-
-Raskolnikoff trat in das Zimmer und setzte sich ermattet auf einen
-Stuhl.
-
-»Ich bin etwas schwach, Dunja; ich bin zu müde; ich möchte aber
-wenigstens in diesem Augenblicke mich völlig beherrschen.«
-
-Er warf ihr einen schnellen mißtrauischen Blick zu.
-
-»Wo warst du denn die ganze Nacht?«
-
-»Ich erinnere mich dessen nicht gut; siehst du, Schwester, ich wollte zu
-einem endgültigen Entschluß kommen und bin mehrere Male an der Newa hin-
-und hergegangen; dessen erinnere ich mich. Ich wollte dort ein Ende
-machen, aber ... konnte mich nicht entschließen ...« flüsterte er und
-blickte Dunja wieder mißtrauisch an.
-
-»Gott sei Dank! Und wie wir das fürchteten, -- ich und Ssofja
-Ssemenowna! Also, du glaubst noch ans Leben, -- Gott sei Dank, Gott sei
-Dank!«
-
-Raskolnikoff lächelte bitter.
-
-»Ich glaubte nicht daran, soeben aber habe ich die Mutter umarmt und mit
-ihr zusammen geweint; ich glaube nicht daran, aber ich habe sie gebeten,
-für mich zu Gott zu beten. Gott weiß, wie das alles vor sich geht,
-Dunetschka und ich begreife nichts.«
-
-»Du warst bei der Mutter? Du hast ihr es selbst gesagt?« rief Dunja
-entsetzt aus. -- »Hast du es gewagt, ihr zu sagen?«
-
-»Nein, ich habe ihr nichts ... mit Worten gesagt, aber sie hat vieles
-begriffen. Sie hat in der Nacht gehört, wie du phantasiert hast. Ich bin
-überzeugt, daß sie die Hälfte schon versteht. Ich habe vielleicht
-schlecht daran getan, daß ich zu ihr ging. Ich weiß auch nicht mal,
-warum ich zu ihr hingegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.«
-
-»Du ein gemeiner Mensch und bist doch bereit, das Leiden auf dich zu
-nehmen! Du gehst doch um zu leiden?«
-
-»Ich gehe. Sofort. Ja, um dieser Schande zu entgehen, wollte ich mich
-auch ins Wasser stürzen, Dunja, aber ich dachte, als ich schon über dem
-Wasser stand, wenn ich mich bisher für stark gehalten habe, so soll ich
-mich jetzt auch nicht vor der Schande fürchten,« sagte er. »Das ist der
-Stolz, Dunja?«
-
-»Ja, das ist der Stolz, Rodja.«
-
-Wie ein Feuer leuchtete es in seinen trüben Augen auf; ihm schien es
-eine Freude zu sein, daß er noch stolz sein konnte.
-
-»Meinst du aber nicht, Schwester, daß mir einfach vor dem Wasser bange
-war,« fragte er mit einem bitteren Lächeln und blickte ihr ins Gesicht.
-
-»Oh, Rodja, höre damit auf!« rief Dunja bitter aus.
-
-Etwa zwei Minuten dauerte das Schweigen. Er saß mit gesenktem Kopfe und
-sah zu Boden; Dunetschka stand am anderen Ende des Tisches und blickte
-ihn voll innerer Qual an.
-
-Plötzlich stand er auf.
-
-»Es ist spät, es ist Zeit. Ich gehe jetzt, mich anzuzeigen. Aber ich
-weiß nicht, warum ich gehe, mich anzuzeigen.«
-
-Große Tränen rollten über ihre Wangen.
-
-»Du weinst, Schwester, kannst du mir noch die Hand reichen?«
-
-»Und du hast daran zweifeln können?«
-
-Sie umarmte ihn innig.
-
-»Büßest du nicht schon zur Hälfte dein Verbrechen mit deinem Leid?« rief
-sie aus, drückte ihn fest an sich und küßte ihn.
-
-»Verbrechen? Was für ein Verbrechen?« rief er plötzlich in einem Anfalle
-von Wut, »etwa, weil ich eine scheußliche, bösartige Laus, eine alte
-Wucherin ermordet habe, die niemand braucht, für deren Ermordung einem
-vierzig Sünden vergeben werden müssen, die den Armen den letzten
-Blutstropfen aussaugte, -- und das soll ein Verbrechen sein? Ich denke
-gar nicht daran und denke nicht daran, es tilgen zu wollen. Und was
-kommen sie mir alle mit diesem Wort >Verbrechen, Verbrechen!< Jetzt erst
-sehe ich den ganzen Unsinn meiner Kleinmütigkeit klar, jetzt erst, wo
-ich mich schon entschlossen habe, diese unnötige Schande auf mich zu
-nehmen! Bloß aus Gemeinheit und aus Untauglichkeit habe ich mich dazu
-entschlossen, ja vielleicht auch aus Berechnung, wie dieser ... Porphyri
-Petrowitsch mir vorgeschlagen hat! ...«
-
-»Bruder, Bruder, was sagst du! Du hast aber doch Blut vergossen!« rief
-Dunja verzweifelt aus.
-
-»Das alle vergießen,« fiel er fast rasend ein, »das in der Welt wie ein
-Wasserfall fließt und immer geflossen ist, das wie Champagner vergossen
-wird, und für das man im Kapitol gekrönt und nachher Wohltäter der
-Menschheit genannt wird. Schau doch bloß näher zu und sieh es! Ich
-selbst wollte den Menschen Gutes und hätte hunderte, tausende gute Werke
-vollbracht, anstatt dieser einzigen Dummheit, die sogar keine Dummheit,
-sondern bloß eine Ungeschicktheit war, weil der gesamte Gedanke gar
-nicht so dumm war, wie er jetzt nach dem Mißlingen erscheint ... Beim
-Mißlingen erscheint alles dumm! ... Mit dieser Dummheit wollte ich mich
-bloß in eine unabhängige Stellung bringen, den ersten Schritt tun, die
-Mittel erhalten, und nachher würde alles durch einen verhältnismäßig
-unermeßlichen Nutzen ausgeglichen worden sein ... Aber ich, ich habe
-auch nicht mal den ersten Schritt ausgehalten, weil ich -- ein Schuft
-bin! Siehst du, so steht die Sache! Und dennoch kann ich eure Ansicht
-nicht teilen, -- wäre es mir gelungen, so würde man mich gekrönt haben,
-jetzt aber muß ich in die Falle!«
-
-»Aber das ist es doch nicht, ganz und gar nicht! Bruder, was sagst du
-nur!«
-
-»Ah! Nicht die richtige Form, die Form ist nicht ästhetisch genug! Nun,
-ich begreife entschieden nicht, -- warum es eine angesehenere Form sein
-soll auf die Menschen Bomben zu werfen, eine regelrechte Belagerung zu
-führen? Die Furcht vor dem Unästhetischen ist das erste Zeichen von
-Schwäche! ... Niemals, niemals habe ich es klarer als jetzt empfunden,
-und mehr als je begreife ich jetzt mein Verbrechen! Niemals, niemals war
-ich stärker und überzeugter, als jetzt!«
-
-Das Blut war in sein blasses, abgehärmtes Gesicht gestiegen. Als er die
-letzten Worte aussprach, begegnete zufällig sein Blick den Augen Dunjas
-und er sah darin soviel, soviel Qual seinetwegen, daß er unwillkürlich
-zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er trotz alledem diese zwei armen
-Frauen unglücklich gemacht hatte. Er war trotz alledem noch die Ursache
-dazu ...
-
-»Dunja, liebe Dunja! Wenn ich Schuld habe, vergib mir, obwohl man mir
-nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe. Lebwohl! Wir wollen uns nicht
-streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe
-dich an, ich muß noch zu jemandem hingehen ... Gehe sofort zur Mutter
-und setze dich zu ihr hin. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte
-größte Bitte an dich. Verlaß sie in dieser Zeit nicht; ich habe sie in
-Unruhe hinterlassen, die sie kaum überstehen wird, -- entweder stirbt
-sie oder sie verliert den Verstand. Bleib bei ihr! Rasumichin wird euch
-zur Seite stehen; ich habe es ihm gesagt ... Weine nicht um mich, -- ich
-werde versuchen, mutig und ehrlich das ganze Leben zu sein, obwohl ich
-ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde
-euch keine Schande machen, du wirst sehen; ich will noch beweisen ...
-jetzt, vorläufig auf Wiedersehen,« beeilte er sich zu sagen, als er in
-den Augen Dunjas wieder einen sonderbaren Ausdruck bei seinen letzten
-Worten und Versprechungen bemerkte. -- »Warum weinst du denn so? Weine
-nicht, weine nicht; wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach, ja!
-Warte, ich habe etwas vergessen! ...«
-
-Er trat an den Tisch, nahm ein dickes verstaubtes Buch, öffnete es und
-nahm ein kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der
-Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben
-war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das in ein Kloster gehen
-wollte. Eine Weile blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte
-Gesicht an, küßte das Bild und überreichte es Dunetschka.
-
-»Mit ihr habe ich viel _darüber_ gesprochen, mit ihr allein,« sagte er
-sinnend, »ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was nachher
-sich in so häßlicher Weise erfüllt hatte. Sei ruhig,« wandte er sich an
-Dunetschka, »sie war mit mir nicht einverstanden, so wenig wie du, und
-ich bin froh, daß sie nicht mehr lebt. Die Hauptsache, die Hauptsache
-ist, daß alles jetzt neu anhebt, daß alles entzwei brechen wird,« rief
-er plötzlich aus, wieder in seinen Gram zurückfallend, »alles, alles,
-bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es auch selbst? Man sagt, es sei
-nötig zu meiner Prüfung! Wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen?
-Wozu sind sie, werde ich etwa dann erdrückt von Qual und Stumpfheit in
-greisenhafter Schwäche nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit es besser
-empfinden, als ich es jetzt tue, und wozu soll ich dann noch leben?
-Warum gehe ich jetzt darauf ein, so zu leben? Oh, ich wußte, daß ich ein
-Schuft bin, als ich heute bei Tagesanbruch an der Newa stand!«
-
-Beide gingen schließlich hinaus. Es war Dunja schwül, aber sie liebte
-ihn! Sie ging von ihm, aber als sie etwa fünfzig Schritte gegangen war,
-wandte sie sich noch einmal um, um ihm nachzuschauen. Man konnte ihn
-noch sehen. Als er an die Ecke kam, wandte er sich ebenfalls um; zum
-letzten Male trafen sich ihre Blicke; als er aber bemerkte, daß sie ihm
-nachblickte, winkte er ihr ungeduldig und ärgerlich mit der Hand, daß
-sie weitergehen solle, und bog selbst schnell um die Ecke.
-
-»Ich bin böse, ich merke es,« dachte er und schämte sich seiner
-ärgerlichen Handbewegung. -- »Aber warum lieben sie mich so, wenn ich
-ihrer Liebe nicht wert bin! Oh, wäre ich allein und hätte mich niemand
-lieb, und hätte ich selbst niemals jemand geliebt! _Alles dieses wäre
-nicht gewesen!_ Ich gäbe viel darum, wenn ich wüßte, ob nach diesen
-kommenden fünfzehn, zwanzig Jahren meine Seele so gedemütigt sein wird,
-daß ich voll Ehrfurcht vor Menschen ächzen und klagen und mich bei jedem
-Worte Räuber nennen werde? Ja, es wird so kommen, wird kommen! Darum
-schicken sie mich auch jetzt nach Sibirien, sie wollen es haben ... Da
-laufen sie nun alle in den Straßen herum, und jeder unter ihnen ist
-schon seiner Natur nach ein Schuft und Räuber; schlimmer noch -- ein
-Idiot! Sollte man aber mich mit Sibirien verschonen, so würden sie alle
-vor edler Empörung überschäumen! Oh, wie ich sie alle hasse!«
-
-Er sann darüber nach, -- »auf welche Weise es kommen müsse, damit er
-zuletzt, ohne mit sich in Widerspruch zu geraten, demütiger würde! Warum
-denn auch nicht? Sicher wird es so werden. Werden ihn die zwanzig Jahre
-ununterbrochener Unterdrückung nicht endgültig brechen? Steter Tropfen
-höhlt den Stein. Und warum, wozu nach alledem noch leben, wozu gehe ich
-jetzt hin, wenn ich selbst weiß, daß alles genau so kommen wird, und
-nicht anders?«
-
-Er legte sich diese Frage vielleicht schon zum hundertsten Male seit
-gestern Abend vor, aber dennoch ging er hin.
-
-
- VIII.
-
-Als er zu Ssonja eintrat, begann es schon zu dämmern. Ssonja hatte den
-ganzen Tag in schrecklicher Aufregung auf ihn gewartet; schon mit Dunja
-zusammen. Dunja war am frühen Morgen zu ihr gekommen, als sie sich der
-Worte von Sswidrigailoff erinnerte, daß Ssonja »darüber alles weiß«. --
-Wir wollen der Einzelheiten der Unterhaltung zwischen den beiden Frauen,
-ihrer Tränen und dessen, wie weit sie einander näher gekommen waren,
-nicht gedenken. Dunja hatte bei dieser Zusammenkunft wenigstens den
-Trost gefunden, daß ihr Bruder nicht allein sein werde -- zu ihr, zu
-Ssonja, war er zuerst mit seiner Beichte gegangen; in ihr hatte er einen
-Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; sie würde ihm auch
-überall folgen, wohin das Schicksal ihn führen sollte. Sie fragte auch
-nicht, aber sie wußte, daß es so kommen werde. Sie begegnete Ssonja
-sogar mit Ehrfurcht und machte sie zuerst dadurch ganz verwirrt. Ssonja
-war anfangs nahe daran, zu weinen; sie hielt sich für unwürdig, Dunja
-nur anzublicken. Das Bild Dunjas, als sie sich so aufmerksam und
-achtungsvoll bei ihrem ersten Zusammentreffen in Raskolnikoffs Wohnung
-von ihr verabschiedet, hatte sich seitdem für immer in ihrer Seele
-eingegraben, als einer der schönsten und höchsten Augenblicke in ihrem
-Leben.
-
-Dunetschka hatte es schließlich nicht mehr ausgehalten, sie war von
-Ssonja gegangen, um den Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie
-glaubte, daß er dorthin schließlich zuerst gehen würde. Als Ssonja
-allein geblieben war, begann sie sich mit dem Gedanken, daß er wirklich
-ein Leid sich antun würde, zu quälen. Dasselbe fürchtete auch Dunja.
-Aber beide übertrafen sich den ganzen Tag in dem Bestreben, einander zu
-überzeugen, daß es nicht der Fall sein könne, und waren ruhiger, solange
-sie beisammen waren. Jetzt aber, wo sie getrennt waren, dachte die eine
-wie die andere nur noch daran. Ssonja erinnerte sich, daß Sswidrigailoff
-ihr gestern gesagt hatte, Raskolnikoff habe nur zwei Wege, -- entweder
-Sibirien, oder ... Sie kannte zudem seinen Ehrgeiz, seinen Stolz, seine
-Eigenliebe und seinen Unglauben.
-
-»Kann nur der Kleinmut und die Furcht vor dem Tode ihn zwingen, zu
-leben?« dachte sie schließlich in Verzweiflung. Und die Sonne ging schon
-unter. Sie stand traurig vor dem Fenster und blickte unverwandt hinaus,
--- aber man sah hier bloß die ungeweißte Grundmauer des Nachbarhauses.
-Als sie schon von dem Tode des Unglücklichen völlig überzeugt war, --
-trat er in ihr Zimmer.
-
-Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Aber als sie aufmerksam
-sein Gesicht ansah, erbleichte sie sofort.
-
-»Nun, ja!« sagte Raskolnikoff mit bitterem Lächeln, »ich komme, mir dein
-Kreuz zu holen, Ssonja. Du hast mich doch selbst auf den Kreuzweg
-geschickt; was, bist du etwa bange geworden, da es zur Ausführung
-kommt?«
-
-Ssonja blickte ihn fassungslos an. Dieser Ton erschien ihr merkwürdig,
--- ein kaltes Frösteln durchzog ihren Körper, nach einer Minute aber
-erriet sie, daß der Ton, wie auch die Worte nur angenommen waren. Er
-sprach auch mit ihr so sonderbar, indem er zur Seite blickte und
-vermied, ihr ins Gesicht zu sehen.
-
-»Ich habe, -- siehst du, Ssonja, -- eingesehen, daß es in dieser Weise
-auch vielleicht vorteilhafter sein wird. Es gibt hier einen Umstand ...
-Es ist lange zu erzählen und lohnt sich auch nicht. Weißt du, was mich
-bloß ärgert? Mir ist es ärgerlich, daß alle diese dummen tierischen
-Fratzen mich gleich umringen, mich anglotzen, mir ihre dumme Frage
-vorlegen werden, die man beantworten muß, -- und daß man auf mich mit
-Fingern zeigen wird ... Pfui! Weißt du, ich will nicht zu Porphyri
-Petrowitsch gehen; er langweilt mich. Ich gehe lieber zu meinem Freunde
-Pulver, der wird erstaunen, da werde ich einen Effekt in seiner Art
-erringen. Man müßte kaltblütiger sein; ich bin in der letzten Zeit zu
-erbittert geworden. Glaubst du mir, -- ich habe soeben meiner Schwester
-fast mit der Faust gedroht und bloß aus dem Grunde, weil sie sich
-umwandte, um mich zum letzten Male zu sehen. So ein Zustand ist eine
-Schweinerei! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Nun, wo ist das
-Kreuz?«
-
-Er war wie ausgewechselt. Er konnte nicht mal einen Augenblick auf einem
-Flecke ruhig stehen, konnte seine Aufmerksamkeit auf keinen Gegenstand
-konzentrieren, seine Gedanken übersprangen einander, er redete wirr;
-seine Hände zitterten leicht.
-
-Ssonja nahm schweigend aus einem Kasten zwei Kreuze -- eins aus
-Zypressenholz und das andere aus Kupfer; sie bekreuzte sich selbst,
-bekreuzte ihn und legte um seinen Hals das Kreuzlein aus Zypressenholz.
-
-»Das ist also ein Symbol, daß ich das Kreuz auf mich nehme, he! he! Als
-hätte ich bis jetzt wenig gelitten! Aus Zypressenholz, also wie das Volk
-es trägt; das kupferne, das von Lisaweta, nimmst du, zeige mir. Also sie
-hatte es ... in dem Augenblicke um? Ich kenne auch zwei ähnliche Kreuze,
-ein silbernes und ein Heiligenbildchen. Ich warf sie damals der Alten
-auf die Brust. -- Die würden jetzt passen, wirklich, die sollte ich auch
-umlegen ... übrigens, ich lüge die ganze Zeit, vergesse immer die
-Angelegenheit, die mich herführte, ich bin ein wenig zerstreut ...
-Siehst du, Ssonja, -- ich bin eigentlich gekommen, um dir es vorher zu
-sagen, damit du es weißt ... Das ist auch alles ... Ich bin bloß
-deswegen gekommen. Hm! ich dachte übrigens, daß ich dir mehr sagen werde
-... Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun, jetzt werde ich im
-Gefängnis sitzen und dein Wunsch wird erfüllt sein. Warum weinst du
-denn? Auch du weinst? Höre auf, laß es, ach, wie schwer mir alles ist!«
-
-Eine weichere Empfindung überkam ihn doch; sein Herz schnürte sich bei
-ihrem Anblicke zusammen. -- »Warum weint sie denn?« dachte er, »was bin
-ich ihr? Warum weint sie, warum nimmt sie von mir Abschied, wie meine
-Mutter oder Dunja? Sie wird mein Kindermädchen sein!«
-
-»Bekreuze dich, bete wenigstens einmal,« bat ihn Ssonja mit zitternder,
-schüchterner Stimme.
-
-»Oh, bitte, soviel du wünschst! Und ich tue es mit aufrichtigem Herzen,
-Ssonja, mit aufrichtigem Herzen ...«
-
-Er wollte etwas ganz anderes sagen.
-
-Er bekreuzte sich einige Male. Ssonja nahm ein Tuch und warf es um die
-Schulter. Es war ein großes grünes Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von
-dem Marmeladoff damals gesprochen hatte. Raskolnikoff kam der Gedanke,
-aber er fragte nicht danach. Er begann in der Tat selbst zu fühlen, daß
-er schrecklich zerstreut und eigentümlich beunruhigt war. Er erschrak
-darüber. Es setzte ihn auch plötzlich in Erstaunen, daß Ssonja mit ihm
-gehen wolle.
-
-»Was ist? Wohin willst du? Bleibe, bleibe zu Hause! Ich gehe allein,«
-rief er in kleinmütigem Ärger und ging beinahe erzürnt zu der Türe. --
-»Und wozu ein ganzes Gefolge!« murmelte er hinaustretend.
-
-Ssonja blieb mitten im Zimmer stehen. Er hatte nicht mal Abschied von
-ihr genommen, er hatte sie schon vergessen; ein brennender und sich
-empörender Zweifel wogte in seiner Seele.
-
-»Ist es auch das Richtige, ist auch alles richtig?« dachte er wieder,
-als er die Treppe hinunterging, »kann man denn nicht stehen bleiben und
-alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen?«
-
-Er ging aber doch den Weg. Er sagte sich endgültig, daß es sich nicht
-lohne, weitere Fragen an sich zu stellen. Auf der Straße fiel es ihm
-ein, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im
-Zimmer in ihrem grünen Tuche stehen geblieben war, ohne zu wagen, sich
-zu rühren, als er sie angeschrien hatte, -- und er blieb eine Weile
-stehen. Im selben Augenblick durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke, --
-als hätte er nur gewartet, um ihn vollständig verwirrt zu machen.
-
-»Wozu, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr, -- in einer
-Angelegenheit; was war es für eine Angelegenheit? Es war absolut nichts!
-Um ihr mitzuteilen, daß ich _hingehe_; was ist denn dabei? War es
-notwendig, das ihr zu sagen? Liebe ich sie etwa? Nein, doch gar nicht?
-Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich
-etwa ihre Kreuze? Oh, wie tief ich gesunken bin! Nein, -- ich brauchte
-ihre Tränen, ich mußte ihr Erschrecken sehen, ich mußte sehen, wie ihr
-das Herz schmerzt und sie sich quält! Ich mußte mich an irgend etwas
-anklammern, es in die Länge ziehen, einen Menschen sehen! Und ich habe
-es gewagt, so auf mich zu hoffen, so von mir zu träumen, ich Bettler,
-ich unbedeutender Schuft, Schuft!«
-
-Er ging am Kanale entlang und hatte nicht mehr weit. Als er aber bis zur
-Brücke kam, blieb er einen Augenblick stehen, bog dann zur Seite ab und
-ging über die Brücke zum Heumarkte.
-
-Er blickte neugierig rechts und links um sich, betrachtete aufmerksam
-jeden Gegenstand und konnte auf nichts die Aufmerksamkeit konzentrieren;
-alles entglitt ihm. -- »Nach einer Woche, nach einem Monat wird man mich
-in einem Gefängniswagen irgendwohin über diese Brücke führen, wie werde
-ich dann diesen Kanal ansehen, -- ich müßte es mir merken,« durchfuhr es
-ihn. »Dieses Aushängeschild dort, -- wie werde ich dann diese Buchstaben
-lesen? Da steht geschrieben -- _Genossenschaft_, -- nun, ich sollte mir
-dieses >o<, diesen Buchstaben o merken, und nach einem Monat dieses o
-ansehen, -- wie werde ich es dann ansehen? Was werde ich dann empfinden
-und denken? ... Mein Gott, wie dies alles gemein sein muß, alle meine
-jetzigen ... Sorgen! Gewiß, dies alles muß interessant ... in seiner Art
-sein ... ha! ha! ha! ... worüber ich bloß denke! Ich werde wie ein Kind,
-ich spiele mit mir selbst; nun, warum halte ich mir dieses vor? Pfui,
-wie sie stoßen! Dieser Dicke da, -- wahrscheinlich ein Deutscher, -- der
-mich soeben gestoßen hat; nun, weiß er, wen er gestoßen hat? Eine Frau
-mit einem Kinde bettelt, es ist amüsant, daß sie mich für glücklicher
-als sich selbst hält. Was, sollte ich der Kuriosität wegen ihr auch ein
-Almosen geben? Bah, ich habe ja volle fünf Kopeken in der Tasche, woher
-bloß? Na ... nimm es, Mütterchen!«
-
-»Gott schütze dich!« ertönte die weinerliche Stimme der Bettlerin.
-
-Er trat auf den Heumarkt. Ihm war es unangenehm, sehr unangenehm sogar,
-mit Leuten zusammenzukommen, er ging aber gerade dorthin, wo man am
-meisten Menschen sah. Er hätte alles in der Welt hingegeben, um allein
-zu bleiben, aber er fühlte selbst, daß er keinen einzigen Augenblick
-allein sein konnte. In einer Menge trieb ein Betrunkener sein Wesen, er
-wollte die ganze Zeit tanzen, fiel aber immer hin. Man hatte ihn
-umringt. Raskolnikoff drängte sich durch die Menge hindurch, blickte
-einige Augenblicke den Betrunkenen an und lachte plötzlich kurz und
-abgerissen auf. Nach einer Minute hatte er ihn schon vergessen, bemerkte
-ihn nicht mehr, obwohl er ihn noch anblickte. Er ging schließlich
-zurück, ohne sich zu erinnern, wo er sich befand; als er aber bis zur
-Mitte des Platzes gekommen war, vollzog sich mit ihm plötzlich eine
-Veränderung, eine Empfindung packte ihn mit einem Male, nahm ihn
-vollständig körperlich und seelisch -- gefangen.
-
-Er erinnerte sich plötzlich der Worte von Ssonja, »geh zu einem
-Kreuzweg, verneige dich vor den Menschen, küsse die Erde, weil du vor
-ihr gesündigt hast, und sage laut der ganzen Welt: -- Ich bin ein
-Mörder!«
-
-Er zitterte am ganzen Körper, als er sich daran erinnerte. Und so stark
-hatte ihn schon der aussichtslose Gram und die Unruhe der ganzen Zeit,
-besonders aber der letzten Stunden erdrückt, daß er sich dieser neuen
-Empfindung vollkommen und ungeteilt hingab. Wie ein Anfall war es
-plötzlich über ihn gekommen; durch einen Funken entzündete es sich in
-seiner Seele und erfaßte ihn mit einem Male, wie ein Feuer, ganz und
-gar. Alles wurde in ihm weich und Tränen stürzten hervor. Wie er stand,
-so fiel er auch zu Boden ...
-
-Er kniete mitten auf dem Platze nieder, verneigte sich bis zur Erde und
-küßte diese schmutzige Erde voll Genuß und Glück. Er stand auf und
-verneigte sich zum zweiten Male ...
-
-»Sieh, wie der sich vollgesoffen hat!« bemerkte ein Bursche in seiner
-Nähe.
-
-Lachen ertönte.
-
-»Er geht nach Jerusalem, nimmt Abschied von seinen Kindern, seiner
-Heimat, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt
-Sankt Petersburg und seinen Boden,« fügte ein betrunkener Kleinbürger
-hinzu.
-
-»Er ist noch jung, der Bursche!« bemerkte ein dritter.
-
-»Einer von den Adeligen!« sagte jemand mit gesetzter Stimme.
-
-»Heutzutage erkennt man nicht mehr, wer von Adel ist, und wer nicht.«
-
-Alle diese Zurufe und Bemerkungen hielten Raskolnikoff zurück, und das
-Bekenntnis »ich habe getötet!,« das er abzulegen bereit war, unterblieb.
-Die Zurufe nahm er in Ruhe hin, ging ohne sich umzusehen, durch eine
-Gasse zum Polizeibureau. Unterwegs bemerkte er, daß ihm jemand folgte,
-aber er war darüber nicht erstaunt; er hatte es geahnt. Als er auf dem
-Heumarkte sich zum zweiten Male bis zur Erde verneigte und sich links
-wandte, erblickte er fünfzig Schritte entfernt Ssonja. Sie verbarg sich
-vor ihm hinter einer der hölzernen Buden, die auf dem Markte standen,
-also hatte sie ihn auf seinem ganzen Leidensweg begleitet. Raskolnikoff
-fühlte und begriff in diesem Augenblicke ein für allemal, daß Ssonja
-ewig bei ihm sein und ihm bis ans Ende der Welt folgen werde, was ihm
-das Schicksal auch senden würde. Und sein Herz wandte sich ... aber, --
-er war schon an der verhängnisvollen Stelle angelangt ...
-
-Ziemlich sicher trat er in den Hof. Er mußte in den dritten Stock. --
-»Es dauert noch eine Weile, bis ich hinaufkomme,« dachte er. Überhaupt
-schien es ihm, als wäre es noch weit bis zu dem entscheidenden
-Augenblicke, als hätte er noch viel Zeit und könne sich vieles noch
-überlegen.
-
-Wieder derselbe Schmutz, dieselben Schalen auf der sich windenden
-Treppe, wieder waren die Türen zu den Wohnungen weit offen, wieder
-dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank herausdrang. Raskolnikoff
-war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine erstarben und
-knickten zusammen, aber sie trugen ihn vorwärts. Er blieb einen
-Augenblick stehen, um Atem zu holen, um sich in Ordnung zu bringen, um
-als _Mensch_ einzutreten.
-
-»Wozu aber? Warum?« dachte er plötzlich, als er seiner Bewegung gewahr
-wurde. -- »Wenn man schon diesen Kelch leeren muß, ist dann nicht alles
-gleichgültig? Je häßlicher, um so besser!«
-
-In seiner Erinnerung tauchte in diesem Momente die Gestalt von Ilja
-Petrowitsch Pulver auf. »Soll ich tatsächlich zu ihm gehen? Kann ich
-nicht zu einem anderen? Nicht zu Nikodim Fomitsch? Oder sofort umkehren
-und zum Kommissar selbst in seine Wohnung gehen? Alles wird wenigstens
-dann in angenehmerer Weise ... Nein, nein! Zu Pulver, zu Pulver! Wenn
-ich ihn schon leeren soll, so alles auf einmal ...«
-
-Erstarrt vor Kälte und kaum seiner mächtig, öffnete er die Türe zum
-Polizeibureau. Diesmal waren sehr wenig Leute da, ein Hausknecht und
-noch ein Mann. Der Wächter schaute nicht einmal aus seiner Kammer
-heraus. Raskolnikoff ging in das andere Zimmer. -- »Vielleicht läßt es
-sich noch vermeiden,« schwirrte es ihm durch den Kopf. In diesem Zimmer
-begann gerade irgend ein Schreiber in Zivilkleidung etwas auf seinem
-Pulte zu schreiben. In einer Ecke setzte sich ein anderer Schreiber hin.
-Sametoff war nicht da. Nikodim Fomitsch selbstverständlich auch nicht.
-
-»Ist niemand da?« fragte Raskolnikoff, sich an den Schreiber am Pulte
-wendend.
-
-»Wen wünschen Sie?«
-
-»Ah -- ah! Man hört nichts, man sieht nichts, bloß der russische Geist
-... wie heißt es doch in jenem Märchen ... habe es vergessen! M--m--mein
-Kompliment!« rief plötzlich eine bekannte Stimme.
-
-Raskolnikoff erbebte. Vor ihm stand Pulver; er war unbemerkt aus dem
-dritten Zimmer eingetreten.
-
-»Das ist das Schicksal,« dachte Raskolnikoff, »warum ist er hier?«
-
-»Zu uns? In welcher Angelegenheit?« rief Ilja Petrowitsch aus. (Er war
-offenbar in ausgezeichneter und sogar ein wenig erregter Stimmung.)
-»Wenn Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit kommen, so ist es dazu
-noch zu früh. Ich selbst bin nur zufälligerweise hier ... Übrigens stehe
-ich zu Ihren Diensten. Ich muß gestehen ... Wie? Wie? Entschuldigen Sie
-...«
-
-»Raskolnikoff.«
-
-»Aha, Raskolnikoff? Konnten Sie glauben, daß ich Ihren Namen vergessen
-habe! Bitte, halten Sie mich nicht für so einen ... Rodion Ro... Ro...
-Rodionytsch, nicht wahr, es ist doch richtig?«
-
-»Rodion Romanowitsch.«
-
-»Ja, ja, ja! Rodion Romanowitsch, Rodion Romanowitsch! Das wollte ich
-gerade wissen. Habe mich sogar mehrere Male nach Ihnen erkundigt. Ich
-muß Ihnen gestehen, seit der Zeit war ich aufrichtig betrübt, als wir
-damals mit Ihnen so ... man hat mir nachher alles erklärt, ich erfuhr,
-daß Sie ein junger Literat und sogar Gelehrter ... und sozusagen, die
-ersten Schritte ... oh, mein Gott! Ja, wer von den Literaten und
-Gelehrten hat im Anfange nicht originelle Schritte getan! Ich und meine
-Frau, -- wir beide schätzen die Literatur, meine Frau sogar
-leidenschaftlich! ... Literatur und Kunst! Wenn einer nur anständig ist,
-alles übrige aber kann er durch Talent, Wissen, Verstand, Genie
-erwerben! Ein Hut -- nun, was bedeutet z. B. ein Hut? Ein Hut ist ein
-Deckel, ich kann ihn im besten Laden kaufen; was aber unter dem Hute
-steckt und mit dem Hute verdeckt wird, das kann ich nicht kaufen! ...
-Ich muß gestehen, wollte sogar zu Ihnen kommen, Ihnen eine Erklärung
-abgeben, aber ich dachte, daß Sie vielleicht ... Jedoch ich vergesse
-ganz, Sie zu fragen, -- brauchen Sie tatsächlich etwas von uns? Man
-sagte mir, Sie haben Besuch von Ihren Verwandten?«
-
-»Ja, meine Mutter und Schwester.«
-
-»Ich hatte sogar die Ehre und das Glück, Ihre Schwester zu treffen, --
-eine gebildete und reizende Dame. Ich muß gestehen, ich bedauerte sehr,
-daß wir damals beide so hitzig wurden. Ein Zufall! Und daß ich Sie
-damals infolge Ihrer Ohnmacht, mit einem gewissen Blicke ansah, -- das
-hat sich doch sofort in glänzendster Weise aufgeklärt! Grausamkeit und
-Fanatismus! Ich begreife Ihre Entrüstung. Sie werden wohl infolge der
-Ankunft Ihrer Familie in eine andere Wohnung ziehen und wollen uns wohl
-das anmelden?«
-
-»N--nein, ich bin bloß ... Ich bin gekommen, zu fragen ... ich dachte,
-daß ich Herrn Sametoff hier antreffen werde.«
-
-»Ach, ja! Sie sind ja Freunde geworden; ich habe davon gehört. Nein,
-Sametoff ist nicht bei uns, -- den haben Sie verfehlt. Wir haben Herrn
-Sametoff verloren! Seit gestern ist er nicht mehr bei uns; er ist in
-einen anderen Dienst übergetreten ... und hat sich zum Abschied mit
-allen gezankt ... er war zuletzt noch sehr unhöflich ... Er war ein
-leichtsinniger Junge, mehr nichts; er berechtigte wohl zu Hoffnungen;
-ja, aber so geht es mit unserer glänzenden Jugend! Er will ein Examen
-ablegen, wir kennen das, -- sind bloß Redensarten, Wichtigtuerei und das
-wird das ganze Examen sein. Es ist doch nicht, wie bei Ihnen z. B. der
-Fall oder bei Herrn Rasumichin, Ihrem Freunde! Ihre Karriere ist die
-eines Gelehrten, und Mißerfolge werden Sie nicht verstimmen. Für Sie
-sind dies alles Reize des Lebens -- nihil. Sie sind ein Asket, ein
-Mönch, ein Einsiedler! ... für Sie hat nur ein Buch Bedeutung, die
-Feder, die Gelehrten und Untersuchungen, -- darin schwelgt Ihr Geist!
-Ich bin teilweise selbst so ... Haben Sie das Buch von Livingstone
-gelesen?«
-
-»Nein.«
-
-»Ich habe es gelesen. Heutzutage gibt es übrigens viel zu viel
-Nihilisten; es ist auch begreiflich; die Zeiten sind auch danach, nicht
-wahr? Übrigens ich ... Sie sind doch selbstverständlich kein Nihilist!
-Sagen Sie es mir aufrichtig, ganz offen.«
-
-»N--nein ...«
-
-»Nein, ach, seien Sie doch mir gegenüber ganz offen, genieren Sie sich
-nicht, tun Sie, als wären Sie allein mit sich! Der Dienst ist ein Ding
-für sich, ein anderes Ding ... Sie meinten, ich wollte _Freundschaft_
-sagen, nein, Sie haben es nicht erraten! Nicht Freundschaft, sondern das
-Gefühl eines Mitbürgers und Mitmenschen, das Gefühl der Humanität und
-der Liebe zum Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Stellung und ein
-Amt einnehmen, aber ich bin dennoch verpflichtet, den Bürger und
-Menschen in mir stets zu fühlen, und muß mir darüber Rechenschaft
-abgeben ... Sie beliebten Sametoff zu erwähnen. Sametoff ist imstande,
-auf französische Art, in einem unanständigen Lokale beim Glas Champagner
-oder moussierendem Wein loszulegen, -- sehen Sie, das ist Ihr Sametoff!
-Ich aber bin sozusagen in Ergebenheit und hohen Gefühlen ganz
-aufgegangen, habe außerdem einen Rang, eine Position, bekleide ein Amt!
-Bin verheiratet und habe Kinder. Ich erfülle meine Pflichten als Bürger
-und Mensch, wer aber ist er, gestatten Sie mir die Frage? Ich wende mich
-an Sie, als einen durch Bildung geadelten Menschen. Sehen Sie, auch sehr
-viel gelehrte Hebammen haben wir in letzter Zeit.«
-
-Raskolnikoff zog fragend die Augenbrauen empor. Die Worte von Ilja
-Petrowitsch, der anscheinend vor kurzem erst vom Mittagstische
-aufgestanden war, schwirrten an seinem Ohre vorbei! Einen kleinen Teil
-davon hatte er wohl aufgefangen. Er blickte ihn fragend an und wußte
-nicht, wo er hinaus wollte.
-
-»Ich spreche von diesen kurzgeschorenen Mädchen,« fuhr der redselige
-Ilja Petrowitsch fort, »ich habe sie selbst gelehrte Hebammen benannt
-und finde, daß diese Benennung sehr treffend ist. He! he! Sie kriechen
-in die medizinische Akademie, lernen Anatomie; und, sagen Sie mir,
-glauben Sie, wenn ich krank werde, daß ich mir etwa ein solches Mädchen
-hole ließe, daß sie mich behandele? He! he!«
-
-Ilja Petrowitsch lachte, sehr zufrieden mit seinen eigenen Witzen.
-
-»Es ist wohl wahr, der Durst nach Bildung ist grenzenlos; aber nachdem
-einer sich gebildet hat, muß es für ihn genug sein. Warum denn es
-mißbrauchen? Warum denn ehrenhafte Personen beleidigen, wie es dieser
-Schurke Sametoff tut? Warum hat er mich beleidigt, frage ich Sie? Und
-wie die Selbstmorde jetzt zunehmen, -- Sie können es sich gar nicht
-vorstellen. Alle verprassen ihr letztes Geld und töten sich dann. Kleine
-Mädchen, Jungen, Greise ... Heute früh noch erhielten wir Mitteilung
-über einen vor kurzem zugereisten Herrn Nil Pawlytsch, ah, Nil
-Pawlytsch! Wie hieß doch dieser Gentleman, der sich erschossen hat, über
-den wir die Mitteilung vorhin erhielten?«
-
-»Sswidrigailoff,« antwortete jemand aus dem anderen Zimmer laut und
-teilnahmslos.
-
-Raskolnikoff zuckte zusammen.
-
-»Sswidrigailoff! Sswidrigailoff hat sich erschossen?« rief er aus.
-
-»Wie! Sie kannten Sswidrigailoff?«
-
-»Ja ... ich kannte ihn ... Er war vor kurzem hierher gekommen ...«
-
-»Nun, ja, er ist vor kurzem zugereist, hat seine Frau verloren, führte
-ein ausschweifendes Leben, und hat sich plötzlich erschossen, und so
-skandalös, daß man es sich nicht vorstellen kann ... hat in seinem
-Notizbuche ein paar Worte hingeschrieben, daß er bei vollem Verstande
-sterbe, und bittet, niemanden wegen seines Todes zu beschuldigen. Er
-hatte Geld, sagt man. Wie haben Sie ihn denn kennengelernt?«
-
-»Ich ... kannte ihn ... meine Schwester war in seinem Hause als
-Gouvernante ...«
-
-»Ah ... Sie können uns also über ihn einiges mitteilen. Sie ahnten gar
-nichts davon?«
-
-»Ich habe ihn gestern gesehen ... er ... trank Wein ... ich ahnte
-nichts.«
-
-Raskolnikoff fühlte sich so niedergeschmettert, als wäre etwas auf ihn
-heruntergefallen und drücke ihn zu Boden.
-
-»Sie sind blaß geworden. Bei uns ist die Luft sehr stickig ...«
-
-»Ja, es ist für mich Zeit zu gehen,« murmelte Raskolnikoff, --
-»entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe ...«
-
-»Oh, bitte sehr! Es war mir ein Vergnügen und ich bin froh, Ihnen zu
-sagen ...«
-
-Ilja Petrowitsch reichte ihm die Hand.
-
-»Ich wollte bloß ... zu Sametoff ...«
-
-»Ich begreife, begreife. Es war mir ein Vergnügen.«
-
-»Ich ... freue mich sehr ... auf Wiedersehen ...« lächelte Raskolnikoff.
-
-Er ging hinaus; schwankend. Der Kopf schwindelte ihm. Er fühlte seine
-Füße nicht mehr. Langsam begann er die Treppe hinabzusteigen und stützte
-sich dabei mit der rechten Hand an der Wand. Es schien ihm, daß ein
-Hausknecht mit einem Buche in der Hand ihn gestoßen habe, daß ein Hund
-im unteren Stockwerke ununterbrochen belle und daß ein Weib ein
-Holzscheit nach dem Hunde werfe und ihn anschreie. Er ging die Treppe
-hinunter und trat in den Hof. Hier auf dem Hofe, unweit vom Ausgange,
-stand Ssonja, totenbleich, starr, und sah ihn fassungslos an. Er blieb
-vor ihr stehen. Ihr Gesicht zeigte einen schmerzlichen, abgequälten,
-verzweifelten Ausdruck. Sie schlug die Hände zusammen. Ein bitteres,
-verlorenes Lächeln erschien für einen Moment auf seinen Lippen. Eine
-Weile blieb er stehen, betrachtete sie und ging dann wieder hinauf in
-das Polizeibureau.
-
-Ilja Petrowitsch hatte sich gesetzt und wühlte in allerhand Papieren.
-Vor ihm stand derselbe Mann, der vorhin Raskolnikoff gestoßen hatte.
-
-»Ah! Sie sind es wieder! Haben Sie etwas vergessen? ... Aber was ist mit
-Ihnen?«
-
-Raskolnikoff näherte sich ihm mit blassen Lippen, mit verglasten Augen,
-langsam trat er an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand darauf,
-wollte etwas sagen, aber konnte nicht; man hörte bloß unzusammenhängende
-Töne.
-
-»Ihnen ist schlecht, ein Stuhl! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl,
-setzen Sie sich! Wasser!«
-
-Raskolnikoff ließ sich auf den Stuhl nieder, wandte aber die Augen von
-dem Gesichte des äußerst unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch nicht
-ab. Beide blickten eine Minute lang einander an und warteten. Das Wasser
-wurde gebracht.
-
-»Ich habe ...« begann Raskolnikoff.
-
-»Trinken Sie Wasser.«
-
-Raskolnikoff wehrte mit der Hand das Wasser ab und sagte leise mit
-Pausen, aber deutlich:
-
-»_Ich habe damals die alte Beamtenwitwe ... und ihre Schwester Lisaweta
-... mit dem Beile erschlagen ... und beraubt._«
-
-Ilja Petrowitsch öffnete den Mund vor Staunen. Von allen Seiten kamen
-die Menschen gelaufen.
-
-Raskolnikoff wiederholte sein Geständnis.
-
-
-
-
- Epilog
-
-
- I.
-
-Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Flusses steht eine Stadt, eine von
-den administrativen Zentren Rußlands; in der Stadt befindet sich eine
-Festung, in der Festung ein Gefängnis. Im Gefängnisse sitzt schon neun
-Monate der Zwangsarbeiter der zweiten Kategorie Rodion Raskolnikoff.
-Seit dem Tage seiner Tat sind fast anderthalb Jahre vergangen.
-
-Das Verfahren gegen ihn verlief ohne besondere Schwierigkeiten. Der
-Verbrecher hielt sein Geständnis aufrecht, bestimmt und klar, ohne die
-Sache zu verwirren, ohne etwas zu beschönigen, ohne die Tatsachen zu
-verzerren und ohne die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er hatte
-bis zum letzten Punkt den ganzen Vorgang der Ermordung erzählt, hatte
-das Geheimnis _des Versatzobjekts_ (des Stückes Holzes mit einem
-Streifen aus Metall), das man in den Händen der ermordeten Alten
-gefunden hatte, erklärt; er hatte umständlich erzählt, wie er die
-Schlüssel von der Getöteten genommen hatte, beschrieb die Schlüssel, die
-Truhe und womit sie angefüllt war; er hatte sogar einige von den
-einzelnen Gegenständen, die darin lagen, aufgezählt; hatte das Rätsel
-der Ermordung von Lisaweta erklärt; hatte erzählt, wie Koch gekommen war
-und geklopft hatte, wie der Student nach ihm gekommen war, und hatte
-alles, was sie untereinander gesprochen hatten, wiedergegeben; hatte
-auch erzählt, wie er, der Verbrecher, nachher die Treppe
-hinuntergelaufen war und das Kreischen von Nikolai und Dmitri gehört
-hatte, wie er sich in der leerstehenden Wohnung versteckt hatte, nach
-Hause gekommen war, und zum Schluß gab er den Stein auf dem Hofe am
-Wosnesensky-Prospekt hinter dem Tore an, unter dem man auch die Sachen
-und den Beutel fand. Mit einem Worte, die Sache war klar. Die
-Untersuchungsrichter und die Richter waren unter anderem darüber sehr
-erstaunt, daß er den Beutel und die Sachen, ohne sie zu verwenden, unter
-einem Steine versteckt hatte, mehr aber darüber, daß er sich aller
-Gegenstände, die er eigentlich geraubt hatte, nicht im einzelnen
-erinnerte, sondern sich sogar in ihrer Zahl geirrt hatte. Der Umstand
-schon, daß er kein einziges Mal den Beutel geöffnet und nicht mal wußte,
-wie viel an Geld darin lag, erschien unglaublich; im Beutel waren,
-wie sich herausstellte, dreihundertsiebzehn Rubel und drei
-Zwanzig-Kopekenstücke; von dem langen Liegen unter dem Steine waren
-einige größere Scheine, die zu oberst lagen, stark verdorben. Man mühte
-sich lange ab, zu erforschen, warum der Angeklagte gerade in diesem
-einzigen Punkte log, wo er doch in allem übrigen ein freiwilliges und
-aufrichtiges Geständnis ablegte? Schließlich kamen einige, besonders die
-Psychologen, zu der möglichen Annahme, daß er in der Tat keinen Blick in
-den Beutel geworfen habe, daher auch nicht gewußt habe, was er enthielt,
-und ohne es zu wissen, den Beutel einfach unter den Stein gelegt habe;
-sie zogen aber auch sofort daraus die Folgerung, daß das Verbrechen
-selbst nicht anders ausgeführt sein könnte, als bei gewisser
-zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit, unter einer krankhaften Manie, zu
-morden und zu rauben, ohne weitere Zwecke und Berechnungen. Hierzu
-gesellte sich noch die neueste moderne Theorie von zeitweiliger
-Geistesgestörtheit, die man in unserer Zeit so oft versucht, bei manchen
-Verbrechern anzuwenden. Außerdem wurde der hypochondrische Zustand
-Raskolnikoffs seit langer Zeit genau von vielen Zeugen, dem Arzte
-Sossimoff, seinen früheren Kameraden, seiner Wirtin und deren
-Dienstboten bestätigt. Dies alles half sehr zu der Annahme, daß
-Raskolnikoff einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe nicht
-gleichzusetzen sei, daß etwas ganz anderes vorliege. Zum größten Verdruß
-derer, die diese Ansicht vertraten, versuchte der Verbrecher selbst sich
-fast gar nicht zu verteidigen; auf die endgültigen Fragen, -- was ihn
-zum Morde bewogen haben konnte, und was ihn den Raub zu vollziehen
-angetrieben habe, -- antwortete er sehr klar, mit der gröbsten
-Offenheit, daß die ganze Ursache seine schlechte Lage, seine Armut und
-Hilflosigkeit und der Wunsch gewesen war, -- die ersten Schritte seiner
-Laufbahn mit Hilfe von wenigstens dreitausend Rubel zu sichern, die er
-bei der Ermordeten zu finden gehofft habe. Er habe sich zum Morde
-infolge seines leichtsinnigen und kleinmütigen Charakters entschlossen,
-der außerdem durch Entbehrungen und Mißerfolge gereizt war. Auf die
-Frage aber, was ihn veranlaßt habe, ein Geständnis abzulegen, antwortete
-er offen, daß es aufrichtige Reue gewesen sei. -- Dies alles war schon
-fast grob ...
-
-Das Urteil fiel milder aus, als man erwarten konnte, vielleicht auch
-deshalb, weil man bei der Straffestsetzung auch den Umstand in Betracht
-zog, daß der Verbrecher nicht bloß auf alle Selbstverteidigung
-verzichtete, sondern offenbar den Wunsch zeigte, sich selbst noch mehr
-zu belasten. Alle eigentümlichen und besonderen Umstände der
-Angelegenheit wurden in Erwägung gezogen. Der krankhafte und notleidende
-Zustand des Verbrechers vor Ausführung der Tat wurde nicht dem
-geringsten Zweifel unterzogen. Der Umstand, daß er von dem Geraubten
-keinen Nutzen gezogen hatte, wurde teilweise der erwachten Reue,
-teilweise dem nicht ganz gesunden Zustande seiner Geistesfähigkeiten
-während der Ausführung der Tat zugeschrieben. Die zufällige Ermordung
-von Lisaweta diente sogar als Umstand, der die letzte Annahme
-bestätigte, -- ein Mensch vollzieht zwei Morde und vergißt gleichzeitig,
-daß die Türe nicht verschlossen war! Schließlich, das freiwillige
-Geständnis gerade in dem Momente, wo die Sache ungewöhnlich verwickelt
-wurde, infolge der falschen Selbstanklage eines niedergeschlagenen
-Phantasten (Nikolai), und außerdem, wo nicht nur keine klaren Beweise,
-sondern fast kein Verdacht gegen den tatsächlichen Verbrecher vorgelegen
-hatte, -- (Porphyri Petrowitsch hatte sein Wort vollkommen gehalten) --
-dies alles zusammen verhalf dem Angeklagten zu einer milderen
-Bestrafung.
-
-Außerdem erschienen völlig unerwartet auch andere Umstände, die stark zu
-seinen Gunsten ins Gewicht fielen. Der frühere Student Rasumichin hatte
-irgendwo Mitteilungen erhalten und sie durch Beweise erhärtet, daß der
-Verbrecher Raskolnikoff, als er noch auf der Universität war, aus seinen
-letzten Mitteln einem armen und schwindsüchtigen Kameraden geholfen und
-ihn ein halbes Jahr hindurch fast gänzlich unterhalten hatte. Als der
-Kamerad gestorben war, übernahm er die Sorge um dessen alten und
-gelähmten Vater, den sein Kamerad durch seiner Hände Arbeit fast seit
-seinem dreizehnten Lebensjahre ernährt und unterstützt hatte,
-schließlich hatte Raskolnikoff den alten Vater in einem Krankenhaus
-untergebracht und, als auch er starb, ihn beerdigen lassen. Alle diese
-Mitteilungen hatten einen gewissen Einfluß auf das Schicksal von
-Raskolnikoff. Seine frühere Wirtin, die Mutter seiner verstorbenen
-Braut, die Witwe Sarnitzin, legte auch ein Zeugnis ab, daß Raskolnikoff,
-als sie noch in einem anderen Hause wohnten, während einer Feuersbrunst
-in der Nacht aus einer Wohnung, die schon brannte, zwei kleine Kinder
-gerettet habe und dabei selbst Brandwunden davontrug. Diese Tatsache
-wurde genau untersucht und auch durch andere Zeugen bestätigt. Mit einem
-Worte, es endete damit, daß der Verbrecher zur Zwangsarbeit der zweiten
-Kategorie, im ganzen nur zu acht Jahren verurteilt wurde, infolge seines
-freiwilligen Geständnisses und mehrerer mildernder Umstände.
-
-Noch beim Beginn des Prozesses wurde Raskolnikoffs Mutter krank. Dunja
-und Rasumichin fanden es für ratsam, sie während der ganzen
-Gerichtsverhandlung aus Petersburg fortzuschaffen. Rasumichin wählte
-eine Stadt an der Eisenbahn und in der Nähe von Petersburg, um die
-Möglichkeit zu haben, allen Phasen des Prozesses genau zu folgen und
-gleichzeitig möglichst oft Awdotja Romanowna zu sehen. Pulcheria
-Alexandrownas Leiden war eine eigentümliche Nervenerkrankung und wurde
-durch eine, wenn auch nicht völlige, so doch zeitweilige Geistesstörung
-kompliziert. Dunja fand ihre Mutter, als sie von ihrer letzten
-Zusammenkunft mit dem Bruder zurückkehrte, vollständig krank, in Fieber
-und Wahnvorstellungen. Am selben Abend noch kam sie mit Rasumichin
-darüber überein, was man der Mutter auf ihre Fragen nach dem Sohne
-antworten solle, und hatte sogar mit ihm zusammen für die Mutter eine
-ganze Geschichte erdichtet, daß Raskolnikoff sehr weit an die Grenze
-Rußlands in einem privaten Auftrage gereist sei, der ihm endlich Geld
-und Berühmtheit eintragen werde. Sie waren aber überrascht, daß
-Pulcheria Alexandrowna selbst weder damals, noch späterhin sie irgend
-etwas frug. Im Gegenteil, es zeigte sich, daß sie selbst eine ganze
-Geschichte über die plötzliche Abreise des Sohnes wußte; sie erzählte
-mit Tränen, wie er zu ihr gekommen war, um von ihr Abschied zu nehmen;
-deutete dabei an, daß nur sie allein viele, sehr wichtige und
-geheimnisvolle Umstände kenne, und daß Rodja sehr viele einflußreiche
-Feinde habe, so daß er sich verbergen müsse. Was seine künftige Karriere
-anbetraf, schien sie ihr auch unzweifelhaft und glänzend zu sein, --
-wenn gewisse unbequeme Umstände beseitigt wären; sie versicherte
-Rasumichin, daß ihr Sohn mit der Zeit sogar ein bedeutender Staatsmann
-würde, wofür sein Artikel und sein glänzendes literarisches Talent
-zeugten. Immer las sie seinen Artikel, las ihn zuweilen laut vor und
-legte sich fast mit ihm zu Bett, trotzdem aber fragte sie fast nie, wo
-sich jetzt Rodja befinde, ungeachtet dessen, daß man augenscheinlich
-vermied, mit ihr darüber zu sprechen, -- was doch allein schon Argwohn
-bei ihr hätte erwecken müssen. Man begann endlich, sich über dieses
-merkwürdige Schweigen von Pulcheria Alexandrowna in Bezug auf manche
-Punkte zu ängstigen. Sie klagte z. B. nicht einmal darüber, daß sie von
-ihm keine Briefe erhalte, wogegen sie früher, als sie noch in ihrem
-Heimatsstädtchen wohnte, bloß von der Hoffnung und in der Erwartung
-lebte, bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu erhalten. Der
-letzte Umstand war zu unerklärlich und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam
-der Gedanke, daß die Mutter möglicherweise etwas Schreckliches im Leben
-ihres Sohnes ahne und sich fürchtete, zu fragen, um nicht etwas noch
-entsetzlicheres zu erfahren. In jedem Falle aber sah Dunja klar, daß
-Pulcheria Alexandrowna nicht bei gesundem Verstande war.
-
-Ein paarmal war es vorgekommen, daß sie selbst das Gespräch so führte,
-daß es unmöglich war, bei Beantwortung ihrer Fragen nicht zu erwähnen,
-wo sich Rodja jetzt aufhielt; als aber die Antworten natürlich
-ungenügend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich traurig, düster
-und schweigsam, und das dauerte eine ziemlich lange Zeit an. Dunja sah
-schließlich ein, daß es schwer war, ihr etwas vorzulügen und zu
-erdichten, und kam zu dem endgültigen Entschlusse, besser über bestimmte
-Punkte vollkommen zu schweigen; aber es wurde immer deutlicher und
-klarer, daß die arme Mutter etwas Schreckliches ahnte. Dunja entsann
-sich unter anderem auch der Worte ihres Bruders, daß die Mutter ihre
-Reden im Traume in der Nacht vor dem letzten schicksalsschweren Tage,
-nach der Szene mit Sswidrigailoff vernommen habe. -- Sollte sie damals
-etwas gehört und verstanden haben? Oft wurde die Kranke, zuweilen nach
-Tagen und Wochen eines düsteren, finsteren Schweigens und wortloser
-Tränen, von aufgeregter Lebhaftigkeit ergriffen und begann plötzlich
-laut und unaufhörlich von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen, von der
-Zukunft zu sprechen ... ihre Phantasien waren manchmal sehr sonderbar.
-Man tröstete sie, man stimmte ihr bei; sie merkte vielleicht selbst, daß
-man ihr beistimmte, sie bloß tröstete, aber dennoch redete sie ...
-
-Fünf Monate, nachdem sich der Verbrecher selbst gestellt hatte, erfolgte
-das Urteil. Rasumichin besuchte ihn so oft im Gefängnis, als es nur
-möglich war. Auch Ssonja kam zu ihm. Schließlich kam die Trennung; Dunja
-schwur dem Bruder, daß diese Trennung nicht ewig währen würde;
-Rasumichin tat dasselbe. In Rasumichins jungem und feurigem Kopfe war
-unerschütterlich der Plan entstanden, -- in den nächsten drei, vier
-Jahren möglichst den Grundstock zu einem Vermögen zu legen, wenigstens
-etwas Geld zu ersparen und nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in
-jeder Hinsicht reich war, aber wenig tatkräftige Menschen mit Kapital
-existierten; dort in derselben Stadt, wo Rodja sein werde, sich
-anzusiedeln und ... für alle zusammen ein neues Leben zu beginnen ...
-Als der Abschied kam, weinten alle. Raskolnikoff war in den allerletzten
-Tagen sehr nachdenklich, fragte viel nach der Mutter und war ihretwegen
-in ständiger Unruhe. Er quälte sich sehr um sie, was Dunja wiederum
-beunruhigte. Als er die Einzelheiten über den krankhaften Zustand der
-Mutter erfahren hatte, wurde er sehr finster. Zu Ssonja war er in der
-ganzen Zeit aus irgendeinem Grunde auffallend wortkarg. Ssonja hatte
-sich schon längst mit Hilfe des Geldes, das ihr Sswidrigailoff gegeben
-hatte, zur Reise vorbereitet und machte sich bereit, der Abteilung von
-Sträflingen, mit denen er verschickt werden sollte, zu folgen. Darüber
-war zwischen ihr und Raskolnikoff niemals ein Wort gewechselt worden,
-doch beide wußten, daß es so sein werde. Beim letzten Abschiede lächelte
-er eigen bei den heißen Beteuerungen der Schwester und Rasumichins über
-ihrer aller glückliche Zukunft, sobald er die Zwangsarbeit abgebüßt
-habe, und sagte im voraus, daß der krankhafte Zustand der Mutter bald
-mit einem Unglücke enden würde. Er und Ssonja traten den Weg nach
-Sibirien an.
-
-Zwei Monate nachher heiratete Dunetschka Rasumichin. Die Hochzeit war
-traurig und still. Unter den Gästen waren auch Porphyri Petrowitsch und
-Sossimoff. In der letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines fest
-entschlossenen Menschen gewonnen. Dunja glaubte bestimmt, daß er alle
-seine Pläne verwirklichen werde und mußte daran glauben, -- in diesem
-Menschen steckte ein eiserner Wille. Unter anderem begann er wieder die
-Vorlesungen in der Universität zu besuchen, um sein Studium
-abzuschließen. Beide bauten immer Pläne für die Zukunft; beide rechneten
-fest darauf, nach fünf Jahren nach Sibirien übersiedeln zu können. Bis
-dahin hofften sie auf Ssonja ...
-
-Pulcheria Alexandrowna gab mit Freude der Tochter ihren Segen zur
-Hochzeit mit Rasumichin; nach der Hochzeit aber wurde sie scheinbar noch
-trauriger und sorgenvoller. Um ihr eine Freude zu machen, teilte ihr
-Rasumichin unter anderem auch die Geschichte von dem Studenten und
-seinem greisen Vater mit und auch, daß Rodja sich verbrannt habe und
-sogar krank war, als er im vorigen Jahre zwei Kinder vor dem Flammentode
-gerettet hatte. Beide Mitteilungen versetzten die verstörte Pulcheria
-Alexandrowna fast in einen verzückten Zustand. Sie redete ununterbrochen
-darüber, knüpfte Gespräche auf der Straße an, obwohl Dunja sie ständig
-begleitete. In Omnibussen und in Läden, wenn sie bloß einen Zuhörer
-fand, brachte sie das Gespräch auf ihren Sohn, auf seinen Artikel und
-darauf, wie er einem Studenten geholfen habe, wie er bei der
-Feuersbrunst Brandwunden erhalten habe und dergleichen mehr. Dunetschka
-wußte nicht mehr, wie sie sie davon abhalten konnte. Abgesehen von der
-Gefahr solch eines verrückten krankhaften Zustandes, drohte auch das
-Unglück, daß jemand sich auf den Namen Raskolnikoff aus der
-Gerichtsverhandlung besinnen und darüber etwas sagen konnte. Pulcheria
-Alexandrowna hatte sogar die Adresse der Mutter von den zwei bei der
-Feuersbrunst geretteten Kindern erfahren und wollte sie unbedingt
-aufsuchen. Schließlich stieg ihre Unruhe bis aufs äußerste. Sie fing
-zuweilen plötzlich an zu weinen, wurde oft bettlägerig und phantasierte
-im Fieber. Eines Morgens erklärte sie, daß nach ihrer Berechnung Rodja
-bald zurückkehren müsse, daß sie sich erinnere, wie er beim Abschiede
-selbst erwähnt habe, daß man ihn nach neun Monaten erwarten solle. Sie
-begann alles in der Wohnung in Ordnung zu bringen und Vorbereitungen zu
-seinem Empfange zu machen, begann das für ihn bestimmte Zimmer, -- ihr
-eigenes, -- zu schmücken, die Möbel zu putzen, Vorhänge zu waschen und
-aufzuhängen und dergleichen mehr. Dunja wurde sehr unruhig, schwieg aber
-und half ihr sogar, das Zimmer für den Bruder instand zu setzen. Nach
-einem unruhigen Tage, der in ständigen Phantasien, in freudigen Träumen
-und Tränen verging, erkrankte sie in der Nacht und lag am anderen Morgen
-in Fieber und Fieberphantasien. Eine Nervenkrisis war ausgebrochen. Nach
-zwei Wochen starb sie. In Fieberphantasien entrangen sich ihr Worte, aus
-denen man annehmen mußte, daß sie bedeutend mehr über das schreckliche
-Schicksal ihres Sohnes ahnte, als man geglaubt hatte.
-
-Raskolnikoff erfuhr lange nicht den Tod seiner Mutter, obwohl er mit
-Petersburg schon seit dem Anfang seiner Übersiedlung nach Sibirien in
-Briefwechsel stand. Ssonja vermittelte die Briefe und empfing auch
-pünktlich jeden Monat eine Antwort aus Petersburg. Ssonjas Briefe
-erschienen Dunja und Rasumichin zuerst etwas trocken und unbefriedigend;
-aber beide fanden bald, daß man nicht besser schreiben konnte, denn aus
-diesen Briefen empfing man doch zu guter Letzt eine ganz genaue und
-klare Vorstellung von dem Schicksal ihres unglücklichen Bruders. Ssonjas
-Briefe waren mit der alltäglichsten Wirklichkeit, mit der einfachsten
-und klarsten Darstellung der ganzen Umgebung Raskolnikoffs in der
-Zwangsarbeit angefüllt. Es gab dabei weder eine Darstellung ihrer
-eigenen Hoffnungen, noch Träume um die Zukunft, noch Beschreibungen
-ihrer Gefühle. Anstatt zu versuchen, seinen seelischen Zustand und
-überhaupt sein ganzes Seelenleben zu erklären, beschränkte sie sich auf
-Tatsachen, d. h. auf seine eigenen Worte, genaue Mitteilungen über
-seinen Gesundheitszustand, seine Wünsche bei ihren Besuchen, seine
-Aufträge und dergleichen mehr. Alle diese Nachrichten wurden mit der
-äußersten Genauigkeit wiedergegeben. Das Bild des unglücklichen Bruders
-trat schließlich hervor, zeichnete sich deutlich und klar ab; hier
-konnte es keine Irrtümer geben, denn alles waren sichere Tatsachen.
-
-Aber wenig erfreuliches konnten Dunja und ihr Mann aus diesen
-Nachrichten, besonders im Anfang, schöpfen. Ssonja teilte immer nur mit,
-daß er ständig düster, wenig gesprächig sei und sich fast gar nicht für
-die Nachrichten interessiere, die sie ihm jedesmal aus den von ihr
-empfangenen Briefen überbrachte; daß er zuweilen nach der Mutter frage,
-und als sie ihm schließlich ihren Tod mitteilte, nachdem sie gemerkt
-hatte, daß er die Wahrheit ahne, da schien -- zu ihrer Verwunderung --
-auch die Nachricht von dem Tode der Mutter auf ihn keinen starken
-Eindruck gemacht zu haben, wenigstens es schien ihr so nach seinem
-Äußeren. Sie teilte auch unter anderem mit, daß er bei aller
-Selbstversunkenheit und Verschlossenheit -- sich zu seinem neuen Leben
-offen und schlicht verhalte; er begreife klar seine Lage, erwarte in der
-nächsten Zeit nichts besseres, habe keine leichtsinnigen Hoffnungen, was
-doch so verständlich in seiner Lage wäre, und wundere sich fast über
-nichts in seiner neuen Umgebung, die so wenig Ähnlichkeit mit seinem
-früheren Leben habe; seine Gesundheit sei befriedigend. Er gehe zur
-Arbeit, der er nicht ausweiche und um die er nicht bitte. Dem Essen
-gegenüber sei er fast gleichgültig, aber das Essen sei, außer an Sonn-
-und Feiertagen, so schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Ssonja,
-etwas Geld genommen habe, um seinen eigenen Tee sich zu halten; wegen
-des übrigen habe er sie gebeten, sich nicht zu beunruhigen, und sie
-versicherte, daß alle diese Sorgen um seine Person ihn bloß verdrießlich
-machten. Weiterhin teilte Ssonja mit, daß er im Gefängnis in einem Raume
-mit den anderen untergebracht sei; die inneren Räume und Kasernen habe
-sie nicht gesehen, aber nehme an, daß sie eng, häßlich und ungesund
-seien; er schlafe auf einer Pritsche, brauche, als Unterlage, Filz und
-wolle nichts anderes haben. Er lebe aber so schlecht und ärmlich, nicht
-aus einem bestimmten Plane oder absichtlich, sondern aus Unachtsamkeit
-und äußerster Gleichgültigkeit gegen sein Schicksal. Ssonja machte kein
-Hehl daraus, daß er, besonders im Anfang, sich nicht bloß für ihre
-Besuche nicht interessierte, sondern über sie fast ungehalten war, wenig
-mit ihr sprach, ja grob zu ihr war, daß aber schließlich diese
-Zusammenkünfte ihm zur Gewohnheit und fast zum Bedürfnis geworden waren,
-so daß er sich sogar grämte, wenn sie einige Tage krank war und ihn
-nicht besuchen konnte. Sie sehe ihn an Sonntagen am Gefängnistore oder
-im Wachthause, wohin man ihn auf einige Minuten zu ihr rufe; an
-Werktagen sehe sie ihn bei der Arbeit, entweder in den Werkstätten oder
-in der Ziegelei oder in den Scheunen am Ufer des Irtysch. Über sich
-selbst teilte Ssonja mit, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt einige
-Bekanntschaften anzuknüpfen und Protektion zu finden, daß sie sich mit
-Nähen beschäftige, und da in der Stadt es fast keine Schneiderin gebe,
-so sei sie in vielen Häusern ganz unentbehrlich geworden; aber sie
-erwähnte nicht, daß durch sie auch Raskolnikoff Protektion bei seinen
-Behörden gefunden habe, daß ihm leichtere Arbeiten zugeteilt wurden und
-dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht -- (Dunja hatte in den
-letzten Briefen eine besondere Aufregung und Unruhe herausgefühlt) --,
-daß er alle meide, daß die Sträflinge ihn nicht gern hätten, daß er
-tagelang schweige und sehr blaß werde. Plötzlich schrieb Ssonja in ihrem
-letzten Briefe, daß er ernstlich erkrankt sei und im Hospital in der
-Arrestantenabteilung liege ...
-
-
- II.
-
-Er war schon lange vorher krank, aber nicht die Schrecken der
-Zwangsarbeit, nicht die physische Arbeit, nicht die Nahrung, noch der
-abrasierte Kopf, noch die gezeichnete Kleidung hatten ihn gebrochen, --
-oh! was gingen ihn alle diese Qualen und Martern an! Im Gegenteil, er
-war über die Arbeit sogar froh, -- wenn er sich körperlich geplagt
-hatte, erwarb er sich wenigstens dadurch einige Stunden ruhigen
-Schlafes. Und was bedeutete ihm das Essen, -- diese fleischlose
-Kohlsuppe mit Schwaben? Als er noch Student war, im früheren Leben,
-hatte er oft auch das nicht mal gehabt. Seine Kleidung war warm und für
-seine Lebensweise berechnet. Ketten fühlte er fast gar nicht. Sollte er
-sich etwa seines rasierten Kopfes und der markierten Joppe schämen? Aber
-vor wem denn? Etwa vor Ssonja? Ssonja fürchtete ihn, und sollte er sich
-etwa vor ihr schämen? Was denn sonst? Er schämte sich freilich vor
-Ssonja, die er durch seine verächtliche und grobe Behandlung quälte.
-Aber er schämte sich nicht des rasierten Kopfes und der Ketten, -- sein
-Stolz war verletzt; und er erkrankte an verwundetem Stolze. Oh, wie
-glücklich wäre er, wenn er sich selbst anklagen könnte! Er würde dann
-alles, sogar die Schande und die Schmach ertragen! Er saß aber streng
-mit sich zu Gerichte, und sein erbittertes Gewissen hatte in seiner
-Vergangenheit keine besondere Schuld gefunden, außer einem einfachen
-_Irrtum_, der jedem passieren kann. Er schämte sich hauptsächlich
-deswegen, daß er, Raskolnikoff, so blind, hoffnungslos, still und dumm,
-infolge eines Spruches des blinden Schicksals, zugrunde gegangen war,
-und daß er sich vor der »Sinnlosigkeit« eines Urteils beugen und
-unterwerfen mußte, um einigermaßen zur Ruhe zu kommen.
-
-Eine gegenstandslose und zwecklose Unruhe in der Gegenwart und ein
-ununterbrochenes Opfer in der Zukunft, durch das man nichts gewann, --
-das stand ihm in der Welt bevor. Und was lag daran, daß er nach acht
-Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt war und von neuem zu leben beginnen
-konnte? Wozu soll er leben? Was soll er in Aussicht haben? Wozu streben?
-Zu leben, um zu existieren? Aber er war auch früher tausendmal bereit,
-sein Leben für eine Idee, für eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie
-hinzugeben. Das Leben allein war ihm stets wenig gewesen; er wollte
-immer Größeres haben. Vielleicht hatte er sich auch damals, bloß nach
-der Kraft seiner Wünsche, für einen Menschen, dem mehr, als einem
-anderen erlaubt sei, gehalten.
-
-Wenn doch das Schicksal ihm Reue senden würde, -- eine brennende Reue,
-die das Herz bricht, die den Schlaf verjagt, solch eine Reue, bei deren
-schrecklichen Qualen einem die Schlinge und Wasser, wo es am tiefsten
-ist, vorschwebt! Oh, er würde sich darüber freuen! Qualen und Tränen --
-das ist doch Leben. Aber er bereute nicht sein Verbrechen.
-
-Könnte er sich wenigstens über seine Dummheit ärgern, wie er sich früher
-über die abscheulichen und dummen Handlungen geärgert hatte, die ihn
-nach Sibirien gebracht hatten. Jetzt aber, im Gefängnisse, _in
-Freiheit_, überlegte er und dachte über alle seine früheren Handlungen
-nach und fand sie gar nicht so dumm und abscheulich, wie sie ihm früher
-in der verhängnisvollen Zeit vorgekommen waren.
-
-»Wodurch, wodurch,« dachte er, »ist meine Idee dümmer, als die anderen
-Ideen und Theorien, die in der Welt, solange diese Welt besteht,
-herumschwirren und aneinanderprallen? Man braucht bloß die Sache von
-einem völlig unabhängigen, weiten und von den alltäglichen Einflüssen
-losgelösten Standpunkte zu betrachten, und da erscheint, sicher, mein
-Gedanke gar nicht so ... sonderbar. Oh, ihr Verneiner und Weisen, von
-einem Groschen Werte, warum bleibt ihr auf dem halben Wege stehen!«
-
-»Warum erscheint ihnen meine Handlung so abscheulich?« sagte er sich.
-»Weil es eine böse Tat ist? Was bedeutet das Wort >böse Tat<? Mein
-Gewissen ist ruhig. Gewiß, es ist ein Kriminalverbrechen geschehen;
-gewiß, der Buchstabe des Gesetzes ist übertreten und Blut ist vergossen,
-nun, nehmt da, für den Buchstaben des Gesetzes, meinen Kopf ... und
-genug! Gewiß, in diesem Falle müßten viele Wohltäter der Menschheit, die
-die Macht nicht geerbt, sondern selbst an sich gerissen haben, bei ihren
-allerersten Schritten hingerichtet worden sein. Jene Menschen aber
-ertrugen ihre Schritte und darum _sind sie im Rechte_, ich aber habe es
-nicht ertragen, und also hatte ich nicht das Recht, mir diesen Schritt
-zu gestatten.«
-
-Nur in diesem Punkte erkannte er sein Verbrechen, -- nur darin allein,
-daß er es nicht ertragen und sich freiwillig gestellt hatte.
-
-Er litt auch unter dem Gedanken, daß er sich damals nicht das Leben
-genommen hatte. Warum hatte er damals am Flusse gestanden und das
-Geständnis vorgezogen? Steckt denn tatsächlich so eine Macht in diesem
-Wunsche zu leben, und ist sie so schwer zu überwinden? Sswidrigailoff,
-der sich vor dem Tode fürchtete, hatte es doch überwunden?
-
-Er stellte sich voller Qual diese Frage und konnte nicht verstehen, daß
-er vielleicht schon damals, als er am Wasser stand, in sich selbst und
-seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge geahnt hatte. Er verstand nicht,
-daß diese Vorahnung eine künftige Umwälzung in seinem Leben, seine
-einstige Auferstehung, eine neue Anschauung vom Leben bedeutete.
-
-Er ließ hierbei bloß den stumpfen Instinkt gelten, den er nicht imstande
-war, zu brechen, und über den er wiederum nicht imstande war -- aus
-Schwäche und Unbedeutendheit -- hinwegzuschreiten. Er betrachtete seine
-Kameraden im Gefängnis und wunderte sich, -- wie auch sie alle das Leben
-liebten und wie sie daran hingen! Ihm schien es sogar, daß man im
-Gefängnisse noch mehr das Leben liebte und schätzte und mehr daran hing,
-als in der Freiheit. Welche schrecklichen Qualen und Martern haben
-manche von ihnen, wie zum Beispiel die Landstreicher, ertragen! Bedeutet
-für diese Menschen wirklich soviel ein Sonnenstrahl, ein düsterer Wald,
-oder eine kühle Quelle irgendwo im unbekannten Dickicht, die einer vor
-ein paar Jahren gefunden und sich gemerkt hat, nach der er sich wie nach
-einer Geliebten sehnt, und von der er träumt, die er im Traume, umgeben
-von grünem Grase, sieht und hört, wie ein Vogel im Gebüsch singt? Indem
-er seine Mitgefangenen betrachtete, fand er noch mehr unerklärliche
-Beispiele dafür. -- Im Gefängnis, in seiner nächsten Umgebung, bemerkte
-er selbstverständlich vieles nicht, und wollte auch nichts bemerken. Er
-lebte wie mit geschlossenen Augen; es war ihm widerlich und unerträglich
-zu sehen. Aber schließlich machte ihn doch vieles staunen und er begann
-fast gegen seinen Willen einiges zu bemerken, was er früher nicht mal
-geahnt hatte. Überhaupt und am meisten begann ihn jener furchtbare,
-jener unüberbrückbare Abgrund zu verwundern, der zwischen ihm und allen
-diesen Menschen lag. Es schien, als gehörten er und sie zu verschiedenen
-Nationen. Er und sie betrachteten einander mißtrauisch und feindselig.
-Er kannte und verstand die allgemeinen Ursachen solch eines
-Getrenntseins; aber niemals hätte er früher zugegeben, daß diese
-Ursachen in der Tat so tief und stark waren. Im Gefängnisse waren auch
-verbannte Polen, politische Verbrecher. Jene betrachteten alle diese
-Menschen als Ungebildete und Sklaven, und verachteten sie; Raskolnikoff
-aber konnte sie in dieser Weise nicht betrachten, -- er sah deutlich,
-daß diese Ungebildeten in vielen Dingen bedeutend klüger als diese Polen
-waren. Es waren auch Russen da, die diese Leute ebenfalls zu stark
-verachteten, -- da waren ein früherer Offizier und zwei Seminaristen.
-Raskolnikoff sah auch klar ihren Irrtum. Ihn selbst aber liebten alle
-nicht und gingen ihm aus dem Wege. Man begann sogar ihn schließlich zu
-hassen. -- Warum? Er wußte es nicht. Man verachtete ihn, lachte über
-ihn, und über sein Verbrechen machten sich jene lustig, die bedeutend
-größere Verbrecher als er waren.
-
-»Du bist ein Herr!« sagte man ihm. »Schickte es sich für dich, mit einem
-Beile zu gehen; das ist gar keine Arbeit für Herren!«
-
-In der zweiten Woche der großen Fastenzeit war seine Kaserne an der
-Reihe, sich zum Abendmahle vorzubereiten. Er ging in die Kirche mit den
-anderen. Eines Tages kam es zu einem Streit, -- er wußte selbst nicht,
-aus welchem Grunde; alle stürzten sich plötzlich wütend über ihn.
-
-»Du bist ein Gottloser! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie. »Man
-müßte dich umbringen.«
-
-Er hatte niemals mit ihnen über Gott und über Glauben gesprochen, aber
-sie wollten ihn, als einen Gottlosen, töten; er schwieg und erwiderte
-ihnen nichts. Ein Sträfling stürzte sich auf ihn in rasender Wut;
-Raskolnikoff erwartete ihn ruhig und schweigend; seine Augenbraue zuckte
-nicht mal, kein Zug seines Gesichtes rührte sich. Der Wachtsoldat
-stellte sich noch rechtzeitig zwischen ihn und den Angreifer, -- sonst
-wäre Blut geflossen.
-
-Für ihn war noch eins unerklärlich, -- warum hatten sie alle Ssonja so
-lieb? Sie hatte sich bei ihnen nicht eingeschmeichelt; sie trafen sie
-selten, bloß zuweilen bei den Arbeiten, wenn sie zu ihm auf einen
-Augenblick kam, um ihn zu sprechen. Indessen aber kannten sie Ssonja
-alle schon, wußten auch, daß sie _ihm_ gefolgt sei, wußten, wie sie
-lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht, erwies ihnen auch
-keine besonderen Dienste. Einmal bloß zu Weihnachten brachte sie für das
-ganze Gefängnis eingesammelte Geschenke, -- Pasteten und Brezeln. Aber
-allmählich hatte sich zwischen ihnen und Ssonja ein näheres Verhältnis
-entwickelt, -- sie schrieb für sie Briefe an ihre Verwandten und sandte
-sie mit der Post ab. Ihre Verwandten, die zur Stadt kamen, hinterließen
-Ssonja auf deren Geheiß Sachen für sie und sogar Geld. Ihre Frauen und
-Geliebten kannten Ssonja und besuchten sie. Und wenn sie zu Raskolnikoff
-zur Arbeit kam oder einer Partie Sträflinge, die zur Arbeit gingen,
-begegnete, -- nahmen alle die Mützen ab, alle grüßten sie, --
-»Mütterchen Ssofja Ssemenowna, du unsere zärtliche, liebe Mutter!«
-sagten diese groben gebrandmarkten Zwangsarbeiter zu diesem kleinen und
-mageren Geschöpfe. Sie lächelte ihnen zu. Sie liebten sogar ihren Gang,
-sie wandten sich um, um ihr nachzusehen, wie sie ging, und lobten sie;
-sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten nicht mehr,
-wofür sie sie bloß loben sollten. Zu ihr kamen sogar Leute, sich von ihr
-kurieren zu lassen.
-
-Raskolnikoff verbrachte die Fastenzeit und Ostern im Krankenhause.
-Während er schon genas, erinnerte er sich seiner Träume, als er noch im
-Fieber gelegen hatte. Er träumte in der Krankheit, daß die ganze Welt
-einer schrecklichen, unerhörten und nie dagewesenen Pest, die aus den
-Tiefen Asiens über Europa kam, zum Opfer fallen sollte. Alle sollten
-zugrunde gehen, außer einigen sehr wenigen Auserwählten. Es waren neue
-Trichinen erschienen, mikroskopische Wesen, die sich in die Körper von
-Menschen einnisteten. Aber diese Wesen waren Geister, ausgerüstet mit
-Verstand und Willen. Die Menschen, in denen sie sich eingenistet hatten,
-wurden sofort wie Besessene und wahnsinnig. Aber noch niemals hielten
-sich die Menschen für so klug und unerschütterlich in ihrer Weisheit,
-als es die Angesteckten taten. Niemals hielten sie ihre Urteile, ihre
-wissenschaftlichen Ergebnisse, ihre sittlichen Überzeugungen und ihren
-Glauben für unerschütterlicher, als jetzt. Ganze Dörfer, ganze Städte
-und Völker wurden angesteckt und gebärdeten sich wie wahnsinnig. Alle
-waren in Unruhe und verstanden einander nicht, jeder meinte, daß er
-allein bloß die Weisheit kenne, und verging vor Qual beim Anblick der
-anderen, schlug sich an die Brust, weinte und rang die Hände. Man wußte
-nicht, wen und wie man richten sollte, man konnte nicht übereinkommen,
-was als Böses und was als Gutes anzusehen war. Man wußte nicht, wen man
-anklagen, wen man freisprechen solle. Die Menschen töteten einander in
-einer sinnlosen Wut. Ganze Armeen sammelten sie gegeneinander, aber die
-Armeen begannen schon auf dem Marsche plötzlich sich selbst zu
-bekriegen, die Reihen zerstörten sich, die Soldaten stürzten sich
-aufeinander, stachen und töteten, bissen und fraßen einander auf. In den
-Städten läutete den ganzen Tag die Sturmglocke, -- man rief alle
-zusammen, aber wer und warum er rief, wußte niemand, alle aber waren in
-größter Unruhe. Man ließ das gewöhnliche Handwerk fallen, denn jeder kam
-mit seinen Gedanken, mit seinen Verbesserungen, und man konnte sich
-nicht einigen; der Ackerbau stockte. Hie und da liefen Menschen
-zusammen, einigten sich über etwas, schwuren einander nicht zu
-verlassen, -- aber sofort begannen sie etwas ganz anderes zu tun als
-das, was sie soeben beschlossen hatten, fingen an einander zu
-beschuldigen, prügelten sich und mordeten sich. Feuersbrünste
-entstanden, Hungersnot trat ein. Alle und alles ging zugrunde. Die Pest
-schwoll an und verbreitete sich immer weiter und weiter. In der ganzen
-Welt konnten sich bloß einige Menschen retten; das waren Unschuldige und
-Auserwählte, die bestimmt waren, ein neues Menschengeschlecht und ein
-neues Leben zu begründen, die Erde zu erneuern und zu säubern, aber
-niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte
-und Stimme gehört.
-
-Raskolnikoff quälte es, daß dieser sinnlose Traum so traurig und
-schmerzlich sein Gedächtnis belastete, daß der Eindruck dieses
-Fiebertraumes so lange nicht verschwinde. Die zweite Woche nach Ostern
-hatte schon begonnen; es waren warme, klare Frühlingstage; in der
-Arrestantenabteilung des Hospitals hatte man die vergitterten Fenster,
-unter denen ein Wachposten auf- und abging, geöffnet. Ssonja konnte ihn
-während seiner ganzen Krankheit bloß zweimal besuchen; man mußte
-jedesmal eine Erlaubnis auswirken, und das war sehr schwer. Aber sie war
-oft auf den Hof des Hospitals, besonders gegen Abend, unter sein Fenster
-gekommen, zuweilen aber auch bloß, um einen Augenblick auf dem Hofe
-stehen zu bleiben und wenigstens von weitem die Fenster seiner Abteilung
-zu sehen. Eines Tages war Raskolnikoff, der fast genesen war, gegen
-Abend eingeschlafen; als er erwachte, trat er zufällig an das Fenster
-und erblickte plötzlich fern am Tore Ssonja. Sie stand dort und schien
-auf etwas zu warten. In diesem Augenblicke war es ihm, als würde sein
-Herz durchbohrt; er zuckte zusammen und ging schnell vom Fenster weg. Am
-anderen Tage erschien Ssonja nicht, ebenfalls nicht am nächstfolgenden
-Tage; er merkte, daß er sie voll Unruhe erwarte. Endlich entließ man ihn
-aus dem Hospital. Als er ins Gefängnis kam, erfuhr er von den
-Sträflingen, daß Ssonja Ssemenowna krank sei, zu Hause liege und nicht
-ausgehe.
-
-Er war sehr beunruhigt und ließ sich nach ihr erkundigen. Er erfuhr
-bald, daß ihre Krankheit nicht gefährlich sei. Als Ssonja ihrerseits
-hörte, daß er sich so um sie grämte und sorgte, schickte sie ihm ein mit
-Bleistift geschriebenes Zettelchen und teilte ihm mit, daß es ihr besser
-gehe, daß sie eine leichte Erkältung habe und daß sie bald, sehr bald zu
-ihm kommen werde. Als er diesen Zettel las, schlug sein Herz stark und
-schmerzhaft.
-
-Es war wieder ein klarer und warmer Tag. Am frühen Morgen, um sechs Uhr,
-ging er zur Arbeit an den Fluß, wo am Ufer in einer Scheune ein Ofen zum
-Alabasterbrennen eingerichtet war, und wo der Alabaster gestoßen wurde.
-Dorthin gingen bloß drei Arbeiter. Der eine Sträfling war mit dem
-Wachtposten in die Festung nach einem Instrument gegangen; der andere
-holte Holz und legte es in den Ofen. Raskolnikoff trat aus der Scheune,
-ging an das Ufer, setzte sich auf aufgestapelte Balken hin und blickte
-lange auf den breiten und öden Fluß. Von dem hohen Ufer aus zeigte sich
-die weite Umgebung. Von dem anderen entlegenen Ufer klang kaum hörbar
-ein Lied herüber. Dort in der unübersehbaren Steppe, übergossen von der
-Sonne, zeigten sich in kaum merklichen dunklen Punkten die Zelte eines
-Wandervolkes. Dort lag Freiheit, dort lebten andere Menschen, die den
-hiesigen gar nicht ähnelten, dort schien die Zeit stehen geblieben zu
-sein, als wäre das Jahrhundert Abrahams und seiner Herden noch nicht
-vorüber. Raskolnikoff saß und blickte unverwandt hinüber, ohne sich
-losreißen zu können; sein Gedanke verwandelte sich in einen Traum; er
-dachte an nichts, aber eine tiefe Schwermut lag auf ihm und quälte ihn.
-
-Plötzlich trat Ssonja neben ihn. Sie war leise herangekommen und setzte
-sich zu ihm. Es war noch sehr früh, die Morgenkälte war noch nicht
-verschwunden. Sie hatte ihren alten ärmlichen kleinen Pelz an und das
-grüne Tuch. Ihr Gesicht trug noch die Spuren von Krankheit, war magerer,
-blasser und eingefallen. Sie lächelte ihm freudig und freundlich zu,
-aber reichte ihm schüchtern, wie immer, ihre Hand.
-
-Sie reichte ihm stets die Hand so schüchtern, zuweilen gar nicht, als
-fürchte sie, daß er sie von sich stoßen würde. Er nahm auch stets ihre
-Hand wie mit Widerwillen, begrüßte sie stets wie verdrießlich, zuweilen
-schwieg er hartnäckig die ganze Zeit während ihres Besuches. Es kam vor,
-daß sie zitternd und in tiefem Kummer fortging. Jetzt aber lösten sich
-ihre Hände nicht; er blickte sie schnell und flüchtig an, sagte nichts
-und schlug seine Augen nieder. Sie waren allein, niemand sah sie. Der
-Wachtposten hatte sich gerade umgedreht.
-
-Wie es gekommen war, wußte er selbst nicht, aber plötzlich schien ihn
-etwas zu packen und zu ihren Füßen zu ziehen. Er weinte und umfaßte ihre
-Knie. Im ersten Augenblicke erschrak sie heftig und ihr Gesicht war
-totenblaß. Sie sprang zitternd auf und sah ihn an. Aber sie begriff im
-Nu alles. In ihren Augen leuchtete ein grenzenloses Glück; sie hatte
-verstanden und es gab für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebte,
-grenzenlos liebte, und daß endlich dieser Augenblick gekommen war ...
-
-Sie wollten sprechen, aber konnten nicht. Tränen standen in ihrer beider
-Augen. Beide waren sie bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und
-bleichen Gesichtern leuchtete schon die Morgenröte einer neuen Zukunft,
-der völligen Auferstehung zu neuem Leben. Die Liebe hatte sie erweckt,
-das Herz des einen enthielt eine unerschöpfliche Lebensquelle für das
-Herz des anderen.
-
-Sie beschlossen zu warten und zu dulden. Sieben Jahre hatten sie noch zu
-warten; bis dahin soviel unerträgliche Qual und soviel grenzenloses
-Glück! Aber er war aufgestanden und er wußte es, fühlte es ganz und gar
-mit seinem neuen Wesen, sie aber -- sie lebte ja doch bloß in ihm!
-
-Am Abend desselben Tages, als die Kasernen schon geschlossen waren, lag
-Raskolnikoff auf seiner Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage
-schien es ihm, als ob alle Sträflinge, seine früheren Feinde, ihn mit
-anderen Augen ansahen. Er fing selbst mit ihnen zu sprechen an und man
-antwortete ihm freundlich. Er erinnerte sich an all dies jetzt, aber es
-mußte doch wohl so kommen, -- _mußte_ sich denn nicht jetzt alles
-ändern?
-
-Er dachte an sie. Er erinnerte sich, wie er sie immer gequält und ihr
-Herz gepeinigt hatte; erinnerte sich ihres blassen, mageren
-Gesichtchens, aber sie quälten ihn jetzt nicht, diese Erinnerungen, --
-er wußte, mit welcher unendlichen Liebe er jetzt alle ihre Leiden sühnen
-würde.
-
-Und was waren alle diese Qualen der Vergangenheit! Alles, sogar sein
-Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung erschienen ihm jetzt in
-der ersten Aufwallung als etwas äußerliches, fremdes, als etwas, das
-nicht ihm passiert sei. Er konnte an diesem Abend gar nicht lange und
-ständig an etwas denken, seine Gedanken auf etwas konzentrieren; er
-hätte jetzt nichts bewußt beschließen können; er _fühlte_ bloß. An
-Stelle der Dialektik war das Leben getreten, und in seinem Bewußtsein
-begann sich etwas ganz anderes herauszuarbeiten.
-
-Unter seinem Kopfkissen lag das Neue Testament. Er nahm es mechanisch
-hervor. Dieses Buch gehörte ihr, es war dasselbe, aus dem sie ihm über
-die Erweckung des Lazarus vorgelesen hatte. Im Anfang seiner Verbannung
-fürchtete er, daß sie mit der Religion ihn zu Tode quälen würde, daß sie
-über das Evangelium sprechen und ihm Bücher verschaffen würde. Aber zu
-seinem größten Staunen hatte sie nie darüber gesprochen, ihm nie das
-Evangelium angeboten. Er hatte sie selbst kurz vor seiner Krankheit
-darum gebeten, und sie brachte ihm schweigend das Buch. Bis jetzt hatte
-er es noch nicht aufgeschlagen.
-
-Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke kam ihm, -- »müssen
-denn ihre Überzeugungen jetzt nicht auch meine Überzeugungen sein? Ihre
-Gefühle, ihr Streben, wenigstens ...«
-
-Sie war auch diesen ganzen Tag in großer Erregung, und in der Nacht
-wurde sie sogar wieder krank. Aber sie war so glücklich, daß sie fast
-erschrak vor ihrem Glücke. Sieben Jahre, _bloß_ sieben Jahre! Im Anfange
-ihres Glückes, in manchen Augenblicken, waren sie beide bereit, diese
-sieben Jahre als sieben Tage zu betrachten. Er dachte nicht einmal
-daran, daß ein neues Leben sich ihm nicht umsonst biete, daß er es noch
-teurer erkaufen müsse, dafür mit einer großen künftigen Tat bezahlen
-müsse ...
-
-Aber hier fängt schon eine neue Geschichte an, die Geschichte der
-allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner
-allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus einer Welt in
-die andere, der Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig
-unbekannt gewesenen Wirklichkeit. Das könnte das Thema zu einer neuen
-Geschichte abgeben, -- unsere jetzige aber ist zu Ende.
-
-
-
-
- Fußnoten
-
-
-[1] Die drei ersten Helden Puschkinscher Werke, die zwei letzten
-Lermontoffscher. E. K. R.
-
-[2] Herrman, der Held in Puschkins »Pique Dame«. E. K. R.
-
-[3] Anspielung auf das Petersburger Denkmal Peters des Großen. E. K. R.
-
-[4] Ein Platz im Kreml zu Moskau, auf dem früher die Hinrichtungen
-stattfanden. E. K. R.
-
-[5] Die sogen. Raskolniki, von denen es seit der Kirchenspaltung (1666)
-mehrere Sekten gibt. E. K. R.
-
-[6] Dieser Schein wird von der Polizei den Prostituierten ausgestellt.
-
-[7] Ein Reisgericht, das zur Seelenmesse für die Toten in die Kirche
-mitgenommen wird, vom Priester geweiht und dann mit Andacht verzehrt
-wird.
-
-[8] Ein kleines gitarrenähnliches Instrument.
-
-[9] Radischtscheff hat zu Katherinas II. Zeiten ein Buch »Die Reise nach
-Moskau« veröffentlicht; er beschrieb den traurigen Zustand des Landes,
-geißelte die Leibeigenschaft; sein Buch wurde von der Freundin Voltaires
-verbrannt, war lange Zeit nachher noch verboten; der Verfasser wurde
-nach Sibirien verbannt.
-
-[10] Dobroljuboff war ein führender Kritiker und Publizist in den
-sechziger Jahren.
-
-[11] Der größte Kritiker und Publizist der vierziger Jahre.
-
-[12] Echte, wahre Bücher werden bei den Altgläubigen und einigen
-Sektierern das Alte und Neue Testament, die Lebensbeschreibungen der
-Heiligen und der Märtyrer, benannt, wenn sie nach den Originalen vor der
-Zeit des Patriarchen Oikon (1652) gedruckt sind; um diese Zeit wurden
-die Texte revidiert und seit dieser Zeit existiert die sogenannte
-»altgläubige Kirche«.
-
-
-
-
- Übersetzung französischer Textstellen
-
-
-{[1]} es lebe der ewige Krieg
-
-{[2]} Genug geredet!
-
-{[3]} friß oder stirb (wörtlich: Ihr Hunde sollt sterben, wenn es euch
-nicht paßt)
-
-{[4]} nur legitim
-
-{[5]} vom Wein bekomme ich schlechte Laune
-
-{[6]} Ihnen zuliebe
-
-{[7]} ganz einfach
-
-{[8]} das ist unerläßlich
-
-{[9]} differenziert
-
-{[10]} wörtlich
-
-{[11]} Steh gerade!
-
-{[12]} sprich französisch mit mir
-
-{[13]} Fünf Sous
-
-{[14]} Marlborough zog in den Krieg / Keiner wusste wie lang
-
-{[15]} Fünf Sous, fünf Sous / Zur Gründung unseres Heims
-
-{[16]} gleiten, gleiten, im Baskenschritt!
-
-{[17]} Grabrede
-
-{[18]} lieber Freund
-
-{[19]} Natur und Wahrheit
-
-{[20]} Wo hat sie diese Tugenden versteckt?
-
-{[21]} viel Glück
-
-{[22]} eine Theorie unter vielen
-
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-Die »Sämtlichen Werke« erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
-Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
-Ausgaben 1906--1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
-nach:
-
- F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
- Erste Abteilung: Erster Band.
- Erste Abteilung: Zweiter Band.
- Rodion Raskolnikow (Schuld und Sühne).
- R. Piper & Co. Verlag, München, 1922.
- 23.--35. Tausend.
-
-Für diese ebook-Ausgabe wurden der erste und der zweite Band vereinigt.
-
-Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der »Sämtlichen
-Werke« vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
-ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
-Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
-nach der Titelseite eingefügt.
-
-Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
-
-Die Bearbeiter haben diesem Text Übersetzungen der französischen
-Textstellen in Form von Fußnoten hinzugefügt und der _public domain_ zur
-Verfügung gestellt.
-
-Diese zusätzlichen Fußnoten sind mit { } markiert.
-
-Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
-(»«) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
-Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (><) eingeschlossen.
-
-Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
-Buchstabe »ä« (oder aouh "jä") steht für den kyrillischen Buchstaben
-»ja«. Die Schreibweise häufig vorkommender russischer Namen wurde
-vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
-
- Afanassi (Afanasi, Afanassji)
- Aljona (Aljena, Alena)
- Bakalejeff (Bakaljeff)
- Lebesjätnikoff (Lebesjatnikoff)
- Louisa (Luisa, Louise)
- Poletschka (Poljetschka)
- Polja (Polje)
- Porphyri (Porfirij, Porphiri)
- Ssemjon (Ssemen)
- Ssofja (Ssofje)
- Ssonja (Ssonje)
-
-Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere
-Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des
-russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
-
- [S. 207]:
- ... »Sicher ich es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch ...
- ... »Sicher ist es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch ...
-
- [S. 237]:
- ... volle Minute gedauert hatte und daß sie sich solange einander ...
- ... volle Minute gedauert hatte und daß sie solange einander ...
-
- [S. 247]:
- ... »Hast du ihn gesehen.« ...
- ... »Hast du ihn gesehen?« ...
-
- [S. 307]:
- ... seiner schämte, und er schleunigst anderen, alltäglichen
- Sorgen ...
- ... seiner schämte, und er sich schleunigst anderen, alltäglichen
- Sorgen ...
-
- [S. 313]:
- ... eingeladen, mit ihnen die Tee zu trinken, -- sie hatten in ...
- ... eingeladen, mit ihnen den Tee zu trinken, -- sie hatten in ...
-
- [S. 320]:
- ... Bitte aussprechen, daß bei unserer gemeinsamen ...
- ... Bitte auszusprechen, daß bei unserer gemeinsamen ...
-
- [S. 367]:
- ... Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß geschienen, ...
- ... Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß so geschienen, ...
-
- [S. 426]:
- ... »Erscheinen bei Ihnen etwa?« ...
- ... »Erscheinen sie bei Ihnen etwa?« ...
-
- [S. 475]:
- ... Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Mal ihr
- aufgetaucht ...
- ... Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Male ihr
- aufgetaucht ...
-
- [S. 505]:
- ... irgendein mathematisches Exempel, wie Zwiemalzwei, bringen, ...
- ... irgendein mathematisches Exempel, wie Zweimalzwei, bringen, ...
-
- [S. 526]:
- ... Mörder, du bist Mörder ...<, und jetzt, wo er es eingestanden ...
- ... Mörder, du bist der Mörder ...<, und jetzt, wo er es
- eingestanden ...
-
- [S. 537]:
- ... war, kehrte er noch wütender und gereizter nach Hause, ...
- ... war, kehrte er noch wütender und gereizter nach Hause zurück, ...
-
- [S. 541]:
- ... aufrichtigsten Weise ihm dienen. ...
- ... aufrichtigsten Weise ihr dienen. ...
-
- [S. 569]:
- ... -- Paß, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen ...
- ... -- Pan, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen ...
-
- [S. 572]:
- ... so war ich stets von ihm sicher,« fuhr Katerina ...
- ... so war ich stets seiner sicher,« fuhr Katerina ...
-
- [S. 633]:
- ... »Sie würden vielleicht später noch erschauern bei dem
- Gedanken, ...
- ... »Sie würde vielleicht später noch erschauern bei dem
- Gedanken, ...
-
- [S. 642]:
- ... »Das kenne ich, ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte ...
- ... »Das kenne ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte ...
-
- [S. 670]:
- ... Reihenfolge noch zu erzählen, wie es damals begonnen ...
- ... Reihenfolge nach zu erzählen, wie es damals begonnen ...
-
- [S. 701]:
- ... Sagen Sie mir, wozu soll ich mit enthalten? Warum ...
- ... Sagen Sie mir, wozu soll ich mich enthalten? Warum ...
-
- [S. 722]:
- ... da folgen.« ...
- ... da folgen?« ...
-
- [S. 725]:
- ... Wüstling und Schuften erwarten!« rief er unwillkürlich ...
- ... Wüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich ...
-
- [S. 765]:
- ... Just lese deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum dritten ...
- ... Just lese ich deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum
- dritten ...
-
- [S. 772]:
- ... begreifen nichts.« ...
- ... begreife nichts.« ...
-
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 1-2: Rodion
-Raskolnikoff (Schuld und Sühne), by Fjodor Michailowitsch Dostojewski
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SAMTLICHE WERKE 1-2: RODION RASKOLNIKOFF ***
-
-***** This file should be named 58238-8.txt or 58238-8.zip *****
-This and all associated files of various formats will be found in:
- http://www.gutenberg.org/5/8/2/3/58238/
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-http://www.pgdp.net. This book was produced from images
-made available by the HathiTrust Digital Library.
-
-Updated editions will replace the previous one--the old editions will
-be renamed.
-
-Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
-law means that no one owns a United States copyright in these works,
-so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
-States without permission and without paying copyright
-royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
-of this license, apply to copying and distributing Project
-Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm
-concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
-and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive
-specific permission. If you do not charge anything for copies of this
-eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook
-for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports,
-performances and research. They may be modified and printed and given
-away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks
-not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the
-trademark license, especially commercial redistribution.
-
-START: FULL LICENSE
-
-THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
-PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
-
-To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
-distribution of electronic works, by using or distributing this work
-(or any other work associated in any way with the phrase "Project
-Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full
-Project Gutenberg-tm License available with this file or online at
-www.gutenberg.org/license.
-
-Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project
-Gutenberg-tm electronic works
-
-1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
-electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
-and accept all the terms of this license and intellectual property
-(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
-the terms of this agreement, you must cease using and return or
-destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your
-possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
-Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
-by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
-person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
-1.E.8.
-
-1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
-used on or associated in any way with an electronic work by people who
-agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
-things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
-even without complying with the full terms of this agreement. See
-paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
-Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
-agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm
-electronic works. See paragraph 1.E below.
-
-1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
-Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
-of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
-works in the collection are in the public domain in the United
-States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
-United States and you are located in the United States, we do not
-claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
-displaying or creating derivative works based on the work as long as
-all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
-that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
-free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
-works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
-Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
-comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
-same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
-you share it without charge with others.
-
-1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
-what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
-in a constant state of change. If you are outside the United States,
-check the laws of your country in addition to the terms of this
-agreement before downloading, copying, displaying, performing,
-distributing or creating derivative works based on this work or any
-other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
-representations concerning the copyright status of any work in any
-country outside the United States.
-
-1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
-
-1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
-immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
-prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
-on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
-phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
-performed, viewed, copied or distributed:
-
- This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
- most other parts of the world at no cost and with almost no
- restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
- under the terms of the Project Gutenberg License included with this
- eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
- United States, you'll have to check the laws of the country where you
- are located before using this ebook.
-
-1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
-derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
-contain a notice indicating that it is posted with permission of the
-copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
-the United States without paying any fees or charges. If you are
-redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
-Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
-either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
-obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
-trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.
-
-1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
-with the permission of the copyright holder, your use and distribution
-must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
-additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
-will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
-posted with the permission of the copyright holder found at the
-beginning of this work.
-
-1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
-License terms from this work, or any files containing a part of this
-work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
-
-1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
-electronic work, or any part of this electronic work, without
-prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
-active links or immediate access to the full terms of the Project
-Gutenberg-tm License.
-
-1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
-compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
-any word processing or hypertext form. However, if you provide access
-to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format
-other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official
-version posted on the official Project Gutenberg-tm web site
-(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
-to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
-of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
-Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
-full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1.
-
-1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
-performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
-unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
-
-1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
-access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works
-provided that
-
-* You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
- the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
- you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
- to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
- agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
- Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
- within 60 days following each date on which you prepare (or are
- legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
- payments should be clearly marked as such and sent to the Project
- Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
- Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
- Literary Archive Foundation."
-
-* You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
- you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
- does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
- License. You must require such a user to return or destroy all
- copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
- all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
- works.
-
-* You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
- any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
- electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
- receipt of the work.
-
-* You comply with all other terms of this agreement for free
- distribution of Project Gutenberg-tm works.
-
-1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
-Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
-are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
-from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
-Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
-trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.
-
-1.F.
-
-1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
-effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
-works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
-Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
-electronic works, and the medium on which they may be stored, may
-contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
-or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
-intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
-other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
-cannot be read by your equipment.
-
-1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
-of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
-Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
-Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
-liability to you for damages, costs and expenses, including legal
-fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
-LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
-PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
-TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
-LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
-INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
-DAMAGE.
-
-1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
-defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
-receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
-written explanation to the person you received the work from. If you
-received the work on a physical medium, you must return the medium
-with your written explanation. The person or entity that provided you
-with the defective work may elect to provide a replacement copy in
-lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
-or entity providing it to you may choose to give you a second
-opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
-the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
-without further opportunities to fix the problem.
-
-1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
-in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
-OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
-LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
-
-1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
-warranties or the exclusion or limitation of certain types of
-damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
-violates the law of the state applicable to this agreement, the
-agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
-limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
-unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
-remaining provisions.
-
-1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
-trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
-providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
-accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
-production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
-electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
-including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
-the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
-or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
-additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
-Defect you cause.
-
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
-
-Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of
-computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
-
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
-goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
-www.gutenberg.org
-
-
-
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state's laws.
-
-The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
-mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
-volunteers and employees are scattered throughout numerous
-locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
-Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
-date contact information can be found at the Foundation's web site and
-official page at www.gutenberg.org/contact
-
-For additional contact information:
-
- Dr. Gregory B. Newby
- Chief Executive and Director
- gbnewby@pglaf.org
-
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation
-
-Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
-spread public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
-DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
-state visit www.gutenberg.org/donate
-
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-
-Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
-
-Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.
-
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
-volunteer support.
-
-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
-necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
-edition.
-
-Most people start at our Web site which has the main PG search
-facility: www.gutenberg.org
-
-This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
-subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
diff --git a/58238-h/58238-h.htm b/58238-h/58238-h.htm
index e1c85d0..62702ca 100644
--- a/58238-h/58238-h.htm
+++ b/58238-h/58238-h.htm
@@ -116,50 +116,7 @@ div.centerpic { text-align:center; text-indent:0; display:block; }
-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 1-2: Rodion Raskolnikoff
-(Schuld und Sühne), by Fjodor Michailowitsch Dostojewski
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Sämtliche Werke 1-2: Rodion Raskolnikoff (Schuld und Sühne)
-
-Author: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
-
-Contributor: Dmitri Mereschkowski
-
-Editor: Arthur Moeller van den Bruck
-
-Translator: E. K. Rahsin
-
-Release Date: November 5, 2018 [EBook #58238]
-Last updated: September 5, 2019
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SAMTLICHE WERKE 1-2: RODION RASKOLNIKOFF ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-http://www.pgdp.net. This book was produced from images
-made available by the HathiTrust Digital Library.
-
-
-
-
-
-
-</pre>
+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58238 ***</div>
<div class="frontmatter chapter">
<p class="ser">
@@ -39434,381 +39391,7 @@ russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 1-2: Rodion
-Raskolnikoff (Schuld und Sühne), by Fjodor Michailowitsch Dostojewski
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SAMTLICHE WERKE 1-2: RODION RASKOLNIKOFF ***
-
-***** This file should be named 58238-h.htm or 58238-h.zip *****
-This and all associated files of various formats will be found in:
- http://www.gutenberg.org/5/8/2/3/58238/
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-http://www.pgdp.net. This book was produced from images
-made available by the HathiTrust Digital Library.
-
-Updated editions will replace the previous one--the old editions will
-be renamed.
-
-Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
-law means that no one owns a United States copyright in these works,
-so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
-States without permission and without paying copyright
-royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
-of this license, apply to copying and distributing Project
-Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm
-concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
-and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive
-specific permission. If you do not charge anything for copies of this
-eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook
-for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports,
-performances and research. They may be modified and printed and given
-away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks
-not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the
-trademark license, especially commercial redistribution.
-
-START: FULL LICENSE
-
-THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
-PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
-
-To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
-distribution of electronic works, by using or distributing this work
-(or any other work associated in any way with the phrase "Project
-Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full
-Project Gutenberg-tm License available with this file or online at
-www.gutenberg.org/license.
-
-Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project
-Gutenberg-tm electronic works
-
-1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
-electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
-and accept all the terms of this license and intellectual property
-(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
-the terms of this agreement, you must cease using and return or
-destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your
-possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
-Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
-by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
-person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
-1.E.8.
-
-1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
-used on or associated in any way with an electronic work by people who
-agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
-things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
-even without complying with the full terms of this agreement. See
-paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
-Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
-agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm
-electronic works. See paragraph 1.E below.
-
-1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
-Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
-of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
-works in the collection are in the public domain in the United
-States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
-United States and you are located in the United States, we do not
-claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
-displaying or creating derivative works based on the work as long as
-all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
-that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
-free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
-works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
-Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
-comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
-same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
-you share it without charge with others.
-
-1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
-what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
-in a constant state of change. If you are outside the United States,
-check the laws of your country in addition to the terms of this
-agreement before downloading, copying, displaying, performing,
-distributing or creating derivative works based on this work or any
-other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
-representations concerning the copyright status of any work in any
-country outside the United States.
-
-1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
-
-1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
-immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
-prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
-on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
-phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
-performed, viewed, copied or distributed:
-
- This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
- most other parts of the world at no cost and with almost no
- restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
- under the terms of the Project Gutenberg License included with this
- eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
- United States, you'll have to check the laws of the country where you
- are located before using this ebook.
-
-1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
-derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
-contain a notice indicating that it is posted with permission of the
-copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
-the United States without paying any fees or charges. If you are
-redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
-Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
-either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
-obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
-trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.
-
-1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
-with the permission of the copyright holder, your use and distribution
-must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
-additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
-will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
-posted with the permission of the copyright holder found at the
-beginning of this work.
-
-1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
-License terms from this work, or any files containing a part of this
-work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
-
-1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
-electronic work, or any part of this electronic work, without
-prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
-active links or immediate access to the full terms of the Project
-Gutenberg-tm License.
-
-1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
-compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
-any word processing or hypertext form. However, if you provide access
-to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format
-other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official
-version posted on the official Project Gutenberg-tm web site
-(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
-to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
-of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
-Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
-full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1.
-
-1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
-performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
-unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
-
-1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
-access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works
-provided that
-
-* You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
- the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
- you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
- to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
- agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
- Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
- within 60 days following each date on which you prepare (or are
- legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
- payments should be clearly marked as such and sent to the Project
- Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
- Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
- Literary Archive Foundation."
-
-* You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
- you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
- does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
- License. You must require such a user to return or destroy all
- copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
- all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
- works.
-
-* You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
- any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
- electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
- receipt of the work.
-
-* You comply with all other terms of this agreement for free
- distribution of Project Gutenberg-tm works.
-
-1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
-Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
-are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
-from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
-Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
-trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.
-
-1.F.
-
-1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
-effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
-works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
-Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
-electronic works, and the medium on which they may be stored, may
-contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
-or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
-intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
-other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
-cannot be read by your equipment.
-
-1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
-of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
-Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
-Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
-liability to you for damages, costs and expenses, including legal
-fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
-LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
-PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
-TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
-LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
-INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
-DAMAGE.
-
-1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
-defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
-receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
-written explanation to the person you received the work from. If you
-received the work on a physical medium, you must return the medium
-with your written explanation. The person or entity that provided you
-with the defective work may elect to provide a replacement copy in
-lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
-or entity providing it to you may choose to give you a second
-opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
-the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
-without further opportunities to fix the problem.
-
-1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
-in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
-OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
-LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
-
-1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
-warranties or the exclusion or limitation of certain types of
-damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
-violates the law of the state applicable to this agreement, the
-agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
-limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
-unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
-remaining provisions.
-
-1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
-trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
-providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
-accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
-production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
-electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
-including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
-the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
-or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
-additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
-Defect you cause.
-
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
-
-Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of
-computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
-
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
-goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
-www.gutenberg.org
-
-
-
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state's laws.
-
-The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
-mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
-volunteers and employees are scattered throughout numerous
-locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
-Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
-date contact information can be found at the Foundation's web site and
-official page at www.gutenberg.org/contact
-
-For additional contact information:
-
- Dr. Gregory B. Newby
- Chief Executive and Director
- gbnewby@pglaf.org
-
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation
-
-Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
-spread public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
-DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
-state visit www.gutenberg.org/donate
-
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-
-Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
-
-Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.
-
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
-volunteer support.
-
-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
-necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
-edition.
-
-Most people start at our Web site which has the main PG search
-facility: www.gutenberg.org
-
-This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
-subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
-
-
-
-</pre>
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58238 ***</div>
</body>
</html>