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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-02-08 17:24:45 -0800 |
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Wir brauchen sie als ein Gegengewicht gegen ein Westlertum, +dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren, wie Rußland ihnen +ausgesetzt gewesen ist, und das auch uns dahin gebracht hat, wohin wir +heute gebracht sind. Nachdem wir solange zum Westen hinübergesehen +haben, bis wir in Abhängigkeit von ihm gerieten, sehen wir jetzt nach +dem Osten hinüber -- und suchen die Unabhängigkeit. Aber wir werden sie +nicht im Osten, wir werden sie immer nur bei uns selbst finden. + +Der Blick nach dem Osten erweitert unsern Blick um die Hälfte der Welt. +Die Fragen des Ostens sind für uns zunächst eine Frage der geistigen +Universalität. Und wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, dann handeln wir +nur im Geiste unserer besten Überlieferung. Aber diese Fragen sind noch +mehr. Sie sind zugleich eine Frage der geistigen Souveränität. Nachdem +wir sie im neunzehnten Jahrhundert an den Westen verloren haben, wollen +wir sie im zwanzigsten Jahrhundert für Deutschland zurückerringen. + +Es wird immer zu unseren Unbegreiflichkeiten gehören, daß wir es dahin +kommen ließen, daß wir uns dem Westen bis zu dieser völligen +Selbstvergessenheit hingaben. Es ist um so unbegreiflicher, als wir im +Gegensatze zu Rußland, das sich seine geistigen Werte erst erringen +mußte, die unseren im festen Besitze hielten, und als unter ihnen nicht +wenige waren, die wir noch nicht einmal vor der eigenen Nation +aufgeschlossen und ihr mitgeteilt hatten. Doch wir bevorzugten die +fremden Werte. Heute sehen wir die Wirkung. Und wir leben unter den +Folgen. + +Wir haben im Verlaufe unserer langen Bildungsgeschichte schon manches +fremde und ferne Bildungsgebiet einbezogen, ob es das griechische war, +oder das italienische. Aber noch nie wurde eines so gefährlich, wie das +westliche geworden ist. Wir werden uns hüten müssen, daß nicht auch der +Osten zu einer Gefahr wird. + +Es ist kein anderes Verhältnis zu ihm möglich als das des völligen +Vertrautseins, aber auch des sicheren Abstandes. Wenn wir unsere +geistige Souveränität, und aus ihr folgend unsere politische +Souveränität, wiedergewonnen haben, dann wird auch Rußland nicht mehr +und nicht weniger für uns sein, als eines jener großen Bildungsgebiete, +die uns reicher machten, aber auch selbständiger. + +Bis dahin teilen wir mit Rußland, aus verschiedenen Gründen, das gleiche +Schicksal. + + M. v. d. B. + + + + + Rodion Raskolnikoff + + +Die beiden gleichzeitigen und doch so verschiedenen Auseinandersetzungen +des russischen Geistes mit Napoleon als der Verkörperung des +westeuropäischen Geistes -- gleichsam zwei Wiederholungen des Jahres +1812 -- sind in der russischen Literatur: »Krieg und Frieden« und +»Rodion Raskolnikoff«. + +Die erste Auseinandersetzung hat nicht mit einem Siege, sondern nur mit +einer Religionsverdrehung geendet. Ob der russische Geist auch in der +zweiten eine Niederlage erlitten hat oder nicht, das bleibe +dahingestellt. Jedenfalls hat er hier gezeigt, daß er würdig ist, seine +Kräfte mit einem solchen Gegner wie Napoleon zu messen, hier ist er dem +Feinde entgegengetreten -- ... Auge in Auge, wie es dem Kämpfer im +Kampfe gebührt. + +Dostojewski hat vor uns die Kraftlosigkeit der napoleonischen Idee +aufgedeckt, nicht die politische und nicht einmal die sittliche +Kraftlosigkeit, sondern die religiöse: bevor man in Europa die Idee der +altrömischen Monarchie, die Idee des universalen Caesar-Vereinigers, des +Menschengottes auferweckte, mußte man zuerst die entgegengesetzte Idee +der christlichen universalen Vereinigung, die Idee des Gottmenschen +überwinden. Doch der historische Napoleon hat diese Idee in seinen Taten +ganz ebensowenig bewältigt, wie Napoleon-Raskolnikoff es in der +Anschauung tat, ja, sie sind nicht einmal an sie herangetreten, sie +haben sie überhaupt nicht gesehen. Wenn dieser Napoleon Raskolnikoff +tatsächlich ein »Prophet zu Pferde mit dem Schwert in der Hand« +erscheint, so ist er doch immerhin -- ohne einen »neuen Koran«, ein +Prophet nicht von Gott und nicht gegen Gott, sondern nur ohne Gott; und +in diesem Sinne ist er natürlich -- _Pseudoantichrist_. »Wenn es Gott +nicht gibt, so bin ich Gott!« folgert der irrsinnige und furchtlose +Kiriloff -- nicht etwa deswegen furchtlos, weil irrsinnig? »Wenn ich es +mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben, so würde man mich +in allen Jahrmarktsbuden verspotten!« meinte der nicht gar zu +vorsichtige und vernünftige Napoleon. Versteht sich, hier ist vom +Erhabenen, vom Furchtbaren zum Lächerlichen -- »nur ein Schritt«. Ist +aber die Furcht vor dem Lächerlichen bei Napoleon nicht zu gleicher Zeit +eine ebenso lächerliche Furcht, wie die Furcht des Usurpators vor der +Krone des legitimen Nachfolgers? »Gott hat sie mir gegeben. Wehe dem, +der an sie rührt.« -- Hat sie wirklich Gott selbst gegeben? -- Noch +niemand hat ihn mit einem so höhnischen Lächeln danach gefragt, niemand +hat mit einer solchen Vermessenheit an seine Krone gerührt wie +Dostojewski. + + * * * * * + +»Ich wollte ein Napoleon werden, darum erschlug ich. Ich stellte mir +einmal die Frage: wie, wenn zum Beispiel an meiner Stelle Napoleon +gewesen wäre und er weder Toulon noch Ägypten, noch einen Übergang über +den Montblanc gehabt hätte, um seine Laufbahn zu beginnen, sondern +anstatt all dieser schönen und großartigen Dinge nur irgendein +lächerliches Weib, eine alte Registratorenwitwe, die er noch dazu hätte +erschlagen müssen, um aus ihrem Kleiderkasten Geld stehlen zu können +(für den Anfang seiner Laufbahn -- du verstehst doch?). Nun also, würde +er sich denn dazu entschlossen haben, wenn ein anderer Ausweg für ihn +nicht möglich gewesen wäre? Hätte ihn das nicht abgestoßen, weil es doch +gar zu wenig >großartig< war und ... Sünde wäre? Nun sieh, ich sage dir, +über dieser >Frage< habe ich mich entsetzlich lange abgequält, so daß +ich mich fürchterlich schämte, als ich endlich erriet (ganz plötzlich, +irgendwie), daß es ihn nicht nur niemals abgestoßen haben würde, sondern +ihm sogar überhaupt nicht in den Sinn gekommen wäre, daß so etwas gar +nicht >großartig< sei ... Er hätte sogar überhaupt nicht begriffen, was +ihn dabei abstoßen könnte, und sobald das nur sein einziger Ausweg +gewesen wäre, würde er sie in einer Weise erwürgt haben, daß ihr nicht +einmal Zeit zum Mucksen geblieben wäre, -- ohne das geringste Bedenken! +Nun, und ich ... befreite mich von den Bedenken, erwürgte -- nach dem +Beispiel seiner Autorität ... Und so war es auch buchstäblich.« + +Raskolnikoff begreift nur zu gut den Unterschied zwischen Napoleons +»geglücktem« und seinem eigenen »mißglückten« Verbrechen, aber nur den +_ästhetischen_, den Unterschied in der »Form« und in der Eigenart der +geistigen Kraft. Er vergleicht sein Verbrechen mit den blutigen +Heldentaten berühmter, gekrönter, historischer Verbrecher, doch Dunja, +seine Schwester, protestiert gegen einen solchen Vergleich: »Aber das +ist doch etwas ganz anderes, Bruder, das ist doch nie und nimmer +dasselbe!« -- Da ruft er wie rasend aus: »Ah! Es ist nicht dieselbe +_Form_! Es hat kein so ästhetisch schönes Äußere! Ich aber verstehe +wirklich nicht, warum eine regelrechte Schlacht, mit Kanonenkugeln auf +die Menschen feuern -- eine ehrenwertere Form sein soll? Die Furcht vor +dem Unästhetischen ist das erste Anzeichen der Kraftlosigkeit!« -- +»Napoleon, die Pyramiden, Waterloo -- und eine hagere, häßliche +Registratorenwitwe, eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem +Bett, -- nun, wie soll das selbst ein Porphyri Petrowitsch (der +Untersuchungsrichter) verdauen! ... Wie sollen die an ein solches +Problem heranreichen! ... Die Ästhetik stört: >wird denn<, heißt es, +>Napoleon unter das Bett eines alten Weibes kriechen?<« + +Ja, gerade die konventionelle Ästhetik, die Rhetorik der Lehrbücher, +jene historische Lüge, die wir mit der Milch unserer erziehenden Mutter, +der Schule, einsaugen, entstellt und verunstaltet unsere sittliche +Wertung der universalhistorischen Erscheinungen. Von dieser +»ästhetischen« Schale wird nun Raskolnikoff durch die Frage nach den +Verbrechen der Helden befreit, wird von ihr, wie Sokrates sagt, »vom +Himmel auf die Erde herabgeführt«, d. h. von jener abstrakten Höhe, wo +die akademische Vergötterung der Großen stattfindet, auf die Ebene des +lebendigen Lebens: und er stellt uns Angesicht gegen Angesicht dieser +Frage in ihrer ganzen grauenvollen Einfachheit und Verschlungenheit +gegenüber. Hat doch ein jeder von uns, uns Nichthelden, wenigstens +einmal im Leben mehr oder weniger bewußt für sich entscheiden müssen, so +wie Raskolnikoff es tut: »Bin ich zitternde Kreatur oder habe ich das +Recht,« bin ich ein »Fressender« oder ein »Gefressener«? Und diese +Frage, dem Anscheine nach die der umfassendsten und allgemeinsten +universalhistorischen Anschauung, ist hier mit der ersten und +wichtigsten sittlichen Frage jedes einzelnen Menschenlebens, jeder +einzelnen menschlichen Persönlichkeit untrennbar eng verbunden. Ohne +diese Frage mit dem Verstande und dem Herzen gelöst zu haben -- oder hat +man sie nur mit dem Verstande oder nur mit dem Herzen gelöst, -- kann +man nicht leben, kann man keinen Schritt im Leben tun. + +Wenn wir uns nun von der »Furcht vor der Ästhetik« befreien, werden wir +dann nicht zugeben, daß der erste, sagen wir mathematische Ausgangspunkt +der sittlichen Bewegung Napoleons und Raskolnikoffs -- ein und derselbe +ist? Beide sind sie aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen: der kleine +Korsikaner, der auf die Straßen von Paris hinausgeworfen war, der +Fremdling ohne Titel, ohne Herkunft, dieser Bonaparte -- ist ganz ebenso +ein unbekannter Vorübergehender, ein junger Mann, »der einmal in der +Dämmerstunde aus seiner Dachkammer heraustrat,« wie der Student der +Petersburger Universität Rodion Raskolnikoff. »Er war auffallend schön, +er hatte dunkle Augen und dunkelblondes Haar, war schlank und +wohlgestaltet« -- das ist alles, was wir zu Anfang der Tragödie von +Raskolnikoff wissen, und nur ein wenig mehr wissen wir von -- Napoleon. +Das »Menschenrecht« und die »Freiheit«, die die »Große Revolution« +erobert hatten, sind für beide in erster Linie das Recht und die +Freiheit, vor Hunger zu sterben; »Gleichheit und Brüderlichkeit« sind +für sie Gleichheit und Brüderlichkeit mit denen, die von ihnen verachtet +oder gehaßt werden. Beim Anblick dieser »Nächsten« und »Gleichen« -- +sagt Dostojewski von Raskolnikoff -- »drückte sich die Empfindung des +tiefsten Ekels in den feinen Zügen des jungen Mannes aus«, und wir +können dabei ebensogut an Napoleon denken. Brüderlichkeit und Gleichheit +-- tiefster Ekel; Freiheit -- tiefste Verschmähung, Einsamkeit. Weder +Vergangenheit noch Zukunft. Weder Hoffnungen, noch Überlieferungen. »Ein +einziger gegen alle, sterbe ich morgen, bleibt nichts von mir übrig« -- +das ist die erste Empfindung beider. Und der Einfall dieser »zitternden +Kreatur«, ein »Herrscher« zu werden, wäre ein ebenso verrückter Einfall +-- oder Größenwahnsinn -- bei Napoleon wie bei Raskolnikoff: zuerst ins +Krankenhaus, dann in die Zwangsjacke und -- aus ist es. Raskolnikoff hat +vor Napoleon sogar einen gewissen Vorzug: er sieht nicht nur die +äußeren, sondern auch die inneren Schranken und Hindernisse, die er +»übertreten« muß, um »das Recht zu haben«. Napoleon sieht sie überhaupt +nicht. Übrigens war vielleicht gerade diese Blindheit teilweise die +Quelle seiner Kraft -- allerdings nur bis zu einer gewissen Zeit: zu +guter Letzt wird der Mangel an Erkenntnis jeglicher Kraft doch nicht +verziehen; und auch Napoleon wurde dieser Mangel nicht verziehen. +Raskolnikoff erkühnt sich zu Größerem, weil er mehr, weil er Größeres +sieht. Hätte er gesiegt, so wäre sein Sieg endgültiger, unumstößlicher +gewesen, als der Sieg Napoleons. In jedem Fall aber ist infolge der +Gleichheit oder Einheit des Ausgangspunktes, trotz des ganzen +unermeßlichen Unterschiedes der zurückgelegten Wege, das sittliche +Gericht über Raskolnikoff zu gleicher Zeit auch Gericht über Napoleon. +Die Frage, die in »Rodion Raskolnikoff« erhoben wird, ist dieselbe +Frage, die Tolstoj in »Krieg und Frieden« erhebt; der ganze Unterschied +besteht nur darin, daß Tolstoj sie umfängt, während Dostojewski sich in +sie vertieft; der eine tritt von außen an sie heran, der andere von +innen; bei dem einen ist es Beobachtung, beim anderen Experiment. + +Die Revolution war ein ungeheurer politischer, schon in viel geringerem +Maße sozialer, die Stände betreffender, und überhaupt kein moralischer +Umsturz. »Du sollst nicht töten«, »du sollst nicht stehlen«, »du sollst +nicht ehebrechen« -- alles ist geblieben, wie es war, wie es die Tafeln +Moses vorschreiben; alles hat, ganz abgesehen von den äußeren +kirchlichen und monarchischen Überlieferungen, seine innere sittliche +Notwendigkeit vor dem Henker (Robespierre), ebenso wie vor dem Opfer +(Louis XVI.) aufrecht erhalten. Trotz der »Göttin der Vernunft« war +Robespierre ein ebensolcher »Deïst« wie Voltaire, und trotz der +Guillotine ein ebensolcher »Menschenfreund« wie Jean Jacques Rousseau. +Man muß seinen Nächsten lieben, man muß sich für seine Nächsten opfern +-- dem widersprach kein einziger, weder die Henker, noch die Opfer. +Hierbei vollzog sich keinerlei Umwertung der sittlichen Werte. Die +Persönlichkeit war der Allgemeinheit in der neuen Regierungsform nicht +etwa weniger untergeordnet, sondern mehr. Bei der mittelalterlichen +Verfassung war diese Unterordnung ganz natürlich, innerlich bedingt, +nicht willkürlich gewesen, war die Unterordnung des einen Gliedes im +lebendigen Volkskörper unter ein anderes durch eine vielleicht sogar +falsch aufgefaßte, aber immerhin religiöse, uneigennützige Idee. Jetzt +wird die Politik zur Mechanik; die Persönlichkeit ordnet sich dem +äußeren Zwang des »Gesellschaftsvertrages« unter -- der Stimmenmehrheit; +sie wird zum Hebel inmitten aller Hebel der vernünftig und richtig +gebauten Maschine, zur Eins unter Einern, zur mathematisch berechenbaren +Ziffernhöhe dieser Mehrheit. Der Druck der neuen anmaßenden Freiheit +war, wie es sich erwies, furchtbarer als der Druck der alten +unverhohlenen Knechtschaft. + +Und die Persönlichkeit hielt es nicht aus und empörte sich in der +letzten, in der Welt noch nie dagewesenen Empörung. + +Versteht sich: am allerwenigsten dachte an die Rechte der +Menschenpersönlichkeit, an die Umwertung aller sittlichen Werte -- +Napoleon, als er die Läufe der Touloner Kanonen auf den revolutionären +Volkshaufen richten ließ, um, nach dem Ausdruck Raskolnikoffs, »mit +Kanonenkugeln auf Schuldige und Unschuldige zu feuern, ohne sie auch nur +eines Wortes der Erklärung zu würdigen«. Und darauf folgt eine ganze +Reihe ganz ebenso geglückter Verbrechen. -- »Ich erriet damals,« sagt +Raskolnikoff »daß Macht nur dem gegeben wird, der es wagt, sich zu +bücken und sie zu nehmen. Hierbei ist ja nur eines, nur eines +erforderlich: man muß nur wagen, nur erkühnen muß man sich! ... Es stand +plötzlich sonnenklar vor mir, wie denn noch kein einziger bis jetzt +gewagt hat und nicht wagt, wenn er an diesem ganzen Blödsinn +vorübergeht, einfach alles am Schwanz zu nehmen und zum Teufel zu +schleudern! Ich wollte mich dazu erkühnen!« Dem Bewußtsein Napoleons +zeigte sich dasselbe natürlich nicht »sonnenklar«: nur aus dem dunklen, +uranfänglichen Instinkt der sich empörenden Persönlichkeit heraus +»wollte _er_ sich erkühnen«. + +Napoleon ging aus der Revolution hervor und nahm sogar ihre +Offenbarungen an, nur veränderte er sie für seine Zwecke. »Alle sind +gleich« -- damit stimmte er überein, nur fügte er hinzu: »Alle sind +gleich _für mich_, alle sind gleich _unter mir_.« »Alle sind frei« -- +und er will Freiheit, will freien Willen, aber »_nur für sich allein_« +will er freien Willen. + +Vom Gesichtspunkte der alten, mosaischen, und der scheinbar neuen, in +Wirklichkeit aber ebenso alten menschenfreundlichen Sittlichkeit aus, +die Jean Jacques Rousseau mit der Feder und Robespierre mit dem +Henkerbeil verkündet haben, ist Napoleon ein Dieb und Mörder, »ein +Räuber außerhalb des Gesetzes«. Uns erdrückt das Pathos der historischen +Ferne, wir sind geblendet von der Sonne von Austerlitz. »Napoleon, die +Pyramiden, Waterloo -- und eine hagere, häßliche Registratorenwitwe, +eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem Bett -- wie sollen +sie denn das verdauen! Wird denn, heißt es, Napoleon unter das Bett +eines alten Weibes kriechen?« Und doch, in der Tat, geben wir zu, wenn +nur die »Ästhetik uns nicht störte«, daß für die Kritik der reinen +Sittlichkeit die Zerstörung Toulons und das unter das Bett des alten +Weibes nach dem roten Koffer Kriechen -- ein und dasselbe ist. Furchtbar +und gemein ist es, scheußlich und widerlich! Er kroch unter das Bett und +verkroch sein ganzes Leben. Warum ist das nun in dem einen Falle +»Übertretung (Schuld) und Sühne«, und im anderen -- Übertretung +(Verbrechen) und Krönung mit dem in der Geschichte einzig dastehenden +universalhistorischen Lorbeerkranz? »Gott hat sie mir gegeben« (die +Krone der römischen Cäsaren); »wehe dem, der an sie rührt.« Was Wunder, +wenn der verschüchterte und ruhmberauschte Pöbel dem glaubte! Wie aber +konnten die freien, rebellischen Byron und Lermontoff daran glauben? Wie +konnten sie diesen »Tyrann«, der den größten Versuch der +Menschenbefreiung, die Revolution, enthauptete, als ihren Helden +anerkennen? Wie, endlich, konnten so ruhige und nüchterne Leute wie +Puschkin und Goethe von ihm betrogen werden? Und doch ist es so. Als +hätte er ihren geheimsten, für sie selbst noch furchtbaren Traum erraten +und verkörpert! Und geradezu dankbar dichten sie die letzte wundervolle +»Sage« Europas von ihm, dem Märtyrer-Imperator auf Sankt Helena, von dem +neuen Prometheus, der an den einsamen Fels inmitten des Ozeans +angeschmiedet ist. Dem Märtyrer welchen Gottes? -- Das wissen sie nicht, +das sehen sie nicht, nur dunkel ahnt ihr Instinkt, daß gerade hier, bei +Napoleon, ein anderer Geist umgeht, einer, der ihnen wie näher und +verwandter, der wie neuer und sogar freier, befreiender und +schöpferischer ist, als der Geist der Revolution. Erwachte nicht in dem +alten, bereits zur Ruhe gekommenen und ein wenig sogar schon +verknöcherten Goethe, als er sich an Napoleon wie an einer +übernatürlichen, »dämonischen« Erscheinung der Natur und der Menschheit +begeisterte, -- erwachte da nicht in ihm etwas Jünglinghaftes, +grenzenlos Rebellisches, Unterirdisches, jenes selbe, aus dem auch sein +Prometheusruf geboren scheint: + + Ihr Wille gegen meinen! + Eins gegen Eins ... + -- -- -- -- -- -- + Götter? Ich bin kein Gott, + Und bilde mir so viel ein als einer. + Unendlich? -- Allmächtig? -- + Was könnt ihr? ...... + Vermögt ihr, zu scheiden + Mich von mir selbst? + +Auch bei Byron nimmt die Erscheinung Napoleons nicht umsonst die Gestalt +Prometheus, Kains, Lucifers an -- aller Verstoßenen, Verfolgten, die +sich gegen Gott erhoben und vom Baume der Erkenntnis gegessen haben. +Dieser Geist, der weder hell noch dunkel ist, wie das fahle Dämmerlicht +der ersten Morgenstunden, dieser neue Dämon Europas mit seinem frommen, +leidenschaftslosen Lächeln -- um wieviel ist er aufrührerischer als +Robespierre oder Saint Just, um wieviel will er mehr, als Rousseau oder +Voltaire! Es scheint, daß hier auch des Rätsels Lösung ist. Aber +vielleicht ist niemand entfernter von diesem Erraten, als -- Napoleon +selbst. Vielleicht würde sich niemand so sehr darüber wundern, niemand +so entrüstet sein wie er, wenn er begreifen könnte, welch eine Folgerung +aus seinen Sätzen gezogen, welch eine Bedeutung seiner Persönlichkeit +beigelegt werden wird. Schien es doch nicht nur anderen, sondern auch +ihm selbst, daß er das gestörte Gleichgewicht der Welt wieder +herstellte, daß er unerschütterliche Ordnung einführte, das +auseinanderfallende Gebäude des europäischen Staatskörpers stützte und +der Revolution ein Ende machte. Wenn nur er selbst und die anderen den +»ersten Schritt«, seinen Ausgangspunkt, vergessen könnten -- diesen +bleichen jungen Menschen mit den blutigen Händen, der nach dem roten +Koffer unter das Bett der alten Wucherin -- der Revolutionsgöttin +»Vernunft« -- kriecht! »_Dio mi la dona._ Gott hat _sie_ mir gegeben,« +-- die Krone oder die rote Truhe? Und ist es wirklich Gott? Wirklich der +christliche Gott oder der Gott des fünften Buches Moses? Immerhin hat er +doch getötet und gestohlen! Er aber ist ein einzelner; für die anderen +heißt es nach wie vor: »Du sollst nicht töten«, »Du sollst nicht stehlen +...« Wenn _er_ -- warum dann schließlich nicht auch _ich_? Ist er denn +nicht aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen wie ich, nicht aus einem +ebenso abstrakten mathematischen Nichtigkeitspunkt wie ich? Er ist -- +Gott; ich bin -- »zitternde Kreatur«. Aber auch in meinem Herzen erhebt +sich der Schrei des Titanen: + + Götter? Ich bin kein Gott, + Und bilde mir soviel ein als einer. + +Wenn er »beim Vorübergehen einfach alles am Schwanz nahm und +fortschleuderte zum Teufel,« warum soll dann nicht auch ich einmal +dasselbe versuchen, und wäre es auch nur, sagen wir -- aus Neugier? +»Denn hier ist ja nur eines, nur eines erforderlich: man muß sich nur +dazu entschließen.« + +Nein, Napoleon hat den Brand der großen Revolution nicht gelöscht, er +hat nur den Feuerfunken derselben aus dem äußeren, politischen, weniger +gefährlichen Gebiet in das innere, sittliche, um wieviel mehr +explosionsfähige geworfen. Er wußte selbst nicht, was er tat, ahnte +selbst nicht, »wes Geistes er war«; aber mit seinem ganzen Leben, durch +sein Beispiel, durch die Größe seines Glücks und die Größe seines +Unterganges hat er die tiefsten Grundfesten der ganzen christlichen und +vorchristlichen Sittlichkeit erschüttert: ohne seinen Willen, gegen +seinen Willen hat er die »Umwertung aller Werte« begonnen, hat er noch +nie dagewesene Zweifel an die Uroffenbarungen des Menschengewissens +erweckt, hat er -- wenn auch mit halbverschlafenen Augen -- in das +»Jenseits von Gut und Böse« geblickt, und hat er auch anderen erlaubt +und auch andere gezwungen, dorthin zu blicken. Das aber, was der Mensch +dort erblickt hat, das kann er nie mehr vergessen. Die alte politische +»Große« Revolution erscheint uns trotz all ihrer äußeren blutigen Greuel +vollkommen unverletzend und ungefährlich, fast gutmütig und klein wie +ein Kinderspiel, fast wie Schülerunart -- im Vergleich zu diesem kaum +sehbaren, kaum hörbaren innerlichen Umsturz, der sich noch bis auf den +heutigen Tag nicht vollzogen hat und dessen Folgen wir unmöglich +voraussehen können. + +Eines ganzen Jahrhunderts angestrengten philosophischen und religiösen +Denkens Europas hat es bedurft -- von Goethes »Prometheus« bis zu +Nietzsches »Antichrist« --, um den ewigen Sinn der napoleonischen +Tragödie als universalhistorischer Erscheinung zu erfassen: die +antichristliche und doch dabei heilige Liebe zu sich selbst, zu seinem +»fernen« Selbst, die der Liebe zu anderen, zum »Nächsten« +entgegengesetzt ist; der titanische unterirdische Anfang der +Persönlichkeit: »ich allein gegen alle« -- + + »Ihr Wille gegen meinen« -- + +der Wille der Selbstbejahung, der »Wille zur Macht«, der dem Willen zur +Selbstverleugnung, zur Selbstvernichtung entgegengesetzt ist; die +Empörung gegen die alte, gegen die neue, gegen jede gesellschaftliche +Einrichtung, jeden »gesellschaftlichen Verband«, gegen alle »beengenden +Fesseln der Zivilisation«, nach dem Ausdruck Napoleons, den er gleichsam +von dem Urahn der Anarchisten, Jean Jacques Rousseau, entlehnt hat; die +Empörung gegen die Menschheit (Kain), gegen Gott (Lucifer), gegen +Christus (der Antichrist-Nietzsche) -- das sind die emporführenden +Stufen dieser neuen sittlichen Revolution. Unbegrenzte Freiheit, +unbegrenztes Ich, vergöttertes Ich, Ich-Gott, -- das ist das letzte, +kaum zu Ende gesprochene Wort dieser Religion, die Napoleon mit so +genialem Instinkt vorausgesehen hat -- »ich habe eine Religion +geschaffen« --, und über die er mit so unverzeihlichem Leichtsinn +scherzen konnte: »In allen Jahrmarktsbuden würde man mich verspotten, +wenn ich es mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben.« + +Und von diesem selben unterirdischen vulkanischen Stoß, der scheinbar +aus dem Westen kam (wie wir späterhin sehen werden, _nicht nur_ aus dem +Westen), von diesem selben unklaren, bald mitfühlenden, bald +spöttischen, aber immer aufregenden und tiefen Gedanken, an die +napoleonische Persönlichkeit, an die Raubvögel und aufrührerischen +Helden, die »Menschen des Fatums« -- angefangen von dem kaukasischen +Gefangenen, Onjégin, Aleko, Petschorin und dem Dämon[1], begann auch die +Wiedergeburt der russischen Literatur. Dieser Gedanke, der sich wohl +zeitweilig verbarg, sich gleichsam unter die Erde versenkte, niemals +aber endgültig versiegte, da er immer wieder mit neuer und neuer +Kraft hervorbrach, dieser Gedanke begleitet die ganze große +universalhistorische Entwicklung des russischen Geistes in der +russischen Literatur, von den »Moskowitern im Child Harold-Mantel«, an +deren Händen »Blut klebt«, von Aleko-Petschorin, der »nur für sich +allein Willen haben will« -- bis zum Nihilisten Kiriloff, der sich für +»verpflichtet« hält, »Eigenwille zu zeigen«, bis Stawrogin, der »in +beiden entgegengesetzten Polen (in der Freveltat und in der Heiligkeit) +den gleichen Genuß findet« -- bis zu »Iwan Karamasoff«, der es endlich +begreift, daß »alles erlaubt ist« und somit Friedrich Nietzsches »alles +ist erlaubt« voraussagt. + +Ein junger Mann[2], mit dem bleichen Gesicht, »mit wundervollen Augen +und ebensolchem Äußeren« (und nicht nur Äußeren), der an Bonaparte vor +Toulon erinnert, stiehlt sich nachts in das Schlafzimmer der alten +Gräfin, um ihr mittels Gewalt das Kartengeheimnis zu erpressen. Die +Pistole, die er mitgenommen hat, um die Alte zu erschrecken, ist nicht +geladen. Dennoch fühlt er sich als Mörder. Hier handelt es sich übrigens +nicht um die Alte: »Die Alte ist Unsinn,« vielleicht auch ein Irrtum, +»nicht die Alte, sondern das Prinzip« erschlug er, er bedurfte nur des +»ersten Schrittes«: »ich wollte nur den ersten Schritt tun -- mich in +eine unabhängige Stellung bringen, Mittel erlangen, und dann, später, +hätte sich alles durch verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen +ausgeglichen. _Ich wollte das Gute den Menschen._« Und für das Gute +erschlug er. Das sagt Raskolnikoff, aber dasselbe könnte auch von +Puschkins Herrman in der »Pique Dame« gesagt sein. Wie Raskolnikoff, so +ist auch Herrman ein Nachahmer Napoleons. Wie flüchtig auch sein innerer +Mensch von Puschkin gezeichnet ist, es ist trotzdem klar, daß er kein +gewöhnlicher Verbrecher ist, daß hier noch etwas Komplizierteres, +Rätselhafteres dahintersteckt. Puschkin selbst berührt natürlich, wie +das so seine Art ist, kaum, kaum diese Rätsel, um dann sofort an ihnen +vorüberzugehen und sich mit seinem unerhaschbar gleitenden, lächelnden +Spott von ihnen loszumachen. Aber aus der wie zufällig von Puschkin +hingeworfenen Skizze »Die Pique Dame« sind _nicht zufällig_ Gogols »Tote +Seelen« und Dostojewskis »Rodion Raskolnikoff« hervorgegangen. So gehen +auch hier die Wurzeln der russischen Literatur auf Puschkin zurück: +gleichsam, als hätte er im Vorübergehen auf die Türe des Labyrinths +gewiesen. Nachdem Dostojewski einmal in dieses Labyrinth eingetreten +war, konnte er sich später sein Leben lang nicht mehr herausfinden: +immer tiefer und tiefer drang er in dasselbe hinein, forschte, prüfte, +versuchte, suchte und fand doch keinen Ausgang. + +Die Verwandtschaft Raskolnikoffs mit Herrman hat Dostojewski, wie es +scheint, nicht nur gefühlt, sondern auch klar erkannt. »Der Puschkinsche +Herrman in der >Pique Dame< ist eine kolossale Gestalt, ein +ungewöhnlicher, durch und durch Petersburger Typ -- ein Typ aus der +Petersburger Zeit!« läßt Dostojewski seinen Helden in der »Jugend« +sagen, der gleichfalls einer von Raskolnikoffs geistigen +Zwillingsbrüdern ist. Er sagt es bei der Beschreibung des Eindrucks, den +der Petersburger Morgen auf ihn macht -- »der scheinbar prosaischste auf +der ganzen Welt«, den er aber für den »allerphantastischsten der Welt« +hält. »An einem solchen modernden, feuchten, nebligen Petersburger +Morgen mußte der wilde Einfall eines Puschkinschen Herrman, wie mir +scheint, noch mehr Wurzel fassen. Wohl hundertmal ist mir inmitten +dieses Nebels der sonderbare, doch um so aufdringlichere Gedanke +gekommen: Wie, wenn nun dieser Nebel verfliegt und sich emporhebt, wird +dann nicht auch diese ganze modernde, sumpfig schlüpfrige Stadt zusammen +mit dem Nebel emporschweben und verschwinden, wie Rauch verfliegen und +nur den früheren finnischen Sumpf zurücklassen, inmitten desselben +meinetwegen wie zum Schmuck der _Eherne Reiter_[3] auf dem heiß +atmenden, überjagten Tiere?« + +Ebenso wie von Puschkins Herrman kann man auch von Raskolnikoff sagen, +daß er ein »durch und durch Petersburger Typ« ist, »ein Typ aus der +Petersburger Zeit«. In keiner einzigen anderen, weder russischen noch +europäischen Stadt -- außer in Petersburg -- in keinem einzigen anderen +Zeitabschnitt der russischen oder europäischen Geschichte hätte dieser +Herrman sich entwickeln und auswachsen können zu einem -- Raskolnikoff. +Und hinter diesen zwei »kolossalen«, »außergewöhnlichen« Gestalten hebt +sich eine dritte Gestalt ab -- tritt die noch kolossalere und +außergewöhnlichere Gestalt des Ehernen Reiters auf dem Granitfels +hervor. Was zuerst fremd, aus dem »angefaulten Westen« importiert, +romantisch, byronisch, napoleonisch erschien, wird verwandt, volklich, +russisch, wird zum Geiste Puschkins, Peters; was aus den Tiefen Europas +kam, trifft mit aus den Tiefen Rußlands Kommendem zusammen. Ist der +Traum unseres sagenhaften Recken der Steppe, unseres Ilja von Murom, +nicht der Traum vom »Wundertäter«, dem »Riesen«? Ja, in diesem Nebel der +finnischen Sümpfe und in dem Granit der aus ihnen emporgewachsenen Stadt +fühlt man deutlich die Verbindung aller kleinen und großen Helden der +aufständischen oder nur andrängenden russischen Persönlichkeit von +Onjégin bis Herrman, von Herrman bis Raskolnikoff, bis Iwan Karamasoff +-- mit demjenigen, + + -- durch dessen Fatumswille + Die Stadt sich aus dem Meer erhob -- + +diese »absichtlichste aller Städte der Erdkugel«, die Stadt der +abstraktesten Erscheinungen, der größten Vergewaltigung der Menschen und +der Natur, des historischen »lebendigen Lebens«, die Stadt der +anscheinend geometrischen Ordnung, des mechanischen Gleichgewichts, in +Wirklichkeit aber -- der gefahrvollsten Aufhebung der Lebensordnung und +des Lebensgleichgewichts. Nirgendwo in der Welt sind so +unerschütterliche Massen auf so schwankendem Grunde aufgetürmt: Granit, +der sich in Nebel auflöst, Nebel, der sich zu Granit verdichtet. Der +»Geist der Knechtschaft« -- der »stumme und taube« Geist, von dem es zu +Raskolnikoff hinüberweht, während er auf der Brücke steht und auf das +»großartige Panorama« der Petersburger Kais schaut; der Geist der +Unfreiheit und des »Verhängnisses«, des widernatürlichen und +übernatürlichen »Willens«. Der »wilde Einfall« Raskolnikoffs »hätte noch +mehr Wurzel fassen müssen« -- gerade hier in dieser phantastischen Stadt +»mit der allerphantastischsten Entstehungsgeschichte der Welt«, durch +die Berührung dieser Wirklichkeit, die selbst einem wilden Einfall, +einem Fieberwahn gleicht. »Vielleicht ist das alles nur irgend jemandes +Traum? ... Irgend jemand, dem alles das träumt, wird plötzlich erwachen +-- und alles wird dann plötzlich verschwinden.« + +Bereits Puschkin hat die Ähnlichkeit Peters mit Robespierre bemerkt. Und +in der Tat sind die sogenannten »Reformen« Peters die größte Revolution, +der größte Umsturz, die Empörung, der Aufstand von oben, »der weiße +Terror«. Peter ist Tyrann und Rebell zu gleicher Zeit, Rebell im +Verhältnis zum Vergangenen, Tyrann im Verhältnis zum Zukünftigen, +Napoleon und Robespierre in einer Person. Und sein Umsturz ist nicht nur +politisch, sozial, sondern in noch viel größerem Maße sittlich, er ist +ein unerbittlicher, unbarmherziger, wenn auch unbewußter Bruch aller +kategorischen Imperative des Volksgewissens, ist die zügellose Umwertung +aller sittlichen Werte. Ich glaube, daß, wenn in den Annalen alle +menschlichen Verbrechen aufgezeichnet wären, man keines finden würde, +das das Gewissen, wenn nicht mehr empören, so doch mehr befangen machen +könnte, als die Ermordung des Zarewitsch Alexei. Ist sie doch nicht +wegen des fraglos Verbrecherischen furchtbar, sondern wegen der immerhin +möglichen _Gerechtigkeit_ und _Schuldlosigkeit_ des Sohnmörders; dieses +Verbrechen ist furchtbar dadurch, daß man sich darüber auf keine Weise +beruhigen kann, nachdem man zugegeben hat, daß er doch kein gewöhnlicher +Missetäter ist, ein »Verbrecher außerhalb des Gesetzes«. Eine so +rätselhafte Tragödie finden wir in Napoleons Leben nicht. Doch am +fruchtbarsten ist hierbei die Frage: wie aber, wenn Peter so handeln +_mußte_? wie, wenn er durch die Unterlassung dieser Tat das größte und +wahre Heiligtum seines Zarengewissens zerstört hätte? Tötete er denn den +Sohn um seinetwillen -- für sich selbst? Aber Peter konnte doch +tatsächlich nicht -- er verstand es einfach nicht -- sich von Rußland +unterscheiden, sich und Rußland nicht als eins fühlen: er empfand sich +als Rußland, liebte Rußland wie sich selbst, liebte es mehr als sich +selbst. Wer wagt zu sagen, daß er nicht tausendmal für Rußland gestorben +wäre? Er wollte Rußlands Bestes, »wollte das Gute den Menschen bringen«, +darum tötete er denn auch, darum »übertrat« er das Gesetz, trat er über +das Blut, da er glaubte, daß dieser Schritt »später durch +verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen wieder gut gemacht werden wird«. Er +»lud sich das Blutvergießen -- auf sein Gewissen«. + +Und da steht Peter -- wie Puschkin sagt -- »bis zum Knie im Blute«, +eigenhändig foltert und enthauptet er. Der Sohn des »Stillsten Zaren« +ist -- Henker auf dem Roten Felde[4]. Und in dem Augenblick ahmt er +niemandem nach, in dem Augenblick ordnet er sich keinerlei fremden +Einflüssen des Westens unter, in dem Augenblick ist er im höchsten Grade +russischer Zar, Nachfolger Iwans des Grausamem. Der Moskauer Zar-Henker +ist ebenso autochthon, wie der Zaardamer Zimmermann, der einfache +Arbeiter. Selbst seine ärgsten Feinde, die Abtrünnigen[5], fühlen doch, +wenn sie ihn auch den »Fremden«, den »Untergeschobenen« nennen, daß er +mit ihnen blutsverwandt ist. Und auch die Slawophilen hassen ihn als +Blutsverwandten, hassen ihn mit dem größten Bluthaß, denn sie fühlen, +daß er ihr eigen Fleisch und Blut ist, und was ihren Haß erzeugt, ist +dasselbe Blut, das in Puschkin seine ebenso starke Liebe zu Peter +erzeugt hat. Nein, nie noch hat es in der Weltgeschichte eine solche +Verirrung, eine solche Erschütterung des Menschengewissens gegeben, wie +sie Rußland in der Zeit der »Reformen Peters« erfahren hat. Wahrlich, +nicht nur bei den Raskolniken allein konnte darob der Gedanke an den +Antichrist entstehen! Es scheint, daß diese Erschütterung sich noch bis +auf den heutigen Tag nicht nur im russischen _Volke_, sondern auch in +unserer kultivierten Gesellschaft bemerkbar macht. Es scheint, daß der +sumpfige Grund des finnischen Moores immer noch unter dem Ehernen Reiter +schwankt. Wenn nicht heute, dann kommt morgen ein -- neuer Umsturz in +dieser »phantastischen Geschichte«, eine neue Überschwemmung, wie sie +Puschkin in seinem »Ehernen Reiter« geschildert ... + +Die Kraft der Wirkung ist gleich der Kraft der Gegenwirkung, dem Aufruhr +von oben antwortet der Aufruhr von unten, dem weißen Terror der rote. +Der russische Sozialismus oder der russische Terrorismus -- gleichfalls +eine »durch und durch Petersburger« Erscheinung, eine Erscheinung des +»Petersburger«, peterschen Zeitabschnitts -- ist einer der ewigen und +prophetischen Träume des »Giganten auf dem ehernen Pferde«, ist einer +der steilen Abhänge jenes »Abgrunds«, über dem er mit seinem Zügelruck +»Rußland sich aufbäumen macht«. Hier muß der »wilde Gedanke« des +Terrorismus durch die Berührung mit der »wilden« und phantastischen +Wirklichkeit noch fester Fuß fassen. Und das ist jener gespenstische +Nebel, der Nebel des Petersburger Tauwetters, der Nebel der Winde aus +dem »faulenden Westen«, mit dem zusammen die bereiften Granitblöcke sich +sofort erheben und wie Nebel verflattern und sich in nichts auflösen +werden ... + +»Es begann mit der Anschauung der Sozialisten,« sagt der Student +Rasumichin über die Lehre Raskolnikoffs vom Verbrechen -- diese Lehre, +aus der die ganze Tragödie entstanden ist. + +In Europa war der Sozialismus abstrakte, wissenschaftliche Anschauung, +oder private Anwendung dieser allgemeinen Anschauung, die durch die +geschichtlichen Lebensbedingungen der Kultur hervorgerufen worden +war. Erst in Rußland wurde der Sozialismus zur allgemeinen, +allesverschlingenden, philosophischen, metaphysischen (denn der äußerste +Materialismus ist bereits Metaphysik), teilweise sogar zur mystischen +Lehre vom Sinn des Lebens, dem Ziel und Zweck der Weltentwicklung -- +mystisch natürlich ohne Wollen und Wissen ihrer Verkündiger. Und +wiederum nur hier, in Rußland, in dem Rußland Petersburgs und Peters, +kommt der Sozialismus bis zu seinen letzten (seinen ersten Lehrsätzen in +bedeutendem Maße widersprechenden, mitunter dieselben unmittelbar +verneinenden) -- _anarchistischen_ Folgerungen. Anarchismus ist ein +furchtbares russisches Wort, ist die russische Antwort auf die Frage der +westeuropäischen Kultur. Das haben wir nicht von Europa entlehnt, das +haben wir Europa gegeben. Rußland hat hier zuerst, zum ersten Male das +ausgesprochen, was Europa nicht zu sagen wagte. Hierin hat sich jene +besondere Neigung, die mit religiöser Verblendung viel Gemeinsames hat, +die Neigung zu allem dialektisch Äußersten, Zügellosen, +Überschreitenden, selbst über den letzten »Strich« gehenden, die dem +russischen Geiste eigen ist, wieder einmal ausgesprochen. Und so ist es +selbstverständlich auch kein gewöhnlicher Zufall, daß diese unerhörte +Entwicklung dieser beiden anscheinend so entgegengesetzten und +unvereinbaren äußersten Pole -- die Idee der Selbstherrschaft und die +Idee der Herrschaftslosigkeit, der Monarchie und der Anarchie -- sich +gerade in dem Rußland Peters vollzogen hat. Sind sie doch beide aus +»einem Geiste« hervorgegangen, aus dem »stummen und tauben« Geiste, aus +dem Geiste des größten Selbstherrschers und des größten Rebellen der +Neuen Geschichte: sie sind die zwei steilen Abhänge, die zwei Ränder +immer derselben Kluft, desselben »Abgrundes«, über dem sich das Pferd +des Ehernen Reiters bäumt. In der Politik -- Anarchismus, in der +Sittlichkeit -- Nihilismus. Und auch hier, im Nihilismus, ist der +»letzte Punkt« erreicht; auch hier ist der »ganze historische Weg +zurückgelegt, es gibt nichts mehr, wohin man weitergehen könnte«. +Wiederum das russische Extrem, die äußerste, dialektisch-zügellose, +nichtwissenschaftliche Folgerung aus der westeuropäischen +wissenschaftlichen »Kritik der reinen Sittlichkeit«, die sich als +unerfüllbarer erwies, als die »Kritik der reinen Vernunft«, +die Folgerung aus den westeuropäischen, unvergleichlich +zaghafteren und gemäßigteren, weil mehr lebenskulturellen, mehr +geschichtlich-realistischen »Versuchen, sich auf der Erde ohne Gott +einzurichten« -- ohne himmlische wie auch ohne irdische Macht, -- die +Folgerung aus der, wie man meint, ausschließlich materialistischen und +mechanistischen Weltauffassung. + +Wenn Rasumichin recht hat, daß die Lehre Raskolnikoffs mit der +Anschauung der Sozialisten begonnen habe, so ist das natürlich nicht im +Sinne des westeuropäischen Sozialismus zu verstehen, sondern in einem +besonderen, russischen Sinne, im Sinne des Anarchismus und Nihilismus. + +»Nun, die Auffassung der Sozialisten ist ja bekannt,« fährt Rasumichin +fort, »das Verbrechen sei ein Protest gegen die Anormalitäten der +sozialen Einrichtung -- und nichts weiter, irgend welche anderen +Ursachen werden überhaupt nicht zugelassen -- und das sei alles!« +Raskolnikoff aber geht bereits hier in seinem Ausgangspunkte viel weiter +als die Sozialisten. Die Sozialisten sagen: der Protest -- die +Verneinung des Vorhandenen -- muß zusammen mit dem, gegen was er +gerichtet ist, verschwinden, die Verbrechen müssen in demselben +Verhältnis, wie die »ungerechte Einrichtung oder Einteilung der +Gesellschaft sich durch eine gerechte ersetzt«, seltener werden oder gar +gänzlich aufhören. Raskolnikoff aber faßt es anders auf: das Verbrechen +ist für ihn nicht nur Verneinung, Zerstörung des Alten, sondern auch +Bejahung, Schaffung von Neuem, die nicht mit zeitlichen, veränderlichen +Bedingungen der menschlichen Gesellschaft verbunden ist, sondern mit den +ewigen, unveränderlichen Gesetzen der Natur. »_Nach dem Naturgesetz_,« +sagt er zu Porphyri Petrowitsch, dem Untersuchungsrichter, indem er +seine Lehre auseinandersetzt, »zerfallen die Menschen im allgemeinen in +zwei Arten: in eine niedrigere Art, das sind die Gewöhnlichen, oder +sagen wir einfach das Material, das einzig zur Erzeugung von +Seinesgleichen dient, und in die eigentlichen Menschen, d. h. solche, +die die Gabe oder das Talent besitzen, in ihrer Mitte ein _neues Wort_ +zu sagen ... Die zur zweiten Abteilung gehörenden übertreten alle das +Gesetz, das sind die Umstürzler ... Und wenn ein solcher für seine Idee +selbst über Leichen, über Blut schreiten muß, so darf er -- meiner +Meinung nach -- innerlich, vor seinem Gewissen, sich die Erlaubnis +geben, meinetwegen auch Blut zu vergießen -- übrigens, je nach der Idee +und ihrem Umfange, das nicht zu vergessen.« -- »Wenn die Entdeckungen +eines Kepler oder Newton, sagen wir, infolge irgendwelcher Kombinationen +auf keine andere Weise den Menschen bekannt werden könnten, als durch +das Opfer von einem, zehn, hundert oder noch mehr Menschen, die der +Bekanntmachung der Entdeckung hinderlich wären oder sich als +unüberwindliches Hindernis auf ihren Weg gestellt hätten, so hätte +Newton das Recht und wäre sogar verpflichtet, diese zehn oder hundert +Menschen zu ... _beseitigen_, um seine Entdeckungen der ganzen Welt +kundtun zu können.« -- »Ferner ... alle Gesetzgeber oder Ordner der +Menschheit, angefangen von den ältesten, fortgefahren mit Lykurg, Solon, +Mahomet, Napoleon und so weiter (wie interessant, daß in dieser +Aufzählung nicht auch Peter genannt wird, wen aber, sollte man meinen, +müßte wohl Raskolnikoff der >durch und durch Petersburger< petrische +Typ, wohl nennen, wenn nicht Peter?) -- alle sind sie bis auf den +letzten Verbrecher, Übertreter schon allein durch den einen Umstand, daß +sie, indem sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft +heilig gehaltene und von den Vätern überkommene zerstörten, und weil sie +selbstverständlich auch vor dem Blutvergießen für ihr neues Wort nicht +zurückgeschreckt sind, wenn dieses Blut (das mitunter vollkommen +unschuldig war und heldenmütig für das alte Gesetz hingegeben wurde) +ihnen nur helfen konnte. Es ist wirklich auffallend, daß die meisten von +diesen Ordnern und Wohltätern der Menschheit vor allem furchtbare +Blutvergießer gewesen sind. Mit einem Wort, ich folgere daraus, daß +alle, nicht nur die ganz Großen, sondern die auch nur etwas aus dem +alten Geleise Heraustretenden, ich meine, wenn sie auch nur etwas Neues +-- mag es noch so klein sein -- zu sagen vermögen, ihrer Natur gemäß +unbedingt Verbrecher oder >Übertreter< sein müssen, versteht sich, mehr +oder weniger. Anders, d. h. ohne Übertretung, würde es ihnen nicht gut +möglich sein, aus dem alten Geleise herauszukommen, in ihm aber zu +bleiben, das können sie natürlich nicht, und zwar wiederum _ihrer Natur +gemäß_ nicht, und meiner Meinung nach sind sie sogar unmittelbar +verpflichtet, nicht sich darein zu fügen, nicht den anderen zu folgen.« + +Am auffallendsten ist hierbei die aufrichtige oder vorgetäuschte Ruhe, +die Selbstbeherrschung, mit der er seine Lehre wie irgend ein +abstraktes, mathematisches Axiom auseinandersetzt. Ein Mensch spricht +von Menschlichem, als wäre er selbst kein Mensch, sondern ein Wesen aus +einer anderen Welt, oder wie ein Naturforscher von einem Ameisenhaufen +oder Bienenstock spricht. Er untersucht nicht das, was sein sollte, +sondern das, was ist, nicht Gewünschtes, sondern Vorhandenes. Als gäbe +es zwischen der sittlichen und der religiösen Welt überhaupt keine +Verbindung, als gäbe es zwischen dem Gedanken an das Wohl der Menschen +und dem Gedanken an Gott keinerlei Beziehung, als hätte es diesen +Gedanken an Gott überhaupt nie im Menschengewissen gegeben! Aber man muß +Raskolnikoff Gerechtigkeit widerfahren lassen: seit Machiavelli hat kein +einziger von sittlichen und politischen Fragen, die doch die größten +Leidenschaften erregen, mit einer solchen Leidenschaftslosigkeit +gesprochen. Und selbst die Sprache des Petersburger Nihilisten erinnert +durch ihre schneidende Schärfe, Kälte und Klarheit der Dialektik, die +»scharf wie ein Rasiermesser« ist, an die Sprache des Sekretärs der +florentinischen Republik. + +Nur ein einziges Wort zum Schluß des Gespräches fällt aus dieser +zynischen Leidenschaftslosigkeit heraus und enthüllt zu gleicher Zeit +unter den abstrakten Gedanken eine noch viel größere Tiefe, als selbst +Raskolnikoff ahnt. + +»Nun, aber die wahrhaft Genialen,« unterbricht Rasumichin halb +ärgerlich, »diese, denen das Recht zu morden gegeben ist -- die müssen +dann also überhaupt nicht leiden, auch nicht einmal für vergossenes +Blut?« + +»Wozu hier das Wort >müssen<?« entgegnet Raskolnikoff. »Hier gibt es +weder Erlaubnis noch Verbot. Mögen sie doch leiden, wenn ihnen das Opfer +leid tut ... Leiden und Schmerz sind stets mit umfassender Erkenntnis +und einem tiefen Herzen verbunden. Ich glaube, die wahrhaft großen +Menschen müssen in der Welt eine _tiefe Schwermut_ empfinden,« fügte er +plötzlich wie in Gedanken versunken hinzu, _so daß es sogar aus dem Ton +der Unterhaltung herausfiel_. -- + +Auch auf dem Gesichte desjenigen, dem Raskolnikoff nachahmt, dem er auch +äußerlich ganz ebenso wie Puschkins Herrman ähnelt, -- auch auf dem +sonderbar unbeweglichen Gesichte Napoleons, in seinen Augen, die +scheinbar »in die Ferne, oder auf einen einzigen fernliegenden Punkt +gerichtet sind«, finden wir den Stempel dieser tiefen Schwermut, dieser +großen Trauer, -- kein Anzeichen von Reue oder Gewissensbissen, oder +Leiden, sondern gerade nur von schwermütiger Trauer: als hätte er das +erblickt, was Menschenaugen nicht sehen sollten, irgendein letztes +Geheimnis der Welt vielleicht, und seit der Zeit verläßt dieser Schatten +sein Antlitz nicht mehr, selbst nicht im blendendsten Lichte des Ruhmes +und Glückes. + +Ja, dieses sonderbare Wort fällt »aus dem Ton der Unterhaltung heraus«: +es mag ihm gleichsam im Versehen entschlüpft sein. Es ist ein +jenseitiges, fast religiöses Wort. Denn, wenn in den Fragen von Gut und +Böse alles so mathematisch klar und einfach ist, wenn das sittliche +Gesetz nur das Gesetz der »Natur«, der natürlichen Notwendigkeit, der +inneren Mechanik ist -- worüber trauert er dann, woher kommt dann dieser +Schatten, vielleicht nicht aus der göttlichen, aber jedenfalls auch +nicht der menschlichen Welt? Hat Raskolnikoff sich nicht versprochen, +verraten? Verrät uns nicht dieses eine Wort, daß seine ganze +wissenschaftliche Leidenschaftslosigkeit nur Äußerlichkeit, nur Membrane +ist -- übrigens ganz so wie auch die Leidenschaftslosigkeit +Machiavellis, der das Geheimnis seines »tiefen Herzens« ahnungslos +aufdeckt, sobald er nur auf die Zukunft Italiens zu sprechen kommt? Es +scheint, daß bei beiden unter der Leidenschaftslosigkeit eine -- große +Leidenschaft loht ... wie ein »Feuertrank in einem Becher von +Eiskristall«. + +Der Vorwurf, den Rasumichin den Sozialisten und teilweise auch seinem +Freunde Raskolnikoff macht -- hatte doch nach Rasumichins Meinung auch +bei ihm alles mit der »Anschauung der Sozialisten angefangen« -- dürfte +von diesem wohl kaum verdient sein: »Die Natur wird überhaupt nicht in +Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die wird als gar nicht +vorhanden angenommen! -- Darum lieben sie ja auch so instinktiv die +Geschichte nicht ... sie lieben die _lebendige_ Entwicklung des Lebens +nicht: wozu _lebendige Seele_! Die lebendige Seele verlangt Leben, die +lebendige Seele gehorcht nicht der Mechanik, die lebendige Seele ist +mißtrauisch, die lebendige Seele ist konservativ. Hier aber, wenn's auch +nach Aas riecht -- aus Kautschuk kann man's schon machen.« + +Der unerbittliche Aristokratismus, den Raskolnikoff zur Grundlage seiner +Theorie gemacht hat -- die Einteilung der Menschen in Herde und Helden, +in tatloses »Material«, in Sache, und in schöpferische Genies, die wie +Bildhauer aus diesem Material eine neue Form meißeln, ein neues +Angesicht der Geschichte -- ist vielleicht eine zu einseitige +Auffassung, sie ist vielleicht zu übertrieben und darum ertötend, +jedenfalls aber nicht tot, ist außerhalb des Lebens, aber darum nicht +etwa leblos. Wenn diese Lehre auch der »Mechanik« ähnelt, so ist sie +doch immerhin nicht »aus Kautschuk« gemacht, sondern aus dem härtesten +Stahl und, wie eben eine schneidende Klinge, tötet sie wohl, aber sie +prüft, erprobt, sie durchbohrt das lebendige Fleisch, den lebendigen +Geist der Geschichte. Es geht schwer an, einen solchen Beobachter der +menschlichen Natur, wie Machiavelli, zu verdächtigen, daß er die »Natur +überspringe, die Geschichte, die lebendige Entwicklung des Lebens nicht +liebe«. Der Sekretär der Republik Florenz am Hofe Cesare Borgias befand +sich im Mittelpunkt dieser »lebendigen Entwicklung«, im Strudel der +größten historischen Ereignisse, im Herzen der Renaissance. Machiavelli +spricht nur davon, was er tatsächlich von diesem im grenzenlosen Leben +und unbegrenzten Leidenschaften schlagenden Herzen erlauscht hat, nur +davon, was er der »Natur« insgeheim abgesehen, dieser Natur, die sich +gerade damals in ihrer furchtbaren Nacktheit nicht nur in den Schöpfern, +sondern auch in den Kritikern der Geschichte offenbarte. Und jedenfalls +kann man von dieser verführerischen Schimäre nicht sagen, daß es von ihr +wie »Aasgeruch« herüberwehe, eher aber schon »wie von frischvergossenem +Blute«, und wohl aus nichts weniger als »Kautschuk« dürfte sie gemacht +sein. Aus dem Leben ist sie hervorgegangen und ins Leben hineingegangen +-- und wenn auch wiederum wie schneidender Stahl. Indessen liegt der +sittlichen wie auch politischen Lehre Machiavellis vielleicht derselbe +oder gar ein noch schonungsloserer Aristokratismus zugrunde, als bei +Raskolnikoff. Ist es bei ihm nicht dieselbe Einteilung der Menschen in +»Material«, »Pöbel«, »ekelhaftes Gewürm« (wie Nietzsche es nennt) -- in +_vulgus_, das durch das Naturgesetz zum Gehorchen bestimmt ist, -- und +in Gebieter, in Herrscher, in Pfleglinge des Halbtiers, des Halbgotts, +des Zentauren Chiron, die gleich ihrem Lehrer die übermenschliche, +göttliche Natur mit der des »Tieres«, der _bestia_ in sich vereinen +müssen? -- ist es nicht dieselbe »Entbindung von der Blutschuld auf ihr +Gewissen«, die Erlaubnis, den »Wohltätern, den Ordnern der Menschheit« +gegeben, Blut zu vergießen? -- ist nicht die vermeintlich unvermeidliche +Vereinung von »Tugend« (_virtù_) und »Grausamkeit« (_ferocità _) in +ihnen? Nicht umsonst hat Nietzsche, der seine Einsamkeit in der +Weltliteratur fast krankhaft empfand und ihr solchen Wert beilegte, +Nietzsche, der so anspruchsvoll war im Anerkennen von Verwandten oder +Bundesgenossen, nicht umsonst hat er unter seinen wenigen Vorgängern +Machiavelli und Dostojewski (»diesen tiefen Menschen, den einzigen +Psychologen, bei dem ich etwas zu lernen hatte«) nebeneinandergestellt +-- letzteren natürlich nicht als bewußtes Dogma, sondern nur für die +künstlerische Darstellung solcher Helden des persönlichen Prinzips, wie +Iwan Karamasoff und Rodion Raskolnikoff. Nietzsche ist ja gleichfalls -- +und das wissen wir bereits aus der Erfahrung unseres eigenen Herzens und +Verstandes -- aus dem Leben hervorgegangen und so geht er auch wieder in +das Leben hinein. Was nun auch der Wert seiner Lehre sei, jedenfalls +sehen wir nur zu gut, daß man mit ihm nicht wie mit einer toten +Abstraktion, sondern wie mit einer tief lebendigen historischen Kraft, +gleichviel ob mit einer positiven oder negativen, in jedem Fall aber +lebendigen Erscheinung der »lebendigen Entwicklung« rechnen muß. + +Machiavellis »Principe«, Raskolnikoffs »Herrscher«, Nietzsches +»Übermensch« -- das sind wieder die emporführenden Stufen, die Stufen +eines besonderen, nicht ins Vergangene, sondern ins Zukünftige +gerichteten, zerstörend schöpferischen, zügellos aufrührerischen +Aristokratismus, der aufrührerischer als jegliche Demokratie ist, -- +eines Aristokratismus, der in der Politik wie in der Sittlichkeit allen +Wiedergeburten, die sich bis jetzt vollzogen haben, eigen ist. + +Wenn nun Raskolnikoff auch tatsächlich von der »Anschauung der +Sozialisten« ausgegangen ist, so ist er doch zu einem Schluß gekommen, +der ihrer Auffassung am entgegengesetztesten ist: Ungleichheit als +unwandelbares, in jeder menschlichen Gesellschaft verwirklichtes +»Naturgesetz«. Und diese Ungleichheit in ihrer Natur glättet sich nicht +etwa aus, im Gegenteil, sie vertieft sich noch proportional der +universalgeschichtlichen Entwicklung: die Menschheit hat sich gleichsam +in zwei Hälften zerspalten und schon gibt es keine Vereinigung für sie, +kein Zusammenwachsen mehr. »Der Mensch ist dem Menschen ein -- Tier« -- +oder Gott, in jedem Falle aber nicht Bruder, nicht Nächster, nicht +Gleicher ... nach dem furchtbaren Worte Nietzsches, daß zwischen dem +Menschen und dem Menschen eine größere Entfernung liegt, als zwischen +Mensch und Tier. + +Zu gleicher Zeit ersieht man daraus, wie die Idee der Anarchie in ihren +extremsten Folgeschlüssen sich unvermeidlich der Idee der Monarchie +nähert und sogar unmittelbar mit ihr in eins zusammenfließt: die letzte +Freiheit »jenseits von Gut und Böse«, die letzte Herrschaftslosigkeit +führt zur Einherrschaft, zur Selbstherrschaft des Genies -- zum Gebot +Platons: »es möge das Genie herrschen«. + +Übrigens macht Raskolnikoff in der ersten theoretischen Darlegung seiner +Gedanken dem Sozialismus eine Konzession; er sagte »Diese (die Menschen +der Masse) erhalten die Welt und vermehren sich; jene (die Helden) +bewegen die Welt und führen sie ihrem Ziele zu. Diese wie jene haben +also _vollständig dasselbe Recht zur Existenz_. Mit einem Wort, in +meinen Augen haben _alle das gleiche Recht_, und -- _vive la guerre +éternelle_{[1]} ... bis zum neuen Jerusalem, versteht sich!« + +»So glauben Sie immerhin doch an ein neues Jerusalem?« fragt Porphyri +Petrowitsch. + +»Ja, ich glaube daran.« + +Hätte diese Konzession für seine ganze Lehre in der Tat die Bedeutung, +die er selbst annimmt, so müßte die Teilung der Menschen in erhaltende, +fortsetzende, und in die Welt bewegende, nicht die Vorstellung von +Höheren und Niedrigeren, von Verächtlichen und Edlen hervorrufen. Beide +Teile würden dann auf gleicher Stufe stehen. Dann hätte sich +Raskolnikoff in diesen »Geringen hienieden« ein zwar anderer, aber doch +nicht geringerer Adel offenbart, als in den Großen -- ein anderer, aber +nicht geringerer Wert. Die Vorstellung von der »zitternden Kreatur« +(Nietzsches »ekelhaftem Gewürm«), vom Pöbel, würde durch die Vorstellung +des Volkes oder der »universalen Vereinigung der Menschen« ersetzt +werden. Beide Fähigkeiten -- wie die Erhaltung des Gleichgewichts, so +auch die Bewegung nach vorn, das Fleisch und der Geist der Menschheit -- +wären in seinen Augen in gleichem Maße heilig. Nicht Masse, wohl aber +echtes Volk zu sein, würde ihm nicht verächtlicher und nicht rühmlicher +erscheinen, als Held zu sein. Und so könnte man noch viele andere +frappierende, von ihm sicherlich nicht erwartete Folgerungen aus dieser +einen Konzession ziehen, die er ja doch nicht nur dem Sozialismus, +sondern auch der Lehre Christi macht. Z. B.: würde sich daraus nicht +ergeben, daß es folglich zwei Tafeln sittlicher Werte gibt, zwei +Gewissen, zwei Wahrheiten, die tatsächlich »gleichstark«, +»gleichberechtigt« sind? Hätte er dann nicht auch an den letzten Grenzen +dieser Zerspaltung die Möglichkeit der _Vereinigung_ erblickt, -- hätte +sich dann nicht auch der Vorhang vor dem wirklich »neuen«, längst nicht +mehr sozialistischen »Jerusalem« vor ihm erhoben? + +Aber das ist es ja: Raskolnikoff erkennt das »gleiche Recht beider +Hälften auf Existenz« nur mit dem Verstande an. Sein Herz verneint +dieses Recht mit einer Kraft, wie es bis jetzt noch niemals jemand +verneint hat, und er setzt zwischen ihnen eine größere Entfernung +voraus, als der alte Grieche zwischen dem Sklaven und dem Freien, als +der Inder zwischen Tschandala und Brahmane. Ja es scheint, daß es +überhaupt keine größere Entfernung, keine größere Kluft in der Welt +gibt, als es diese ist, die Raskolnikoff zwischen den zwei +Menschenklassen annimmt. Er kann keine genügend grausamen, hochmütigen, +zynischen Worte finden, um seine ganze Verachtung für die Nichthelden +auszudrücken. -- »Oh, wie verstehe ich den Propheten zu Pferde und mit +dem Schwert in der Hand: wenn Allah befiehlt, so hast du zu gehorchen, +zitternde Kreatur! Recht, wahrlich Recht hat der >Prophet<, wenn er +irgendwo mitten auf der Straße eine _gu--ute_ Batterie aufstellt und auf +Gerechte und Ungerechte feuern läßt, ohne sie auch nur eines Wortes der +Erklärung zu würdigen! Gehorche, zitternde Kreatur, und -- _laß dich +nicht gelüsten_, denn -- das kommt dir nicht zu!!!« -- Von welch einem +Rechte der Masse auf Existenz kann danach noch die Rede sein? Es sei +denn -- von dem Recht auf ewiges Zittern, ewiges Nichtsein vor dem +»Propheten«. Gibt es doch für Raskolnikoff kein größeres Entsetzen und +keinen größeren Ekel, als sich als Menschen, wie alle, zu fühlen. Er hat +ja auch nur deshalb den Mord begangen, um den Strich, der den Helden von +dem Nichthelden scheidet, zu überschreiten, um sich selbst zu beweisen, +daß er ein -- Mensch ist und nicht ein Ungeziefer, nicht eine »Laus«. -- +»Ich mußte damals unbedingt erfahren, ich mußte mich sobald als möglich +überzeugen, _ob ich ein Ungeziefer bin, wie alle, oder ein Mensch_? ... +Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder _habe ich das Recht_?« -- »Da +hasten sie alle hin und her durch die Straßen und ist doch ein jeder von +ihnen ein Schuft und Spitzbube allein schon seiner Natur gemäß, sogar +schlimmer als das -- ein Idiot! ... O, wie ich sie alle hasse!« In +seinem Herzen ist kein Körnchen von jener Liebe und Achtung vorhanden, +ja nicht einmal von jener Gerechtigkeit zu den »Fortsetzern«, den +»Erhaltern« der Menschheit, die er mit dem Verstande anerkennt. +Augenscheinlich besteht hier zwischen dem Lebensgefühl und dem +abstrakten Gedanken Raskolnikoffs irgendein klaffender Widerspruch. + +Die zweite Konzession, die er dem Sozialismus macht, ist die Anerkennung +des »Wohles der Menschheit« als höchstes bewußtes Ziel der Helden. Die +Helden sind, wie er sagt, »Ordner und Wohltäter der Menschheit«. Sie +übertreten das Gebot nicht nur _aus dem Grunde_, weil ihre Natur derart +beschaffen ist, sondern auch _zu dem Zweck_, nur das höhere Gebot zu +erfüllen. Sie zerstören das Bestehende im Namen eines besseren +Zukünftigen, im Namen des »neuen Jerusalem«. Sie opfern wenige für das +Glück vieler, die Minderheit der Mehrheit. Ihre Verbrechen sind nicht +nur natürlich, sondern auch vernünftig, denn verderblich sind sie nur +für einzelne, vorteilhaft aber für Millionen, und somit können sie sogar +durch die mathematische Berechnung gerechtfertigt werden: »läßt sich +denn nicht ein einziges kleines Verbrechen durch Tausende von guten +Taten wieder gut machen? Für ein Leben tausend Leben. Ein Tod und zum +Ersatz dafür hundert Leben -- das ist doch Arithmetik!« + +Aber auch der zweiten Konzession kann man keine größere Bedeutung +beilegen als der ersten; übrigens sieht er das zum Schluß auch selbst +ein und zerreißt dann endgültig die letzte Verbindung mit der +»Anschauung der Sozialisten«: -- »Weswegen schimpfte doch Rasumichin +vorhin über die Sozialisten? Das sind doch arbeitsame, handeltreibende +Leutchen, bemühen sich um das >allgemeine Glück< ... Nein, mir wird das +Leben nur einmal gegeben, und niemals werde ich es wieder haben! -- Ich +will nicht das >allgemeine Glück< abwarten. _Ich will auch selbst leben_ +-- oder sonst lieber überhaupt kein Leben! Nun was? Ich wollte nur nicht +an einer hungrigen Mutter vorübergehen und, in der Erwartung des +>allgemeinen Glücks<, in der Tasche meinen Rubel festhalten.« -- »Ich +bringe, wie man sagt, >einen Stein zum Bau des allgemeinen Glücks und so +kann mein Herz ruhig sein<. Haha! Warum habt ihr mich denn +durchgelassen? Ich lebe doch im ganzen nur einmal, ich will doch auch +...« Und er lacht, -- »zähneknirschend« -- über die mathematische +Berechnung des Vorteils, des menschlichen Wohles: »Unternehme es, +sozusagen, nicht im Interesse meines eigenen Fleisches, und der eigenen +Lust, sondern habe ein ungeheures, erhabenes Ziel im Auge, -- haha! ... +Beschloß jede nur mögliche Gerechtigkeit zu beobachten, Maß und Gewicht, +und Arithmetik. Von allen Läusen wählte ich die allerüberflüssigste aus, +und indem ich sie tötete, beschloß ich, genau nur soviel zu nehmen, +wieviel ich für den ersten Schritt brauchte, nicht mehr und nicht +weniger (und das übrige wäre dann nach dem Testament sowieso einem +Kloster zugefallen, -- haha! ...). O Erbärmlichkeit! ... O Gemeinheit! +...« Und bereits kurz vor der »Beichte« gesteht er Ssonja Marmeladoff: +»Die ganze Qual dieser _Schwätzerei_ habe ich ertragen, Ssonja, und da +wollte ich sie denn endlich von den Schultern wälzen: ich wollte ohne +Kasuistik erschlagen, versteh mich recht, Ssonja, _für mich wollte ich +erschlagen, für mich allein_! Darin wollte ich niemanden belügen, selbst +mich nicht! Nicht um meiner Mutter helfen zu können, habe ich erschlagen +-- Unsinn! Ich habe auch nicht erschlagen, um nach der Erlangung von +Mitteln und Macht ein Wohltäter der Menschheit zu werden -- Unsinn! Ich +habe einfach erschlagen, _für mich selbst habe ich erschlagen, nur für +mich allein_!« ... + +Hier geht in der Seele Raskolnikoffs etwas Furchtbares und Rätselhaftes +vor sich. Man sollte meinen, wenn er für andere, zum Wohle der Menschen +erschlagen hätte, dann wäre eine Rechtfertigung noch möglich: zwar ist +es, würde man sagen, ein schlechtes Mittel, aber dafür hat er ein edles +Ziel gehabt. Hat er es aber »für sich allein« getan, »für sein eigen +Fleisch und zur eigenen Lust«, dann gibt es hierfür keine Rechtfertigung +mehr, dann ist er ein gewöhnlicher Dieb und Mörder, ein einfacher +Missetäter, ein »Verbrecher außerhalb des Gesetzes«. Indessen ahnt +Raskolnikoff dunkel, daß es in diesem Falle doch nicht so ist: ja, er +hat für sich erschlagen, _für sich allein_, aber doch nicht für sein +Fleisch und seine Lust allein, sondern noch für etwas Höheres in sich, +für etwas Unzweifelhafteres und zu gleicher Zeit Uneigennützigeres, +_Ferneres_, als das Wohl des Nächsten, als das »allgemeine Glück«. +Natürlich ist auch »Egoismus« dabei, aber dieser Egoismus ist wiederum +von einer besonderen Art. Das Verbrechen wird vielleicht noch +furchtbarer, jedenfalls aber nicht einfacher, nicht roher, -- im +Gegenteil, hier erst beginnt seine Kompliziertheit, Verfeinerung und das +Verführerische an ihm. Raskolnikoffs von Qual und Leidenschaft +geschärfter Blick sieht bereits die ganze hoffnungslose Flachheit und +Erbärmlichkeit der sozialistischen »handelsmäßigen« Abwägungen, +Abmessungen des allgemeinen Nutzens. In diesem »für sich, für sich +allein« aber dämmert es weit, weit wie eine Ahnung von irgendeiner +unbekannten Tiefe der Berührung mit der Ordnung unermeßlich höherer, +allerschwerster, edelster Werte, als es alle sozialistischen Vorteile +und der ganze allgemeine Nutzen sind; er ist sich dessen noch nicht +bewußt, aber dunkel fühlt er schon, daß hierin -- wenn auch nicht die +Rechtfertigung, so doch immerhin irgendeine letzte Wahrheit ist, die +Befreiung, Reinigung von der ganzen »Kasuistik«, dem »Geschwätz und der +Lüge« vom neuen sozialistischen »Jerusalem«. Das also ist der Grund, +warum er sich mit einer so verzweifelten Hartnäckigkeit und Anspannung +aller Kräfte an dieses »für mich, für mich allein« klammert, als wolle +er seine Gedanken zu Ende führen, und dennoch, als könne, als wage er es +nicht. Hier ist alles noch -- gar zu dunkel, gar zu tief; grauenvoll ist +es für ihn, -- gerade durch die unerwartet sich aufdeckende Tiefe ist es +furchtbar. Vielleicht ist hier selbst die Rechtfertigung furchtbarer als +jede Verurteilung. Die lecke Barke des Sozialismus begann unter ihm zu +sinken, und da sieht er, wie ein Ertrinkender, als einzigen festen +Punkt, als einzigen unerschütterlichen Fels in den Wellen -- dieses »für +mich allein«, aber noch weiß er nicht, ob er an jenem nackten scharfen +Felsen endgültig zerschellen oder ob er sich auf ihn retten wird. Rodion +Raskolnikoff erfährt denn auch nicht, begreift noch nicht, daß er sich +nicht anders retten kann, als wenn er die Rechtfertigung durch die Liebe +zu sich selbst nicht nur zu einer sozialen, moralischen, philosophischen +Rechtfertigung macht, sondern auch zu einer _religiösen_. + + _Dmitri Mereschkowski._ + + + + + Vorbemerkung + + +»Rodion Raskolnikoff« ist als das erste der fünf großen Roman-Epen, die +Dostojewski geschrieben hat, im Jahre 1866 vollendet worden. Das Werk +hat im Russischen einen Titel, dessen Übertragung sich der Begriffswelt +»Schuld und Sühne« nähert. Dieser Titel ist von Dostojewski aus +nachweisbar ein Nottitel. Die Lösung des Problemes, die der Titel +andeutet, bringt das Werk gar nicht. Der geplante zweite Teil, auf den +sich der Titel bereits bezieht, ist nie geschrieben worden. Daher ist +das Werk hier mit demjenigen Namen genannt, den sein Inhalt verlangt und +an den sich das allgemeine und natürliche Empfinden längst gewöhnt hat: +mit dem Namen seines Helden, in dem die Gestalt des jungen russischen +Studenten und Ideologen ein für allemal Typ und beinahe Symbol geworden +ist. + + E. K. R. + + + + + Erster Teil + + + I. + +Anfangs Juli, es war eine außerordentlich heiße Zeit, trat ein junger +Mann gegen Abend aus seiner Kammer, die er in einem Hause der S.schen +Gasse bewohnte, auf die Straße hinaus und ging langsam, wie +unentschlossen, in der Richtung auf die K.sche Brücke. + +Er hatte glücklich eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe +vermieden. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dache des hohen +fünfstöckigen Hauses und glich eher einem Schrank, als einer Wohnung. +Seine Wirtin aber, von der er diese Kammer mit Mittagessen und Bedienung +gemietet hatte, wohnte eine Treppe tiefer in einer separaten Wohnung und +jedesmal, wenn er auf die Straße hinausging, mußte er unbedingt an der +Küche der Wirtin vorbeigehen, deren Tür fast immer sperrweit offen +stand. Und jedesmal fühlte der junge Mann beim Vorbeigehen eine +krankhafte und feige Empfindung, deren er sich schämte und bei der er +das Gesicht verzog. Er war bei der Wirtin stark verschuldet und +fürchtete sich, ihr zu begegnen. + +Nicht weil er so feige und scheu war, ganz im Gegenteil, aber seit +einiger Zeit war er in einem gereizten und überanstrengten Zustand, der +der Hypochondrie ähnelte. Er hatte sich so ganz und gar in sich selbst +vertieft und hatte sich so vollständig von allen abgeschlossen, daß er +sich sogar vor der gleichgültigsten Begegnung fürchtete, nicht bloß vor +der mit der Wirtin. Er war von Armut erdrückt; aber selbst diese +bedrängte Lage hatte in der letzten Zeit aufgehört auf ihm zu lasten. Er +hatte es ganz und gar aufgegeben, mit seiner Tagesarbeit sich zu +befassen, und hatte auch keine Lust dazu. Im Grunde genommen fürchtete +er sich freilich nicht vor tausend Wirtinnen, was die auch gegen ihn im +Schilde führen mochten. Aber auf der Treppe stehenbleiben, jeden Unsinn +über alltäglichen Kram, der ihn gar nicht interessierte, anhören, all +diese ewigen Mahnungen, seine Schulden zu bezahlen, die Drohungen, die +Klagen anhören und sich dann den Kopf nach Ausreden zerquälen, sich +entschuldigen und lügen zu müssen, -- nein, da war es schon besser, wie +eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und sich davonzumachen, ohne +von irgendeinem Menschen sich sehen zu lassen. + +Übrigens, dieses Mal setzte die Furcht vor einer Begegnung mit seiner +Gläubigerin ihn selbst in Erstaunen, als er auf die Straße hinaustrat. + +»Solch eine Sache will ich wagen ... und fürchte mich vor solchen +Kleinigkeiten!« dachte er über sich lächelnd. -- »Hm ... ja ... alles +liegt in den Händen eines Menschen und er läßt alles vorbeigehen, einzig +und allein aus Feigheit ... das ist ein Axiom ... Ich möchte wissen, was +die Menschen am meisten fürchten? Sie fürchten sich am meisten vor einem +neuen Schritt, vor einem neuen, eigenen Worte ... Ich schwatze übrigens +viel zu viel. Darum handle ich nicht, weil ich schwatze. Vielleicht ist +es aber auch so: ich schwatze darum, weil ich nicht handle. Und das +Schwatzen habe ich in diesem letzten Monat gelernt, indem ich ganze Tage +und Nächte in der Ecke lag und ... unnütz träumte. Warum gehe ich jetzt +fort? Bin ich denn dazu fähig? Soll _es_ denn Ernst werden? Natürlich +nicht. Bloß des Einfalls wegen spiegle ich mir selbst was vor. +Spielerei! Ja, natürlich ist es Spielerei.« + +Die Hitze auf der Straße war beängstigend; dazu die schwüle Luft, das +Gedränge, überall lagen Kalk, Ziegelsteine, standen Baugerüste, überall +war Staub und jener besondere Sommergestank, der jedem Petersburger +wohlbekannt ist, der nicht ein Landhäuschen mieten kann, -- dies alles +erschütterte die ohnedies schon angegriffenen Nerven des jungen Mannes +auf das unangenehmste. Der unerträgliche Geruch aus den Schenken, die in +diesem Stadtteile besonders zahlreich sind, und der Anblick Betrunkener, +denen man alle Augenblicke begegnete, -- trotz des Werktages, -- +vollendeten die widerwärtige und traurige Stimmung des Bildes. Ein +Ausdruck des tiefsten Abscheus huschte einen Augenblick über die feinen +Züge des jungen Mannes. Beiläufig gesagt, er war außergewöhnlich hübsch, +hatte schöne dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war fein und schlank und +von mehr als mittlerem guten Wuchse. Bald aber versank er in sein tiefes +Sinnen, oder richtiger gesagt, in Selbstvergessenheit, und ging weiter, +ohne seine Umgebung zu beachten, ohne den Wunsch, sie zu bemerken. Hin +und wieder murmelte er etwas vor sich hin, nach seiner Gewohnheit +Selbstgespräche zu halten, wie er es soeben sich selbst eingestanden +hatte. Dabei wurde er es sich bewußt, daß seine Gedanken sich zuweilen +verwirrten und daß er sehr schwach war -- es war ja der zweite Tag, daß +er fast nichts gegessen hatte. + +Er war so schlecht angezogen, daß mancher, auch der es gewöhnt war, sich +geschämt hätte, in solchen Lumpen am Tage auf die Straße zu gehen. +Freilich war dieses Viertel derart, daß man hier schwerlich jemand durch +seine Kleidung in Erstaunen setzen konnte. Die Nähe des Heumarktes, die +Überzahl gewisser Häuser und die Bevölkerung, die ausschließlich aus +Handarbeitern besteht und in diesen Straßen und Gassen zusammengepfercht +haust, belebten genugsam das allgemeine Bild mit solchen Gestalten, daß +es sonderbar gewesen wäre, wenn eine solche Figur aufgefallen wäre. Und +in der Seele des jungen Mannes hatte sich soviel böse Verachtung +angesammelt, daß er trotz seines zuweilen sehr jugendlichen +Selbstgefühls sich fast nicht mehr seiner Lumpen schämte. Anders +freilich war es, wenn er zufällig Bekannten oder früheren Kameraden +begegnete, denen er naturgemäß gern aus dem Wege ging. Indessen, als ein +Betrunkener, den man von ungefähr in diesem Augenblicke in einem großen +Wagen, mit einem großen Lastpferd davor, durch die Straße fuhr, +plötzlich im Vorbeifahren ihm zurief: »He, du da mit dem deutschen +Hute!« -- und mit der Hand auf ihn wies, -- blieb der junge Mann stehen +und faßte krampfhaft nach seinem Hute. Der Hut war hoch und rund, in +einem guten Laden gekauft, aber völlig abgetragen und verschossen, +voller Löcher und Flecken, ohne Rand und auf der einen Seite häßlich +eingedrückt. Nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, das eher +Schrecken war, hatte ihn erfaßt. + +»Ich wußte es!« murmelte er verlegen. »Ich dachte es mir! Das ist das +allerschlimmste! So eine Dummheit, irgendeine sinnlose Kleinigkeit kann +das ganze Vorhaben vernichten! Ja, der Hut fällt zu sehr auf ... Er ist +lächerlich, darum fällt er auf ... Zu meinen Lumpen brauche ich +unbedingt eine Mütze und wenn es auch eine alte Kappe ist, aber nicht +dies Ungetüm. Niemand trägt solch einen Hut, von ferne schon sieht man +ihn, kann sich ihn merken ... und die Hauptsache, man wird ihn sich für +später merken, und ein Indizium ist da. Unauffällig muß man sein ... Die +Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten sind die Hauptsache! ... Diese +Kleinigkeiten verderben stets alles ...« + +Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von +seiner Haustür waren -- genau, siebenhundertunddreißig. Er hatte sie +einmal gezählt, als er stark ins Träumen gekommen war. Damals glaubte er +diesen Träumen selbst noch nicht, und sie reizten ihn bloß durch ihre +abscheuliche, aber verführerische Verwegenheit. Jetzt, nach einem Monat, +schaute er es anders an und hatte sich unwillkürlich daran gewöhnt, den +»abscheulichen« Traum -- ungeachtet aller stets wachen Selbstvorwürfe +über seine eigene Kraftlosigkeit und Unentschlossenheit, -- als ein +Vorhaben anzusehen, obwohl er sich immer noch nicht recht traute. Jetzt +ging er _eine Probe_ seines Vorhabens zu machen, und mit jedem Schritt +wuchs stärker und stärker seine Aufregung. + +Mit erstarrendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich einem +riesigen Hause, das mit der einen Seite auf den Kanal hinausging, mit +der anderen an der R.schen Straße lag. Dieses Haus hatte lauter kleine +Wohnungen und war von allerhand Handarbeitern bewohnt, -- von +Schneidern, Schlossern, Köchinnen, von Deutschen, von Mädchen, die ihre +eigene Wohnung besaßen, kleinen Beamten und dergleichen. Durch die +beiden Tore und die beiden Höfe des Hauses huschten in einem fort aus- +und eingehende Menschen. Hier waren drei oder vier Hausknechte +angestellt. Der junge Mann war sehr zufrieden, als er keinem von ihnen +begegnete, und schlüpfte unbemerkt rechts vom Tore die Treppe hinauf. +Die Treppe war dunkel und schmal, -- es war eine Hintertreppe, -- er +kannte das alles schon, hatte es genau studiert, und die ganze Umgebung +gefiel ihm; in solcher Dunkelheit ist ein neugieriger Blick +ungefährlich. + +»Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie wird es dann sein, wenn ich +wirklich an _die Tat_ selbst gehe?« dachte er unwillkürlich, während er +zum vierten Stockwerk hinaufstieg. Hier versperrten ihm Packträger, +verabschiedete Soldaten, die aus einer Wohnung Möbel hinaustrugen, den +Weg. Er wußte von früher, daß in dieser Wohnung ein Deutscher, ein +Beamter, mit seiner Familie lebte. + +»Dieser Deutsche zieht jetzt also aus, also bleibt im vierten Stock für +einige Zeit nur die Wohnung der Alten bewohnt. Das ist gut ... auf jeden +Fall ...« dachte er und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke +schlug schwach an, als wäre sie aus Blech. In solchen kleinen Wohnungen +findet man immer solche Glocken. Er hatte den Ton dieser Glocke +vergessen, und jetzt schien ihn dieser eigenartige Klang plötzlich an +etwas zu erinnern und eine klare Vorstellung von etwas zu geben ... Er +zuckte zusammen, seine Nerven waren sehr herunter. Kurz darauf öffnete +sich die Türe zu einem winzigen Spalt -- die Bewohnerin blickte hindurch +mit sichtbarem Mißtrauen, und man sah bloß ihre kleinen, dunkel +leuchtenden Augen. Als sie aber auf dem Flure viele Menschen erblickte, +faßte sie sich ein Herz und öffnete die Tür ganz. Der junge Mann trat +über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Wand in zwei +Teile geteilt war, dahinter befand sich eine kleine Küche. Die Alte +stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war eine kleine +vertrocknete alte Frau, etwa sechzig Jahre alt, mit stechenden und +bösen, kleinen Augen, einer kleinen, spitzen Nase und ohne +Kopfbedeckung. Ihr hellblondes, leicht ergrautes Haar war mit Öl +eingefettet. Um den dünnen und langen Hals, der dem Beine eines Huhnes +glich, war ein Flanellappen gewickelt und über die Schultern hing, trotz +der Hitze, eine abgetragene und gelbgewordene Pelzjacke. Die Alte +hustete und räusperte sich fortwährend. Wahrscheinlich hatte der junge +Mann ihr einen sonderbaren Blick zugeworfen, denn plötzlich tauchte in +ihren Augen wieder das frühere Mißtrauen auf. + +»Ich heiße Raskolnikoff, bin Student, war bei Ihnen vor einem Monat,« +beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen, sich +erinnernd, daß man hier freundlich sein müsse. + +»Ich erinnere mich, Väterchen, ich erinnere mich gut, daß Sie da waren,« +sagte die Alte, ohne ihre fragenden Augen von seinem Gesichte +abzuwenden. + +»Also ... ich komme wieder in einer ähnlichen Angelegenheit ...« fuhr +Raskolnikoff fort, ein wenig verwirrt und erstaunt über das Mißtrauen +der Alten. + +»Vielleicht ist sie immer so, ich habe es damals bloß nicht gemerkt,« +dachte er mit unangenehmer Empfindung. + +Die Alte schwieg eine Weile, wie in Gedanken vertieft, trat dann zur +Seite, zeigte auf die Tür zu der Stube und sagte, indem sie den Besucher +vorbei ließ: + +»Treten Sie näher, Väterchen!« + +Das kleine Zimmer, in das der junge Mann eintrat, hatte eine gelbe +Tapete, Geranien standen dort und die Fenster umrahmten +Mousselingardinen. In diesem Augenblick wurde es von der untergehenden +Sonne hell erleuchtet. + +»Die Sonne wird auch _dann_ ebenso leuchten! ...« durchfuhr es plötzlich +Raskolnikoff, und mit einem schnellen Blick überflog er alles in dem +Zimmer, um nach Möglichkeit die Lage zu studieren und sie sich zu +merken. In dem Zimmer aber gab es nichts Besonderes. Die Möbel aus +gelbem Holze, alle sehr alt, bestanden aus einem Sofa mit +ungeheuerlicher, gebogener hölzerner Rückenlehne, einem runden Tisch vor +dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem kleinen Spiegel an der Wand +zwischen den Fenstern, aus Stühlen an den Wänden und einigen billigen +Bildern in gelben Rahmen, die deutsche Damen mit Vögeln in den Händen +darstellten, -- das war die ganze Ausstattung. In der Ecke brannte vor +einem kleinen Heiligenbilde ein Lämpchen. Alles war sehr sauber, -- die +Möbel und die Diele waren blank poliert; alles glänzte. »Das ist +Lisawetas Arbeit,« dachte der junge Mann. Kein Stäubchen konnte man in +der ganzen Wohnung finden. »Bei bösen und alten Witwen findet man so +eine Sauberkeit,« dachte Raskolnikoff weiter und warf einen neugierigen +Seitenblick auf den Vorhang aus Kattun vor der Tür zu dem zweiten +kleinen Zimmer, in dem das Bett und die Kommode der Alten standen, +dahinein hatte er noch nicht geschaut. Die ganze Wohnung bestand aus +diesen zwei Zimmern. + +»Was wünschen Sie?« fragte die kleine Alte scharf, als sie ihm in das +Zimmer gefolgt war, und stellte sich wieder gerade vor ihm hin, um ihm +ins Gesicht sehen zu können. + +»Ich habe etwas zu verpfänden,« und er zog eine alte, flache, silberne +Uhr aus der Tasche. Auf der Rückseite war ein Globus eingraviert. Die +Kette war aus Stahl. + +»Die Frist für das früher Versetzte ist schon um. Vorgestern ist der +Monat abgelaufen.« + +»Ich will Ihnen die Zinsen noch für einen Monat bezahlen; warten Sie +noch ein wenig.« + +»Das ist mein guter Wille, Väterchen, zu warten oder Ihr Ding sofort zu +verkaufen.« + +»Wieviel geben Sie für die Uhr, Aljona Iwanowna?« + +»Immer kommen Sie mit Kleinigkeiten, Väterchen, sie ist ja fast nichts +wert. Für den Ring habe ich Ihnen voriges Mal zwei Rubel gegeben, und +man kann ihn bei jedem Juwelier neu für anderthalb Rubel kaufen.« + +»Geben Sie mir für die Uhr vier Rubel, ich werde sie einlösen. Sie hat +meinem Vater gehört. Ich erhalte bald Geld.« + +»Ich will Ihnen anderthalb Rubel dafür geben und die Zinsen abziehen, +wenn Sie damit einverstanden sind.« + +»Anderthalb Rubel!« rief der junge Mann aus. + +»Wie Sie wünschen.« + +Und die Alte reichte ihm die Uhr. Der junge Mann nahm sie; er war so +böse, daß er schon fortlaufen wollte, aber er besann sich, daß er sonst +nirgends hingeben konnte, und daß er noch aus einem anderen Grunde +gekommen war. + +»Geben Sie das Geld!« sagte er grob. + +Die Alte fuhr in die Tasche nach den Schlüsseln und ging hinter den +Vorhang in das andere Zimmer. Als der junge Mann allein zurückblieb, +lauschte er voll Neugier und überlegte. Man hörte, wie die Alte die +Kommode aufschloß. »Wahrscheinlich ist es die obere Schublade,« dachte +er. »Die Schlüssel trägt sie in der rechten Tasche ... Alle sind sie an +einem Stahlring ... Und da ist ein Schlüssel, größer als die anderen, +dreimal so groß, mit zackigem Barte; er ist selbstverständlich nicht von +der Kommode ... Also, muß es noch eine Schatulle geben oder eine kleine +Truhe ... Das ist zu beachten. Truhen haben immer solche Schlüssel ... +Aber, wie gemein ist dies alles ...« Da kam die Alte zurück. + +»Hier haben Sie das Geld, Väterchen. Den Zins zu zehn Kopeken pro Rubel +und Monat gerechnet, bekomme ich von Ihnen für anderthalb Rubel und für +einen Monat im voraus fünfzehn Kopeken. Außerdem erhalte ich von Ihnen +für die zwei früheren Rubel nach derselben Berechnung weitere zwanzig +Kopeken im voraus. Zusammen also fünfunddreißig Kopeken. Sie erhalten +für Ihre Uhr einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Da haben Sie's.« + +»Wie? Jetzt macht es bloß einen Rubel und fünfzehn Kopeken?« + +»Ganz richtig.« + +Der junge Mann stritt nicht weiter und nahm das Geld. Er blickte die +Alte an und zögerte zu gehen, als wolle er noch irgend etwas sagen oder +tun, ohne selber zu wissen, was er wolle ... + +»Ich werde Ihnen, Aljona Iwanowna, in diesen Tagen vielleicht noch eine +Sache bringen ... ein silbernes ... gutes ... Zigarettenetui ... sobald +ich es von einem Freunde zurückerhalte ...« + +»Nun, dann wollen wir darüber reden, Väterchen.« + +»Leben Sie wohl ... Sie sitzen immer allein zu Hause. Ihre Schwester ist +nicht da?« fragte er möglichst ungezwungen, während er in das Vorzimmer +ging. + +»Was geht Sie die an, Väterchen?« + +»Nichts Besonderes. Ich fragte bloß so. Sie denken gleich ... Leben Sie +wohl, Aljona Iwanowna!« + +Raskolnikoff schritt völlig verwirrt hinaus. Und seine Verwirrung +verstärkte sich immer mehr und mehr. Während er die Treppe hinabstieg, +blieb er sogar einige Mal stehen, als hätte ihn plötzlich etwas +übermannt. Schließlich, schon auf der Straße, rief er aus: + +»Oh, Gott! ... Wie abscheulich ist dies alles! Und werde ich es +tatsächlich, tatsächlich ... nein, das ist ja Unsinn, ein unmöglicher +Gedanke!« fügte er entschlossen hinzu. »Wie konnte mir bloß so etwas +fürchterliches in den Sinn kommen! Und doch, zu welchem Schmutz ist mein +Herz fähig! Die Hauptsache bleibt, -- es ist schmutzig, niederträchtig, +gemein, abscheulich ... Und ich habe einen ganzen Monat ...« + +Er konnte weder durch Worte noch durch Ausrufe seine Erregung +ausdrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Abscheus, das sein Herz schon +bedrückte und verwirrte, als er zu der Alten ging, erreichte nun solch +einen Umfang und äußerte sich in einer Stärke, daß er nicht wußte, wohin +er vor seiner Qual sollte. Er ging auf der Straße wie ein Betrunkener, +ohne die Vorübergehenden zu bemerken, stieß mit ihnen zusammen und kam +erst in der nächsten Straße zu einiger Besinnung. Er schaute um sich und +ward gewahr, daß er neben einer Schenke stand, zu der von der Straße aus +eine Treppe in das Kellergeschoß führte. Soeben kamen zwei Betrunkene +heraus, stützten sich gegenseitig und stiegen schimpfend die Treppe +hinauf. Ohne lange nachzudenken, sprang Raskolnikoff eilig hinab. Er war +noch nie in einer Schenke gewesen, jetzt aber schwindelte ihn und ein +brennender Durst quälte ihn. Er wollte kaltes Bier trinken, um so mehr, +als er seine plötzliche Schwäche dem Umstande zuschrieb, daß er nichts +im Magen hatte. Er ließ sich in einer dunkeln und schmutzigen Ecke an +einem schmierigen Tische nieder, verlangte Bier und trank gierig das +erste Glas aus. Sofort wurde es ihm leichter, und seine Gedanken wurden +klarer. »Das alles ist Unsinn,« sagte er voll Hoffnung. »Nichts braucht +mich aus der Fassung zu bringen. Es ist bloß physische Zerrüttung. Ein +Glas Bier, ein Stück Zwieback, -- und im Nu ist der Verstand da, die +Gedanken klar und die Absichten im Lot! Pfui, wie ist dies alles +erbärmlich! ...« + +Aber trotz des verächtlichen Ausspeiens sah er schon heiter aus, als +hätte er sich plötzlich einer schrecklichen Last entledigt, und blickte +die Anwesenden freundlich an. Aber selbst in diesem Augenblicke überkam +ihn die leise Ahnung, daß diese Empfänglichkeit für das Bessere auch +krankhaft sei. + +In der Schenke waren um diese Stunde wenige Menschen. Außer den zwei +Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte gleich darauf +eine ganze Gesellschaft, etwa fünf Männer und ein Mädchen, mit einer +Ziehharmonika die Schenke verlassen. Darauf war es still und freier +geworden. Es waren übrig geblieben: ein Angetrunkener, der aber nicht zu +stark berauscht war; er saß hinter einer Flasche Bier, dem Aussehen nach +ein Kleinbürger; sein Kamerad, ein dicker übergroßer Mann, in einem +dicken Mantel, mit grauem Bart, stark berauscht, duselte auf einer Bank; +ab und zu begann er plötzlich, wie im Schlafe, mit den Fingern zu +schnippen, wobei er die Arme ausbreitete, hin und wieder hüpfte er mit +dem Oberkörper, ohne sich von der Bank zu erheben, sang dazu irgendeinen +Unsinn und versuchte sich auf Verse wie folgende zu besinnen: + + »Ein ganzes Jahr hab' ich mein Weib geliebt, gehätschelt, + Ein gan--zes Jahr hab' ich mein Weib ge--liebt, ge--hät--schelt ...« + +Oder er erwachte plötzlich und sang: + + »Längs der Podjatscheskoi bin ich gegangen, + Hab' mein früheres Weib gefunden ...« + +Aber niemand nahm Anteil an seinem Glück; sein schweigender Kamerad sah +diese Ausbrüche sogar feindselig und mißtrauisch an. Es war noch ein +Mann da, dem Aussehen nach ein verabschiedeter Beamter. Er saß allein +vor seiner Flasche, trank hin und wieder einen Schluck und blickte um +sich. Auch er schien in einer gewissen Aufregung zu sein. + + + II. + +Raskolnikoff war an Menschenmengen nicht gewöhnt und wie gesagt, mied er +besondere in der letzten Zeit jegliche Gesellschaft. Jetzt aber zog ihn +plötzlich etwas zu den Menschen hin. Es ging in ihm etwas vor, +anscheinend etwas Neues, und gleichzeitig machte sich ein starker Drang +nach Menschen bemerkbar. Er war so müde von dieser einen Monat schon +währenden bohrenden Qual und düsteren Aufregung, daß er wenigstens für +einen Augenblick in einer anderen Welt, ganz gleichgültig in welcher, -- +aufatmen wollte, und so blieb er jetzt trotz des Schmutzes dieser +Umgebung mit Vergnügen in der Schenke ... + +Der Besitzer des Lokals hielt sich in einem anderen Zimmer auf, kam aber +öfters in das Schenkzimmer; er mußte dabei ein paar Stufen hinabsteigen, +und es zeigten sich zuerst seine eleganten Schmierstiefel mit breitem +roten Rande an den Schäften. Er stak in einem faltigen Mantel und in +einer fürchterlich verschmierten schwarzen Atlasweste, war ohne Halstuch +und sein ganzes Gesicht schien, gleich einem eisernen Schlosse, mit Öl +eingefettet zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein Junge von vierzehn +Jahren; es war noch ein anderer, ein jüngerer, da, der die Gäste +bediente, wenn etwas verlangt wurde. Auf dem Tische lagen Gurken, in +Scheiben geschnitten, schwarze Zwiebacke und in kleine Stücke zerteilter +Fisch; dies alles roch sehr schlecht. In dem Raume war es so dumpf, daß +es unerträglich war, darinnen zu sitzen und alles war von +Branntweingeruch so durchdrungen, daß man von dieser Luft allein in fünf +Minuten berauscht werden konnte. -- Es kommt vor, daß wir sogar völlig +unbekannten Menschen begegnen, für die wir uns vom ersten Augenblick an, +ehe wir noch ein Wort mit ihnen getauscht haben, zu interessieren +beginnen. Einen ähnlichen Eindruck hatte auf Raskolnikoff der Gast +gemacht, der einem verabschiedeten Beamten glich und abseits an einem +Tische saß. Raskolnikoff erinnerte sich später mehrmals dieses ersten +Eindruckes und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er blickte +ununterbrochen den »Beamten« an, sicher auch darum, weil der ebenso +hartnäckig zu ihm herüberschaute; man merkte, daß er sehr gern ein +Gespräch angeknüpft hätte. Die übrigen Gäste, den Besitzer nicht +ausgenommen, übersah der »Beamte« gewohnheitsmäßig und voll Langeweile, +und zugleich mit einem Ausdrucke von hochmütiger Geringschätzung, wie +Menschen von niedriger Stellung und Bildung, mit denen er nichts gemein +habe. Es war ein Mann, über fünfzig Jahre, von mittlerem Wuchse und +kräftigem Bau, mit ergrautem Haar und einer großen Glatze, mit einer vom +Trinken gedunsenen, gelben oder vielmehr grünlichen Gesicht und +geschwollenen Augenlidern, unter denen winzige aber lebhafte, gerötete +Augen hervorstachen. Etwas Sonderbares war jedoch an ihm; in seinen +Augen leuchtete eine gewisse Begeisterung, vielleicht lag auch Verstand +und Klugheit in ihnen, -- aber gleichzeitig schimmerte es drinnen wie +Irrsinn. Er war mit einem alten völlig heruntergerissenen schwarzen +Frack mit losen Knöpfen bekleidet. Ein einziger Knopf saß noch +einigermaßen fest, und mit ihm knöpfte er ihn zu, da er offenbar die +gesellschaftlichen Formen nicht vernachlässigen wollte. Unter der +Nankingweste zeigte sich ein ganz zerknülltes, beschmutztes und +vertropftes Vorhemd. Das Gesicht war nach Beamtenart rasiert, aber vor +längerer Zeit schon, so daß bläuliche Stoppeln hervorstanden. Selbst in +seinen Bewegungen lag etwas Solides, Beamtenartiges. Aber er war in +ständiger Unruhe, fuhr sich durch die Haare, stemmte die zerrissenen +Ellenbogen zuweilen auf den begossenen und klebrigen Tisch und stützte, +wie in schwerem Gram, mit beiden Händen den Kopf. Zuletzt faßte er +Raskolnikoff fest ins Auge und sagte laut und energisch: + +»Darf ich es wagen, mein verehrter Herr, mich mit einem anständigen +Gespräch an Sie zu wenden? Denn obgleich Ihr Äußeres nicht viel vermuten +läßt, unterscheidet meine Erfahrung in Ihnen doch einen gebildeten und +ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe stets Bildung geachtet, +die mit Herz und Gefühl verbunden ist, und außerdem bin ich im Range +eines Titularrates. Marmeladoff -- so ist mein Name, Titularrat. Darf +ich erfahren, ob Sie im Staatsdienste gewesen sind?« + +»Nein, ich studiere ...« antwortete der junge Mann, erstaunt über den +sonderbaren, verschnörkelten Ton der Anrede und auch darüber, daß man +sich so direkt an ihn wandte. Trotz des Wunsches vor kurzem noch, in +irgendeine Fühlung mit Menschen zu kommen, empfand er plötzlich bei dem +ersten tatsächlich an ihn gerichteten Worte, seine gewöhnliche, +peinliche und gereizte Abscheu vor jedem fremden Menschen, der sich ihm +zu nähern versuchte. + +»Sie sind ein Student oder gewesener Student!« fuhr der Beamte fort. +»Ich dachte es mir gleich. Das macht die Erfahrung, mein Herr, die lange +Erfahrung!« und selbstgefällig berührte er die Stirn mit dem Finger. -- +»Sie waren Student, haben gelehrten Studien obgelegen! Gestatten Sie +aber ...« + +Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Gläschen und +setzte sich dem jungen Manne schräg gegenüber. Er war berauscht, sprach +aber rasch und geläufig, hin und wieder blieb er ein wenig stecken und +zog die Sätze in die Länge. Mit einer gewissen Gier hatte er sich auf +Raskolnikoff gestürzt, als hätte auch er einen ganzen Monat mit niemand +gesprochen. + +»Verehrter Herr!« begann er fast feierlich, »Armut ist kein Laster, das +ist wahr. Ich weiß, daß der Trunk auch keine Tugend ist, und das ist +noch wahrer. Aber Bettelarmut, mein Herr, bettelarm zu sein ist ein +Laster, ja. In der Armut bewahrt man noch die Anständigkeit der +angeborenen Gefühle, wenn man aber bettelarm ist -- nie und nimmer. Wenn +man bettelarm ist, so wird man nicht mal mit einem Stocke herausgejagt, +sondern mit einem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt, +damit es beleidigender sein soll; und das ist gerecht, denn wenn ich +bettelarm bin, so bin ich selbst, als erster, bereit, mich zu +beleidigen. Daher auch das Trinken! Mein Herr, vor einem Monat hat Herr +Lebesjätnikoff meine Gattin verprügelt, und meine Gattin ist etwas +Besseres als ich! Verstehen Sie? Gestatten Sie mir eine Frage, so, aus +reiner Neugier, -- haben Sie schon auf der Newa, in den Heubarken +geschlafen?« + +»Nein, das habe ich noch nicht,« antwortete Raskolnikoff. »Was ist das?« + +»Nun, ich komme von dort, schlafe schon die fünfte Nacht in den Barken +...« + +Er goß sich ein Glas ein, trank es leer und versank in Gedanken. Man sah +tatsächlich an seinen Kleidern und in den Haaren hie und da Heuhalme. Es +war leicht möglich, daß er sich fünf Tage weder ausgekleidet noch +gewaschen hatte. Am schmutzigsten waren seine fetten, roten Hände mit +schwarzen Fingernägeln. + +Sein Gespräch schien allgemeine, wenn auch etwas flaue Aufmerksamkeit +erregt zu haben. Die Knaben hinter dem Schenktische begannen zu kichern. +Der Wirt war, wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um den +»Kauz« zu hören; er setzte sich abseits und gähnte faul, aber würdevoll. +Marmeladoff war offenbar hier längst bekannt. Auch die Neigung für +gesuchte Ausdrücke hatte er wahrscheinlich durch die Gewohnheit, +Wirtschaftsunterhaltungen mit allerhand Unbekannten anzuknüpfen, +ausgebildet. Diese Gewohnheit wird bei manchen Trinkern zum Bedürfnis +und besonders bei denen, die zu Hause streng behandelt werden. Darum +versuchen sie in Gesellschaft von Trinkern sich stets eine +Rechtfertigung und wenn möglich sogar Achtung der anderen zu +verschaffen. + +»Komischer Kauz!« sagte laut der Wirt. »Warum arbeitest du nicht, warum +bist du nicht im Dienst, wenn du Beamter bist?« + +»Warum ich nicht im Dienste bin, mein Herr?« sagte Marmeladoff, sich +ausschließlich an Raskolnikoff wendend, als hätte der ihm die Frage +vorgelegt. -- »Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn das Herz +nicht weh, daß ich unnütz herumlungere? Als Herr Lebesjätnikoff vor +einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte und ich berauscht +dalag, habe ich da nicht gelitten? Erlauben Sie, junger Mann, ist es +Ihnen passiert, ... hm ... nun, daß Sie aussichtslos jemanden baten, +Ihnen Geld zu leihen?« + +»Das ist mir passiert ... das heißt, wie meinen Sie -- aussichtslos?« + +»Das heißt völlig aussichtslos, wenn man schon im voraus weiß, daß +nichts daraus wird. Sagen wir, Sie wissen zum Beispiel vorher und +zweifellos, daß dieser Mann, dieser wohlgesinnte und äußerst nützliche +Bürger Ihnen um keinen Preis Geld geben wird, denn -- ich frage Sie -- +warum soll er es tun? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde. +Etwa aus Mitleid? Herr Lebesjätnikoff aber, der neue Gedanken und Ideen +mit Interesse verfolgt, hat vor kurzem erklärt, daß in unserer Zeit +Mitleid sogar von der Wissenschaft verboten sei, und daß man in England, +woher die politische Ökonomie kommt, schon danach handle. Warum also -- +frage ich Sie -- sollte er geben? Und sehen Sie, obwohl Sie im voraus +wissen, daß er nicht geben wird, machen Sie sich doch auf den Weg und +...« + +»Warum geht man denn hin?« sagte Raskolnikoff. + +»Wenn es aber niemanden mehr gibt, wenn man nirgendwo anders hingehen +kann! Es müßte doch so sein, daß jeder Mensch irgendwo hingehen könnte. +Denn es kommen Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß! Als meine +einzige Tochter zum erstenmal mit dem gelben Schein[6] ging, ging ich +auch ... (meine Tochter lebt nämlich auf den gelben Schein) ...« fügte +er hinzu und blickte mit einiger Unruhe den jungen Mann an. »Hat nichts +zu sagen, mein Herr, hat nichts zu sagen!« beeilte er sich, sofort und +scheinbar ruhig zu erklären, als die beiden Knaben hinter dem +Schenktische in Lachen ausbrachen und auch der Wirt lächelte. »Hat +nichts zu sagen! Durch dieses Tuscheln laß ich mich nicht stören, denn +es ist längst bekannt, und alles Verborgene wird offenbar, und nicht mit +Verachtung, sondern mit Demut ertrage ich es. Mögen sie! Mögen sie! +>_Ecce homo!_< Erlauben Sie, junger Mann, können Sie vielleicht ... Aber +nein, man muß sich stärken und deutlicher ausdrücken: nicht _können_ +Sie, sondern _wagen Sie_, indem Sie mich dabei ansehen, zu behaupten, +daß ich kein Schwein bin?« + +Der junge Mann antwortete nicht. + +»Nun,« fuhr der Redner gesetzter und sogar noch würdevoller fort, +nachdem er gewartet hatte, bis das Kichern in dem Zimmer aufhörte, »nun +gut, ich mag ein Schwein sein, sie aber ist eine Dame. Ich sehe aus wie +ein Vieh, Katerina Iwanowna, meine Gattin, aber ist eine gebildete +Person und die Tochter eines Stabsoffiziers. Mag ich, mag ich ein Schuft +sein, sie aber ist hochherzig und ist durch Erziehung voll edler +Gefühle. Indessen aber ... oh, wenn sie mit mir Mitleid hätte! Mein +Herr, verehrter Herr, es müßte doch so sein, daß jeder Mensch wenigstens +eine Stelle habe, wo er Mitleid fände! Katerina Iwanowna ist wohl eine +großmütige Dame, aber ungerecht ... Und obwohl ich verstehe, daß sie +mich an den Haaren zerrt, aus keinem anderen Grunde als aus Mitleid des +Herzens -- denn ich wiederhole es, ohne mich zu schämen, sie zerrt mich +an den Haaren, junger Mann,« bestätigte er mit verstärkter Würde, als er +wieder Kichern vernahm. »Aber mein Gott, was würde geschehen, wenn sie +wenigstens ein einziges Mal ... Aber nein! Nein! Das alles ist umsonst, +und es lohnt sich nicht, davon zu sprechen! Lohnt sich nicht zu +sprechen! ... Denn mehr als einmal war das Gewünschte dagewesen, und +mehr als einmal hatte man mit mir Mitleid gehabt, aber ... meine Natur +ist schon so, ich bin ein geborenes Vieh!« + +»Und ob!« bemerkte der Wirt gähnend. + +Marmeladoff schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch. + +»So ist meine Natur! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, ich habe sogar +ihre Strümpfe vertrunken! Nicht die Stiefel, denn das würde noch in der +Ordnung der Dinge liegen, sondern die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich +vertrunken! Ihr Tuch aus Ziegenwolle habe ich vertrunken, man hat es ihr +einst geschenkt, es gehörte ihr, nicht mir; wir leben in einem kalten +Zimmer und sie hat sich in diesem Winter erkältet und begann zu husten, +sogar Blut kam. Wir haben noch drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna +ist vom frühen Morgen bis in die Nacht bei der Arbeit; sie scheuert und +wäscht, auch die Kinder wäscht sie, denn sie ist von Kindheit auf an +Reinlichkeit gewöhnt, aber sie hat eine schwache Brust und neigt zur +Schwindsucht, und ich fühle es! Fühle ich es denn nicht? Und je mehr ich +trinke, um so stärker fühle ich. Darum trinke ich auch, weil ich in +diesem Tranke Mitleid und Gefühl suche ... Ich trinke, weil ich doppelt +leiden will!« + +Und er neigte wie in Verzweiflung seinen Kopf auf den Tisch. + +»Junger Mann,« fuhr er fort und hob wieder den Kopf, »in Ihrem Gesichte +lese ich etwas wie Kummer. Als Sie hereintraten, habe ich es gesehen, +und darum habe ich mich auch sofort an Sie gewandt. Denn, indem ich +Ihnen die Geschichte meines Lebens erzählte, will ich mich nicht an den +Schandpfahl vor diesen Tagdieben stellen, die übrigens alles wissen, +sondern ich suche einen fühlenden und gebildeten Menschen. Sie sollen +wissen, -- meine Gattin ist in einem adligen Gouvernementspensionat +erzogen und hat bei der Schlußprüfung vor dem Gouverneur und anderen +Persönlichkeiten mit dem Schal getanzt, wofür sie eine goldene Medaille +und ein Ehrenzeugnis erhielt. Die Medaille ... nun die Medaille haben +wir verkauft ... schon lange ... hm ... das Ehrenzeugnis liegt noch in +ihrem Kasten, und sie hat es vor kurzem unserer Wirtin gezeigt. Obwohl +sie mit der Wirtin ständig, ununterbrochen Streitigkeiten hat, wollte +sie doch vor jemand sich rühmen und von vergangenen glücklichen Tagen +erzählen. Und ich verurteile sie nicht, ich verurteile nicht, denn das +allein ist nur in ihrer Erinnerung geblieben, alles übrige ist zu Staub +geworden. Ja, ja, sie ist eine hitzige, stolze und unbeugsame Dame. Sie +wäscht selbst den Fußboden, ißt Schwarzbrot, aber Mißachtung duldet sie +nicht. Darum wollte sie auch nicht die Grobheit des Herrn Lebesjätnikoff +dulden, und als Herr Lebesjätnikoff sie verprügelte, da legte sie sich +zu Bett -- weniger der Schläge, als des Schimpfes wegen. Ich habe sie +als Witwe geheiratet, mit drei ganz kleinen Kindern. Ihren ersten Mann, +einen Infanterieoffizier, heiratete sie aus Liebe und war aus dem +Elternhause mit ihm geflohen. Sie liebte ihren Mann grenzenlos, er fing +aber an Karten zu spielen, kam vors Gericht und starb. Er hat sie oft +geschlagen in den letzten Jahren, und obwohl sie sich nichts von ihm +gefallen ließ, wie ich es bestimmt und aus Schriftstücken weiß, -- +erinnert sie sich doch seiner heute noch mit Tränen und hält ihn mir als +Muster vor, und ich freue mich, ich freue mich, weil sie sich wenigstens +in der Phantasie als einstmals glücklich fühlt ... Nach seinem Tode +blieb sie mit drei kleinen Kindern in einem abgelegenen und +weltvergessenen Kreise, wo ich mich auch damals befand, und in solch +hoffnungsloser Armut, daß ich sie nicht beschreiben kann, obwohl ich +vieles und allerhand gesehen habe. Ihre Verwandten hatten sich alle von +ihr losgesagt. Ja und sie war so stolz, zu stolz ... Und da bot ich, +mein Herr, auch ein Witwer mit einer vierzehnjährigen Tochter von meiner +ersten Frau, ihr meine Hand an, denn ich konnte solch eine Qual nicht +mit ansehen. Sie können danach beurteilen, wie stark ihre Not war, daß +sie, gebildet, gut erzogen und aus angesehener Familie, bereit war, mich +zu heiraten. Sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend +-- heiratete sie mich doch! Denn sie konnte ja nirgendwo hin. Verstehen +Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man nirgendwo mehr hin +kann? Nein! Das können Sie noch nicht verstehen ... Ein ganzes Jahr +erfüllte ich meine Pflicht treu und redlich und rührte das da nicht an +(er wies auf die Branntweinflasche), denn ich habe Gefühl. Aber auch +damit konnte ich sie nicht zufrieden stellen; ich verlor meine Stelle +und nicht eines Vergehens, sondern einer Änderung im Etat wegen, und nun +wandte ich mich dem zu! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir +nach langen Irrfahrten und vielfach großer Not endlich in dieser +prächtigen und mit unzähligen Denkmälern geschmückten Residenz +eintrafen. Ich fand hier eine Stelle ... Ich fand und verlor sie wieder. +Verstehn Sie? Diesmal verlor ich die Stelle aus eigener Schuld, denn +meine Neigung brach durch ... Jetzt wohnen wir in einem Winkel bei der +Wirtin Amalie Fedorowna Lippewechsel, wovon wir aber leben und womit wir +bezahlen -- das weiß ich nicht. Außer uns leben noch viele dort ... Ein +entsetzliches Drunter und Drüber ... hm ... ja ... Indessen wurde mein +Töchterchen aus der ersten Ehe erwachsen, und was sie, mein Töchterchen, +von ihrer Stiefmutter zu erdulden hatte, als sie heranwuchs, darüber +schweige ich. Obwohl Katerina Iwanowna von großmütigen Gefühlen +durchdrungen ist, so ist sie doch eine hitzige und gereizte Dame und +schneidet einem schnell das Wort ab ... Ja! Nun, es lohnt sich nicht, +dessen zu gedenken! Eine Erziehung hat Ssonja, wie Sie sich denken +können, nicht erhalten. Ich habe versucht, etwa vor vier Jahren, +Geographie und Weltgeschichte mit ihr durchzunehmen, aber da ich selbst +nicht ganz sattelfest war und keine anständigen Bücher besaß, denn die +Bücher, die wir hatten ... hm ... na, diese Bücher sind nicht mehr da +... So endigte auch damit der ganze Unterricht. Wir blieben bei Cyrus +von Persien stehen. Später, als sie reifer und älter wurde, las sie +einige Bücher romanhaften Inhalts, ja und vor kurzem erhielt sie von +Herrn Lebesjätnikoff ein Buch -- Physiologie von Lewis -- kennen Sie es? +Sie las es mit großem Interesse und teilte uns auch einige Abschnitte +daraus mit, -- das ist ihr ganzes Wissen. Jetzt wende ich mich an Sie, +mein Herr, mit einer persönlichen Frage, so von mir aus, -- wieviel +kann, nach Ihrer Meinung, ein armes, ehrliches, junges Mädchen durch +ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie wird kaum fünfzehn Kopeken pro Tag +verdienen, mein Herr, wenn sie ehrlich ist und keine besonderen Talente +hat, und da muß sie, ohne einen Augenblick zu ruhen, ununterbrochen +arbeiten! Und dabei hat der Staatsrat Iwan Iwanowitsch Klopstock, -- +haben Sie von ihm gehört? -- bis heute nicht bloß das Geld für Nähen +eines halben Dutzend Hemden aus holländischem Leinen nicht bezahlt, +sondern hat sie sogar unter Kränkungen hinausgejagt, hat mit den Füßen +getrampelt und sie in unanständiger Weise beschimpft, unter dem +Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und dazu schief genäht sei. +Und die Kinder sitzen hungrig zu Hause ... Katerina Iwanowna geht +händeringend im Zimmer herum und auf ihren Wangen zeigen sich rote +Flecke, -- was bei dieser Krankheit stets vorkommt. Du lebst bei uns, +Müßiggängerin, sagte sie, -- ißt, trinkst und genießt die Wärme, -- was +gibt es aber denn zu essen und zu trinken, wenn die Kinder nicht mal +eine Brotrinde drei Tage lang zu sehen bekommen! Ich lag damals +berauscht da ... nun, was ist da viel zu sagen, ich lag berauscht da und +hörte, wie meine Ssonja sagt -- sie ist so still und ihr Stimmchen so +sanft ... hellblond ist sie, das Gesichtchen ist immer bleich und mager +-- also, sie sagt: >Wie, Katerina Iwanowna, soll ich denn auf so was +eingehen?< Darja Franzowna, ein böses und der Polizei gut bekanntes +Weib, hatte sich schon dreimal durch unsere Wirtin erkundigt. >Was +sonst,< antwortet Katerina Iwanowna spöttisch. >Wozu es hüten? So ein +Kleinod!< Klagen Sie sie aber nicht an, mein Herr, klagen Sie nicht an, +verurteilen Sie nicht! Es war gesagt nicht bei gesundem Verstande, +sondern in erregter Stimmung, in Krankheit und beim Anblick der +weinenden Kinder, die nichts gegessen hatten, und es war eher um zu +kränken, als im genauen Sinne des Wortes gesagt ... Denn Katerina +Iwanowna hat nun einmal so einen Charakter, und wenn die Kinder anfangen +zu weinen, und sei es aus Hunger, schlägt sie sie sofort. Und da sah ich +-- es war gegen sechs Uhr -- wie Ssonjetschka aufstand, das Tüchlein +umnahm, ihr Pelzchen anzog und die Wohnung verließ, in der neunten +Stunde aber kam sie zurück. Sie kam, ging direkt zu Katerina Iwanowna +und legte schweigend auf den Tisch dreißig Rubel hin. Kein einziges +Wörtchen hat sie gesagt, nicht mal hingeblickt; sie nahm unser großes +grünes Umlegetuch -- wir besitzen so ein gemeinsames Umlegetuch -- +bedeckte damit den Kopf und das Gesicht ganz und gar und legte sich auf +das Bett mit dem Gesichte zur Wand; bloß die schmalen Schultern und der +ganze Körper bebten ... Ich aber lag, wie vorher, in demselben Zustande +... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, ohne +ein Wort zu sagen, an das Bettchen von Ssonjetschka herantrat und den +ganzen Abend auf den Knien zu ihren Füßen lag, ihr die Füße küßte, nicht +aufstehen wollte, und wie sie beide schließlich umschlungen einschliefen +... beide ... beide zusammen ... ja ... und ich lag berauscht da.« + +Marmeladoff schwieg, als versage ihm die Stimme. Dann schenkte er sich +plötzlich ein, trank schnell aus und krächzte. + +»Seit der Zeit, mein Herr,« -- fuhr er nach kurzem Schweigen fort, -- +»seit der Zeit ist meine Tochter Ssofja Ssemenowna gezwungen worden -- +dank einem ungünstigen Zufalle und dank der Denunziation +schlechtgesinnter Menschen, wobei Darja Franzowna sich besonders +hervorgetan hat, weil man ihr angeblich die ihr gebührende Achtung +versagt habe, -- den gelben Schein zu nehmen und hat infolgedessen bei +uns nicht länger bleiben können. Denn unsere Wirtin, Amalie Fedorowna +wollte es nicht zulassen, -- vorher aber hat sie Darja Franzowna, dazu +verholfen -- und auch Herr Lebesjätnikoff ... hm ... Ja, sehen Sie, die +Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna passierte ja wegen Ssonja. +Zuerst stellte er Ssonjetschka selbst nach, mit einem Mal aber wurde er +empfindlich. >Wie kann ich, als ein gebildeter Mann -- sagte er -- mit +so einer in derselben Wohnung leben?< Katerina Iwanowna nahm es nicht +stillschweigend hin, trat für Ssonja ein ... nun, und da passierte es +... Ssonjetschka besucht uns nun meist in der Dämmerung, hilft Katerina +Iwanowna und gibt nach Möglichkeit Geld ... Wohnen aber tut sie bei dem +Schneider Kapernaumoff; sie hat bei ihm eine Stube gemietet. +Kapernaumoff ist lahm und stottert, und seine sehr zahlreiche Familie +stottert auch. Auch seine Frau stottert ... Sie leben alle in einem +Zimmer. Ssonja aber hat ihr eigenes mit einer Scherwand ... Hm ... ja +... Es sind furchtbar arme Leute und dazu stottern sie noch ... ja ... +Ich stand also am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob die Hände gen +Himmel und ging zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie +Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? ... Nun, dann +kennen Sie nicht einen Gottesmenschen! Er ist wie Wachs ... Wachs vor +dem Angesichte Gottes; er schmilzt wie Wachs ... Er vergoß sogar Tränen, +nachdem er geruht hat alles anzuhören. >Nun, -- sagte er -- einmal hast +du meine Erwartung getäuscht, Marmeladoff ... Ich gebe dir noch einmal +eine Stelle, -- auf meine persönliche Verantwortung hin,< -- so sprach +er -- >denk daran -- sagte er -- und geh jetzt!< Ich küßte den Staub zu +seinen Füßen -- in Gedanken nur, denn in Wirklichkeit hätte er es nicht +gestattet, als Würdenträger und als ein Mann der neuen Staatsideen und +Bildung. Ich kehrte nach Hause zurück, und als ich mitteilte, daß ich in +den Staatsdienst aufgenommen wäre und Gehalt erhalten würde, -- +Herrgott, was geschah da ...« + +Marmeladoff hielt von neuem in großer Erregung inne. In diesem +Augenblick drang von der Straße eine Schar von Trunkenbolden herein, die +schon bezecht waren, und am Eingange ertönten die Klänge eines +Leierkastens und die gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das +ein Gassenlied sang. Es wurde lärmend. Der Wirt und die Knaben bedienten +die Neuangekommenen. Marmeladoff setzte seine Erzählung fort, ohne die +Eingetretenen zu beachten. Er schien sehr schwach geworden zu sein, aber +je stärker der Branntwein auf ihn wirkte, um so redseliger wurde er. Die +Erinnerung an den kürzlichen Erfolg und die Aufnahme in den Dienst +schien ihn zu beleben und spiegelte sich sogar auf seinem Gesichte +gleich einem frohen Schimmer wieder. Raskolnikoff hörte ihm aufmerksam +zu. + +»Das geschah, mein Herr, vor fünf Wochen. Ja ... Kaum hatten sie beide, +Katerina Iwanowna und Ssonjetschka es erfahren, da schien ich -- oh +Gott! -- ins Himmelreich geraten zu sein. Früher lag ich da wie ein Vieh +und hörte bloß Schimpfen! Nun aber gingen sie auf den Fußspitzen, die +Kinder wurden angehalten ruhig zu sein. >Ssemjon Sacharytsch ist müde +vom Dienste, ruht sich aus ... pst!< Ehe ich in den Dienst mußte, bekam +ich Kaffee; Sahne wurde gekocht. Sie verschafften wirkliche Sahne, hören +Sie! Und woher sie elf Rubel und fünfzig Kopeken zu einer anständigen +Equipierung zusammengekratzt haben, begreife ich bis jetzt noch nicht. +Stiefel, ein prachtvolles Kalikohemd, einen Uniformrock -- alles haben +sie in ausgezeichnetem Zustande für elf Rubel und fünfzig Kopeken +aufgebracht. Den ersten Tag kam ich früh aus dem Dienste und was sehe +ich, -- Katerina Iwanowna wartet mit zwei Speisen auf -- Suppe und +Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir vorher nicht mal einen Begriff +hatten. Sie hat eigentlich keine Kleider ... wirklich gar keine, aber +nun war sie angezogen, als wollte sie einen Besuch machen; sie hatte +sich geschmückt, und im Grunde genommen war nichts Besonderes da, aber +sie hatte es verstanden, aus nichts alles zu schaffen, -- hatte ihr Haar +geordnet, einen reinen Kragen, Manschetten angelegt und hatte aus sich +einen ganz anderen Menschen gemacht, sah jünger und hübscher aus. +Ssonjetschka, mein Täubchen, hatte nur mit Geld geholfen, denn es gehe +jetzt nicht an, sagte sie, daß sie uns oft besuchte, höchstens in der +Dämmerung, damit niemand es sehe. Hören Sie, hören Sie? Nach dem Essen +legte ich mich ein wenig hin -- wie meinen Sie, was geschah da, -- +Katerina Iwanowna konnte es doch nicht über sich bringen, und lud unsere +Wirtin, Amalie Fedorowna, trotzdem sie sich vor einer Woche mit ihr +gehörig gezankt hatte, nun zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden saßen +sie und flüsterten fortwährend. >Ssemjon Sacharytsch -- erzählte +Katerina Iwanowna -- ist jetzt im Staatsdienste und erhält Gehalt; er +erschien bei Seiner Exzellenz, und Seine Exzellenz kam selbst heraus, +ließ alle anderen warten, nahm Ssemjon Sacharytsch an der Hand und +führte ihn in sein Zimmer!< -- Hören Sie, hören Sie! -- >Ich erinnere +mich selbstverständlich Ihrer Verdienste, Ssemjon Sacharytsch -- sagte +er -- und obwohl Sie diese leichtsinnige Schwäche haben, -- da Sie es +mir aber versprechen und es bei uns außerdem ohne Sie nicht gut gegangen +ist< -- (Hören Sie, hören Sie!) -- >So verlasse ich mich jetzt auf Ihr +Ehrenwort< -- sagte er -- das heißt, ich muß Ihnen sagen, sie hatte sich +das alles ausgedacht, nicht aus Geschwätzigkeit und auch nicht um damit +zu prahlen. Nein, sie glaubt selbst daran, ergötzt sich an ihrer eigenen +Phantasie, bei Gott! Und ich verurteile es nicht, nein, ich verurteile +es nicht, nein, ich verurteile es nicht! ... Als ich nun, vor sechs +Tagen, mein erstes Gehalt -- dreiundzwanzig Rubel vierzig Kopeken ihr +vollzählig abgab, nannte sie mich ihr Püppchen. >So ein Püppchen bist +du!< -- sagte sie. Und unter vier Augen hat sie es gesagt, verstehen +Sie? Nun, bin ich denn etwa schön, und was bin ich für ein Gatte? Sie +hat mich in die Wange gekniffen und >so ein Püppchen< gesagt.« + +Marmeladoff hielt inne, wollte lächeln, plötzlich aber zitterte sein +Kinn. Er beherrschte sich. Diese Schenke, das verkommene Aussehen, die +fünf Nächte auf den Heubarken, die Branntweinflasche und dazu nun diese +krankhafte Liebe zu Frau und Familie verwirrten den Erzähler. +Raskolnikoff hörte ihm gespannt zu, jedoch mit einem peinvollen +Empfinden. Er ärgerte sich, daß er hierher gekommen war. + +»Mein Herr, verehrter Herr!« -- rief Marmeladoff aus, nachdem er sich +völlig beherrscht hatte -- »Oh, mein Herr, vielleicht erscheint Ihnen +das alles lächerlich, wie den anderen, und ich belästige Sie bloß mit +dem Kram und all diesen kleinlichen Einzelheiten meines häuslichen +Lebens, -- nun, für mich aber ist es nicht lächerlich! Denn ich kann +dies alles fühlen ... Und diesen himmlischen Tag meines Lebens, wie auch +den Abend verbrachte ich in flüchtigen Träumereien, -- wie ich alles +einrichten, den Kindern Kleidung verschaffen, ihr die Ruhe geben und +meine einzige Tochter aus der Schande in den Schoß der Familie +zurückbringen werde ... Und viel mehr, viel anderes noch ... Es war ja +verzeihlich, mein Herr. Nun, mein Herr -- (Marmeladoff fuhr plötzlich +auf, erhob den Kopf und blickte seinem Zuhörer ins Gesicht) -- nun, am +andern Tage nach all diesen Träumen, heute sind es genau fünf Tage her, +-- entwandt ich gegen Abend durch einen listigen Betrug, wie ein Dieb in +der Nacht, Katerina Iwanowna den Schlüssel zu ihrem Kasten, nahm den +Rest von dem heimgebrachten Gehalt, -- wieviel es war, weiß ich nicht +mehr, -- und nun sehen Sie mich an, seht Ihr alle mich an. Den fünften +Tag bin ich von Hause weg, man sucht mich, und der Dienst ist aus, der +Uniformrock liegt in einer Schenke bei der Ägyptischen Brücke und an +seiner Stelle habe ich diese Kleidung erhalten ... und alles ist nun +aus!« + +Marmeladoff schlug sich mit der Faust an die Stirn, preßte die Zähne +zusammen, schloß die Augen und stützte sich schwer mit den Ellbogen auf +den Tisch. Nach einem Moment aber veränderte sich plötzlich sein +Gesicht, er blickte mit geheuchelter Verschmitztheit und gespielter +Frechheit Raskolnikoff an, lachte und sagte: »Und heute war ich bei +Ssonja, habe sie gebeten mir Geld für einen Schnaps zu geben! +He--he--he!« ... »Hat sie dir wirklich gegeben?« -- rief jemand von den +Neuangekommenen, rief es und lachte aus vollem Halse. + +»Diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft,« -- sagte Marmeladoff, +sich ausschließlich an Raskolnikoff wendend. -- »Dreißig Kopeken gab sie +mir, mit ihren eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, ... +ich habe es selbst gesehen ... Sie hat nichts, nichts gesagt, hat mich +bloß schweigend angesehen ... So grämt und weint man nicht auf Erden +über Menschen ... sondern dort oben ... und keinen Vorwurf, keinen +einzigen Vorwurf ... Und es tut einem mehr weh, wenn man keinen Vorwurf +hört! ... Dreißig Kopeken, ja. Und sie braucht sie selbst jetzt, ah? Wie +meinen Sie, mein lieber Herr! Sie muß ja doch jetzt auf Sauberkeit +achten. Diese Sauberkeit, diese besondere Sauberkeit kostet Geld, +verstehen Sie? Verstehen Sie es? Nun, und dann muß sie hin und wieder +Pomade oder so was kaufen, es geht ja nicht ohne dem; steife Unterröcke +muß sie haben. Stiefel, hübsche Stiefel müssen da sein, um das Füßchen +zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen muß. Verstehen Sie, verstehen +Sie, mein Herr, was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Nun, und ich, der +leibliche Vater, nahm ihr diese dreißig Kopeken zu einem Schnaps! Und +ich trinke hier! Habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer soll denn mit +so einem, wie ich, Mitleid haben? Ah? Tue ich Ihnen jetzt leid oder +nicht, mein Herr? Sagen Sie, mein Herr, tue ich Ihnen leid oder nicht? +He--he--he--he!« + +Er wollte sich einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war +leer. + +»Warum soll man auch mit dir Mitleid haben?« -- rief der Wirt, der sich +in ihrer Nähe befand. + +Starkes Lachen erscholl und Schimpfworte wurden laut. Alle lachten, die +Marmeladoff zugehört und auch die, welche nicht zugehört hatten, und +schimpften ohne Grund, allein schon beim Anblick der Person des +verabschiedeten Beamten. + +»Mit mir Mitleid haben! Mitleid haben!« -- rief Marmeladoff plötzlich +laut und erhob sich mit ausgestreckter Hand, sich gebärdend, als hätte +er bloß auf diese Worte gewartet. -- »Warum Mitleid mit mir haben, sagst +du? Ja! Es gibt nichts, weswegen man mich bemitleiden kann. Man muß mich +kreuzigen, mich ans Kreuz nageln und nicht Mitleid haben! Kreuzige, +kreuzige, Richter und nachdem du gekreuzigt hast, habe Mitleid. Und da +will ich selbst zur Kreuzigung zu dir kommen, denn ich suche nicht +Fröhlichkeit, sondern Kummer und Tränen! ... Meinst du, du Krämer, daß +diese Flasche mir zur Freude war? Kummer, Kummer suchte ich auf ihrem +Boden, Kummer und Tränen, und ich habe sie gefunden und habe von ihnen +gekostet. Mitleid aber mit uns wird der haben, der mit allen Mitleid +hat, und der alles und alle verstanden hat, Er, der einzige; er ist auch +der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: >Wo ist die +Tochter, die sich der bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und den +fremden kleinen Kindern geopfert hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem +irdischen Vater, dem lasterhaften Trunkenbold, Mitleid hatte, ohne sich +vor seiner Tierheit zu erschrecken?< Und er wird sagen, -- >komm! Ich +habe dir schon einmal vergeben ... Habe dir einmal vergeben ... Vergeben +sind dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebt hast ...< +Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben; ich weiß es, daß +er ihr vergeben wird ... Ich habe es, als ich jetzt bei ihr war, im +Herzen gefühlt! ... Und er wird allen gerecht sein und wird vergeben, +wie den guten, so auch den bösen, wie den weisen, so auch den +einfältigen ... Und wenn er mit allen schon zu Ende sein wird, da wird +er auch zu uns sprechen -- >kommet auch ihr< -- wird er sagen >kommt ihr +Betrunkenen, kommt ihr Schwächlinge, kommt ihr Sündigen!< Und wir alle +werden hervortreten, ohne uns zu schämen, und werden dastehn. Er aber +wird sagen: >Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres, ihr viehischen +Gesichter, ihr -- kommt auch ihr!< Und die Weisen und die Klugen werden +ausrufen: >Herr! Warum nimmst du sie auf?< Und er wird sagen -- >Ich +nehme sie auf, ihr Weisen. Ich nehme sie auf, ihr Klugen, weil sich kein +einziger von ihnen für dessen würdig hielt ...< Und er wird seine Hände +gegen uns ausstrecken, und wir werden niedersinken ... und werden weinen +... und alles verstehn! Dann werden wir alles verstehen! ... Und alle +werden verstehn ... auch Katerina Iwanowna ... auch sie wird verstehn +... Herr, dein Reich komme.« + +Er ließ sich auf die Bank nieder, erschöpft und geschwächt, ohne jemand +anzusehen, als hätte er die Umgebung vergessen, und versank in tiefes +Sinnen. Seine Worte hatten einen gewissen Eindruck hervorgerufen; für +einen Augenblick trat Schweigen ein, bald darauf aber ertönte von neuem +Lachen und Schelten. + +»Er hat gerichtet!« + +»Hat sich vergaloppiert!« + +»Ist auch Beamter!« + +und solcherlei mehr hörte man. + +»Wollen wir gehen, mein Herr!« -- sagte Marmeladoff plötzlich, hob den +Kopf und wandte sich an Raskolnikoff. -- »Begleiten Sie mich ... Haus +Kosel ... im Hofe. Es ist Zeit ... für mich ... zu Katerina Iwanowna +...« + +Raskolnikoff hatte längst schon weggehen wollen, und auch selbst +gedacht, ihm behilflich zu sein. Marmeladoff zeigte sich viel schwächer +in den Beinen, als in seinen Reden, und stützte sich stark auf den +jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. +Verwirrung und Angst packten immer stärker und stärker den Säufer, je +mehr sie sich dem Hause näherten. + +»Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna,« -- murmelte er +erregt, -- »auch nicht davor, daß sie mich an den Haaren raufen wird. +Was sind Haare! ... Dummes Zeug sind die Haare! Das sage ich! Es ist +sogar besser, daß sie mich raufen wird, aber ich fürchte mich nicht +davor ... ich ... ich ... fürchte mich vor ihren Augen ... ja ... vor +ihren Augen ... Auch vor den roten Flecken auf den Wangen fürchte ich +mich ... und ich fürchte mich -- vor ihrem Atem ... Hast du gesehen, wie +die Menschen bei dieser Krankheit atmen ... wenn sie erregt sind? Auch +vor den weinenden Kindern fürchte ich mich ... Wenn Ssonja ihnen nichts +zu essen gegeben hat, dann ... weiß ich nicht, wie ... Ich weiß nicht! +Vor Schlägen fürchte ich mich nicht ... Du sollst wissen, mein Herr, daß +solche Schläge mir keinen Schmerz, sondern Genuß bereiten ... Denn ohne +die kann ich selbst nicht auskommen. Es ist besser. Mag sie mich +schlagen, mag sie ihrem Herzen Luft machen ... es ist besser ... Da ist +ja das Haus. Es gehört Kosel, einem Schlosser, einem reichen Deutschen +... führe mich!« + +Sie traten in den Hof und stiegen in das vierte Stockwerk. Je höher sie +die Treppe hinaufstiegen, um so dunkler wurde es. Es war fast elf Uhr, +und obwohl es um diese Jahreszeit in Petersburg keine Nacht gibt, war es +doch sehr dunkel oben auf der Treppe. + +Eine kleine verräucherte Tür am Ende der Treppe war geöffnet. Ein +Lichtstumpf beleuchtete ein sehr ärmliches, etwa zehn Schritte langes +Zimmer; vom Flur aus konnte man es vollständig übersehen. Alles lag +verstreut und in Unordnung umher, besonders zerlumpte Kinderkleider. Vor +den hintersten Winkel war ein verlöchertes Bettlaken gezogen. Dort stand +wahrscheinlich das Bett. Im Zimmer waren im ganzen zwei Stühle und ein +sehr abgerissenes mit Wachstuch bezogenes Sofa, vor dem ein alter +ungestrichener Küchentisch ohne Decke, aus Fichtenholz, stand. Auf einer +Ecke des Tisches brannte in einem eisernen Leuchter der Lichtstumpf. Es +erwies sich, daß Marmeladoff nicht in dem Winkel schlief, sondern in +einem Zimmer für sich war, das aber ein Durchgangszimmer war. Die Tür zu +den andern Räumen oder vielmehr Käfigen, in die die Wohnung von Amalie +Lippewechsel eingeteilt war, stand offen. Dort ging es geräuschvoll und +laut zu. Man hörte Lachen. Wie es schien, spielte man dort Karten und +trank Tee. Hin und wieder ertönten höchst ungesellschaftliche Reden. + +Raskolnikoff erkannte Katerina Iwanowna sofort. Sie war eine furchtbar +abgemagerte Frau, von ziemlich hohem Wuchse, und schlank, mit noch +schönem, dunkelblondem Haar; auf den Wangen waren die roten Flecke zu +sehen. Sie wanderte in dem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände an die +Brust gepreßt, mit vertrockneten Lippen, und atmete stoßweise und +unregelmäßig. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, der Blick aber war +scharf und unbeweglich, und dieses schwindsüchtige und erregte Gesicht +machte einen schmerzlichen Eindruck bei der Beleuchtung des sterbenden +Lichtes, das auf dem Gesichte zitterte. Sie schien Raskolnikoff etwa +dreißig Jahre alt zu sein und in der Tat zu Marmeladoff nicht zu passen +... Die Eintretenden hatte sie nicht gehört und nicht bemerkt; ihre +Gedanken schienen abwesend zu sein, sie hörte und sah nichts. Im Zimmer +war es dumpf, das Fenster war verschlossen; von der Treppe her kam ein +mörderlicher Gestank, und die Tür zur Treppe war offen, aus den inneren +Räumen drangen durch die geöffnete Tür Wolken von Tabakrauch, -- sie +hustete, schloß aber die Tür nicht zu. Das kleinste Mädchen im Alter von +sechs Jahren etwa, saß zusammengekauert auf der Diele und schlief mit +dem Gesicht ans Sofa gelehnt. Der Knabe, ein Jahr älter, stand in einem +Winkel, am ganzen Körper zitternd, und weinte. Er hatte wahrscheinlich +soeben Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, von neun Jahren, hoch und +dünn, wie ein Streichholz, stand in einem schlechten und völlig +zerrissenen Hemdchen und in einem alten wattierten Mantel, der um die +nackten Schultern geworfen und wahrscheinlich vor zwei Jahren gemacht +war, da er ihr jetzt kaum bis zu den Knien reichte, in dem Winkel neben +dem kleinen Bruder und hielt seinen Hals mit ihrem langen, dünnen Arm +umschlungen. Sie schien ihn zu trösten, flüsterte ihm etwas zu und hielt +ihn in jeder Weise zurück, damit er ja nicht weine, und gleichzeitig +beobachtete sie voll Angst die Mutter mit ihren übergroßen, dunklen +Augen, die in dem abgemagerten und erschrockenen Gesichtchen noch größer +erschienen. Marmeladoff kniete, ohne das Zimmer zu betreten, an der Tür +nieder und schob Raskolnikoff vor sich her. Als die Frau einen Fremden +erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen, kam auf einen Augenblick +zu sich und schien nachzudenken, warum er eingetreten sei. Aber sie +meinte wohl, daß er in die andern Räume wollte, da der ihrige nur ein +Durchgangszimmer war. Nachdem sie sich's so überlegt hatte, ging sie, +ohne ihn weiter zu beachten, zu der Flurtür, um sie zu schließen. Da +schrie sie plötzlich auf, als sie auf der Schwelle ihren knienden Mann +erblickte. + +»Oh!« -- rief sie in blinder Wut. -- »Du bist zurückgekehrt! Du +Zuchthäusler! Du Unmensch! ... Wo ist das Geld? Was hast du in der +Tasche, zeige mir's! Und die Kleider sind nicht dieselben! Wo ist deine +Uniform? Wo ist das Geld? Sprich! ...« + +Und sie stürzte sich auf ihn, um ihn zu durchsuchen. Marmeladoff +streckte gehorsam und unterwürfig die Arme nach beiden Seiten aus, um +ihr die Durchsuchung der Taschen zu erleichtern. Vom Gelde war keine +Kopeke mehr da. + +»Wo ist das Geld?« -- schrie sie. -- »Oh, Gott, er wird doch nicht alles +vertrunken haben! Es waren doch zwölf Rubel in dem Kasten! ...« + +Plötzlich packte sie ihn in rasender Wut an den Haaren und zerrte ihn in +das Zimmer hinein. Marmeladoff erleichterte ihr die Mühe, indem er auf +den Knien demütig hinter ihr herkroch. + +»Das ist mir ein Genuß! Das ist für mich kein Schmerz, sondern ein +Ge--nuß, mein Herr!« -- rief er aus, während er an den Haaren gezerrt +wurde und sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden schlug. + +Das Kind, das auf der Diele schlief, wachte auf und begann zu weinen. +Der Knabe im Winkel fuhr zusammen, erschauerte, schrie auf und stürzte +in furchtbarem Schreck, wie in einem Anfalle, zu der Schwester hin. Das +älteste Mädchen bebte an allen Gliedern, wie ein Blatt unter einem +Windstoß. + +»Du hast das Geld vertrunken! Hast alles, alles vertrunken!« -- schrie +die arme Frau in Verzweiflung. -- »Und die Kleider sind nicht dieselben. +Die da sind hungrig, hungrig!« -- (und händeringend zeigte sie auf die +Kinder) -- »Oh, verfluchtes Leben! Und Sie ... schämen Sie sich nicht« +-- mit diesen Worten stürzte sie sich unversehens auf Raskolnikoff. -- +»Sie da aus der Schenke! Du hast mit ihm getrunken? Hast mit ihm +getrunken! Hinaus!« Der junge Mann schritt eilends hinaus, ohne ein Wort +zu sagen. Die Türe zu den anderen Zimmern wurde sperrweit geöffnet, und +einige Neugierige schauten herein. Dreiste, lachende Gesichter mit +Zigaretten und Pfeifen im Munde, mit Mützen auf dem Kopfe zeigten sich. +Man sah Gestalten in Schlafröcken und mit völlig nackter Brust, in +leichter Bekleidung, die an Unanständigkeit grenzte, manche mit Karten +in den Händen. Sie amüsierten sich vortrefflich und lachten, als +Marmeladoff an den Haaren gezerrt ausrief, daß dies ihm ein Genuß sei. +-- Man drängte sich sogar in das Zimmer; plötzlich erscholl ein wütendes +Gekreische, -- Amalie Lippewechsel war herbeigeeilt, um selbst auf ihre +Weise Ordnung zu schaffen und zum hundertsten Mal die arme Frau durch +den zornigen Befehl, morgen schon die Wohnung zu räumen, zu erschrecken. +Beim Fortgehen gelang es Raskolnikoff die Hand in die Tasche zu stecken, +soviel von dem Kupfergelde, das man ihm in der Schenke auf den Rubel +herausgegeben hatte, hervorzuholen, als er erfassen konnte, und es +unbemerkt auf das Fensterbrett zu legen. Auf der Treppe besann er sich +und wollte umkehren. »Was habe ich für eine Dummheit gemacht?« dachte +er. »Sie haben ja Ssonja und ich brauche es doch selbst.« + +Nachdem er aber eingesehen hatte, daß es unmöglich war, das Geld +zurückzunehmen, und daß er es sowieso nicht zurückgenommen hätte, machte +er eine Bewegung mit der Hand und ging nach Hause. + +»Ssonja braucht Pomade,« fuhr er fort, während er auf der Straße ging, +und lächelte bitter. »Diese Sauberkeit kostet Geld ... Hm! Ssonjetschka +kann vielleicht heute Fiasko machen, denn es ist immer ein Risiko -- die +Jagd auf dieses Wild ... wie das Graben nach Gold ... da würden sie dann +alle ohne mein Geld morgen auf dem Trockenen sitzen ... Ja, die Ssonja! +Welch einen Brunnen haben sie zu finden verstanden! Und sie benutzen +ihn! Sie benutzen ihn trotz allem! Und haben sich daran gewöhnt! Sie +haben geweint und haben sich daran gewöhnt. An alles gewöhnt sich der +Schuft -- der Mensch!« + +Er verfiel in Nachdenken. + +»Wenn ich aber gelogen habe,« rief er plötzlich unwillkürlich aus. »Wenn +der Mensch tatsächlich _kein Schuft_ ist, das ganze Geschlecht +überhaupt, das heißt das menschliche Geschlecht es nicht ist, so +bedeutet das, daß alles Vorurteil ist, bloß eingebildeter Schrecken, und +es gibt also keine Hindernisse und so muß es auch sein! ...« + + + III. + +Er erwachte am anderen Tage spät nach einem unruhigen Schlafe; der +Schlaf hatte ihn nicht gestärkt. Er erwachte griesgrämig, gereizt und +böse, und blickte voll Haß seine Kammer an. Es war ein winziger Raum, +sechs Schritt lang, und machte mit seiner gelblichen, staubigen und +überall an den Wänden losgelösten Tapete einen kläglichen Eindruck; das +Zimmer war so niedrig, daß es einem einigermaßen großen Manne bange +wurde, und immer schien es, als könnte man jeden Augenblick mit dem Kopf +an die Decke stoßen. Die Möbel entsprachen dem Raume, -- es waren drei +alte Stühle da, in nicht ganz brauchbarem Zustande, in einer Ecke stand +ein gestrichener Tisch, auf dem ein paar Hefte und Bücher lagen; schon +aus dem Umstande, wie verstaubt sie waren, konnte man schließen, daß sie +lange nicht berührt worden waren. Außerdem stand in dem Zimmer noch ein +plumpes, großes Sofa, das fast die ganze Wand und die Hälfte des Zimmers +einnahm, einst war es mit Kattun bezogen, jetzt war es zerfetzt; es +diente Raskolnikoff als Bett. Er schlief darauf oftmals so, wie er ging +und stand, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, bedeckt mit einem alten, +abgerissenen Studentenmantel, unter dem Kopfe ein kleines Kissen, +worunter er alles, was er an Wäsche, reiner und getragener, besaß, +stopfte, um die Kopfstelle höher zu machen. Vor dem Sofa stand ein +kleines Tischchen. Es hielt schwer, noch verkommener und zerlumpter zu +sein, Raskolnikoff aber war das in seiner jetzigen Gemütsverfassung +gerade angenehm. Er hatte sich, wie eine Schildkröte in ihrer Behausung, +von allen völlig zurückgezogen; und das Gesicht des Mädchens, das +verpflichtet war, ihn zu bedienen und das zuweilen in sein Zimmer einen +Blick warf, reizte schon seine Galle und verursachte ihm Krämpfe. Das +kommt bei manchen Leuten vor, die von einer Manie befallen sind, und die +sich auf etwas besonders stark konzentriert haben. Seine Wirtin hatte +seit zwei Wochen schon aufgehört, ihm Essen zu geben und er hatte noch +nicht gedacht, zu ihr zu gehen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen, +obwohl er ohne Mittag saß. Nastasja, die Köchin und das einzige Mädchen +der Wirtin, war über die Stimmung des Mieters zum Teil froh und hatte +aufgehört, sein Zimmer aufzuräumen und auszukehren; ab und zu jedoch, +vielleicht einmal in der Woche, ergriff sie, wie zufällig, den Besen. +Sie hatte ihn jetzt geweckt. + +»Steh auf, was schläfst du!« rief sie ihm zu. »Es ist schon zehn Uhr. +Ich habe dir Tee gebracht. Willst du Tee? Bist wahrscheinlich schon ganz +abgemagert?« + +Der junge Mann öffnete die Augen, zuckte zusammen und erkannte Nastasja. + +»Ist der Tee von der Wirtin?« fragte er und erhob sich langsam und mit +schmerzlicher Miene vom Sofa. + +»Was dir einfällt, -- von der Wirtin!« + +Sie stellte ihre eigene gesprungene Teekanne mit altem aufgebrühtem Tee +vor ihm hin und legte zwei Stück gelben Zucker daneben. + +»Nimm das, bitte, Nastasja,« sagte er, indem er in der Tasche suchte -- +(er hatte angekleidet geschlafen) -- und eine Handvoll Kupfermünzen +hervorholte. »Gehe und kaufe mir Weißbrot. Hole auch ein wenig Wurst aus +dem Laden, aber billige ...« + +»Weißbrot will ich dir sofort bringen, willst du aber nicht anstatt +Wurst etwas Kohlsuppe haben? Die Kohlsuppe ist gut, sie ist von gestern. +Ich hatte gestern für dich etwas aufbewahrt, aber du kamst erst so spät. +Es ist eine gute Kohlsuppe.« + +Nachdem sie die Kohlsuppe gebracht hatte, setzte sich Nastasja neben ihm +auf dem Sofa hin und begann, während er aß, zu plaudern. Sie war vom +Lande und ein sehr geschwätziges Frauenzimmer. + +»Praskovja Pawlowna will dich bei der Polizei verklagen,« sagte sie. + +Er verzog das Gesicht. + +»Bei der Polizei? Was will sie denn?« + +»Du zahlst nicht und räumst das Zimmer nicht. Es ist begreiflich, was +sie will.« + +»Zum Teufel, das fehlte noch,« murmelte er und knirschte mit den Zähnen. +»Nein, das kommt mir jetzt ... sehr ungelegen ... Sie ist dumm,« fügte +er laut hinzu. »Ich will heute noch zu ihr gehen und mit ihr sprechen.« + +»Sie ist dumm, ebenso wie ich; aber du, Kluger, was liegst du da, wie +ein Sack, nichts hat man von dir. Früher, sagst du, hast du Kinder +unterrichtet, warum machst du aber jetzt nichts?« + +»Ich mache ...« antwortete Raskolnikoff unwillig und finster. + +»Was machst du denn?« + +»Ich arbeite ...« + +»Was arbeitest du denn?« + +»Ich denke,« antwortete er nach einem Schweigen finster. + +Nastasja schüttelte sich vor Lachen. Sie war von den Lachlustigen, und +wenn man sie zum Lachen reizte, lachte sie lautlos, aber am ganzen +Körper bebend und sich schüttelnd, bis sie nicht mehr konnte. + +»Hast du viel Geld mit dem Denken verdient?« brachte sie endlich hervor. + +»Ohne Stiefel kann man doch nicht unterrichten. Und übrigens pfeife ich +auf alles.« + +»Sei nicht zu stolz.« + +»Den Unterricht bezahlt man in Kupfer. Was soll man mit ein paar Kopeken +anfangen?« fuhr er unwillig fort, als antworte er den eigenen Gedanken. + +»Du möchtest wohl ein ganzes Kapital auf einmal haben?« + +Er blickte sie sonderbar an. + +»Ja, ein ganzes Kapital,« antwortete er nach einem Schweigen +entschlossen. + +»Fang mit kleinem an; du erschreckst einen ja. Soll ich dir jetzt +Weißbrot holen oder nicht?« + +»Wie du willst!« + +»Ach, ich vergaß; gestern ist für dich ein Brief angekommen.« + +»Ein Brief! Für mich! Von wem?« + +»Von wem er ist -- das weiß ich nicht. Ich habe dem Briefträger drei +Kopeken aus meiner eigenen Tasche gegeben. Gibst du sie mir wieder?« + +»Bring doch den Brief, um Gottes Willen, bring ihn gleich!« rief +Raskolnikoff ganz erregt. »Oh, Gott!« + +Nach einer Minute kam der Brief. »Wirklich! Er ist von der Mutter, aus +dem R.schen Gouvernement.« Er erbleichte sogar, als er ihn nahm. Lange +schon hatte er keine Briefe erhalten, und jetzt bedrückte noch etwas +anderes sein Herz. + +»Nastasja, geh fort, um Gotteswillen. Da hast du deine drei Kopeken, geh +nur schnell fort, um Gotteswillen.« + +Der Brief zitterte in seinen Händen; er wollte ihn nicht in ihrer +Anwesenheit öffnen, er wollte mit dem Briefe _allein_ sein. Als Nastasja +gegangen war, führte er schnell den Brief an seine Lippen und küßte ihn; +dann blickte er lange die Schrift auf dem Kuvert an, die bekannte und +liebe, feine und schräge Schrift seiner Mutter, die ihn einst lesen und +schreiben gelehrt hatte. Er zögerte, den Brief zu öffnen, schien sich +sogar vor etwas zu fürchten. Endlich öffnete er den Brief, einen langen, +gewichtigen Brief; zwei große Briefbogen waren dicht beschrieben. + +»Mein lieber Rodja,« schrieb die Mutter, »es ist über zwei Monate her, +seit ich mit dir brieflich gesprochen habe; darunter habe ich selbst +gelitten, und manche Nacht haben mich die Gedanken nicht schlafen +lassen. Aber du wirst mich sicher nicht verurteilen wegen meines +ungewollten Schweigens. Du weißt, wie ich dich liebe; du bist unser +Einziges, mir und Dunja, du bist unser alles, unsere ganze Hoffnung, +unser Trost. Ach, wenn du wüßtest, wie mir war, als ich erfuhr, daß du +die Universität schon einige Monate verlassen hast, weil es dir an +Mitteln mangelte, und daß das Stundengeben und deine anderen Arbeiten +ein Ende genommen haben. Und wie hätte ich dir mit meiner Pension von +hundertzwanzig Rubel jährlich helfen können? Die fünfzehn Rubel, die ich +vor vier Monaten schickte, hatte ich, wie du auch weißt, von unserem +hiesigen Kaufmann Wassilij Iwanowitsch Wachruschin auf die Pension hin +geliehen. Er ist ein guter Mensch und war ein Freund deines Vaters. Aber +da ich ihm das Recht, die Pension für mich zu empfangen, gegeben hatte, +mußte ich warten, bis die Schuld abgetragen war, und das ist soeben erst +geschehen, so daß ich die ganze Zeit dir nichts schicken konnte. Jetzt +aber, Gott sei Dank, denke ich, dir wieder etwas schicken zu können, und +überhaupt wir können jetzt sogar von einem Glück sprechen, und das +beeile ich mich, dir mitzuteilen. Zuerst also kannst du es dir +vorstellen, lieber Rodja, daß deine Schwester bereits anderthalb Monate +bei mir lebt, und daß wir uns nie mehr, in aller Zukunft nicht, trennen +werden. Gott sei Dank, ihre Qualen haben ein Ende gefunden, aber ich +will dir alles der Reihe nach erzählen, damit du erfährst, wie alles war +und was wir bis jetzt vor dir verheimlichten. Als du mir vor zwei +Monaten schriebst, du hättest von irgend jemand gehört, daß Dunja stark +unter der Grobheit im Hause der Herrschaften Sswidrigailoff zu leiden +habe, und von mir genaue Aufklärung verlangtest, -- was hätte ich dir +damals antworten können? Wenn ich dir die ganze Wahrheit mitgeteilt +hätte, so hättest du wahrscheinlich alles liegen lassen, wärest, und sei +es zu Fuß, zu uns gekommen, denn ich kenne deinen Charakter und deine +Gefühle, du hättest nicht geduldet, daß deine Schwester beleidigt wird. +Ich war ganz verzweifelt, aber was sollte ich tun? Und wußte damals +selber nicht die ganze Wahrheit. Das Haupthindernis bestand darin, daß +Dunetschka, bei ihrem Eintritt in das Haus als Gouvernante im vorigen +Jahre volle hundert Rubel voraus erhalten hatte, unter der Bedingung, +die Summe monatlich von ihrem Gehalte abzuzahlen, und so konnte sie die +Stelle nicht eher aufgeben, als die Schuld getilgt war. Diese Summe aber +(jetzt kann ich dir alles erklären, teurer Rodja) hatte sie eigentlich +deshalb genommen, um dir die sechzig Rubel zu schicken, die du damals +nötig brauchtest, und die du auch im vorigen Jahre von uns erhalten +hast. Wir haben dich damals getäuscht; wir schrieben dir, es sei von dem +Gelde, das Dunetschka sich früher erspart habe, aber es verhielt sich +nicht so, jetzt erst teile ich dir die volle Wahrheit mit, weil sich +alles jetzt plötzlich nach Gottes Willen zum besten gewendet hat, und +damit du weißt, wie Dunja dich liebt und welch unschätzbares Herz sie +hat. Herr Sswidrigailoff behandelte sie zuerst sehr grob und erlaubte +sich ihr gegenüber allerhand Unhöflichkeiten und Spöttereien bei Tisch +... Aber ich will all diese trüben Einzelheiten nicht aufzählen, und +dich nicht unnütz aufregen, da alles nun ein Ende hat. Kurz, trotz der +guten und anständigen Behandlung seitens Marfa Petrownas, der Gemahlin +des Herrn Sswidrigailoff, und aller Hausgenossen, hatte es Dunetschka +sehr schwer, besonders wenn Herr Sswidrigailoff nach alter +Regimentsgewohnheit unter dem Einflusse des Bacchus stand. Aber was +geschah später? Stelle dir vor, dieser Wahnwitzige hatte schon seit +langem eine Leidenschaft für Dunja gefaßt, aber er verbarg sie immer +unter dem Scheine eines groben und hochfahrenden Wesens ihr gegenüber. +Vielleicht schämte er sich auch und war unmutig auf sich selbst, daß er, +als älterer Mann und Familienvater, sich solchen leichtfertigen Wünschen +hingab und war darum auf Dunja unwillkürlich böse. Vielleicht wollte er +auch durch seine Grobheit und durch seinen Spott die Wahrheit vor +anderen verbergen. Schließlich aber hielt er es nicht mehr aus und wagte +Dunja offen einen gemeinen Antrag zu machen und versprach ihr hohe +Belohnung. Alles wollte er sogar im Stiche lassen und mit ihr auf ein +anderes Gut oder ins Ausland reisen. Du kannst dir ihre Leiden +vorstellen! Sofort ihre Stellung aufgeben, konnte sie nicht, -- nicht +bloß wegen der Schuld, sondern auch um Marfa Petrowna zu schonen, die +dadurch Verdacht fassen mußte; damit wäre der Zwist in die Ehe gekommen. +Ja, auch für Dunetschka hätte es einen großen Skandal gegeben; so ganz +ohne Aufsehen wäre die Sache nicht vorübergegangen. Es gab noch manche +andere Gründe, so daß Dunja, noch vor sechs Wochen, in keinem Falle +rechnen konnte, aus diesem schrecklichen Hause fortzukommen. Du kennst +ja Dunja, weißt, wie klug sie ist, und welch festen Charakter sie +besitzt. Dunetschka kann vieles ertragen, und im alleräußersten Falle +findet sie immer noch so viel Stärke in sich, daß sie ihre Festigkeit +bewahrt. Sie hat nicht mal mir über alles berichtet, um mich nicht +aufzuregen, wir haben aber sonst einander oft geschrieben. Es kam jedoch +eine unerwartete Lösung. Marfa Petrowna hörte zufällig, wie ihr Mann +Dunetschka im Garten anflehte, und da sie alles falsch aufgefaßt hatte, +gab sie Dunetschka die Schuld, in der Meinung, sie habe es eingefädelt. +Es spielte sich im Garten zwischen ihnen eine fürchterliche Szene ab, -- +Marfa Petrowna hat sogar Dunetschka geschlagen, wollte nichts hören, +schrie aber selbst stundenlang fort und befahl schließlich, Dunja sofort +zu mir in die Stadt zu bringen, -- auf einem gewöhnlichen Bauernwagen, +in den man alle ihre Sachen, -- Wäsche, Kleider, alles, wie man es +vorfand, ohne es zusammenzulegen und ohne einzupacken, hineinwarf. Bei +strömendem Regen mit Schande und Schmach bedeckt, mußte Dunja siebzehn +Werst weit im offenen Bauernwagen fahren. Nun überlege, was hätte ich +dir, als Antwort auf deinen Brief vor zwei Monaten schreiben sollen? Ich +war verzweifelt; die Wahrheit durfte ich dir nicht mitteilen, denn du +wärest unglücklich, zornig und empört geworden, ja und was hättest du +tun können? Vielleicht hättest du dich ins Verderben gestürzt. Und +Dunetschka hatte es mir verboten. Den Brief aber mit Lappalien +ausfüllen, während im Herzen solcher Kummer gräbt, habe ich nicht +gekonnt. Einen Monat lang gingen in der ganzen Stadt allerhand +Klatschereien über diese Geschichte herum, und es war so weit gekommen, +daß ich mit Dunja vor verächtlichen Blicken und hämischem Flüstern nicht +mal in die Kirche gehen konnte, selbst in unserer Gegenwart wurde laut +darüber gesprochen. Alle Bekannten hatten sich von uns abgewandt, alle +hatten aufgehört, uns zu grüßen, und ich erfuhr mit Bestimmtheit, daß +die Kommis und einige Schreiber die Absicht hatten, uns eine +niederträchtige Beleidigung anzutun, indem sie das Tor unseres Hauses +mit Teer beschmieren wollten, so daß unsere Wirtsleute verlangten, wir +möchten die Wohnung räumen. Das alles war das Werk von Marfa Petrowna; +es war ihr gelungen, Dunja in allen Häusern zu beschuldigen und schlecht +zu machen. Sie ist ja hier mit allen bekannt, und in diesem Monat kam +sie fortwährend in die Stadt, und da sie ziemlich geschwätzig ist und +über ihre Familienangelegenheiten zu erzählen liebt, besonders aber bei +jedem und allen über ihren Mann klagt, was doch sehr häßlich ist, so +hatte sich die ganze Geschichte in kurzer Zeit nicht bloß in der Stadt, +sondern auch im Kreise verbreitet. Mich griff's hart an, Dunetschka aber +war stärker, hättest du doch sehen können, wie sie alles ertrug, wie sie +mich tröstete und mir Mut zusprach! Sie ist ein Engel! Aber dank der +Barmherzigkeit Gottes nahmen unsere Qualen ein Ende, Herr Sswidrigailoff +kam zur Besinnung, bereute alles, und wahrscheinlich aus Mitleid mit +Dunja legte er Marfa Petrowna volle und klare Beweise der völligen +Unschuld von Dunetschka vor, und zwar, -- einen Brief, den Dunja noch +bevor Marfa Petrowna sie im Garten überraschte, ihm zu schreiben und zu +übersenden sich gezwungen sah, um persönliche Erklärungen und das +Verlangen geheimer Zusammenkünfte abzulehnen; dieser Brief war nach der +Abreise von Dunetschka in den Händen des Herrn Sswidrigailoff geblieben. +In diesem Briefe hatte sie ihn in eindringlichster Weise und mit voller +Entrüstung gerade wegen seines ehrlosen Benehmens Marfa Petrowna +gegenüber getadelt, ihm vorgehalten, daß er Vater und Gatte sei, und ihm +schließlich zu verstehen gegeben, wie niedrig es von ihm sei, ein +wehrloses und ohnedem schon unglückliches Mädchen zu quälen und noch +unglücklicher zu machen. Mit einem Worte, lieber Rodja, dieser Brief ist +so edel und rührend geschrieben, daß ich schluchzend ihn las und ihn +jetzt noch nur unter Tränen lesen kann. Außerdem kamen zur +Rechtfertigung Dunjas die Aussagen der Dienstboten hinzu, die wie +gewöhnlich viel mehr gesehen und gehört hatten, als Herr Sswidrigailoff +ahnte. Marfa Petrowna war außergewöhnlich bestürzt und >von neuem +zerschmettert,< wie sie uns selbst gestand, aber völlig von der +Schuldlosigkeit Dunetschkas überzeugt; am anderen Tage noch, einem +Sonntage, fuhr sie direkt in die Kirche und flehte zur Mutter Gottes +kniefällig und mit Tränen, ihr die Kraft zu geben, diese neue Prüfung zu +überstehen und ihre Pflicht zu erfüllen. Aus der Kirche kam sie zu uns, +ohne jemand anderen zu besuchen, erzählte uns alles, weinte bitter und +umarmte Dunja voller Reue und bat inständig um ihre Verzeihung. Am +selben Morgen noch ging sie gleich von uns in alle Häuser der Stadt, und +überall erzählte sie unter Tränen und in für Dunetschka +schmeichelhaftesten Ausdrücken von Dunjas Unschuld und ihrem edlen Gemüt +und Benehmen. Und nicht genug damit, sie zeigte allen den eigenhändigen +Brief Dunetschkas an Sswidrigailoff, las ihn laut vor und erlaubte sogar +Abschriften von dem Briefe zu nehmen, -- was mir wirklich zu viel +scheint. In dieser Weise mußte sie einige Tage nacheinander alles in der +Stadt besuchen, weil mancher sich gekränkt fühlte, daß anderen der +Vorzug erwiesen war; es wurde also eine Reihenfolge bestimmt, so daß man +sie in jedem Hause zu einer festgesetzten Zeit erwartete, und alle +wußten, daß an dem und dem Tage Marfa Petrowna dort und dort den Brief +vorlesen würde, und zu jedem Vorlesen kamen Leute, auch solche, die den +Brief schon ein paarmal, sowohl in ihrem eigenen Hause, als auch bei +Bekannten, gehört hatten. Meiner Meinung nach war hierbei vieles, sehr +vieles überflüssig, aber Marfa Petrowna hat nun mal so einen Charakter. +Sie hat wenigstens die Ehre von Dunetschka vollkommen wiederhergestellt +und was an dieser Sache prekär, fiel wie eine untilgbare Schande ihrem +Mann, als dem allein Schuldigen zu Lasten, so daß er mir doch zuletzt +leid tat; man ist zu streng mit diesem Wahnwitzigen umgegangen. Dunja +wurde sofort aufgefordert, in einigen Häusern Unterricht zu geben, +allein sie schlug es ab. Überhaupt begannen alle mit einem Male ihr eine +besondere Achtung zu zeigen. Dies alles half hauptsächlich ein Ereignis +herbeiführen, durch das sich, man kann wohl sagen, jetzt unser ganzes +Schicksal ändert. Du sollst wissen, lieber Rodja, daß Dunja einen Antrag +von einem Herrn erhalten hat und daß sie ihre Einwilligung bereits +gegeben hat, was ich dir eilends hierdurch mitteile. Obwohl die Sache +sich auch ohne deinen Ratschlag entschieden hat, wirst du wahrscheinlich +weder über mich noch über deine Schwester ungehalten sein; du wirst +selbst aus dem Verlauf der Angelegenheit ersehen, daß wir unmöglich +warten und die Antwort bis zu dem Empfang deines Briefes hinausschieben +konnten. Ja, und du hättest auch nur an Ort und Stelle alles genau +beurteilen können. Es ging also folgendermaßen vor sich: Er ist schon +Hofrat, heißt Peter Petrowitsch Luschin und ist ein weitläufiger +Verwandter von Marfa Petrowna, die diese Angelegenheit sehr gefördert +hat. Er begann damit, daß er durch Marfa Petrowna den Wunsch äußern +ließ, mit uns bekannt zu werden; er wurde, wie es sich ziemt, empfangen, +trank bei uns Kaffee, und am nächsten Tage schickte er einen Brief, in +dem er sehr höflich seinen Antrag machte und um eine baldige und +bestimmte Antwort bat. Er ist ein arbeitsamer und vielbeschäftigter Mann +und will jetzt schleunigst nach Petersburg reisen, so daß für ihn jeder +Augenblick kostbar ist. Selbstverständlich waren wir zuerst sehr +überrascht, da dies schnell und unerwartet gekommen war. Wir erwogen und +überlegten den ganzen Tag miteinander. Er ist ein zuverlässiger Mann, in +gesicherten Verhältnissen, nimmt zwei Stellungen ein und besitzt schon +eigenes Vermögen. Gewiß, er ist schon fünfundvierzig Jahre alt, hat aber +ein ganz angenehmes Äußere und kann noch Frauen gefallen; ja, er ist +überhaupt ein sehr solider und anständiger Mann, bloß ein wenig düster +und anscheinend hochmütig. Aber vielleicht scheint es bloß so beim +ersten Anblick. Ja, und ich gebe dir den guten Rat, lieber Rodja, wenn +du ihn in Petersburg sehen wirst, was sehr bald geschehen kann, urteile +nicht zu schnell und hitzig, wie es dir eigen ist, wenn bei der ersten +Begegnung dir etwas an ihm nicht so gut gefallen will. Ich sage das bloß +für alle Fälle, denn ich bin überzeugt, daß er auf dich einen angenehmen +Eindruck machen wird. Zudem, um einen fremden Menschen einzuschätzen, +muß man sich ihm allmählich und vorsichtig nähern, damit man keinen +Fehler begeht und keine Voreingenommenheit faßt, die später sehr schwer +zu berichtigen und zu beseitigen ist. Peter Petrowitsch ist, wenigstens +nach vielen Anzeichen, ein sehr ehrenwerter Mann. Bei seinem ersten +Besuche schon erklärte er, daß er ein resoluter Mann sei, aber daß er in +vielem >die Überzeugungen der jüngeren Generation< -- wie er sich +ausdrückte -- teile, und ein Feind von allen Vorurteilen sei. Er sprach +noch über vieles, denn er scheint ein wenig eingebildet zu sein und es +zu lieben, daß man ihm zuhöre, aber das ist ja kein Fehler. Ich habe +natürlich wenig davon begriffen, aber Dunja versicherte mir, daß er +keine sehr große Bildung besitze, aber ein kluger und wie es scheint, +auch guter Mensch sei. Du kennst den Charakter deiner Schwester Rodja. +Sie ist ein starkes, vernünftiges, geduldiges und großmütiges Mädchen, +freilich auch feurigen Herzens, so wie ich sie kenne. Gewiß ist weder +auf ihrer, noch auf seiner Seite eine besondere Liebe vorhanden, aber +Dunja ist nicht allein ein kluges Mädchen, sondern gleichzeitig auch ein +edles Wesen, ein Engel, und wird es sich zur Aufgabe stellen, das Glück +des Mannes auszumachen, der seinerseits für ihr Glück Sorge tragen wird; +daran aber zu zweifeln haben wir vorläufig keine Ursache, obwohl -- +offen gestanden -- die Sache mir ein wenig zu schnell zustande kam. +Außerdem ist er ein berechnender Mann, der sicher einsehen wird, daß +sein eigenes Glück in der Ehe um so fester begründet ist, je glücklicher +er Dunetschka macht. Was aber irgendwelche Unebenheiten des Charakters, +irgendwelche alte Gewohnheiten und sogar ein gewisses Auseinandergehen +in den Anschauungen anbetrifft -- (und das ist auch in den glücklichsten +Ehen nicht zu vermeiden) -- so sagte mir Dunetschka, daß sie in dieser +Hinsicht auf sich vertraut, daß es keinen Grund gibt, darüber beunruhigt +zu sein und daß sie vieles ertragen kann, wenn nur gegenseitige +Ehrlichkeit und Gerechtigkeit herrscht. Mir schien er zum Beispiel +zuerst etwas hart, aber das kann auch von seiner Offenherzigkeit kommen +und so wird es wohl auch sein. Bei seinem zweiten Besuche, als er das +Jawort hatte, äußerte er im Gespräch, daß er schon früher, ehe er Dunja +kennengelernt habe, beschlossen habe, ein ehrliches, aber armes Mädchen +zu heiraten und unbedingt eines, das die Armut schon gekostet habe, denn +ein Mann solle nach seiner Meinung seiner Frau durch nichts verpflichtet +sein, sondern das sei das richtige, daß die Frau den Mann als ihren +Wohltäter betrachte. Ich will hinzufügen, daß er sich ein wenig weicher +und zarter ausdrückte, als ich es schreibe, denn ich habe den richtigen +Wortlaut vergessen, erinnere mich bloß des Sinnes, und zudem hatte er +das keineswegs mit Absicht gesagt, sondern hatte sich offenbar in Eifer +gesprochen, darum versuchte er später, es abzuschwächen und zu mildern. +Dennoch erschien es mir ein wenig zu scharf, und ich sprach darüber +nachher mit Dunja. Sie aber antwortete mir sogar, daß >Worte noch keine +Taten sind,< und das ist auch wahr. Ehe Dunja sich zu diesem Schritt +entschloß, verbrachte sie eine schlaflose Nacht, und in der Meinung, daß +ich schliefe, stand sie auf und ging die ganze Nacht im Zimmer auf und +ab; schließlich ließ sie sich auf die Knie nieder und betete lange und +inbrünstig vor der Mutter Gottes, und am andern Morgen erklärte sie mir, +sie hätte sich entschieden. + +Ich habe schon erwähnt, daß Peter Petrowitsch sich jetzt nach Petersburg +begibt. Er hat dort große Geschäfte vor, will in Petersburg ein +öffentliches Bureau als Advokat eröffnen. Er beschäftigt sich seit +langem schon mit Vertretung von allerhand Zivilklagen und Prozessen, und +hat vor kurzem einen bedeutenden Prozeß gewonnen. Nach Petersburg muß er +auch deswegen reisen, weil er dort im Senate eine bedeutende Sache zu +vertreten hat. So kann er auch dir, lieber Rodja, sehr nützlich sein, ja +in jeder Hinsicht, und wir -- ich und Dunja -- meinen nun, daß mit dem +heutigen Tage deine künftige Karriere mit Sicherheit beginnt und daß +dein Schicksal klar vor Augen liegt. Oh, wenn es sich schon verwirklicht +hätte! Das wäre so ein Glück, daß man es nicht anders, als eine +unmittelbare Gnadenspende des Allmächtigen an uns betrachten müßte. Das +ist Dunjas Traum. Wir haben schon gewagt, ein paar Worte in dieser +Hinsicht Peter Petrowitsch zu sagen. Er äußerte sich vorsichtig und +meinte, daß er gewiß ohne einen Sekretär nicht auskommen könne, und da +sei es selbstverständlich besser, das Gehalt dafür einem Verwandten als +einem Fremden zu zahlen, wenn er sich bloß für den Posten eigne, -- (du +solltest dich dazu nicht eignen!) -- gleichzeitig aber zweifelte er, daß +das Universitätsstudium die Zeit für die Arbeiten in seinem Bureau übrig +ließe. Diesmal blieb die Angelegenheit dabei stehen, aber Dunja denkt an +nichts anderes mehr als an diese Aussicht. Sie ist seit einigen Tagen +fieberhaft erregt, und hat sich einen ganzen Plan ausgedacht, daß du +nämlich späterhin Mitarbeiter und sogar Kompagnon von Peter Petrowitsch +in seinen Rechtssachen werden könntest, um so mehr, als du in der +juristischen Fakultät bist. Ich bin mit ihr vollkommen einig, lieber +Rodja, teile alle ihre Pläne und Hoffnungen und halte ihre völlige +Verwirklichung für möglich. Und trotzdem Peter Petrowitsch sich jetzt +zurückhaltend verhält, was sehr erklärlich ist, da er dich noch nicht +kennt, so ist Dunja fest überzeugt, daß sie alles durch ihren guten +Einfluß auf ihren künftigen Mann erreichen wird. Wir haben uns natürlich +in acht genommen, Peter Petrowitsch etwas von unseren Zukunftsträumen +und hauptsächlich davon, daß du sein Kompagnon werden sollst, merken zu +lassen. Er ist ein nüchterner Mann und hätte es vielleicht sehr kalt +aufgenommen, weil er alles für Phantasterei angesehen hätte. Ebensowenig +haben wir, weder ich, noch Dunja, einen Ton über unsere feste Hoffnung +gesprochen, daß er uns helfen soll, dich mit Geld zu unterstützen, +solange du auf der Universität bist; wir haben es deswegen unterlassen, +weil es sich späterhin jedenfalls von selbst ergeben und weil er sicher +ohne viele Worte es uns anbieten wird -- (er wird doch Dunetschka es +nicht abschlagen können!) -- um so mehr, als du seine rechte Hand im +Bureau werden kannst, und diese Unterstützung nicht als eine Wohltat, +sondern als verdientes Gehalt empfangen sollst. Dunetschka will es so +einrichten, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden. Außerdem +unterließen wir es, darüber zu sprechen, weil ich bei eurer +bevorstehenden Begegnung dich auf gleichem Fuße mit ihm stehen sehen +wollte. Wenn Dunja mit ihm voll Entzücken über dich sprach, antwortete +er, daß man jeden Menschen selbst zuerst sehen, und zwar sehr nah sehen +müsse, um über ihn urteilen zu können, und daß er sich das Recht +vorbehalte, seine Meinung über dich zu bilden, erst nachdem er dich +kennengelernt habe. Weißt du was, mein teurer Rodja, mir scheint es aus +gewissen Gründen, -- die übrigens gar nichts mit Peter Petrowitsch zu +tun haben, sondern so meine eigenen gewissen, persönlichen, vielleicht +auch altweibischen Launen sind, -- also mir scheint es, daß ich +vielleicht besser tue, wenn ich nach ihrer Verheiratung allein, so wie +jetzt, und nicht mit ihnen zusammenleben werde. Ich bin völlig +überzeugt, daß er so erkenntlich und zartfühlend sein wird, selber mir +das Angebot zu machen, bei der Tochter zu bleiben und wenn er darüber +bis jetzt nicht gesprochen hat, so kam es selbstverständlich daher, weil +es auch ohne Worte so anzunehmen ist, aber ich will es ablehnen. Ich +habe in meinem Leben mehr als einmal erfahren, daß Schwiegermütter den +Männern nicht besonders genehm sind, und ich möchte niemandem im +geringsten zur Last fallen und möchte auch selbst vollkommen frei sein, +solange ich noch einen Bissen zu essen und solche Kinder, wie dich und +Dunetschka, zu lieben habe. Wenn es mir möglich ist, will ich mich in +der Nähe von euch beiden niederlassen, denn das angenehmste habe ich zum +Schluß des Briefes aufgehoben, Rodja. Erfahre nun, mein lieber Freund, +daß wir alle vielleicht sehr bald wieder zusammen sein und alle drei uns +nach fast dreijähriger Trennung umarmen werden! Es ist schon _bestimmt_ +beschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg kommen, wann aber -- das +weiß ich noch nicht, in jedem Falle sehr, sehr bald, vielleicht schon in +einer Woche. Alles hängt von den Anordnungen Peter Petrowitschs ab, der +uns sofort, wenn er sich in Petersburg umgesehen hat, Nachricht geben +will. Er will die Vorbereitungen zur Heirat aus verschiedenen Erwägungen +möglichst beschleunigen, und wenn möglich, die Hochzeit noch vor dem +großen Fasten feiern, sollte es aber infolge der kurzen Frist nicht +ausführbar sein, dann gleich nach den Osterfeiertagen. Oh, mit welch +einem Glück werde ich dich an mein Herz pressen! Dunja ist vor Freude +dich wiederzusehen ganz aufgeregt und sagte einmal im Scherz, daß sie +schon deswegen allein Peter Petrowitsch heiraten würde. Sie ist ein +Engel! Sie schreibt dir nicht, hat mich aber gebeten, dir zu schreiben, +daß sie über so vieles mit dir sprechen müsse, über so vieles, daß ihre +Hand sich jetzt gegen die Feder sträube, denn in ein paar Zeilen könne +man nichts mitteilen, sondern sich nur aufregen. Sie bat mich, dich +innig, innig zu umarmen und dir unzählige Küsse zu senden. Trotzdem wir +uns vielleicht sehr bald sehen werden, will ich dir doch in diesen Tagen +Geld, soviel ich vermag, zuschicken. Jetzt, wo alle wissen, daß +Dunetschka Peter Petrowitsch heiratet, hat sich auch mein Kredit +plötzlich gebessert, und ich weiß bestimmt, daß Afanassi Iwanowitsch mir +jetzt auf Konto der Pension sogar bis zu fünfundsiebzig Rubel zu leihen +bereit ist, so daß ich dir vielleicht fünfundzwanzig oder auch dreißig +Rubel schicken kann. Ich würde noch mehr schicken, aber ich fürchte +unsere Reisekosten. Obwohl Peter Petrowitsch so gut war, einen Teil der +Ausgaben für unsere Reise nach der Residenz zu übernehmen, -- er hat +sich nämlich selbst angeboten, unser Gepäck und einen großen Koffer für +seine Rechnung hinzuschicken (er arrangiert es in irgendeiner Weise +durch Bekannte), müssen wir doch mit der Reise nach Petersburg rechnen +und damit, daß man dort nicht ohne einen Groschen ankommen kann und +wenigstens für die ersten paar Tage das Nötige haben muß. Wir haben +übrigens alles genau überschlagen, und es zeigte sich, daß uns die Reise +nicht zu teuer zu stehn kommt. Von uns bis zur Eisenbahn sind es nur +neunzig Werst, und wir haben für jeden Fall mit einem bekannten Bauern +schon abgeschlossen; die Fortsetzung der Reise aber werden wir, ich und +Dunetschka, glücklich und zufrieden in der dritten Klasse machen. Dann +kriege ich es vielleicht fertig, dir nicht nur fünfundzwanzig, sondern +dreißig Rubel zu schicken. Nun aber genug: zwei Bogen habe ich voll +geschrieben und es ist kein Platz mehr da. Unsere ganze Geschichte habe +ich dir erzählt, -- nun, es hat sich auch ein Haufen Ereignisse +angesammelt. Jetzt, mein teurer Rodja, umarme ich dich bis zu unserem +nahen Wiedersehen und sende dir meinen mütterlichen Segen. Rodja, liebe +deine Schwester Dunja; liebe sie so, wie sie dich liebt, und vergiß +nicht, daß sie dich grenzenlos, mehr als sich selbst, liebt. Sie ist ein +Engel und du Rodja, bist unser alles, unsere ganze Hoffnung und unser +Trost. Sei du bloß glücklich, dann werden auch wir glücklich sein. +Betest du zu Gott, Rodja, wie früher und glaubst du auch an die Güte des +Schöpfers und unseres Erlösers? Ich fürchte im Herzen, daß der neueste +moderne Unglaube auch dich berührt haben kann. Wenn es so ist, dann bete +ich für dich. Erinnerst du dich, mein Lieber, wie du, als dein Vater +noch lebte, in deiner Kindheit auf meinen Knien deine Gebete +stammeltest, und wie glücklich waren wir alle damals. Lebe wohl, oder +besser, -- _auf Wiedersehen_! Ich umarme dich innig, innig und küsse +dich unzähligemal. + + Dein bis zum Tode + Pulcheria Raskolnikowa.« + +Fast die ganze Zeit, während Raskolnikoff den Brief las, von den ersten +Zeilen an, war sein Gesicht naß von Tränen; als er aber geendet hatte, +war sein Gesicht bleich und zuckte, und ein hartes, bitteres, böses +Lachen lag auf seinen Lippen. Er lehnte seinen Kopf an das dünne und +abgenutzte Kissen und dachte lange, lange nach. Sein Herz schlug stark, +und die Gedanken wogten hin und her. Es wurde ihm schließlich zu dumpf +und eng in dieser gelben Kammer, die einem Käfig oder einem Kasten +glich. Die Augen und die Gedanken verlangten eine freie Weite. Er nahm +seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu +begegnen: das hatte er vergessen. Er schlug den Weg in der Richtung nach +Wassiljew Ostroff ein, den W.ski-Prospekt entlang, als hätte er dort +eine eilige Angelegenheit, er ging aber, wie es seine Gewohnheit war, +ohne den Weg zu beachten, flüsterte vor sich hin und sprach hin und +wieder laut mit sich selbst; so daß er den Vorübergehenden auffiel, und +viele hielten ihn für betrunken. + + + IV. + +Der Brief der Mutter hatte ihn sehr erschüttert. Über die Hauptsache +aber, das Moment, um das sich alles drehte, war er auch nicht einen +Augenblick im Zweifel, nicht einmal während des Lesens. Ihrem Wesen nach +war die Sache für ihn entschieden: »Diese Heirat kommt nicht zustande, +solange ich lebe, und hol' der Teufel den Herrn Luschin!« + +»Die ganze Geschichte ist klipp und klar,« murmelte er höhnisch lachend +und im voraus triumphierend über die Folgen seines Entschlusses. »Nein, +liebe Mama, nein, Dunja, ihr könnt mich nicht täuschen! ... Und da +entschuldigen sie sich, daß sie mich nicht um Rat gefragt und ohne mich +die Sache gemacht haben! Haben auch Grund dazu! Sie meinen, daß man es +nicht mehr zerreißen kann; wir wollen mal sehen, ob es möglich ist oder +nicht! Sie haben auch eine glänzende Ausrede gefunden -- Peter +Petrowitsch sei so beschäftigt, so beschäftigt, daß er nicht anders, als +per Postpferde, fast per Eisenbahn, heiraten kann. Nein, Dunetschka, ich +durchschaue alles und weiß, worüber du mit mir _so viel_ sprechen +möchtest. Ich weiß auch, worüber du die ganze Nacht im Zimmer auf- und +abgehend nachgedacht hast, und was du vor dem Bilde der Gottesmutter, +das bei Mama im Schlafzimmer hängt, gebetet hast. Es ist schwer, +Golgatha hinaufzugehen ... Hm ... Also es ist endgültig beschlossen. +Awdotja Romanowna, Sie geruhen also einen tüchtigen und resoluten Mann +zu heiraten, der eigenes Vermögen besitzt -- (der _schon_ eigenes +Vermögen besitzt, das ist solider und ehrfurchtgebietender) -- der zwei +Stellungen einnimmt und der die Überzeugungen unserer jüngeren +Generation teilt (wie Mama sagt) und der, wie es scheint, gut ist, wie +Dunetschka selbst sagt. Dieses >_wie es scheint_< ist das großartigste +dabei! Und Dunetschka heiratet dieses >_wie es scheint_<! ... Großartig! +Großartig! + +Es ist jedoch interessant, warum Mama mir über >die jüngere Generation< +geschrieben hat? Bloß um die Person zu charakterisieren oder mit einer +weitliegenden Absicht, -- um mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen? +Oh, ihr Schlauen! Es wäre auch interessant, noch einen Umstand +aufzuklären, -- wie weit war an jenem Tage und in jener Nacht ihre +beiderseitige Offenherzigkeit und auch in der folgenden Zeit? Wurde +_alles_ unter ihnen Wort für Wort besprochen, oder haben beide gefühlt, +daß sie, eine wie die andere, ein und dasselbe auf dem Herzen hatten, so +daß es überflüssig war, alles laut werden zu lassen und womöglich zu +viel zu sagen. Sicher war es größtenteils so gewesen; man sieht's aus +dem Briefe. Mama schien er _ein wenig_ hart, und die naive Mama wandte +sich sofort an Dunja mit Bemerkungen. Die wurde selbstverständlich böse +und >antwortete verstimmt<. Das ist begreiflich! Wen wird es nicht +wütend machen, wenn eine Sache auch ohne naive Fragen klar genug ist, +und wenn ausgemacht ist, daß daran nicht mehr zu rütteln ist. Und warum +schreibt sie mir: >Rodja, liebe Dunja! Sie liebt dich mehr als sich +selbst<. Wird sie etwa im geheimen von Gewissensbissen gequält, daß sie +eingewilligt hat, die Tochter für den Sohn zu opfern. >Du bist unser +Trost, du bist unser Alles! Oh, Mama! ...<« + +Der Zorn packte ihn immer stärker, und wäre Herr Luschin ihm jetzt +begegnet, er hätte sich an ihm vergriffen! + +»Hm ... das ist wahr,« spann er die Gedanken weiter, die sich wie im +Wirbelwinde in seinem Kopfe drehten. »Das ist wahr, daß man sich >einem +Menschen allmählich und vorsichtig nähern muß, um ihn kennenzulernen,< +Herr Luschin ist einem auch so verständlich. Die Hauptsache ist >ein +tüchtiger und _wie es scheint_ guter Mensch<; es hat ja was zu sagen, +daß er das Gepäck übernommen hat und für seine Rechnung den großen +Koffer transportiert! Nun, ist er denn nicht gut? Die beiden aber, _die +Braut_ und die Mutter, akkordieren mit einem Bauern und reisen in einem +mit Strohmatten gedeckten Wagen -- ich kenn es ja selber! Das hat ja +auch nichts zu sagen! Es sind bloß neunzig Werst, weiter aber >fahren +wir zufrieden und glücklich dritter Klasse< -- also über tausend Werst. +Es ist auch vernünftig, -- man muß sich nach der Decke strecken; aber +Sie, Herr Luschin, was denken Sie dabei? Es ist ja Ihre Braut ... +Sollten Sie etwa nicht wissen, daß Mutter sich das Geld zur Reise auf +ihre Pension hin leiht? Gewiß, Sie haben hier ein gemeinsames +kaufmännisches Geschäft, ein Unternehmen auf gegenseitigen Vorteil und +mit gleichlautenden Anteilen, folglich fallen die Ausgaben auch in +gleiche Teile; wie nach dem Sprichworte, -- Salz und Brot zusammen, +Tabak aber jeder für sich. Ja, aber auch hier hat der geschäftstüchtige +Mann die beiden ein wenig übers Ohr gehauen, -- das Gepäck kommt ihm +billiger als ihre Reise zu stehen, und vielleicht kostet das Gepäck ihm +gar nichts. Sehen denn beide es nicht oder wollen sie es nicht sehen? +Sie sind ja zufrieden, sind beide zufrieden! Wenn man aber denkt, daß +dies erst der Anfang ist und daß das dicke Ende später nachkommt! Was +fällt einem hier am meisten auf, -- nicht der Geiz, nicht die schmutzige +Rechnerei, sondern _der Ton_ des Ganzen. Das ist ja der künftige Ton +nach der Verheiratung, die warnende Prophezeiung ... Ja, und die Mama, +warum ist sie so flott? Mit was kommt sie nach Petersburg? Mit drei +Rubel oder mit zwei >Scheinchen,< wie die ... Alte sagt ... hm! Wovon +will sie denn in Petersburg leben? Sie hat schon aus irgendwelchen +Anzeichen herausgefunden, daß sie mit Dunja nach der Verheiratung nicht +zusammenleben kann, nicht mal in der ersten Zeit. Der liebe Mensch hat +sich auch hier sicher irgendwie versprochen, hat es zu verstehen +gegeben, obwohl Mama sich mit beiden Händen dagegen sträubt, -- >ich +will,< sagt sie, >es selbst ablehnen<. Ja, auf was hofft sie denn noch +-- mit ihrer Pension von hundertundzwanzig Rubel, von der noch die +Schuld an Afanassi Iwanowitsch abgezogen wird? Sie strickt dann zu Hause +Tücher, stickt Manschetten und verdirbt sich die alten Augen, und das +bringt ihr zwanzig Rubel im Jahre ein zu der Pension, das kenne ich. +Also, hofft man doch und baut auf die Freigiebigkeit und die Großmut des +Herrn Luschin. >Er wird es mir selbst anbieten,< meint sie, >wird mich +darum bitten.< Nein, darauf kann sie lange warten. So geht es stets +diesen schönen Schillerschen Seelen, -- bis zum letzten Moment schmücken +sie einen Menschen mit Pfauenfedern, bis zum letzten Moment glauben sie +an das Gute und nicht an das Böse im Menschen; obwohl sie die Kehrseite +der Medaille ahnen, belügen sie sich lieber selbst, weil sie sich vor +der Wahrheit fürchten. Mit beiden Händen wehren sie sich dagegen, bis +ihnen schließlich der ausgeschmückte Mensch eigenhändig einen +Nasenstüber gibt. Es wäre interessant zu wissen, ob Herr Luschin Orden +hat; ich gehe eine Wette ein, daß er den Orden der heiligen Anna im +Knopfloche stecken hat und daß er ihn zu Diners bei allerhand Kaufleuten +und Lieferanten trägt. Vielleicht wird er ihn auch zur Feier seiner +Hochzeit anlegen! übrigens, hol ihn der Teufel! ... Nun, gegen Mama ist +nichts zu sagen, sie ist einmal so, aber was ist mit Dunja? Liebe +Dunetschka, ich kenne sie doch! Sie war bereits zwanzig Jahre alt, als +wir uns zum letztenmal sahen, ihren Charakter habe ich schon damals +verstanden. Die Mama schreibt >Dunetschka kann vieles ertragen<. Das +wußte ich schon früher. Das wußte ich bereits vor zweiundeinhalb Jahren, +und seit jener Zeit habe ich nachgedacht, zweiundeinhalb Jahre habe ich +gerade darüber nachgedacht, wie vieles Dunetschka ertragen kann? Denn +Herrn Sswidrigailoff mit all dem Folgenden ertragen zu können, heißt +viel ertragen können. Jetzt aber meint sie, wie auch Mama, daß man den +Herrn Luschin als zukünftigen Ehemann ebenfalls ertragen kann, der die +Theorie über die Vorzüge von Frauen vertritt, die von Hause aus +bettelarm sind und folglich von ihren Männern nur Wohltaten empfingen, +und der dies fast bei der ersten Zusammmkunft auseinandersetzt. Nun, +gut, wollen wir annehmen, er habe >sich versprochen,< obwohl er doch ein +verständiger Mann ist, der sich vielleicht gar nicht versprochen, +sondern sofort ihre richtige Stellung klargestellt wissen wollte, aber +Dunja, Dunja, was ist mit ihr? Sie durchschaut doch den Menschen klar +und deutlich, und muß mit ihm leben. Sie würde lieber schwarzes Brot +essen und Wasser dazu trinken, als ihre Seele verkaufen; sie würde ihre +sittliche Freiheit für keinen Komfort hergeben; für ganz +Schleswig-Holstein würde sie sie nicht hergeben, geschweige denn für +einen Herrn Luschin. Nein, Dunja war nicht so, soweit ich sie kannte, +und ... hat sich sicher nicht verändert! ... Was ist da zu sagen! +Sswidrigailoffs sind bitter! Es ist bitter, sein ganzes Leben als +Gouvernante für zweihundert Rubel in der Provinz herumzuwandern, aber +ich weiß, daß meine Schwester lieber als Neger zu einem +Plantagenbesitzer oder als lettischer Bauer zu einem Deutschen in den +Ostseeprovinzen sich verdingen würde, als ihren Geist und ihr sittliches +Empfinden durch die Verbindung mit einem Manne zu besudeln, den sie +nicht achtet und mit dem sie nichts verbindet -- auf ewig, aus +persönlichem Vorteil bloß! Und wäre Herr Luschin sogar aus reinstem +Golde oder aus einem einzigen Brillanten, auch dann würde sie nie +einverstanden sein, die gesetzliche Bettgenossin des Herrn Luschin zu +werden! Warum willigt sie denn ein? Wo ist der Schlüssel? Wo ist die +Lösung? Die Sache ist klar, -- ihrer selber wegen, um eigener +Annehmlichkeiten willen, selbst um sich vor dem Tode zu retten, wird sie +sich nicht verkaufen, für einen anderen aber verkauft sie sich! Für +einen geliebten, für einen vergötterten Menschen verkauft sie sich! Da +haben wir das ganze Rätsel, -- für den Bruder, für die Mutter verkauft +sie sich, verkauft ihr Bestes. Oh, hier wird man auch bei Gelegenheit +das sittliche Empfinden unterdrücken; man wird die Freiheit, die Ruhe, +das Gewissen sogar, alles, alles -- auf den Trödelmarkt bringen. Fahr +dahin, Leben! Mögen bloß diese geliebten Wesen glücklich sein! Nicht +genug dessen, man denkt sich noch eine eigene Kasuistik aus, geht bei +den Jesuiten in die Lehre und beruhigt sich selbst vielleicht für eine +Zeit, überzeugt sich selbst, daß es so gut sei, tatsächlich für einen +guten Zweck nötig sei. Man ist nun einmal so, und alles ist so klar wie +der Tag. Es ist ja selbstredend, daß hier niemand anders als Rodion +Romanowitsch Raskolnikoff mitspricht und im Vordergrunde steht. Nun, +warum denn auch nicht, -- man kann sein Glück begründen, ihn auf der +Universität unterstützen, ihn zum Teilhaber machen, sein ganzes +Schicksal sichern. Vielleicht wird er später ein reicher Mann, wird als +angesehener, geachteter, auch vielleicht als berühmter Mann sein Leben +beenden! Und die Mutter? Ja, es handelt sich um Rodja, den teuren Rodja, +den Erstgeborenen! Und warum soll man nicht um solch eines Erstgeborenen +willen selbst die Tochter opfern! Oh, ihr lieben und einfältigen Seelen! +Man wird in diesem Falle vielleicht auch das Los einer Ssonjetschka +nicht verschmähen! Ssonjetschka, Ssonjetschka Marmeladowa, die ewige +Ssonjetschka, solange die Welt besteht! Habt ihr beide auch das Opfer, +dieses Opfer genau ermessen? Habt ihr es? Reicht die Kraft aus? Ist es +zum Besten? Ist es vernünftig? Wissen Sie auch Dunetschka, daß das Los +von Ssonjetschka in keiner Weise schlimmer ist als Ihr Los mit Herrn +Luschin? >Liebe ist nicht vorhanden,< schreibt die Mama. Was, wenn aber +außer Liebe auch keine Achtung vorhanden ist, sondern im Gegenteil sich +Widerwille, Verachtung und Ekel schon eingestellt haben, was dann? Und +es kommt dabei auf eins heraus, daß man auch hier _auf Sauberkeit +achtgeben_ muß. Ist es nicht etwa so? Verstehen Sie, verstehen Sie auch, +was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Verstehen Sie, daß die Sauberkeit +der Frau von Luschin gleichbedeutend mit der Sauberkeit von Ssonjetschka +ist, vielleicht aber auch schlimmer, gemeiner und ekliger, weil Sie, +Dunetschka, doch mit einem Überschuß von Annehmlichkeiten rechnen, dort +aber handelt es sich einfach ums Verhungern! Diese Sauberkeit kommt +teuer, sehr teuer zu stehen, Dunetschka! Und wenn nun die Kräfte nicht +ausreichen, werden Sie es bereuen? Wieviel Kummer, Trauer, Flüche und +Tränen folgen nach, tief verborgen, da Sie doch keine Marfa Petrowna +sind! Und was wird dann aus der Mutter werden? Sie ist jetzt schon voll +Unruhe und quält sich; wie dann, wenn sie alles klar und deutlich +durchschauen wird? Und was wird mit mir? ... Ja, was haben Sie denn +tatsächlich von mir gedacht? Ich will Ihr Opfer nicht, Dunetschka, ich +will es nicht, Mama! Es soll nicht geschehen, solange ich lebe, es soll +nicht sein, nicht sein! Ich nehme es nicht an!« + +Er kam plötzlich zu sich und blieb stehen. + +»Es soll nicht geschehen! Was willst du denn tun, damit es nicht +geschieht? Willst du es verbieten? Was für ein Recht hast du? Was kannst +du ihnen versprechen, um dir solch ein Recht anzueignen? Dein ganzes +Schicksal, die ganze Zukunft ihnen widmen, _wenn du die Universität +absolviert und eine Stelle erhalten hast_? Davon haben wir gehört, das +sind aber _Träume_, was nun, jetzt? Es muß doch jetzt etwas, sofort +etwas getan werden, verstehst du? Was tust du jetzt? Du beraubst sie. +Sie erhalten das Geld, indem sie die Pension von hundert Rubel versetzen +und sich bei den Herrschaften Sswidrigailoff verdingen. Wie willst du +sie, du zukünftiger Millionär, du Zeus, der über das Schicksal verfügt, +wie willst du sie vor Sswidrigailoffs, vor Afanassi Iwanowitsch +Wachruschin bewahren? Etwa nach zehn Jahren? Inzwischen wird die Mutter +vor lauter Stricken, vielleicht auch von Weinen, längst erblindet sein; +vielleicht vor lauter Fasten zugrunde gehen. Und die Schwester? Denk mal +nach, was nach zehn Jahren oder in diesen zehn Jahren mit der Schwester +geschehen kann? Ist es dir gegenwärtig?« + +So quälte er sich und peitschte sich mit diesen Fragen; es bereitete ihm +sogar einen gewissen Genuß. Und alle diese Fragen sie waren ihm nicht +neu und unerwartet; sie waren alt, lange herumgetragen und längst +vorhanden. Sie marterten sein Herz schon lange. Seit langer, sehr langer +Zeit war in ihm diese Schwermut entstanden, war gewachsen, hatte sich +angesammelt, war zur Reife gekommen, hatte sich konzentriert und die +Form der entsetzlichen, wilden und phantastischen Frage angenommen, die +sein Herz und seinen Kopf marterte und nach einer Lösung schrie. Der +Brief von der Mutter hatte ihn jetzt wie ein Blitz getroffen. Jetzt war +keine Zeit mehr, schwermütig zu sein, passiv zu leiden und zu erwägen, +daß die Fragen unlösbar sind, sondern es muß unbedingt gehandelt werden, +schnell gehandelt werden. Um jeden Preis muß ich mich für etwas +entscheiden oder ... + +»Oder sich vom Leben ganz und gar lossagen!« rief er plötzlich in +größter Erregung aus. -- »Das Schicksal, so wie es ist, ein für allemal +geduldig hinnehmen und alles in sich ersticken, sich von jeglichem +Rechte zu wirken, zu leben und zu lieben, lossagen!« + +»Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man +nirgendwo mehr hingehen kann?« erinnerte er sich plötzlich der gestrigen +Frage Marmeladoffs, »denn es müßte doch so sein, daß jeder Mensch +irgendwo hingehen könnte ...« + +Plötzlich zuckte er zusammen, -- ein Gedanke, auch von gestern, ging +wieder durch seinen Kopf. Er zuckte aber nicht zusammen, weil dieser +Gedanke ihm neu war. Er kannte ihn schon, _er ahnte_, daß er unbedingt +»kommen wird« und erwartete ihn sogar; auch war er nicht erst vom +gestrigen Tage. Aber das andere war, daß dieser Gedanke vor einem Monat +und von gestern noch bloß ein Traum war, jetzt aber ... jetzt erschien +er ihm nicht mehr als Traum, sondern in einem neuen drohenden und völlig +unbekannten Lichte, und er wurde dessen plötzlich bewußt ... Mit +Keulenhieben schlug es ihn nieder, und vor seinen Augen wurde es dunkel. +Er sah sich schnell um, als suche er etwas. Er wollte sich hinsetzen und +suchte eine Bank; er war auf dem K.schen Boulevard. Nicht weit von ihm, +etwa hundert Schritte, bemerkte er eine. Er ging eiligst darauf zu, auf +dem Wege dahin aber ereignete sich ein Zwischenfall, der auf einige +Minuten seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. + +Während er sich nach einer Bank umsah, bemerkte er -- ungefähr zwanzig +Schritte vor sich -- eine Frauensperson, zuerst schenkte er ihr so wenig +Beachtung, wie all den Gegenständen, die an ihm vorbeiglitten. Es +geschah ihm oft, daß er nach Hause kam und sich des Weges nicht entsann, +den er gegangen war; so dahinzuwandern war ihm zur Gewohnheit geworden. +Die Frauensperson aber, die vor ihm ging, hatte so etwas Sonderbares und +Auffallendes an sich, daß seine Aufmerksamkeit allmählich an ihr haften +blieb, -- zuerst gegen seinen Willen und zu seinem Verdruß, dann aber +mit sich steigerndem Interesse. Er wollte sich klarmachen, was an dieser +Frauensperson Sonderbares war. Sie war wahrscheinlich ein noch sehr +junges Mädchen; ging in dieser Hitze mit unbedecktem Kopfe, ohne +Sonnenschirm und ohne Handschuhe und pendelte eigentümlich mit den +Armen. Sie hatte ein leichtes seidenes Kleidchen an, das sehr bedenklich +angezogen und kaum zugeknöpft war, und hinten an der Taille, gerade, wo +der Rock anfing, war es zerrissen, ein ganzes Stück hing lose herunter. +Um den entblößten Hals war ein kleines Tuch umgeworfen und fiel auf der +einen Seite schief herab. Außerdem fiel es ihm auf, daß das Mädchen +unsicher ging, stolperte und sogar schwankte. Diese Erscheinung erregte +also die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikoffs. Er holte das Mädchen bei +der Bank ein; sie aber warf sich in eine Ecke der Bank, lehnte den Kopf +an die Rücklehne und schloß die Augen, anscheinend vor äußerster +Ermattung. Als Raskolnikoff sie näher ansah, begriff er sofort, daß sie +völlig betrunken war. Es war ein so sonderbarer und widerwärtiger +Anblick, daß er an seiner Wirklichkeit zweifelte. Er sah vor sich ein +junges Gesichtchen von sechzehn, oder gar erst fünfzehn Jahren, mit +hellblonden Haaren, sehr hübsch, aber unnatürlich gerötet und allem +Anscheine nach ein wenig aufgedunsen. Das junge Mädchen schien nicht +ganz bei Bewußtsein zu sein; das eine Bein hatte sie über das andere +geschlagen und weiter vorgestreckt, als anständig war; jedenfalls war es +ihr nicht bewußt, daß sie auf der Straße war. + +Raskolnikoff setzte sich nicht hin, wollte aber auch nicht weggehen; er +blieb unschlüssig vor ihr stehen. Dieser Boulevard ist immer ziemlich +leer, jetzt aber in der zweiten Nachmittagsstunde und bei dieser Hitze +war fast niemand zu sehen. Nur etwa fünfzehn Schritte weiter, am Ende +des Boulevards war seitwärts ein Herr stehengeblieben, der allem +Anscheine nach die größte Lust hatte, an das junge Mädchen mit gewissen +Absichten heranzutreten. Er hatte sie wahrscheinlich von weitem erblickt +und war ihr nachgeeilt, Raskolnikoff aber hatte seinen Weg gekreuzt. Er +warf ihm feindliche Blicke zu, die unbemerkt bleiben sollten und wartete +voll Ungeduld, bis der Lump fortgegangen wäre, und er zu seinem Rechte +käme. Die Sache war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, kräftig, +wohlgenährt, mit roten Lippen und kleinem Schnurrbart, und sehr elegant +gekleidet. Raskolnikoff ärgerte sich über ihn; er bekam plötzlich Lust, +diesen gutgenährten Gecken in irgendeiner Weise zu beleidigen. So +verließ er das junge Mädchen und trat an den Herrn heran. + +»He, Sie Sswidrigailoff! Was suchen Sie hier?« rief er ihm zu, ballte +die Fäuste und lachte mit vor Wut bleichen Lippen. + +»Was soll das heißen?« fragte der Herr streng, zog die Augenbrauen +zusammen und maß ihn mit einem hochmütigen Blick. + +»Sie sollen sich packen, heißt das!« + +»Wie wagst du, Kanaille! ...« + +Und er erhob sein Stöckchen. Raskolnikoff stürzte sich mit geballten +Fäusten auf ihn, vollständig vergessend, daß der kräftige Herr mit ein +_paar_ solchen, wie er, fertig würde. In diesem Augenblicke aber packte +ihn jemand von hinten, und zwischen beide trat ein Schutzmann. + +»Ich bitte, meine Herren, sich nicht an öffentlichen Plätzen zu prügeln. +Was wünschen Sie? Wer bist du?« wandte er sich streng an Raskolnikoff, +nachdem er dessen Lumpen erblickt hatte. + +Raskolnikoff sah ihn aufmerksam an. Es war ein braves Soldatengesicht +mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem verständigen Blick. + +»Sie brauche ich gerade,« rief er aus und faßte ihn bei der Hand. »Ich +bin der ehemalige Student Raskolnikoff ... Das können auch Sie +erfahren!« wandte er sich an den Herrn. »Kommen Sie bitte mit, ich will +Ihnen etwas zeigen ...« + +Er nahm den Schutzmann bei der Hand und führte ihn zu der Bank. + +»Sehen Sie, sie ist ganz betrunken, soeben kam sie von dem Boulevard +her. Wer weiß, wer sie ist, aber sie sieht nicht aus, wie eine +gewerbsmäßige. Es ist wahrscheinlicher, daß man sie irgendwo betrunken +gemacht und verführt hat ... zum erstenmal ... verstehen Sie ... und hat +sie dann auf die Straße gebracht. Sehen Sie, wie das Kleid zerrissen +ist, sehen Sie, wie es angezogen ist, -- man hat sie angekleidet, nicht +sie selber, und ungeschickte Hände, Männerhände haben sie angekleidet. +Das sieht man doch. Sehen Sie aber bitte dorthin, -- diesen Geck, mit +dem ich mich soeben beinahe geprügelt hätte, kenne ich nicht, ich sehe +ihn zum erstenmal. Er hat sie auch auf der Straße bemerkt, hat gesehen, +daß sie betrunken, besinnungslos betrunken ist, und nun möchte er +furchtbar gern an sie herankommen, und sie abfangen, und sie in diesem +Zustande irgendwo hinschleppen ... Es ist sicher so, glauben Sie mir, +ich irre mich nicht. Ich habe gesehen, wie er sie beobachtet und +verfolgt hat, ich habe ihn bloß daran gehindert, und er wartet nun, bis +ich weggehe. Sehen Sie, er ist jetzt ein paar Schritte weitergegangen +und bleibt stehen, als drehe er sich eine Zigarette ... Wie können wir +sie ihm entreißen? Wie können wir sie nach Hause schaffen, -- denken Sie +doch darüber nach!« + +Der Schutzmann hatte im Nu alles verstanden und begriffen. Die Absichten +des kräftigen Herrn waren ihm klar, mit dem jungen Mädchen aber mußte +etwas geschehen. Der Veteran beugte sich über sie, um sie näher zu +betrachten und ein aufrichtiges Mitleid drückte sich in seinen Zügen +aus. + +»Ach, wie schade!« sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie ist ja noch +ein Kind. Man hat sie verführt, das ist sicher. Hören Sie, mein +Fräulein,« begann er sie zu rufen. »Wo wohnen Sie?« + +Das junge Mädchen öffnete die müden, schläfrigen Augen, blickte stumpf +den Fragenden an und machte eine abwehrende Handbewegung. + +»Hören Sie,« sagte Raskolnikoff. »Hier haben Sie,« er suchte in der +Tasche und zog zwanzig Kopeken hervor, die er noch fand, »hier haben Sie +zu einer Droschke, und lassen Sie sie durch einen Kutscher nach Hause +bringen. Wenn wir bloß Ihre Wohnung erfahren könnten.« + +»Fräulein, hören Sie, Fräulein!« begann von neuem der Schutzmann, +nachdem er das Geldstück in Empfang genommen hatte. »Ich will Ihnen +sofort eine Droschke besorgen und will Sie selbst begleiten. Wohin +befehlen Sie? Ah? Wo wohnen Sie?« + +»Geht fort! ... Laßt mich in Ruhe! ...« murmelte das Mädchen und wehrte +von neuem mit der Hand ab. + +»Ach, wie schlecht! Ach, welch eine Schande, Fräulein, welch eine +Schande!« sagte der Schutzmann und schüttelte mit dem Kopfe, in +Entrüstung und Mitleid. »Das ist eine Aufgabe!« wandte er sich an +Raskolnikoff und sah ihn wieder flüchtig von Kopf bis zu Füßen an. +Wahrscheinlich erschien er ihm merkwürdig, -- ein Mensch in solchen +Lumpen, der Geld hergab. + +»Haben Sie sie weit von hier gefunden?« fragte er ihn. + +»Ich sagte Ihnen -- sie ging mit wankenden Schritten vor mir, hier, auf +dem Boulevard. Als sie zu der Bank kam, fiel sie sofort hin.« + +»Ach, welch eine Schande jetzt in der Welt herrscht, Herrgott! So +blutjung und schon betrunken! Man hat sie verführt, das ist sicher. Auch +das Kleidchen ist zerrissen ... Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt +um sich greift ... Ja, sie wird wahrscheinlich eine Adlige sein, von den +armen ... Jetzt gibt es viele solche. Dem Aussehen nach ist sie von den +zarten, ganz wie ein Fräulein ...« und er beugte sich wieder über sie. + +Vielleicht wuchsen bei ihm zu Hause auch solche Töchter heran, »ganz wie +Fräuleins und von den zarten,« mit Gewohnheiten der Feinerzogenen und +mit angenommener Modesucht ... + +»Die Hauptsache ist,« sagte Raskolnikoff, »daß dieser Schuft sie nicht +bekommt! Warum soll er sie noch schänden! Man sieht ja, was er will, +sehen Sie, der Schuft, er geht nicht weg.« + +Raskolnikoff sprach laut und zeigte mit der Hand auf ihn. Jener hörte es +und wollte wieder böse werden, aber besann sich und begnügte sich mit +einem verächtlichen Blick. Dann ging er langsam zehn Schritt weiter und +blieb wieder stehen. + +»Das kann man verhindern, daß er sie bekommt,« antwortete der Schutzmann +in Gedanken. »Wenn sie bloß sagen würde, wohin man sie bringen soll, so +aber ... Fräulein, hören Sie, Fräulein!« er beugte sich zu ihr. + +Sie öffnete plötzlich die Augen, blickte aufmerksam die beiden an, als +hätte sie etwas verstanden, stand von der Bank auf und ging in dieselbe +Richtung zurück, woher sie gekommen war. + +»Pfui, schämt euch, könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen!« sagte sie und +wehrte wieder mit der Hand ab. + +Sie ging schnell, aber auch, wie früher, stark schwankend. + +Der feine Herr ging ihr nach, aber in einer anderen Allee, und verlor +sie nicht aus den Augen. + +»Haben Sie keine Sorge, ich will schon aufpassen!« sagte entschlossen +der bärtige Schutzmann und folgte dem Mädchen. + +»Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt um sich greift!« wiederholte er +laut und seufzte. + +Plötzlich schien Raskolnikoff mit einem Schlage wie verwandelt. + +»Hören Sie mal!« rief er dem Schutzmann nach. Der wandte sich um. + +»Lassen Sie es. Was geht es Sie an? Lassen Sie es. Möge er sich +amüsieren« (er zeigte auf den Stutzer). »Was geht es Sie an?« + +Der Schutzmann begriff ihn nicht und starrte ihn an. Raskolnikoff lachte +auf. + +»Na nu!« sagte der Schutzmann, machte eine abwehrende Handbewegung und +ging dem Stutzer und dem jungen Mädchen nach; wahrscheinlich hielt er +Raskolnikoff entweder für einen Verrückten oder für etwas Schlimmeres. + +»Meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen!« sagte Raskolnikoff wütend, +als er allein zurückgeblieben war. »Nun, mag er auch von dem, von dem +andern nehmen und das Mädchen mit ihm gehen lassen, damit wird es auch +enden ... Und wozu habe ich mich hineingemischt? Um zu helfen? Steht es +mir denn zu, jemand zu helfen? Habe ich denn ein Recht dazu? Mögen sie +doch einander lebendig auffressen, -- was geht es mich an? Und wie +durfte ich diese zwanzig Kopeken fortgeben? Gehören sie denn mir?« + +Bei diesen sonderbaren Worten wurde es ihm schwer zumute. Er setzte sich +auf die nun leere Bank. Seine Gedanken waren verwirrt ... Und es war ihm +kaum möglich, in diesem Augenblicke einen Gedanken zu fassen. Er wollte +sich vollkommen vergessen, alles vergessen, dann erwachen und ganz von +neuem beginnen ... + +»Armes Mädchen!« sagte er, nachdem er die leere Ecke der Bank erblickte. +»Sie wird zu sich kommen, wird weinen, und dann erfährt es die Mutter +... Zuerst wird sie sie schlagen, ihr die Rute geben, schmerzhaft und +schmachvoll, vielleicht wird sie sie aus dem Hause jagen ... Und wenn +sie sie nicht verjagt, werden es doch allerhand Darjas Franzowna +erfahren, und das Mädchen wird aus einer Hand in die andere gehen ... +Dann folgt das Krankenhaus -- und das passiert stets mit denen, die bei +sehr ehrenwerten Müttern leben und im geheimen lose Streiche verüben, -- +nun, und dann ... folgt wieder das Krankenhaus ... Wein ... Kneipen ... +und dann nochmals das Krankenhaus ... und in zwei oder drei Jahren ist +sie ein Krüppel, und im ganzen hat sie ein Alter von neunzehn oder auch +bloß achtzehn Jahren erreicht ... Habe ich denn nicht genug solche +gesehen? Wie sind sie aber so geworden? So und nicht anders sind sie es +geworden ... Pfui! Mögen Sie es! Man sagt, es muß so sein. Jedes Jahr, +sagt man, muß ein gewisser Prozentsatz draufgehen ... irgendwohin ... +wahrscheinlich zum Teufel, um die übrigen zu erfrischen und ihnen nicht +hinderlich zu sein. Prozentsatz! Die Menschen haben in der Tat herrliche +Worte gefunden, -- sie sind so beruhigend und wissenschaftlich noch +dazu. Es ist gesagt -- ein Prozentsatz muß sein, also kein Anlaß, um +sich zu beunruhigen. Ja, hätte man ein anderes Wort dafür, nun dann ... +würde es vielleicht beunruhigender sein ... Was aber, wenn auch +Dunetschka in irgendeiner Weise in diesen Prozentsatz hineinkommt! ... +Und wenn nicht in diesen, dann in einen anderen! ... Aber wohin gehe ich +denn?« -- dachte er plötzlich. -- »Sonderbar. Ich ging doch aus +irgendeinem Grunde von Hause weg. Als ich den Brief gelesen hatte, ging +ich fort ... Ich ging zu Rasumichin auf Wassiljew Ostroff ... jetzt +erinnere ich mich. Aber wozu denn eigentlich? Und warum kam mir gerade +jetzt der Gedanke zu Rasumichin zu gehen? Das ist sonderbar.« + +Er wunderte sich über sich selbst. Rasumichin war einer von seinen +früheren Kommilitonen. Raskolnikoffs Eigentümlichkeit auf der +Universität war, daß er fast keine Bekannten hatte, sich von allen +zurückzog, zu niemandem hinging und ungern jemand bei sich empfing. Bald +wandte man sich auch von ihm ab. Weder an gemeinsamen Zusammenkünften, +noch an Gesprächen, noch an Zerstreuungen -- an nichts nahm er teil. Er +arbeitete sehr eifrig, ohne auf sich Rücksicht zu nehmen; man achtete +ihn deswegen, aber niemand liebte ihn. Er war sehr arm, abweisend stolz +und unmitteilsam, als ob er etwas zu verheimlichen hätte. Manchem seiner +Kommilitonen schien es, als sehe er auf sie alle, wie auf Unmündige +herab, als hätte er sie alle in der Entwicklung, im Wissen und in +Lebensanschauung überholt und als betrachte er ihre Anschauungen und +ihre Interessen wie etwas Unreifes. + +Rasumichin war er aus irgendeinem Grunde nähergekommen, das heißt, +eigentlich nicht so nähergekommen, daß er ihm gegenüber mitteilsam und +offener geworden wäre. Man konnte eben zu Rasumichin in keinem anderen +Verhältnisse stehn. Er war ein ungemein lustiger und mitteilsamer +Bursche und gut bis zur Einfalt. Unter dieser Einfalt verbargen sich +jedoch Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden wußten es, und alle +liebten ihn. Er war sehr klug, konnte aber zuweilen wirklich täppisch +sein. Sein Äußeres war charakteristisch -- hochgewachsen, hager, +schwarzhaarig und immer schlecht rasiert. Zuweilen suchte er Händel und +genoß den Ruf eines bärenstarken Menschen. Eines Nachts hatte er in +einer lustigen Gesellschaft mit einem Hiebe einen baumlangen Hüter der +Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unmenschlich, aber er konnte +auch wieder gar nicht trinken; manchmal verübte er Streiche, die ans +Unerlaubte grenzten, aber er konnte auch Ruhe halten. Rasumichin war es +auch eigen, daß ihn kein Mißerfolg verblüffte, und das Schlimmste schien +ihn nicht beugen zu können. Er vermochte es, gegebenenfalls auf einem +Dachboden zu hausen, höllischen Hunger und ungewöhnliche Kälte zu +ertragen. Er war sehr arm und verschaffte sich ganz und gar seinen +Unterhalt durch alle möglichen Arbeiten, für die er eine Unmenge Quellen +hatte. Einmal verbrachte er einen ganzen Winter im ungeheizten Zimmer +und begründete es damit, daß es sich in der Kälte besser schliefe. +Gegenwärtig war er ebenfalls gezwungen, die Universität zu verlassen, +aber nicht auf lange Zeit, und er mühte sich aus allen Kräften, seine +Verhältnisse zu verbessern, um das Studium wieder fortsetzen zu können. +Raskolnikoff war seit vier Monaten nicht bei ihm gewesen, Rasumichin +aber wußte sogar nicht dessen Wohnung. Vor zwei Monaten war er ihm +einmal zufällig auf der Straße begegnet. Raskolnikoff aber hatte sich +abgewandt und war sogar auf die andere Seite hinübergegangen, damit +Rasumichin ihn nicht sehen sollte. Rasumichin hatte ihn wohl erkannt, +ging aber ebenso vorbei, weil er _den Freund_ nicht stören wollte. + + + V. + +»Ich hatte noch vor kurzem wirklich die Absicht, Rasumichin um Arbeit zu +bitten, daß er mir Stunden oder etwas anderes verschaffen solle ...« +dachte Raskolnikoff. -- »Aber womit kann er mir jetzt helfen? Gesetzt +den Fall, er verschafft mir Stunden, ja, gesetzt den Fall, er teilt mit +mir sein letztes Gerstchen, wenn er eines hat, so daß ich mir selbst +Stiefel kaufen und meine Kleidung instand setzen kann, um Stunden zu +geben ... hm ... Aber was weiter? Was kann ich mit den paar Groschen +machen? Ist es das, was ich jetzt brauche? Es ist lächerlich, daß ich zu +Rasumichin gehe ...« + +Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehe, beunruhigte ihn mehr, als +er sich selbst eingestehen wollte, und voll Unruhe suchte er eine böse +Bedeutung in dieser anscheinend ganz gewöhnlichen Handlung. + +»Wie will ich nur die ganze Angelegenheit durch Rasumichin in Ordnung +bringen, habe ich denn als letzten Ausweg nur Rasumichin gefunden?« +fragte er verwundert sich selbst. + +Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz unerwartet, +überraschte ihn nach langem Sinnen ein neuer Gedanke. + +»Hm ... zu Rasumichin ...« sagte er auf einmal völlig ruhig, wie fest +entschlossen. »... zu Rasumichin gehe ich bestimmt ... aber nicht jetzt +... Ich will zu ihm hingehen ... am andern Tage _nach dem_ ... wenn +_das_ schon vorbei ist, und wenn ich von vorne anfange ...« + +Da kam er zu sich. + +»Nach dem,« rief er aus und sprang von der Bank auf. »Ja, wird _das_ +überhaupt geschehen? Wird es tatsächlich geschehen?« + +Er ging fort, ja er rannte beinahe fort; er wollte nach Hause +zurückkehren, doch das war ihm entsetzlich, zu Hause, -- dort in der +Ecke, zwischen den vier öden Wänden, über einen Monat schon reifte der +grausige Plan -- und er ging, wohin die Füße ihn führten. + +Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er empfand +Schüttelfrost, Frost in dieser Hitze! Fast bewußtlos, mit großer +Überwindung begann er alles, was ihm begegnete, zu betrachten, als suche +er Zerstreuung, aber das gelang ihm schlecht, er überraschte sich immer +wieder bei seinem Gespenst. Wenn er aber auffahrend wieder den Kopf +erhob und sich ringsum umblickte, vergaß er sofort, worüber er soeben +nachgedacht hatte und wo er war. In dieser Weise durchwanderte er den +ganzen Wassiljew Ostroff, kam zu der kleinen Newa hinaus, überschritt +die Brücke und wandte sich den Inseln zu. Das frische Grün und die +erquickende Luft taten seinen müden Augen wohl, die an Stadtstaub, Kalk +und an beengende und bedrückende Häuser doch gewöhnt waren. Hier gab es +weder eine dumpfe Luft, noch Gestank, noch Schenken. Doch es währte +nicht lange, und es gingen auch diese neuen angenehmen Empfindungen in +krankhafte und aufregende über. Ab und zu blieb er vor einer aus üppigem +Grün lugenden Villa stehn, blickte durch den Zaun hindurch und sah in +der Ferne auf den Balkonen und Terrassen elegante Frauen und in den +Gärten spielende Kinder. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den +Blumen, sie schaute er am längsten an. Er begegnete auch schönen Wagen, +Reitern und Amazonen, verfolgte sie voll Neugier mit den Blicken und +vergaß sie, wenn sie kaum seinen Augen entschwunden waren. Einmal blieb +er auch stehn und zählte sein Geld nach -- es waren etwa dreißig +Kopeken. + +»Zwanzig gab ich dem Schutzmann, drei für den Brief an Nastasja, also +habe ich gestern Marmeladoffs siebenundvierzig oder fünfzig Kopeken +hinterlassen,« dachte er, indem er aus irgendeinem Grund nachrechnete, +bald aber hatte er vergessen, warum er das Geld aus der Tasche +hervorgeholt hatte. + +Er erinnerte sich wieder daran, als er an einer Speiseanstalt, einer Art +Garküche, vorbeiging und fühlte, daß er Hunger hatte. Er trat ein, trank +ein Gläschen Branntwein und nahm eine Pastete, die er auf dem Wege zu +Ende aß. Er hatte sehr lange schon keinen Branntwein mehr getrunken, der +tat denn auch im Nu seine Wirkung, obwohl es nur ein einziges Gläschen +war. Seine Füße wurden schwer, und er fühlte einen starken Drang zu +schlafen. Er kehrte um, um nach Hause zu gehen, als er aber Petrowski +Ostroff schon erreicht hatte, blieb er in völliger Erschöpfung stehen, +ging abseits des Weges in ein Gebüsch, fiel aufs Gras hin und schlief im +selben Augenblick ein. In krankhaften Zuständen zeichnen sich Träume oft +durch ungewöhnliche Deutlichkeit, Klarheit und außerordentliche +Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit aus. Es erscheint zuweilen ein +seltsames Bild, die Umgebung aber und der ganze Gang der Vorstellung +sind so wahrscheinlich und mit solchen feinen unerwarteten und dem +Gesamtbilde künstlerisch entsprechenden Einzelheiten verbunden, daß +derselbe Träumer sie in Wirklichkeit nicht so ausdenken kann, mag er +auch selbst ein Künstler, wie Puschkin oder Turgenjeff sein. Solche +krankhafte Träume bleiben stets lange in der Erinnerung haften und üben +einen starken Eindruck auf den zerrütteten und angegriffenen Organismus +eines Menschen aus. Raskolnikoff hatte solch einen Traum. Er träumt sich +als Kind in der kleinen Provinzialstadt. Er ist sieben Jahre alt und +geht an einem Feiertage gegen Abend mit seinem Vater außerhalb der Stadt +spazieren. Es ist eine graue trübe Zeit, der Tag drückend, die Gegend +genau so, wie sie in seiner Erinnerung lebt; in seiner Erinnerung ist +sie ihm nicht so klar, als sie ihm jetzt im Traume erscheint. Das +Städtchen liegt vor ihm, wie ein aufgeschlagenes Buch; ringsum kein +Weidenstrauch; sehr weit, ganz am Horizonte hebt sich dunkel ein +Wäldchen ab. Einige Schritte von dem äußersten städtischen Gemüsegarten +steht eine Schenke, eine große Schenke, die auf ihn stets einen höchst +unangenehmen Eindruck machte, ihm Furcht einflößte, wenn er auf dem +Spaziergange mit dem Vater vorbeiging. Dort traf man stets eine große +Menge an; sie brüllten, lachten, schimpften, sangen so scheußlich und +heiser, und prügelten sich so oft; rings um die Schenke lungerten stets +betrunkene und schreckliche Gestalten ... Wenn er ihnen begegnete, +drückte er sich fester an den Vater und zitterte am ganzen Körper. Neben +der Schenke führte ein Weg, ein Landweg vorbei, stets mit schwarzem +Staub bedeckt. Der Weg zog sich schlängelnd weiter, und etwa nach +dreihundert Schritten bog er rechts um den städtischen Friedhof ab. +Mitten auf dem Friedhofe erhob sich eine steinerne Kirche mit grüner +Kuppel, in die er ein paarmal im Jahre mit Vater und Mutter zum +Gottesdienst ging, wenn für seine längst verstorbene Großmutter, die er +nie gesehen hatte, eine Seelenmesse abgehalten wurde. Da nahmen sie +stets »Kutje«[7] auf einem weißen Teller, in einer Serviette, mit, und +die »Kutje« war aus Zucker, Reis und Rosinen zubereitet, und die Rosinen +waren in Form eines Kreuzes in den Reis gesteckt. Er liebte diese Kirche +und die alten Heiligenbilder, die meist ohne Einfassung waren, und den +alten Priester mit dem zitternden Haupte. Neben dem Grabhügel der +Großmutter, auf dem ein Grabstein war, lag auch das kleine Grab seines +jüngsten Bruders, der sechs Monate alt gestorben war, und den er auch +nicht gekannt hatte, an dessen Dasein er sich nicht erinnern konnte. Man +hatte ihm aber erzählt, daß er einen kleinen Bruder gehabt habe, und +jedesmal, wenn er den Friedhof besuchte, bekreuzigte er sich voll +Andacht an dem kleinen Grabhügel, verneigte sich und küßte die Erde. Und +nun träumte er: er geht mit dem Vater zum Friedhof, und sie gehen an der +Schenke vorbei; er hält den Vater an der Hand und blickt voll Schrecken +zu der Schenke hin. Ein besonderer Umstand fesselt seine Aufmerksamkeit, +-- diesmal scheint hier ein Volksfest zu sein, ein Haufen geputzter +Bürgerfrauen, Weiber, Männer und allerhand Gesindel steht da herum. Alle +sind betrunken, alle singen, und neben der Treppe der Schenke steht ein +Wagen -- ein seltsamer Wagen. Es ist ein großer Wagen, vor den große +Lastpferde gespannt werden, und auf dem man Waren und Weinfässer +befördert. Er liebt es, diesen ungeschlachten Gäulen mit den langen +Mähnen und den dicken Beinen zuzusehen, wie sie langsam in gleichmäßigem +Schritt dahinschreiten, einen ganzen Berg ohne die geringste Anstrengung +hinter sich herziehend, als wäre es ihnen leichter mit dem Wagen als +ohne ihn zu gehen. Jetzt aber war merkwürdigerweise vor solch einen +großen Wagen ein kleines, mageres, braunes Bauernpferd gespannt, eines +von jenen, die -- wie er es oft gesehen hatte -- sich mit hochbeladenen +Wagen voll Holz oder Heu abquälen müssen, um so mehr, wenn der Wagen im +Schmutze oder in alten Wagenspuren stecken bleibt. Dann hauen die Bauern +darauf los, peitschen sie schmerzhaft, oft auf das Maul und über die +Augen. Das tut ihm so weh, so weh anzusehen, daß ihm die Tränen kommen; +die Mutter führt ihn dann immer von dem Fenster fort. -- Plötzlich +erhebt sich ein Lärm -- aus der Schenke kommen mit Geschrei, Gesang und +mit Balalaikas[8] betrunkene, völlig betrunkene, große Bauern heraus, in +blauen und roten Hemden, mit übergeworfenen Mänteln. + +»Setzt euch, setzt euch alle!« ruft einer, ein junger Bursche mit dickem +Halse und fleischigem, dunkelrotem Gesichte. -- »Ich fahre euch alle +hin, setzt euch darauf!« Mit lautem Lachen erschollen die Ausrufe: + +»So eine Schindmähre soll uns ziehen.« + +»Bist du von Sinnen, Mikolka, -- so eine kleine Stute vor diesen Wagen +zu spannen?« + +»Das Pferdchen ist sicher seine zwanzig Jahre alt, Brüder!« + +»Setzt euch, ich fahre euch alle zusammen!« ruft von neuem Mikolka, +springt als erster auf den Wagen, ergreift die Zügel und pflanzt sich in +seiner ganzen Größe vorne auf dem Wagen auf. »Mit dem Braunen ist Matwei +vorhin losgezogen,« schreit er vom Wagen. »Diese Mähre treibt mir bloß +die Galle ins Blut, ich möchte sie totschlagen, frißt umsonst den Hafer. +Ich sage -- setzt euch! Ich lasse sie im Galopp laufen! Sie muß Galopp +laufen!« Und er nimmt die Peitsche in die Hand und bereitet sich voll +Wonne vor, das Pferd zu schlagen. + +»Setzt euch doch!« ruft man lachend in der Menge. »Hört doch, sie wird +im Galopp laufen.« + +»Sie ist wahrscheinlich schon zehn Jahre nicht mehr im Galopp gelaufen.« + +»Sie wird schön springen!« + +»Keine Angst, Brüder, nehmt jeder eine Peitsche, und drauf los!« + +»Was ist da zu schonen! Schlagt los!« + +Alle springen mit Gelächter und Witzen in den Wagen. Sechs Mann sind +hereingekrochen, und noch ist Platz. Sie nehmen ein dickes und +rotbäckiges Weib noch hinauf, ein Weib in einem Kleide von rotem Kattun, +mit einem Kopfputze aus Glasperlen, an den Füßen lederne Bauernschuhe; +sie knackt Nüsse und lacht. Ringsum in der Menge lacht man auch, und in +der Tat, warum soll man auch nicht lachen, -- so eine abgemagerte Mähre +soll solch eine Last im Galopp ziehen! Zwei Burschen im Wagen nehmen je +eine Peitsche, um Mikolka zu helfen. »Los!« ruft er, die Mähre zieht aus +Leibeskräften an; vom im Trabe laufen kann nicht die Rede sein, sie kann +nicht mal im Schritt losgehen, sie trippelt bloß auf einem Fleck, stöhnt +und keucht unter den Hieben der drei Peitschen, die auf sie wie Hagel +niederprasseln. Das Gelächter auf dem Wagen und in der Menge wird +stärker, Mikolka aber wird wütend und peitscht immer heftiger, als +glaube er wirklich, sie zum Galopp treiben zu können. + +»Nehmt mich auch mit, Brüder!« ruft ein Bursche aus der Menge, der Lust +bekommen hatte, mitzufahren. + +»Setzt euch! Setzt euch alle hinein!« schreit Mikolka. »Sie wird alle +ziehen. Ich peitsche sie zu Tode!« Und er schlägt los, schlägt das Pferd +in einem fort und weiß vor Raserei nicht, womit er es noch schlagen +soll. + +»Papa, lieber Papa!« ruft der Knabe dem Vater zu. -- + +»Papa, was tun sie? Papa, sie schlagen das arme kleine Pferd!« + +»Komm, laß uns gehen!« sagte der Vater. »Betrunkene Dummköpfe treiben +ihren Unfug; laß uns gehen, sieh nicht hin!« und er will ihn fortführen, +der Knabe aber reißt sich los und läuft zu dem Pferde hin. Dem aber geht +es schon schlecht. Es schnappt nach Luft, steht still, zieht von neuem +an und fällt beinahe hin. + +»Peitscht es zu Tode!« schreit Mikolka. »Mag es kaput gehen. Ich +peitsche es zu Tode!« + +»Bist du kein Christ, du Scheusal?« ruft ein alter Mann aus der Menge. + +»Hat man es je erlebt, daß so ein Pferd diese Last ziehen soll,« fügte +ein anderer hinzu. + +»Du quälst es zuschanden!« ruft ein dritter. + +»Schweigt still! Es ist mein Eigentum. Ich kann damit tun, was ich will. +Setzt euch noch dazu in den Wagen! Setzt euch alle hinein! Ich will, daß +es im Galopp läuft! ...« + +Ein lautes Lachen übertönte plötzlich alles, -- die Mähre wollte sich +der scharfen Schläge erwehren und begann in ihrer Bedrängnis +auszuschlagen. Sogar der alte Mann mußte lächeln. Es war auch ein zu +komisches Bild, -- so eine abgebrauchte Mähre schlägt plötzlich aus. +Zwei Burschen aus der Menge verschaffen sich Peitschen und springen +herzu, um das Pferd von zwei Seiten zu schlagen. + +»Schlagt sie auf das Maul, peitscht sie über die Augen, über die Augen!« +schreit Mikolka. + +»Brüder, wollen wir ein Lied singen!« ruft jemand vom Wagen, und alle +darinnen folgten sogleich der Aufforderung. Ein ausgelassenes Lied +erschallt, ein Tamburin rasselt, der Refrain wird gepfiffen. Das Weib +knackt Nüsse und lacht vergnügt. + +... Er läuft neben dem Pferde, er eilt nach vorne, er sieht, wie man es +über die Augen schlägt, direkt über die Augen! Er weint. Sein Herz +krampft sich zusammen, die Tränen fließen. Einer von den Peitschenden +fährt ihm ins Gesicht; er fühlt es nicht, er ringt die Hände, schreit +auf, stürzt zu dem alten Manne mit dem grauen Barte hin, der seinen Kopf +schüttelt und das mißbilligt. Ein Weib packt seine Hand und will ihn +fortführen, er reißt sich los und läuft wieder zu dem Pferde hin. Es hat +keine Kraft mehr, noch einmal schlägt es aus. + +»Hol dich der Teufel!« schreit Mikolka wütend. Er wirft die Peitsche von +sich, bückt sich und zieht vom Boden des Wagens eine lange und dicke +Deichselstange hervor, ergreift sie mit beiden Händen und schwingt sie +mit gewaltiger Anstrengung auf das Pferd nieder. + +»Er schlägt das Pferd tot!« schreit einer. + +»Er zerschmettert es!« + +»Es ist mein Eigentum!« brüllt Mikolka und läßt die Stange mit voller +Wucht niedersausen. + +Ein dumpfer Schlag. + +»Haut es mit der Peitsche! Warum steht ihr da!« ruft man aus der Menge. + +Mikolka holt zum zweiten Male aus, und ein neuer Schlag saust auf den +Rücken der unglücklichen Mähre nieder. Sie fällt beinahe auf die +Hinterbeine, springt aber auf und ruckt und ruckt aus letzter Kraft hin +und her, um den Wagen von der Stelle zu bringen; von allen Seiten +empfängt sie Peitschenhiebe, die Deichselstange erhebt sich von neuem +und saust zum dritten und vierten Male nieder. Mikolka ist wütend, daß +er das Pferd nicht mit einem Schlage töten kann. + +»Es ist zäh!« ruft man ringsum. + +»Es fällt gleich hin, Brüder, nun geht es mit ihm zu Ende!« schreit +jemand aus der Menge. + +»Ist es nicht besser, mit einem Beile es totzuschlagen? Macht doch ein +Ende!« ruft ein anderer. + +»Zum Teufel mit dir! Geht alle aus dem Wege!« brüllt Mikolka, wirft die +Deichsel fort, bückt sich von neuem und holt eine Eisenstange hervor. +»Nehmt euch in acht!« ruft er und läßt sie mit voller Kraft auf das arme +Pferd niedersausen. Dieser Schlag traf; das Pferd taumelte, krümmte sich +und wollte ziehen, aber die Eisenstange sauste wieder auf seinen Rücken +herab, und das Pferd stürzte zu Boden, als wären ihm alle vier Beine mit +einemmal abgeschlagen. + +»Schlagt zu!« schreit Mikolka und springt wie toll vom Wagen herab. +Einige Burschen, ebenso rot im Gesichte wie er und betrunken, ergreifen, +was ihnen in die Hände kommt -- mit Peitschen, Stöcken, der +Deichselstange laufen sie zu dem verendenden Pferde. Mikolka stellt sich +auf der einen Seite hin und fängt an, sinnlos mit der Eisenstange auf +seinen Leib zu schlagen. Die Mähre streckt den Kopf, holt schwer Atem +und verendet. »Nun hast du ihm den Garaus gemacht!« ruft man aus der +Menge. + +»Warum lief es nicht im Galopp!« + +»Es ist mein Eigentum!« schreit Mikolka mit blutunterlaufenen Augen und +hält die Eisenstange noch in den Händen. Er steht da, als täte es ihm +leid, daß er niemanden mehr habe, den er niederschlagen könnte. + +»Du bist wirklich kein Christ!« rufen einige Stimmen aus der Menge. + +Der arme Knabe aber ist außer sich. Mit einem Schrei durchbricht er die +Menge, läuft auf das Pferd zu, umarmt den blutüberströmten toten Kopf +und küßt ihn; er küßt die Augen, die Lefzen ... Dann springt er auf und +stürzt sich voller Wut mit seinen kleinen Fäustchen auf Mikolka. In +diesem Augenblick erwischt ihn der Vater, der ihm nachgelaufen war, und +trägt ihn fort. + +»Gehen wir! Gehen wir!« sagt der Vater zu ihm. »Gehen wir nach Hause!« + +»Papa, lieber Papa! Warum haben sie ... das kleine Pferd ... +erschlagen!« schluchzte er, sein Atem stockt und die Worte kommen wie +Schmerzensschreie aus seiner gepreßten Brust. + +»Sie sind betrunken ... versündigen sich, uns geht es nichts an ... +gehen wir!« sagt der Vater. Er aber umfaßt den Vater mit beiden Händen, +es schnürt ihm die Kehle zu. Er will Atem holen, schreien und -- er +erwacht. Er erwachte ganz mit Schweiß bedeckt, mit feuchten Haaren, +schwer atmend, und erhob sich zitternd. + +»Gottlob, es war nur ein Traum!« sagte er, setzte sich unter den Baum +und seufzte tief auf. »Aber was ist mit mir? Fange ich an zu fiebern, -- +so ein gräßlicher Traum!« + +Sein ganzer Körper war wie zerschlagen, und in seiner Seele war es +dunkel und trübe. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und hielt sich +mit beiden Händen den Kopf. + +»Mein Gott,« rief er aus. »Werde ich denn, werde ich wirklich ein Beil +nehmen, werde es ihr auf den Kopf schlagen, das Gehirn ihr zerschmettern +... in klebrig warmem Blute tasten, das Schloß aufbrechen, stehlen und +zittern, mich verstecken, ganz mit Blut bedeckt ... mit einem Beile ... +Oh, Gott, werde ich es denn tun?« + +Es durchschauerte ihn am ganzen Körper, als er das aussprach. »Ja, was +ist denn mit mir?« fuhr er fort, sich aufraffend und mit tiefem Staunen. +»Ich weiß doch, daß ich es nicht ertragen kann, warum habe ich mich denn +bis jetzt gequält? Gestern, gestern schon, als ich hinging, diesen ... +Versuch zu machen, gestern begriff ich vollkommen, daß ich es nicht zu +tun vermöge ... Was will ich denn jetzt noch? Warum hatte ich bis jetzt +noch Zweifel? Ich sagte mir schon gestern, als ich die Treppe +hinunterging, daß es gemein, niedrig, schuftig sei ... mir wurde ja beim +bloßen Gedanken übel und ein kalter Schauer ging mir durch alle Glieder +... Nein, ich werde es nicht aushalten, werde es nicht aushalten! Mag es +auch keinen einzigen Fehler in diesen Berechnungen geben, mag all das, +was in diesem Monat beschlossen wurde, klar wie der Tag, und richtig wie +eine mathematische Formel sein. Herrgott! Ich kann mich nicht dazu +entschließen! Ich werde es ja nicht aushalten, nicht aushalten! Was ist +denn mit mir immer noch, was denn?« + +Er stand auf, sah sich verwirrt um, als sei er erstaunt, daß er hierher +gekommen war, und ging zu der T.-W.-Brücke. Er war bleich, die Augen +brannten, in seinen Gliedern lag tiefste Ermattung, plötzlich aber +konnte er leichter atmen. Er fühlte, daß er diese furchtbare Last, die +ihn solange bedrückt hatte, abgeworfen habe, und in seiner Seele wurde +es mit einem Male leicht und frei. + +»Oh Gott!« flehte er. »Zeig mir meinen Weg, und ich sage mich los von +diesem verfluchten Trugbild!« Als er über die Brücke ging, blickte er +still und ruhig auf die Newa und auf die untergehende grellrote Sonne. +Trotz seiner Schwäche empfand er keine Müdigkeit. Es war, als sei das +Geschwür an seinem Herzen, das den ganzen Monat heranreifte, plötzlich +aufgegangen. Freiheit! Freiheit! Er ist jetzt von dieser Verzauberung, +von dieser Hexerei, von diesem Reiz, von dieser Versuchung befreit! + +Später, als er an diese Zeit und all das dachte, was mit ihm in diesen +Tagen, Minute für Minute, Punkt für Punkt, Strich für Strich vorgegangen +war, setzte ihn fast bis zum Aberglauben ein Umstand stets in Erstaunen, +der im Grunde genommen nicht besonders ungewöhnlich war, der ihm aber +später wie die Fügung seines Schicksals erschien. Und zwar, -- er konnte +es gar nicht verstehen und erklären, warum er, ermüdet und abgespannt, +statt auf dem kürzesten und geradesten Weg nach Hause zu gehen, +plötzlich über den Heumarkt, den zu durchqueren für ihn ganz überflüssig +war, nach Hause zurückkehrte. Es war kein bedeutender Umweg, aber doch +ein augenscheinlich und eben völlig überflüssiger. Gewiß, er war +Dutzende von Malen nach Hause zurückgekehrt, ohne sich der Straßen zu +erinnern, durch die er gewandert war. Warum aber, fragte er sich immer, +warum passierte so eine wichtige, so eine entscheidende und gleichzeitig +so eine höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte -- über den zu +gehen er gar keine Veranlassung hatte -- gerade zu der Stunde, in dem +Augenblicke seines Lebens, in solch einer Seelenstimmung und unter +solchen Umständen, unter denen diese Begegnung auch die entscheidenste +und endgültigste Wirkung auf sein ganzes Schicksal ausüben mußte? Als +hätte es auf ihn hier absichtlich gelauert! -- Es war gegen neun Uhr, +als er über den Heumarkt ging. Alle Verkäufer an den Tischen, in den +Läden und Buden schlossen ihre Geschäfte oder kramten ihre Waren +zusammen, packten sie ein und waren ebenso, wie ihre Käufer, auf dem +Wege nach Hause. Bei den Garküchen, in den Kellern, in den schmutzigen +und stinkenden Höfen der Häuser am Heumarkte, besonders aber bei den +Schenken drängte sich eine Menge allerhand Händler und verlumpter +Gestalten. Raskolnikoff liebte diese Gegend, ebenso auch alle +umliegenden Gassen, ganz besonders aber, wenn er ohne ein bestimmtes +Ziel bummeln ging. Hier erregten seine Lumpen keine hochmütige +Aufmerksamkeit, hier konnte man gekleidet gehen, wie man wollte, ohne +sich zu blamieren. An der Ecke der K.schen Gasse handelte ein +Kleinbürger mit seiner Frau an zwei Tischen mit allerhand Waren, -- +Zwirn, Bändern, Kattuntüchern und dergleichen mehr. Sie waren auch beim +Aufbruch, wurden aber durch ein Gespräch mit einer Bekannten +aufgehalten. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna oder einfacher +Lisaweta, wie sie allgemein genannt wurde, die jüngere Schwester +derselben Alten, Aljona Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators, +der Wucherin, bei der Raskolnikoff gestern gewesen war, um seine Uhr zu +versetzen und seine _Probe_ zu machen ... Er wußte längst alles über +diese Lisaweta, und sie kannte ihn auch ein wenig. Sie war ein +hochgewachsenes, plumpes, zaghaftes und stilles Mädchen, fast eine +Idiotin, fünfunddreißig Jahre alt, die bei ihrer Schwester lediglich die +Dienstmagd war, für sie Tag und Nacht arbeitete, vor ihr zitterte und +sogar von ihr Schläge bekam. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel vor +dem Händler und seiner Frau und hörte ihnen aufmerksam zu. Die redeten +mit besonderem Eifer auf sie ein. Als Raskolnikoff sie unvermutet +erblickte, überkam ihn eine eigentümliche Empfindung, die einer sehr +starken Verwunderung glich, obwohl diese Begegnung nichts +Verwunderliches an sich hatte. + +»Sie wollen einmal selbst entscheiden, Lisaweta Iwanowna,« sagte der +Händler laut. »Kommen Sie morgen so gegen sieben Uhr. Die werden auch +herkommen.« + +»Mor--gen?« sagte Lisaweta gedehnt und nachdenklich, als ob sie sich +nicht entschließen könne. + +»Aljona Iwanowna hat Ihnen viel zu viel Furcht eingejagt!« sagte die +Frau des Händlers, ein flinkes Weib. »Sie sind ganz wie ein Kind. Und +dabei ist sie nicht mal Ihre leibliche, sondern Ihre Stiefschwester und +hat doch solch eine große Macht über Sie!« + +»Sie sollten Aljona Iwanowna nichts davon erzählen,« unterbrach der +Mann, »ich gebe Ihnen den Rat, und Sie kommen zu uns ohne Erlaubnis. Es +ist ein vorteilhaftes Geschäft. Ihre Schwester wird es später selbst +einsehen.« + +»Soll ich kommen?« + +»Morgen, um sieben Uhr, auch von denen kommt jemand her. Dann können Sie +selbst entscheiden.« + +»Wir stellen den Samowar auf und machen Tee,« fügte die Frau hinzu. + +»Gut, ich will kommen,« antwortete Lisaweta, immer noch in Nachdenken +versunken, und ging langsam weiter. + +Raskolnikoff war schon vorüber und hörte nichts mehr. Er war langsam +gegangen, unbemerkt, und bestrebt, kein Wort vom Gespräche zu verlieren. +Seine Verwunderung verwandelte sich allmählich in Schrecken, als wäre +ihm etwas Kaltes über den Rücken gelaufen. Er hatte erfahren, vollkommen +unerwartet hatte er erfahren, daß morgen abend punkt sieben Uhr +Lisaweta, die Schwester der Alten und ihre einzige Mitbewohnerin, nicht +zu Hause sein werde, und daß also die Alte Punkt sieben Uhr _ganz allein +zu Hause war_. + +Bis zu seiner Wohnung waren es bloß einige Schritte. Er ging, wie ein +zum Tode Verurteilter. Er dachte an nichts und konnte auch an gar nichts +denken, aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er plötzlich, daß er weder +die Freiheit der Erwägung noch einen Willen besitze, und daß alles mit +einem Male endgültig entschieden sei. + +Es war sicher, daß er, selbst bei jahrelangem Warten auf solch einen +günstigen Zufall, sicher nicht auf einen deutlicheren Wink für den +Erfolg rechnen konnte, als der war, der sich ihm jetzt urplötzlich bot. +In jedem Falle würde es schwer sein, am Abend vorher und sicher, mit +größter Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliches Ausfragen +und Untersuchen, zu erfahren, daß am anderen Tage um die und die Stunde +die Alte, auf die man einen Anschlag vorbereitet, ganz allein zu Hause +sein werde. + + + VI. + +Später erfuhr Raskolnikoff ganz zufällig, warum der Händler und dessen +Frau Lisaweta zu sich eingeladen hatten. Es handelte sich um eine rein +alltägliche Sache und enthielt gar nichts Besonderes. Eine zugereiste, +verarmte Familie wollte ihre Sachen, Kleider und ähnliches verkaufen. Da +es unvorteilhaft war, auf dem Markte zu verkaufen, suchte man unter der +Hand eine Händlerin; Lisaweta nun befaßte sich mit dergleichen, -- sie +übernahm Aufträge, besorgte allerhand Gänge und hatte eine recht +ansehnliche Praxis, weil sie sehr ehrlich war und immer den äußersten +Preis bot, -- und bei dem Preis, den sie nannte, blieb sie stets. Sie +redete überhaupt wenig und war, wie gesagt, still und verschüchtert ... + +Raskolnikoff war in der letzten Zeit abergläubisch geworden. Und Spuren +dieses Aberglaubens blieben in ihm noch für lange hinaus untilgbar +haften. Und er war später stets geneigt, in dieser ganzen Angelegenheit +eine gewisse Bestimmung, eine geheimnisvolle Fügung, wie die Existenz +besonderer Einflüsse und Zufälle, zu sehen. Noch im Winter hatte ihm +sein Bekannter, ein Student, Pokoreff, bei seiner Abreise nach Charkoff +beiläufig im Gespräche die Adresse der Alten, Aljona Iwanowna, +mitgeteilt, für den Fall, daß er einmal etwas versetzen möchte. Er ging +lange nicht zu ihr, da er Stunden gab und sich damit einigermaßen +durchschlug. Vor anderthalb Monaten erinnerte er sich der Adresse; er +hatte zwei Sachen, die zum Versetzen taugten, -- eine alte silberne Uhr +von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten +Steinchen, den seine Schwester ihm beim Abschied als Andenken geschenkt +hatte. Er beschloß den Ring hinzubringen; nachdem er die Alte gefunden +hatte, empfand er vom ersten Augenblick an, ohne von ihr etwas Näheres +zu wissen, einen unwiderstehlichen Widerwillen gegen sie; er nahm von +ihr zwei »Scheinchen« und ging auf dem Rückwege in ein schlechtes +Wirtshaus. Da bestellte er Tee, setzte sich hin und verfiel in ein +tiefes Nachdenken. Ein unheimlicher Gedanke löste sich in seinem Kopfe +aus, wie ein Küchlein aus den Eierschalen, und nahm Besitz von ihm. + +An einem anderen Tische, fast neben ihm, saß ein Student, den er nicht +kannte, und dessen er sich nicht erinnerte, und ein junger Offizier. Sie +hatten eine Partie Billard gespielt und tranken nun Tee. Da hörte +Raskolnikoff, wie der Student dem Offiziere von einer Wucherin Aljona +Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators, erzählte und ihm ihre +Wohnung nannte. Das berührte Raskolnikoff seltsam, -- er kommt soeben +von dort und hier unterhält man sich von ihr. Gewiß, es ist ein Zufall, +aber er kann sich gerade jetzt nicht von einem äußerst ungewöhnlichen +Gefühl losmachen, ihm ist es, als wolle ihm jemand dazu behilflich sein, +-- der Student erzählte allerhand Einzelheiten von dieser Aljona +Iwanowna. »Sie ist ausgezeichnet,« sagte er, »man kann bei ihr stets +Geld erhalten. Sie ist reich wie ein Jude, kann auf einmal fünftausend +geben, geniert sich aber auch nicht, ein Pfand von einem Rubel +anzunehmen. Viele von meinen Bekannten waren bei ihr. Aber sie ist ein +Scheusal ...« + +Und er erzählte, wie böse und launisch sie sei, und daß das Pfand +verfallen sei, wenn man den Termin bloß um einen Tag versäume. Sie gibt +den vierten Teil des Wertes, nimmt fünf und sogar sieben Prozent pro +Monat und dergleichen mehr. Der Student kam ins Plaudern und teilte +unter anderem auch mit, daß die Alte eine Schwester Lisaweta habe, die +sie, so klein und unansehnlich sie selbst sei, alle Augenblicke schlage +und in völliger Bevormundung wie ein kleines Kind halte, trotzdem +Lisaweta mindestens dreimal größer und stärker sei ... + +»Ja, sie ist eine Zierde ihres Geschlechts!« rief der Student aus und +lachte laut. + +Er fing an von Lisaweta zu erzählen; erzählte mit augenscheinlichem +Genuß und lachte dabei fortwährend; der Offizier hörte mit großem +Interesse zu und bat den Studenten, ihm die Lisaweta zu schicken, um +seine Wäsche auszubessern. Raskolnikoff verlor kein einziges Wort von +der Unterhaltung und erfuhr somit alles, -- Lisaweta war die jüngere +Stiefschwester der Alten -- von anderer Mutter -- und war schon +fünfunddreißig Jahre alt. Sie arbeitete Tag und Nacht für die Schwester, +ersetzte die Köchin und Wäscherin, nähte außerdem um Lohn, ging +außerhalb des Hauses Dielen scheuern und gab jeden Verdienst der +Schwester ab. Keine einzige Bestellung und keine Arbeit wagte sie ohne +die Erlaubnis der Alten zu übernehmen. Diese hatte bereits ihr Testament +gemacht, was Lisaweta bekannt war, hatte ihr keinen Groschen Geld, +sondern nur die bewegliche Habe, wie Stühle und ähnliches vermacht; das +ganze Geld war für ein Kloster in dem N.schen Gouvernement zu ewigen +Seelenmessen bestimmt. Lisaweta war Kleinbürgerin, nicht aus dem +Beamtenstande, unverheiratet, ungewöhnlich plump gebaut, übergroß, mit +breiten Füßen, hatte immer schiefgetretene Schuhe, war aber sonst +reinlich gekleidet. Was aber den Studenten am meisten belustigte, war, +daß Lisaweta alljährlich schwanger war ... + +»Du sagst doch, sie sei häßlich!« bemerkte der Offizier. + +»Ja, sie hat eine dunkle Gesichtsfarbe, wie ein Soldat, ist aber sonst, +weißt du, nicht häßlich. Sie hat so ein gutes Gesicht und gute Augen, +sehr gute Augen; Grund genug, daß sie vielen gefällt. Sie ist still, +sanft und anspruchslos, zu allem bereit. Ihr Lachen ist sogar +einnehmend.« + +»Sie scheint dir zu gefallen!« lachte der Offizier. + +»Ja, ihrer Eigentümlichkeit wegen. Doch, was ich dir sagen wollte. Ich +könnte diese verfluchte Alte ermorden und berauben, und, glaube mir, ich +täte es ohne Gewissensbisse,« fügte der Student eifrig hinzu. + +Der Offizier lachte wieder auf, Raskolnikoff aber fuhr zusammen. Wie +seltsam dies alles war! + +»Erlaube mal, ich will dir eine ernste Frage vorlegen,« sagte der +Student voll Eifer. »Ich habe mir soeben einen Scherz erlaubt, aber sieh +mal an -- einerseits gibt es ein dummes, bedeutungsloses, +minderwertiges, böses, krankes, altes Weib, das keinem Menschen nützt, +im Gegenteil allen schadet, das selbst nicht weiß, wozu es lebt, und das +morgen ohne fremde Hilfe sterben wird. Verstehst du? Verstehst du mich?« + +»Nun, ich verstehe es,« antwortete der Offizier und sah aufmerksam +seinen in Eifer geratenen Freund an. + +»Höre nun weiter. Anderseits gibt es junge, frische Kräfte, die unnütz +zugrunde gehen, ohne Hilfe und das zu tausenden und allerorts. Hundert, +tausend gute Taten und Hilfeleistungen könnte man für das Geld der Alten +tun, das einem Kloster zufallen soll. Hundert, vielleicht tausend +Existenzen könnten damit auf den richtigen Weg gebracht werden; dutzende +Familien könnten vor Hunger, Verfall, Untergang, Laster und vor +venerischen Krankheiten geschützt werden -- und all das für ihr Geld. +Ermorde sie und nimm ihr Geld, um dich später mit seiner Hilfe der +ganzen Menschheit und der gemeinnützigen Sache zu widmen, -- was meinst +du, wird nicht ein einziges unbedeutendes, winziges Verbrechen durch +Tausende guter Taten wettgemacht? Für ein Leben -- Tausende von Leben, +gerettet vor Fäulnis und Verfall. Ein einziger Tod und hunderte Leben an +seiner Statt, das ist doch ein einfaches Rechenexempel. Ja, und was +bedeutet auf der allgemeinen Wage das Leben dieser schwindsüchtigen, +dummen und bösen Alten. Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer +Wanze, und nicht mal soviel, weil die Alte schädlich ist. Sie untergräbt +das Leben eines anderen; vor ein paar Tagen hat sie Lisaweta aus Wut in +den Finger gebissen, man mußte ihn fast abnehmen lassen!« + +»Gewiß, sie ist des Lebens nicht wert,« bemerkte der Offizier. »Aber das +ist doch Sache der Natur.« + +»Ach, Bruder, die Natur korrigiert man doch auch und zeigt ihr den +richtigen Weg, wir müßten ja sonst in Vorurteilen ersticken. Ohne das +würde es keine großen Männer geben. Man redet von Pflicht und Gewissen, +-- ich will nichts gegen Gewissen und Pflicht sagen, aber was verstehen +wir darunter? Doch ich will dir noch eine Frage vorlegen. Gib acht!« + +»Nein, warte du mal, jetzt will ich dir eine Frage vorlegen. Höre zu.« + +»Nun!« + +»Sieh, du redest jetzt und ereiferst dich, sage mir aber -- würdest _du +selbst_ die Alte ermorden oder nicht?« + +»Selbstverständlich nicht! Ich rede nur aus Gerechtigkeit ... Ich habe +mit der Sache nichts zu tun ...« + +»Meiner Meinung nach kann von Gerechtigkeit gar nicht die Rede sein, +wenn du dich nicht selbst dazu entschließt. Komm, wir wollen noch eine +Partie Billard spielen!« + +Raskolnikoff war äußerst aufgeregt. Gewiß, das Gespräch war eins von den +gewöhnlichsten Gesprächen und Gedanken, die er mehr als einmal unter +jungen Leuten gehört hatte, vielleicht in einer anderen Form und über +einen anderen Gegenstand. Warum aber kam er jetzt gerade dazu, dieses +Gespräch und diese Gedanken zu hören, wo in seinem eigenen Kopfe ... +_ebensolche Gedanken_ aufgetaucht waren? Und warum stößt er gerade +jetzt, wo in ihm dieser Gedanke auftauchte, als er die Alte verließ, auf +ein Gespräch über dieselbe Alte? ... Ihm erschien dieses Zusammentreffen +stets merkwürdig. Diese nichtssagende Unterhaltung in dem Wirtshause +hatte auf ihn einen außergewöhnlichen Einfluß für die weitere +Entwicklung der Sache, -- als wäre hierbei tatsächlich eine +Vorausbestimmung, ein Fingerzeig gewesen ... + + * * * * * + +Nach Hause zurückgekehrt, warf er sich auf das Sofa und blieb eine volle +Stunde sitzen, ohne sich zu rühren. Es war inzwischen dunkel geworden; +ein Licht besaß er nicht, es kam ihm gar nicht der Gedanke, ein Licht +anzustecken. Er konnte sich später niemals erinnern, ob er in dieser +Stunde an etwas gedacht hatte. Er spürte noch immer das Fieber von +früher her und den Schüttelfrost, und es war ihm ein angenehmer Gedanke, +daß er sich auf das Sofa hinlegen konnte. Ein fester bleierner Schlaf +überfiel ihn und legte sich schwer auf ihn. + +Er schlief ungewöhnlich lange und traumlos. Nastasja, die am nächsten +Morgen um zehn Uhr in das Zimmer kam, konnte ihn nur mit Mühe aufwecken. +Sie brachte ihm Tee und Brot, den Tee wie immer alt aufgegossen in ihrer +eigenen Teekanne. + +»Sieh, wie er schläft!« rief sie entrüstet aus. »Er tut nichts wie +schlafen!« + +Er erhob sich mühsam. Der Kopf tat ihm weh; er versuchte aufzustehen, +drehte sich um und fiel wieder auf das Sofa zurück. + +»Willst du weiter schlafen!« rief Nastasja. »Bist du gar krank?« + +Er antwortete nicht. + +»Willst du Tee trinken?« + +»Nachher,« sagte er mit Anstrengung, schloß die Augen und wandte sich +der Wand zu. + +Nastasja blieb eine Weile neben ihm stehn. + +»Vielleicht ist er wirklich krank,« sagte sie, kehrte um und ging +hinaus. + +Um zwei Uhr kam sie wieder herein mit einer Suppe. Er lag noch wie +früher. Der Tee war unberührt. Nun fühlte Nastasja sich gekränkt und +begann ihn ärgerlich zu rütteln. + +»Was, schnarchst du noch?« rief sie und sah ihn mit Unwillen an. + +Er stand auf und setzte sich, sagte aber nichts und blickte zu Boden. + +»Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja, und wieder erhielt sie +keine Antwort. + +»Du solltest auf die Straße gehen,« sagte sie nach einer Weile, »die +Luft würde dich erquicken. Willst du nicht essen?« + +»Nachher,« antwortete er mit schwacher Stimme. »Geh jetzt fort!« + +Und er winkte mit der Hand ab. Sie blieb noch eine Weile stehen, blickte +ihn voll Mitleid an und ging hinaus. + +Nach einigen Minuten hob er den Blick und schaute lange den Tee und die +Suppe an. Dann nahm er ein wenig Brot, griff nach dem Löffel und begann +zu essen. + +Er aß nicht viel, ohne Appetit, rein mechanisch etwa vier Löffel Suppe. +Der Kopf tat ihm nicht mehr so weh. Nachdem er gegessen hatte, legte er +sich wieder auf das Sofa, konnte aber nicht einschlafen und lag still +da, das Gesicht ins Kopfkissen vergraben. Er träumte, wachend, in einem +fort, und alle Träume waren seltsam, zumeist schien es ihm, als wäre er +irgendwo in Afrika, in Ägypten, in einer Oase. Die Karawane ruht aus, +die Kamele liegen still; ringsum im großen Kreise stehn Palmen, alles +labt sich. Er aber trinkt unausgesetzt Wasser, direkt aus einem Bache, +der hier neben ihm dahinfließt und plätschert. Es ist so kühl, und das +Wasser ist so wundervoll, so blau und kalt, es fließt über bunte Steine +und über reinen mit goldenem Schimmer besäten Sand ... Plötzlich hörte +er deutlich eine Uhr schlagen. Er fuhr auf, kam zu sich, erhob den Kopf, +sah zum Fenster hin, rechnete sich die Zeit aus und sprang auf, als +hätte ihn jemand von dem Sofa heruntergerissen. Er ging auf den +Fußspitzen zu der Türe, öffnete sie leise und lauschte auf die Treppe +hinaus. Sein Herz klopfte gewaltig. Auf der Treppe war alles so still, +als ob alles schliefe ... Höchst sonderbar und merkwürdig erschien es +ihm, daß er von gestern auf heute in solcher Bewußtlosigkeit hatte +durchschlafen können, wo er doch nichts getan und unvorbereitet war ... +Vielleicht hat die Uhr gar sechs geschlagen ... Und eine ungewohnte +fieberhafte und kopflose Hast überfiel ihn, nun nach dem Schlafe und +stumpfen Brüten. Es waren übrigens keine großen Vorbereitungen nötig. Er +strengte alle Kräfte an, um alles zu bedenken und nichts zu vergessen; +das Herz klopfte immer noch heftig und schlug so stark, daß ihm das +Atmen schwer fiel. Zuerst mußte er eine Schlinge machen und an seinen +Mantel annähen, -- das war die Sache einer Minute. Er fuhr mit der Hand +unter das Kopfkissen und fand unter der Wäsche, die dort lag, ein altes +ungewaschenes Hemd, das schon völlig zerrissen war. Von diesem riß er +einen Streifen ab, etwa fünf Zentimeter breit und sechsunddreißig +Zentimeter lang. Diesen Streifen legte er zusammen, zog einen weiten +starken Sommermantel aus dickem baumwollenen Stoffe -- sein einziges +Oberkleid -- aus und begann die beiden Enden des Streifens innen unter +der linken Achselhöhle anzunähen. Seine Hände zitterten beim Halten der +Nadel, er überwand sich aber und hatte den Streifen so angenäht, daß man +von außen nichts bemerken konnte, wenn er den Mantel angezogen hatte. Er +hatte sich schon vor langer Zeit Nadel und Zwirn besorgt, und sie lagen +in einem Stück Papier eingewickelt in dem Tischchen. Die Schlinge war +seine eigene, sehr schlaue Erfindung, sie war für das Beil bestimmt. Man +konnte doch nicht auf der Straße das Beil in der Hand tragen. Und wenn +man es unter dem Mantel versteckt trug, mußte man es doch mit der Hand +festhalten, was wiederum auffallen konnte. Jetzt aber brauchte man bloß +das Beil in die Schlinge zu stecken, und es wird den ganzen Weg unter +der Achsel ruhig hängen. Und wenn er die Hand in die Seitentasche des +Mantels steckt, kann er auch das Ende des Beilschaftes festhalten, damit +es nicht baumelt, und da der Mantel sehr weit war, ein richtiger Sack, +so konnte niemand wahrnehmen, daß er etwas mit der Hand in der Tasche +festhalte. Diese Schlinge hatte er schon vor zwei Wochen erfunden. + +Nachdem er mit der Schlinge fertig war, steckte er seine Finger in einen +kleinen Spalt zwischen seinen »türkischen« Diwan und der Diele, suchte +im linken Winkel nach und zog _das Versatzobjekt_ heraus, das er schon +vor langer Zeit hergestellt und dort versteckt hatte. Es war gar kein +Versatzstück, sondern ein einfaches, glatt abgehobeltes Stück Holz, in +der Größe und Dicke eines silbernen Zigarettenetuis. Dieses +Holzbrettchen hatte er zufällig bei einem seiner Spaziergänge auf einem +Hofe gefunden, wo in einem Nebengebäude eine Werkstatt war. Nachher +hatte er zu dem Brette ein glattes und dünnes Stück Eisen -- +wahrscheinlich irgendein Bruchstück -- beigelegt, das er auch damals auf +der Straße gefunden hatte. Beides, das eiserne Stück war kleiner, hatte +er zusammengelegt und mit einem Bindfaden kreuzweise fest +zusammengebunden; dann hatte er das Ganze peinlich und mit einer +gewissen Sorgfalt in ein reines weißes Papier eingewickelt und so fest +zusammengeschnürt, daß das Paket nicht gleich zu öffnen war. Dies tat +er, um auf eine Spanne Zeit die Aufmerksamkeit der Alten abzulenken, +wenn sie sich mit dem Lösen des Knotens abmühte, um so den passenden +Augenblick zu gewinnen. Das Eisenstück war des Gewichtes wegen +hinzugefügt, damit die Alte wenigstens nicht sofort erriet, daß das +»Versatzstück« nur aus Holz sei. Dies alles lag bis zur gegebenen Zeit +unter dem Diwan verwahrt. Als er gerade das Paket hervorholte, rief +plötzlich jemand auf dem Hofe: + +»Die Uhr geht schon gleich auf sieben!« + +»Schon gleich auf sieben! Mein Gott!« + +Er stürzte zur Tür, lauschte einen Augenblick, nahm seinen Hut und +begann die dreizehn Stufen vorsichtig, leise wie eine Katze +hinabzusteigen. Das Wichtigste stand ihm noch bevor -- das Beil aus der +Küche zu stehlen. Daß das Werk mit einem Beile vollbracht werde hatte er +längst beschlossen. Er hatte wohl noch ein zusammenlegbares +Gartenmesser, aber er mochte sich nicht auf das Messer und zum wenigsten +auf seine Kräfte verlassen, darum hatte er sich endgültig für das Beil +entschieden. Bei dieser Gelegenheit wollen wir eine Eigentümlichkeit von +ihm bei seinen endgültigen Entscheidungen hervorheben, die er in dieser +Sache schon getroffen hatte. Sie hatten alle eine besondere Eigenschaft: +je endgültiger sie wurden, desto abscheulicher, sinnloser wurden sie +sofort in seinen Augen. Trotz des qualvollen innerlichen Kampfes, den er +führte, konnte er die ganze Zeit über keinen Moment an die +Durchführbarkeit seiner Pläne glauben. + +Und wenn er jemals alles bis zum letzten Punkte durchgedacht und +endgültig beschlossen hätte und es gar keine Zweifel mehr gegeben hätte, +dann hätte er offenbar sich von dem ganzen Plane losgesagt, als von +einem sinnlosen, ungeheuerlichen Unding. Aber jetzt gab es noch einen +ganzen Abgrund von ungelösten Punkten und Zweifeln. Woher er sich ein +Beil verschaffen konnte, diese Kleinigkeit beunruhigte ihn gar nicht, +nichts ist leichter als das. Die Sache lag so, daß Nastasja öfters, +besonders aber abends, nicht zu Hause war, -- entweder lief sie zu den +Nachbarn oder in einen Laden, die Türe aber ließ sie stets offen stehn. +Die Wirtin schalt sie immer wieder deshalb. Also, man mußte nur leise +zur rechten Zeit in die Küche gehen und das Beil nehmen, um es nach +einer Stunde, wenn alles vorüber ist, wieder an seinen Platz zu legen. +Aber auch hier tauchten Zweifel auf. Angenommen, er kommt nach einer +Stunde zurück, um das Beil zurückzubringen, und Nastasja ist aber gerade +heimgekehrt. Gewiß, man muß dann vorbeigehen und abwarten, bis sie +wieder fortgeht. Wenn sie aber nun in dieser Zeit das Beil vermißt hat, +es zu suchen begann und danach laut jammerte, -- so ist der Verdacht +oder wenigstens das Moment zu einem Verdacht gegeben. + +Aber das waren Kleinigkeiten, an die zu denken er keine Lust und keine +Zeit mehr hatte. Er dachte an die Hauptsache und hob die Kleinigkeiten +für den gegebenen Moment auf. Das letzte aber erschien ihm selber +unfaßbar. Er konnte sich zum Beispiel in keiner Weise vorstellen, daß er +jemals aufhören werde, bloß an dieses Vorhaben zu denken, daß er +aufstehn und einfach dorthin gehen werde ... Sogar seine kürzliche +_Probe_ (d. h. den Besuch in der Absicht, endgültig sich den Tatort +anzusehen) hatte er nur _versucht_ auszuführen, nicht etwa in vollem +Ernste, sondern eben bloß in dem Gedanken: »ich will mal hingehen und +probieren, anstatt hier davon zu träumen!« und natürlich, er hielt es +nicht aus, ließ gleich die Absicht fallen und war in rasender Wut über +sich selbst davongelaufen. Indessen, wie es schien, war die ganze +Analyse im Sinne der moralischen Lösung der Frage von ihm ins reine +gebracht; seine Kasuistik war geschärft wie ein Rasiermesser, und er +fand in sich selbst keine klare Entgegnung mehr. Zu guter Letzt glaubte +er dann einfach sich selbst nicht und suchte hartnäckig in allen +Richtungen tastend nach Entgegnungen, als ob ihn jemand dazu zwänge und +herbeizöge. Der letzte Tag aber, der so unerwartet eintrat, und der +alles mit einem Male zur Entscheidung brachte, wirkte auf ihn fast rein +mechanisch, -- wie wenn ihn jemand an die Hand genommen und +unwiderstehlich, blindlings mit einer unnatürlichen Kraft und +widerstandslos nach sich gezogen hätte, wie wenn er mit einem Zipfel +seines Rockes in das Rad einer Maschine geraten und mit fortgerissen +worden wäre. + +Von Anfang an, -- übrigens schon lange vorher -- beschäftigte ihn die +Frage: warum fast alle Verbrecher so leicht aufgespürt und entdeckt +werden, und warum die Spuren fast aller Verbrecher so deutlich +wahrzunehmen sind? Er kam allmählich zu vielseitigen und interessanten +Schlüssen, und nach seiner Meinung lag die Hauptursache nicht so sehr in +der materiellen Unmöglichkeit, ein Verbrechen zu verbergen, als in dem +Verbrecher selbst. Der Verbrecher selbst, und fast jeder verliert im +Augenblick des Handelns an Willen und Verstand, an dessen Stelle ein +kindischer phänomenaler Leichtsinn tritt, und gerade in dem Augenblicke, +wo Verstand und Vorsicht am notwendigsten sind. Nach seiner Überzeugung +ergab es sich, daß diese Verdunkelung des Verstandes und der +Zusammenbruch des Willens einen Menschen gleich einer Krankheit packen, +sich allmählich entwickeln und kurz vor der Vollbringung des Verbrechens +ihren höchsten Punkt erreichen, bei der Ausführung, oder noch etwas +länger, je nach Veranlagung, auf demselben Höhepunkt anhalten und dann +ebenso vergehen, wie jede andere Krankheit. Die Frage aber, ob eine +Krankheit das Verbrechen erzeugt oder ob das Verbrechen selbst irgendwie +infolge seiner eigentümlichen Natur stets von etwas Ähnlichem wie +Krankheit begleitet wird, -- zu lösen, fühlte er sich nicht imstande. + +Nachdem er das erwogen hatte, schloß er, daß mit ihm persönlich bei +seiner Tat ein ähnlicher krankhafter Umschwung nicht stattfinden könne, +daß sein Verstand und Wille während der ganzen Zeit der Vollführung +völlig intakt sein werde, einzig schon aus dem Grunde, weil sein +Unternehmen -- »kein Verbrechen« sei ... Lassen wir den ganzen Prozeß +beiseite, durch den er zu dem letzten Schlusse gekommen war; wir sind +schon ohnedem viel zu weit gegangen ... Wir wollen bloß hinzufügen, daß +die tatsächlichen, rein materiellen Hindernisse der Tat überhaupt in +seinem Verstande eine untergeordnete Rolle spielten. »Man muß nur den +ganzen Willen und den ganzen Verstand bewahren, und sie alle werden +seinerzeit besiegt werden, wenn es darauf ankommt, alle Einzelheiten der +Tat bis zum kleinsten Punkt zu übersehen ...« + +Aber die Tat war noch nicht in Angriff genommen. An die endgültige +Ausführung glaubte er eben fortgesetzt selber am wenigsten, und als die +Stunde schlug, kam alles gar nicht so, sondern wie zufällig, ja fast +unerwartet. + +Ein ganz geringfügiger Umstand machte ihn stutzig, noch ehe er die +Treppe hinabgestiegen war. Als er an der Tür zu der Küche vorbeiging, +die wie immer weit geöffnet war, warf er einen vorsichtigen Seitenblick +hinein, um sich vorher zu vergewissern, ob nicht während der Abwesenheit +von Nastasja die Wirtin selbst da sei, und wenn sie nicht da war, ob die +Türe zu ihrem Zimmer auch gut verschlossen sei, damit sie ja nicht +plötzlich herauskommen könne, wenn er das Beil holen würde? Aber wie +groß war seine Betroffenheit, als er plötzlich Nastasja diesmal nicht +nur in der Küche sah, sondern dazu mit einer Arbeit beschäftigt; sie +nahm aus einem Korbe Wäsche und hing sie auf. Als sie ihn erblickte, +hörte sie auf, wandte sich zu ihm und schaute ihn die ganze Zeit an, +während er vorbeiging. Er wandte die Augen ab und ging weiter, als ob er +sie nicht gesehen hätte. Die Sache aber war abgetan, -- er hatte kein +Beil! Er war tief niedergeschlagen. + +»Und woher kam mir der Gedanke,« sagte er sich, indem er sich dem Tore +näherte. »Woher kam mir der Gedanke, daß sie unbedingt in diesem +Augenblicke nicht zu Hause sein dürfe? Warum, warum, warum war ich so +sicher davon überzeugt?« + +Er war verstört, kam sich erniedrigt vor; wollte über sich selbst vor +Ärger lachen ... Eine dumpfe tierische Wut bemächtigte sich seiner. + +Er blieb in Gedanken versunken unter dem Tore stehen. Auf die Straße zu +gehen, um des Scheines willen zu spazieren, war ihm widerlich; nach +Hause zurückkehren noch widerlicher. »Welch eine Gelegenheit hab ich für +immer verloren!« murmelte er, indem er unschlüssig unter dem Tore +stehenblieb, gerade gegenüber der dunklen Kammer des Hausknechts, die +auch offen war. Plötzlich zuckte er zusammen. In der Kammer des +Hausknechts, zwei Schritte von ihm entfernt, schimmerte unter der Bank +rechts etwas Blankes ... Er sah sich um -- niemand war in der Nähe. Auf +den Fußspitzen ging er zu der Kammer hin, stieg zwei Stufen hinab und +rief mit leiser Stimme nach dem Hausknecht. + +»Es stimmt, er ist nicht da! Wahrscheinlich ist er irgendwo in der Nähe +auf dem Hofe, da die Türe weit offen steht.« + +Er stürzte sich in aller Hast auf das Beil (es war ein solches) und zog +es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzscheiten lag, hervor; +befestigte es gleich in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen +und verließ die Kammer. Niemand hatte es gesehen! + +»Wenn der Verstand nicht hilft, so tut es der Teufel!« dachte er mit +einem sonderbaren Lächeln. Dieser Zufall hatte ihn außerordentlich +ermutigt. + +Er ging langsam und _bedächtig_, ohne sich zu beeilen, um ja keinen +Verdacht zu erwecken. Er sah die Vorübergehenden wenig an, versuchte +ihnen nicht ins Gesicht zu sehen, um selber möglichst unerkennbar zu +sein. Plötzlich fiel ihm sein Hut ein. »Mein Gott! Geld hatte ich +vorgestern noch gehabt und bin nicht auf den Gedanken gekommen, mir eine +Mütze zu kaufen!« + +Ein Fluch kam über seine Lippen. Als er zufällig in einen Laden +hineinblickte, sah er, daß die Wanduhr dort schon zehn Minuten über +sieben zeigte. Nun mußte er sich beeilen und gleichzeitig einen Umweg +machen, -- er wollte das Haus von der anderen Seite erreichen ... +Früher, als er ab und zu sich dies alles in der Phantasie vorstellte, +hatte er gemeint, daß er große Angst haben werde. Aber er fürchtete sich +jetzt nicht besonders, ja eigentlich gar nicht. In diesem Augenblicke +beschäftigten ihn selbst ganz andere Gedanken, doch nur immer kurze +Zeit. Als er an dem Jussupowschen Garten vorbeiging, vertiefte er sich +ziemlich stark in die Idee, hohe Springbrunnen zu errichten, und malte +sich aus, wie gut sie die Luft auf allen Plätzen erneuern würden. +Allmählich kam er zu der Überzeugung, daß, wenn man den Sommergarten +über den ganzen Exerzierplatz erweitern und ihn womöglich mit dem +Michailoffschen Schloßpark vereinigen würde, die Stadt dadurch einen +schönen großen Nutzen haben würde. Dabei interessierte ihn wiederum die +Frage, warum gerade in allen großen Städten der Mensch nicht bloß aus +reiner Notwendigkeit, sondern aus anderen Gründen geneigt ist, sich in +solchen Stadtteilen niederzulassen und zu leben, wo es keine Gärten, +keine Springbrunnen gibt, wo Schmutz und Gestank und allerhand +Abscheuliches herrscht. Es kamen ihm auch seine eigenen Spaziergänge +über den Heumarkt in den Sinn, und er besann sich auf sein Vorhaben. + +»Was für ein Unsinn!« dachte er. »Nein, besser, ich denke an gar +nichts.« + +»Wahrscheinlich in ähnlicher Weise heften sich die Gedanken derer, die +man zur Hinrichtung führt, an alle Gegenstände, die sie auf ihrem Wege +treffen,« fuhr es blitzartig durch seinen Kopf. Er verjagte schnell +diesen Gedanken ... da ist das Haus, er sieht das Tor. Irgendwo schlug +plötzlich eine Uhr einmal. »Was, ist es schon halb acht? Das kann nicht +sein, sie geht wahrscheinlich vor!« + +Zu seinem Glück ging unter dem Tore alles wieder gut vonstatten. Wie +absichtlich fuhr in diesem Augenblicke unter das Tor ein ungeheurer +Wagen voll Heu, so daß er ihn die ganze Zeit, während er das Tor +passierte, verdeckte, und als der Wagen in den Hof hineinfuhr, huschte +er in einem Nu nach rechts. Dort, auf der anderen Seite des Wagens, +hörte man, wie einige Stimmen schrien und sich stritten, ihn aber hatte +niemand bemerkt und er begegnete auch niemandem. Viele Fenster, die auf +den großen viereckigen Hof hinausgingen, standen offen, aber er erhob +nicht den Kopf, -- er hatte keine Kraft dazu. Die Treppe zu der Wohnung +der Alten lag in der Nähe, gleich rechts von dem Tore. Er war schon auf +der Treppe ... + +Er holte Atem, hielt die Hand auf das klopfende Herz, fühlte dabei nach +dem Beile, rückte es zurecht und begann vorsichtig und leise die Treppe +hinaufzusteigen, alle Augenblicke horchend. Auch die Treppe war um diese +Zeit vollkommen leer; alle Türen waren verschlossen; er begegnete auch +da niemandem. Im zweiten Stocke stand wohl eine leere Wohnung weit +offen, und in ihr arbeiteten Maler, aber auch die sahen nicht zu ihm +hin. Er stand einen Augenblick still, dachte nach und ging weiter. -- +»Gewiß, es wäre noch besser, wenn sie nicht da wären, aber ... über +ihnen liegen noch zwei Stockwerke. Aber da ist nun der vierte Stock, da +ist die Türe, und die Wohnung gegenüber, die ist unbewohnt. Im dritten +Stocke steht die Wohnung, die unter der Wohnung der Alten liegt, allen +Anzeichen nach auch leer, -- die Visitenkarte, die an der Türe mit +Nägeln befestigt war, ist abgenommen, -- also sind sie ausgezogen!« ... +Sein Atem stockte. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke: »Soll +ich nicht fortgehen!« Er gab sich aber keine Antwort und begann an der +Türe zu der Wohnung der Alten zu horchen, -- es war totenstill. Dann +lauschte er nochmals die Treppe hinab, lauschte lange und aufmerksam ... +Dann sah er sich zum letzten Male um, nahm sich zusammen, faßte sich und +tastete noch einmal nach dem Beil in der Schlinge. + +»Bin ich nicht zu ... blaß?« dachte er. »Bin ich nicht zu erregt? Sie +ist mißtrauisch ... Soll ich nicht besser noch ein wenig warten ... bis +das Herz sich beruhigt? ...« + +Das Herz aber beruhigte sich nicht. Im Gegenteil, es klopfte, wie +absichtlich, immer stärker und stärker ... Er hielt es nicht aus, +langsam streckte er die Hand nach der Klingel und schellte. Nach einer +halben Minute schellte er noch einmal etwas lauter. + +Keine Antwort. Unnütz zu klingeln ging nicht an und paßte außerdem nicht +für ihn. Die Alte ist selbstverständlich zu Hause, aber sie ist +mißtrauisch und allein. Er kannte teilweise ihre Gewohnheiten ... und er +legte noch einmal sein Ohr fest an die Türe. Waren seine Sinne so +geschärft (was überhaupt sich schwer vorstellen läßt) oder war +tatsächlich es deutlich zu hören, er unterschied das vorsichtige Tasten +einer Hand an der Türklinke und das Rascheln eines Kleides an der Türe. +Jemand stand unbemerkbar innen am Schlosse selbst und lauschte ebenso, +wie er hier von außen, mit angehaltenem Atem und wie es schien, ebenso +mit dem Ohre an der Türe ... Er machte absichtlich eine Bewegung und +murmelte laut etwas vor sich hin, um zu zeigen, daß er sich nicht +verstecke. Dann schellte er zum dritten Male, aber leise, mit Anstand +und ohne Ungeduld. Wenn er sich später dessen erinnerte, deutlich und +klar, -- dieser Augenblick hat sich ihm auf ewig eingeprägt, -- konnte +er nicht begreifen, woher soviel Schlauheit über ihn gekommen war, +besonders, da sein Verstand sich zeitweise verdunkelte und er seinen +Körper fast gar nicht fühlte ... Einen Augenblick nachher hörte man, daß +der Verschluß abgenommen wurde. + + + VII. + +Die Türe wurde, wie auch damals, um einen einzigen Spalt geöffnet, und +wieder hafteten auf ihm zwei scharfe und mißtrauische Augen aus der +Dunkelheit. Da verlor Raskolnikoff die Fassung und machte beinahe einen +großen Fehler. + +In der Befürchtung, daß die Alte erschrecken würde, weil sie allein sei, +und da er nicht glauben konnte, daß sein Anblick sie beruhigen würde, +griff er nach der Türe und zog sie zu sich, damit die Alte nicht auf den +Gedanken komme, sich wieder einzuschließen. Als die Alte das sah, zog +sie die Türe nicht zurück, ließ aber auch nicht die Türklinke los, so +daß er sie beinahe mit der Türe auf die Treppe hinauszog. Da er aber +sah, daß sie quer vor der Türe stand und ihn nicht durchlassen wollte, +ging er direkt auf sie los. Die Alte sprang erschreckt zurück, wollte +etwas sagen, aber schien es nicht zu können und sah ihn unverwandt an. + +»Guten Tag, Aljona Iwanowna,« begann er möglichst ungezwungen, aber die +Stimme gehorchte nicht, sie brach ab und zitterte. »Ich habe Ihnen ... +ein Versatzstück gebracht ... aber wir gehen besser hierher ... wo es +hell ist ...« Er ließ sie stehn und ging ohne Aufforderung in das +Zimmer. Die Alte lief ihm nach, ihre Zunge hatte sich gelöst. + +»Herrgott! Was wollen Sie? ... Wer sind Sie? Was wollen Sie?« + +»Erlauben Sie, Aljona Iwanowna ... ich bin Ihnen bekannt ... +Raskolnikoff ... da haben Sie, ich habe ein Versatzstück gebracht, wie +ich vor ein paar Tagen versprach ...« + +Und er reicht ihr das Versatzstück hin. + +Die Alte warf einen leichten Blick auf das Versatzstück, aber richtete +sofort ihre Augen direkt ins Gesicht des ungebetenen Gastes. Sie sah ihn +aufmerksam, böse und mißtrauisch an. Es verging eine Minute; ihm schien +sogar, in ihren Augen liege etwas wie Spott, als ob sie schon alles +erraten hätte. Er fühlte, daß er die Fassung verlor, und daß ihn die +Furcht packte, eine so starke Furcht, daß ihm schien, wenn sie ihn noch +eine halbe Minute so weiter angesehen hätte, er ohne ein Wort zu sagen +weggelaufen wäre. + +»Warum sehen Sie mich so an, als ob Sie mich nicht wiedererkennen?« +sagte er plötzlich ebenfalls böse. »Wenn Sie wollen, nehmen Sie es zum +Versatz, wenn nicht, -- gehe ich zu anderen, ich habe keine Zeit.« + +Er wußte selbst nicht, wie er zu diesen Worten kam. + +Die Alte kam zu sich, und der entschlossene Ton des Besuchers gab ihr +anscheinend Mut. + +»Warum sind Sie hergekommen, Väterchen, was ist das?« fragte sie und +blickte auf das Versatzstück. + +»Ein silbernes Zigarettenetui; ich sprach vorigesmal davon!« + +Sie streckte die Hand aus. + +»Warum sind Sie so blaß? Auch Ihre Hände zittern! Haben Sie gebadet?« + +»Fieber habe ich,« antwortete er kurz. »Unwillkürlich wird man blaß ... +wenn man nichts zu essen hat,« fügte er, die Worte kaum aussprechend, +hinzu. Die Kräfte verließen ihn wieder. Die Antwort aber erschien +wahrheitsgetreu; denn die Alte nahm das Versatzstück. + +»Was ist es?« fragte sie, indem sie Raskolnikoff noch einmal prüfend +ansah und das Versatzstück in der Hand wog. + +»Ein Ding ... ein Zigarettenetui ... aus Silber ... Sehen Sie nach.« + +»Hm, mir scheint es nicht aus Silber ... Sieh, wie er es zugeschnürt hat +...« Indem sie versuchte, den Bindfaden zu lösen und sich zum Fenster +gegen das Licht wandte (alle Fenster waren trotz der schwülen Hitze +geschlossen), ließ sie ihn auf ein paar Sekunden aus dem Auge und +stellte sich mit dem Rücken gegen ihn. Er knöpfte seinen Mantel auf und +zog das Beil aus der Schlinge, aber er holte es noch nicht hervor, +sondern hielt es mit der rechten Hand unter dem Mantel. Seine Hände +waren furchtbar schwach; er fühlte selbst, wie sie mit jedem Augenblick +immer mehr erlahmten und erstarrten. Er fürchtete, daß er das Beil +fallen lassen werde ... plötzlich schwindelte ihm der Kopf. + +»Was hat er denn da umgewickelt!« rief die Alte ärgerlich aus und machte +eine Bewegung nach seiner Seite. Kein Moment länger durfte verloren +gehen. Er zog das Beil ganz hervor, hob es, kaum daß er sich dessen +bewußt war, mit beiden Händen empor und ließ es fast ohne Anstrengung, +fast mechanisch mit der breiten Seite auf den Kopf der Alten +niederfallen. Er hatte, wie es schien, dabei keine Kraft angewandt. Aber +kaum hatte er das Beil zum ersten Male fallen lassen, da kamen auch die +Kräfte. + +Die Alte war wie immer barhäuptig. Ihre hellen, leicht ergrauten dünnen +Haare, wie gewöhnlich fettig geölt, waren in rattenschwanzartige kleine +Flechten geflochten und wurden von einem abgebrochenen Hornkamme, der +auf ihrem Hinterkopfe saß, zusammengehalten. Der Schlag hatte sie bei +ihrer Kleinheit direkt auf den Scheitel getroffen. Sie schrie auf, aber +sehr leise, ihre beiden Hände gegen den Kopf erhebend. In der einen Hand +hielt sie das »Versatzstück« fest. Da schlug er aus aller Kraft ein +zweites und ein drittes Mal zu, immer mit der breiten Seite und immer +gegen den Scheitel. Das Blut strömte hervor wie aus einem zersprungenen +Glase, und der Körper fiel zu Boden mit dem Gesichte nach oben. Er trat +einen Schritt zurück, ließ den Körper liegen und beugte sich über ihr +Gesicht; sie war schon tot. Die Augen waren weit aufgerissen, als ob sie +herausspringen wollten, und die Stirn und das ganze Gesicht waren +verzogen und krampfhaft verzerrt. + +Er legte das Beil auf die Diele neben die Tote, langte eilends in ihre +Tasche, in dieselbe rechte Tasche, aus der sie das vorige Mal die +Schlüssel hervorgeholt hatte, und suchte zu verhindern, daß er sich mit +dem fließenden Blute beschmiere. Er war bei klarem Verstande, +Verdüsterungen und Schwindel fühlte er nicht mehr, aber die Hände +zitterten immer noch. Er erinnerte sich später, daß er sogar sehr +aufmerksam und vorsichtig war und immer versuchte, sich nicht zu +beschmutzen ... Die Schlüssel zog er sofort heraus; sie hingen alle wie +damals an einem Schlüsselbunde, an einem Ringe von Stahl. Er lief sofort +mit ihm in das Schlafzimmer. Das war ein sehr kleines Zimmer mit einer +großen Sammlung Heiligenbilder. An der anderen Wand stand ein großes +Bett, sehr reinlich, mit einer wattierten Decke, die mit bunten +Seidenflicken besetzt war. An der dritten Wand stand eine Kommode. Wie +seltsam, kaum begann er die Schlüssel an der Kommode zu probieren, kaum +hörte er ihr Rascheln, da kam der Krampf über ihn. -- Er bekam wieder +Lust, alles liegenzulassen und fortzugehen. Aber das dauerte nur einen +Augenblick; es war zu spät, fortzugehen. Er lächelte sogar über sich +selbst, als plötzlich ein anderer beunruhigender Gedanke durch seinen +Kopf fuhr. Ihm däuchte plötzlich, daß die Alte vielleicht noch lebe und +zu sich kommen könne. Er ließ die Schlüssel fallen, lief zurück zu der +Toten, ergriff das Beil und erhob es noch einmal über die Alte, ließ es +aber nicht niedersausen. Es gab keinen Zweifel, sie war tot. Indem er +sich über sie beugte und sie wieder in der Nähe betrachtete, sah er +deutlich, daß der Schädel zerschmettert und sogar ein wenig nach der +Seite verschoben war. Er wollte mit dem Finger es befühlen, aber er riß +die Hand zurück; es war ja ohnedem zu sehen. Indessen war schon eine +ganze Pfütze Blut zusammengelaufen. Plötzlich bemerkte er an ihrem Halse +eine Schnur, er riß daran, aber die Schnur war stark und ließ sich nicht +zerreißen, außerdem war sie mit Blut durchtränkt. Er versuchte sie so +unter dem Busen hervorzuziehen, aber etwas hielt die Schnur fest. +Ungeduldig wollte er wieder das Beil emporheben, um die Schnur von oben +über den Körper durchzuschlagen, aber er wagte es nicht, und mit großer +Mühe zerschnitt er nach einer Arbeit von zwei Minuten die Schnur, ohne +mit dem Beile den Körper zu berühren, wobei er aber seine Hände und das +Beil mit Blut besudelt hatte; er hatte sich nicht geirrt -- an der +Schnur hing ein Beutel. Außerdem hingen daran zwei Kreuze, eins von +Zypressen und das andere von Kupfer, und ein Heiligenbildchen aus +Emaille; es war ein kleiner beschmutzter Beutel aus Sämischleder mit +einer stählernen Spanne und kleinem Ringe. Der Beutel war sehr voll +gepackt. Raskolnikoff steckte ihn, ohne ihn näher zu betrachten, in die +Tasche, die Kreuze warf er der Alten auf die Brust, nahm diesmal das +Beil auch mit und stürzte in das Schlafzimmer zurück. + +Er war in schrecklicher Hast, nahm die Schlüssel und versuchte sie von +neuem. Aber es gelang ihm immer nicht, sie paßten nicht für die +Schlösser. Nicht, weil seine Hände zitterten, aber er irrte sich immer; +er sah zum Beispiel, daß es nicht der richtige Schlüssel war, daß er +nicht paßte, trotzdem probierte er ihn immer wieder. Plötzlich dachte er +daran und es leuchtete ihm ein, daß dieser große Schlüssel mit dem +zackigen Barte, der an dem Ringe mit den anderen kleinen zusammenhing, +gar nicht zu der Kommode gehörte (wie es ihm schon vorigesmal in den +Sinn gekommen war), sondern unbedingt zu einer Truhe gehören mußte, und +daß in dieser Truhe vielleicht alles aufbewahrt war. Er verließ die +Kommode und kroch sofort unter das Bett, da er wußte, daß die Truhen +gewöhnlich bei alten Frauen unter dem Bette stehen. Es stimmte, es stand +darunter eine ziemlich große Truhe, ungefähr ein Meter lang, mit einem +halbrunden Deckel, mit rotem Saffian beschlagen. Der zackige Schlüssel +paßte und schloß die Truhe auf. Oben, unter einem weißen Laken, lag ein +mit rotem Stoff bezogener Pelz aus Hasenfellen; unter ihm ein seidenes +Kleid, ein Schal und in der Tiefe lagen, wie es schien, allerhand +Kleidungsstücke. Zuerst begann er seine mit Blut besudelten Hände an dem +roten Stoff abzuwischen. »Der Stoff ist rot und bei rot ist Blut nicht +so auffallend,« dachte er und plötzlich kam er zu sich. »Mein Gott! +Verliere ich den Verstand?« sagte er sich erschreckt. + +Kaum aber hatte er die Lumpen angerührt, als plötzlich unter dem Pelze +eine goldene Uhr hervorglitt. Er machte sich daran, alles in der Truhe +umzuwerfen. Zwischen den Kleidungsstücken waren in der Tat goldene +Sachen untergebracht -- wahrscheinlich alles versetzte Sachen, gekaufte +oder nicht ausgelöste Armbänder, Ketten, Ohrringe, Busennadeln und +dergleichen mehr. Manche Pfänder waren in Futteralen, andere wieder +einfach in Zeitungspapier eingeschlagen, aber peinlich und sorgfältig in +doppelte Bogen und mit Bindfaden zugeschnürt. Ohne einen Moment zu +zögern, begann er seine Hosentaschen und die Taschen im Mantel mit den +Sachen zu füllen; er untersuchte nicht und öffnete nicht die Pakete und +die Futterale, aber er kam nicht dazu, viel einzustecken ... + +Denn plötzlich hörte er in dem Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er +ließ das Kramen und verhielt sich still, wie ein Toter. Alles war aber +ruhig, also hatte er nur geträumt. Aber da hörte er deutlich einen +leisen Schrei, als wenn jemand leise und abgerissen stöhnte und darauf +schwieg. Wieder trat eine Totenstille ein, eine Minute oder zwei Minuten +lang. Er horchte neben der Truhe und wartete mit angehaltenem Atem, +plötzlich aber sprang er auf, ergriff das Beil und lief aus dem +Schlafzimmer. + +Mitten im Zimmer stand Lisaweta mit einem großen Bündel in der Hand und +sah erstarrt die ermordete Schwester an; sie war weiß wie Linnen und +schien außerstande zu schreien. Als sie ihn hereinlaufen sah, erzitterte +sie wie ein Blatt, und ihr ganzes Gesicht zuckte; sie erhob die eine +Hand, öffnete den Mund, schrie aber trotzdem nicht und begann langsam +rückwärts vor ihm in eine Ecke zurückzuweichen, ihm unverwandt ins +Gesicht sehend, aber immer noch nicht schreiend, als ob es ihr an Luft +mangele. Er stürzte sich auf sie mit dem Beile. Ihre Lippen verzogen +sich so kläglich, wie es ganz kleine Kinder tun, wenn sie sich vor etwas +fürchten, den Gegenstand ihrer Furcht unverwandt ansehen und sich +anschicken zu schreien. Diese unglückliche Lisaweta war so einfältig und +so völlig eingeschüchtert, daß sie nicht einmal ihre Hände erhob, um das +Gesicht zu schützen, obwohl das doch die unwillkürlichste und +natürlichste Bewegung in diesem Augenblicke gewesen wäre, während das +Beil über ihrem Kopfe schwebte. Sie erhob nur ein wenig ihre freie linke +Hand, aber bei weitem nicht bis zum Gesichte und streckte sie ihm +langsam entgegen, als ob sie ihn zur Seite schieben wollte. Der Schlag +traf direkt den Schädel mit der scharfen Seite des Beiles und +durchschnitt mit einem Male den ganzen oberen Teil der Stirn fast bis +zur Schläfe. Sie stürzte sofort hin. Raskolnikoff verlor beinahe die +Fassung, er ergriff ihr Bündel, warf es wieder hin und lief in das +Vorzimmer. + +Die Angst packte ihn mehr und mehr nach diesem zweiten, vollkommen +unerwarteten Morde. Er wollte schnell von hier fort. Und wenn er in +diesem Augenblicke imstande gewesen wäre, klarer zu sehen und zu denken, +wenn er sich alle Schwierigkeiten seiner Lage, die ganze Verzweiflung, +den ganzen Ekel und den ganzen Wahnsinn der Situation hätte vorstellen +können und dabei verstanden hätte, wieviel Hindernisse, vielleicht auch +Verbrechen er noch überwinden und vollbringen mußte, um von hier +loszukommen und nach Hause zu gelangen, dann hätte er wahrscheinlich +alles im Stiche gelassen und wäre sofort hingegangen und hätte sich +selbst gestellt; und er hätte es nicht aus Furcht getan für seine +Person, sondern nur aus Schrecken und Widerwillen allein vor dem, was er +vollbracht hatte. Besonders der Widerwillen stieg und wuchs in ihm mit +jedem Augenblicke. Um keinen Preis in der Welt würde er jetzt zu der +Truhe oder in das Zimmer zurückgegangen sein. + +Aber eine Zerstreutheit, eine Nachdenklichkeit kam allmählich über ihn; +einige Minuten blieb er wie verloren stehen oder besser, er verlor sich +in Kleinigkeiten und vergaß die Hauptsache. Als er übrigens einen Blick +in die Küche warf und auf einer Bank einen Eimer sah, der zur Hälfte mit +Wasser gefüllt war, kam er auf den Gedanken, seine Hände und das Beil +abzuwaschen. Seine Hände waren blutig und klebten. Das Beil steckte er +mit der Schneide einfach ins Wasser, ergriff ein Stück Seife, das auf +dem Fensterbrette auf einer zerschlagenen Untertasse lag und begann im +Eimer selbst seine Hände zu waschen. Nachdem er die Hände gereinigt +hatte, zog er auch das Beil heraus, wusch das Eisen ab und wusch lange, +gegen drei Minuten lang, die Blutflecken vom Holze ab und versuchte +sogar das Blut mit Seife abzuwaschen. Dann trocknete er alles mit +Wäschestücken ab, die hier an einem Stricke trockneten, und besah lange +voll Aufmerksamkeit am Fenster das Beil. Spuren waren nicht da, nur das +Holz war noch feucht. Er steckte sorgfältig das Beil in die Schlinge +unter dem Mantel. Darauf besah er den Mantel, die Hosen und die Stiefel, +soweit es ihm das Licht in der halbdunklen Küche erlaubte. Beim ersten +Blick schien man außen nichts zu sehen; nur auf den Stiefeln waren +Flecken. Er machte einen Lappen naß und wischte die Stiefel ab. Er wußte +übrigens, daß er nicht gut sehen konnte, daß es vielleicht etwas in die +Augen Fallendes gab, was er nicht bemerkte. In Nachdenken versunken, +stand er mitten im Zimmer. Ein quälender dunkler Gedanke erstand in ihm +-- der Gedanke, daß er den Verstand verliere, und daß er in diesem +Augenblicke weder denken noch sich verteidigen könne, daß vielleicht gar +nicht das zu tun sei, was er jetzt tue ... + +»Mein Gott! Ich muß fort, fort!« murmelte er und stürzte in das +Vorzimmer. Aber hier erwartete ihn ein Schrecken, wie er ihn sicher noch +nie erlebt hatte. + +Er stand, sah hin und traute seinen Augen nicht: die Türe, die +Außentüre, die aus dem Vorzimmer auf die Treppe ging, dieselbe, an der +er vor kurzem geschellt und durch die er hineingekommen war, stand +offen, sogar eine Hand breit offen, weder das Schloß war zu, noch der +Riegel vor -- die ganze, die ganze, ganze Zeit! Die Alte hatte hinter +ihm nicht abgeschlossen, vielleicht aus Vorsicht. Aber, mein Gott! Er +hat aber doch später Lisaweta gesehen! Und wie konnte, wie konnte er +nicht auf den Gedanken kommen, daß sie doch irgendwie hereingekommen +war! Sie war nicht durch die Wand gekommen! + +Er stürzte zur Türe und legte den Riegel vor. + +»Aber nein, das war wieder nicht das richtige! Ich muß fort, fort! ...« + +Er zog den Riegel zurück, öffnete die Türe und begann zur Treppe hin zu +lauschen. + +Er horchte lange. Irgendwo weit unten, wahrscheinlich unter dem Tore, +schrien laut und kreischend zwei Stimmen, stritten sich und schimpften. + +»Was haben die? ...« + +Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einem Male alles still, wie +abgeschnitten; sie sind fortgegangen. + +Er wollte schon hinaustreten, aber plötzlich öffnete sich geräuschvoll +ein Stock tiefer eine Tür zur Treppe, jemand begann die Treppe +hinabzusteigen und summte vor sich irgend etwas her. + +»Wie sie alle lärmen!« ging es durch seinen Kopf. + +Er zog wieder die Türe zu und wartete. Endlich verstummte alles, keine +Seele war zu hören. Er tat schon einen Schritt zur Treppe, als er +plötzlich wieder neue Schritte vernahm. + +Diese Schritte kamen von sehr weit her, ganz vom Anfange der Treppe, +aber er erinnerte sich sehr gut und deutlich, daß er schon beim ersten +Schritte damals aus irgendeinem Grunde den Verdacht faßte, daß man +unbedingt _hierher_, in den vierten Stock, zu der Alten komme. Warum? +Klangen die Schritte so sonderbar, so bedeutungsvoll? Es waren schwere +gleichmäßige Schritte von einem Menschen, der keine Eile hat. Den ersten +Stock hat _er_ schon erreicht, nun steigt er weiter die Treppe hinauf, +-- deutlicher und deutlicher hört man es. Er vernahm das schwere Atmen +des Kommenden. Nun ist er schon im dritten Stock. Er kommt hierher! Und +plötzlich erschien es Raskolnikoff, als wäre er versteinert, als wäre er +im Traume, wenn es einem träumt, daß man verfolgt wird, daß die Mörder +ganz nahe hinter einem sind, man aber wie angewachsen dasteht und die +Hände nicht rühren kann. + +Endlich, als der Besucher schon den vierten Stock heraufstieg, fuhr er +plötzlich zusammen und es gelang ihm doch schnell und geschmeidig, von +dem Treppenabsatz in die Wohnung hineinzuschlüpfen und die Türe hinter +sich zuzumachen. Dann nahm er den Haken und legte ihn leise, unhörbar +vor. Der Instinkt half ihm. Als er das in Ordnung gebracht hatte, +stellte er sich mit angehaltenem Atem direkt an die Türe. Der unbekannte +Besucher war schon da. Sie standen jetzt einander gegenüber, wie er vor +kurzem der Alten gegenüberstand, als die Türe sie voneinander trennte, +und er lauschte. + +Der Besucher atmete ein paarmal schwer. + +»Er ist wahrscheinlich dick und groß,« dachte Raskolnikoff und nahm das +Beil fester in die Hand. Ihm war wieder alles wie im Traume. Der +Besucher faßte die Klingel und läutete stark. + +Als die Klingel blechern erklirrte, schien es ihm, als ob in dem Zimmer +sich jemand rühre. Einige Sekunden lauschte er. Der Unbekannte schellte +noch einmal, wartete ein wenig und begann plötzlich ungeduldig aus aller +Kraft mit der Türklinke zu klappern. Mit Schrecken blickte Raskolnikoff +auf den hüpfenden Haken und wartete mit stumpfer Angst, daß der Haken +jeden Augenblick herausspringen werde. Es schien in der Tat möglich zu +sein, -- so stark riß jener an der Türe. Er wollte den Haken mit der +Hand niederhalten, aber der _andere_ konnte es merken. Es begann ihm +wieder schwindlig zu werden. + +»Ich breche noch zusammen!« durchzuckte es ihn, aber der Unbekannte +begann zu sprechen, da kam er zu sich. »Ja, schlafen die denn da oder +sind sie tot? Verflucht noch einmal!« wetterte er. »He, Aljona Iwanowna, +alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, du wundervolle Schönheit! Öffnet! Ach, +verflucht, schlafen sie wirklich?« + +Und er riß von neuem rasend gegen zehnmal nacheinander aus voller Kraft +an der Klingel. Es war wohl ein Mann, der etwas galt und im Hause gut +bekannt war. + +In diesem Augenblick vernahm man unweit auf der Treppe kurze eilige +Schritte. Es kam noch jemand. Raskolnikoff hatte es zuerst nicht gehört. + +»Ist niemand da; unmöglich?« rief laut der Angekommene und wandte sich +freundlich an den ersten Besucher, der noch immer an der Klingel riß. +»Guten Abend, Koch!« + +»Nach der Stimme zu urteilen, muß es ein sehr junger Mann sein,« dachte +Raskolnikoff. + +»Das weiß der Teufel, ich habe fast das Schloß abgerissen,« antwortete +Koch. »Aber woher kennen Sie mich denn?« + +»Warum nicht! Vorgestern habe ich Ihnen drei Partien Billard im +>Gambrinus< abgewonnen.« + +»Ah ...« + +»Also, sie sind nicht zu Hause. Merkwürdig. Das ist aber dumm. Wo mag +nur die Alte hingegangen sein? Ich habe Geschäfte mit ihr.« + +»Ich auch, mein Lieber.« + +»Was ist da zu tun? Wohl oder übel müssen wir wieder gehen. Ach! Und ich +hoffte Geld zu bekommen!« rief der junge Mann aus. + +»Selbstredend müssen wir gehen, aber wozu gibt man eine Zeit an? Die +alte Hexe hat mir selbst die Stunde bestimmt. Für mich bedeutet das +einen weiten Weg. Zum Teufel, ich verstehe nicht, wo sie sich +herumtreiben kann. Das ganze Jahr sitzt sie im Hause, die Hexe, rührt +sich nicht vom Fleck, die Füße tun ihr weh, und nun plötzlich macht sie +Ausflüge!« + +»Sollen wir nicht den Hausknecht fragen?« + +»Wonach denn?« + +»Wohin sie gegangen ist und wann sie wiederkommt?« + +»Hm ... zum Teufel ... sollen wir fragen ... Ja, sie geht doch nie aus +...« und er riß noch einmal an der Türklinke. + +»Zum Teufel, es bleibt nichts übrig, wir müssen fortgehen.« + +»Warten Sie!« rief plötzlich der junge Mann. »Sehen Sie einmal, wie die +Türe nachgibt, wenn man daran reißt!« + +»Na, und?« + +»Also ist sie nicht abgeschlossen, sondern nur eingehakt, auf den Haken! +Hören Sie, wie der Haken klirrt?« + +»Nun?« + +»Verstehn Sie denn nicht? Also ist jemand von ihnen zu Hause. Wenn alle +fortgegangen wären, hätten sie die Türe mit dem Schlüssel abgeschlossen, +und nicht von innen mit dem Haken. Hören Sie nun, wie der Haken klirrt? +Um aber von innen die Türe mit dem Haken abzuschließen, muß man zu Hause +sein, verstehen Sie? Also, sitzen sie zu Hause und öffnen nicht!« + +»Hm! Ja, das ist wahr!« rief erstaunt Koch. »Was ist denn mit ihnen +los?« Und er begann voll Wucht an der Türe zu zerren. + +»Warten Sie!« rief von neuem der junge Mann. »Halten Sie ein! Hier ist +etwas nicht in Ordnung ... Sie haben doch geklingelt, an der Türe +gerüttelt, -- und sie öffnen nicht, also, liegen sie entweder in +Ohnmacht oder ...« + +»Was?« + +»Hören Sie mal, holen wir den Hausknecht, möge er sie aufwecken.« + +»Gut.« + +Sie gingen beide zur Treppe. + +»Warten Sie! Bleiben Sie mal hier, ich aber laufe nach dem Hausknecht.« + +»Warum soll ich bleiben?« + +»Es ist so besser ...« + +»Meinetwegen ...« + +»Ich bereite mich zum Untersuchungsrichter vor! Hier stimmt offenbar, +offen--bar ... nicht alles!« rief voll Eifer der junge Mann und lief +eilig die Treppe hinab. + +Koch blieb, rührte noch einmal leise die Klingel und es klirrte ein +einziges Mal; dann begann er sachte, als ob er es überlegte und prüfte, +die Türklinke zu bewegen, er zog sie auf und ließ sie niedergleiten, um +sich noch einmal zu vergewissern, daß die Türe bloß mit einem Haken +geschlossen sei. Darauf bückte er sich schwer atmend und blickte durch +das Schlüsselloch, aber darin stak von innen der Schlüssel, und er +konnte nichts sehen. + +Raskolnikoff stand und hielt krampfhaft das Beil, fieberhaft erregt. Er +war bereit zu kämpfen, wenn sie hereinkommen sollten. Schon als sie +klopften und sich besprachen, kam ihm einigemal der Gedanke, allem ein +Ende zu machen und ihnen durch die Türe zuzurufen. Es wandelte ihn an, +sie zu schimpfen, sie zu reizen, bevor sie die Türe aufmachten. »Möchte +es doch schneller zu Ende gehen!« fuhr es ihm durch den Kopf. »Zum +Teufel noch einmal ...« + +Die Zeit verrann, eine Minute nach der andern ging vorüber, niemand kam. +Koch begann unruhig zu werden. + +»Zum Teufel noch einmal! ...« rief er plötzlich aus, und voll Ungeduld +verließ er seinen Posten, ging die Treppe eilig hinab, und stapfte fest +auf. + +»Mein Gott, was ist nun zu tun!« Raskolnikoff hob den Haken ab, öffnete +ein wenig die Türe, es war nichts zu hören, er trat plötzlich vollkommen +gedankenlos heraus, zog die Türe hinter sich möglichst dicht zu und ging +hinab. Er war schon drei Treppen hinabgestiegen, als plötzlich unten ein +starker Lärm hörbar wurde, -- wohin sich wenden? Er konnte sich nirgends +verstecken und wollte schon zurück in die Wohnung laufen. + +»He Teufel! Halt!« + +Mit einem Schrei stürzte jemand unten aus einer Wohnung heraus und lief +so schnell hinunter, daß er die Treppe beinahe hinunterzufallen schien. + +»Mitjka, Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Hol dich der Kuckuck!« + +Der Schrei endete mit Kreischen; die letzten Töne hörte man schon vom +Hofe her; alles wurde still. Aber im selben Augenblick begannen ein paar +Menschen, die laut und schnell sprachen, geräuschvoll die Treppe +hinaufzusteigen, vielleicht drei oder vier. Raskolnikoff unterschied die +helle Stimme des jungen Mannes. + +»Das sind sie.« + +In größter Verzweiflung ging er ihnen direkt entgegen, -- mochte nun +kommen, was wollte. Wenn sie ihn anhielten, war alles verloren, wenn sie +ihn vorbeiließen, war auch alles verloren, -- denn sie werden ihn +wiedererkennen. Sie kamen bedenklich näher; zwischen ihnen war nur eine +einzige Treppe -- da kam die Rettung. Einige Stufen vor ihm rechts stand +weit geöffnet eine leere Wohnung, dieselbe Wohnung im zweiten Stock, in +der Arbeiter malten und jetzt wie mit Absicht fortgegangen waren. Das +waren sicher die Leute gewesen, die soeben mit solch einem Geschrei +hinabgelaufen waren. Die Dielen waren frisch gestrichen, mitten im +Zimmer stand ein kleiner Eimer und eine Scherbe von einem Topfe mit +Farbe und Pinsel. Im Nu schlüpfte er durch die offene Tür und verbarg +sich hinter einer hohen Wand, es war hohe Zeit. Sie waren schon auf dem +Treppenabsatz. Dann wandten sie sich nach oben und gingen laut sprechend +nach dem vierten Stock. Er wartete eine Zeitlang, ging auf Fußspitzen +hinaus und lief nach unten. + +Auf der Treppe war niemand! Auch unten nicht. Er ging schnell durch das +Tor und ging nach links die Straße hinunter. Er wußte es nur zu gut, daß +sie in diesem Augenblicke schon in der Wohnung waren, daß sie erstaunt +waren, die Türe offen zu sehen, die noch eben verschlossen war, daß sie +schon die Leichen erblickten, und daß sie in weniger als einer Minute +erraten würden, daß der Mörder hier soeben noch dagewesen war und Zeit +gefunden hatte, sich irgendwo zu verbergen, an ihnen vorbeizuhuschen und +zu fliehen; sie werden vielleicht auch auf den Gedanken gekommen sein, +daß er in der leeren Wohnung stak, als sie nach oben gingen. Indessen +aber durfte er um keinen Preis seinen Gang zu sehr beschleunigen, +obgleich bis zur ersten Seitenstraße gegen hundert Schritte waren. + +»Soll ich nicht in ein Tor hineinschlüpfen und irgendwo in einer +unbekannten Straße abwarten? Nein, das ist gefährlich! Soll ich nicht +das Beil fortwerfen? Soll ich nicht eine Droschke nehmen? Es ist zu +gefährlich, zu gefährlich!« + +Endlich kam die Seitenstraße, er bog in sie halbtot ein. Hier war er +schon zur Hälfte gerettet, und ward es inne, -- hier erregte er kaum +Verdacht, zudem war diese Straße stark belebt, und er ging wie ein +Sandkorn in der Menge verloren. Aber alle diese Qualen hatten ihn so +erschöpft, daß er sich kaum mehr fortbewegen konnte. Der Schweiß rann +ihm in Tropfen herunter, sein Hals war ganz naß. + +»Sieh mal, wie der voll ist!« rief ihm jemand zu, als er auf den Kanal +hinauskam. + +Er hatte fast keinen Gedanken mehr; je weiter er ging, um so schlimmer +wurde es. Er erschrak plötzlich, als er an den Kanal hinauskam; denn +dort gab es wenig Menschen, hier konnte er leichter auffallen, und er +wollte wieder in die Seitengasse zurückkehren. Trotzdem er am Umfallen +war, machte er doch einen Umweg und kam von einer anderen Seite nach +Hause. + +Noch fast besinnungslos schritt er durch das Tor seines Hauses; er war +schon die Treppe hinaufgestiegen, da erst entsann er sich des Beiles. +Eine überaus wichtige Aufgabe stand ihm noch bevor, das Beil +zurückzulegen und es unbemerkt zu tun. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu +überlegen, ob es vielleicht nicht viel besser wäre, das Beil gar nicht +mehr auf seinen früheren Platz zurückzubringen, sondern es irgendwo auf +einen fremden Hof, wenn auch nicht sofort, zu werfen. + +Doch es ging alles gut vonstatten. Die Türe zu der Wohnung des +Hausknechts war zugemacht, aber nicht verschlossen, also war der +Hausknecht sehr wahrscheinlich zu Hause. Und so weit hatte er schon die +Fähigkeit zu überlegen verloren, daß er einfach auf die Wohnung losging +und die Türe öffnete. Hätte der Hausknecht ihn in diesem Augenblick +gefragt, was er wolle, er hätte ihm einfach das Beil in die Hand +gegeben. Der Hausknecht war aber auch diesmal nicht da und er konnte das +Beil auf seinen Platz unter die Bank legen; er bedeckte es sogar wieder +mit einem Holzscheit. Keine Seele begegnete ihm bis zu seinem Zimmer; +die Türe zur Wohnung der Wirtin war abgeschlossen. Nachdem er in sein +Zimmer eingetreten war, warf er sich auf den Diwan, so wie er war. Er +schlief nicht, verfiel aber in einen Halbschlummer. Wenn jemand jetzt in +sein Zimmer getreten wäre, wäre er aufgesprungen und hätte geschrien. +Abgerissene, verworrene Gedanken wirbelten in seinem Kopfe, aber er +konnte keinen einzigen erfassen, keinen festhalten, trotz aller +Anstrengung. + + + + + Zweiter Teil + + + I. + +So lag er sehr lange da. Manchmal wachte er vom Schlafe auf und dann +bemerkte er, daß es schon längst Nacht war. Endlich nahm er wahr, daß es +schon heller Tag war. Er lag auf dem Diwan ausgestreckt, noch erstarrt +von der kaum überwundenen Bewußtlosigkeit. Schrill tönte fürchterliches +verzweifeltes Geheul von der Straße herauf, das er jede Nacht unter +seinem Fenster in der dritten Morgenstunde hörte. Das hatte ihn auch +jetzt wieder aufgeweckt. + +»Ah! Es kommen die Betrunkenen schon aus den Kneipen,« dachte er. »Es +ist drei Uhr!« und er sprang auf, als hätte ihn jemand von dem Diwan +heruntergestoßen. + +»Wie! Es ist schon drei!« + +Er setzte sich -- und da fiel ihm alles ein! Plötzlich fiel ihm alles +ein! + +Im ersten Augenblicke dachte er, er würde den Verstand verlieren. Eine +furchtbare Kälte erfaßte ihn, aber die Kälte kam vom Fieber, das schon +längst während des Traumzustandes angefangen hatte. Es packte ihn ein +Schüttelfrost, daß die Zähne zusammenschlugen, und alles zitterte an +ihm. Er öffnete die Türe und begann zu lauschen: im Hause schlief alles. +Erschreckt betrachtete er sich selbst und alles ringsum im Zimmer und +begriff nicht -- wie konnte er nur gestern die Türe nicht zuhaken und +sich nicht nur angekleidet, sondern sogar mit dem Hute auf den Diwan +werfen; der Hut war ihm heruntergefallen und lag dort auf der Diele in +der Nähe des Kissens. + +»Wenn jemand gekommen wäre, was hätte er denken müssen? Daß ich +betrunken, aber ...« + +Er stürzte zum Fenster. Es war genügend hell und er besah sich schnell +ganz vom Kopfe bis zu den Füßen, seine ganze Kleidung, ob nicht Spuren +daran waren. Aber man konnte so nichts sehen; zitternd vor Frost, zog er +alles aus und wieder betrachtete er es von allen Seiten. Er drehte alles +um bis zum letzten Faden und Fetzen, und da er sich selber nicht traute, +wiederholte er dreimal die Besichtigung. Aber er fand nichts, scheinbar +keine Spur; nur an einer Stelle, wo die Hosen unten abgerieben und in +Fransen hingen, waren an diesen Fransen dicke Flecken eingetrockneten +Blutes. Er nahm ein großes Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. +Mehr schien es nicht zu sein. Da fiel ihm ein, daß der Beutel und die +Sachen, die er aus der Truhe bei der Alten herausgenommen, sich noch +immer in seinen Taschen befanden. Er hatte nicht mehr daran gedacht, sie +herauszunehmen und zu verstecken. Nicht einmal jetzt sogar hatte er sich +ihrer gleich erinnert, als er seine Kleider besah. War denn das möglich? +Hastig nahm er sie heraus und warf sie auf den Tisch. Nachdem er alles +herausgenommen und die Taschen umgekehrt hatte, um sich zu vergewissern, +daß nichts übriggeblieben war, brachte er den ganzen Haufen in eine +Ecke. Dort in der Ecke waren unten an einer Stelle die von der Wand +losgelösten Tapeten zerrissen; sofort begann er alles in dieses Loch +unter dem Papier hineinzustopfen. + +»Es ist hineingegangen! Alles ist fort, sogar der Beutel!« dachte er +voller Freude, indem er aufstand und stumpf in die Ecke sah, auf das +Loch, wo die Tapete jetzt weiter abstand. + +Da schrak er wieder zusammen. + +»Mein Gott,« flüsterte er verzweifelt, »was ist mit mir? Ist denn das +versteckt? Versteckt man das so?« + +Natürlich hatte er mit solchen Gegenständen gar nicht gerechnet; er +dachte, daß es nur Geld bei ihr geben würde und darum hatte er keinen +Platz vorher ausgesucht. + +»Aber jetzt, jetzt, worüber freute ich mich denn?« dachte er. »Versteckt +man denn so? In der Tat, der Verstand verläßt mich!« + +Erschöpft setzte er sich auf den Diwan und von neuem schüttelte ihn ein +unerträglicher Fieberanfall. Mechanisch hüllte er sich in seinen +früheren Studentenmantel, einen gefütterten, aber schon recht schäbigen +Winterüberzieher; er deckte sich mit ihm zu, und alsbald überfielen ihn +wieder Schlaf und Fieberträume. + +Doch schon nach fünf Minuten sprang er wieder auf und stürzte außer sich +von neuem zu seinen Kleidern. »Wie konnte ich nur wieder einschlafen, wo +noch nichts getan ist! Da haben wir es, da haben wir es, die Schlinge +unter der Achsel habe ich noch nicht abgenommen! Ich habe es vergessen, +habe solch eine Sache vergessen! Solch ein Verdachtsmoment!« + +Er riß die Schlinge ab und begann sie schnell in Stücke zu zerreißen und +versteckte sie unter dem Kissen in der Wäsche. + +»Stücke von zerrissener Leinwand können in keinem Falle Verdacht +erregen; es scheint so, es scheint so!« wiederholte er, mitten im Zimmer +stehend, und begann von neuem mit schmerzhaft angespannter +Aufmerksamkeit ringsum, auf der Diele und überall, herumzuspähen, ob er +nicht noch etwas vergessen habe. Die Überzeugung, daß alles, sogar das +Gedächtnis, sogar das einfache Denken ihn verließ, -- begann ihn +unerträglich zu quälen. + +»Was! fängt es schon jetzt an, kommt schon jetzt die Strafe? Sieh da, +sieh es stimmt!« + +Die abgeschnittenen Fransen, die er von den Hosen abgetrennt hatte, +lagen in der Tat auf der Diele mitten im Zimmer, damit sie ja der erste +beste sehen konnte. + +»Was ist denn nur mit mir!« rief er wieder aus, wie verloren. + +Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: vielleicht war auch seine ganze +Kleidung blutig, vielleicht hat sie viele Flecken, aber er sieht sie +bloß nicht, er bemerkt sie nicht, weil sein Denken geschwächt, verworren +... der Verstand verdüstert ist ... Plötzlich erinnerte er sich, daß an +dem Beutel auch Blut war. + +»Bah, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ich den noch feuchten +Beutel hineinsteckte!« + +Schnell kehrte er die Hosentasche um, und -- tatsächlich, -- auf dem +Futter der Tasche waren Spuren, Flecken. + +»Also hat mich der Verstand noch nicht ganz verlassen, also besitze ich +noch Urteilsfähigkeit und Gedächtnis, wenn ich mich hierauf besinnen +konnte!« dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und +freudig auf. »Es ist einfach fieberhafte Schwäche, eine vorübergehende +Anwandlung.« + +Und er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche. In diesem +Augenblicke beleuchtete ein Sonnenstrahl seinen linken Stiefel; auf dem +Strumpfe, der aus dem Stiefel hervortrat, schienen Flecken zu sein. Er +zog den Stiefel aus, -- es waren wirklich Spuren. Die ganze Fußspitze +war mit Blut durchtränkt; wahrscheinlich war er unvorsichtigerweise in +die Pfütze getreten ... »Aber was nun damit tun? Wohin diesen Strumpf +tun? Wohin diesen Strumpf, die Franse, die Hosentasche?« Er knüllte +alles in der Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. »In den +Ofen? Aber im Ofen wird man zuerst nachstöbern. Verbrennen? Ja, aber +womit brennen? Er hat nicht mal Streichhölzer. Nein, besser, irgendwo +hingehen und alles fortwerfen. Ja! das beste ist fortwerfen!« +wiederholte er und setzte sich von neuem auf den Diwan. »Und sofort muß +ich es tun, in diesem Augenblick, ohne Zeit zu verlieren! ...« + +Indessen fiel sein Kopf von neuem auf das Kissen; wieder durchrüttelte +ihn eisig der unerträgliche Schüttelfrost; wieder zog er den +Wintermantel über sich. Und lange noch, ein paar Stunden, träumte er ab +und zu, »ich muß sofort ohne Zögern irgendwo hingehen und alles +fortwerfen, damit es schnell aus den Augen kommt!« Einigemal erhob er +sich vom Diwan, wollte aufstehn, konnte aber nicht mehr. Endlich weckte +ihn ein starkes Klopfen an der Türe. + +»Öffne doch, lebst du oder nicht? Und immer schläft er!« schrie Nastasja +und schlug mit der Faust an die Türe. »Den ganzen geschlagenen Tag +schläft er wie ein Hund! Er ist auch ein Hund! Öffne doch. Es ist schon +elf Uhr.« + +»Vielleicht ist er nicht zu Hause,« sagte eine männliche Stimme. + +»Ha, das ist die Stimme des Hausknechtes ... Was will er?« + +Er sprang auf und setzte sich auf den Diwan. Das Herz klopfte so stark, +daß es ihn schmerzte. + +»Wer hat denn die Türe zugehakt?« erwiderte Nastasja. »Sieh mal, er +fängt an, sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn holen könnte? +Öffne. Mensch, wach auf!« + +»Was wollen sie? Warum ist der Hausknecht da? Alles ist bekannt. Soll +ich Widerstand leisten oder öffnen? Mag alles zugrunde gehen ...« + +Er erhob sich ein wenig, beugte sich nach vorn und nahm den Haken ab. + +Das ganze Zimmer war nur so groß, daß man den Türhaken abnehmen konnte, +ohne vom Bette aufzustehen. + +Er hatte richtig geraten, -- vor ihm standen Nastasja und der +Hausknecht. Nastasja blickte ihn eigentümlich an. Er warf dem +Hausknechte einen herausfordernden und verzweifelten Blick zu. Der +reichte ihm schweigend ein graues zusammengelegtes Stück Papier, das mit +gewöhnlichem Siegellack zugesiegelt war. + +»Vorladung aus dem Bureau,« sagte er, indem er das Papier überreichte. + +»Aus welchem Bureau? ...« + +»Selbstredend vom Polizeibureau.« + +»Von der Polizei! ... Warum?« + +»Woher soll ich es wissen. Man verlangt es und da müssen Sie gehen.« + +Er sah ihn aufmerksam an, warf einen Blick ins Zimmer und wandte sich, +um fortzugehen. + +»Bist du ganz krank geworden?« bemerkte Nastasja, die ihre Augen nicht +von ihm abwandte. + +Der Hausknecht drehte auch einen Augenblick seinen Kopf um. + +»Seit gestern hat er Fieber,« fügte sie hinzu. + +Er antwortete nichts und hielt das Schriftstück in den Händen, ohne es +zu öffnen. + +»Bleib liegen,« fuhr Nastasja fort; sie wurde weicher gestimmt, als sie +sah, daß er die Füße vom Diwan herabließ. + +»Da du krank bist, so gehe nicht hin: es brennt doch nicht. Was hast du +da in der Hand?« + +Er blickte hin. In der rechten Hand hielt er die abgeschnittenen Fransen +von der Hose, den Strumpf und die Fetzen der ausgerissenen Tasche. So +hatte er mit ihnen geschlafen. Als er später darüber nachsann, erinnerte +er sich, daß er im Fieber aufwachend, dies alles nur fester in seiner +Hand zusammenballte und wieder einschlief. + +»Sieh, was für Lumpen er gesammelt hat und schläft mit ihnen, als wären +sie ein kolossaler Schatz ...« Und Nastasja fiel in ihr lautes nervöses +Lachen. + +Im Nu steckte er alles unter den Mantel und heftete auf sie einen +forschenden Blick. Obwohl er in diesem Augenblicke wenig mit Verstand +sich die Sache überlegen konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen +nicht in dieser Weise behandeln würde, wenn man ihn verhaften wollte ... + +»Aber ... die Polizei?« + +»Du solltest etwas Tee trinken. Willst du? Ich bringe ihn dir; es ist +etwas übriggeblieben ...« + +»Nein ... ich will hingehen; ich will sofort hingehen,« murmelte er +aufstehend. + +»Du kannst ja nicht mal die Treppe hinuntergehen.« + +»Ich will hingehen ...« + +»Wie du willst.« + +Sie folgte dem Hausknechte. + +Sofort stürzte er zum Licht, um den Strumpf und die Hosenfransen zu +besehen. + +»Flecken sind da, aber kaum sichtbar. Alles ist beschmutzt, abgerieben +und verblichen. Wer es nicht weiß -- wird nichts bemerken. Nastasja +konnte wahrscheinlich von weitem nichts sehen. Gott sei Dank.« Dann +öffnete er mit Bangen die Vorladung und begann zu lesen; er las lange, +und schließlich begriff er. Es war eine gewöhnliche Vorladung, vom +Polizeirevier, heute um halb zehn in dem Bureau des Revieraufsehers zu +erscheinen. + +»Das ist mir noch nie passiert. Ich habe nichts mit der Polizei zu tun. +Und warum gerade heute!« + +Er wollte sich schon auf die Knie werfen, um zu beten, lachte dann aber +selbst darüber, -- nicht über das Beten, sondern über sich selbst. Er +begann sich eilig anzuziehen. + +»Soll ich zugrunde gehen, na, dann ist nichts zu machen. Soll ich den +Strumpf anziehen!« dachte er plötzlich. »Er wird noch mehr im Staub +beschmutzt und die Spuren werden verschwinden.« + +Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn voll Ekel und Schrecken +herunterriß. Er hatte ihn vom Fuß heruntergerissen, aber nachdem er +überlegt hatte, daß er keinen anderen hatte, zog er ihn wieder an -- und +lachte wieder. + +»All das ist Vorurteil, alles ist nur wie man's nimmt, all das sind nur +Formen,« dachte er einem flüchtigen Gedanken nach und zitterte dabei am +ganzen Körper. »Ich habe ihn doch angezogen. Hab es fertig gebracht, ihn +anzuziehen.« + +Aber das Lachen verwandelte sich sogleich in Verzweiflung. + +»Nein, das ist über meine Kräfte ...« dachte er. Seine Füße zitterten. + +»Aus Angst,« murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und +schmerzte vor Fieber. + +»Eine List ist es! Sie wollen mich mit List hinlocken und mich plötzlich +aus der Fassung bringen,« fuhr er fort vor sich hinzumurmeln und ging +auf die Treppe hinaus. »Das ist schlimm, daß ich fieberig bin ... ich +kann irgendeine Dummheit machen ...« + +Auf der Treppe besann er sich, daß er alle Sachen so in dem Loche unter +der Tapete liegen ließ. »Und gerade jetzt konnte absichtlich in seiner +Abwesenheit eine Haussuchung vorgenommen werden,« fiel es ihm ein, und +er blieb stehn. Aber solch eine Verzweiflung und solch ein, wenn man +sich so ausdrücken darf, -- Zynismus über seinen Untergang hatten ihn +gepackt, daß er unbekümmert weiterging. + +»Möge es bloß schnell vorbei sein! ...« Auf der Straße war es wieder +unerträglich heiß; kein Regentropfen in all diesen Tagen. Wieder gab es +Staub von Ziegeln und Kalk, wieder den Gestank aus den Läden und +Wirtshäusern, wieder tauchten alle Augenblicke Betrunkene, finnische +Höcker und halbzerfallene Droschken auf. Die Sonne strahlte hell in +seine Augen, so daß es ihm weh tat, und der Kopf schwindelte ihm, -- das +gewöhnliche Gefühl eines Fieberkranken, der plötzlich auf die Straße an +einem heißen sonnigen Tage hinaustritt. + +Als er um die Ecke in die _gestrige_ Straße einbog, blickte er dorthin, +auf _jenes_ Haus voll qualvoller Unruhe ... und wendete sogleich die +Augen ab. + +»Wenn man mich frägt, werde ich es vielleicht sagen,« dachte er, indem +er sich dem Polizeibureau näherte. + +Das Bureau war ein paar hundert Schritte von seinem Hause entfernt. Es +war kürzlich in neuen Räumen in einem neuen Hause im vierten Stocke +untergebracht worden. In dem alten Bureau war er einmal, aber vor +längerer Zeit, gewesen. Als er in das Tor eintrat, erblickte er zur +rechten Hand eine Treppe, von der ein Mann mit einem Buche in der Hand +herunterkam. »Ein Bureaudiener also; folglich ist auch hier das Bureau,« +und er begann aufs Geratewohl die Treppe hinaufzusteigen. Er wollte +niemanden um Auskunft fragen. + +»Ich trete ein, werfe mich auf die Knie und erzähle alles ...« dachte +er, indem er die letzte Treppe zum vierten Stock hinaufstieg. + +Die Treppe war sehr schmal, steil und voll Unrat. Alle Küchen von allen +Wohnungen in all den vier Stockwerken mündeten auf diese Treppe und +standen fast den ganzen Tag offen. Daher war dort eine furchtbare, +stickige Luft. Es kamen und gingen Hausknechte mit Büchern unter dem +Arm, Schutzleute und allerhand Volk beiderlei Geschlechts, die da zu tun +hatten. Die Türe zu dem Polizeibureau stand auch sperrweit auf. Er trat +ein und blieb im Vorzimmer stehn. Überall standen, überall warteten +Bauern. Auch hier war die Luft schrecklich dumpf und außerdem roch es +zum Übelwerden nach frischer, nicht ausgetrockneter Farbe mit ranzigem +Öl von den neugestrichenen Dielen. Er wartete ein wenig und beschloß, +weiter in das nächste Zimmer zu gehen. Alle Zimmer waren klein und +niedrig. Eine quälende Ungeduld zog ihn immer weiter und weiter. Niemand +beachtete ihn. In dem zweiten Zimmer saßen und schrieben einige +Schreiber, die vielleicht ein wenig besser gekleidet waren als er, dem +Äußeren nach komische Menschen. Er wandte sich an einen von ihnen. + +»Was wünschest du?« + +Er zeigte die Vorladung. + +»Sie sind Student?« fragte der Schreiber, nachdem er einen Blick auf die +Vorladung geworfen hatte. + +»Ja, ich bin gewesener Student.« + +Der Schreiber blickte ihn ohne jegliche Neugier an. Er war ein besonders +zerzauster Mensch mit einem unbeweglichen Ausdruck im Blicke. + +»Von diesem erfahre ich nichts, denn ihm ist es gleichgültig,« dachte +Raskolnikoff. + +»Gehen Sie dorthin, zu dem Sekretär,« sagte der Schreiber und wies mit +dem Finger auf das allerletzte Zimmer. + +Er trat in dieses Zimmer, das vierte der Reihe nach; es war eng und +vollgestopft von Menschen, die ein wenig besser gekleidet waren, als in +den ersten Zimmern. Unter den Besuchern waren auch zwei Damen. Die eine +in Trauer, ärmlich gekleidet, saß an einem Tisch gegenüber dem Sekretär +und schrieb etwas nach seinem Diktat. Die andere Dame, eine sehr dicke, +purpurrote, ansehnliche Frau mit Flecken im Gesichte, sehr auffällig +gekleidet, mit einer Brosche in der Größe einer Untertasse stand +seitwärts und schien auf etwas zu warten. Raskolnikoff schob dem +Sekretär seine Vorladung zu. Dieser besah sie flüchtig, sagte: »warten +Sie« und fuhr fort, sich mit der Dame in Trauer zu beschäftigen. + +Raskolnikoff atmete erleichtert auf. + +»Es ist sicher nicht das!« Allmählich begann er Mut zu fassen, er sprach +sich mit aller Macht zu, sich zusammenzunehmen und besonnen zu sein. + +»Irgendeine Dummheit, irgendeine geringfügige Unvorsichtigkeit, und ich +kann mich verraten! Hm ... schade, daß hier keine frische Luft ist,« +fügte er hinzu, »diese Schwüle ... Der Kopf schwindelt mir noch mehr ... +und der Verstand auch ...« + +Er fühlte in seinem ganzen Körper eine furchtbare Zerrüttung und +fürchtete auch, sich nicht beherrschen zu können. Nun versuchte er, sich +an etwas anzuklammern, und an irgend etwas vollkommen Nebensächliches zu +denken, aber das gelang ihm absolut nicht. Der Sekretär interessierte +ihn übrigens sehr stark, -- er wollte gern aus seinem Gesichte etwas +erraten und ihn durchschauen. Es war ein sehr junger Mann von etwa +zweiundzwanzig Jahren, mit einem beweglichen Gesichte von dunkler Farbe, +das ihn älter erscheinen ließ; er war nach der Mode und stutzerhaft +gekleidet, hatte einen Scheitel am Hinterkopf, war frisiert und +pomadisiert und trug eine Menge Ringe an den weißen, peinlich sauberen +Fingern und eine goldene Kette auf der Weste. Mit einem anwesenden +Ausländer wechselte er sogar ein paar Worte französisch, und tat es +ziemlich gut. + +»Louisa Iwanowna, setzen Sie sich doch,« sagte er flüchtig zu der +geputzten purpurroten Dame, die die ganze Zeit dastand, als wage sie +nicht sich hinzusetzen, obwohl ein Stuhl neben ihr stand. + +»Ich danke,« sagte sie deutsch und setzte sich, seiderauschend, auf den +Stuhl. Ihr hellblaues Kleid, mit weißen Spitzen besetzt, umgab gleich +einem Luftballon ihren Stuhl und nahm beinahe das halbe Zimmer ein. Ein +Duft von Parfüm verbreitete sich. Aber der Dame schien es peinlich zu +sein, daß sie das halbe Zimmer einnahm und daß sie so stark nach Parfüm +duftete, obgleich sie halb ängstlich, halb frech, jedoch voll deutlicher +Unruhe lächelte. + +Die Dame in Trauer war endlich fertig und erhob sich von ihrem Platze. +Plötzlich trat mit einigem Geräusch, bei jedem Schritte sehr rasch und +eigentümlich die Schultern bewegend, ein Offizier ein, warf die Mütze +mit der Kokarde auf den Tisch und setzte sich in den Sessel. Bei seinem +Anblicke sprang die geputzte Dame von ihrem Platze auf und begann mit +besonderem Entzücken zu knixen, der Offizier aber schenkte ihr nicht die +geringste Beachtung und sie wagte es nicht mehr, sich in seiner +Gegenwart hinzusetzen. Es war der Gehilfe des Revieraufsehers, er hatte +einen horizontal abstehenden rötlichen Schnurrbart, sein Gesicht wies +unbedeutende Züge auf, die außer einer gewissen Frechheit nichts +ausdrückten. Er blickte von der Seite und unmutig auf Raskolnikoff; +dessen Anzug war schlecht, und dennoch entsprach seine Haltung nicht der +Ärmlichkeit seiner Kleidung. Raskolnikoff hatte aus Unvorsichtigkeit ihm +zu lange ins Gesicht gestarrt, so daß jener sich sogar beleidigt fühlte. + +»Was willst du?« schrie er ihn an, entrüstet, daß solch ein zerlumpter +Mensch nicht daran dachte, vor seinem blitzesprühenden Blicke sich zu +verziehen. + +»Man hat mich bestellt ... laut Vorladung ...« antwortete Raskolnikoff +zusammenhanglos. + +»Es handelt sich um eine Geldforderung an ihn, _er ist Student_,« +beeilte sich der Sekretär zu bemerken, indem er von seiner Arbeit +aufschaute. »Da ist es!« und er warf Raskolnikoff ein Heft zu und zeigte +ihm die Stelle. »Lesen Sie es durch!« + +»Geld? Was für Geld?« dachte Raskolnikoff, »aber, ... es ist also nicht +das!« + +Und er fuhr vor Freude zusammen. Es wurde ihm urplötzlich unbeschreibbar +leicht. Alles war verflogen. + +»Um welche Stunde aber sind Sie hierher bestellt, mein Herr!« schrie der +Leutnant, der sich aus unbekannten Gründen immer mehr ärgerte. »Man +bestellte Sie um neun und jetzt ist schon die zwölfte Stunde.« + +»Man hat mir die Vorladung erst vor einer Viertelstunde zugestellt,« +antwortete laut und über die Schulter hinweg Raskolnikoff, der auch +plötzlich und unerwartet ärgerlich geworden war und darin ein gewisses +Vergnügen fand. »Es ist schon genug, daß ich trotz meines Fiebers +hergekommen bin.« + +»Belieben Sie nicht zu schreien!« + +»Ich schreie gar nicht, sondern spreche sehr ruhig, aber Sie schreien +mich an; ich bin Student und erlaube nicht, daß man mich anschreit.« + +Der Gehilfe war so erregt, daß er im ersten Augenblick kein Wort +hervorbringen konnte, er zischte nur und sprang von seinem Platze auf. + +»Schwei--gen Sie bitte! Sie stehen vor einer Behörde. Sie dürfen nicht +grob sein, mein Herr!« + +»Auch Sie sind bei einer Behörde,« rief Raskolnikoff, »und Sie schreien +nicht allein, sondern rauchen auch, verletzen uns also in jeder Weise.« + +Als Raskolnikoff dies gesagt hatte, empfand er einen unbeschreiblichen +Genuß. Der Sekretär blickte sie lächelnd an. Der hitzige Leutnant war +sichtbar verblüfft. + +»Das geht Sie nichts an!« schrie er endlich unnatürlich laut. »Belieben +Sie aber besser eine Antwort auf die Forderung zu geben. Zeigen Sie sie +ihm, Alexander Grigorjewitsch. Klagen laufen gegen Sie ein! Sie zahlen +nicht! Schaut mal den noblen Herrn an!« + +Raskolnikoff aber hörte nicht mehr, nahm aufgeregt das Papier vor und +suchte schnell die Lösung. Er las es einmal, ein zweites Mal, und +begriff nichts. + +»Was ist es denn?« fragte er den Sekretär. + +»Man verlangt von Ihnen Geld laut Schuldschein, eine Forderung ist es. +Sie müssen entweder die Summe mit allen Unkosten, Strafgeldern und so +weiter bezahlen oder eine schriftliche Erklärung abgeben, wann Sie +imstande sind zu bezahlen, gleichzeitig aber auch sich verpflichten, die +Hauptstadt bis zur Tilgung der Schuld nicht zu verlassen und Ihr +Eigentum weder zu veräußern noch zu verheimlichen. Der Gläubiger aber +hat das Recht, Ihr Eigentum zu verkaufen und mit Ihnen nach dem Gesetze +zu verfahren.« + +»Ja ... aber ich schulde niemand etwas.« + +»Das geht uns nichts an. Wir haben zur Einkassierung einen verfallenen +und gesetzlich protestierten Schuldschein auf hundertundfünfzehn Rubel +erhalten, den Sie der Witwe des Kollegienassessors Sarnitzin vor neun +Monaten ausgestellt haben und der von der Witwe Sarnitzin an den Hofrat +Tschebaroff durch Kauf übergegangen ist, und darum fordern wir von Ihnen +eine Erklärung.« + +»Sie ist ja meine Zimmerwirtin!« + +»Nun, und was ist dabei, daß sie Ihre Zimmerwirtin ist?« + +Der Sekretär blickte ihn mit herablassendem mitleidigen Lächeln an, +gleichzeitig aber ein wenig triumphierend, wie über einen Neuling, den +man soeben beginnt zu rupfen, als wollte er sagen: »Nun, wie fühlst du +dich jetzt?« + +Aber was kümmert ihn jetzt der Schuldschein, eine Forderung! Lohnt es +sich jetzt, darüber sich auch nur ein wenig aufzuregen, es auch nur zu +beachten! Er stand da, las, hörte, antwortete, fragte sogar selbst, aber +alles nur mechanisch. Der Triumph der Selbsterhaltung, die Rettung aus +der drohenden Gefahr, -- das erfüllte in diesem Augenblick sein ganzes +Wesen, ohne Ausblick, ohne Analyse, ohne Deutung und Enträtselung der +Zukunft, ohne Zweifel und ohne Fragen. Es war ein Augenblick +unmittelbarer, rein tierischer Freude. Aber in diesem Momente ereignete +sich im Bureau etwas wie die Entladung eines Gewitters. Der Leutnant, +immer noch aus dem Gleichgewicht wegen der Unehrerbietigkeit, ganz +aufgeregt und wahrscheinlich mit dem Wunsche, die gekränkte Ehre +herzustellen, stürzte sich mit seinem ganzen Zorn auf die unglückliche +»pompöse Dame,« die ihn seit seinem Eintritt mit einem äußerst dummen +Lächeln anblickte. + +»Ach du, so eine,« schrie er sie plötzlich aus vollem Halse an (die Dame +in Trauer war schon fortgegangen), »was ist bei dir in der vorigen Nacht +passiert? Ah? Wieder gibt es bei dir Schimpf und Skandal in der ganzen +Straße? Wieder Schlägerei und Sauferei. Du träumst wohl vom +Arbeitshause! Ich habe dir doch schon gesagt, habe dich schon zehnmal +gewarnt, daß ich dir das elfte Mal nichts schenken werde! Und du tust es +wieder, du, du ...« + +Das Papier entfiel den Händen Raskolnikoffs und er blickte entsetzt die +prachtvolle Dame an, mit der man so ungeniert herumsprang; aber bald +darauf begriff er, was los sei, und sofort gefiel ihm diese Sache +ausgezeichnet. Er hörte mit Vergnügen zu, so daß er Lust bekam, laut zu +lachen, zu lachen, zu lachen ... Alle seine Nerven zuckten. + +»Ilja Petrowitsch!« versuchte der Sekretär zu besänftigen, aber er hielt +inne, um die rechte Zeit abzuwarten, denn den in Aufregung geratenen +Leutnant konnte man nicht anders beruhigen als durch Festhalten der +Hände, was er aus eigener Erfahrung kannte. + +Was aber die prachtvolle Dame anging, so begann sie zuerst beim Donner +und Blitz zu beben; aber sonderbar, je zahlreicher und kräftiger die +Schimpfwörter wurden, um so liebenswürdiger wurde ihr Aussehen, um so +bezaubernder wurde ihr Lächeln dem zornigen Leutnant gegenüber. Sie +trippelte auf einem Fleck, knixte ununterbrochen und wartete voll +Ungeduld, daß sie endlich auch zu Wort kommen würde, was ihr schließlich +gelang. + +»Gar kein Lärm und keine Schlägerei waren bei mir, Herr Kapitän,« +plapperte sie plötzlich los, so schnell, als schüttete man Erbsen aus, +-- mit einem stark deutschen Akzent, aber doch fließend russisch, -- +»und gar kein Skandal, gar keiner, und sie kamen betrunken hin, und ich +will alles erzählen, Herr Kapitän, und ich bin nicht schuld ... ich habe +ein anständiges Haus, Herr Kapitän, und ein anständiger Ton ist bei mir, +Herr Kapitän, und ich will nie, will selbst nie einen Skandal haben. Sie +aber kamen ganz betrunken hin und haben dann drei Flaschen verlangt, und +dann erhob einer seine Füße und begann mit den Füßen auf dem Klavier zu +spielen, und das paßt sich gar nicht in einem anständigen Hause, und er +hat das ganze Klavier zerschlagen, und das ist doch keine Manier, und da +habe ich es ihm gesagt. Er aber nahm eine Flasche und begann alle von +hinten mit der Flasche zu stoßen. Und da habe ich den Hausknecht +gerufen, und als Karl kam, hat er Karl das Auge ausgeschlagen, und +Henriette hat er auch das Auge ausgeschlagen, und mich hat er fünfmal +auf die Backe geschlagen. Und das ist nicht fein in einem anständigen +Hause, Herr Kapitän, und ich habe geschrien. Und er hat das Fenster zu +dem Kanal geöffnet und hat wie ein kleines Schwein aus dem Fenster +gequiekt; das ist doch eine Schande. Wie kann man auch wie ein kleines +Schwein aus dem Fenster quieken? Pfui, pfui, pfui! Und Karl hat ihn an +seinem Frack vom Fenster gezogen, und das ist wahr, Herr Kapitän, daß er +ihm da seinen Rock zerrissen hat. Und da begann er zu schreien, daß man +ihm fünfzehn Rubel Strafe zahlen müsse. Und ich selbst habe ihm fünf +Rubel für seinen Rock bezahlt, Herr Kapitän. Und das ist ein +unanständiger Gast, Herr Kapitän, und er hat allen Skandal gemacht. Ich +werde, hat er gesagt, eine große Satire über Sie drucken lassen, denn +ich kann in allen Zeitungen über Sie schreiben.« + +»Also ein Zeitungsschreiber?« + +»Ja, Herr Kapitän, und welch ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, wenn +er in einem anständigen Hause ...« + +»Nun, nun, genug! Ich habe dir doch gesagt, habe dir doch gesagt ...« + +»Ilja Petrowitsch!« sagte von neuem der Sekretär bedeutungsvoll. + +Der Leutnant blickte ihn schnell an, der Sekretär nickte leicht mit dem +Kopfe. + +»... Also es ist mein letztes Wort, verehrteste Louisa Iwanowna, und +auch zum letztenmal,« fuhr der Leutnant fort, »wenn in deinem +anständigen Hause nur noch ein einziges Mal ein Skandal vorkommt, so +werde ich dich selbst beim Wickel nehmen, wie man sich poetisch +ausdrückt. Hast du gehört? Also ein Literat, ein Schriftsteller war es, +der in einem >anständigen Hause< fünf Rubel für einen Rockschoß genommen +hat? So sind sie, diese Schriftsteller!« und er warf einen verächtlichen +Blick auf Raskolnikoff. »Vorgestern passierte in einem Restaurant +dieselbe Geschichte, -- hat einer zu Mittag gegessen, wünscht aber nicht +zu zahlen; >ich werde<, sagt er, >Sie in einer Satire schildern<. Ein +anderer wieder beschimpft mit den gemeinsten Worten in der vorigen Woche +auf einem Dampfschiffe die achtbare Familie eines Staatsrates, Frau und +Tochter. Vor ein paar Tagen hat man einen dritten aus einer Konditorei +herausgeschmissen. So sind sie alle, die Schriftsteller, Literaten, +Studenten, Großmäuler ... pfui! Und du kannst dich packen! Ich will mal +selbst dich aufsuchen ... dann nimm dich in acht! Hast du gehört?« + +Louisa Iwanowna begann mit eiliger Liebenswürdigkeit nach allen Seiten +hin zu knixen und trippelte knixend bis zur Türe, hier aber stieß sie +von hinten auf einen stattlichen Offizier mit einem offenen frischen +Gesichte und schönem dichten, blonden Backenbart. Es war Nikodim +Fomitsch selbst, der Revieraufseher. Louisa Iwanowna beeilte sich einen +tiefen Knix zu machen und flog mit eiligen kleinen Schritten hüpfend aus +dem Bureau hinaus. + +»Wieder Gepolter, wieder Donner und Blitz, Wirbelwind und Orkan!« wandte +sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja +Petrowitsch. »Wieder hat man Ihr Herz in Aufruhr gebracht, wieder sind +Sie erregt worden! Ich hab' es schon auf der Treppe gehört.« + +»Ach, was!« sagte mit nobler Gleichgültigkeit Ilja Petrowitsch und ging +mit einigen Papieren zu einem anderen Tisch, wobei er bei jedem Schritt +elegant mit den Schultern zuckte. »Da, bitte sehen Sie es sich mal an -- +der Herr Schriftsteller, pardon Student, ein gewesener wollte ich sagen, +zahlt nicht, stellt Wechsel aus, räumt die Wohnung nicht, fortwährende +Klagen laufen ein, -- er aber war doch gekränkt, daß ich in seiner +Gegenwart mir eine Zigarette ansteckte. Selbst aber gaunert diese Sorte, +bitte sehen Sie sich ihn doch an, -- da steht er in seinem reizenden +Aussehen.« + +»Armut ist kein Laster, mein Freund, na, aber wozu reden. Es ist ja +bekannt, du bist wie Pulver, konntest eine Kränkung nicht ertragen. Sie +fühlten sich durch irgend etwas von ihm gekränkt und konnten sich nicht +beherrschen,« fuhr Nikodim Fomitsch fort, sich liebenswürdig an +Raskolnikoff wendend, »aber das war überflüssig, er ist der +an--stän--dig--ste Mensch, sage ich Ihnen, aber wie Pulver, wie Pulver! +Flammt auf, kocht über, brennt ab -- und Schluß. Und alles ist vorbei! +Und zu guter Letzt bleibt nur das goldene Herz! Man hat ihn schon im +Regiment >Leutnant Pulver< genannt!« + +»Und was für ein Regiment es war!« rief Ilja Petrowitsch aus, sehr +zufrieden, daß man ihm so angenehm geschmeichelt hatte, aber immer noch +schmollend. Raskolnikoff bekam plötzlich Lust, ihnen allen etwas äußerst +Angenehmes zu sagen. + +»Aber bitte, Herr Kapitän,« begann er ziemlich ungezwungen, sich +plötzlich an Nikodim Fomitsch wendend, »berücksichtigen Sie auch meine +Lage ... Ich bin sogar bereit, um Entschuldigung zu bitten, wenn ich +gegen etwas verstoßen habe. Ich bin ein armer und kranker Student, +erdrückt (er sagte >erdrückt<) von Armut. Ich bin ehemaliger Student, da +ich jetzt meinen Unterhalt nicht verdienen kann, aber ich erhalte Geld +... Ich habe Mutter und Schwester im --schen Gouvernement. Sie werden +mir Geld schicken und ich werde ... bezahlen. Meine Wirtin ist eine gute +Frau, aber sie ist so böse geworden, weil ich meine Stunden verloren +habe und ihr den vierten Monat nicht zahle, daß sie mir sogar kein +Mittagessen mehr schickt ... Und ich begreife gar nicht, was das für ein +Wechsel ist. Jetzt verlangt sie von mir, ihn einzulösen, aber wie kann +ich denn zahlen, urteilen Sie selbst!« + +»Aber das geht ja uns nichts an ...« versuchte der Sekretär wieder zu +bemerken ... + +»Erlauben Sie, erlauben Sie, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, +aber erlauben Sie, Ihnen klar zu machen,« unterbrach ihn Raskolnikoff, +indem er sich nicht an den Sekretär, sondern, wie schon die ganze Zeit, +an Nikodim Fomitsch wandte und dabei aus aller Kraft versuchte, sich +auch an Ilja Petrowitsch zu wenden, obgleich dieser sich hartnäckig den +Anschein gab, als wühle er in den Papieren und beachte ihn nicht, +»erlauben Sie mir auch meinerseits Ihnen zu erklären, daß ich schon drei +Jahre bei ihr wohne, seit meiner Ankunft aus der Provinz und früher ... +früher ... übrigens warum soll ich es nicht gestehen, gleich im Anfang +gab ich ihr das Versprechen, daß ich ihre Tochter heiraten werde, es war +ein mündliches, vollkommen freiwilliges Versprechen ... Sie war ein +junges Mädchen ... übrigens sie gefiel mir sogar ... obgleich ich nicht +in sie verliebt war ... mit einem Worte Jugend, d. h. ich will sagen, +daß meine Wirtin mir damals viel Kredit einräumte und ich führte +teilweise ein solches Leben ... ich war sehr leichtsinnig ...« + +»Man verlangt von Ihnen gar nicht solche intime Geständnisse, mein Herr, +außerdem haben wir keine Zeit dazu,« unterbrach ihn grob und +triumphierend Ilja Petrowitsch, aber Raskolnikoff beeilte sich voll +Eifer weiter zu sprechen, obwohl es ihm plötzlich äußerst schwer fiel. + +»Aber erlauben Sie, erlauben Sie mir, teilweise, alles zu erzählen ... +wie die Sache vor sich ging und ... wiederum ... obgleich es überflüssig +ist zu erzählen, ich bin darin mit Ihnen einverstanden, -- aber vor +einem Jahre starb dies junge Mädchen am Typhus, ich aber blieb in Miete, +wie vorher, und meine Wirtin sagte mir, als sie in ihre jetzige Wohnung +einzog, und ... sagte es mir freundschaftlich ... daß sie mir vollkommen +vertraue und daß alles ... aber ob ich ihr nicht einen Schuldschein von +hundertundfünfzehn Rubel ausstellen möchte, das war die Summe, die ich +ihr schuldete. Erlauben Sie, -- sie sagte mir nämlich, daß, wenn ich ihr +dies Papier ausgestellt habe, sie mir von neuem kreditieren würde, +soviel ich nur wünschte, und daß sie niemals, niemals -- das sind ihre +eigenen Worte -- von diesem Papier Gebrauch machen würde, bis ich selbst +bezahlen werde ... Und jetzt, wo ich meine Stunden verloren und nichts +zu essen habe, verklagt sie mich ... Was soll ich dazu sagen?« + +»Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, mein Herr,« +schnitt Ilja Petrowitsch dreist ab. »Sie müssen eine Erklärung abgeben +und eine Verpflichtung ausstellen, ob Sie aber verliebt waren, und all +diese tragischen Sachen gehen uns ganz und gar nichts an.« + +»Nun, du bist aber ... auch zu grausam ...« murmelte Nikodim Fomitsch, +indem er sich an seinen Tisch setzte und Papiere zu unterschreiben +begann. + +Er schien sich zu schämen. + +»Schreiben Sie also,« sagte der Sekretär zu Raskolnikoff. + +»Was soll ich schreiben?« fragte er besonders grob. + +»Ich werde Ihnen diktieren.« + +Raskolnikoff schien es, als wäre der Sekretär herablassender und +geringschätziger ihm gegenüber nach seiner Beichte geworden, -- aber +merkwürdig, -- ihm war plötzlich die Meinung eines anderen so vollkommen +gleichgültig, und dieser Umschwung hatte sich in einem Augenblick, in +einem Nu vollzogen. Wenn er nur ein wenig hätte nachdenken wollen, so +würde er sicher verwundert gewesen sein, wie er so mit ihnen vor einer +Minute hatte sprechen und sich sogar mit seinen Gefühlen hatte +aufdrängen können? Und woher kam dieses Gefühl? Jetzt, wenn das Zimmer +plötzlich nicht mit Revieraufsehern, sondern mit seinen besten Freunden +angefüllt wäre, würde er kein einziges menschliches Wort für sie finden, +so leer war plötzlich sein Herz geworden. Ein düsteres Empfinden der +qualvollen endlosen Einsamkeit und Entfremdung teilte sich plötzlich +bewußt seiner Seele mit. Nicht die Erniedrigung vor Ilja Petrowitsch +durch seine Herzensergießung, auch nicht die Erniedrigung durch den +Triumph des Leutnants hatten sein Herz plötzlich so umgewandelt. Oh, was +ging ihn jetzt die eigene Schuftigkeit an, all der Ehrgeiz, was gingen +ihn alle Leutnants, deutsche Frauen, Geldforderungen, Bureaus an und so +weiter und so weiter! Hätte man ihn in diesem Augenblicke zum +Scheiterhaufen verurteilt, er hätte sich auch dann nicht gerührt, hätte +kaum das Urteil aufmerksam angehört. In ihm vollzog sich etwas ihm +völlig Unbekanntes, Neues, Unerwartetes und Niedagewesenes. Er konnte es +nicht begreifen, aber fühlte es ganz klar mit der ganzen Kraft des +Empfindens, daß er von jetzt ab weder mit gefühlvollen Ereignissen, wie +vorhin, noch mit anderen Dingen sich an diese Menschen im Polizeibureau +wenden konnte; auch dann wäre es für ihn überflüssig, sich an sie jemals +im Leben zu wenden, wenn es sogar seine leiblichen Brüder und Schwestern +gewesen wären, und nicht Polizeileutnants. Er hatte bis zu diesem +Augenblick noch nie eine ähnliche seltsame und fürchterliche Empfindung +erlebt. Und das Quälendste dabei war, -- daß es ein Empfinden war, kein +bewußtes Begreifen, eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von +allen, die er im Leben gekostet. + +Der Sekretär begann ihm die Form einer in diesem Falle gebräuchlichen +Erklärung zu diktieren, d. h. ich kann nicht zahlen, verspreche es in +der Frist (irgendwann) zu tun, werde die Stadt nicht verlassen und mein +Eigentum weder verkaufen, noch verschenken und dergleichen mehr. + +»Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand,« +-- bemerkte der Sekretär und blickte voll Neugier Raskolnikoff an. -- +»Sie sind krank?« + +»Ja ... der Kopf schwindelt mir ... diktieren Sie weiter.« + +»Das ist alles. Unterschreiben Sie es.« + +Der Sekretär nahm das Papier und wendete sich andern Besuchern zu. + +Raskolnikoff gab die Feder zurück, aber anstatt aufzustehen und +wegzugehen, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und preßte mit den +Händen den Kopf zusammen. Es war, als ob man ihm einen Nagel in die +Schläfe hineinschlüge. Ein wunderlicher Gedanke kam ihm plötzlich, -- +sofort aufzustehen, zu Nikodim Fomitsch zu gehen und ihm das gestrige zu +erzählen, alles bis auf die letzte Einzelheit, dann mit ihm in seine +Wohnung zu gehen und ihm die Sachen in dem Winkel im Loche zu zeigen. +Der Drang war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen. + +»Soll ich nicht einen Moment nachdenken?« -- fuhr es ihm durch den Kopf. +»Nein, besser nicht nachdenken und die Sache ist abgetan!« + +Aber plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Nikodim Fomitsch sprach +voll Eifer mit Ilja Petrowitsch, und er vernahm folgende Worte: + +»Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens, widerspricht +alles der Annahme; urteilen Sie selbst, -- warum holten sie den +Hausknecht, wenn sie es getan haben? Etwa um sich selbst anzuzeigen? +Oder aus Schlauheit! Nein, das wäre schon zu schlau! Und schließlich, +den Studenten Pestrjakoff haben beide Hausknechte und eine Frau am Tore +im selben Momente gesehen, als er hineinging, -- er ging mit drei +Bekannten zusammen und verabschiedete sich von ihnen am Tore, und dann +fragte er die Hausknechte nach der Wohnung in Gegenwart seiner +Bekannten. Nun, wird jemand nach der Wohnung fragen, wenn er so eine +Absicht hat? Und Koch, -- der hat, bevor er zu der Alten ging, eine +halbe Stunde unten bei dem Silberarbeiter gesessen und er ist genau ein +viertel vor acht zu der Alten hinaufgegangen. Jetzt erwägen Sie ...« + +»Aber erlauben Sie, woher denn der Widerspruch bei ihnen -- sie +behaupten selbst, daß sie geklopft haben, und daß die Türe verschlossen +war, und nach drei Minuten, als sie mit dem Hausknecht heraufkamen, +erwies sich, daß die Türe offen war?« + +»Das ist ja der Haken, -- der Mörder saß unbedingt drinnen und hatte +sich eingeschlossen, und man hätte ihn sicher gefaßt, wenn Koch nicht +die Dummheit begangen hätte, selbst nach dem Hausknecht zu gehen. _Dem_ +aber gelang es währenddessen, die Treppe hinunterzugehen und irgendwie +an ihnen vorbeizuschlüpfen. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: >wenn +ich geblieben wäre,< sagt er, >würde er herausgekommen sein und hätte +mich totgeschlagen<. Er will ein russisches Dankgebet abhalten lassen +... ha--ha!« + +»Und den Mörder hat niemand gesehen?« + +»Wie denn? Das Haus ist eine Arche Noah,« -- bemerkte der Sekretär, der +von seinem Platze zuhörte. + +»Es ist ganz klar, es ist ganz klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch +eifrig. + +»Nein, die Sache ist sehr unklar,« blieb Ilja Petrowitsch bei seiner +Ansicht. + +Raskolnikoff nahm seinen Hut und ging zur Türe, aber kam nicht so weit +... Als er zu sich kommt, sieht er, daß er auf einem Stuhl sitzt; daß +rechts ihn jemand stützt, links ein anderer steht mit einem gelben +Glase, gefüllt mit gelbem Wasser, und daß Nikodim Fomitsch vor ihm steht +und ihn unverwandt anblickt. Er stand vom Stuhle auf. + +»Was ist Ihnen, sind Sie krank?« -- fragte Nikodim Fomitsch ziemlich +scharf. + +»Schon als er unterschrieb, konnte er kaum die Feder führen,« bemerkte +der Sekretär, indem er seinen Platz einnahm und in seinen Papieren +wieder blätterte. + +»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platze +aus, indem er auch in Papieren blätterte. + +Er hatte selbstverständlich auch den Kranken betrachtet, als er +ohnmächtig war, war aber sofort auf die Seite getreten, als jener zu +sich kam. + +»Seit gestern ...« murmelte Raskolnikoff zur Antwort. + +»Und sind Sie gestern ausgegangen?« + +»Ja.« + +»Krank?« + +»Ja.« + +»Um wieviel Uhr?« + +»In der achten Stunde abends.« + +»Und wohin, wenn man fragen darf?« + +»Auf die Straße.« + +»Kurz und bündig.« + +Raskolnikoff antwortete scharf, kurz, bleich wie ein Taschentuch, ohne +seine schwarzen entzündeten Augen vor dem Blick Ilja Petrowitsch' zu +senken. + +»Er kann kaum auf den Füßen stehen und du ...« versuchte Nikodim +Fomitsch zu bemerken. + +»Tut nichts!« -- sagte Ilja Petrowitsch sehr eigentümlich. + +Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, schwieg aber, als er den +Sekretär anblickte, der ihn auch sehr aufmerksam ansah. Plötzlich +schwiegen alle. Es war merkwürdig. + +»Nun gut!« -- schloß Ilja Petrowitsch. + +»Wir halten Sie nicht auf.« + +Raskolnikoff ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem +Fortgange plötzlich ein lebhaftes Gespräch begann, in dem am lautesten +die fragende Stimme von Nikodim Fomitsch hervortrat ... Auf der Straße +kam er ganz zu sich. + +»Eine Haussuchung, Haussuchung, sie werden sofort bei mir suchen!« -- +wiederholte er vor sich hin, indem er sich beeilte nach Hause zu kommen. +-- »Räuber! Sie haben Verdacht!« + +Wieder erfaßte ihn vom Kopf bis zu Füßen die Angst von vorhin. + + + II. + +»Wie, wenn die Haussuchung schon vorgenommen ist? Wie, wenn ich sie +jetzt schon bei mir antreffe?« + +Aber da ist er schon in seinem Zimmer. Nichts und niemand; niemand war +dagewesen. Sogar Nastasja hat nichts angerührt. Aber, mein Gott! Wie +konnte er nur vorhin alle diese Sachen in dem Loche liegen lassen? + +Er stürzte zu dem Winkel, steckte die Hand unter die Tapeten und begann +die Sachen hervorzuholen und in die Taschen zu stecken. Im ganzen waren +es acht Stück, -- zwei kleine Schachteln mit Ohrgehängen oder etwas +ähnlichem, -- er hatte es nicht genau angesehen; dann vier kleine Etuis +aus Saffian. Eine kleine Kette war bloß in Zeitungspapier eingewickelt. +Es war noch etwas in einem Zeitungspapier, wie es schien, ein Orden ... +Er steckte alles in die verschiedenen Taschen, in den Paletot und in die +übriggebliebene rechte Hosentasche und gab sich Mühe, daß nichts von +außen zu merken war. Den Beutel nahm er gleichfalls mit. Dann verließ er +das Zimmer und ließ diesmal die Tür weit offen stehen. + +Er ging schnell und fest, und obgleich er fühlte, daß er vollkommen +zerschlagen war, war doch sein Bewußtsein klar. Er fürchtete eine +Verfolgung, fürchtete, daß nach einer halben Stunde, nach einer +Viertelstunde schon vielleicht der Befehl gegeben würde, ihn zu +beobachten, also mußte er um jeden Preis, ehe es zu spät war, alles +beiseite schaffen. Er mußte fertig sein, solange ihm noch die geringste +Kraft und klarer Verstand zur Seite standen ... Wohin aber gehen? + +Das war längst entschieden: »Alles in den Kanal werfen, und das ist das +Ende«. So hatte er noch in der Nacht, im Fieber, beschlossen, in den +Augenblicken, wo er -- er entsann sich dessen -- ein paarmal versuchte +aufzustehen und fortzugehen: »Schnell, schnell, alles fortwerfen«. Aber +das erwies sich als sehr schwer. + +Er wanderte den Jekaterinenkanal schon über eine halbe Stunde entlang, +vielleicht auch länger, und schaute nach den Treppen, die zum Kanal +hinabführten. Aber es war nicht mal daran zu denken, das Vorhaben +auszuführen: entweder lagen an den Treppen Flöße, und Wäscherinnen +wuschen dort, oder Kähne hatten angelegt, und überall wimmelte es von +Menschen, außerdem aber konnte man von allen Seiten hersehen, es war +schon verdächtig, wenn ein Mensch hinabging, stehen blieb und etwas ins +Wasser warf. Und gar wenn die Etuis nicht untergingen, sondern obenauf +schwammen? Ja, und so wird es auch kommen. Jeder wird es sehen. Schon +jetzt sehen alle ihn an, als ob sie sich nur um ihn kümmerten. + +»Woher kommt das, oder scheint es mir nur so?« -- dachte er. + +Endlich kam ihm der Gedanke, ob es nicht besser wäre, irgendwohin an die +Newa zu gehen? Dort sind weniger Menschen, und es würde weniger +bemerkbar und in jedem Falle bequemer sein, hauptsächlich aber wäre es +weit von hier. Und er wunderte sich plötzlich, wie er eine volle halbe +Stunde an den gefährlichen Stellen in Trübsal und Unruhe herumgewandert +war, ohne früher auf diesen Gedanken zu kommen. + +Und er hatte nur darum eine halbe Stunde nutzlos verbraucht, weil er so +im Traume, im Fieber beschlossen hatte. Er war sehr zerstreut und +vergeßlich geworden und fühlte es. Entschieden mußte er sich beeilen. + +Er ging zur Newa den W.schen Prospekt entlang und unterwegs kam ihm +plötzlich der Gedanke: »Warum denn zur Newa? Warum ins Wasser werfen? +Ist es nicht besser, irgendwohin ganz weit hinzugehen, vielleicht auf +die Inseln, und dort irgendwo an einer einsamen Stelle, im Walde, unter +einem Busche alles zu verscharren und vielleicht sich den Baum zu +merken?« + +Und obgleich er fühlte, daß er nicht imstande sei, alles klar und +vernünftig in diesem Augenblicke zu überlegen, schien ihm doch der +Gedanke einwandfrei zu sein. + +Aber auch das war ihm nicht bestimmt auszuführen, es geschah etwas +anderes: -- als er vom W.schen Prospekt auf den Platz kam, erblickte er +plötzlich links das Tor zu einem von vollkommen fensterlosen Mauern +umgebenen Hof. Rechts zog sich von dem Eingange tief in den Hof hinein +die fensterlose, ungekalkte Mauer des vierstöckigen Nachbarhauses. Links +vom Eingange, parallel der kahlen Mauer, lief ein hölzerner Zaun, der +weiterhin, etwa zwanzig Schritte vom Eingange eine Biegung nach links +machte. Es war ein leerer, umzäunter Platz, wo allerhand Baumaterialien +lagen. Weiter, tief im Hofe, blickte hinter dem Zaune die Ecke einer +niedrigen, verräucherten Scheune aus Stein hervor, wahrscheinlich der +Teil einer Werkstatt. Hier war sicher eine Werkstatt für Wagenbauer oder +eine Schlosserei oder etwas ähnliches, denn überall lag viel schwarzer +Kohlenstaub. »Hier könnte man es wegwerfen und fortgehen!« -- +durchzuckte es ihn plötzlich. Da er niemand auf dem Hofe bemerkte, +durchschritt er das Tor und erblickte sofort am Eingange eine am Zaune +angebrachte Rinne, wie man sie oft in solchen Häusern antrifft, in denen +es viele Arbeiter, Kutscher usw. gibt, und über der Rinne war am Zaune +mit Kreide die übliche witzige Bemerkung angeschrieben: »Hier ist es +verboten, stehen zu bleiben!« Dieser Umstand war also ausgezeichnet, es +konnte keinen Verdacht erregen, daß er hineingegangen und hier stehn +geblieben war. »Alles mit einem Ruck fortwerfen und fortgehen!« + +Er blickte sich noch einmal um und wollte schon die Hand in die Tasche +stecken, als er plötzlich an der äußeren Mauer, zwischen dem Tore und +der Rinne, wo es höchstens einen Meter breit war, einen großen +unbehauenen Stein bemerkte, der vielleicht einen halben Zentner schwer +sein mochte und an die Straßenmauer angelehnt war. Hinter dieser Mauer +war die Straße, der Fußsteg, man hörte, wie die Vorbeigehenden +schlurften, aber hinter dem Tore konnte ihn niemand sehen, wenn nicht +jemand von der Straße eintrat, was übrigens sehr leicht passieren +konnte, und darum mußte er sich beeilen. + +Er beugte sich zu dem Steine, packte die obere Spitze mit beiden Händen +fest an, nahm alle seine Kräfte zusammen und wandte den Stein um. Unter +dem Steine hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet; er begann sofort +alles aus der Tasche hineinzuwerfen. Der Beutel kam obenauf zu liegen, +und trotzdem war noch Platz in der Vertiefung. Dann packte er den Stein +von neuem an, drehte ihn mit einem Ruck um, und er kam genau auf die +frühere Stelle zu liegen, nur schien er ein wenig hervorzuragen. Er +scharrte Erde ringsum zusammen und trat sie fest. Es war nichts zu +merken. Dann ging er hinaus und wandte sich dem Platze zu. Wieder packte +ihn auf einen Augenblick eine starke, überwältigende Freude, wie vorhin +in dem Polizeibureau. + +»Alle Spuren sind verwischt! Und wem, wem könnte es in den Sinn kommen, +unter diesem Steine nachzusuchen? Er liegt hier, vielleicht seitdem das +Haus gebaut ist und wird vielleicht noch ebensolange liegen. Und wenn +man es auch finden würde, wer würde an mich denken? Alles ist vorüber! +Es gibt keine Beweise!« und er lachte. Ja, er entsann sich später, daß +ihn ein nervöses stilles Lachen überfallen und daß er solange gelacht +hatte, als er über den Platz ging. Als er aber den K.schen Boulevard +erreichte, wo er vorgestern dem jungen Mädchen begegnet war, verging ihm +das Lachen. Andere Gedanken kamen ihm in den Kopf. Ein Abscheu ergriff +ihn, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals nach dem Fortgehen +des Mädchens gesessen und nachgedacht hatte, und er fürchtete sich, dem +Polizisten wieder zu begegnen, dem er damals zwanzig Kopeken gegeben +hatte. »Hol ihn der Teufel!« Er ging und blickte sich zerstreut und +ärgerlich um. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um einen einzigen, +anscheinend um den Hauptpunkt, und er fühlte, daß dies wirklich der +Hauptpunkt sei, und daß er jetzt, gerade jetzt, mit diesem Hauptpunkte +unter vier Augen zu tun habe, -- und daß es das erstemal seit diesen +zwei Monaten sei. + +»Ah, hol der Teufel all das!« dachte er plötzlich in einem Anfalle von +unermeßlicher Wut. »Na, wenn es mal begonnen hat, mag es auch dabei +bleiben, hol der Teufel das neue Leben. Oh Gott, wie das dumm ist! ... +Und wieviel habe ich heute zusammengelogen und wie gemein war ich! Wie +gemein habe ich vorhin geschwänzelt und dem charakterlosen Ilja +Petrowitsch geschmeichelt. Was war das für ein Blödsinn! Ich pfeife auf +sie alle und auch auf das, daß ich geschwänzelt und geschmeichelt habe. +Das ist es nicht, das ist es gar nicht!« + +Plötzlich blieb er stehn; eine neue, völlig unerwartete und +außerordentlich einfache Frage brachte ihn von diesem Gedanken ab und +ließ ihn bitter erstaunen: + +»Wenn das ganze in der Tat bewußt und nicht in alberner Weise vollführt +wurde, wenn du tatsächlich ein bestimmtes und sicheres Ziel hattest, -- +wie kam es dann, daß du bis jetzt nicht einmal in den Beutel +hineinblicktest und nicht weißt, was dir zugefallen ist, warum hast du +alle Qualen auf dich genommen und solch eine gemeine, häßliche, niedrige +Tat bewußt übernommen? Du wolltest doch soeben ihn ins Wasser werfen, +den Beutel mit all den Sachen, die du auch noch nicht gesehen hast ... +Wie ist denn das?« + +Ja so ist es, es ist einmal so. Er hatte es vorher gewußt, und es war +gar keine neue Frage für ihn. Auch als es in der Nacht beschlossen +wurde, ohne jedes Schwanken und jeden Widerspruch, sondern so, als +gehörte es sich so, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er wußte dies +alles und erinnerte sich daran; ja, schon gestern war es vielleicht so +beschlossen in demselben Moment, als er über den Kasten gebückt dasaß +und die Futterale hervorholte ... Es ist doch so! ... + +»Das kommt daher, daß ich sehr krank bin,« entschied er schließlich +finster, »ich habe mich selbst gemartert und abgequält und weiß selbst +nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und die ganze Zeit +habe ich mich gemartert ... Ich werde gesund werden und ... werde mich +dann nicht mehr martern ... Aber wenn ich nun gar nicht gesund werde? Oh +Gott! Wie ich all dessen überdrüssig bin ...« + +Er ging weiter ohne stehn zu bleiben. Er wollte sehr gern sich irgendwie +zerstreuen, aber er wußte nicht, was er tun und unternehmen sollte. Eine +neue unbezwingbare Empfindung erfaßte ihn immer stärker und stärker mit +jedem Augenblick, -- es war ein grenzenloser, fast physischer Widerwille +gegen alles, was ihm begegnete und was ihn umgab; es war ein +hartnäckiges, böses und quälendes Gesicht. Alle Begegnenden waren ihm +widerwärtig, -- ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen waren ihm +widerwärtig. Er hätte sie am liebsten angespien, ja, vielleicht gar +gebissen, wenn man ihn angeredet hätte. + +Er blieb stehn, als er an das Ufer der kleinen Newa, auf Wassiljew +Ostroff bei der Brücke hinauskam. + +»Da wohnt er ja, in diesem Hause,« dachte er. »Was ist denn das, bin ich +etwa zu Rasumichin mit Willen gegangen? Es ist dieselbe Geschichte wie +damals ... Es ist mir nun doch sehr interessant, -- bin ich mit Absicht +hierhergekommen oder lenkte das Schicksal meine Schritte. Es ist mir +übrigens gleichgültig. Ich sagte mir ... vorgestern ... daß ich am +andren Tage _nach dem_ hingehen werde; na, ich werde es tun, was ist +denn dabei! Als ob ich jetzt nicht zu ihm gehen könnte ...« + +Er ging hinauf zu Rasumichin in das fünfte Stockwerk. + +Rasumichin war in seinem Zimmerchen und mit Schreiben beschäftigt; er +öffnete ihm selbst. Seit vier Monaten etwa hatten sie sich nicht +gesehen. Rasumichin stak in einem zerfetzten abgetragenen Schlafrock, +hatte Pantoffeln an den bloßen Füßen und saß ungekämmt, unrasiert und +ungewaschen da. Auf seinem Gesichte zeigte sich großes Erstaunen. + +»Was ist mit dir?« rief er aus und betrachtete den eingetretenen +Kameraden vom Kopf bis zu den Füßen. Dann schwieg er und tat einen +leisen Pfiff. + +»Steht es mit dir wirklich so schlecht? Ja, du hast sogar unsereinen +übertroffen,« fügte er hinzu und blickte auf Raskolnikoffs Lumpen. »Aber +so setz' dich doch, du bist wahrscheinlich müde!« + +Und als dieser auf das türkische Sofa von Wachstuch hinsank, sah +Rasumichin plötzlich, daß sein Besucher krank sei. + +»Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?« + +Er begann seinen Puls zu fühlen, Raskolnikoff aber riß die Hand weg. + +»Ist nicht nötig,« sagte er, »ich bin gekommen ... die Sache ist -- ich +habe keine Stunden zu geben ... ich wollte ... übrigens, ich brauche +keine Stunden ...« + +»Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn +aufmerksam beobachtete. + +»Nein, ich phantasiere nicht ...« + +Raskolnikoff erhob sich vom Sofa. Indem er zu Rasumichin ging, dachte er +nicht daran, daß er Auge in Auge ihm gegenüberstehen müsse. Jetzt aber, +in einem Nu, wurde es ihm durch diese Erfahrung klar, daß er jetzt am +allerwenigsten aufgelegt sei, irgend jemandem auf der ganzen Welt Auge +in Auge gegenüberzutreten. Die Galle stieg in ihm auf. Er verlor fast +den Atem vor Wut über sich selbst, darüber, daß er diese Schwelle +überschritten hatte. + +»Lebe wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür. + +»Aber warte doch, warte, du komischer Kauz!« + +»Nicht nötig! ...« wiederholte der und stieß seine Hand zurück. + +»Weshalb aber bist du denn gekommen, zum Teufel noch einmal! Bist du von +Sinnen? Das ist doch ... fast beleidigend. Ich laß dich nicht so.« + +»So hör nun, -- ich bin zu dir gekommen, weil ich niemand außer dir +kenne, der mir helfen würde ... anzufangen ... weil du besser, d. h. +klüger als alle anderen bist und beurteilen kannst ... Jetzt aber sehe +ich, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts brauche ... keinen +Dienst und Teilnahme ... Ich selbst ... allein ... Nun, genug davon! +Laßt mich in Ruhe!« + +»Aber warte doch einen Augenblick, du Schornsteinfeger! Bist ja ganz +verrückt! Meinetwegen tue, wie du willst. Siehst du, Stunden habe ich +nicht mal selber und pfeife auch darauf, aber auf dem Trödlermarkt gibt +es einen Buchhändler Heruwimoff, der ist mir lieber als Stunden. Ich +möchte ihn nicht gegen fünf Stunden bei Kaufleuten vertauschen. Er +verlegt allerhand kleine Sachen und gibt naturwissenschaftliche +Broschüren heraus, -- und wie die gehen? Die Titel allein sind schon was +wert! Siehst du, du hast immer behauptet, ich wäre dumm; bei Gott, es +gibt noch Dümmere als ich, Bruder mein! Jetzt macht er sogar in der +modernen Literatur; selbst versteht er rein gar nichts davon, ich aber +unterstütze ihn selbstverständlich darin. Hier siehst du mehr als zwei +Bogen deutschen Text, -- meiner Ansicht nach, von der allerdümmsten +Charlatanerie; mit einem Worte, es wird erörtert, ob die Frau ein Mensch +ist oder nicht? Selbstredend wird mit Glanz bewiesen, daß sie ein Mensch +ist. Heruwimoff bringt es, als zur Frauenfrage gehörend, heraus. Ich +übersetze; er wird diese zwei und einen halben Bogen auf sechs +ausdehnen, wir erfinden dann einen prachtvollen Titel; eine halbe Seite +lang, und schlagen es zu fünfzig Kopeken los. Es wird sicher gehen! Für +die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel pro Bogen, also für das Ganze +fünfzehn, und sechs Rubel habe ich Vorschuß. Wenn wir damit fertig sind, +fangen wir an, über Walfische zu übersetzen, dann folgen einige +langweilige Klatschgeschichten aus dem zweiten Teil der >Konfessions,< +die schon vorgemerkt sind und übersetzt werden sollen. Jemand hat +Heruwimoff gesagt, Rousseau wäre eine Art Radischtscheff.[9] Ich +widerspreche selbstverständlich nicht, hol ihn der Teufel! Willst du nun +den zweiten Bogen von >Ist die Frau ein Mensch?< übersetzen? Wenn du +willst, nimm sofort den Text, Federn und Papier -- dies alles wird +gratis geliefert -- und nimm drei Rubel. Da ich für die ganze +Übersetzung, für den ersten und zweiten Bogen, vorausbekommen habe, so +kommen gerade auf diesen Teil drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen +fertig bist, -- erhältst du noch drei Rubel. Ja, noch eins, -- bitte, +sieh' es nicht als einen Dienst meinerseits an. Im Gegenteil, als du +eintratest, dachte ich gleich, wie nützlich du mir sein könntest. +Erstens bin ich in der Orthographie schlecht und zweitens bin ich im +Deutschen öfters recht schwach, so daß ich meistens selbst hinzu dichte +und mich bloß damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Aber wer +weiß, vielleicht wird es nicht besser, sondern schlechter ... Tust du +mit oder nicht?« Raskolnikoff nahm schweigend die Blätter der deutschen +Artikel, nahm die drei Rubel und ging ohne ein Wort zu sagen hinaus. +Rasumichin blickte ihm erstaunt nach. Als Raskolnikoff aber schon ein +Stück gegangen war, kehrte er plötzlich um, ging wieder zu Rasumichin +hinauf, legte auf den Tisch die Blätter und die drei Rubel und ging +wieder schweigend von dannen. + +»Hast du etwa das Delirium?« schrie Rasumichin, der schließlich wütend +geworden war. »Warum führst du hier eine Komödie auf? Hast mich sogar +konfus gemacht ... Warum bist du denn hergekommen, zum Teufel?« + +»Ich brauche keine ... Übersetzungen ...« murmelte Raskolnikoff, als er +schon die Treppe hinabstieg. + +»Ja, was brauchst du denn, zum Teufel?« rief von oben Rasumichin. + +Der ging jedoch schweigend hinunter. + +»He, du! Wo wohnst du?« + +Es erfolgte keine Antwort. + +»Na, so hol dich der Teu--fel!« ... + +Raskolnikoff war schon auf der Straße angelangt. + +Auf der Nikolaibrücke passierte es ihm, daß er infolge eines für ihn +sehr unangenehmen Zwischenfalles wieder zur völligen Besinnung kam. Der +Kutscher einer Privatequipage hatte ihm einen starken Peitschenhieb über +den Rücken versetzt, weil er beinahe unter die Pferde geraten war, +trotzdem er ihn einigemal angerufen hatte. Der Peitschenhieb verursachte +eine solche Wut in ihm, daß er bis ans Geländer sprang -- (es war +unklar, warum er in der Mitte der Brücke, auf dem Fahrweg, ging) und mit +den Zähnen knirschte. Ringsherum erklang lautes Lachen. + +»Geschieht ihm recht!« + +»Ist wahrscheinlich ein Spitzbube.« + +»Selbstverständlich, stellt sich betrunken, kriecht absichtlich unter +die Räder, und unsereiner muß es verantworten.« + +»Davon leben sie, Verehrtester, damit verdienen sie ...« + +In dem Augenblicke, als er am Geländer stand, den Rücken reibend und +immer noch sinnlos vor Wut der davonfahrenden Equipage nachschaute, +fühlte er, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf, -- +es war eine ältliche Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche, und neben ihr +ein junges Mädchen im Hute, mit einem grünen Sonnenschirme, +wahrscheinlich die Tochter. »Nimm, mein Lieber, um Christi willen!« Er +nahm das Geld, und sie gingen weiter. Es waren zwanzig Kopeken. Seiner +Kleidung und dem Aussehen nach konnten sie ihn sehr leicht für einen +Bettler, für einen echten Groschensammler von der Straße halten, daß sie +ihm aber ganze zwanzig Kopeken gaben, hatte er sicher dem Peitschenhiebe +zu danken, der sie mitfühlend gestimmt hatte. + +Er drückte die Münze fest in die Hand, ging etwa zehn Schritte und +wandte sich mit dem Gesichte zur Newa, in der Richtung des Winterpalais. +Der Himmel war ohne die geringste Wolke und das Wasser fast blau, was so +selten auf der Newa vorkommt. Die Kuppel des Domes, der von keinem +Punkte sich besser hervorhebt, als von der Brücke aus, leuchtete +förmlich, durch die reine Luft konnte man jede Verzierung deutlich +wahrnehmen. Der Schmerz vom Peitschenhieb hatte nachgelassen, und +Raskolnikoff hatte den Hieb vergessen; ein unruhiger und nicht ganz +klarer Gedanke beschäftigte ihn jetzt ausschließlich. Er stand und +schaute lange und unverwandt in die Ferne; diese Stelle kannte er +besonders gut. Als er noch zur Universität ging, geschah es gewöhnlich, +-- meistens auf dem Rückwege nach Hause, -- daß er gerade an dieser +Stelle stehn blieb, um unverwandt dieses prachtvolle Panorama zu +betrachten, und jedesmal mußte er über den Eindruck, den er sich nicht +erklären konnte, staunen. Eine unerklärliche Kälte wehte ihm stets von +diesem wundervollen Panorama entgegen; dieses prächtige Bild war für ihn +von einem stillen und dumpfen Geiste erfüllt ... Er wunderte sich +jedesmal über seinen düsteren und rätselhaften Eindruck und schob die +Lösung, ohne zu wissen warum, in die Zukunft. Jetzt erinnerte er sich +deutlich seiner früheren Fragen und Zweifel, und es schien ihm, als +hätte er sich nicht rein zufällig ihrer erinnert. Schon der Umstand +erschien ihm merkwürdig und wunderlich, daß er auf derselben Stelle, wie +früher, stehengeblieben war, als bilde er sich wirklich ein, daß er +jetzt über dasselbe, wie ehedem, nachsinnen und sich für ebensolche +Themen und Bilder interessieren könne, wie er es früher ... noch +unlängst getan. Ihm wurde fast lächerlich zumute und gleichzeitig +schnürte es ihm die Brust zu. In der Tiefe, tief unten in einem +ungeheuren Abgrunde versunken, erschien ihm jetzt die ganze +Vergangenheit, die früheren Gedanken, die alten Ziele und Probleme, die +damaligen Eindrücke und dieses ganze Panorama, und er selbst und alles +... Ihm schien, als fliege er irgendwo hinauf, und alles verschwinde aus +seinen Augen ... Indem er eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand +machte, fühlte er wieder in seiner geballten Faust die zwanzig Kopeken. +Er öffnete die Hand, blickte aufmerksam das Geldstück an und schleuderte +es ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Ihm schien +es, als hätte er in diesem Augenblick seine ganze Vergangenheit mit +einer Schere abgeschnitten. + +Es war am Abend, als er nach Hause kam, also mußte er im ganzen gegen +sechs Stunden gewandert sein. Welchen Weg, und wie er zurückgekommen +war, erinnerte er sich gar nicht. Er kleidete sich aus, und zitternd am +ganzen Körper, wie ein abgehetztes Pferd, legte er sich auf das Sofa, +zog seinen Mantel über sich und fiel sofort in Bewußtlosigkeit ... + +Er wurde in völliger Dämmerung von einem furchtbaren Geschrei +aufgestört. Oh, Gott, was ist das für ein Geschrei! Solche unnatürlichen +Töne, solch ein Geheul, Stöhnen, Knirschen, Weinen, Schläge und +Schimpfen hatte er noch nie vernommen. Er konnte sich nicht mal solchen +Greuel, solche Raserei vorstellen. Voll Schrecken erhob er sich und +setzte sich in seinem Bette auf; schwer atmend litt er Qualen. Die +Schläge, das Geschrei und die Schimpfwörter wurden immer stärker und +stärker. Er vernahm zu seiner größten Verwunderung die Stimme seiner +Wirtin. Sie heulte, kreischte und klagte, sie sprach die Worte in so +eiliger Hast, daß man nicht verstehen konnte, um was sie flehte, -- +gewiß, daß man aufhören sollte, sie zu schlagen, denn man prügelte sie +auf der Treppe unbarmherzig. Die Stimme des Schlagenden war so +schauerlich vor Wut und Raserei, daß er bloß noch röchelte, und er +sprach ebenso unverständlich, hastig und sich verschluckend. Plötzlich +bebte Raskolnikoff am ganzen Körper; er hatte die Stimme von Ilja +Petrowitsch erkannt. Er ist hier und schlägt die Wirtin! Er schlägt sie +mit Fäusten, stößt ihren Kopf auf die Stufen, -- das ist klar, man hörte +es an dem Ton, am Geheul, an den Schlägen! Was ist denn geschehen, hat +sich die Welt gewendet? Man hörte, wie aus allen Stockwerken, auf der +ganzen Treppe sich Menschen ansammeln, Stimmen, Ausrufe erschallen, man +läuft, trampelt, schlägt die Türen zu, rennt zusammen. »Aber weshalb +denn, weshalb und wie ist es denn möglich?« wiederholte er und glaubte +in allem Ernste, er hätte den Verstand verloren. Aber nein, er hört es +doch zu deutlich! ... Also wird man auch zu ihm gleich kommen, »denn ... +das ist sicher wegen desselben ... wegen des gestrigen ... Oh, Gott!« Er +wollte die Tür zuhaken, konnte aber die Hand nicht erheben ... und es +wäre ja nutzlos. Die Angst lag auf seiner Seele wie Eis, hatte ihn +zermartert, ihn erstarrt ... Aber nach und nach hörte dieser Spektakel, +der sicher gegen zehn Minuten gedauert hatte, auf. Die Wirtin stöhnte +und ächzte, Ilja Petrowitsch drohte und schimpfte noch immer ... Endlich +schien auch er ruhiger geworden zu sein; jetzt hörte man ihn nicht mehr. +»Ist er fortgegangen? Oh, Gott!« Ja, nun geht auch die Wirtin fort, sie +stöhnt und weint noch immer ... nun schlug sie auch ihre Türe zu ... +Jetzt gehen die Menschen die Treppe hinunter in ihre Wohnungen, -- sie +bedauern, streiten, rufen einander zu, bald erhebt sich ihr Gerede bis +zum Geschrei, bald sinkt es zum Flüstertone. Wahrscheinlich waren es +viele gewesen, fast das ganze Haus war zusammengelaufen. »Aber, mein +Gott, ist denn das alles möglich! Und warum, warum kam er hierher!« + +Raskolnikoff fiel kraftlos auf das Sofa hin, aber er konnte kein Auge +schließen; er lag etwa eine halbe Stunde in solcher Qual, in dem +unausstehlichen Gefühle eines grenzenlosen Schreckens, wie er ihn noch +nie empfunden hatte. Plötzlich erhellte ein greller Schein sein Zimmer, +-- Nastasja kam mit einem Lichte und einem Teller Suppe herein. Sie sah +ihn aufmerksam an und als sie bemerkte, daß er nicht schlafe, stellte +sie das Licht auf den Tisch und begann das Mitgebrachte aufzustellen: +Brot, Salz, einen Teller und Löffel ... + +»Hast seit gestern wahrscheinlich nichts gegessen? Hast dich den ganzen +Tag umhergetrieben, -- im Fieber, wie du bist.« + +»Nastasja ... warum schlug man die Wirtin?« + +Sie sah ihn aufmerksam an. + +»Wer hat die Wirtin geschlagen?« + +»Soeben ... vor einer halben Stunde. Ilja Petrowitsch, der Gehilfe des +Revieraufsehers, auf der Treppe ... Warum hat er sie so geschlagen. Und +... warum kam er her?« + +Nastasja betrachtete ihn schweigend und mit zusammengezogenen +Augenbrauen, und sah ihn lange so an. Ihm wurde dieses Anstarren sehr +unangenehm, beängstigend. + +»Nastasja, warum schweigst du?« sagte er schließlich zaghaft mit +schwacher Stimme. + +»Das ist das Blut,« antwortete sie leise, als rede sie mit sich selbst. + +»Blut! ... Was für ein Blut? ...« murmelte er erbleichend und rückte zur +Wand. + +Nastasja fuhr fort ihn schweigend zu betrachten. + +»Niemand hat die Wirtin geschlagen,« sagte sie endlich in strengem und +entschiedenem Tone. + +Er sah sie an und atmete kaum. + +»Ich habe selbst gehört ... ich habe nicht geschlafen ... ich saß,« +sagte er noch zaghafter. »Ich habe lange zugehört ... Der Gehilfe des +Revieraufsehers war gekommen ... Alle waren auf der Treppe +zusammengelaufen, aus allen Stockwerken ...« + +»Niemand ist dagewesen. Es ist das Blut, das in dir spricht. Wenn es +keinen Ausweg hat und sich in Klumpen zusammenballt, dann erscheinen +einem allerhand Dinge ... Wirst du essen?« + +Er antwortete nicht. Nastasja stand immer noch bei ihm, blickte ihn +aufmerksam an und ging nicht weg. + +»Gib mir zu trinken ... liebe Nastasja.« + +Sie ging hinunter und nach ein paar Minuten kehrte sie mit Wasser in +einer weißen Tasse zurück, weiter erinnerte er sich nichts mehr, nur +noch, wie er einen Schluck kalten Wassers genommen und aus der Tasse auf +die Brust verschüttet hatte. Dann hatte er das Bewußtsein verloren. + + + III. + +Er war jedoch nicht ganz besinnungslos während seiner Krankheit; es war +ein fieberhafter Zustand mit Traumgesichten und halbem Bewußtsein. An +vieles konnte er sich später erinnern. Bald schien es ihm, als versammle +sich eine Menge Menschen um ihn, die ihn irgendwohin fort tragen wollten +und sich seinetwegen sehr viel stritten und zankten. Bald war er wieder +allein im Zimmer, alle waren weggegangen und fürchteten sich vor ihm, +nur zuweilen öffnete man die Türe, um ihn zu betrachten, man drohte ihm, +verabredete unter sich etwas, lachte und reizte ihn. Nastasja sah er oft +um sich, auch unterschied er noch einen Menschen, der ihm sehr bekannt +schien, aber wer es war -- konnte er nicht herausbekommen, das peinigte +ihn, und er weinte sogar. Manchmal schien es ihm, als liege er schon +einen Monat, ein anderes Mal aber -- als wäre es noch derselbe Tag. +_Jenes_ aber, _jenes Ereignis_ hatte er völlig vergessen; dafür aber +dachte er immerfort, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte +vergessen dürfen, -- er quälte sich, marterte sich, um darauf zu kommen, +stöhnte, es überfiel ihn eine rasende Wut oder eine schreckliche +unerträgliche Angst. Dann versuchte er aufzustehen, wollte fliehen, aber +stets hielt ihn jemand mit Gewalt zurück und er verfiel wieder in +Schwäche und Bewußtlosigkeit. -- Endlich kam er ganz zu sich. + +Das geschah an einem Morgen um zehn Uhr. Um diese Stunde zog an heiteren +Tagen die Sonne stets einen langen Streifen über die rechte Wand des +Zimmers und beleuchtete die Ecke an der Tür. An seinem Bette stand +Nastasja und noch ein Mann, der ihn mit großem Interesse betrachtete und +der ihm völlig unbekannt war. Das war ein junger Bursche in langem Rock, +mit einem kleinen Barte, der seinem Aussehen nach ein Kontordiener sein +mochte. Hinter der halbgeöffneten Tür blickte die Wirtin hervor. +Raskolnikoff erhob sich. + +»Wer ist das, Nastasja?« fragte er und wies auf den Burschen. + +»Sieh mal, er ist zu sich gekommen!« sagte sie. + +»Zu sich gekommen,« wiederholte der Kontordiener. + +Als sie hörte, daß er zu sich gekommen sei, schloß die Wirtin sofort die +Tür und verschwand. Sie war immer schon schüchtern und vertrug mit Mühe +Gespräche und Auseinandersetzungen; sie war gegen vierzig Jahre alt, +dick und fett, hatte schwarze Augenbrauen und schwarze Augen, war +gutmütig aus Wohlgenährtheit und Faulheit, ziemlich hübsch, genierte +sich aber über alle Maßen. + +»Wer sind ... Sie?« wandte sich fragend Raskolnikoff an den +Kontordiener. In diesem Augenblicke wurde die Türe von neuem weit +geöffnet, und gebückt, da er viel zu groß war, trat Rasumichin ein. + +»Das ist ja die reinste Schiffskajüte,« rief er beim Eintreten, »immer +stoße ich mit der Stirn an. Und das nennt sich eine Wohnung? Und du bist +zu dir gekommen, Bruder! Die liebe Praskovja sagte es mir.« + +»Er ist soeben zu sich gekommen,« sagte Nastasja. + +»Soeben zu sich gekommen,« bestätigte wieder der Kontordiener mit einem +Lächeln. + +»Wer sind Sie aber, mein Herr?« fragte er plötzlich Rasumichin, sich an +ihn wendend. »Ich bin, sehen Sie, Rasumichin, Student, Sohn eines +Edelmannes, und er ist mein Freund. Nun, und wer sind Sie?« + +»Ich bin in unserm Kontor Diener, beim Kaufmann Schelopajeff, und komme +in Geschäften.« + +»Nehmen Sie bitte Platz auf diesem Stuhl.« + +Rasumichin setzte sich auf einen andern, an der anderen Seite des +Tischchens. + +»Das hast du gut getan, Bruder, daß du zu dir gekommen bist,« fuhr er +fort, sich an Raskolnikoff wendend. »Den vierten Tag schon hast du kaum +etwas gegessen oder getrunken. Löffelweise hat man dir ein wenig Tee +gegeben. Ich brachte ein paarmal Sossimoff mit. Erinnerst du dich +seiner? Er hat dich genau untersucht und sagte sofort, es sei nichts von +Bedeutung, -- es hat sich in den Kopf gezogen. Irgendein Unsinn mit den +Nerven, sagt er, schlechte Ernährung, zu wenig Bier und Meerrettich habe +man dir gegeben, daher auch die Krankheit, aber es habe nichts auf sich, +wird bald vergehen und gut werden. Sossimoff ist ein tüchtiger Kerl! +Fängt glänzend an damit, daß er dich kuriert. Na, ich will Sie nicht +aufhalten,« wandte er sich wieder an den Kontordiener, »wollen Sie Ihre +Wünsche erklären? Denk dir, Rodja, das ist schon der zweite Bote aus dem +Kontor, mit dem ersten habe ich gesprochen. Wer war es, der vor Ihnen da +war?« + +»Ich glaube, es war vorgestern; ja es stimmt. Das war Alexei +Ssemenowitsch, er ist auch aus unserem Kontor.« + +»Er ist wohl gescheiter als Sie, he?« + +»Ja, Sie haben recht, er ist solider.« + +»Das lobe ich mir, nun, fahren Sie fort.« + +»Also, Afanassi Iwanowitsch Wachruschin, von dem, wie ich annehme, Sie +öfter gehört haben, sendet Ihnen auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, durch +unser Kontor eine Anweisung,« begann der Diener, sich direkt an +Raskolnikoff wendend. + +»Falls Sie wieder bei Bewußtsein sind, soll ich Ihnen fünfunddreißig +Rubel überreichen, die an Ssemjon Ssemenowitsch von Afanassi Iwanowitsch +auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, wie in früheren Fällen, überwiesen werden. +Sie kennen ihn doch?« + +»Ja ... ich erinnere mich ... Wachruschin ...« sagte Raskolnikoff +sinnend. + +»Hören Sie -- er kennt den Kaufmann Wachruschin!« rief Rasumichin aus. +»Ist er nun nicht bei Bewußtsein? Übrigens, ich merke jetzt auch, daß +Sie ebenfalls ein gescheiter Mann sind. Na! Kluge Reden hört man gern.« + +»Ja, er ist es, Wachruschin, Afanassi Iwanowitsch, und zufolge des +Wunsches Ihrer Frau Mutter, die schon einmal auf diesem Wege Ihnen Geld +gesandt hatte, hat er es auch diesmal nicht abgelehnt und hat Ssemjon +Ssemenowitsch in diesen Tagen Order erteilt, Ihnen fünfunddreißig Rubel +bis auf weiteres zu übergeben.« + +»Das ist gut: >bis auf weiteres,< nicht übel war auch das >von Ihrer +Frau Mutter<. Nun, also wie ist Ihre Ansicht, -- ist er bei vollem +Bewußtsein oder nicht, he?« + +»Mir ist es gleich. Sehen Sie, nur die Unterschrift müßte ich haben.« + +»Er wird sie schon hinkritzeln. Was haben Sie da, ein Buch etwa?« + +»Ein Quittungsbuch, hier.« + +»Geben Sie es her. Nun, Rodja, erhebe dich. Ich will dich stützen; +unterschreibe mal, nimm die Feder, denn Geld brauchen wir jetzt mehr als +Syrup, Bruder.« + +»Ist nicht nötig,« sagte Raskolnikoff und stieß die Feder von sich. + +»Was ist nicht nötig?« + +»Ich werde nicht unterschreiben.« + +»Zum Teufel, wie denn ohne Quittung?« + +»Ich brauche nicht ... das Geld ...« + +»Das Geld brauchst du nicht? Nun, da lügst du, Bruder, ich kann es +bezeugen! ... Bitte, beachten Sie es nicht, er tut bloß so ... +phantasiert wieder. Das passiert ihm übrigens auch in wachem Zustande +... Sie sind ein verständiger Mann und wir wollen ihn leiten, das heißt, +einfach seine Hand führen, er wird dann unterschreiben. Helfen Sie ...« + +»Übrigens, ich kann auch ein andres Mal kommen.« + +»Nein, nein, warum wollen Sie sich bemühen. Sie sind ein verständiger +Mann ... Nun, Rodja, halte den Besuch nicht auf ... du siehst, er +wartet,« und er schickte sich in allem Ernste an, Raskolnikoffs Hand zu +führen. + +»Laß, ich will selbst ...« sagte jener, nahm die Feder und quittierte im +Buche. + +Der Kontordiener zählte das Geld auf und ging. + +»Bravo! Willst du nun essen, Bruder?« + +»Ich will essen,« antwortete Raskolnikoff. + +»Haben Sie Suppe?« + +»Ja, von gestern,« antwortete Nastasja, die die ganze Zeit dabei +gestanden hatte. + +»Mit Kartoffel und Reis?« + +»Ja, mit Kartoffel und Reis.« + +»Ich kenne das auswendig. Bringe die Suppe und gib auch Tee.« + +»Gleich.« + +Raskolnikoff blickte auf alles mit großem Erstaunen und einer dumpfen +sinnlosen Angst. Er beschloß zu schweigen und abzuwarten, was weiter +kommen würde. »Ich träume nicht, wie es scheint,« dachte er, »es scheint +Wirklichkeit zu sein ...« + +Nach ein paar Minuten kam Nastasja mit der Suppe zurück und erklärte, +daß sofort auch der Tee da sein werde. Mit der Suppe erschienen auch +zwei Löffel, zwei Teller und das ganze Zubehör: ein Salzfaß, Pfeffer, +Senf für das Fleisch und alles übrige, in einer Ordnung, die schon lange +nicht mehr geherrscht hatte. Sogar das Tischtuch war sauber. + +»Es wäre nicht schlecht, liebe Nastasja, wenn Praskovja Pawlowna ein +paar Flaschen Bier beordern würde. Wir würden sie gerne trinken.« + +»Auch noch!« murmelte Nastasja, ging aber, den Befehl auszuführen. + +Raskolnikoff begann starr und angestrengt zu beobachten. Unterdessen +hatte sich Rasumichin zu ihm auf das Sofa gesetzt; ungeschickt, wie ein +Bär, umfaßte er mit der linken Hand Raskolnikoffs Kopf, trotzdem dieser +selber sich erheben konnte, und brachte ihm mit der rechten Hand den +Suppenlöffel an seinen Mund, nachdem er ein paarmal vorher darauf +geblasen hatte, damit er sich nicht verbrenne. Die Suppe war kaum warm. +Raskolnikoff verschlang voll Gier einen Löffel, dann einen zweiten und +einen dritten. Nachdem er aber ihm noch einige Löffel gereicht, hielt +Rasumichin plötzlich inne und erklärte, daß man des weiteren wegen +Sossimoff fragen müsse. + +Nastasja kam mit zwei Flaschen Bier herein. + +»Willst du Tee?« + +»Ja, ich möchte gern.« + +»Bring mal schnell den Tee, Nastasja, denn was Tee anbelangt, so kann +man wohl auch ohne Konsultation auskommen. Na, und hier ist Bier!« + +Er setzte sich auf seinen Stuhl, rückte die Suppe und das Fleisch zu +sich und begann mit solch einem Appetit zu essen, als hätte er drei Tage +nichts bekommen. + +»Ich esse jetzt jeden Tag bei euch zu Mittag, lieber Rodja,« brummte er, +soweit es ihm der vollgestopfte Mund erlaubte, »und zwar bewirtet mich +so die liebe Praskovja, deine Wirtin, und ehrt mich von ganzer Seele. +Ich bestehe selbstverständlich nicht darauf, aber protestiere auch nicht +dagegen. Da ist Nastasja mit dem Tee. Wie flink du bist! Nastasja, +willst du Bier?« + +»Ne, du Spaßvogel.« + +»Und wie steht es mit Tee?« + +»Tee möchte ich wohl.« + +»Gieß ein. Warte, ich will dir selbst eingießen; setz dich an den +Tisch.« + +Er machte sich sofort daran, goß eine Tasse ein, dann eine zweite, ließ +sein Essen stehen und setzte sich wieder auf das Sofa hin. Wie früher, +umfaßte er mit der linken Hand den Kopf des Kranken, richtete ihn auf +und begann ihm den Tee löffelweise einzuflößen, wobei er wieder +ununterbrochen und sehr eifrig auf den Löffel blies, als bestände in +diesem Blasen das wesentlichste und heilsamste Moment für die Genesung. +Raskolnikoff schwieg und sträubte sich nicht, obwohl er genügend Kraft +in sich fühlte, sich zu erheben und ohne fremde Hilfe auf dem Sofa zu +sitzen, nicht bloß die Hände zu benutzen, um den Löffel oder die Tasse +zu halten, sondern vielleicht auch herumzugehen. Aber aus einer +eigentümlichen, fast tierischen Schlauheit heraus kam es ihm plötzlich +in den Sinn, vorläufig seine Kräfte zu verheimlichen, sich zu verstellen +und sich auch nötigenfalls den Anschein zu geben, als verstünde er noch +nicht alles, indessen aber zuzuhören und zu erfahren, was um ihn +vorgehe. Übrigens überwand er nicht seinen Widerwillen, -- nachdem er +etwa zehn Löffel Tee geschlürft hatte, befreite er plötzlich seinen Kopf +von der Umarmung, stieß den Löffel von sich und sank wieder auf die +Kissen zurück. Unter seinem Kopfe lagen jetzt wirklich Kissen, -- +gefüllt mit weichem Flaum und mit sauberen Überzügen bezogen; das hatte +er auch schon bemerkt und darüber nachgedacht. + +»Die liebe Praskovja muß uns heute noch Himbeersaft schicken, um ihm ein +Getränk zu machen,« sagte Rasumichin, indem er seinen Platz wieder +einnahm und sich an die Suppe und das Bier machte. + +»Wo soll sie den Himbeersaft für dich hernehmen?« fragte Nastasja, die +die Untertasse auf ihren ausgespreizten fünf Fingern hielt und den Tee +durch ein Stück Zucker hindurchsog. + +»Den Himbeersaft wird sie im Laden erhalten, mein Freund. Siehst du, +Rodja, während du krank warst, ist hier eine ganze Geschichte passiert. +Als du in solcher spitzbübischen Weise von mir ausrücktest und mir deine +Wohnung nicht sagtest, packte mich plötzlich eine Wut, daß ich beschloß, +dich aufzusuchen und zu strafen. Am selben Tage begann ich schon. Ich +wanderte und wanderte umher, fragte hier und fragte dort! Deine jetzige +Wohnung hatte ich vergessen, erinnerte mich ihrer auch nicht, weil ich +sie gar nicht kannte. Nun, und von der früheren Wohnung wußte ich bloß, +daß sie an den Fünfecken lag, im Hause Karlamoff. Ich suchte und suchte +dies Haus von Karlamoff, -- und später fand sich's, daß es gar nicht +Karlamoff, sondern Buch gehörte, wie man sich zuweilen im Klange irren +kann. Na, ich wurde böse, und ging auf gut Glück am anderen Tage in das +Adreßbureau, und stell dir vor, -- in zwei Minuten hatte man dich dort +herausgefunden. Du bist dort eingetragen.« + +»Ich bin dort eingetragen.« + +»Das stimmt, aber den General Koboleff, siehst du, konnte man dort gar +nicht finden. Na, darüber ließe sich viel reden. Kaum war ich hier +eingebrochen, als ich sofort mit allen deinen Angelegenheiten bekannt +wurde; mit allen, mit allen, Bruder, ich weiß alles. Nikodim Fomitsch +lernte ich kennen, Ilja Petrowitsch zeigte man mir, auch mit dem +Hausknecht wurde ich bekannt, ebenso Herrn Alexander Grigorjewitsch +Sametoff, dem Sekretär in dem Polizeibureau und zu guter Letzt mit der +lieben Praskovja, -- das war die Krone vom ganzen. Sie, Nastasja, weiß +es auch ...« + +»Er hat sich eingeschmeichelt,« murmelte Nastasja mit einem schelmischen +Lächeln. + +»Versüßen Sie doch Ihren Tee, Nastasja Nikiforowna.« + +»Zum Kuckuck mit dir!« rief plötzlich Nastasja und prustete vor Lachen. +»Ich heiße übrigens Nastasja Petrowna und nicht Nikiforowna,« fügte sie +hinzu, nachdem sie aufgehört hatte zu lachen. + +»Das will ich mir merken. Na, also, Bruder, um nicht viel Worte zu +verlieren, ich wollte, siehst du, zuerst hier einen elektrischen Strom +durchlassen, um alle Vorurteile in hiesiger Gegend mit einem Male zu +vertilgen, aber die liebe Praskovja siegte. Ich hatte gar nicht +erwartet, Bruder, daß sie so ... lieb sein würde ... Was meinst du?« + +Raskolnikoff schwieg, obwohl er keinen Augenblick seinen erregten Blick +von ihm gewandt hatte, und jetzt noch fortfuhr, ihn starr anzublicken. + +»Und sogar sehr lieb,« fuhr Rasumichin fort, ohne sich durch +Raskolnikoffs Schweigen stören zu lassen, und als bekräftige er dessen +Antwort, »und in bester Ordnung in jeder Hinsicht.« + +»Das ist einer!« rief Nastasja wieder aus, der dieses Gespräch eine +unbeschreibliche Wonne zu bereiten schien. + +»Schlimm war es, Bruder, daß du von Anfang an nicht verstanden hast, die +Sache richtig anzufassen. Mit ihr mußte man anders verfahren. Sie ist +sozusagen ein problematischer Charakter! Doch vom Charakter später ... +Eins nur, zum Beispiel, wie konntest du es soweit kommen lassen, daß sie +wagte, dir kein Mittagessen zu schicken? Oder zum Beispiel dieser +Wechsel? Bist du etwa verrückt geworden, Wechsel zu unterzeichnen. Oder +wiederum diese in Aussicht genommene Ehe, als noch die Tochter, Natalja +Jegorowna, lebte ... Ich weiß alles! übrigens, ich sehe, daß das eine +zarte Angelegenheit ist und ich ein Esel bin; entschuldige bitte. +Apropos: Dummheit; Praskovja Pawlowna ist gar nicht so dumm, Bruder, wie +man auf den ersten Blick meinen könnte, he?« + +»Ja ...« sagte Raskolnikoff gedehnt, indem er zur Seite blickte, aber er +begriff, daß es vorteilhafter war, vom Thema nicht abzulenken. + +»Nicht wahr?« rief Rasumichin aus, sichtlich erfreut, daß er Antwort +bekommen hatte. »Aber auch nicht klug, wie? Ein ganz, ganz +unberechenbarer Charakter! Zum Teil bin ich mir selber nicht ganz klar, +sage ich dir, Bruder ... Sie wird sicher ihre vierzig sein. Sie sagt, +sie sei sechsunddreißig, und das ist ihr gutes Recht. Übrigens, ich +schwöre dir, daß ich über sie mehr nach meinem Verstande, rein +metaphysisch urteile; hier haben sich Verwicklungen eingestellt, +schlimmer, als in der Algebra. Ich begreife nichts! -- Na, das ist +lauter Unsinn. Als sie sah, daß du nicht mehr Student bist, weder +Stunden noch Kleidung hast, bekam sie Furcht und da sie es nicht nötig +hat, nach dem Tode ihrer Tochter dich verwandtschaftlich zu behandeln, +und da du deinerseits dich in den Winkel verkrochst und den früheren +Verkehr nicht unterhieltest, faßte sie den Entschluß, dich aus der +Wohnung hinauszuwerfen. Sie hatte schon lange diese Absicht gehabt, aber +der Wechsel tat ihr leid. Außerdem hast du ja selbst versichert, daß +deine Mutter bezahlen würde ...« + +»Das habe ich aus Schuftigkeit gesagt ... Meine Mutter muß beinahe +betteln gehen ... und ich log, damit man mich wohnen ließe und ... mir +zu essen gebe,« sagte Raskolnikoff laut und deutlich. + +»Ja, das hast du vernünftig gemacht. Nur die Sache war die, daß sich ein +Herr Tschebaroff einfand, Hofrat und Geschäftsmann. Die liebe Praskovja +hätte ohne ihn nichts unternommen, sie ist doch zu schüchtern. Na, ein +Geschäftsmann aber ist nicht schüchtern, und das erste, was er +selbstverständlich tat, war, ihr die Frage vorzulegen, ob Aussicht da +sei, daß der Wechsel eingelöst werde? Die Antwort lautete, -- +ja, denn es gibt so eine Mutter, die mit ihrer Pension von +hundertundfünfundzwanzig Rubel dem Rodenka helfen würde, wenn sie auch +selbst hungern müßte, und es gibt noch eine Schwester, die für ihren +Bruder sich schinden lassen würde. Darauf baute der Geschäftsmann ... +Halte dich nur ruhig! Ich habe jetzt alle deine Geheimnisse erfahren, +Bruder, du warst nicht umsonst gegen die liebe Praskovja offen, als du +noch auf verwandtschaftlichem Fuße mit ihr standest, jetzt aber sage ich +dir dies alles in aller Liebe ... Da haben wir es, ein ehrlicher und +gefühlvoller Mensch ist offen, spricht sich aus, ein Geschäftsmann aber +hört zu und kaut dazu und verspeist zu guter Letzt. Sie überließ also +diesen Wechsel, als hätte sie dafür Zahlung erhalten, jenem Tschebaroff, +und er genierte sich nicht und forderte die Summe auf gesetzlichem Wege. +Ich wollte, als ich dies alles erfuhr, ihm zur Beruhigung meines +Gewissens mit einem kalten Strahl kommen, aber da begann zwischen mir +und der lieben Praskovja die Harmonie, und ich ordnete an, daß die Sache +im Keime sozusagen erstickt werden sollte, indem ich mich verbürgte, daß +du bezahlen wirst. Ich habe mich für dich verbürgt, Bruder, hörst du? +Tschebaroff wurde hergerufen, man warf ihm zehn Rubel in den Rachen, +nahm den Wechsel ihm ab, und da habe ich die Ehre, ihn Ihnen zu +übergeben, -- man glaubt Ihnen nun aufs Wort -- nehmen Sie ihn, er ist +von mir, wie es sich gehört, eingerissen.« + +Rasumichin legte den Wechsel auf den Tisch; Raskolnikoff blickte ihn an +und wandte sich ohne ein Wort zu sagen gegen die Wand. Rasumichin +berührte es peinlich. + +»Ich sehe, Bruder,« sagte er nach einer Weile, »daß ich wieder eine +Dummheit gemacht habe. Ich dachte dich zu zerstreuen und mit Geplauder +zu erheitern, habe aber, wie es scheint, deine Galle aufgerührt.« + +»Du warst es, den ich im Fieber nicht erkannte?« fragte Raskolnikoff +nach einigem Schweigen, ohne den Kopf umzuwenden. + +»Ja, ich war es, und du gerietest sogar aus diesem Grunde in Wut, +besonders, als ich einmal Sametoff mitbrachte.« + +»Sametoff? ... Den Sekretär? ... Warum?« Raskolnikoff wandte sich +schnell um und starrte Rasumichin an. + +»Ja, was ist dir ... Warum regst du dich auf? Er wollte mit dir bekannt +werden; hatte selbst den Wunsch geäußert, weil ich viel mit ihm über +dich gesprochen habe ... Von wem hätte ich denn sonst soviel über dich +erfahren. Er ist ein prächtiger Bursche, Bruder, wundervoll ... +selbstverständlich in seiner Art. Jetzt sind wir Freunde, fast täglich +sehen wir uns. Ich bin in dieses Revier übergesiedelt. Du weißt es noch +nicht? Ich bin soeben umgezogen. Bei der Louisa waren wir ein paarmal. +Erinnerst du dich an Louisa Iwanowna?« + +»Habe ich phantasiert?« + +»Und ob? Du warst ja ganz ohne Bewußtsein.« + +»Worüber habe ich phantasiert?« + +»Nanu! Worüber du phantasiert hast? Es ist begreiflich, worüber man +phantasiert ... Nun, Bruder, wir wollen jetzt keine Zeit mehr verlieren, +zur Arbeit.« + +Er stand vom Stuhle auf und nahm seine Mütze. + +»Worüber habe ich phantasiert?« + +»Er läßt nicht davon. Hast du Angst vor einem Geheimnis? Sei ruhig, von +-- einer Gräfin wurde nichts geredet. Aber von einer Bulldogge, von +Ohrgehängen und von allerhand Ketten, von der Krestowski-Insel und von +einem Hausknecht, von Nikodim Fomitsch und von Ilja Petrowitsch, seinem +Gehilfen hast du viel gesprochen. Ja, und außerdem geruhtest du dich +sogar sehr für deinen Strumpf zu interessieren. Klagtest: >Gebt ihn,< +sagtest du, >bitte<. Sametoff suchte in eigener Person in allen Winkeln +deine Strümpfe zusammen und überreichte dir den Schund mit seinen +parfümierten und mit Ringen besetzten Händen. Dann erst beruhigtest du +dich und hieltest diesen Schund Tag und Nacht in den Händen, man konnte +es dir nicht wegnehmen. Wahrscheinlich liegt er auch jetzt irgendwo +unter deiner Decke. Und dann batest du um Fransen von den Hosen, du +batest mit Tränen darum. Wir versuchten zu erfahren, was für Fransen du +wünschtest? Aber man konnte nichts verstehen ... Nun, an die Arbeit. +Hier sind fünfunddreißig Rubel, ich nehme zehn davon, und nach ein paar +Stunden werde ich Rechenschaft darüber abgeben. Unterdessen will ich +Sossimoff benachrichtigen, obwohl er ohnedem längst hier sein müßte, +denn es geht auf zwölf. Sie aber, Nastasja, sehen öfters nach, während +ich fort bin, und sorgen für ein Getränk oder etwas anderes, was er +wünschen sollte ... Und der lieben Praskovja werde ich selbst gleich +sagen, was nötig ist. Auf Wiedersehen!« + +»Liebe Praskovja nennt er sie! Ach, du schlauer Kerl!« -- sagte Nastasja +hinter ihm drein. + +Dann öffnete sie die Tür und begann zu horchen, aber sie hielt es nicht +aus und lief hinunter. Es interessierte sie doch zu sehr, was er mit der +Wirtin sprach; überhaupt konnte man sehen, daß sie von Rasumichin ganz +bezaubert war. + +Kaum schloß sich die Tür hinter ihr, als der Kranke die Decke von sich +warf und wie wahnsinnig aus dem Bette sprang. Mit brennender, +krampfhafter Ungeduld hatte er gewartet, daß sie schneller fortgehen +würden, um sofort etwas zu tun. Aber was denn, was wollte er tun? -- ihm +schien es, als mußte es so sein, jetzt vergessen zu haben. + +»Oh, Gott! Sag' du mir nur eins -- wissen sie alles oder wissen sie noch +nichts? Aber wenn sie schon alles wissen und sich bloß so anstellen, +mich irreführen, solange ich liege, um dann plötzlich einzutreten und zu +sagen, daß alles schon längst bekannt sei und daß sie bloß so ... Was +soll ich jetzt tun? Ich habe es vergessen, vergessen; plötzlich ist es +mir entschwunden und eben noch wußte ich es! ...« + +Er stand mitten im Zimmer und blickte in qualvoller Unentschlossenheit +ringsumher; er ging zur Tür, öffnete sie und lauschte, aber das war es +nicht. Plötzlich, als hätte er sich erinnert, stürzte er zu der Ecke, wo +hinter den Tapeten das Loch war, sah alles nach, steckte die Hand in das +Loch und scharrte nach, aber auch das war es nicht. Er ging zum Ofen, +öffnete die Tür und begann in der Asche zu scharren; die Fransen von der +Hose und die Fetzen der zerrissenen Tasche lagen noch umher, wie er sie +hineingeworfen hatte, also hat niemand nachgesehen. Da erinnerte er sich +des Strumpfes, von dem Rasumichin soeben erzählt hatte. In der Tat, er +lag auf dem Sofa unter der Decke, aber er war so abgenutzt und +beschmutzt, daß Sametoff sicher nichts hatte sehen können. + +»Bah, Sametoff ... das Polizeibureau! ... Warum ladet man mich ins +Polizeibureau? Wo ist die Vorladung? Bah! ... ich verwechsele ... das +war damals! Ich habe schon da den Strumpf besehen und jetzt ... jetzt +war ich krank. Warum ist aber Sametoff hergekommen? Warum hat Rasumichin +ihn mitgebracht? ...« murmelte er, ganz schwach, und setzte sich auf das +Sofa. »Was ist denn? Phantasiere ich weiter oder ist es Wirklichkeit? Es +scheint Wirklichkeit zu sein ... Ah, ich erinnere mich, ich muß fliehen! +Schnell fliehen, unbedingt, unbedingt fliehen! Ja ... aber wohin? Und wo +sind meine Kleider? Die Stiefel sind nicht da. Man hat sie weggeschafft! +Hat sie versteckt! Ich verstehe es! Ah, da ist der Mantel -- den haben +sie übersehen. Hier auf dem Tische liegt auch Geld, Gott sei Dank! Da +ist auch der Wechsel ... Ich nehme das Geld und gehe fort, will mir eine +andere Wohnung mieten, sie werden mich nicht finden! ... Ja, aber das +Adreßbureau? Sie werden mich finden! Rasumichin wird mich finden. Es ist +besser, ganz weit zu fliehen ... nach Amerika ... und ich pfeif' auf +sie! Ich will auch den Wechsel nehmen ... dort kann er von Nutzen sein +... Was soll ich noch mitnehmen? Sie denken, ich sei krank. Sie wissen +es nicht, daß ich gehen kann, hehehe! ... Ich habe es an ihren Augen +erraten, daß sie alles wissen. Wenn ich nur die Treppe hinunterkäme! +Aber wenn sie dort Wächter aufgestellt haben ... Polizeibeamte! Ist das +Tee? Ah, Bier ist auch übriggeblieben, eine halbe Flasche, es ist kalt!« + +Er nahm die Flasche, in der noch ein ganzes Glas übrig war, und trank +sie in einem Zuge mit Genuß aus, als lösche er ein Feuer in seiner +Brust. Aber es verging kaum eine Minute, da stieg ihm das Bier zu Kopfe +und längs dem Rücken durchzog ihn ein leichtes, doch angenehmes +Frösteln. Er legte sich hin und zog die Decke über sich. Seine Gedanken, +die ohnedem krankhaft und ohne Zusammenhang waren, verwirrten sich immer +mehr, und bald überfiel ihn ein leichter und angenehmer Schlaf. Mit +Wonne suchte er mit dem Kopf eine Stelle in den Kissen aus, wickelte +sich fester in die weiche wattierte Decke ein, die jetzt an Stelle des +zerrissenen Mantels über ihm lag, seufzte leise und fiel in einen +tiefen, festen, kräftigenden Schlaf. + +Er erwachte, als er jemand in das Zimmer eintreten hörte, öffnete die +Augen und erblickte Rasumichin, der die Türe weit geöffnet hatte und auf +der Schwelle stand, unentschlossen, ob er eintreten solle oder nicht. +Raskolnikoff erhob sich schnell und blickte ihn an, als gäbe er sich +Mühe, sich auf etwas zu besinnen. + +»Ah, du schläfst nicht; nun, da bin ich! Nastasja, schlepp' das Bündel +her!« rief Rasumichin hinunter. »Du erhältst sofort Abrechnung ...« + +»Wieviel Uhr ist es?« fragte Raskolnikoff und blickte erregt um sich. + +»Du hast tüchtig geschlafen, Bruder; es ist Abend, etwa um sechs Uhr. Du +hast über sechs Stunden geschlafen ...« + +»Oh, Gott! Was ist mit mir! ...« + +»Ja, was soll denn sein? Zur Gesundheit ist's! Wohin treibt's dich denn? +Zu einem Stelldichein etwa? Die ganze Zeit gehört jetzt uns. Ich warte +schon drei Stunden, war ein paarmal hier, da du schliefst. Bei Sossimoff +war ich auch zweimal, er ist nicht zu Hause und basta! Das tut nichts, +er wird schon kommen! ... + +In eigenen Angelegenheiten war ich auch fortgewesen. Ich bin ja heute +umgezogen, fix und fertig umgezogen mit meinem Onkel zusammen. Ich habe +nämlich jetzt einen Onkel ... Nun aber zum Teufel damit, jetzt zur +Sache. Gib mal das Bündel her, Nastasja. Wir wollen es gleich besorgen. +Und wie fühlst du dich?« + +»Ich bin gesund, bin nicht krank ... Rasumichin, bist du schon lange +hier?« + +»Ich sage dir, ich warte seit drei Stunden.« + +»Nein, ich meine vorher?« + +»Was vorher?« + +»Seit wann kommst du hierher?« + +»Ich habe es dir doch erzählt oder erinnerst du dich nicht?« + +Raskolnikoff sann nach. Wie im Traume schwebte ihm das vorhin Geschehene +vor. Allein er konnte sich nicht entsinnen und blickte fragend +Rasumichin an. + +»Hm!« sagte dieser. »Du hast es vergessen. Mir schien es schon damals, +daß du noch nicht ganz ... Jetzt nach dem Schlafe hast du dich erholt +... Tatsächlich, du siehst besser aus. Braver Junge! Nun aber zur Sache. +Du wirst dich gleich erinnern. Sieh mal her, lieber Bursche.« + +Er begann das Bündel aufzumachen, das ihn sichtlich außerordentlich +interessierte. »Das, glaube mir, lag mir besonders auf dem Herzen. Denn +man muß doch aus dir einen Menschen machen. Wollen wir anfangen, und +zuerst von oben. Siehst du dieses Kaskett?« sagte er, indem er aus dem +Bündel eine ziemlich hübsche, aber auch sehr einfache und billige Mütze +hervorholte. -- »Laß es dir mal anprobieren.« + +»Nachher ... später,« -- sagte Raskolnikoff, sich mürrisch wehrend. + +»Nein, Rodja, sträube dich nicht, sonst wird es zu spät und auch ich +werde die ganze Nacht nicht einschlafen können, weil ich es ohne Maß +aufs Geratewohl gekauft habe. Es paßt genau!« -- rief er triumphierend +aus, nachdem er die Mütze anprobiert hatte, -- »paßt, wie angemessen! +Die Kopfbedeckung, Bruder, ist der wichtigste Teil des Anzuges, eine +tote Empfehlung. Mein Freund Tolstjakoff muß jedesmal seine +Kopfbedeckung abnehmen, wenn er irgendwo hinkommt, wo alle anderen in +Hüten und Mützen herumstehen. Alle glauben, er tue es aus sklavischer +Empfindung, nein, er schämt sich einfach seines Vogelnestes; er ist mal +schon so schüchtern. Nun, Nastenka, hier haben Sie zwei Kopfbedeckungen +(er holte aus einer Ecke den zerdrückten runden Hut von Raskolnikoff, +den er Gott weiß warum Palmerston nannte) -- diesen Palmerston und +dieses Kleinod. Taxiere mal. Rodja, was meinst du, das ich dafür bezahlt +habe? Nastasjuschka?« -- wandte er sich an sie, als er sah, daß +Raskolnikoff schwieg. »Zwanzig Kopeken wirst du wahrscheinlich gegeben +haben«, -- antwortete Nastasja. + +»Zwanzig Kopeken, Dummkopf!« -- rief er beleidigt aus, -- »heutzutage +kauft man auch dich nicht mal für zwanzig Kopeken. Achtzig Kopeken habe +ich bezahlt! Und auch deshalb nur, weil sie schon getragen ist. Jedoch +mit der Bedingung, daß du im nächsten Jahre eine andere umsonst +erhältst, wenn diese abgetragen ist, bei Gott! Nun wollen wir zu den +Vereinigten Staaten von Amerika, wie man bei uns im Gymnasium sagte, +übergehen. Ich sage im voraus, daß ich auf die Hosen stolz bin!« -- und +er breitete vor Raskolnikoff ein paar graue Beinkleider aus leichtem, +wollenem Sommerstoff aus. -- »Weder ein Löchlein, noch ein Fleckchen, +dafür aber sehr anständig, obwohl sie getragen sind, ebensolch eine +Weste, in derselben Farbe, wie es die Mode verlangt. Und daß sie +getragen sind, ist offen gestanden auch besser, sie sind weicher, zarter +... Siehst du, Rodja, um in der Welt eine Karriere zu machen, genügte +es, meiner Meinung nach, sich stets nach der Saison zu richten; wenn man +im Monat Januar keinen Spargel ißt, behält man im Beutel ein paar Rubel +mehr; ebenso ist es mit diesem Kauf. Wir haben jetzt die Sommersaison, +und da habe ich auch danach den Einkauf gemacht, denn zur Herbstsaison +wird so wie so ein wärmerer Stoff vonnöten sein, also muß man es +fortwerfen ... um so mehr, als dies alles bis dahin von selbst verfallen +wird, wenn nicht aus stärker gewordenem Luxusbedürfnis, so aus inneren +Zerrüttungen. Nun taxiere sie mal. Wieviel meinst du? -- Zwei Rubel +fünfundzwanzig Kopeken! Und vergiß nicht mit derselben Bedingung, hast +du sie vertragen, erhältst du im nächsten Jahre ein anderes Paar +umsonst. In Fedjajeffs Laden handelt man nicht anders: man bezahlt nur +einmal und hat fürs ganze Leben genug, denn ein zweites Mal geht man +selbst nicht hin. Jetzt zu den Stiefeln, -- wie gefallen sie dir? Man +sieht es wohl, daß sie getragen sind, aber ein paar Monate halten sie +noch aus, denn es ist ausländische Arbeit und ausländische Ware; der +Sekretär der englischen Botschaft hat sie vorige Woche auf dem +Trödelmarkte losgeschlagen, er hat sie nur sechs Tage getragen, brauchte +aber sehr notwendig Geld. Der Preis ist ein Rubel fünfzig Kopeken. Ist +das nicht ein glücklicher Einkauf?« + +»Aber vielleicht passen sie nicht!« -- bemerkte Nastasja. + +»Nicht passen! Und was ist das?« -- er zog aus der Tasche den alten, +eingetrockneten, zerrissenen, ganz mit altem Schmutz bedeckten Stiefel +Raskolnikoffs. -- »Ich bin mit Vorrat hingegangen; nach diesem Scheusal +hat man das richtige Maß festgestellt. Alles war sorgfältig bedacht. Und +wegen der Wäsche habe ich mich mit der Wirtin beraten. Da sind drei +leinene Hemden, mit modernen Kragen ... Also nun die Rechnung: achtzig +Kopeken die Mütze, zwei Rubel fünfundzwanzig die übrigen Kleider, im +ganzen drei Rubel und fünf; ein Rubel und fünfzig die Stiefel, -- weil +sie gar so gut sind, -- macht vier Rubel fünfundfünfzig und die ganze +Wäsche fünf Rubel -- wir haben einen Engrospreis gemacht, -- ist in +Summa neun Rubel fünfundfünfzig Kopeken. Den Rest -- fünfundvierzig +Kopeken in Kupfer bitte ich zurückzunehmen, da lege ich sie hin. Und +nun, Rodja, bist du in deiner ganzen Kleidung hergestellt, denn dein +Mantel kann, meiner Meinung nach, nicht bloß weiterdienen, sondern er +macht sogar einen besonders anständigen Eindruck; das macht, wenn man +bei einem guten Schneider arbeiten läßt. Was Strümpfe und das übrige +anbelangt, das überlasse ich dir selbst; wir haben an Geld noch +fünfundzwanzig Rubel; wegen der lieben Praskovja und der Miete kannst du +ruhig sein. Ich sage dir, du hast einen unbegrenzten Kredit. Jetzt aber +erlaube mal, dir die Wäsche zu wechseln, Bruder, vielleicht steckt die +Krankheit jetzt bloß noch im Hemde ...« + +»Laß es! Ich will nicht!« wehrte sich Raskolnikoff, der voll Widerwillen +dem gesucht neckischen Bericht Rasumichins über den Einkauf der Sachen +zugehört hatte. + +»Das geht nicht an, Bruder. Warum habe ich mich denn abgeschunden!« +bestand Rasumichin auf seinem Verlangen. »Nastasjuschka, genieren Sie +sich nicht, sondern helfen Sie, -- so, so!« + +Und ungeachtet des Widerstandes Raskolnikoffs, hatte er ihm doch die +Wäsche gewechselt. Der aber fiel auf die Kissen zurück und ein paar +Minuten redete er kein Wort. + +»Die werde ich noch lange nicht los!« dachte er. + +»Von welchem Gelde ist denn dies alles gekauft?« fragte er endlich, +indem er nach der Wand blickte. + +»Von welchem Gelde? Das ist mal eine Frage! Doch von deinem eigenen. +Vorhin war doch der Bureaudiener von Wachruschin hier, deine Mutter hat +es dir gesandt, oder hast du auch das vergessen?« + +»Jetzt erinnere ich mich ...« sagte Raskolnikoff nach langem und +düsterem Nachdenken. Rasumichin sah ihn hin und wieder voll Unruhe mit +zusammengezogenen Brauen an. Da öffnete sich die Türe und ein großer +kräftiger Mann trat ein, der dem Aussehen nach Raskolnikoff schon ein +wenig bekannt vorkam. + +»Sossimoff! Endlich!« rief Rasumichin erfreut aus. + + + IV. + +Sossimoff war groß und dick, mit einem gedunsenen, farblosen, blassen +und glattrasierten Gesichte, hatte helles glattes Haar, trug eine Brille +und an einem seiner fetten Finger saß ein großer goldener Ring. Er war +etwa siebenundzwanzig Jahre alt. Unter einem weiten, eleganten, leichten +Überzieher sahen helle Sommerbeinkleider hervor; alles war an ihm weit, +elegant und nagelneu, die Wäsche war tadellos und die Uhrkette massiv. +Seine Bewegungen waren langsam, es lag in seiner Trägheit gleichzeitig +eine gesuchte Ungezwungenheit; eine Überhebung, die er übrigens stark zu +verbergen suchte, kam immer wieder zum Vorschein. Alle, die ihn kannten, +fanden ihn schwerfällig, gaben jedoch zu, daß er seine Sache verstände. + +»Ich bin zweimal bei dir gewesen, Bruder ... Siehst du, er ist zu sich +gekommen!« rief Rasumichin aus. + +»Ich sehe, sehe es. Nun, wie fühlen wir uns jetzt?« wandte sich +Sossimoff an Raskolnikoff, indem er ihn aufmerksam betrachtete und sich +zu ihm auf das Sofa zu seinen Füßen setzte, wobei er sich sofort nach +Möglichkeit breit machte. »Er ist immer schlechter Laune,« fuhr +Rasumichin fort, »wir haben ihm soeben die Wäsche gewechselt, da fing er +fast zu weinen an.« + +»Das ist begreiflich; die Wäsche konnte man auch später wechseln, wenn +er es selbst wünscht ... Der Puls ist prächtig. Der Kopf tut immer noch +ein wenig weh, ja?« + +»Ich bin gesund, bin vollkommen gesund!« sagte hartnäckig und gereizt +Raskolnikoff, indem er sich gleichzeitig vom Sofa erhob und mit den +Augen blitzte, er fiel aber sofort auf das Kissen zurück und wandte sich +der Wand zu. + +Sossimoff beobachtete ihn aufmerksam. + +»Sehr gut ... alles, wie es sich gehört,« sagte er träge. »Hat er etwas +gegessen?« + +Man sagte es ihm und fragte, was man geben könne. + +»Ja, alles kann man ihm geben ... Suppe, Tee ... Pilze und Gurken +selbstverständlich nicht, na, und Fleisch ist auch nicht nötig und ... +was ist da weiter zu reden! ...« + +Er wechselte einen Blick mit Rasumichin. + +»Die Arznei weg und alles weg; morgen will ich wieder nachsehen ... Es +wäre heute ... na, einerlei ...« + +»Morgen abend gehe ich mit ihm spazieren!« beschloß Rasumichin. »In den +Jussupoff-Garten, und nachher gehen wir in den Kristallpalast.« + +»Morgen würde ich ihm noch nicht raten, sich Bewegung zu machen, +übrigens aber ... ein wenig ... na, wir wollen sehen.« + +»Ach, es ist schade, heute weihe ich gerade meine Wohnung ein, es sind +ja nur zwei Schritte von hier; wenn er auch dabei sein könnte! Er könnte +ja auf dem Sofa unter uns liegen. Du wirst doch kommen?« wandte sich +Rasumichin plötzlich an Sossimoff. »Vergiß es nicht, du hast +versprochen.« + +»Vielleicht komme ich, aber ein wenig später. Was hast du denn?« + +»Ja, nichts besonderes, Tee, Schnaps, Hering. Eine Pirogge gibt es; nur +die nächsten Bekannten kommen.« + +»Wer denn?« + +»Ja, alle aus der nächsten Nachbarschaft und fast lauter neue, +ausgenommen den alten Onkel und neu ist der auch. Er ist gestern nach +Petersburg in eigenen Angelegenheiten gekommen; alle fünf Jahre sehen +wir uns.« + +»Wo ist er?« + +»Er hat sein Lebelang in einer Kreisstadt als Postmeister vegetiert ... +erhält eine kleine Pension, ist fünfundsechzig Jahre alt, es lohnt sich +nicht, darüber zu sprechen ... Ich habe ihn übrigens gern. Porphyri +Ssemenowitsch wird auch kommen, der hiesige Untersuchungsrichter ... er +ist aus dem Richterstande. Ja, du kennst ihn doch ...« + +»Ist er auch ein Verwandter von dir?« + +»Ganz weitläufig; warum siehst du so verdrießlich aus? Weil ihr euch +einmal gezankt habt, wirst vielleicht deshalb nicht kommen?« + +»Ah, ich pfeife auf ihn ...« + +»Das ist auch das beste. Nun und außerdem -- Studenten, ein Lehrer, ein +Beamter, ein Musiker, ein Offizier, Sametoff ...« + +»Sag mir bitte, was kann zwischen dir oder dem da,« Sossimoff wies auf +Raskolnikoff, »und einem Sametoff gemeinsames sein?« + +»Ach, du Nörgler! Prinzipienreiter! ... Du bist ja ganz mit Prinzipien +ausgestopft wie ein Kissen mit Federn, bist schon ganz ihr Sklave. Meine +Meinung ist, wenn ein Mensch gut ist, -- so ist er mir angenehm, und das +ist mein Prinzip. Und Sametoff ist ein ganz prächtiger Bursche.« + +»Und läßt sich schmieren.« + +»Nun ja, was macht es, wenn er sich schmieren läßt, ich pfeife darauf. +Was ist da dabei, wenn er sich schmieren läßt!« rief plötzlich +Rasumichin unnatürlich gereizt aus, -- »hab ich ihn denn gelobt, weil er +sich schmieren läßt? Ich sagte, daß er nur in seiner Art gut sei. Und +wenn man alle so genau nach jeder Seite besehen würde, dann würden nicht +viel gute Menschen übrig bleiben. Ich bin überzeugt, daß man dann für +mich, mit allen Eingeweiden zusammen, eine gebackene Zwiebel geben +würde, und auch nur mit dir als Zugabe! ...« + +»Das ist wenig; ich will für dich zwei geben ...« + +»Und ich für dich nur eine! Mach mir keine weiteren Witze! Sametoff ist +noch ein dummer Junge, ich werde ihn noch oft an den Haaren zupfen, man +muß ihn an sich ziehen und nicht von sich stoßen. Wenn man einen +Menschen abstößt, verbessert man ihn nicht, um so mehr, wenn er ein +unreifer Junge ist. Mit einem Jungen soll man noch einmal so vorsichtig +sein. Ach, ihr progressiven Dummköpfe, nichts versteht ihr! Ihr achtet +nicht den Menschen, und schadet euch selbst ... Und wenn du es wissen +willst, wir haben ein gemeinsames Interesse.« + +»Das möchte ich wissen.« + +»Ja, es ist in der Sache mit dem Maler, das heißt dem Anstreicher ... +Wir werden ihn schon loskriegen! Übrigens ist jetzt auch keine Gefahr +mehr. Die Sache ist jetzt klipp und klar! Wir wollen sie bloß +beschleunigen.« + +»Was ist das für ein Anstreicher?« + +»Wie, habe ich dir denn nicht davon erzählt? Ja, richtig, ich habe dir +nur den Anfang erzählt ... von der Ermordung der alten Pfandleiherin, +der Beamtenwitwe ... nun und darein ist jetzt ein Anstreicher verwickelt +...« + +»Von diesem Morde habe ich schon früher gehört, bevor du es mir +erzähltest, und ich interessiere mich sehr für diese Sache ... teilweise +... aus einem besonderen Grunde ... ich las in den Zeitungen darüber. +Aber siehst du ...« + +»Lisaweta hat man auch ermordet!« platzte plötzlich Nastasja heraus, +indem sie sich an Raskolnikoff wandte. + +Sie hatte die ganze Zeit an die Tür gelehnt zugehört. + +»Lisaweta?« murmelte Raskolnikoff mit kaum hörbarer Stimme. + +»Lisaweta, die Händlerin, weißt du es nicht? Sie kam öfters hierher in +unser Haus, hat dir auch ein Hemd ausgebessert.« + +Raskolnikoff wandte sich zu der Wand, wählte auf der schmutzigen gelben +Tapete mit weißen Blümchen eine plumpe weiße Blume mit braunen Strichen +aus und begann sie zu betrachten, wieviel Blätter sie habe, was für +Zacken an den Blättern und wieviel Striche sie durchzogen. Er fühlte, +daß seine Hände und Füße erstarrten, als wären sie gelähmt, aber er +versuchte nicht mal sich zu rühren und blickte unverwandt die Blume an. + +»Nun, was ist mit dem Anstreicher?« unterbrach Sossimoff sehr unwillig +Nastasjas Geschwätz. + +Sie seufzte und schwieg. + +»Er soll auch der Mörder sein!« fuhr Rasumichin eifrig fort. + +»Hat man denn Beweise?« + +»Gar keine, zum Teufel! Übrigens hat man doch einen, aber dieser Beweis +ist kein Beweis und siehst du, das muß man erst nachweisen. Es ist genau +so, wie sie zuerst diese ... wie heißen sie doch ... ja Koch und +Pestrjakoff verdächtigt und eingesperrt haben. Pfui! Wie dumm dies alles +gehandhabt wird, einen Unbeteiligten ekelt es an. Pestrjakoff, der eine +von ihnen, wird vielleicht auch heute bei mir sein ... Apropos, Rodja, +du kennst ja diese Geschichte, sie passierte noch vor deiner Krankheit, +gerade am Abend vorher, als du im Polizeibureau ohnmächtig wurdest, als +man darüber sprach ...« + +Sossimoff blickte Raskolnikoff neugierig an, er rührte sich aber nicht. + +»Weißt du, Rasumichin? Ich muß mich über dich wundern, daß du dich +überall hineinmischest,« bemerkte Sossimoff. + +»Mag sein, aber wir wollen ihn doch loskriegen!« rief Rasumichin aus und +schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was einen dabei aber am meisten +ärgert, ist nicht, daß sie so viel lügen. Lügen kann man immer +entschuldigen, Lügen ist ein gutes Ding, wenn es zur Wahrheit führt. +Aber das ist ärgerlich, daß sie lügen und an ihre eigenen Lügen +unerschütterlich glauben. Ich achte Porphyri, aber ... Was hat sie zum +Beispiel ganz am Anfang aus dem Konzept gebracht? Die Türe war +verschlossen, und als sie später mit dem Hausknecht kamen, war sie +offen, also haben Koch und Pestrjakoff gemordet! Siehst du, so ist ihre +Logik!« + +»Rege dich doch nicht auf; man hat sie einfach eine kurze Zeit in Haft +behalten, man kann doch nicht ... Nebenbei gesagt, ich habe diesen Koch +irgendwo kennengelernt. Es hat sich herausgestellt, daß er von der Alten +verfallene Pfandobjekte ankaufte?« + +»Ja, er ist ein Gauner! Er kauft auch Wechsel auf. Ein dunkler +Ehrenmann. Aber hol ihn der Teufel! Versteh mich doch, worüber ich mich +am meisten ärgere. Über ihre veraltete, sinnlose, verkehrte Methode +ärgere ich mich ... Hier aber, in dieser Sache allein, muß man einen +ganz neuen Weg entdecken. Nach den psychologischen Momenten allein kann +man schon zeigen, wie die richtige Spur gefunden werden soll. Wir haben +Indizien, sagen sie! Ja, aber Indizien ist doch nicht alles; wenigstens +die Hälfte der Sache besteht darin, wie man mit den Indizien umzugehen +versteht!« + +»Und verstehst du mit den Indizien umzugehen?« + +»Man kann aber doch nicht schweigen, wenn man fühlt, handgreiflich +fühlt, daß man der Sache nützen könnte, wenn ... Ach! ... Kennst du die +Sache ausführlich?« + +»Ich warte darauf, über den Anstreicher zu hören.« + +»Ach ja! Höre also die Geschichte, -- genau am dritten Tage nach dem +Morde, am Morgen, als sie sich noch mit Koch und Pestrjakoff abgaben, -- +obwohl die jeden ihrer Schritte nachgewiesen hatten, alles war schreiend +klar, -- wird plötzlich ein ganz unerwartetes Faktum offenbar. Ein +gewisser Duschkin, ein Bauer, Besitzer einer Kneipe gerade gegenüber +jenem Hause, erscheint in dem Polizeibureau, bringt ein Etui mit +goldenen Ohrgehängen mit und erzählt eine ganze Geschichte. >Vorgestern +abend ungefähr nach acht Uhr,< -- merk du dir Tag und Stunde! -- >kommt +zu mir ein Arbeiter, ein Anstreicher, Nikolai, der auch schon früher im +Laufe des Tages dagewesen war, und bringt mir dieses Kästchen mit +goldenen Ohrgehängen und mit den Steinen und bittet, ihm zwei Rubel +darauf zu leihen; auf meine Frage aber, woher er sie habe, erklärte er +mir, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte. Mehr habe ich ihn nicht +ausgefragt,< das alles sagt Duschkin, >sondern gab ihm einen Schein,< +das heißt also einen Rubel, >denn ich dachte, wenn ich sie nicht nehme, +versetzt er sie bei einem anderen, und wird das Geld sowieso vertrinken. +Mögen besser die Sachen bei mir liegen; sollte sich aber etwas zeigen +oder sollten Gerüchte auftauchen, bringe ich sie zur Polizei.< +Selbstverständlich schwindelt er, lügt wie ein Pferd, denn ich kenne +diesen Duschkin, er ist selbst Pfandleiher, schafft Gestohlenes zur +Seite und hat dem Nikolai das Ding, das dreißig Rubel wert ist, nicht +abgeluchst, um es zur Polizei zu bringen. Er hat einfach Angst bekommen. +Hol' ihn der Teufel! -- höre weiter,« fuhr Rasumichin fort: »>Ich kenne +ihn, den Nikolai Dementjeff von klein auf,< erzählt Duschkin weiter, >er +stammt aus demselben Rjasanschen Gouvernement wie ich, und aus demselben +Kreise. Nikolai ist kein Säufer, trinkt aber doch hin und wieder eins, +und ich wußte, daß er in jenem Hause mit Dmitri arbeitet, denn Dmitri +stammt auch aus derselben Gegend. Als er von mir den Schein erhalten +hatte, wechselte er ihn sofort, trank auf einmal zwei Gläschen, nahm den +Rest des Geldes und ging seiner Wege, Dmitri war aber damals nicht mit +ihm. Am anderen Tage hörte ich, daß Aljona Iwanowna und ihre Schwester +Lisaweta mit einem Beile erschlagen sind, -- ich habe sie gekannt, -- +und da packten mich Zweifel wegen der Ohrgehänge, denn mir war es +bekannt, daß die Verstorbene Geld gegen Pfand auslieh. Ich ging hinüber +und begann vorsichtig und still auszuhorchen und zu allererst frug ich, +ob Nikolai da sei! Dmitri erzählte mir, daß Nikolai zu trinken +angefangen habe, er wäre bei Tagesanbruch betrunken nach Hause gekommen, +ungefähr zehn Minuten dageblieben und wieder fortgegangen; Dmitri habe +ihn nicht mehr gesehen und beende die Arbeit allein. Sie arbeiteten aber +im zweiten Stock desselben Hauses, in dem die Ermordeten lebten. Als ich +dies hörte, habe ich niemanden etwas davon mitgeteilt,< sagte Duschkin, +>ich versuchte vielmehr alles über die Ermordung in Erfahrung zu bringen +und bin mit denselben Zweifeln nach Hause zurückgekehrt. Heute morgen +nun gegen acht Uhr,< das heißt, am dritten Tage, verstehst du? >sehe ich +Nikolai hereinkommen, nicht nüchtern, aber auch nicht ganz betrunken, so +daß er ganz gut ausgehört werden konnte. Er setzt sich auf eine Bank und +schweigt. Außer ihm war in der Kneipe zu der Zeit noch ein fremder +Mensch da, auf einer Bank schlief ein anderer, ein Bekannter von mir, +auch die zwei Laufjungens waren zur Stelle. Hast du Dmitri gesehen, +fragte ich ihn. -- Nein, sagte er, ich habe ihn nicht gesehen. -- Und +warst du auch nicht bei ihm? -- Nein, antwortete er, seit vorgestern war +ich nicht bei ihm. -- Und wo hast du die Nacht geschlafen? -- Bei +Bekannten auf den Peßki. -- Und woher, fragte ich, hast du die +Ohrgehänge genommen? -- Ich habe sie auf dem Trottoir gefunden, -- und +er sagte es so, als sei es nicht wahr, und ohne mich anzublicken. -- +Hast du auch gehört, fragte ich ihn, daß dies und dies, und erzählte ihm +nun die Geschichte, am selben Abend und zur selben Stunde auf jener +Treppe geschehen ist? -- Nein, sagte er, ich habe nichts gehört. -- Er +hörte mit weit aufgerissenen Augen auf das, was ich ihm erzählte, und +ward plötzlich weiß wie Kalk. Ich erzähle weiter, siehe da, er nimmt +seine Mütze und will aufstehen. Da wollte ich ihn festhalten und sage, +warte ein wenig, Nikolai, willst du nicht eins trinken? Ich gab einem +Jungen ein Zeichen, daß er die Tür zuhalten soll, und kam hinter dem +Ladentisch hervor, er aber springt auf, stürzt auf die Straße und läuft +um die Ecke, -- weg war er. Da verlor ich meine Zweifel, es ist sein +Werk, sein Verbrechen ...<« + +»Sicher! ...« sagte Sossimoff. + +»Warte! Höre zu Ende! Selbstverständlich beeilte man sich schleunigst, +Nikolai zu finden; Duschkin wurde verhaftet und Haussuchung bei ihm +gehalten, Dmitri sperrte man auch ein; die Bekannten von Nikolai, bei +denen er die letzte Nacht geschlafen hat, wurden gleichfalls hergenommen +-- und vorgestern brachte man Nikolai selbst; man hatte ihn in der Nähe +des N.schen Schlagbaums in einer Spelunke aufgefangen. Er war dorthin +gekommen, hatte sein silbernes Kreuz vom Halse genommen und ein Glas +Schnaps dafür verlangt. Man hatte es ihm auch gegeben. Nach einer Weile +ging die Frau in den Kuhstall und sah durch eine Ritze, daß Nikolai in +der Scheune nebenan an einen Balken seinen Gürtel gebunden hatte und +eine Schlinge gemacht hatte; dann stieg er auf einen Klotz und wollte +die Schlinge um den Hals legen; die Frau schrie aus vollem Halse, und +man lief zusammen. -- >Du bist so einer!< -- >Führt mich,< sagte er, +>auf das Polizeibureau, ich will alles bekennen.< Nun, man schaffte ihn +mit den gehörigen Ehrenbezeigungen in das Polizeibureau, das heißt +hierher. Allerhand Fragen wurden ihm dort gestellt, wer, woher, wie alt +-- >zweiundzwanzig< und dergleichen. Frage: >Als du und Dmitri +arbeitetet, habt ihr nicht jemand auf der Treppe in der und der Stunde +gesehen?< Antwort: >Gewiß sind Menschen vorbeigegangen, aber wir haben +sie uns nicht gemerkt.< >Habt ihr nicht Lärm oder ähnliches gehört?< +>Wir haben nichts besonderes gehört.< >Wußtest du aber, Nikolai, daß am +selben Tage die Witwe so und so an diesem Tage und zu der und der Stunde +mit ihrer Schwester ermordet und beraubt wurde?< >Ich habe gar nichts +gewußt, zum ersten Male hörte ich davon in der Kneipe am dritten Tage +von Afanassi Pawlowitsch.< >Und woher hast du die Ohrgehänge?< >Ich habe +sie auf dem Trottoir gefunden.< >Warum bist du am anderen Tage nicht mit +Dmitri zur Arbeit gekommen?< >Weil ich angefangen hatte zu bummeln.< +>Und wo hast du gebummelt?< >Ja, dort und dort.< >Warum liefst du von +Duschkin weg?< >Weil ich große Angst bekam.< >Warum bekamst du Angst?< +>Daß man mich verhören wird.< >Wie konntest du denn davor Angst +bekommen, wenn du dich vollkommen unschuldig fühlst??< ... Nun, glaub +oder glaub mir nicht, Sossimoff, diese Frage wurde gestellt und +buchstäblich mit diesen Worten, ich weiß es bestimmt, man hat es mir +genau mitgeteilt! Wie findest du das? Wie findest du das?« + +»Aber, es existieren doch Beweise.« + +»Ich spreche jetzt nicht von den Beweisen, sondern von der +Fragestellung, darüber, wie sie ihre Aufgabe auffassen! Aber, zum Teufel +damit! ... Also sie haben so lange gepreßt und gequetscht, bis er +bekannte, >ich habe sie,< sagte er, >nicht auf dem Trottoir, sondern in +der Wohnung gefunden, wo ich mit Dmitri arbeitete.< >Wie verhält sich +denn das?< >Wir arbeiteten den ganzen Tag bis acht Uhr und wollten schon +nach Hause gehen, da nahm Dmitri einen Pinsel, schmierte mir in die +Fratze Farbe und lief davon und ich ihm nach. Und ich lief hinter ihm +her und schrie aus vollem Halse; wie ich aber von der Treppe unter den +Torweg kam, stieß ich im vollen Laufe mit dem Hausknecht und einigen +Herren zusammen, -- wieviel Herren es waren, erinnere ich mich nicht, +der Hausknecht schimpfte mich aus, auch der andere Hausknecht schimpfte +mich, die Frau des Hausknechtes kam heraus und schimpfte; ein Herr, der +mit einer Dame durch den Torweg kam, schimpfte auch, weil ich und Dmitri +quer im Wege lagen, -- ich hatte Dmitri an den Haaren gepackt, ihn +hingeworfen und versetzte ihm Püffe, Dmitri hatte, unter mir liegend, +mich auch an den Haaren und puffte mich, wir taten es nicht im Ernst, +sondern in aller Freundschaft, im Scherze. Dmitri machte sich von mir +los und lief auf die Straße, ich lief ihm nach, holte ihn aber nicht ein +und ging in die Wohnung allein zurück, -- es mußte noch aufgeräumt +werden. Ich begann das Werkzeug zu sammeln und wartete auf Dmitri, +vielleicht kommt er noch. Und bei der Türe im Vorzimmer, an der Wand, in +einem Winkel, trat ich auf ein Kästchen. Ich sehe, es liegt da, +eingeschlagen in Papier. Das Papier nahm ich ab und sah solche ganz +winzige Häkchen, ich machte sie auf und im Kästchen lagen die Ohrgehänge +...<« + +»Hinter der Tür? Hinter der Tür lag es? Hinter der Tür?« rief plötzlich +Raskolnikoff, sah Rasumichin mit einem trüben, erschreckten Blick an und +erhob sich langsam, sich mit der Hand stützend, vom Sofa. + +»Ja ... aber was ist denn los? Was ist mit dir? Was hast du?« Rasumichin +erhob sich auch von seinem Platze. + +»Nichts! ...« antwortete kaum hörbar Raskolnikoff, sank wieder auf das +Kissen zurück und wandte sich von neuem zu der Wand. + +Alle schwiegen eine Weile. + +»Er war wahrscheinlich eingeschlummert, noch halb im Schlafe,« sagte +endlich Rasumichin und blickte Sossimoff fragend an; jener machte eine +leichte verneinende Bewegung mit dem Kopfe. + +»Na, fahr fort,« sagte Sossimoff, »was weiter?« + +»Ja, was weiter? Als er die Ohrgehänge erblickte, vergaß er sofort die +Wohnung und Dmitri, nahm seine Mütze und lief zu Duschkin hin und +erhielt von ihm, wie es dir bekannt ist, einen Rubel, ihm log er aber +vor, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte, und fing sofort an zu +bummeln. Von dem Morde aber bestätigt er das früher gesagte: >Ich weiß +von gar nichts, habe es erst am dritten Tage gehört!< >Und warum bist du +bis jetzt nicht gekommen?< >Vor Angst.< >Und warum wolltest du dich +erhängen?< >Vor lauter Gedanken.< >Was für Gedanken?< >Daß man mich +verurteilen würde.< Nun, das ist die ganze Geschichte. Jetzt, was meinst +du, daß sie daraus gefolgert haben?« + +»Ja, was ist da zu denken, es ist eine Spur, wenn sie auch unbedeutend +ist, so ist es doch eine Spur. Eine Tatsache. Soll man deinen +Anstreicher etwa in Freiheit setzen?« + +»Ja, sie halten ihn jetzt einfach für den Mörder! Sie haben keinen +Zweifel mehr ...« + +»Das geht zu weit, du bist hitzig. Nun aber die Ohrgehänge? Du mußt doch +selbst zugeben, -- wenn am selben Tage und zur selben Stunde die +Ohrgehänge aus dem Kasten der Alten in die Hände von Nikolai geraten, -- +daß sie in irgendeiner Weise zu ihm hingekommen sein müssen? Das hat +doch nicht wenig zu sagen bei solch einer Untersuchung.« + +»Wie hingekommen! Wie sie hingekommen sind?« rief Rasumichin aus. »Und +du als Arzt, du, der vor allen Dingen verpflichtet ist, den Menschen zu +studieren und der Gelegenheit hat, eher als jeder andere, die +menschliche Natur kennenzulernen, -- kannst du denn nicht nach all +diesen gegebenen Anzeichen sehen, was für eine Natur dieser Nikolai ist? +Kannst du denn nicht auf den ersten Blick sehen, daß alles, was er bei +den Verhören ausgesagt hat, die heiligste Wahrheit ist? Sie sind genau +so in seine Hände geraten, wie er ausgesagt hat. Er ist auf ein Kästchen +getreten und hat es aufgehoben.« + +»Heiligste Wahrheit! Er hat aber doch selbst eingestanden, daß er das +erstemal gelogen hat?« + +»Höre mich an, höre aufmerksam zu, -- der Hausknecht, Koch und +Pestrjakoff, auch der andere Hausknecht, die Frau des ersten +Hausknechtes und eine Bekannte von ihr, die zur selben Zeit in der +Wohnung des Hausknechtes saßen, und der Hofrat Krjukoff, der in +demselben Augenblick aus einer Droschke gestiegen und mit einer Dame Arm +in Arm durch den Torweg gegangen war, -- alle, also acht oder zehn +Zeugen, sagen einstimmig aus, daß Nikolai den Dmitri zu Boden gedrückt, +auf ihm lag und ihn schlug, und daß jener ihn an den Haaren gepackt +hatte und ebenso auf ihn schlug. Sie liegen beide quer im Wege und +versperren den Durchgang; sie werden von allen geschimpft und sie liegen +da, wie >kleine Kinder< aufeinander (buchstäblicher Ausdruck der +Zeugen), kreischen, prügeln sich und lachen, lachen beide um die Wette, +mit den komischsten Fratzen und laufen auf die Straße, gleich Kindern, +hinaus einander zu fangen. Hast du gehört? Nun merke dir jetzt, -- oben +liegen die Körper noch warm, hörst du, noch warm, so fand man sie! Wenn +sie oder auch Nikolai nur allein, gemordet und dabei den Kasten +aufgebrochen und geraubt hätten oder auch nur einigermaßen an dem Raube +beteiligt gewesen wären, erlaube mir nur die eine Frage dir vorzulegen, +-- ist solch eine seelische Stimmung, das heißt, Kreischen, Lachen, +kindisches Prügeln in dem Torwege -- mit Beilen, Blut, mit +verbrecherischer Schlauheit, Vorsicht, Raub vereinbar? Sie haben soeben +noch vor fünf oder zehn Minuten gemordet, -- denn es muß so stimmen, die +Körper waren ja noch warm -- und plötzlich lassen sie die Leichen liegen +und die Wohnung offen, wobei sie wissen, daß soeben Menschen dorthin +gegangen sind, kümmern sich nicht um die Beute und wälzen sich wie +kleine Kinder auf dem Wege, lachen und lenken die allgemeine +Aufmerksamkeit auf sich -- und dies alles bezeugen einstimmig zehn +Zeugen!« + +»Sicher ist es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch unmöglich, +aber ...« + +»Nein, Bruder, es gibt kein aber, -- sondern wenn die Ohrgehänge, die +zur selben Stunde und am selben Tage in Nikolais Hände geraten sind, +tatsächlich einen wichtigen ihn belastenden Beweis ausmachen, -- der +jedoch durch seine Aussagen einfach erklärt wird, also noch ein +_strittiger Beweis ist_, -- muß man doch auch die entlastenden Tatsachen +in Erwägung ziehen und um so mehr, als dies _unwiderlegbare_ Tatsachen +sind. Und glaubst du wohl, nach der Art unserer Jurisprudenz, daß sie +dies anerkennen wird, oder daß sie fähig ist, solch eine Tatsache, -- +die ausschließlich auf rein psychologischer Unmöglichkeit, nur auf +seelischer Stimmung allein begründet ist, -- als eine unanfechtbare und +alle belastenden und sachlichen Momente, wie sie auch sein mögen, +widerlegende Tatsache anzuerkennen? Nein, sie werden es nicht +anerkennen, keineswegs, denn man hat das Kästchen gefunden, werden sie +sagen, und der Mensch wollte sich erhängen, -- >was nicht geschehen +könnte, wenn er sich nicht schuldig fühlte<. Das ist die Hauptfrage, +darum ereifere ich mich auch! Verstehe es doch!« + +»Ja, ich sehe es auch, daß du dich ereiferst. Warte, ich vergaß dich zu +fragen, wodurch ist es nachgewiesen, daß das Kästchen mit den +Ohrgehängen tatsächlich von der Alten stammt?« + +»Das ist nachgewiesen,« antwortete Rasumichin mit gerunzelten +Augenbrauen und anscheinend mit Unlust. »Koch hat das Ding erkannt und +den Pfandgeber genannt, und dieser hat bewiesen, daß die Ohrgehänge ihm +gehören.« + +»Das ist schlimm. Jetzt noch eins, -- hat jemand Nikolai gesehen, als +Koch und Pestrjakoff allein hinaufgingen, und kann man es nicht +irgendwie beweisen?« + +»Das ist es ja, daß niemand ihn gesehen hat,« antwortete Rasumichin +ärgerlich, -- »das ist ja das Schlimme; sogar Koch und Pestrjakoff haben +Nikolai und Dmitri nicht bemerkt, als sie hinaufgingen, obgleich ihr +Zeugnis jetzt nicht viel bedeuten würde. >Wir haben gesehen,< sagen sie, +>daß die Wohnung offen war, daß man darin wahrscheinlich arbeitete, aber +wir haben im Vorübergehen nicht darauf geachtet und erinnern uns nicht +genau, ob in dem Momente dort Arbeiter waren oder nicht.<« + +»Hm. Also gibt es nur eine einzige Rechtfertigung: die, daß sie einander +Püffe versetzt und gelacht haben. Angenommen, dies ist ein starker +Beweis, aber ... Erlaube mal, wie erklärst du selbst den ganzen Vorgang? +Wodurch willst du den Fund der Ohrgehänge erklären, wenn er sie +tatsächlich so gefunden hat, wie er angibt?« + +»Wie ich es erkläre? Ja, was ist da zu erklären, die Sache ist klar. +Wenigstens der Weg, den man bei dieser Sache gehen muß, ist klar und +bewiesen, und gerade das Kästchen hat ihn gezeigt. Der wirkliche Mörder +hat die Ohrgehänge verloren. Der Mörder war oben, als Koch und +Pestrjakoff klopften, und saß eingeschlossen dort. Koch machte die +Dummheit und ging nach unten, da sprang der Mörder heraus und lief +ebenfalls nach unten, denn er hatte keinen anderen Ausweg. Auf der +Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakoff und dem Hausknecht in +der leeren Wohnung, und zwar in dem Augenblicke, als Dmitri und Nikolai +herausgelaufen waren; er stand hinter der Türe, als der Hausknecht und +die anderen nach oben gingen, wartete bis die Schritte verhallten und +ging in aller Seelenruhe hinunter, genau im selben Augenblicke, als +Dmitri und Nikolai auf die Straße gelaufen waren, alles fort und niemand +im Torwege war. Vielleicht hat man ihn auch gesehen, aber nicht +beachtet; es gehen ja nicht wenige Menschen dort aus und ein. Und das +Kästchen ist ihm aus der Tasche gefallen, als er hinter der Tür stand, +und er hat es nicht gemerkt, denn er mußte an anderes denken. Das +Kästchen aber beweist klar, daß er dort gestanden hat. So ist die ganze +Sache!« + +»Das ist schlau. Nein, Bruder, das ist sehr schlau. Das ist zu schlau!« + +»Aber warum denn, warum?« + +»Ja, weil alles viel zu glücklich verlief ... und sich gestaltete ... +wie auf dem Theater.« + +»Ach,« rief Rasumichin und wollte fortfahren, aber in diesem Augenblicke +öffnete sich die Tür und es trat eine neue, von keinem der Anwesenden +gekannte Person herein. + + + V. + +Es war ein Herr, nicht mehr jung, geziert, würdevoll, mit einem +lauernden und verdrießlichen Gesichte; er begann damit, daß er an der +Tür stehen blieb und sich mit unverkennbar beleidigtem Erstaunen +umblickte, als ob er fragen würde: »wohin bin ich denn geraten?« +Mißtrauisch, mit dem Ausdruck eines affektierten Überraschtseins, fast +eines Schreckens, sah er sich in Raskolnikoffs enger und niedriger +»Schiffskajüte« um. Mit gleichem Erstaunen richtete er seine Blicke auf +Raskolnikoff selbst, der entkleidet, ungekämmt und ungewaschen auf +seinem unansehnlichen, schmutzigen Sofa lag und ihn ebenso unverwandt +betrachtete. Dann begann er mit gleicher Bedächtigkeit die abgerissene, +unrasierte und ungekämmte Gestalt Rasumichins zu betrachten, der +seinerseits ihm frech und fragend direkt in die Augen blickte, ohne sich +von seinem Platze zu rühren. Das gespannte Schweigen dauerte etwa eine +Minute und endlich trat, wie man es auch erwarten konnte, ein kleiner +Stimmungswechsel ein. Nachdem der eingetretene Herr wahrscheinlich aus +gewissen, übrigens sehr deutlichen Anzeichen entnommen hatte, daß mit +einer herrischen Miene hier in dieser »Schiffskajüte« nichts zu wollen +sei, wurde er etwas freundlicher und sagte höflich, obgleich nicht ohne +eine gewisse Strenge, indem er sich an Sossimoff wandte und jede Silbe +seiner Frage betonte: »Rodion Romanytsch Raskolnikoff, Herr Student oder +ehemaliger Student?« + +Sossimoff rührte sich ein wenig und hätte auch vielleicht geantwortet, +wenn Rasumichin, an den die Worte gar nicht gerichtet waren, ihm nicht +zuvorgekommen wäre. + +»Da liegt er auf dem Sofa! Und was wollen Sie?« Dieses familiäre »Und +was wollen Sie?« traf den gezierten Herrn wie ein Hieb, und fast hätte +er sich zu Rasumichin umgewandt, aber er hielt sich noch rechtzeitig +zurück und wandte sich schnell wieder an Sossimoff. + +»Da ist Raskolnikoff!« brummte Sossimoff und wies auf den Kranken hin, +dann gähnte er, wobei er ungewöhnlich weit seinen Mund aufsperrte und +ihn ungewöhnlich lange in dieser Lage behielt. Dann bewegte er die Hand +langsam zu der Westentasche, zog eine riesige, dicke, goldene Uhr +hervor, öffnete den Deckel, sah nach und steckte sie ebenso langsam und +träge wieder ein. + +Raskolnikoff selbst lag die ganze Zeit schweigend auf dem Rücken und +blickte unverwandt, scheinbar gedankenlos, den Eingetretenen an. Sein +Gesicht, das er jetzt von der interessanten Blume in der Tapete +abgewandt hatte, war außerordentlich bleich und drückte ein +ungewöhnliches Leiden aus, als hätte er soeben eine qualvolle Operation +durchgemacht, oder als hätte er eine Tortur hinter sich. Der +eingetretene Herr aber begann allmählich seine Aufmerksamkeit mehr und +mehr zu erregen, es tauchten in ihm Zweifel, Mißtrauen und sogar +anscheinend Furcht auf. Als aber Sossimoff auf ihn hinwies und »da ist +Raskolnikoff« sagte, erhob er sich schnell, wie auffahrend, setzte sich +auf sein Bett und sagte mit fast herausfordernder, aber schwankender und +schwacher Stimme: + +»Ja. Ich bin Raskolnikoff! Was wollen Sie?« + +Der Besucher blickte ihn aufmerksam an und sagte mit Betonung: + +»Peter Petrowitsch Luschin. Ich habe die sichere Hoffnung, daß mein Name +Ihnen nicht ganz unbekannt sei.« + +Raskolnikoff aber, der etwas ganz anderes erwartet hatte, blickte ihn +stumpf und nachdenklich an und antwortete nichts, als ob er Peter +Petrowitschs Namen entschieden zum erstenmal höre. + +»Wie? Haben Sie bis jetzt noch keine Nachrichten über mich erhalten?« +fragte Peter Petrowitsch mit einer Bewegung unangenehmer Überraschung. + +Anstatt zu antworten, ließ sich Raskolnikoff langsam auf das Kissen +nieder, steckte die Hände unter den Kopf und begann die Zimmerdecke zu +betrachten. Eine bedrückte Stimmung zeigte auf Luschins Gesicht starke +Betroffenheit. Sossimoff und Rasumichin fingen an, ihn mit noch größerer +Neugierde anzusehen, und er wurde sichtlich verlegen. + +»Ich nahm an und rechnete bestimmt darauf,« murmelte er, »daß der Brief, +der schon vor mehr als zehn Tagen, vielleicht sogar vor vierzehn Tagen +abgesandt ist ...« + +»Hören Sie mal, was sollen Sie denn die ganze Zeit an der Türe stehen?« +unterbrach ihn Rasumichin, »wenn Sie etwas mitzuteilen haben, setzen Sie +sich doch, für Sie und Nastasja ist es dort zu eng. Nastasja, mach mal +Platz, laß ihn durchgehen! Kommen Sie hierher, da haben Sie einen Stuhl! +Kriechen Sie hier durch!« + +Er rückte seinen Stuhl von dem Tische ab, machte zwischen dem Tisch und +seinen Knien einen Durchgang frei und wartete in dieser unbequemen +Stellung, bis der Gast durch diesen Spalt »hindurchkriechen« würde. Der +Moment war so gewählt, daß man nicht gut ablehnen konnte, und der +Besucher kroch durch den engen Durchgang, sich beeilend und stolpernd, +hindurch. Als er den Stuhl erreicht hatte, setzte er sich und blickte +Rasumichin argwöhnisch an. + +»Seien Sie übrigens nicht verlegen,« platzte dieser hervor. »Rodja ist +schon den fünften Tag krank und hat drei Tage phantasiert, jetzt aber +ist er zu sich gekommen und hat sogar mit Appetit gegessen. Dort sitzt +sein Arzt, er hat ihn soeben untersucht, und ich bin Rodjas Kamerad, +auch ein ehemaliger Student, und pflege ihn nun; also, achten Sie nicht +auf uns und genieren Sie sich nicht, fahren Sie nur fort und sagen Sie, +was Sie zu sagen haben.« + +»Ich danke Ihnen. Werde ich aber nicht durch meine Anwesenheit und mit +meinem Gespräch den Kranken aufregen?« wandte sich Peter Petrowitsch an +Sossimoff. + +»N--nein,« sagte Sossimoff langsam, »Sie können ihn vielleicht +zerstreuen.« + +Und er gähnte wieder. + +»Oh, er ist schon lange bei Besinnung, seit heute morgen!« fuhr +Rasumichin fort, dessen Familiarität den Stempel solch einer +unverfälschten Treuherzigkeit trug, daß Peter Petrowitsch allmählich +seine Fassung wiedergewann, zum Teil wohl auch darum, weil dieser +zerlumpte und freche Mensch sich als Student vorgestellt hatte. + +»Ihre Frau Mutter ...« begann Luschin. + +»Hm!« äußerte sich Rasumichin vernehmlich. + +Luschin blickte ihn fragend an. + +»Das hat nichts zu sagen, ich tat es nur so; fahren Sie fort ...« + +Luschin zuckte die Achseln. + +»... Ihre Frau Mutter begann noch während meiner Anwesenheit dort einen +Brief an Sie. Nachdem ich hier eingetroffen war, ließ ich absichtlich +einige Tage vergehen und kam nicht gleich zu Ihnen, um ganz gewiß zu +sein, daß Sie von allem unterrichtet sind, jetzt aber zu meinem +Erstaunen ...« + +»Ich weiß, ich weiß!« sagte plötzlich Raskolnikoff mit dem Ausdrucke des +ungeduldigsten Ärgers. »Sie sind es? Der Bräutigam? Nun, ich weiß ... +und genug!« + +Peter Petrowitsch fühlte sich entschieden beleidigt, aber er schwieg. Er +dachte eifrig nach, was dieses alles zu bedeuten habe. Es herrschte ein +minutenlanges Schweigen. + +Indessen begann Raskolnikoff, der sich bei seiner Antwort nur ein wenig +ihm zugekehrt hatte, ihn von neuem aufmerksam und mit einer gewissen +Neugier anzusehen, als hätte er vorhin nicht Zeit gefunden, ihn ganz zu +betrachten oder als wäre ihm etwas Neues an ihm aufgefallen; er erhob +sich zu dem Zwecke sogar absichtlich von dem Kissen. In dem ganzen +Aussehen von Peter Petrowitsch lag wirklich etwas Besonderes, und zwar +etwas, das die Bezeichnung »Bräutigam,« die ihm soeben so ungeniert +zugeteilt wurde, zu rechtfertigen schien. Man konnte sehen, und zwar +ziemlich deutlich, daß Peter Petrowitsch sich sehr beeilt hatte, die +paar Tage seines Aufenthaltes in der Residenz auszunutzen, um sich in +Erwartung der Braut neu auszustaffieren und zu verschönern, was gewiß +sehr unschuldig und statthaft war. Sogar die eigentümliche, vielleicht +ein wenig zu ausgeprägte Selbstzufriedenheit über seine angenehme +Veränderung konnte in diesem Falle verzeihlich erscheinen, denn Peter +Petrowitsch war ja in dem Stande eines Bräutigams. Seine ganze Kleidung +war soeben vom Schneider gekommen und alles war gut, nur daß eben alles +zu neu war und zu sehr den bestimmten Zweck verriet. Auch der elegante, +nagelneue, runde Hut deutete auf diesen Zweck hin, -- Peter Petrowitsch +behandelte ihn zu ehrerbietig und hielt ihn mit zu großer Vorsicht in +Händen. Auch das reizende Paar Handschuhe von heller lila Farbe bezeugte +das, wenn auch nur damit, daß man sie nicht anzog, sondern in der Hand +hielt. Helle und jugendliche Farben herrschten in Peter Petrowitschs +Kleidung vor. Er hatte ein sehr hübsches Sommerjackett von hellbrauner +Farbe an, helle leichte Beinkleider, ebensolch eine Weste, neugekaufte +feine Wäsche, eine leichte Krawatte aus Batist mit rosa Streifen, und +das allerbeste war dabei, daß alles Peter Petrowitsch sehr gut kleidete. +Sein Gesicht, sehr frisch und sogar hübsch, schien auch ohnedem jünger +als fünfundvierzig Jahre. Ein dunkler Backenbart umrahmte es zu beiden +Seiten und verdichtete sich ziemlich hübsch um das glänzende, vorzüglich +rasierte Kinn. Auch die Haare, übrigens nur stellenweise und kaum +bemerkbar grau, waren von einem Friseur gekämmt und gekräuselt, +erhielten aber dadurch nichts Lächerliches oder gaben ein dummes +Aussehen, was gewöhnlich bei gekräuselten Haaren der Fall ist, weil es +dem Gesichte eine unvermeidliche Ähnlichkeit mit einem Deutschen, der +zum Altar schreitet, verleiht. Wenn in diesem ziemlich hübschen und +soliden Gesichte etwas tatsächlich Unangenehmes und Abstoßendes war, so +hatte dies einen anderen Grund. Nachdem Raskolnikoff Herrn Luschin +ungeniert betrachtet hatte, lächelte er sarkastisch, ließ sich wieder +auf das Kissen nieder und begann, wie früher, die Zimmerdecke anzusehen. + +Herr Luschin aber nahm sich zusammen und schien entschlossen zu sein, +diese Sonderbarkeiten vorläufig nicht zu beachten. + +»Ich bedauere sehr, sehr, Sie in solch einer Lage zu finden,« begann er +von neuem, mit Mühe das Schweigen brechend. »Wenn ich von Ihrem +Unwohlsein gewußt hätte, wäre ich früher gekommen. Aber, wissen Sie, die +Plackereien ... Ich habe außerdem eine sehr wichtige Angelegenheit im +Senat, in meiner Eigenschaft als Advokat. Ich erwähne nicht die Sorgen, +die auch Sie erraten können. Die Ihrigen, das heißt Ihre Frau Mutter und +Schwester, erwarte ich stündlich ...« + +Raskolnikoff machte eine Bewegung und wollte etwas sagen; sein Gesicht +drückte eine gewisse Erregung aus. Peter Petrowitsch hielt in Erwartung +inne, aber da nichts erfolgte, fuhr er fort: »... Stündlich. Ich habe +ihnen fürs erste eine Wohnung gesucht ...« + +»Wo?« fragte leise Raskolnikoff. + +»Gar nicht weit von hier, im Hause von Bakalejeff.« + +»Das ist auf dem Wosnesensky-Prospekt,« unterbrach ihn Rasumichin, »dort +sind zwei Stockwerke, als möblierte Zimmer eingerichtet; der Kaufmann +Juschin ist Inhaber; ich bin dort gewesen.« + +»Ja, es sind möblierte Zimmer ...« + +»Es ist fürchterlich dort; Schmutz, Gestank und ein verdächtiger Ort +auch; mancherlei ist da vorgefallen. Ja, und weiß der Teufel, was da +nicht alles wohnt! ... Ich selbst bin dort aus einem skandalösen Grunde +gewesen. Übrigens ist es billig.« + +»Ich konnte selbstverständlich nicht soviel erfahren, da ich selbst vor +kurzem angekommen bin,« antwortete Peter Petrowitsch empfindlich, »es +sind übrigens zwei sehr, sehr saubere kleine Zimmer, und da es auf eine +sehr kurze Zeit nur ist ... Ich habe schon eine wirkliche, das heißt +unsere künftige Wohnung gefunden,« wandte er sich an Raskolnikoff, »und +jetzt wird sie instand gesetzt; unterdessen aber behelfe ich mich auch +selbst mit einem möblierten Zimmer, zwei Schritte von hier, bei Frau +Lippewechsel, in der Wohnung eines jungen Freundes von mir, Andrei +Ssemenytsch Lebesjätnikoff; er hat auch mir das Haus von Bakalejeff +empfohlen ...« + +»Lebesjätnikoff?« sagte langsam Raskolnikoff, als ob er sich auf etwas +besinne. + +»Ja, Andrei Ssemenytsch Lebesjätnikoff, er ist im Ministerium +angestellt. Kennen Sie ihn?« + +»Ja ... nein ...« antwortete Raskolnikoff. + +»Entschuldigen Sie, mir scheint es so nach Ihrer Frage. Ich war einmal +sein Vormund ... ein sehr lieber junger Mann ... und mit Interessen ... +Und ich bin froh, mit der Jugend zusammenzukommen; durch sie erfährt man +alles Neue ...« + +Peter Petrowitsch blickte erwartungsvoll alle Anwesenden an. + +»Wie meinen Sie das?« fragte Rasumichin. + +»Nun, im besten Sinne des Wortes,« sagte Peter Petrowitsch, als wäre er +über die Frage erfreut. »Ich war, sehen Sie, seit zehn Jahren nicht mehr +in Petersburg. Alle unsere Neuerungen, Reformen und Ideen, dies alles +hat auch uns in der Provinz erreicht, aber um klarer zu sehen und um +alles zu sehen, muß man in Petersburg sein. Nun, und meine Meinung ist, +daß man am meisten bemerkt und erfährt, indem man unsere jüngere +Generation beobachtet. Und offen gestanden, ich bin erfreut ...« + +»Worüber denn?« + +»Ihre Frage ist zu umfassend. Ich kann mich irren, aber es scheint mir, +ich finde einen klareren Blick, sozusagen mehr Kritik, mehr Tüchtigkeit +...« + +»Das ist wahr,« sagte gelassen Sossimoff. + +»Du lügst, Tüchtigkeit ist nicht da,« mischte sich Rasumichin ein. +»Tüchtigkeit erwirbt sich schwer und fällt nicht umsonst vom Himmel. Wir +sind aber fast seit zweihundert Jahren von jeder Arbeit entwöhnt ... Ich +gebe zu, Ideen hat man,« wandte er sich an Peter Petrowitsch, »auch +Wünsche für das Gute sind da, wenn auch kindische, auch Ehrlichkeit +findet man vor, ungeachtet dessen, daß hierher unzählige Gauner gekommen +sind, aber Tüchtigkeit gibt es doch nicht! Nur in Ausnahmefällen.« + +»Ich bin mit Ihnen nicht einverstanden,« erwiderte mit sichtbarem +Behagen Peter Petrowitsch, »sicher gibt es Übertreibung, +Unregelmäßigkeiten, aber man muß auch nachsichtig sein; Übertreibung +zeugt von Eifer für die Sache und von der unrichtigen äußeren Umgebung, +in der die Sache sich befindet. Wenn noch wenig getan ist, so war auch +die Zeit zu kurz. Von den Mitteln rede ich gar nicht. Meiner +persönlichen Auffassung nach ist sogar, wenn Sie wollen, etwas getan, -- +es sind neue nützliche Gedanken, einige neue nützliche Werke, an Stelle +der früheren schwärmerischen und romantischen, verbreitet; die Literatur +zeigt ein reiferes Gepräge; viele schädliche Vorurteile sind ausgerottet +und werden verspottet ... Mit einem Worte, wir haben uns unwiderruflich +von der Vergangenheit losgesagt, und das ist meiner Meinung nach schon +eine Tat ...« + +»Hat er das auswendig gelernt! Empfiehlt sich damit!« sagte plötzlich +Raskolnikoff. + +»Was?« fragte Peter Petrowitsch, da er nicht recht gehört hatte, aber er +erhielt keine Antwort. + +»Das ist alles wahr,« beeilte sich Sossimoff zu bemerken. + +»Ja, nicht wahr?« fuhr Peter Petrowitsch fort und blickte Sossimoff +freundlich an. »Geben Sie selbst zu,« wandte er sich an Rasumichin, +jetzt aber im Tone des Triumphes und der Überlegenheit, und beinahe +hätte er »junger Mann« hinzugefügt, »daß es einen Fortschritt oder, wie +man sich jetzt ausdrückt, einen Prozeß gibt, wenigstens in der +Wissenschaft und in den wirtschaftlichen Gesetzen ...« + +»Das ist ein Gemeinplatz!« + +»Nein, es ist kein Gemeinplatz! Wenn man mir zum Beispiel bis jetzt +sagte: >Liebe deinen Nächsten<, und ich tat es, -- was kam dabei +heraus?« fuhr Peter Petrowitsch fort, vielleicht mit zu großem Eifer. +»Es kam das heraus, daß ich meinen Rock in zwei Hälften zerriß, ihn mit +dem Nächsten teilte, und wir beide blieben halbnackt, wie nach dem +russischen Sprichworte: >Wer ein paar Hasen gleichzeitig nachjagt, fängt +keinen einzigen.< Die Wissenschaft aber sagt: >Liebe vor allem zuerst +dich selbst, denn alles in der Welt ist auf persönlichem Interesse +begründet.< Wenn man sich selbst liebt, wird man seine Angelegenheiten, +wie es sich gehört, in Ordnung bringen, und der Rock bleibt einem ganz +und heil. Die wirtschaftlichen Gesetze fügen noch hinzu, daß, je mehr es +in der Gesellschaft geordnete Privatangelegenheiten und sozusagen ganze +und heile Röcke gibt, daß sie um so mehr Grundlagen hat, und daß um so +mehr das Allgemeinwohl gefördert wird. Also, indem ich allein und +ausschließlich für mich selbst erwerbe, erwerbe ich dadurch auch für +alle und trage dazu bei, daß mein Nächster etwas mehr als einen +zerrissenen Rock erhält, und nicht mehr als Wohltat von einzelnen +Privatpersonen, sondern infolge des allgemeinen Fortschritts. Der +Gedanke ist einfach, aber zum Unglück tauchte er zu spät auf, verdeckt +durch Überschwänglichkeit und Schwärmerei, und es möchte scheinen, daß +man nicht viel Witz braucht, um darauf zu kommen ...« + +»Entschuldigen Sie, ich habe auch nicht viel Witz,« unterbrach ihn +Rasumichin schroff, »hören wir besser auf. Ich habe nur aus einem +bestimmten Zweck begonnen, sonst ist mir dies ganze Geschwätz, dieses +Sichselbst-Trösten, diese endlosen unaufhörlichen Gemeinplätze und dies +ewige Einerlei in drei Jahren so zuwider geworden, daß ich bei Gott +erröte, wenn auch andere, nicht ich bloß, in meiner Gegenwart davon +sprechen. Sie haben sich selbstverständlich beeilt, sich mit Ihren +Kenntnissen einzuführen, das ist sehr verzeihlich, und ich verurteile +Sie nicht. Ich aber wollte bloß erfahren, wer Sie sind; denn sehen Sie, +in der letzten Zeit haben sich so viel und allerhand Industrieritter an +der allgemeinen Sache angeklebt und haben alles, womit sie in Berührung +kamen, so zu ihrem Vorteil zugerichtet, daß sie entschieden die ganze +Sache beschmutzt haben. -- Nun genug davon!« + +»Mein Herr,« begann Luschin, sich mit der größten Würde aufrichtend, +»wollen Sie etwa damit ausdrücken, daß auch ich ...« + +»Oh, bitte, bitte ... Könnte ich es denn! ... Nun genug!« schnitt +Rasumichin ab und wandte sich unmittelbar an Sossimoff, um das frühere +Gespräch fortzusetzen. + +Peter Petrowitsch zeigte sich so klug, sofort der Erklärung zu glauben, +beschloß aber, nach ein paar Minuten wegzugehen. + +»Ich hoffe, daß unsere jetzt geschlossene Bekanntschaft,« wandte er sich +an Raskolnikoff, »nach Ihrer Genesung und infolge der Ihnen bekannten +Umstände sich noch mehr befestigen wird ... Besonders wünsche ich Ihnen +gute Besserung ...« + +Raskolnikoff wandte nicht mal den Kopf um. Peter Petrowitsch schickte +sich an, aufzustehen. + +»Der Mörder war sicher ein Pfandgeber!« Sossimoff stimmte zu. + +»Unbedingt ein Pfandgeber!« wiederholte Rasumichin. »Porphyri verrät +seine Gedanken nicht, aber er verhört doch die Pfandgeber ...« + +»Verhört die Pfandgeber?« fragte Raskolnikoff laut. + +»Ja, was ist denn?« + +»Nichts.« + +»Wo findet er sie denn?« fragte Sossimoff. + +»Einige hat Koch genannt; von anderen waren die Namen auf den Umschlägen +der Sachen notiert, und manche kamen von selbst, als sie hörten ...« + +»Na, das muß doch eine gewandte und erfahrene Kanaille sein! Welche +Kühnheit! Welche Entschlossenheit!« + +»Das ist es ja, daß dies nicht der Fall ist!« unterbrach Rasumichin. +»Das bringt auch alle von der Spur ab. Ich aber sage -- er war ungewandt +und unerfahren und sicher war es das erstemal. -- Nimm Berechnung und +eine gewandte Kanaille an, und es erscheint unglaublich. Nimm aber einen +Unerfahrenen an, und es zeigt sich, daß nur der Zufall ihn unterstützt +und gerettet hat, und was tut nicht der Zufall? Ich bitte dich, er hat +vielleicht nicht einmal Hindernisse vorausgesehen! Und wie führt er die +Tat aus? -- Er nimmt Sachen im Werte von zehn und zwanzig Rubel, stopft +sich damit die Taschen voll, wühlt in dem Kasten, in allerhand +Weiberlumpen, -- und in der Kommode, in der oberen Schublade findet man +nachher in einer Schatulle an barem Gelde gegen anderthalb tausend, +außer den Wertpapieren. Er hat nicht mal verstanden zu rauben, er hat +bloß verstanden zu morden! Ich sage dir, es ist sein erster Fall, sein +allererster; er hat seine Fassung verloren. Und nicht durch Berechnung, +sondern durch Zufall ist er entkommen.« + +»Mir scheint, Sie sprechen von der kürzlichen Ermordung der alten +Beamtenwitwe,« mischte sich Peter Petrowitsch ein, sich an Sossimoff +wendend. Er stand schon mit dem Hute und Handschuhen in der Hand, aber +vor dem Fortgehen wollte er noch einige geistreiche Worte fallen lassen. +Er mühte sich sichtlich, einen guten Eindruck zu hinterlassen und die +Eitelkeit überwand die Vernunft. + +»Ja. Haben Sie davon gehört?« + +»Selbstverständlich, es ist ja in der Nachbarschaft ...« + +»Kennen Sie die Einzelheiten?« + +»Das kann ich nicht behaupten. Mich aber interessiert dabei ein anderer +Umstand, sozusagen die ganze Frage. Ich spreche nicht davon, daß in den +letzten fünf Jahren die Verbrechen in der unteren Klasse sich vermehrt +haben; ich spreche nicht von den ununterbrochenen Raubanfällen und +Feuersbrünsten, die überall nun vorkommen; am auffallendsten aber +erscheint mir, daß die Verbrechen auch in den höheren Klassen sich +ebenso vermehren und sozusagen in paralleler Weise. Dort, hört man, hat +ein ehemaliger Student auf offener Straße die Post beraubt; dort wieder +fabrizieren Menschen, die nach ihrer gesellschaftlichen Stellung zu den +ersten gehören, falsches Papiergeld; in Moskau ertappt man eine ganze +Gesellschaft beim Fälschen von Scheinen der letzten Prämienanleihe, -- +und einer der Hauptbeteiligten ist ein Professor der Weltgeschichte; +dort, im Auslande ermordet man einen von unsern Botschaftssekretären aus +rätselhaften Gründen ... Und wenn jetzt diese alte Pfandleiherin von +jemand aus der besseren Gesellschaft getötet ist, -- denn einfache Leute +versetzen keine Goldsachen, -- wie kann man denn diese Verdorbenheit des +gebildeten Teiles unserer Gesellschaft erklären?« + +»Es gibt viele ökonomische Verschiebungen,« bemerkte Sossimoff. + +»Wie erklären?« unterbrach ihn Rasumichin. + +»Gerade durch die uns anhaftende Untüchtigkeit kann man es erklären.« + +»Wieso denn?« + +»Was antwortete Ihr Professor in Moskau auf die Frage, warum er die +Scheine gefälscht habe? Alle werden durch allerhand Mittel reich, da +wollte ich auch schnell reich werden -- das war seine Antwort. Des +Wortlautes entsinne ich mich nicht genau; aber der Sinn war, daß er auf +fremde Kosten schnell, ohne zu arbeiten, reich werden wollte. Wir sind +gewohnt, Hilfe zu erhalten, am Gängelbande zu gehen, Vorgekautes zu +essen ... Nun, und schlägt die große Stunde, da zeigt sich jeder in +seiner wahren Gestalt ...« + +»Aber es gibt doch Moral. Und sozusagen Begriffe ...« + +»Ja, was ereifern Sie sich denn?« mischte sich Raskolnikoff plötzlich +ins Gespräch. »Es ist doch nach Ihrer Theorie!« + +»Wieso nach meiner Theorie?« + +»Ziehen Sie doch die Konsequenzen dessen, was Sie vorhin predigten, und +es ergibt sich, daß man Menschen umbringen darf ...« + +»Aber ich bitte!« rief Luschin aus. + +»Nein, so ist das nicht!« bemerkt Sossimoff. + +Raskolnikoff lag bleich mit zuckender Lippe da und atmete schwer. + +»Alles hat seine Grenzen,« fuhr Luschin hochmütig fort, »eine +ökonomische Idee ist noch keine Aufforderung zum Mord, und wenn man nur +annimmt ...« + +»Ist es wahr, daß Sie,« unterbrach ihn von neuem Raskolnikoff mit vor +Wut zitternder Stimme, aus der man die Freude zu beleidigen heraus +merkte, »ist es wahr, daß Sie Ihrer Braut ... in derselben Stunde, als +Sie ihr Jawort erhielten, gesagt haben, daß Sie sich am meisten darüber +freuten ... daß sie eine Bettlerin sei ... weil es vorteilhafter sei, +eine bettelarme Frau zu nehmen, um über sie später herrschen ... und ihr +vorhalten zu können, daß Sie ihr Wohltäter seien? ...« + +»Mein Herr!« rief Luschin betroffen und gereizt aus und wurde rot und +verwirrt. »Mein Herr ... so meine Worte zu entstellen ... Entschuldigen +Sie, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die zu Ihnen gedrungen +sind, oder besser gesagt, die Ihnen zugetragen sind, auch nicht den +Schatten eines vernünftigen Grundes haben, und ich ... vermute, wer ... +mit einem Worte ... dieser ... Pfeil ... mit einem Worte, Ihre Frau +Mutter ... Sie erschien mir auch ohnedem, bei allen ihren übrigens +ausgezeichneten Eigenschaften, in ihrer Auffassung ein wenig +schwärmerisch und romantisch angehaucht ... Aber ich war doch tausend +Meilen entfernt von der Voraussetzung, daß sie die Sache in solch einer +von der Phantasie verunstalteten Weise auffassen und auslegen würde ... +Und schließlich ... schließlich ...« + +»Wissen Sie was?« rief Raskolnikoff aus, erhob sich auf dem Kissen und +sah ihn mit durchdringendem, scharfem Blicke an. »Wissen Sie was?« + +»Was denn?« Luschin hielt inne und wartete mit gekränkter und +herausfordernder Miene. + +Das Schweigen dauerte einige Sekunden. + +»Daß, wenn Sie noch einmal ... wagen, nur ein Wort ... von meiner Mutter +zu erwähnen, ich Sie die Treppe hinunterwerfe!« + +»Was ist dir?« rief Rasumichin aus. + +»Ah, so ist die Sache!« Luschin erbleichte und biß sich auf die Lippen. +»Hören Sie, Herr,« begann er stockend und mit aller Kraft an sich +haltend, aber dennoch atemlos, »ich habe schon vorhin beim ersten +Schritt Ihre Feindseligkeit erraten, aber ich blieb absichtlich hier, um +noch mehr zu erfahren. Vieles konnte ich einem Kranken und Verwandten +zugute halten, jetzt aber ... Ihnen ... niemals ...« + +»Ich bin nicht krank!« rief Raskolnikoff aus. + +»Um so schlimmer ...« + +»Scheren Sie sich zum Teufel!« + +Luschin ging schon von selbst, ohne seine Rede zu vollenden, indem er +wieder zwischen dem Tisch und Stuhl hindurchkroch; Rasumichin stand +diesmal auf, um ihn durchzulassen. Ohne jemand anzusehen und ohne sogar +Sossimoff mit einem Kopfnicken zu grüßen, der ihm längst schon Zeichen +gegeben hatte, den Kranken in Ruhe zu lassen, ging Luschin hinaus, und +als er durch die Tür gebückt hindurchging, hielt er vorsichtshalber +seinen Hut in Schulterhöhe. Sogar die Krümmung seines Rückens schien +ausdrücken zu wollen, daß er sich furchtbar beleidigt fühle. + +»Aber wie kann man denn, wie kann man denn so ...« sagte der verblüffte +Rasumichin und schüttelte den Kopf. + +»Laßt mich, laßt mich alle in Ruhe!« rief Raskolnikoff rasend. »Ja, +wollt ihr endlich mich in Ruhe lassen, ihr Quälgeister! Ich fürchte euch +nicht! Ich fürchte jetzt niemand, niemand! Geht fort! Ich will allein +sein, allein, allein sein!« + +»Gehen wir!« sagte Sossimoff und winkte Rasumichin. + +»Erlaube, kann man ihn denn so lassen?« + +»Gehen wir,« bestand Sossimoff und ging hinaus. + +Rasumichin sann nach und lief dann hinaus, ihn einzuholen. + +»Es könnte schlimmer werden, wenn wir nicht gehorcht hätten,« sagte +Sossimoff, schon auf der Treppe. »Man darf ihn nicht reizen ...« + +»Was ist mit ihm?« + +»Wenn ihm bloß etwas Glückliches widerfahren wollte, das wäre gut. +Vorhin war er bei Kräften ... Weißt du, er hat etwas auf dem Herzen. +Etwas Starkes, Bedrückendes ... Das fürchte ich sehr!« + +»Ja, vielleicht ist es dieser Herr Peter Petrowitsch! Aus dem Gespräche +konnte man entnehmen, daß er seine Schwester heiraten will, und daß +Rodja darüber kurz vor der Krankheit einen Brief erhalten hat ...« + +»Ja; der Teufel hat ihn jetzt hergeführt; vielleicht hat er die ganze +Sache verdorben. Hast du aber gemerkt, daß er gegen alles gleichgültig +ist, über alles schweigt, außer den einen Punkt, wo er aus sich +herausgeht -- den Mord ...« + +»Ja, ja!« bestätigte Rasumichin. »Ich habe es sehr gut gemerkt. Er +interessiert sich dafür, gerät in Aufregung. Man hat ihn am Tage, als er +krank wurde, in dem Polizeibureau damit erschreckt; er fiel in +Ohnmacht.« + +»Erzähle mir darüber genauer heute abend, ich will dir auch später etwas +sagen. Er interessiert mich sehr! Nach einer halben Stunde will ich ihn +aufsuchen ... Ein Fieber wird übrigens nicht folgen.« + +»Ich danke dir. Ich will unterdessen bei der lieben Praskovja warten und +will durch Nastasja ihn beobachten lassen ...« + +Raskolnikoff blickte voll Ungeduld und traurig Nastasja an; sie aber +zögerte wegzugehen. + +»Willst du jetzt Tee trinken?« fragte sie ihn. + +»Nachher! Ich will schlafen! Laß mich ...« Er wandte sich krampfhaft der +Wand zu. Nastasja ging hinaus. + + + VI. + +Kaum aber war sie hinausgegangen, als er aufstand, die Tür zuhakte, das +Bündel mit Kleidern, das Rasumichin vorhin gebracht und wieder +zugebunden hatte, aufmachte und sich anzukleiden begann. Merkwürdig, +plötzlich schien er völlig ruhig geworden zu sein, weder das +halbwahnsinnige Phantasieren, wie vorhin, noch die panische Angst, wie +in der ganzen letzten Zeit, waren vorhanden. Es war der erste Augenblick +einer seltsamen Ruhe. Seine Bewegungen waren bestimmt und klar, eine +feste Absicht lag in ihnen. »Heute noch, heute noch! ...« murmelte er +vor sich hin. Er begriff jedoch, daß er noch schwach sei, aber eine +starke, seelische Spannung, die sich bis zur Ruhe, bis zu einer +unerschütterlichen Idee gesteigert hatte, verlieh ihm Kraft und +Selbstbewußtsein; er hoffte auch, daß er auf der Straße nicht hinstürzen +würde. Nachdem er sich neu angezogen hatte, erblickte er das Geld, das +auf dem Tische lag, dachte nach und steckte es in die Tasche. Es waren +fünfundzwanzig Rubel. Er nahm auch das Kupfergeld, den Rest von den zehn +Rubeln, die Rasumichin für die Kleidung ausgegeben hatte. Dann hob er +leise den Haken ab, ging aus dem Zimmer, stieg die Treppe hinab und warf +einen Blick in die weit geöffnete Küche! Nastasja stand mit dem Rücken +gegen ihn und blies gebückt in den Samowar. Sie hatte nichts gehört. Wer +konnte auch voraussetzen, daß er fortgehen würde? Nach einer Minute war +er schon auf der Straße. + +Es war gegen acht Uhr, die Sonne ging unter. Es herrschte die frühere +Schwüle, aber er atmete gierig diese stinkende, staubige, durch die +Stadt verpestete Luft ein. Der Kopf begann ihm ein wenig zu schwindeln; +eine wilde Energie blitzte in seinen entzündeten Augen und in seinem +abgemagerten, bleichen, gelben Gesichte auf. Er wußte nicht und dachte +auch nicht nach, wohin er wollte; er wußte bloß eins, »daß man _alles_ +heute noch, mit einem Schlage, sofort beenden müsse, daß er anders nicht +nach Hause zurückkehren würde, weil er nicht so weiterleben wolle. Wie +enden? Wodurch? Davon hatte er keinen Begriff und wollte auch daran +nicht denken. Er verscheuchte den Gedanken, der ihn quälte. Bloß eins +fühlte und wußte er, daß alles sich ändern müsse, so oder so; einerlei +wie,« wiederholte er mit einer verzweifelten, starren Entschlossenheit +und Festigkeit. + +Nach seiner Gewohnheit ging er wieder dem Heumarkt zu. Kurz vor dem +Heumarkte stand auf der Straße vor einem kleinen Laden ein junger +schwarzhaariger Mann mit einem Leierkasten und spielte ein rührseliges +Stück. Er begleitete ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vor ihm auf dem +Fußsteig stand und wie eine Dame mit Krinoline, Mantille, Handschuhen +und einem Strohhut mit einer Feder von flammendem Rot bekleidet war; +alles war alt und abgetragen. Sie sang in Erwartung einer +Zweikopekenmünze eine Romanze mit zitternder, aber nicht unangenehmer +und kräftiger Straßenstimme. Raskolnikoff blieb neben ein paar anderen +Zuhörern stehen, hörte zu, nahm ein Fünfkopekenstück und legte es in die +Hand des jungen Mädchens. Sie brach bei der höchsten und rührseligsten +Note ab, rief dem Leiermann scharf »Schluß!« zu, und beide wanderten +weiter zu dem nächsten Laden. + +»Haben Sie Straßengesang gern?« wandte sich plötzlich Raskolnikoff an +einen nicht mehr jungen Mann, der neben ihm stand und das Aussehen eines +Bummlers hatte. Dieser blickte ihn erschrocken und verwundert an. + +»Ich habe es gern,« fuhr Raskolnikoff fort, und mit einem Ausdrucke, als +rede er gar nicht über Straßengesang. »Ich liebe es, wenn nach einer +Leierkastenmelodie gesungen wird an einem kalten, dunklen und feuchten +Herbstabend, unbedingt an einem feuchten, wenn alle Vorübergehenden +blaßgrüne und kranke Gesichter haben, oder noch besser, wenn ein nasser +Schnee kerzengerade, ohne Wind, niederfällt, wissen Sie, und die +Gasflammen hindurchschimmern ...« + +»Ich weiß nicht ... Entschuldigen Sie ...« murmelte der Herr, betroffen +über die Worte und das sonderbare Aussehen Raskolnikoffs, und ging auf +die andere Seite der Straße hinüber. + +Raskolnikoff schritt weiter und kam zu der Ecke auf dem Heumarkte, wo +der Kleinbürger und seine Frau, die sich damals mit Lisaweta +unterhielten, ihren Handel trieben, aber sie waren jetzt nicht da. Als +er die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, sah sich um und wandte +sich an einen jungen Burschen im roten Hemde, der am Eingange eines +Mehlladens gähnte. + +»Hier an der Ecke handelt doch ein Kleinbürger und seine Frau, nicht +wahr?« + +»Es handeln hier viele Leute,« antwortete der Bursche und blickte +Raskolnikoff von oben herab an. + +»Wie heißt er?« + +»Wie man ihn getauft hat, so heißt er auch.« + +»Bist du nicht aus dem Rjasanschen Gouvernement? Aus welcher Gegend bist +du denn?« + +Der Bursche sah Raskolnikoff wieder an. + +»Wie soll ich es denn wissen, Eure Durchlaucht, bin zu dumm, um es zu +wissen ... Entschuldigen Sie gütigst, Durchlaucht.« + +»Ist dort oben eine Schenke?« + +»Das ist ein Restaurant, hat auch ein Billard und schöne Damen findet +man dort auch ... Tra-la-la.« + +Raskolnikoff ging quer über den Platz. Dort auf der anderen Ecke stand +eine dichte Volksmenge, lauter Bauern. Er zwängte sich durch den +dicksten Knäuel und sah die Gesichter an. Aus irgendeinem Grunde zog es +ihn an alle anzureden. Aber die Bauern schenkten ihm keine Beachtung und +lamentierten alle unter sich. Er blieb stehen, dachte nach und ging nach +rechts, auf den Fußsteg, in der Richtung zu dem W.-schen Prospekt. Als +er den Platz verlassen hatte, geriet er in die N.-Gasse. + +Er war auch früher oft durch diese sehr kurze Gasse gegangen, die eine +Biegung macht und von dem Platze auf die Ssadowaja führte. In der +letzten Zeit zog es ihn sogar an, wenn es ihm schwer zumute war, in +dieser Gegend herumzuirren, damit »es ihm noch schwerer werden sollte«. +Jetzt aber war er hierhergekommen, ohne etwas zu wollen. Hier gab es ein +großes Haus, das ganz mit Schenken und anderen Speise- und +Trinkanstalten angefüllt war; alle Augenblicke kamen von dort +Frauenzimmer herausgelaufen, gekleidet, wie man »in der Nachbarschaft« +herumzugehen pflegt -- ohne Kopfbekleidung und Überrock. Sie sammeln +sich auf dem Fußsteig an, ein paar stehen in Gruppen, besonders bei den +Eingängen in das Erdgeschoß, wo man zwei Stufen tiefer in allerhand sehr +lustige Lokale gelangen konnte. In einem von diesen Etablissements +herrschte in diesem Augenblicke starker Lärm und Geschrei, so daß man es +in der ganzen Straße hören konnte, auf einer Guitarre wurde geklimpert, +es wurde gesungen, es ging sehr bunt zu. Eine große Gruppe von Frauen +drängte sich am Eingange; einige saßen auf den Stufen, andere auf dem +Fußsteig, andere wieder standen und unterhielten sich. Auf dem Fahrdamme +daneben schlenderte ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette, +schimpfte laut und wie es schien, wollte er irgendwo hineingehen, aber +wahrscheinlich hatte er vergessen, wohin er wollte. Ein zerlumpter Kerl +schimpfte einen anderen und ein total Betrunkener lag quer über der +Straße. Raskolnikoff blieb bei der großen Gruppe von Weibern stehen. Sie +sprachen mit heiseren Stimmen, alle hatten sie Kattunkleider an und +billige Stiefel und waren barhaupt. Einige waren über vierzig Jahre alt, +es waren aber auch siebzehnjährige dabei, fast alle hatten sie zerbläute +Gesichter. -- Aus irgendeinem Grunde interessierte ihn der Gesang und +dieser ganze Lärm und Tumult dort unten ... Man konnte hören, wie unter +Lachen und Kreischen jemand mit einer hohen Fistelstimme burschikos zu +einer Guitarre sang und wie ein anderer toll dazu tanzte und mit den +Absätzen den Takt schlug. Er hörte aufmerksam, düster und nachdenklich +zu, indem er, am Eingange stehend und sich vorbeugend, neugierig in das +Vorzimmer hineinblickte. + + Oh, mein schöner Schutzmann + Schlägt mich so ohne Grund! ... + +ertönte die dünne Stimme des Sängers. Raskolnikoff hatte schreckliche +Lust zu hören, was man sang, als wäre das jetzt die Hauptsache. + +»Soll ich nicht hineingehen?« dachte er. »Sie lachen laut! Aus +Betrunkenheit. Warum soll ich mich nicht auch betrinken?« + +»Kommen Sie doch herein, lieber Herr!« sagte eine der Frauen mit +ziemlich heller und nicht ganz heiserer Stimme. Sie war jung und gar +nicht abstoßend -- die einzige von der ganzen Gruppe. + +»Sieh mal, wie hübsch du bist!« antwortete er, den Kopf erhebend und +blickte sie an. + +Sie lächelte; das Kompliment hatte ihr sehr gefallen. + +»Sie sind auch selbst sehr hübsch,« sagte sie. + +»Wie mager Sie sind!« bemerkte eine andere mit einer Baßstimme. »Kommen +wohl eben aus dem Krankenhause?« + +»Ihr seid alle aus feiner Familie, aber die Nasen sind zu platt!« +unterbrach sie plötzlich ein herantretender Bauer, ein wenig +angeheitert, mit einem listig lächelnden Gesichte. -- »Das ist aber ein +Vergnügen!« + +»Geh hinein, wenn du schon da bist!« + +»Ich will auch hineingehen. Du Süße!« + +Und er stolperte hinunter. + +Raskolnikoff ging weiter. + +»Hören Sie, mein Herr!« rief ihm das Mädchen nach. + +»Was?« + +Sie tat schämig. + +»Ich würde mich freuen, mein Herr, mit Ihnen die Zeit zu vertreiben, ich +bin aber ganz außer Fassung vor Ihnen. Schenken Sie mir, hoher Herr, +sechs Kopeken zu einem Trunk.« + +Raskolnikoff nahm heraus, was er erfaßt hatte -- es waren fünfzehn +Kopeken. + +»Ach, was für ein guter Herr!« + +»Wie heißt du?« + +»Fragen Sie nach Duklida.« + +»Nein, das geht nicht an,« sagte plötzlich eine aus der Gruppe und +schüttelte den Kopf über Duklida. »Ich verstehe nicht, wie man so +betteln kann. Ich würde vor lauter Scham in die Erde sinken ...« + +Raskolnikoff blickte neugierig die Sprechende an. Es war ein +pockennarbiges Mädchen, etwa dreißig Jahre alt, voll blauer Flecken mit +geschwollener Lippe. Sie sprach und tadelte ruhig und ernst. + +»Wo habe ich,« dachte Raskolnikoff, während er weiterging, »wo habe ich +es gelesen, wie ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor seinem Ende +spricht oder denkt, daß wenn er irgendwo auf einer Höhe, auf einem +Felsen und auf einem schmalen Streifen, wo er bloß seine zwei Füße +hinsetzen könnte, leben sollte, -- umgeben von Abgründen, von Ozean, von +ewiger Finsternis, ewiger Einsamkeit und ewigem Sturm, -- und so, auf +diesem ellenbreiten Streifen stehend, sein ganzes Leben, tausend Jahre, +eine Ewigkeit verbringen müßte, -- daß es besser sei so zu leben, als +sofort zu sterben! Nur leben, leben, leben! Wie, ganz gleich! -- bloß +leben! ... Wie wahr! Herrgott, wie wahr! Der Mensch ist ein Schuft! ... +Und ein Schuft ist der, welcher ihn darum einen Schuft nennt,« fügte er +nach einer Weile hinzu. + +Er kam auf eine andere Straße hinaus. + +»Ah! Das ist ja der Kristallpalast! Rasumichin sprach vorhin vom +Kristallpalast! Ja, was wollte ich aber? Ah, ich wollte lesen! ... +Sossimoff erzählte, daß er in den Zeitungen gelesen hätte ...« + +»Haben Sie Zeitungen?« fragte er, indem er in ein ziemlich geräumiges +und sogar reinliches Restaurant mit mehreren jetzt ziemlich leeren +Räumen eintrat. Zwei, drei Gäste tranken Tee und in einem der +Hinterzimmer saßen etwa vier Menschen und tranken Champagner. +Raskolnikoff glaubte unter ihnen Sametoff zu erkennen. Von weitem konnte +man es nicht unterscheiden. + +»Und wenn auch!« dachte er. + +»Befehlen Sie Branntwein?« fragte der Kellner. + +»Bringe mir Tee. Und bringe mir Zeitungen, alte Zeitungen, so von den +letzten fünf Tagen, ich gebe dir ein Trinkgeld dafür.« + +»Jawohl. Hier sind die heutigen. Befehlen Sie auch Branntwein?« + +Alte Zeitungen und der Tee erschienen. Raskolnikoff setzte sich hin und +begann zu suchen: -- »Isler ... Isler ... Azteken ... Azteken ... Isler +... Bartola ... Massimo ... Azteken ... Isler ... pfui, zum Teufel! ah, +da ist die Lokalchronik ... von der Treppe herabgestürzt ... ein +Kleinbürger gestorben an Alkoholvergiftung ... Feuersbrunst ... +Feuersbrunst ... noch eine Feuersbrunst ... und noch eine Feuersbrunst +... Isler ... Massimo ... Isler ... Isler ... Massimo ... Ah, da ist es +...« + +Er hatte endlich gefunden, was er suchte und begann zu lesen; die Zeilen +hüpften vor seinen Augen, trotzdem las er die ganze »Nachricht« zu Ende +und begann voll Gier in den weiteren Nummern die Fortsetzung zu suchen. +Seine Hände zitterten vor starker Ungeduld, indem er in den Zeitungen +blätterte. Plötzlich setzte sich jemand neben ihn, an seinen Tisch. Er +schaute hin -- es war Sametoff, derselbe Sametoff und mit demselben +Äußern, mit Ringen, Uhrketten, mit einem Scheitel in seinen schwarzen +gekräuselten und pomadisierten Haaren, in einer eleganten Weste, in +einem etwas abgetragenen Rocke und nicht ganz reiner Wäsche. Er war +lustig gestimmt, wenigstens lachte er sehr vergnügt und gutmütig. Sein +gebräuntes Gesicht war vom genossenen Champagner ein wenig erhitzt. + +»Wie! Sie hier?« begann er mit Staunen und in einem Tone, als wäre er +ein ewigalter Bekannter. »Mir erzählte gestern noch Rasumichin, daß Sie +immer noch bewußtlos daliegen. Das ist merkwürdig! Wissen Sie, ich war +bei Ihnen ...« + +Raskolnikoff hatte sich's gedacht, daß er zu ihm herankommen würde. Er +legte die Zeitungen beiseite und wandte sich zu Sametoff. Auf seinen +Lippen spielte ein hämisches Lächeln, aber in diesem Lächeln lag eine +gereizte Ungeduld. + +»Ich weiß es, daß Sie da waren,« antwortete er, »ich habe es gehört. Sie +haben meinen Strumpf gesucht ... Wissen Sie, Rasumichin ist ganz +entzückt von Ihnen, er erzählte, daß Sie mit ihm bei Louisa Iwanowna +waren, wissen Sie, wegen der Sie damals so angelegentlich dem Leutnant +Pulver zuzwinkerten und er immer nicht begriff, erinnern Sie sich noch? +Und es war doch nicht viel zu verstehen -- es war ja eine klare Sache +... nicht?« + +»Was für ein Schwätzer er ist!« + +»Pulver?« + +»Nein, Ihr Freund Rasumichin ...« + +»Sie haben es gut, Herr Sametoff; zu den angenehmsten Orten zollfreien +Eintritt! Wer hat Ihnen soeben Champagner spendiert?« + +»Wir haben ... ein wenig getrunken ... Und Sie sagen -- spendiert?!« + +»Ein wenig Honorar! Sie ziehen eben aus allem Nutzen!« Raskolnikoff +lachte. »Hat nichts zu sagen, mein guter junger Mann, tut nichts!« fügte +er hinzu und schlug Sametoff auf die Schulter. »Ich sage es nicht aus +Bosheit, sondern >aus Freundschaft, im Scherze,< so wie der Arbeiter +sagte, als er Dmitri schlug, wissen Sie, in der Sache der Alten ...« + +»Woher wissen Sie es?« + +»Ich weiß vielleicht mehr als Sie ...« + +»Wie komisch Sie sind ... Wahrscheinlich sind Sie noch sehr krank. Es +war unvorsichtig von Ihnen auszugehen.« + +»Erscheine ich Ihnen komisch?« + +»Ja. Was lesen Sie da, Zeitungen?« + +»Ich lese Zeitungen.« + +»Es wird viel von Feuersbrünsten geschrieben.« + +»Nein, ich lese nicht über Feuersbrünste.« Hier blickte er Sametoff +rätselhaft an; ein höhnisches Lächeln verzog wieder seine Lippen. »Nein, +ich las nicht über Feuersbrünste,« fuhr er fort und zwinkerte Sametoff +zu. »Gestehen Sie nur, lieber junger Mann, daß Sie furchtbar gern wissen +möchten, was ich gelesen habe?« + +»Ich will es gar nicht wissen; ich habe bloß so gefragt. Darf man denn +nicht fragen? Was haben Sie nur immer ...« + +»Hören Sie, Sie sind doch ein gebildeter, belesener Mensch?« + +»Ich habe die Sekunda eines Gymnasiums,« antwortete Sametoff mit Würde. + +»Die Sekunda! Ach, Sie kleiner Spatz! Mit einem Scheitel, mit Ringen -- +ein reicher Mann! Nein, welch ein lieber Junge!« Hier verfiel +Raskolnikoff in ein nervöses Lachen und lachte Sametoff direkt ins +Gesicht. Der fuhr zurück und war, wie es schien, nicht gekränkt, eher +sehr verwundert. + +»Nein, wie komisch Sie sind!« wiederholte Sametoff ernsthaft. »Mir +scheint, Sie phantasieren immer noch.« + +»Ich phantasiere? Das lügst du, mein Spätzchen! ... Also, ich bin +komisch? Nun errege ich aber Ihre Neugier? Nicht wahr?« + +»Ja, Sie erregen meine Neugier.« + +»Soll ich Ihnen also sagen, was ich gelesen, was ich gesucht habe? Sehen +Sie, wieviel Nummern ich mir bringen ließ. Erscheint das nicht +verdächtig?« + +»Sagen Sie mir ...« + +»Sind Ihre Ohren gespitzt?« + +»Warum sollen sie gespitzt sein?« + +»Ich will es Ihnen nachher sagen, jetzt aber erkläre ich Ihnen, mein +Lieber ... nein, besser, >ich gestehe< ... Nein, das ist auch nicht das +richtige, >ich gebe es Ihnen zu Protokoll und Sie schreiben es,< so +lautet's doch. Also, ich gebe zu Protokoll, daß ich gelesen, mich +interessiert, gesucht habe ... nachgeforscht ...« + +Raskolnikoff kniff die Augen zusammen und wartete eine Weile. +»Nachgeforscht habe, -- und bin auch darum hierher gekommen, -- betreffs +der Ermordung der Alten, der Beamtenwitwe,« sagte er endlich, fast im +Flüstertone, wobei er mit seinem Gesichte außerordentlich nahe dem +Sametoffs kam. + +Sametoff sah ihn unverwandt an, ohne sich zu bewegen und ohne sein +Gesicht zurückzuziehen. Am merkwürdigsten erschien es Sametoff nachher, +daß das Schweigen wohl eine volle Minute gedauert hatte und daß sie +solange einander anblickten. + +»Nun, was ist dabei, daß Sie darüber gelesen haben?« rief er plötzlich +ungehalten und ungeduldig aus. »Was geht das mich an? Was ist denn +dabei?« + +»Das ist dieselbe Alte,« fuhr Raskolnikoff fort, in demselben +Flüstertone und ohne sich bei dem Ausrufe Sametoffs zu rühren, »es ist +dieselbe, von der man, erinnern Sie sich, im Polizeibureau zu sprechen +begann, wobei ich in Ohnmacht fiel. Merken Sie was?« + +»Ja, was denn? Was ... soll ich merken?« sagte Sametoff unruhig. + +Das unbewegliche und ernste Gesicht Raskolnikoffs veränderte sich +plötzlich und wieder verfiel er in das nervöse Lachen von vorhin, als +hätte er keine Macht darüber. Und auf einen Augenblick schwebte ihm +außerordentlich klar und intensiv jener Moment vor Augen, als er mit dem +Beil hinter der Türe stand, wie der Haken hüpfte, und wie die hinter der +Tür schimpften und an der Türe rissen, und wie er plötzlich Lust bekam, +ihnen zuzurufen, sie zu schimpfen, ihnen die Zunge zu zeigen, sie zu +verhöhnen, zu lachen, laut zu lachen, lachen und lachen! + +»Sie sind entweder verrückt oder ...« sagte Sametoff -- und hielt inne, +als hätte er über einem plötzlichen Gedanken die Sprache verloren. + +»Oder? Was -- >oder<? Was ist's? Sprechen Sie?« + +»Nichts!« antwortete Sametoff gereizt. »Es ist ja alles Unsinn!« + +Beide verstummten. Auf den Lachanfall wurde Raskolnikoff gleich wieder +nachdenklich und düster. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und +legte den Kopf in die Hand. Es schien, als hätte er die Gegenwart +Sametoffs völlig vergessen. Das Schweigen dauerte ziemlich lange. + +»Warum trinken Sie Ihren Tee nicht? Er wird kalt,« sagte Sametoff. + +»Ah? Was? Tee? ... Meinetwegen ...« Raskolnikoff nahm einen Schluck aus +dem Glase, steckte ein kleines Stück Brot in den Mund, blickte Sametoff +an und schien sich auf einmal an alles zu erinnern. Sein Gesicht nahm im +selben Augenblick den früheren höhnischen Ausdruck an. Er fuhr fort, Tee +zu trinken. + +»Heutzutage passieren viele Gaunereien,« sagte Sametoff. »Ich las vor +kurzem in den >Moskowskije Wedomosti<, daß man in Moskau eine Bande +Falschmünzer festgenommen habe. Es war eine ganze Gesellschaft ... Sie +fälschten Papiergeld.« + +»Oh, das ist schon lange her. Ich habe es vor einem Monat gelesen,« +antwortete Raskolnikoff ruhig. + +»Also, das sind Ihrer Meinung nach Gauner!« fügte er lächelnd hinzu. + +»Warum nicht Gauner?« + +»Die? Das sind Grünspechte, aber keine Gauner! Ganze fünfzig Menschen +vereinigen sich zu diesem Zwecke! Geht denn das an? Bei so einer Sache +sind schon drei zu viel, da muß jeder dem andern mehr als sich selbst +vertrauen. Es braucht bloß einer in Betrunkenheit mit anderen zu +plappern, und alles ist verloren! Grünspechte waren es! Sie mieteten +sich unzuverlässige Menschen, um das Geld in allerhand Banken umwechseln +zu können, -- so eine Sache dem ersten besten anvertrauen! Nun gut, +nehmen wir an, daß es ihnen geglückt wäre, jeder hat eine Million +eingewechselt, nun, was weiter, das ganze Leben hindurch? Jeder ist von +dem anderen sein Lebelang abhängig! Da ist es besser, sich gleich zu +erhängen! Und sie verstanden nicht mal einzuwechseln, -- der eine geht +in eine Bank zum wechseln, empfängt fünftausend und die Hände beginnen +zu zittern. Viertausend zählt er nach, das fünfte Tausend aber nimmt er +ohne nachzuzählen, auf gut Glauben, um es schneller in die Tasche +stecken zu können und fortzulaufen. Er erregte Verdacht, und die ganze +Sache ging in die Brüche bloß wegen eines einzigen Dummkopfes! Ja, ist +das denkbar?« + +»Daß die Hände zitterten?« unterbrach Sametoff. + +»Das ist denkbar. Ich bin vollkommen überzeugt, daß es möglich ist. +Manchmal kann man so etwas nicht standhalten.« + +»So etwas?« + +»Könnten Sie standhalten? Ich hielte es nicht aus! Für eine Bezahlung +von hundert Rubel diese Angst auf sich nehmen! Nein! Mit einem +gefälschten Papier hingehen -- und wohin noch -- in ein Bankhaus, wo sie +so gewitzt sind, -- nein, ich hätte die Fassung verloren. Und Sie hätten +nicht die Fassung verloren?« + +Raskolnikoff hatte plötzlich wieder große Lust, »die Zunge zu zeigen«. +Ein Schüttelfrost packte ihn wieder. + +»Ich würde nicht so gehandelt haben,« begann er, weit ausholend. »Ich +hätte so gewechselt, -- ich hätte das erste Tausend so gegen viermal von +allen Seiten nachgezählt, jeden Schein betrachtet, und hätte mich dann +an das zweite Tausend gemacht; ich hätte angefangen zu zählen, wäre bis +zur Hälfte gekommen, hätte dann irgendeinen Schein von fünfzig Rubel +hervorgeholt, und ihn gegen das Licht gehalten, dann ihn umgedreht und +wieder gegen das Licht gehalten, -- ob er nicht gefälscht ist? Ich bin +ängstlich -- hätte ich gesagt, -- eine Verwandte von mir hat auf diese +Weise vor kurzem fünfundzwanzig Rubel eingebüßt, -- und hätte nun eine +Geschichte zum Besten gegeben. Und wenn ich das dritte Tausend zu zählen +angefangen hätte, -- würde ich sagen, -- erlauben Sie, ich habe, scheint +mir, in dem zweiten Tausend das siebente Hundert nicht richtig +nachgezählt, ich bin im Zweifel. -- Ich hätte das dritte Tausend zur +Seite gelegt und wieder das zweite Tausend nachgezählt, -- und in dieser +Weise hätte ich es mit allen fünf gemacht. Und wenn ich damit fertig +gewesen wäre, hätte ich aus dem zweiten und aus dem fünften Tausend je +einen Schein herausgenommen, gegen das Licht gehalten und voll Zweifel +gebeten, ihn umzutauschen, -- und ich hätte den Angestellten zum +Schwitzen gebracht, so daß er alles getan hätte, um mich endlich los zu +werden. Und nach dem allen wäre ich schließlich zur Türe gegangen, hätte +sie geöffnet -- und wäre wieder zurückgegangen, um unter Entschuldigung +irgend etwas zu fragen oder mich über etwas zu erkundigen, -- sehen Sie, +so hätte ich es gemacht!« + +»Oh, was für Schauergeschichten Sie erzählen!« sagte Sametoff lachend. +»Das redet man so, bei der Ausführung aber würden Sie schon stolpern. +Bei so einer Sache, sage ich Ihnen, kann nicht mal ein geübter, +geriebener Mensch für sich einstehen, geschweige denn wir beide. Wozu so +weit ausholen, -- da haben Sie ein Beispiel, in unserem Revier hat man +eine alte Frau ermordet. Allem Anschein nach ein verwegener Bursche, am +hellen lichten Tage hat er's gewagt, nur durch ein Wunder rettete er +sich, -- die Hände aber haben doch versagt; er hat nicht verstanden zu +stehlen, hat nicht standgehalten; man sieht es aus dem Tatbestande ...« + +Raskolnikoff schien sich gekränkt zu fühlen. + +»Man sieht es! So nehmen Sie ihn doch fest!« rief er höhnisch aus, um +Sametoff zu reizen. + +»Man wird ihn schon kriegen.« + +»Wer? Sie? Sie wollen ihn kriegen? Das wird lange dauern! Sehen Sie, was +ist denn bei Ihnen die Hauptsache, -- ob ein Mensch viel Geld ausgibt +oder nicht? Hatte er vor kurzem keins, gibt jetzt plötzlich Geld aus, -- +so muß er das sein! In dieser Weise kann Sie jedes kleine Kind +irreführen, wenn es will.« + +»Das ist es ja, daß sie alle so handeln,« antwortete Sametoff. »Erst +morden sie mit Bedacht, riskieren ihr Leben und gehen dann fort ohne +Beute in eine Schenke und werden dort festgenommen. Beim Geldausgeben +werden sie festgenommen. Nicht alle sind so schlau wie Sie. Sie würden +selbstverständlich in keine Schenke gehen!« + +Raskolnikoff zog die Augenbrauen zusammen und blickte Sametoff scharf +an. + +»Sie haben, wie es scheint, Appetit bekommen und möchten wissen, wie ich +auch in diesem Falle gehandelt hätte?« fragte er bitter. + +»Ich möchte es sehr gern wissen,« antwortete jener fest und bestimmt. +Seine Stimme und sein Blick waren jetzt fast zu ernst geworden. + +»Sehr?« + +»Sehr.« + +»Gut. Ich hätte folgendermaßen gehandelt,« begann Raskolnikoff, indem er +plötzlich sein Gesicht wieder dem Sametoffs näherte, ihn unverwandt +anblickte und wieder im Flüstertone sprach, so daß jener diesmal +zusammenzuckte. »Ich hätte folgendermaßen gehandelt, -- ich hätte das +Geld und die Sachen an mich genommen und kaum entkommen, wäre ich sofort +ohne Aufenthalt zu einem abgelegenen Platz gegangen, wo es nur Zäune +gibt und wo es fast menschenleer ist, -- zu einem Gemüsegarten oder +etwas ähnlichem. Ich hätte mir dort auf diesem Hofe schon früher +irgendeinen Stein, ungefähr im Gewichte von zwanzig Kilo oder mehr +ausgesucht, irgendwo in einer Ecke am Zaune einen Stein also, der, +seitdem das Haus gebaut ist, dort liegt; ich hätte diesen Stein +aufgehoben -- unter ihm muß es eine Vertiefung geben, -- und in diese +Vertiefung hätte ich alle Sachen und das Geld hineingelegt. Dann hätte +ich den Stein auf seinen alten Platz gerückt, die Erde ringsum mit dem +Fuße ausgeglättet und wäre fortgegangen. Ja, und ich würde ein Jahr, +zwei oder auch drei Jahre nichts angerührt haben, -- nun, sucht mal! Es +war da und nun ist es weg.« + +»Sie sind verrückt!« sagte Sametoff auch fast im Flüstertone und rückte +plötzlich von Raskolnikoff weg. + +Raskolnikoffs Augen funkelten; er war furchtbar bleich, seine Oberlippe +zuckte und zitterte. Er beugte sich zu Sametoff noch näher hin und +bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen; das währte eine halbe Minute; +er wußte, was er tat, aber er konnte sich nicht mehr halten. Ein +fürchterliches Wort, wie damals der Haken an der Türe, hüpfte auf seinen +Lippen -- jeden Augenblick konnte es sich lösen, er brauchte es nur +entschlüpfen zu lassen, nur auszusprechen! + +»Wie, wenn ich die Alte und Lisaweta ermordet hätte?« sagte er plötzlich +und -- kam zu sich. Sametoff blickte ihn wild an und wurde so weiß wie +das Tischtuch. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. + +»Wie wäre das möglich?« sagte er kaum hörbar. + +Raskolnikoff blickte ihn zornig an. + +»Gestehen Sie, daß Sie es glaubten? -- Ja? Nicht wahr?« + +»Nein, nicht! Jetzt weniger als je!« sagte Sametoff hastig. + +»Nun haben Sie sich verraten! Das Spätzlein ist erwischt! Also haben Sie +es früher geglaubt, wenn Sie es >jetzt weniger als je< glauben?« + +»Aber gar nicht!« rief Sametoff sichtlich betroffen. »Sie haben mich +deshalb erschreckt, um mich dahin zu bringen?« + +»Also Sie glaubten es nicht? Worüber aber sprachen Sie damals, als ich +aus dem Bureau fortging? Und warum verhörte mich der Leutnant Pulver +nach meiner Ohnmacht? Hör mal, du!« rief er dem Kellner zu, stand auf +und nahm seine Mütze. »Was habe ich zu zahlen?« + +»Dreißig Kopeken im ganzen!« antwortete der Kellner. + +»Da hast du noch zwanzig Kopeken als Trinkgeld. Sehen Sie, wieviel Geld +ich habe,« er streckte Sametoff seine zitternde Hand mit Papiergeld hin, +-- »rote und blaue Scheine, fünfundzwanzig Rubel sind es. Woher habe ich +es? Und woher stammt die neue Kleidung? Sie wissen doch, daß keine +Kopeke da war! Sie haben doch sicher meine Wirtin ausgefragt ... Nun, +genug! _Assez causé!_{[2]} Auf Wiedersehen ... auf angenehmes +Wiedersehen! ...« + +Er ging hinaus, am ganzen Körper von einer wilden, hysterischen +Erregtheit zitternd, in die sich das Gefühl eines qualvollen Genusses +mischte, -- sonst aber düster und todmüde. Sein Gesicht war verzerrt, +wie nach einem Anfalle. Und seine Ermattung nahm rasch überhand. Seine +Kräfte ließen sich spannen und zeigten sich beim ersten Anlaß, beim +ersten Empfinden des Reizes und erschlafften ebenso schnell, in dem +Maße, wie der Reiz nachließ. + +Nachdem Sametoff allein geblieben war, saß er noch lange sinnend auf +demselben Platz. Raskolnikoff hatte seine Gedanken in diesem Punkte zum +Umschlagen gebracht, und eine neue Auffassung hatte sich in ihm +endgültig befestigt. + +»Ilja Petrowitsch ist ein Dummkopf!« sagte er endlich. + +Kaum hatte Raskolnikoff die Türe zur Straße geöffnet, als er plötzlich +auf der Außentreppe mit dem eintretenden Rasumichin zusammenstieß. Sie +hatten beide einander nicht gesehen, so daß sie fast mit den Köpfen +zusammenstießen. Eine Weile maßen sie sich mit den Blicken. Rasumichin +war höchst erstaunt, aber plötzlich flammte der Zorn, ein wirklicher +Zorn, drohend in seinen Augen auf. + +»Also hier bist du!« schrie er aus vollem Halse. »Du bist dem Bette +entsprungen! Und ich habe dich sogar unter dem Sofa gesucht! Wir sind +auf dem Boden gewesen. Ich habe Nastasja deinetwegen beinahe verprügelt +... Und nun bist du hier! Rodjka! Was soll das bedeuten? Sag die +Wahrheit! Gestehe! Hörst du?« + +»Es bedeutet, daß ich euch alle ernstlich satt habe, und daß ich allein +sein will,« antwortete Raskolnikoff ruhig. + +»Allein sein? Wo du nicht mal gehen kannst, wo deine Fratze noch bleich +wie Leinwand ist, und wo du den Atem verlierst! Dummkopf! ... Was hast +du im Kristallpalast gesucht? Gestehe es sofort!« + +»Laß mich!« sagte Raskolnikoff, und wollte an ihm vorbeigehen. + +Das brachte Rasumichin ganz außer sich, er packte ihn fest an der +Schulter. + +»Laß mich? Du wagst zu sagen >Laß mich<? Weißt du auch, was ich mit dir +gleich tun werde? Ich packe dich zu einem Bündel zusammen und bringe +dich unterm Arm nach Hause und sperre dich ein!« + +»Höre, Rasumichin,« begann Raskolnikoff leise und scheinbar völlig +ruhig. »Siehst du denn nicht, daß ich deine Wohltaten nicht wünsche? Und +was ist es für ein Vergnügen, denen Wohltaten zu erweisen, die ... +darauf pfeifen? Denen, schließlich, die sie in allem Ernste am wenigsten +vertragen? Nun, sage mir, warum hast du mich beim Beginn meiner +Krankheit aufgesucht? Ich wäre vielleicht glücklich gewesen zu sterben! +Nun, habe ich dir heute nicht genügend gezeigt, daß du mich quälst, daß +ich deiner ... überdrüssig geworden bin? Was für ein Vergnügen hast du +daran, Menschen zu quälen! Ich versichere dir, daß dies alles meine +Genesung ernstlich hindert, weil es mich ununterbrochen reizt. Sossimoff +ging doch vorhin fort, um mich nicht zu reizen. Laß du mich um +Gotteswillen auch in Ruhe! Und was für ein Recht hast du schließlich, +mich mit Gewalt zurückzuhalten? Ja, siehst du denn nicht, daß ich jetzt +bei vollem Verstande bin? Wie, wie -- sage mir -- soll ich dich +schließlich bitten, daß du mich in Ruhe läßt und mir keine Wohltaten +mehr erweisest? Mag ich undankbar sein, mag ich gemein sein, aber um +Gotteswillen laßt mich, laßt mich alle in Ruhe. Laßt mich in Ruhe!« + +Er hatte ruhig begonnen und freute sich im voraus über das ganze Gift, +das er sich auszuschütten anschickte, er schloß aber in Raserei und fast +erstickend, wie vorhin bei Luschin. + +Rasumichin stand eine Weile da, dachte nach und ließ seine Hand los. + +»Scher dich zum Teufel!« sagte er leise und fast nachdenklich. + +»Halt!« brüllte er plötzlich, als Raskolnikoff fortgehen wollte. »Höre +mich an. Ich erkläre dir, daß ihr alle ohne Ausnahme Großmäuler und +aufgeblasene Kerls seid! Wenn ihr ein kleines Leid habt, lauft ihr wie +ein Huhn mit einem Ei herum! Auch in diesem Falle stehlt ihr von +anderen. Keine Spur von Selbständigkeit steckt in euch! Ihr seid aus +Spermacetsalbe gemacht und anstatt Blut habt ihr Quark in den Adern! +Keinem von euch glaube ich! Das erste, die Hauptsache bei euch in allen +Dingen ist -- nur nicht einem Menschen ähnlich sein! War--te!« rief er +mit verstärkter Wut, als er merkte, daß Raskolnikoff sich anschickte +wegzugehen. »Höre mich zu Ende! Du weißt, heute kommen Leute zu mir, um +die neue Wohnung einzuweihen, vielleicht sind sie schon da, ich habe den +Onkel dortgelassen, -- ich war soeben zu Hause, -- die Gäste zu +empfangen. Also, wenn du kein Dummkopf, kein flacher Dummkopf, kein Esel +wärest, keine Übersetzung aus fremden Sprachen ... siehst du, Rodja, ich +gestehe, du bist ein kluger Bursche, aber ein Dummkopf, -- also, wenn du +kein Dummkopf wärest, würdest du heute besser den Abend bei mir +verbringen, als unnütz die Stiefel abzulaufen. Du bist nun einmal +ausgegangen, da ist weiter nichts mehr daran zu machen! Ich würde dir +einen weichen Sessel hereinbringen, meine Wirtsleute haben einen ... Tee +würde es geben, Gesellschaft ... Und wenn du den Sessel nicht wünschst, +-- lege ich dich auf die Chaiselongue hin, -- aber du würdest dann doch +unter uns liegen ... Auch Sossimoff kommt. Kommst du?« + +»Nein!« + +»Du lügst!« rief Rasumichin ungeduldig aus. »Warum weißt du es? Du +kannst für dich nicht bestimmen! Und übrigens du verstehst davon nichts. +Ich habe mich tausendmal ebenso mit Menschen verkracht und bin wieder +zurückgegangen ... man schämt sich -- und kehrt zu dem Menschen zurück. +Also, erinnere dich, Haus Potschinkoff, dritter Stock ...« + +»Auf diese Weise werden Sie, Herr Rasumichin, möglicherweise sich +schlagen lassen, nur dem, der Sie schlägt, zu Gefallen?« + +»Was? Schlagen! Schon für den Gedanken drehte ich dem die Nase ab. Haus +Potschinkoff, Nr. 47, in der Wohnung des Beamten Babuschkin ...« + +»Ich komme nicht, Rasumichin!« Raskolnikoff wandte sich um und ging +fort. + +»Ich wette, daß du kommst!« rief ihm Rasumichin nach. »Sonst bist du ... +sonst bist du ... sonst will ich nichts mehr von dir wissen! Warte! Ist +Sametoff hier?« + +»Ja, er ist hier.« + +»Hast du ihn gesehen?« + +»Ich habe ihn gesehen.« + +»Hast du mit ihm gesprochen?« + +»Ich habe mit ihm gesprochen.« + +»Worüber? Nun, hol dich der Teufel, meinetwegen brauchst du es nicht zu +sagen. Haus Potschinkoff, 47, Babuschkins Wohnung, vergiß nicht!« + +Raskolnikoff ging bis zur Ssadowaja und bog um die Ecke. Rasumichin +blickte ihm sinnend nach. Endlich machte er eine abwehrende Bewegung mit +der Hand und ging in das Haus hinein, aber auf der Mitte der Treppe +blieb er stehen. + +»Teufel noch einmal!« fuhr er fast laut fort. »Er spricht vernünftig, +und doch scheint's ... Ich bin auch ein Dummkopf. Sprechen denn +Verrückte nicht vernünftig? Und Sossimoff hatte, ich glaube, davor +Angst!« Er tippte mit dem Finger an seine Stirn. »Wenn aber ... wie kann +man ihn jetzt allein gehen lassen? Er kann sich ertränken ... Ach, daran +habe ich nicht gedacht! Man darf ihn nicht allein lassen!« und er lief +zurück, um Raskolnikoff einzuholen, aber der war verschwunden. Er spie +aus und eilte in den Kristallpalast zurück, um etwas von Sametoff zu +erfahren. + +Raskolnikoff ging direkt auf die N.sche Brücke, blieb in der Mitte +stehen, stützte beide Ellbogen auf das Geländer und begann in die Ferne +zu schauen. Nachdem er von Rasumichin Abschied genommen hatte, war er so +schwach geworden, daß er nur mit Mühe hierher gekommen war. Er wollte +sich irgendwo hinsetzen oder hinlegen, und sei's auf die Straße. Über +das Wasser gebeugt, blickte er mechanisch auf den letzten, rosigen +Widerschein des Sonnenuntergangs, auf die Reihe Häuser, die in der +hereinbrechenden Dämmerung dunkel hervortraten, auf das weit entfernte, +kleine Fenster in irgendeiner Mansarde auf dem linken Quai, das wie im +Flammenschein von dem letzten Sonnenstrahl getroffen, leuchtete; er +blickte auf das dunkle Wasser des Kanals und schien dieses Wasser +aufmerksam zu betrachten. Auf einmal zeigten sich vor seinen Augen rote +Kreise, die Häuser drehten sich, die Vorübergehenden, die Ufer, +Equipagen, -- alles drehte sich und tanzte. Er fuhr auf, vielleicht vor +einem neuen Ohnmachtsanfall durch ein schauerliches, wildes und +widerwärtiges Ereignis bewahrt. Er fühlte, wie jemand an seine rechte +Seite trat; sah hin und bemerkte ein Weib, hochgewachsen, mit einem +Tuche um den Kopf, mit einem gelben, länglichen, abgemagerten Gesichte +und mit geröteten, eingefallenen Augen. Sie schaute auf ihn, aber +offenbar sah sie ihn nicht und unterschied niemanden. Plötzlich stützte +sie sich mit der rechten Hand auf das Geländer, hob das linke Bein und +stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser spritzte hoch auf, +verschlang auf einen Moment sein Opfer, aber nach einer Minute tauchte +noch einmal die Selbstmörderin auf, und die Strömung nahm sie mit fort. +Ihr Kopf und ihre Füße waren im Wasser, mit dem Rücken lag sie nach +oben, ihr Rock war übergeschlagen und wie ein Kissen vom Wasser +aufgeblasen. + +»Sie hat sich ertränkt! Sie hat sich ertränkt!« riefen ein Dutzend +Stimmen; Menschen liefen zusammen, die beiden Ufer bedeckten sich mit +Zuschauern, auf der Brücke, rings um Raskolnikoff, drängte sich das +Volk, stieß ihn und preßte ihn von hinten. + +»Leute, das ist ja unsere Afrosinja!« schrie unweit eine weinerliche +Frauenstimme. »Leute, rettet sie! Gute, liebe Leute, zieht sie heraus!« + +»Ein Boot! Ein Boot!« rief man in der Menge. Ein Boot war aber nicht +mehr nötig; ein Schutzmann war die Stufen zu dem Kanal hinuntergelaufen, +hatte seinen Mantel und seine Stiefel von sich geworfen und stürzte sich +ins Wasser. Es war keine große Arbeit, -- die Unglückliche schwamm nur +ein paar Schritte entfernt von der Treppe, er erfaßte mit der rechten +Hand ihr Kleid und mit der linken gelang es ihm, die Stange, die ihm ein +Kamerad entgegenhielt, zu ergreifen, und die Selbstmörderin wurde +alsbald herausgezogen. Man legte sie auf die Granitfliesen der Treppe. +Sie kam rasch zu sich, erhob sich, setzte sich hin, begann zu niesen und +zu prusten und wischte mit den Händen mechanisch ihr nasses Kleid ab. +Sie sprach nichts. + +»Sie hat sich bis zur Bewußtlosigkeit vollgesoffen, Leute,« heulte +dieselbe Frauenstimme, jetzt schon neben der Afrosinja. »Vor kurzem +wollte sie sich hängen, wir haben sie aus der Schlinge gezogen. Ich ging +eben in einen Laden, hatte ein kleines Mädchen dagelassen, um auf sie +aufzupassen, -- und da ist das Unglück geschehen! Sie ist eine +Kleinbürgerin, wohnt hier nebenan, im zweiten Hause von hier, dort ...« + +Das Volk ging auseinander, die Schutzleute gaben sich noch mit der +Lebensmüden ab, jemand rief etwas »vom Polizeibureau« ... Raskolnikoff +sah allem mit einem seltsamen Gefühle von Gleichgültigkeit und +Teilnahmslosigkeit zu. Ihm wurde übel. + +»Nein, es ist abscheulich ... das Wasser ... es lohnt sich nicht, hier +zu bleiben,« murmelte er vor sich hin. »Nichts wird hier geschehen,« +fügte er hinzu. »Es lohnt sich nicht, zu warten. Wie wär's mit dem +Polizeibureau ... Warum aber ist Sametoff nicht im Bureau? Das Bureau +ist doch in der zehnten Stunde offen ...« + +Er wandte dem Geländer den Rücken und blickte um sich. + +»Nun, was ist dabei! Auch so gut!« sagte er entschlossen, ging über die +Brücke und schlug die Richtung nach dem Polizeibureau ein. Sein Herz war +leer und öde. Denken wollte er nicht. Auch seine schwermütige Stimmung +war verschwunden, von der früheren Energie, als er seine Wohnung +verließ, um allem ein Ende zu machen, war keine Spur mehr vorhanden. +Eine völlige Apathie war an ihre Stelle getreten. + +»Es gibt doch einen Ausweg!« dachte er, indem er langsam und träge längs +des Kanalufers ging. »Ich werde ein Ende machen, weil ich will ... Ist +es aber ein Ausweg? Ach, einerlei! Einen drei Ellen langen Raum wird es +doch noch geben ... he! Aber was ist das für ein Ende! Und soll es +wirklich das Ende sein? Werde ich es ihnen sagen oder nicht? Ah ... zum +Teufel! Ich bin auch müde, könnte ich mich doch irgendwo bald hinlegen +oder hinsetzen! Am meisten schäme ich mich, daß es so dumm ist. Aber +auch darauf pfeife ich! Was für Dummheiten einem in den Sinn kommen ...« + +Um in das Polizeibureau zu gelangen, mußte man geradeaus gehen und bei +der zweiten Biegung links einschwenken, -- es war nur zwei Schritte +entfernt. Als er die erste Biegung erreicht hatte, blieb er stehen, +dachte nach, bog in eine Seitengasse ein und ging durch zwei Straßen auf +einem Umwege dorthin, -- vielleicht ohne jedes Ziel, vielleicht aber um +es noch eine Minute hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und sah +zur Erde. Plötzlich schien ihm jemand etwas ins Ohr geflüstert zu haben. +Er erhob den Kopf und sah, daß er an _dem_ Hause, direkt am Toreingange +stehe. Seit _jenem_ Abend war er hier nicht mehr gewesen und auch nicht +vorübergegangen. + +Ein unbezähmbares und unerklärliches Verlangen zog ihn. Er ging in das +Haus hinein, durchschritt das Tor, bog in den ersten Eingang rechts ein +und begann die bekannte Treppe in das vierte Stockwerk hinaufzusteigen. +Es war sehr dunkel auf der engen und steilen Treppe. Er blieb auf jedem +Absatz stehen und sah sich neugierig um. Auf dem Absatze des ersten +Stockes war ein Fensterrahmen herausgenommen. »Das war damals nicht +gewesen,« dachte er. Da ist auch die Wohnung im zweiten Stock, wo +Nikolai und Dmitri gearbeitet haben. »Sie ist verschlossen. Und die Türe +ist neu bemalt, also wird sie vermietet sein.« + +»Und da ist auch der dritte Stock ... und der vierte ... + +Hier war es!« + +Ein Zweifel packte ihn. Die Türe zu dieser Wohnung war sperrweit +geöffnet, es waren Menschen drin, man hörte Stimmen. Dies hatte er +keineswegs erwartet. -- Nachdem er eine Weile unschlüssig dagestanden +hatte, stieg er die letzten Stufen hinauf und trat in die Wohnung ein. + +Sie wurde auch neu hergerichtet; es waren Arbeiter da, dies schien ihn +zu verwundern. Er glaubte aus irgendeinem Grunde alles ebenso +anzutreffen, wie er es damals verlassen hatte, vielleicht sogar die +Leichen an denselben Stellen auf der Diele. Jetzt aber fand er kahle +Wände, keine Möbel, -- es war so eigentümlich! Er ging zum Fenster und +setzte sich auf das Fensterbrett. + +Es waren nur zwei Arbeiter da, beide junge Burschen, der eine schien +bedeutend jünger zu sein als der andere. Sie beklebten die Wände mit +neuen Tapeten, weiß mit lila Blümchen, an Stelle der früheren gelben, +die zerrissen und schmutzig waren. Raskolnikoff gefiel dies ganz und gar +nicht; er blickte diese neuen Tapeten feindselig an, als täte es ihm +leid, daß man alles so verändert habe. + +Die Arbeiter schienen sich verspätet zu haben. Sie rollten schnell das +Papier zusammen und schickten sich an, nach Hause zu gehen. +Raskolnikoffs Erscheinen hatten sie fast nicht beachtet. Sie +unterhielten sich und Raskolnikoff kreuzte die Arme und begann +zuzuhören. + +»Sie kam also am Morgen zu mir,« sagte der ältere, »ganz früh schon, +schön geputzt. Warum hast du dich denn so fein gemacht -- sagte ich -- +warum hast du dich denn so geputzt?« »Ich will -- sagt sie -- nun völlig +zu Ihren Diensten stehn.« »Siehst du, so war es. Und wie fein geputzt +sie war, -- wie aus einem Journal, wie aus einem Mode-Journal!« + +»Was ist ein Journal, Onkelchen?« fragte der jüngere. Er schien offenbar +bei dem »Onkelchen« in die Schule zu gehen. + +»Ein Journal ist, ja weißt du, solche bemalte Bilder, und sie kommen +jeden Sonnabend per Post aus dem Auslande hierher, zu den hiesigen +Schneidern, damit man weiß, wie sich jeder -- ein Mann oder eine Frau, +-- kleiden soll. So eine Zeichnung also. Die Männer werden meistens in +langen Röcken gemalt und für die Frauen gibt es feine Sachen, daß man +Mund und Augen aufsperren muß.« + +»Was man nicht alles in diesem Petersburg hat!« rief der jüngere +begeistert aus. »Außer Vater und Mutter kann man doch alles haben.« + +»Ja, außer diesen gibt es hier alles,« sagte in belehrendem Tone der +Ältere. + +Raskolnikoff stand auf und ging in das andere Zimmer, wo früher die +Truhe, das Bett und die Kommode der Alten gestanden hatten; das Zimmer +erschien ihm ohne Möbel furchtbar klein. Die Tapeten waren dieselben; in +der Ecke konnte man deutlich an der Tapete sehen, wo der Heiligenschrank +mit den Heiligenbildern gestanden hatte. Er blickte sich um und kehrte +zu seinem früheren Platz am Fenster zurück. Der ältere Arbeiter blickte +ihn von der Seite an. + +»Was wünschen Sie?« fragte er, sich plötzlich an ihn wendend. + +Anstatt zu antworten, stand Raskolnikoff auf, ging in das Vorzimmer, +ergriff die Klingel und zog daran. Dieselbe Klingel, derselbe blecherne +Ton! Er zog zum zweiten und zum dritten Male; er lauschte und entsann +sich. Das frühere, qualvoll schreckliche, abscheuliche Gefühl begann +immer deutlicher und lebendiger in seiner Erinnerung aufzuwachen, er +zuckte bei jedem Tone zusammen, ihm wurde dabei immer wohler und wohler. + +»Was willst du denn? Wer bist du?« rief der Arbeiter, indem er zu ihm +hinausging. Raskolnikoff war wieder durch die Türe eingetreten. + +»Ich will die Wohnung mieten,« sagte er, »und sehe sie mir an.« + +»In der Nacht mietet man keine Wohnung, und außerdem müssen Sie mit dem +Hausknecht kommen.« + +»Ist die Diele gewaschen, wird man sie streichen?« fuhr Raskolnikoff +fort. »Blut ist nicht da?« + +»Was für Blut?« + +»Man hat doch die Alte und ihre Schwester ermordet. Hier war eine ganze +Pfütze.« + +»Ja, was bist du für ein Mensch?« rief der Arbeiter unruhig. + +»Ich?« + +»Ja.« + +»Möchtest du es wissen? ... Komm in das Polizeibureau, dort will ich es +dir sagen.« + +Die Arbeiter sahen ihn starr an. + +»Wir müssen fortgehen, haben uns verspätet. Komm, Aljoschka. Wir müssen +nun abschließen,« sagte der ältere Arbeiter. + +»So wollen wir gehen!« antwortete Raskolnikoff gleichgültig, ging zuerst +hinaus und stieg langsam die Treppe hinab. »He, Hausknecht!« rief er, +als er im Tore war. Einige Menschen standen am Eingange von der Straße +und sahen sich die Vorübergehenden an; es waren die beiden Hausknechte, +ein Weib, ein Kleinbürger im Schlafrocke und noch jemand. Raskolnikoff +ging auf sie zu. + +»Was wünschen Sie?« sagte der eine Hausknecht. + +»Bist du im Polizeibureau gewesen?« + +»Ich war soeben dort. Was wünschen Sie?« + +»Sind die Beamten dort?« + +»Ja, sie sind da.« + +»Ist auch der Gehilfe des Aufsehers da?« + +»Er war da. Was wünschen Sie?« + +Raskolnikoff antwortete nicht und blieb neben ihm, in Nachdenken +versunken, stehen. + +»Er kam sich die Wohnung anzusehen,« sagte der herantretende ältere +Arbeiter. + +»Welche Wohnung?« + +»Wo wir arbeiten. >Warum ist das Blut abgewaschen<, fragte er. >Hier ist +doch ein Mord geschehen und ich möchte nun die Wohnung mieten.< Und an +der Klingel hat er gerissen, beinahe hätte er sie abgerissen. Wir +wollen, sagt er, auf das Polizeibureau gehen, dort will ich alles +erklären. Wir konnten gar nicht von ihm loskommen.« + +Der Hausknecht betrachtete mißtrauisch und finster Raskolnikoff. + +»Wer sind Sie eigentlich?« rief er barsch. + +»Ich heiße Rodion Romanytsch Raskolnikoff, bin ehemaliger Student, und +wohne im Hause Schill, hier in der Seitengasse, nicht weit von hier, in +Wohnung Nr. 14. Frage den Hausknecht ... er kennt mich.« + +Raskolnikoff sagte dies träge und nachdenklich, ohne sich umzuwenden, +und blickte dabei stier auf die dunkel gewordene Straße. + +»Ja, warum sind Sie in die Wohnung gegangen?« + +»Um sie zu sehen.« + +»Was ist dort zu sehen?« + +»Nehmt ihn doch und bringt ihn auf das Polizeibureau!« warf der +Kleinbürger ein und verstummte wieder. + +Raskolnikoff blickte ihn über die Schulter aufmerksam an und sagte +ebenso leise und träge: + +»Wollen wir hingehen.« + +»Bringt ihn doch hin!« wiederholte der Kleinbürger, der wieder Mut +gefaßt hatte. »Warum hat er _danach_ gefragt, was hat er im Sinn?« + +»Betrunken scheint er nicht zu sein, weiß Gott, was er ist,« murmelte +der Arbeiter. + +»Ja, was wollen Sie denn?« rief von neuem der Hausknecht, der ernstlich +böse wurde. »Was suchst du hier?« + +»Dir ist Angst, mit aufs Polizeibureau zu gehen!« sagte Raskolnikoff +höhnisch. + +»Mir Angst? Was suchst du hier?« + +»Spitzbube!« rief das Weib. + +»Was _ist_ da viel zu reden,« rief der andere Hausknecht, ein sehr +großer Bauer, in einem offenen langen Mantel und mit Schlüsseln am +Gürtel. »Pack dich! ... Ist wahrhaftig ein Spitzbube ... Pack dich!« + +Und er nahm Raskolnikoff an der Schulter und stieß ihn auf die Straße. + +Dieser wäre beinahe gefallen, fing sich jedoch noch, reckte sich, sah +schweigend alle Zuschauer an und ging weiter. + +»Närrischer Mensch,« sagte der Arbeiter. + +»Närrische Leute gibt es heutzutage viele,« meinte das Weib. + +»Besser wäre es doch, ihn aufs Polizeibureau zu bringen,« fügte der +Kleinbürger hinzu. + +»Es lohnt sich nicht, mit so einem anzubinden,« sagte der große +Hausknecht. »Man sieht doch, daß er ein Spitzbube ist! Er will es ja +selbst, und wenn man ihm den Willen tut, wird man ihn nicht los ... Wir +kennen das.« + +»Also soll ich hingehen oder nicht?« dachte Raskolnikoff, indem er +mitten auf der Straße an einer Kreuzung stehen blieb und sich umsah, als +erwarte er von jemand das entscheidende Wort. Aber von keiner Seite kam +es; alles war still und tot, wie die Steine, über die er ging, für ihn +war alles tot, für ihn allein ... Da, zweihundert Schritt vor ihm, +unterschied er am Ende der Straße in der Dunkelheit eine Menschenmenge, +hörte Stimmen, Geschrei ... Mitten im Gewühl stand eine Equipage ... Ein +Licht schimmerte in der Straße. »Was ist da geschehen?« Raskolnikoff +wandte sich nach rechts und ging auf die Menge zu. Er schien sich an +alles anzuklammern, und lächelte kalt, als er es inne ward, denn er war +schon fest entschlossen, auf das Polizeibureau zu gehen und glaubte +sicher, daß alles sogleich ein Ende haben würde. + + + VII. + +Mitten in der Straße stand eine elegante herrschaftliche Equipage mit +zwei feurigen grauen Pferden. In der Equipage saß niemand, der Kutscher +war vom Bock gestiegen und stand daneben; die Pferde hielt man am Zügel. +Ringsherum drängten sich die Menschen, ganz vorne standen Polizisten. +Einer von ihnen hielt eine kleine brennende Laterne in der Hand, mit der +er, sich bückend, etwas auf der Straße dicht bei den Rädern der Equipage +beleuchtete. Alle redeten, schrien und stießen Ah!-Rufe aus; der +Kutscher schien bestürzt zu sein und rief mehrmals: + +»Welch ein Unglück! Herrgott, welch ein Unglück!« + +Raskolnikoff drängte sich nach Möglichkeit nach vorne und erblickte +endlich die Ursache dieses Zusammenlaufs und der Neugierde. Auf dem +Boden lag ein von den Pferden getretener Mann, ohne Besinnung, +anscheinend schlecht gekleidet, ganz mit Blut bedeckt. Das Blut floß ihm +vom Gesicht und Kopf; sein Gesicht war vollkommen zerschlagen, zerrissen +und verstümmelt. Man sah, daß er schwer verwundet war. + +»Liebe Leute!« klagte der Kutscher. »Habe ich Schuld daran? Ja, wenn ich +die Pferde gejagt oder ihm nicht zugerufen hätte, ich fuhr aber langsam, +gleichmäßig. Alle haben es gesehen und können es bezeugen ... Ich sah +ihn, wie er über die Straße ging, hin und her wankte, beinahe hinfiel, +-- ich rief ihm einmal zu, noch einmal und zum drittenmal, hielt die +Pferde zurück, aber er fiel direkt unter ihre Hufe! Hat er es +absichtlich getan oder war er zu stark angetrunken ... Die Pferde sind +jung und ängstlich, -- sie zogen an und wurden wild, als er aufschrie +... und das Unglück war geschehen.« + +»Es ist so, wie er sagt!« rief ein Augenzeuge. + +»Er hat ihm zugerufen, das ist wahr, dreimal hat er gerufen,« sagte eine +andere Stimme. + +»Genau dreimal hat er gerufen, wir haben es alle gehört,« rief ein +dritter. + +Der Kutscher war übrigens nicht allzu sehr niedergeschlagen und +erschrocken. Man konnte sehen, daß die Equipage einem reichen und +angesehenen Herrn gehöre, der irgendwo abgeholt werden sollte; die +Polizisten gaben sich deshalb nicht Mühe, diesen letzten Umstand zu +berücksichtigen. Den Überfahrenen wollte man auf das Polizeibureau und +ins Krankenhaus schaffen. Niemand kannte ja seinen Namen. + +Unterdessen hatte sich Raskolnikoff nach vorn gedrängt und beugte sich +über ihn. Plötzlich beleuchtete die Laterne hell das Gesicht des +Unglücklichen, -- er erkannte ihn. + +»Ich kenne ihn, kenne ihn!« rief er aus und drängte sich ganz nach +vorne. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, Titularrat Marmeladoff! Er +wohnt hier, nebenan, im Hause Kosel ... Holt schnell einen Arzt! Ich +will bezahlen, hier ist Geld!« + +Er zog aus der Tasche sein Geld hervor und zeigte es einem Schutzmann. +Er war in merkwürdiger Aufregung. + +Die Polizeibeamten waren sehr zufrieden, daß sie erfahren hatten, wer +der Überfahrene sei. Raskolnikoff nannte auch seinen Namen, gab seine +Wohnung an und bat inständig, als gelte es seinem leiblichen Vater, den +besinnungslosen Marmeladoff schnell in dessen Wohnung zu schaffen. + +»Er wohnt hier, drei Häuser weit,« sagte er, »im Hause Kosel, eines +reichen Deutschen ... Er ging wahrscheinlich betrunken nach Hause. -- +Ich kenne ihn ... Er ist ein Trinker ... Er hat Familie, Frau und Kinder +und noch eine Tochter. Ihn ins Krankenhaus zu schleppen, dauert zu +lange, hier im Hause aber ist sicher ein Arzt. Ich bezahle, bezahle +alles! ... Er wird doch Pflege bei den Seinigen finden, man wird ihm +sofort helfen, auf dem Wege zum Krankenhause aber kann er sterben ...« +Er hatte sogar Zeit gefunden, etwas dem Schutzmanne unbemerkt in die +Hand zu drücken; übrigens war die Sachlage gesetzlich klar und +jedenfalls war Hilfe hier näher. Man hob den Verunglückten auf und trug +ihn; es fanden sich bereitwillige Hände. Das Haus Kosel war nur dreißig +Schritte entfernt. Raskolnikoff ging hinterher, stützte vorsichtig den +Kopf des Verletzten und wies den Weg. »Hierher, hierher! Die Treppe +hinauf muß man ihn mit dem Kopfe voran tragen; dreht euch um ... so +ist's gut! Ich will's bezahlen, ich will's euch danken!« murmelte er. + +Katerina Iwanowna spazierte, wie immer, wenn sie einen freien Augenblick +hatte, in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, vom Fenster bis zum Ofen und +zurück, wobei sie die Hände über der kranken Brust gekreuzt hatte und +mit sich selbst redete. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, öfter +und mehr mit dem älteren Mädchen, der zehnjährigen Poljenka, zu +sprechen, die vieles noch nicht begriff, dafür aber sehr gut verstanden +hatte, daß die Mutter sie brauchte, und die darum ihr stets mit ihren +großen, klugen Augen folgte und sich mit aller Kraft den Anschein gab, +als verstehe sie alles. Jetzt zog Poljenka gerade ihren kleinen Bruder +aus, der sich den ganzen Tag nicht wohl gefühlt hatte, um ihn schlafen +zu legen. Der Knabe wartete darauf, daß man ihm das Hemdchen wechselte, +das in der Nacht noch gewaschen werden mußte, und saß auf einem Stuhl +schweigend, mit ernstem Gesichte, kerzengerade und unbeweglich, mit nach +vorn gestreckten Füßen. Er horchte auf das, was die Mutter mit der +Schwester sprach, mit offenem Munde, seine kleinen Augen schauten starr, +er rührte sich nicht, alles so, wie gewöhnlich brave Kinder dasitzen +müssen, wenn sie ausgekleidet werden, um schlafen zu gehen. Das jüngste +Mädchen, in Lumpen gehüllt, stand bei dem Bettschirm und wartete, bis +sie an die Reihe kam. Die Türe nach der Treppe zu war offen, wegen der +Tabakswolken, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die die arme +Schwindsüchtige alle Augenblicke zwangen, lange und qualvoll zu husten. +Katerina Iwanowna schien in diesen acht Tagen noch magerer geworden zu +sein, und die roten Flecken auf ihren Wangen brannten noch greller als +früher. + +»Du kannst nicht glauben, du kannst es dir nicht vorstellen, Poljenka,« +sagte sie, indem sie auf und ab ging, »wie lustig und prachtvoll wir im +Hause meines Papas lebten, und wie dieser Trinker mich zugrunde +gerichtet hat und euch alle zugrunde richten wird! Mein Papa war Oberst +im Zivildienst und beinahe schon Gouverneur; er war ganz nahe daran, so +daß alle zu ihm kamen und sagten: >Wir sehen Sie, Iwan Michailytsch, +schon als unseren Gouverneur an.< Als ich ... khe! ... als ich ... khe +... khe--khe ... oh, verfluchtes Leben!« rief sie aus, als sie +ausgehustet hatte, und griff nach der Brust. »Als ich ... ach, auf dem +letzten Balle ... bei dem Adelsmarschall ... mich die Fürstin +Bessemeljanja erblickte, -- die mir späterhin den Segen gab, als ich +deinen Papa heiratete, Polja, -- frug sie mich sofort: >Sind Sie nicht +das liebe Mädchen, das mit dem Shawl beim Schlußexamen getanzt hatte?< +... (Das Loch muß man zunähen, nimm eine Nadel und stopfe es sofort, +sonst ... khe ... khe ... zerreißt es ... khe--khe--khe ... mor--gen +noch mehr! rief sie fast erstickend aus.) ... Damals war aus Petersburg +soeben der Kammerjunker Fürst Tschegolski angekommen ... er tanzte mit +mir Mazurka und wollte am anderen Tage kommen, mir einen Antrag zu +machen, aber ich dankte ihm in der schmeichelhaftesten Weise und sagte, +daß mein Herz längst einem anderen gehöre. Dieser andere war dein Vater, +Polja. Mein Papa war furchtbar böse ... Ist das Wasser fertig? Nun, gib +das Hemd ... wo sind die Strümpfe? ... Lida,« wandte sie sich an die +jüngste Tochter, »schlaf diese Nacht einmal ohne Hemd ... und lege die +Strümpfe nebenan hin ... Ich will gleich mitwaschen ... Warum kommt der +Lump nicht, der Trinker! Er trägt sein Hemd schon lange, es ist wie ein +schmutziger Lappen, hat es auch zerrissen ... Ich würde es jetzt +waschen, um mich nicht zwei Nächte nacheinander zu quälen! Herr Gott! +Khe--khe--khe--khe! Schon wieder! Was ist das?« rief sie aus, als sie +die Menge auf der Treppe erblickte, und ein paar Männer, die etwas in +ihr Zimmer hineintrugen. »Was ist das? Was bringen sie da? Oh, Gott!« + +»Wo soll man ihn hinlegen?« fragte ein Schutzmann und sah sich um, +nachdem man den blutbedeckten und besinnungslosen Marmeladoff in das +Zimmer hineingebracht hatte. + +»Auf das Sofa! Legen Sie ihn auf das Sofa, mit dem Kopfe hierher!« +zeigte Raskolnikoff. + +»Er ist überfahren worden, auf der Straße! Er war betrunken!« rief +jemand von der Treppe aus. + +Katerina Iwanowna stand bleich und atmete schwer. Die Kinder waren +erschrocken. Die kleine Lida schrie auf, stürzte zu Poljenka hin, +umfaßte sie und erzitterte am ganzen Körper. + +Nachdem Marmeladoff gebettet war, eilte Raskolnikoff zu Katerina +Iwanowna hin. + +»Beruhigen Sie sich, um Gotteswillen, erschrecken Sie nicht!« sagte er +hastig. »Er ging über die Straße, eine Equipage hat ihn überfahren, +beruhigen Sie sich, er wird zu sich kommen, ich habe angeordnet, daß man +ihn hierher bringe ... ich war schon bei Ihnen, erinnern Sie sich ... Er +wird zu sich kommen, ich will bezahlen!« + +»So weit hat er's gebracht!« schrie Katerina Iwanowna verzweifelt auf +und stürzte zu ihrem Manne. + +Raskolnikoff merkte bald, daß diese Frau keine von denen war, die sofort +in Ohnmacht fallen. Im Nu ward unter den Kopf des Unglücklichen ein +Kissen geschoben, an das niemand gedacht hatte; Katerina Iwanowna begann +ihn zu entkleiden, besah ihn, war die ganze Zeit um ihn und verlor nicht +die Fassung; sie hatte ihr eigenes Leid vergessen, biß die zitternden +Lippen zusammen und unterdrückte den Schrei, der sich ihrer Brust +entringen wollte. + +Raskolnikoff hatte indessen jemand veranlaßt, einen Arzt zu holen. Wie +es sich zeigte, wohnte im Nebenhause ein Arzt. + +»Ich habe nach einem Arzt geschickt,« sagte er zu Katerina Iwanowna, +»beunruhigen Sie sich nicht, ich will bezahlen. Haben Sie Wasser? ... +Geben Sie mir auch eine Serviette oder ein Handtuch, irgend etwas, +schnell; man kann noch nicht sehen, wie stark er verletzt ist ... Er ist +nur verletzt und nicht tot, seien Sie überzeugt. -- Wir wollen sehen, +was der Arzt sagt!« + +Katerina Iwanowna rannte zum Fenster; dort stand in der Ecke auf einem +durchgesessenen Stuhl eine große tönerne Schüssel mit Wasser, zum +Waschen der Kinderwäsche und der Wäsche des Mannes. Diese nächtliche +Wäsche vollzog Katerina Iwanowna selbst, wenigstens zweimal in der +Woche, zuweilen auch öfters, denn sie waren so heruntergekommen, daß sie +fast gar keine Wäsche zum Wechseln besaßen und daß jedes Mitglied der +Familie nur hatte, was es auf dem Leibe trug; Katerina Iwanowna aber +konnte Unreinlichkeit nicht vertragen und lieber quälte sie sich in der +Nacht und über ihre Kraft, um bis zum Morgen die nasse Wäsche trocknen +und ihnen reine Wäsche geben zu können, als Schmutz im Hause zu dulden. +Sie ergriff die Schüssel, um sie Raskolnikoff hinzubringen, wäre aber +fast damit hingefallen. Raskolnikoff hatte schon ein Handtuch gefunden, +angefeuchtet und begann das mit Blut bedeckte Gesicht Marmeladoffs +abzuwaschen. Katerina Iwanowna stand neben ihm, atmete schwer und hielt +die Hände auf die Brust gepreßt. Sie brauchte selbst Hilfe. Raskolnikoff +fing an, zu begreifen, daß er vielleicht töricht daran getan hatte, den +Überfahrenen hierher schaffen zu lassen. Der Schutzmann stand noch +unschlüssig da. + +»Polja!« rief Katerina Iwanowna, »laufe zu Ssonja, schnell. Wenn du sie +nicht zu Hause triffst, sag, sag dort jedenfalls, daß Vater überfahren +sei und daß sie sofort herkommen soll ... wenn sie nach Hause kommt. +Schnell, Polja! Da hast du ein Tuch, bedecke dich!« + +»Lauf, was du kannst!« rief plötzlich der Kleine von seinem Stuhle, dann +fiel er wieder in sein früheres Schweigen zurück und saß auf dem Stuhle +kerzengerade, mit starren Augen und mit vorgestreckten Füßchen. + +Indessen füllte sich das Zimmer so an, daß man sich kaum rühren konnte. +Die Polizeibeamten waren, außer einem, fortgegangen, der blieb eine +Weile da und bemühte sich, die Zuschauer, die von der Treppe +hereingedrungen waren, wieder hinauszutreiben. Aus den anderen Zimmern +dagegen waren fast alle Mieter der Frau Lippewechsel erschienen, zuerst +drängten sie sich nur an der Türe, dann aber überfluteten sie in einem +Haufen das ganze Zimmer. Katerina Iwanowna geriet in Zorn. + +»Laßt ihn doch wenigstens ruhig sterben!« schrie sie die Menge an. +»Meint ihr, hier wird eine Vorstellung gegeben? Mit Zigaretten im Munde +kommen sie her! Khe--khe--khe! Setzt doch noch die Hüte auf den Kopf! +... Da ist ja auch einer im Hute ... Hinaus mit euch! Habt doch +wenigstens vor einem Sterbenden Achtung!« + +Der Husten erstickte sie fast, aber ihr Appell half. Man hatte offenbar +vor Katerina Iwanowna Respekt; die Mieter zogen sich, einer nach dem +anderen, zurück zu der Türe, mit dem eigentümlichen Gefühle der +Befriedigung, das sich stets, sogar bei den Allernächsten, bemerklich +macht, wenn einen ihrer Nebenmenschen ein Unglück trifft. Von diesem +Gefühle ist kein Mensch, ohne jede Ausnahme, frei, mag er noch so +aufrichtiges Mitleid und Teilnahme hegen. + +Hinter der Türe wurden Stimmen laut, die vom Krankenhaus sprachen und +meinten, es gehöre sich nicht, hier unnütze Aufregung hervorzurufen. + +»Es gehört sich nicht, zu sterben!« rief Katerina Iwanowna und stürzte +zur Türe hin, um sie zu öffnen und ihrem Zorne Luft zu machen, aber bei +der Türe stieß sie mit Frau Lippewechsel zusammen, die soeben von dem +Unglücke vernommen hatte und gelaufen kam, um Ordnung zu schaffen. Sie +war eine außerordentlich alberne und fahrige Deutsche. + +»Ach mein Gott!« schlug sie die Hände zusammen. »Ihr Mann ist betrunken +unter die Pferde geraten. Er muß ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!« + +»Amalie Ludwigowna! Ich bitte Sie, sich zu überlegen, was Sie sagen,« +begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie stets im +hochmütigen Tone, damit die »ihre Stellung nicht vergesse,« und konnte +sich auch jetzt dieses Vergnügen nicht versagen), »Amalie Ludwigowna +...« + +»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie mich nicht Amalie +Ludwigowna nennen sollen, ich heiße Amalie Iwanowna.« + +»Sie heißen nicht Amalie Iwanowna, sondern Amalie Ludwigowna, und da ich +nicht zu den schuftigen Schmeichlern gehöre, wie Herr Lebesjätnikoff, +der jetzt hinter der Türe lacht« (hinter der Türe hörte man wirklich +Lachen und den Ruf: »Sie sind sich in die Haare gefahren!«), »so werde +ich Sie stets Amalie Ludwigowna nennen, obgleich ich gar nicht verstehen +kann, warum Ihnen dieser Name nicht gefällt. Sie sehen selbst, was mit +Ssemjon Sacharowitsch ist, -- er stirbt. Ich bitte Sie, diese Türe +sofort abzuschließen und niemanden hereinzulassen. Lassen Sie ihn +wenigstens ruhig sterben! Sonst, versichere ich Sie, wird über Ihre +Handlungsweise noch morgen der Generalgouverneur selbst erfahren. Der +Fürst kannte mich, als ich noch ein junges Mädchen war, und erinnert +sich sehr gut Ssemjon Sacharowitschs, dem er viele Male geholfen hat. Es +ist allen bekannt, daß Ssemjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner +hatte, von denen er sich selbst in edlem Stolz zurückgezogen hatte, weil +er sich seiner unglücklichen Schwäche bewußt war, jetzt aber (sie zeigte +auf Raskolnikoff) hilft uns ein großmütiger junger Mann, der Mittel und +Verbindungen besitzt, und den Ssemjon Sacharowitsch noch als Kind +gekannt hat, und seien Sie versichert, Amalie Ludwigowna ...« + +Dies alles wurde mit außerordentlicher Schnelligkeit hervorgestoßen, und +je länger desto schneller; aber der Husten unterbrach mit einem Male die +Rede von Katerina Iwanowna. In diesem Augenblicke kam der Sterbende zu +sich und stöhnte auf, und sie lief zu ihm hin. Er öffnete die Augen, und +ohne jemand zu erkennen und etwas zu verstehen, begann er den über ihn +gebeugten Raskolnikoff zu betrachten. Er atmete schwer, tief und mit +großen Pausen: auf den Lippen zeigte sich Blut; der Schweiß trat ihm auf +die Stirn. Da er Raskolnikoff nicht erkannt hatte, begann er unruhig die +Augen hin und her zu wenden. Katerina Iwanowna blickte ihn voll +Traurigkeit, aber streng an; aus ihren Augen quollen Tränen. + +»Mein Gott! Seine ganze Brust ist zerquetscht! Sehen Sie, wieviel Blut!« +sagte sie voll Verzweiflung. + +»Man muß ihn ausziehen! Dreh dich etwas um, Ssemjon Sacharowitsch, wenn +du kannst,« rief sie ihm zu. + +Marmeladoff erkannte sie. + +»Einen Priester!« sagte er mit heiserer Stimme. Katerina Iwanowna ging +zum Fenster, lehnte die Stirn an den Fensterrahmen und rief verzweifelt +aus: + +»Oh, dreimal verfluchtes Leben!« + +»Priester!« sagte nach einer Weile von neuem der Sterbende. + +»Man holt ihn schon!« schrie ihn Katerina Iwanowna an; da schwieg er. + +Mit schüchternem, traurigem Blicke suchte er sie; sie war wieder zu ihm +zurückgekehrt und stellte sich an seinem Kopfe hin. Er beunruhigte sich +ein wenig, aber es dauerte nicht lange. Seine Augen blieben bald an der +kleinen Lidotschka (seinem Liebling) in der Ecke haften, die wie im +Fieber zitterte und ihn mit erstaunten, weit aufgerissenen Augen ansah. + +»Ach ... ach ...« zeigte er voll Unruhe auf sie. Er wollte etwas sagen. + +»Was ist denn?« rief Katerina Iwanowna. + +»Barfuß. Barfuß!« murmelte er und zeigte mit einem irren Blick auf die +nackten Füßchen des Kindes. + +»Schweig!« rief gereizt Katerina Iwanowna. »Du weißt selbst, warum sie +barfuß ist.« + +»Gott sei Dank, da ist der Arzt!« rief erfreut Raskolnikoff. + +Der Arzt, ein sorgfältig gekleideter, alter Mann, ein Deutscher, trat +ein und blickte mißtrauisch um sich; er trat zu dem Verunglückten heran, +fühlte seinen Puls, betastete aufmerksam den Kopf, öffnete das mit Blut +völlig durchtränkte Hemd und machte die Brust frei. Die Brust war ganz +zerquetscht, eingedrückt und zerrissen, einige Rippen auf der rechten +Seite waren gebrochen. Auf der linken Seite, ganz am Herzen, war ein +schrecklicher, großer, gelblich schwarzer Fleck, ein furchtbarer +Hufschlag. Des Arztes Blick wurde trüb. Der Schutzmann erzählte ihm, daß +der Verunglückte von einem Rade erfaßt und etwa dreißig Schritte auf der +Straße geschleift worden sei. + +»Merkwürdig, daß er noch zu sich gekommen ist,« flüsterte der Arzt leise +Raskolnikoff zu. + +»Was meinen Sie?« fragte der. + +»Er wird gleich sterben.« + +»Gibt es gar keine Hoffnung?« + +»Nicht die geringste. Er liegt in den letzten Zügen ... Außerdem ist der +Kopf sehr gefährlich verletzt ... Hm. Vielleicht könnte man ihn noch zu +Ader lassen ... aber ... es ist nutzlos. Nach fünf oder zehn Minuten +stirbt er unbedingt.« + +»Lassen Sie ihn doch zu Ader!« + +»Gut ... Ich sage aber im voraus, es ist völlig nutzlos.« + +In diesem Augenblicke ertönten Schritte, die Menge auf der Treppe machte +Platz und auf der Schwelle erschien der Priester, ein alter Mann, mit +den Sakramenten. Ihn hatte ein Schutzmann sofort nach dem Unglück +geholt. Der Arzt trat ihm sofort seinen Platz ab und wechselte mit ihm +einen bedeutungsvollen Blick. Raskolnikoff bat den Arzt, noch eine Weile +zu bleiben. Der zuckte die Achseln und blieb. + +Alle traten zurück. Die Beichte dauerte nicht lange. Der Sterbende +schien kaum etwas zu verstehen; er konnte bloß abgerissene, unklare +Laute hervorbringen. Katerina Iwanowna hatte Lidotschka an die Hand +genommen, den Knaben vom Stuhle heruntergeholt, war mit ihnen in eine +Ecke am Ofen gegangen, auf die Knie gesunken, die Kinder vor sich. Das +kleine Mädchen zitterte; der Knabe aber lag auf seinen nackten Knien +ernst da, erhob sein Händchen, schlug ein großes Kreuz und beugte sich +zum Boden nieder, wobei er mit der Stirne anstieß, was ihm anscheinend +Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich auf die Lippen und hielt +die Tränen zurück; sie betete auch; ab und zu zog sie dem Knaben das +Hemdchen zurecht, und warf über die nackten Schultern des Mädchens ein +Tuch, das sie von der Kommode nahm, ohne sich zu erheben und weiter +betend. Indessen wurde die Türe zu den anderen Zimmern wieder von +Neugierigen geöffnet. Im Treppenflure drängten sich immer mehr und mehr +Zuschauer, Mieter vom ganzen Hause, aber ohne die Schwelle des Zimmers +zu überschreiten. Ein Lichtstümpfchen beleuchtete die ganze Szene. + +In diesem Augenblicke drängte sich durch die Menge auf dem Flure +Poljenka, die gelaufen war, die Schwester zu holen. Sie kam atemlos vom +schnellen Laufen, nahm ihr Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter, +trat an sie heran und sagte: »Sie kommt! Ich habe sie auf der Straße +getroffen!« Die Mutter zog sie neben sich auf die Knie. Durch die Menge +drängte sich leise und schüchtern ein junges Mädchen, und ihre +Erscheinung in diesem Zimmer, mitten in dieser Armut, Lumpen, Tod und +Verzweiflung war grotesk. Sie war auch in Lumpen; ihre Kleidung war von +billiger Sorte, aber straßenmäßig geschmückt, mit Geschick und +Verständnis für ihren besonderen Zweck und diesen Zweck in peinlich +aufdringlicher Weise unterstreichend. Ssonja blieb im Flure neben der +Schwelle stehen, trat nicht in das Zimmer und blickte wie verloren vor +sich hin; sie schien ganz fassungslos, schien vergessen zu haben, daß +sie ein seidenes, farbiges, aus vierter Hand gekauftes und hier +unpassendes Kleid anhatte, mit einer langen und lächerlichen Schleppe +und einer ungeheuren Krinoline, die die ganze Türe einnahm, auch daß sie +helle Stiefel und einen Sonnenschirm trug, den sie doch in der Nacht +nicht brauchte, und einen lächerlichen runden Strohhut mit einer grell +feuerroten Feder aufhatte. Unter diesem keck aufgesetzten Hute blickte +ein mageres, bleiches und erschrockenes Gesichtchen hervor, mit +geöffnetem Munde und vor Schreck unbeweglichen Augen. Ssonja war klein +von Wuchs, etwa achtzehn Jahre alt, mager, aber eine hübsche Blondine +mit wundervollen blauen Augen. Sie blickte starr auf das Sofa und auf +den Priester und atmete schwer vom schnellen Gehen. Wahrscheinlich hatte +sie das Flüstern und einige Worte unter der Menge vernommen. Sie senkte +den Kopf, tat einen Schritt über die Schwelle und blieb im Zimmer +stehen, wieder aber ganz an der Türe. + +Die Beichte und das Abendmahl waren beendet. Katerina Iwanowna ging +wieder an das Lager ihres Mannes. Der Priester trat zurück und wandte +sich beim Weggehen an Katerina Iwanowna, um ihr ein paar Worte zum Trost +und als Beileid zu sagen. + +»Wo soll ich denn mit diesen hin?« unterbrach sie ihn scharf und gereizt +und zeigte auf die Kleinen. + +»Gott ist gnädig. Vertrauen Sie auf die Hilfe des Allmächtigen,« begann +der Priester. + +»Ja--a! Er ist gnädig, aber nicht für uns!« + +»So etwas zu sagen ist eine Sünde, meine Dame,« bemerkte der Priester +und schüttelte den Kopf. + +»Und ist das keine Sünde?« rief Katerina Iwanowna aus und wies auf den +Sterbenden. + +»Vielleicht werden die, welche die unwillkürliche Ursache waren, bereit +sein, es Ihnen zu entgelten, wenigstens hinsichtlich des verlorenen +Verdienstes ...« + +»Sie verstehen mich nicht!« rief gereizt Katerina Iwanowna und winkte +mit der Hand ab. »Ja, wofür sollen sie mich entgelten? Er ist ja selbst +betrunken unter den Wagen geraten? Was für ein Verdienst? Wir hatten von +ihm keinen Verdienst, sondern nur Qual. Er vertrank doch alles! Er +bestahl uns und schleppte es in die Schenke, das Leben der Kinder und +meines hat er in der Schenke verpraßt. Und Gott sei Dank, daß er stirbt! +Weniger Ausgaben bedeutet es!« + +»Sie sollten lieber in der Todesstunde verzeihen. Solche Gefühle zu +haben, ist eine große Sünde!« Katerina Iwanowna war um den Sterbenden +bemüht, sie reichte ihm zu trinken, trocknete den Schweiß und das Blut +von seinem Kopfe, machte die Kissen zurecht und während der Arbeit +unterhielt sie sich mit dem Priester, wobei sie sich nur selten zu ihm +wandte. Jetzt aber stürzte sie sich fast rasend auf ihn. + +»Ach, Väterchen! Das sind nur Worte und weiter nichts! Verzeihung! Sehen +Sie, wenn er nicht überfahren wäre, wäre er heute betrunken nach Hause +gekommen, -- er hat nur ein Hemd, ganz schmutzig und zerrissen, -- er +hätte sich schlafen gelegt, ich aber hätte bis zum frühen Morgen im +Wasser geplantscht, seine Lumpen und die Kinderwäsche gewaschen, hätte +es vor dem Fenster getrocknet, und wenn der Morgen gekommen wäre, hätte +ich mich hingesetzt und die Sachen ausgebessert, -- sehen Sie, das wäre +meine Nachtruhe gewesen! ... Also, was ist da vom Verzeihen zu reden! +Ich habe auch so verziehen!« + +Ein hohler, schrecklicher Husten unterbrach sie. Sie hustete, spie in +ein Taschentuch, hielt die eine Hand vor Schmerz an die Brust und zeigte +mit der anderen dem Priester das Taschentuch. Das Taschentuch war voll +Blut ... + +Der Priester senkte den Kopf und schwieg. + +Marmeladoff lag in den letzten Zügen; er wandte von Katerina Iwanowna, +die sich wieder über ihn gebeugt hatte, seine Augen nicht ab. Er wollte +ihr immer etwas sagen, er begann auch, bewegte voll Anstrengung die +Zunge und sprach die Worte unklar aus, aber Katerina Iwanowna, die +verstanden hatte, daß er sie um Verzeihung bitten möchte, rief ihm +sofort in befehlendem Tone zu: + +»Schweig ... schweig! Ist nicht nötig! ... Ich weiß, was du sagen +willst! ...« + +Und der Sterbende verstummte, aber in diesem Augenblicke fiel sein +irrender Blick auf die Türe, und er erblickte Ssonja. + +Vorher hatte er sie nicht bemerkt, -- sie stand im Schatten in der Ecke. + +»Wer ist das? Wer ist das?« sagte er plötzlich mit heiserer, +erstickender Stimme, ganz aufgeregt und zeigte voll Schrecken mit den +Augen auf die Türe, wo seine Tochter stand, und versuchte sich zu +erheben. + +»Bleib liegen!« rief Katerina Iwanowna. Ihm war es mit unnatürlicher +Anstrengung gelungen, sich auf seine Hand zu stützen. Er sah wild und +unbeweglich eine Weile die Tochter an, als ob er sie nicht erkenne. Er +hatte sie auch noch nie in diesem Aufzuge gesehen. Plötzlich erkannte er +sie, die gedemütigte, völlig niedergeschlagene, geputzte und sich +schämende, die demütig wartete, bis an sie die Reihe kam, vom sterbenden +Vater Abschied zu nehmen. Ein grenzenloses Leid zeigte sich auf seinem +Gesichte. + +»Ssonja! Tochter! Verzeih!« rief er und wollte nach ihr die Hand +ausstrecken, aber er verlor das Gleichgewicht und stürzte vom Sofa mit +dem Gesichte zu Boden. Man lief hin, um ihn aufzuheben und legte ihn auf +das Sofa hin, aber er war schon im Sterben. Ssonja schrie schwach auf, +lief hin, umarmte ihn und blieb bewegungslos stehen. Er starb in ihren +Armen. + +»Er hat's erreicht!« rief Katerina Iwanowna, als sie ihren Mann tot sah. +»Aber was soll ich jetzt tun! Womit soll ich ihn beerdigen? Und womit +soll ich diese hier füttern?« + +Raskolnikoff trat zu Katerina Iwanowna. + +»Katerina Iwanowna,« begann er. »Ihr verstorbener Gatte erzählte mir in +der vorigen Woche sein ganzes Leben und alle seine Verhältnisse ... +Seien Sie versichert, daß er von Ihnen mit Wärme und Achtung sprach. +Seit diesem Abend, als ich erfuhr, wie er an Ihnen hing und wie er Sie, +Katerina Iwanowna, besonders hochschätzte und liebte, trotz seiner +unglücklichen Schwäche, seit diesem Abend waren wir Freunde ... Erlauben +Sie mir jetzt also ... Ihnen behilflich zu sein ... meinem verstorbenen +Freunde die letzte Ehre erweisen zu können. Sehen Sie, hier habe ich ... +zwanzig Rubel, glaube ich ... und wenn dies Ihnen eine Hilfe sein kann, +so ... ich ... will mit einem Worte wiederkommen, ... ich komme +unbedingt ... ich komme unbedingt ... ich komme vielleicht schon morgen +zu Ihnen ... Leben Sie wohl!« + +Und er ging schnell aus dem Zimmer und drängte sich durch die Menge, da +aber stieß er plötzlich mit Nikodim Fomitsch, dem Polizeikommissar, +zusammen, der von dem Unglück gehört hatte und persönlich Anordnungen +treffen wollte. Seit dem Auftritt im Polizeibureau hatten sie einander +nicht gesehen, aber Nikodim Fomitsch erkannte ihn sofort. + +»Ah, Sie sind hier?« fragte er. + +»Er ist gestorben,« antwortete Raskolnikoff. »Ein Arzt war dagewesen, +auch ein Priester war da, alles ist in Ordnung. Regen Sie die arme Frau +nicht auf, sie hat ohnedem die Schwindsucht. Flößen Sie ihr Mut ein, so +gut Sie können ... Sie sind ja ein guter Mensch, ich weiß es ...« fügte +er mit einem schiefen Lächeln hinzu und blickte ihm in die Augen. + +»Wie Sie sich mit Blut befleckt haben,« bemerkte Nikodim Fomitsch, als +er beim Lichte der Laterne einige frische Flecken auf der Weste +Raskolnikoffs erblickte. + +»Ja, ich habe mich bespritzt ... ich bin mit Blut bedeckt!« sagte +Raskolnikoff mit einem eigentümlichen Ausdruck, lächelte, nickte ihm zu +und ging die Treppe hinab. Er stieg langsam hinab, ohne sich zu beeilen, +tief ergriffen, voll von einem einzigen, neuen, unermeßlichen Gefühl, +das als volle und mächtige Lebenswelle über ihn gekommen war. Ein +Gefühl, das dem eines zu Tode Verurteilten gleichen mochte, dem man +unerwartet die Begnadigung mitgeteilt hatte. Auf der Treppe überholte +ihn der Priester, der nach Hause ging; Raskolnikoff ließ ihn schweigend +an sich vorübergehen und wechselte mit ihm einen stummen Gruß. Als er +aber die letzten Stufen hinabschritt, hörte er eilige Schritte hinter +sich. Jemand wollte ihn einholen. Es war Poljenka, sie lief ihm nach und +rief: »Hören Sie, hören Sie doch!« + +Sie kam die letzte Treppe herab und blieb eine Stufe über ihm stehen. +Ein schwaches Licht drang vom Hofe herein. Raskolnikoff schaute in das +magere, aber liebe Gesichtchen des kleinen Mädchens, das ihm zulächelte +und ihn fröhlich, nach Kinderart, ansah. Sie war mit einem Auftrage +gekommen, der ihr selbst sehr zu gefallen schien. + +»Sagen Sie mir, wie heißen Sie denn? ... und noch ... wo wohnen Sie +denn?« fragte sie ihn hastig mit erstickendem Stimmchen. + +Er legte beide Hände auf ihre Schultern und blickte sie glücklich an. Es +war ihm wohltuend, sie anzusehen, -- er wußte selbst nicht warum. + +»Wer hat dich zu mir geschickt?« + +»Schwesterchen Ssonja hat mich geschickt,« antwortete das kleine Mädchen +und lächelte noch freundlicher. + +»Ich wußte, daß Schwesterchen Ssonja dich geschickt hat.« + +»Mama hat mich auch geschickt. Als Schwesterchen Ssonja mich schickte, +kam Mama auch und sagte: Ja, lauf schnell, Poljenka!« + +»Liebst du Schwesterchen Ssonja?« + +»Ich liebe sie mehr als alle anderen!« sagte Poljenka mit besonderer +Festigkeit, und ihr Gesicht wurde plötzlich ernst. + +»Wirst du mich auch lieben können?« + +Anstatt einer Antwort näherte sich ihm das Gesichtchen des Kindes, und +die kleinen Lippen streckten sich ihm zum Kuß entgegen. Ihre Ärmchen, +streichhölzchendünn, umschlangen ihn kräftig, ihr Kopf senkte sich auf +seine Schulter, und das kleine Mädchen fing leise an zu weinen und +preßte sich immer fester und fester mit dem Gesicht an ihn. + +»Papa tut mir so leid!« sagte sie nach einer Weile, hob ihr verweintes +Gesichtchen in die Höhe und wischte sich mit den Händen die Tränen ab. +»Wir haben immer Unglück,« fügte sie unerwartet hinzu und mit jenem +besonders wichtigen Ausdruck, den Kinder annehmen, wenn sie wie +Erwachsene sprechen wollen. + +»Papa hat dich auch geliebt?« + +»Er hat Lidotschka mehr als uns alle geliebt,« fuhr sie mit dem gleichen +Ernste fort, »er liebte sie, weil sie klein und krank ist, und er +brachte ihr immer etwas mit, uns aber lehrte er das Lesen, und mich +Grammatik und Religion,« fügte sie mit Stolz hinzu, »Mama sagte nichts +dazu, aber wir wußten doch, daß sie das gern hatte, und Papa wußte es +auch. Mama will mich Französisch lehren, es ist Zeit, daß ich eine +Erziehung erhalte.« + +»Kannst du auch beten?« + +»Oh, gewiß können wir es. Schon lange, ich bete, seitdem ich groß bin, +allein für mich, Kolja und Lidotschka beten laut mit Mama; zuerst sagen +sie das Gebet an die Gottesmutter und dann noch ein Gebet, >lieber Gott, +verzeihe und segne Schwesterchen Ssonja,< und dann >lieber Gott, +verzeihe und segne unsern andern Papa,< denn unser älterer Papa ist +schon gestorben, dieser war unser zweiter Papa, doch wir beten auch für +ihn.« + +»Poletschka, ich heiße Rodion; bete auch für mich einmal, -- >für den +Gottesknecht Rodion< -- und mehr nicht.« + +»Ich werde mein ganzes künftiges Leben für Sie beten,« sagte eifrig das +kleine Mädchen, lachte wieder heiter und umarmte ihn von neuem. +Raskolnikoff nannte ihr seinen Namen, gab ihr seine Adresse und +versprach, morgen unbedingt zu ihr zu kommen. Das kleine Mädchen ging +völlig entzückt von ihm. Es war die elfte Stunde, als er auf die Straße +hinaustrat. Nach fünf Minuten stand er auf der Brücke, genau an +derselben Stelle, wo vorhin die Frau sich ins Wasser gestürzt hatte. + +»Genug!« sagte er entschlossen und feierlich, »fort mit den +Traumgebilden, fort mit den eingebildeten Schrecken, fort mit den +Gespenstern! ... Es gibt noch ein Leben! Habe ich eben nicht gelebt? +Mein Leben ist noch nicht mit der alten Witwe gestorben! Möge ihr das +Himmelreich beschieden sein und, -- und genug, Mütterchen, es ist Zeit +für dich zu ruhen! Das Reich der Vernunft und des Lichtes ist jetzt +gekommen! ... und ... und des Willens ... und der Kraft ... und nun +wollen wir sehen! Wir wollen unsere Kräfte messen« fügte er +herausfordernd hinzu, als wende er sich an eine dunkle Macht und fordere +sie zum Kampfe auf. »Und ich war schon bereit, mich auf den ellenlangen +Raum einzurichten!« + +»... Sehr schwach fühle ich mich in diesem Augenblicke, aber ... es +scheint, die Krankheit ist vorüber. Ich wußte, daß sie vergehen wird, +als ich vor kurzem wegging. Wie ist mir denn -- ist nicht das Haus +Potschinkoff kaum zwei Schritte von hier. Jetzt gehe ich zu Rasumichin, +wenn es auch nicht nur zwei Schritte wären ... mag er die Wette +gewinnen! ... mag er auch sein Vergnügen haben, -- tut nichts, mag er es +haben! Kraft, Kraft ist nötig, -- ohne Kraft kann man nichts überwinden, +und die Kraft muß wieder durch Kraft erworben werden, aber davon haben +sie keine Ahnung,« fügte er stolz und selbstbewußt hinzu, und konnte +kaum seine Füße noch heben. Der Stolz und das Selbstvertrauen wuchsen +mit jeder Minute in ihm; im nächsten Augenblicke war er schon ein +anderer Mensch als in dem vorhergehenden. Was war mit ihm Besonderes +vorgegangen, das ihn so verwandelt hatte? Er wußte es selbst nicht; ihm +war es wie einem Menschen, der nach einem Strohhalm greift, um sich zu +retten; und es war ihm, als ob es noch Leben gab für ihn, als ob sein +Leben mit der Alten nicht gestorben sei. Vielleicht war er zu eilig mit +der Schlußfolgerung, aber daran dachte er nicht. + +»Den Gottesknecht Rodion soll sie im Gebet nennen,« durchfuhr es ihn, +»und das ist ... für alle Fälle!« fügte er hinzu, und mußte selber über +den Einfall lachen. + +Er befand sich in ausgezeichneter Stimmung. + +Rasumichin fand er mit Leichtigkeit; im Hause Potschinkoff kannte man +schon den neuen Mieter, und der Hausknecht zeigte ihm sogleich den Weg. +Auf der halben Treppe konnte man den Lärm und die lebhaften Stimmen +einer großen Gesellschaft vernehmen. Die Türe zur Treppe war +sperrangelweit auf; man hörte, wie geschrien und gestritten wurde. +Rasumichins Zimmer war ziemlich groß, und es waren etwa fünfzehn +Menschen bei ihm. Raskolnikoff blieb im Flure stehen. Hier, hinter einer +Rollwand, waren zwei Mädchen der Wirtsleute mit zwei großen Samowars +beschäftigt, hier standen Flaschen, Teller und Schüsseln mit Pasteten +und Imbiß, die aus der Küche der Wirtsleute hierher geschafft worden +waren. Raskolnikoff ließ Rasumichin herausholen. Der kam freudig +überrascht herausgelaufen. Man merkte beim ersten Blick, daß er +ungewöhnlich viel getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich nie +betrunken hatte, konnte man es ihm dieses Mal doch anmerken. + +»Höre,« beeilte sich Raskolnikoff zu sagen, »ich bin nur hergekommen, um +dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast, und daß tatsächlich +niemand wissen kann, was alles mit ihm geschieht. Hineingehen kann ich +nicht, -- ich fühle mich zu schwach, so daß ich fürchten muß, +hinzufallen. Und darum sage ich dir gleich >Guten Abend< und >Lebewohl<! +Komm du morgen zu mir ...« + +»Weißt du was, ich begleite dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst, +daß du dich schwach fühlst, da ...« + +»Und deine Gäste? Wer ist dieser mit dem lockigen Haar, der soeben +herausguckte?« + +»Der? Weiß der Teufel, wer er ist! Wahrscheinlich ein Bekannter meines +Onkels, vielleicht ist er auch ohne Aufforderung hergekommen ... Ich +lasse den Onkel bei den Gästen; er ist ein prächtiger Mensch. Schade, +daß du ihn jetzt nicht kennenlernst. Im übrigen, hol sie alle der +Teufel! Jetzt haben sie keine Zeit, an mich zu denken, und ich muß +frische Luft schöpfen; du bist mir sehr gelegen gekommen. Noch zwei +Minuten und ich hätte mich mit ihnen geprügelt, bei Gott! Sie lügen so +das dümmste Zeug zusammen ... Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß +der Mensch im Lügen ist! Na, warum sollst du es dir nicht vorstellen +können? Wir lügen doch selbst? Ja, mögen sie auch jetzt lügen, dafür +werden sie später nicht mehr lügen ... Warte einen Augenblick, ich sage +es noch Sossimoff ...« + +Sossimoff eilte hastig auf Raskolnikoff zu; man merkte in ihm eine +besondere Neugierde, jedoch sein Gesicht hellte sich sofort auf. + +»Gleich ins Bett,« sagte er, nachdem er nach Möglichkeit den Kranken +untersucht hatte, »und zur Nacht nehmen Sie noch ein Pülverchen. Wollen +Sie es nicht? Ich habe schon vorher für Sie ... ein Pülverchen +bereitet.« + +»Meinetwegen nehme ich auch zwei Pulver,« antwortete Raskolnikoff. + +Und das Pulver wurde sofort eingenommen. + +»Es ist sehr gut, daß du ihn begleitest,« sagte Sossimoff zu Rasumichin, +»wie es morgen sein wird, werden wir sehen, heute ist es nicht übel mit +ihm, -- eine bedeutende Verbesserung seit kurzem. Man lernt sein ganzes +Leben ...« + +»Weißt du, was Sossimoff mir soeben zuflüsterte, als wir fortgingen,« +platzte Rasumichin heraus, als sie auf die Straße traten. »Ich will dir, +Bruder, nicht alles so direkt sagen, denn sie sind Dummköpfe. Sossimoff +bat mich, den ganzen Weg mit dir zu schwatzen und dich selbst zum +Schwatzen zu veranlassen, um ihm dann alles nachher zu erzählen, denn er +hat eine Idee ... nämlich daß du ... verrückt seist, oder nahe daran +bist. Stell' dir das vor! Erstens bist du dreimal klüger als er, +zweitens, wenn du nicht verrückt bist, pfeifst du darauf, daß er so +dummes Zeug im Kopfe hat, und drittens, dieses Stück Fleisch, trotz +seiner Spezialität für Chirurgie, ist jetzt auf Geisteskrankheiten +versessen, und in bezug auf dich hat ihn dein heutiges Gespräch mit +Sametoff endgültig darauf gebracht.« + +»Hat dir Sametoff alles erzählt?« + +»Ja, alles, und es ist sehr gut, daß er es erzählt hat. Jetzt habe ich +alles, auch was drum und dran hängt, begriffen, und Sametoff hat auch +begriffen ... Nun ja, mit einem Worte, Rodja ... die Sache ist die ... +Ich bin jetzt ein bißchen betrunken ... Aber das tut nichts ... die +Sache ist die, daß dieser Gedanke ... verstehst du? ... in der Tat ihnen +hin und wieder kam ... verstehst du? Das heißt, niemand wagte es laut +auszusprechen, denn es ist das dümmste Zeug, und besonders, nachdem man +diesen Anstreicher verhaftet hatte, zerfiel alles in nichts und +verschwand auf immer. Aber warum sind sie solche Dummköpfe? Ich hatte +damals Sametoff ein wenig verprügelt, -- das soll unter uns bleiben, +Bruder; bitte, laß dir auch nicht das geringste merken, daß du es weißt, +ich habe bemerkt, daß er empfindlich ist, es geschah bei Louisa, -- +heute, heute wurde alles klar. Hauptsächlich dieser Ilja Petrowitsch! Er +benutzte damals deine Ohnmacht im Polizeibureau, später schämte er sich +selber dessen, ich weiß es ...« + +Raskolnikoff hörte aufmerksam zu. Rasumichin plapperte in seiner +Trunkenheit alles aus. + +»Ich fiel damals darum in Ohnmacht, weil so schlechte Luft war und weil +die Ölfarbe so widerlich roch,« sagte Raskolnikoff. + +»Du willst noch erklären! Nicht die Ölfarbe war es allein, die Krankheit +bereitete sich schon einen ganzen Monat vor, -- Sossimoff ist doch +Zeuge! Aber wie niedergeschlagen jetzt dieser Junge -- Sametoff -- ist, +du kannst dir es nicht vorstellen! -- >Ich bin den kleinen Finger dieses +Menschen nicht mal wert<, sagt er. Das heißt _deinen_ kleinen Finger. Er +hat zuweilen schöne Gefühle, Bruder. Aber die Lehre, die heutige Lehre +im Kristallpalast -- das ist der Hauptcoup! Du hast ihn zuerst +erschreckt und fast zum Wahnsinn gebracht! Du hast ihn fast gezwungen, +wieder an diesen ganzen scheußlichen Unsinn zu glauben und dann +plötzlich zeigtest du ihm die Zunge, -- als würdest du sagen, -- na, da +hast du es jetzt, glaubst du nun? Es war köstlich! Er ist jetzt +zermalmt, zerknirscht! Du bist ein Meister, bei Gott, so muß man mit +ihnen umspringen! Schade, daß ich nicht dabei war! Er erwartete dich +jetzt sehnlichst bei mir. Porphyri will dich auch kennenlernen ...« + +»Ah ... auch der ... Und warum halten sie mich für verrückt?« + +»Das heißt nicht für verrückt. Ich habe, scheint mir, da zuviel gesagt +... Siehst du, es setzte ihn in Erstaunen, daß dich diese Sache +interessiert; wo er alle Umstände kennt ... und er sah, wie es dich +gereizt hatte und wie es mit deiner Krankheit zusammenfiel ... Ich bin +ein wenig betrunken, Bruder, aber weiß der Teufel, er hat so seine +eigene Idee ... Ich sage dir, -- er ist jetzt auf Geisteskrankheiten +versessen. Pfeif' ihm darauf ...« + +Beide schwiegen eine Weile. + +»Höre, Rasumichin,« begann Raskolnikoff, »ich will dir offen gestehen; +ich war soeben bei einem Sterbenden, Beamter ist er gewesen ... dort +habe ich mein ganzes Geld hergegeben ... außerdem hat mich soeben ein +Wesen geküßt, das auch, wenn ich wirklich jemand ermordet hätte, ebenso +... mit einem Worte, ich habe dort noch ein anderes Wesen gesehen ... +mit einer feuerroten Feder ... übrigens, aber ich phantasiere ... ich +bin sehr schwach, stütze mich ... gleich sind wir bei der Treppe ...« + +»Was ist mit dir? Was ist mit dir?« fragte Rasumichin ängstlich. + +»Mir schwindelt ein wenig der Kopf, aber das ist es nicht, mir ist so +traurig, so traurig ... wie jener Frau ... es ist wahr! Sieh, was ist +das? Sieh! Sieh!« + +»Was denn?« + +»Siehst du denn nicht? Siehst du nicht, in meinem Zimmer ist Licht! +Durch die Ritze ...« + +Sie standen schon auf dem letzten Treppenabsatz, neben der Türe zu der +Wirtin Wohnung; man konnte wirklich von unten aus sehen, daß +Raskolnikoffs Kammer erleuchtet war. + +»Sonderbar! Es ist vielleicht Nastasja,« bemerkte Rasumichin. + +»Sie ist niemals um diese Zeit bei mir, und außerdem schläft sie schon +längst, doch ... mir ist es einerlei. Lebe wohl!« + +»Was ist dir? Ich begleite dich doch, wir gehen beide hinein!« + +»Ich weiß, daß wir zusammen hineingehen werden, aber ich will hier deine +Hand drücken und hier von dir Abschied nehmen. Da, gib mir die Hand, +lebwohl!« + +»Was ist dir, Rodja?« + +»Nichts ... komm, wir gehen ... du wirst Zeuge sein ...« + +Sie begannen die Treppe hinaufzusteigen, und Rasumichin durchzuckte der +Gedanke, daß Sossimoff doch vielleicht recht habe. »Ach! Ich habe ihn +mit meinem Geschwätz verwirrt!« murmelte er vor sich hin. Als sie an die +Türe kamen, hörten sie Stimmen im Zimmer. + +»Was ist da los?« rief Rasumichin aus. + +Raskolnikoff ergriff zuerst die Türklinke und öffnete die Türe weit und +blieb wie versteinert auf der Schwelle stehen. + +Seine Mutter und Schwester saßen auf dem Sofa und warteten auf ihn schon +seit anderthalb Stunden. Sie hatte er am allerwenigsten erwartet und +noch weniger an sie gedacht, trotzdem ihm heute noch einmal die +Mitteilung geworden war, daß sie abgereist, unterwegs wären und jeden +Augenblick ankommen könnten. Sie hatten die anderthalb Stunden, einander +unterbrechend, Nastasja ausgefragt, die auch jetzt noch vor ihnen stand +und ihnen schon alles erzählt hatte, und waren vor Schreck fast gelähmt, +als sie hörten, daß er »heute weggelaufen sei,« krank, wie er war, und +sicher nicht bei vollem Bewußtsein, wie man aus der Erzählung entnehmen +konnte! »Mein Gott, was wird mit ihm geschehen sein!« Sie weinten beide, +und beide hatten in diesen anderthalb Stunden Folterqualen erlitten. + +Ein freudiger, entzückter Schrei begrüßte Raskolnikoffs Erscheinen. +Beide stürzten auf ihn zu. Er aber stand wie leblos da; eine +unerträgliche Empfindung hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Seine Hände +erhoben sich nicht, um sie zu umarmen, -- sie konnten sich nicht +erheben. Die Mutter und Schwester erdrückten ihn in ihrer Umarmung, +küßten ihn, lachten und weinten ... Er tat einen Schritt, schwankte und +stürzte ohnmächtig zu Boden. + +Aufregung, erschreckte Ausrufe, Gestöhn ... Rasumichin, der auf der +Schwelle stand, flog ins Zimmer herein, packte den Kranken mit seinen +kräftigen Armen, und jener lag im Nu auf dem Sofa. + +»Hat nichts zu sagen! Tut nichts!« rief er Mutter und Schwester zu, »das +ist eine Ohnmacht, das ist nichts! Soeben hat noch der Arzt gesagt, daß +es ihm bedeutend besser gehe, daß er vollkommen gesund sei! Wasser her! +Sehen Sie, er kommt schon zu sich, er ist bei Bewußtsein!« + +Er ergriff die Hand Dunetschkas so stark, daß er sie beinahe verrenkte, +und zog sie näher, damit sie sich überzeuge, daß »er schon bei +Bewußtsein sei«. Mutter und Schwester blickten Rasumichin wie die +Vorsehung, mit Rührung und Dankbarkeit an; sie hatten schon von Nastasja +gehört, was dieser »eifrige junge Mann,« wie ihn am selben Abend +Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa selbst in einem intimen Gespräche +mit Dunetschka genannt hatte, für ihren Rodja gewesen war. + + + + + Dritter Teil + + + I. + +Raskolnikoff erhob sich und setzte sich auf das Sofa. Er winkte mit der +Hand schwach Rasumichin ab, damit er dem Strome seiner eifrigen +Trostspendung an Mutter und Schwester ein Ende mache, nahm beider Hände +und blickte etwa zwei Minuten schweigend bald die eine, bald die andere +an. Die Mutter erschrak vor seinem Blick. In diesem Blicke lag ein bis +zur Qual gesteigertes Gefühl, aber gleichzeitig etwas Starres, fast +Irrsinniges. Pulcheria Alexandrowna begann zu weinen. + +Awdotja Romanowna war bleich, ihre Hand zitterte in der des Bruders. + +»Geht nach Hause ... mit ihm,« sagte er mit stockender Stimme und wies +auf Rasumichin, »bis morgen; morgen wird alles ... Seid ihr schon lange +angekommen?« + +»Heute abend, Rodja,« antwortete Pulcheria Alexandrowna, »der Zug hat +sich schrecklich verspätet. Rodja, ich will aber jetzt um keinen Preis +der Welt von dir gehen! Ich schlafe hier neben dir ...« + +»Quält mich nicht!« sagte er und machte eine gereizte Bewegung mit der +Hand. + +»Ich bleibe bei ihm!« rief Rasumichin. »Ich will ihn keinen einzigen +Augenblick verlassen, und hol der Teufel alle meine Gäste, mögen sie +außer sich sein! Mein Onkel mag dort repräsentieren.« + +»Wie, wie soll ich Ihnen danken!« begann Pulcheria Alexandrowna und +drückte von neuem Rasumichin die Hand, aber Raskolnikoff unterbrach sie. + +»Ich kann nicht, kann nicht,« wiederholte er gereizt, »quält mich nicht! +Genug, geht weg ... Ich kann nicht! ...« + +»Gehen wir, Mama, gehen wir wenigstens auf einen Augenblick aus dem +Zimmer heraus,« flüsterte die erschrockene Dunja, »wir martern ihn, man +sieht's doch.« + +»Soll ich denn gar nicht bei ihm sein, nach drei Jahren langer +Trennung!« weinte Pulcheria Alexandrowna. + +»Wartet!« hielt Raskolnikoff sie zurück, »ihr unterbrecht mich immer, +und meine Gedanken verwischen sich ... Habt ihr Luschin gesehen?« + +»Nein, Rodja, aber er weiß schon, daß wir angekommen sind. Wir haben +gehört, Rodja, daß Peter Petrowitsch so gut war und dich heute besucht +hat,« fügte ein wenig schüchtern Pulcheria Alexandrowna hinzu. + +»Ja ... er war so gut ... Dunja, ich habe vorher Luschin gesagt, daß ich +ihn die Treppe hinunterwerfen werde und habe ihn zum Teufel gejagt ...« + +»Rodja, was ist dir! Du hast sicher ... du willst doch nicht sagen,« +begann Pulcheria Alexandrowna erschreckt, hielt aber vor einem Blick +Dunjas inne. + +Awdotja Romanowna sah den Bruder aufmerksam an und wartete auf das, was +er weiter sagen würde. Beide waren schon von dem Streite durch Nastasja +benachrichtigt, so weit sie es selber begriffen hatte und mitteilen +konnte, und hatten unter der Ungewißheit und Erwartung gelitten. + +»Dunja,« fuhr Raskolnikoff mit Mühe fort, »ich wünsche diese Heirat +nicht, und darum mußt du morgen noch Luschin absagen, damit er völlig +verschwinde.« + +»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. + +»Bruder, überlege, was du sprichst!« begann Awdotja Romanowna erregt, +aber hielt sofort an sich. »Du bist vielleicht jetzt nicht imstande, du +bist müde,« fügte sie sanft hinzu. + +»Gar im Fieber? Nein ... Du heiratest Luschin um meinetwillen. Ich aber +nehme das Opfer nicht an. Und darum schreibe morgen den Brief ... mit +der Absage ... Gib ihn mir morgen früh zu lesen, und Schluß damit!« + +»Ich kann es nicht tun!« rief das gekränkte Mädchen aus. »Mit welchem +Recht ...« + +»Dunetschka, du bist zu hitzig, hör auf, morgen ... Siehst du denn nicht +...« suchte die erschrockene Mutter zu beruhigen. »Ach, gehen wir besser +fort!« + +»Er redet im Fieber!« rief der berauschte Rasumichin. »Sonst würde er +das nicht sagen! Morgen ist dieser ganze Unsinn verschwunden ... Heute +hat er ihn wohl hinausgejagt. Das ist wahr. Nun, und jener wurde böse +... Er hat hier schöne Reden gehalten, seine Kenntnisse ausgekramt und +ging dann mit eingezogenem Schwanz weg ...« + +»Also, es ist wahr?« rief Pulcheria Alexandrowna aus. + +»Bis auf morgen, Bruder!« sagte Dunja mitleidsvoll. »Gehen wir, Mama ... +Leb wohl, Rodja!« + +»Hörst du, Schwester,« rief er ihnen mit letzten Kräften nach, »ich +phantasiere nicht; diese Heirat ist eine Schuftigkeit. Mag ich ein +Schuft sein, du aber darfst nicht ... einer von beiden ... und wenn ich +auch ein Schuft bin, aber so eine Schwester will ich nicht als Schwester +anerkennen. Entweder ich oder Luschin! Geht ...« + +»Du bist verrückt geworden! Despot!« brüllte Rasumichin, aber +Raskolnikoff antwortete nicht mehr, vielleicht hatte er auch nicht mehr +die Kraft, zu antworten. + +Er hatte sich auf das Sofa gelegt und sich in völliger Ermattung der +Wand zugekehrt. Awdotja Romanowna blickte Rasumichin voll Interesse an; +ihre schwarzen Augen funkelten, -- Rasumichin zuckte unter diesem Blicke +zusammen. Pulcheria Alexandrowna stand, wie vom Donner gerührt, da. + +»Ich kann nicht weggehen!« flüsterte sie fast verzweifelt Rasumichin zu, +»ich bleibe hier, irgendwo ... begleiten Sie Dunja.« + +»Und Sie werden die ganze Sache verderben!« flüsterte Rasumichin außer +sich. »Gehen wir wenigstens auf die Treppe hinaus. Nastasja, leuchte +uns! Ich schwöre Ihnen,« fuhr er im Flüstertone fort, als sie schon auf +der Treppe waren, »daß er vorhin beinahe mich und den Arzt verprügelt +hätte! Verstehen Sie! Selbst den Arzt! Und der gab nach, um ihn nicht zu +reizen und ging fort, ich aber blieb unten, um auf ihn aufzupassen, er +hatte sich aber inzwischen angekleidet und entschlüpfte mir. Er wird uns +auch jetzt entschlüpfen, wenn Sie ihn reizen werden, und es ist Nacht, +und er kann sich etwas antun ...« + +»Ach, was sagen Sie?« + +»Und Awdotja Romanowna kann auch nicht ohne Sie allein in diesen +möblierten Zimmern bleiben! Denken Sie nach, wo Sie abgestiegen sind! +Dieser Schuft Peter Petrowitsch konnte Ihnen doch eine bessere Wohnung +... Übrigens, wissen Sie, ich bin ein wenig betrunken und habe darum ... +ihn geschimpft; beachten Sie es nicht ...« + +»Ich gehe zu seiner Wirtin,« bestand Pulcheria Alexandrowna auf ihrer +Absicht, »ich will sie bitten, mir und Dunja einen Platz für diese Nacht +zu geben. Ich kann ihn nicht so verlassen, ich kann nicht!« + +Während sie darüber sprachen, standen sie auf dem Treppenabsatz vor der +Türe zu der Wohnung der Wirtin. Nastasja leuchtete ihnen von der letzten +Stufe herab. Rasumichin war ungewöhnlich erregt. Vor einer halben Stunde +noch, als er Raskolnikoff nach Hause begleitete, war er wohl übermäßig +geschwätzig und wußte es auch, er war aber völlig munter und ganz +frisch, ungeachtet des fürchterlichen Quantums Wein, das er an diesem +Abend getrunken hatte. Jetzt aber geriet er in Ekstase und der ganze +Wein schien mit einem Male mit verstärkter Macht ihm zu Kopf gestiegen +zu sein. Er stand vor den beiden Damen, hatte sie beide an den Händen +gefaßt, redete auf sie ein und machte ihnen mit erstaunlicher Offenheit +Vorstellungen und wahrscheinlich, um sie besser zu überzeugen, preßte er +bei jedem Worte, wie mit Klammern, ihre Hände, daß ihnen die Tränen +kamen und schien Awdotja Romanowna mit den Augen zu verschlingen, ohne +sich dabei groß zu genieren. Vor Schmerz suchten sie ihre Hände aus +seiner großen und knochigen Hand zu befreien, aber er merkte den Grund +nicht und zog beide noch stärker zu sich. Wenn sie ihm in diesem +Augenblicke befohlen hätten, ihnen zuliebe sich von der Treppe kopfüber +hinabzustürzen, er hätte es getan, ohne sich zu besinnen und zu zögern. +Pulcheria Alexandrowna, ganz aufgeregt im Gedanken an ihren Rodja, +fühlte wohl, daß der junge Mann sehr exzentrisch sei und zu schmerzhaft +ihre Hand drücke, aber da er doch für sie ein Stück Vorsehung war, so +wollte sie alle diese exzentrischen Einzelheiten nicht bemerken. Trotz +ihrer Aufregung wegen des Bruders und obwohl sie nicht ängstlicher Natur +war, bemerkte Awdotja Romanowna doch voll Staunen und fast mit Schrecken +die in wildem Feuer funkelnden Augen des Freundes ihres Bruders, und +bloß das grenzenlose Vertrauen, das ihr die Erzählung Nastasjas über +diesen sonderbaren Menschen eingeflößt hatte, hielt sie ab, wegzulaufen +und die Mutter von ihm wegzubringen. Sie begriff aber auch, daß sie von +ihm jetzt nicht loskommen könne. Nach etwa zehn Minuten aber hatte sie +sich schon gefaßt, -- Rasumichins Art war es, sich schnell restlos zu +zeigen, in welcher Stimmung er auch war, so daß alle sehr bald wußten, +mit wem sie es zu tun hatten. + +»Bei der Wirtin ist es unmöglich, und ein greulicher Unsinn ist es!« +fiel er Pulcheria Alexandrowna in die Rede. »Mögen Sie auch die Mutter +sein, wenn Sie aber hier bleiben, versetzen Sie ihn in Raserei und dann +weiß der Teufel, was folgen wird! Hören Sie, ich will es so machen, -- +jetzt bleibt bei ihm Nastasja sitzen, ich aber begleite Sie beide zu +Ihrer Wohnung, denn Sie können nicht allein auf der Straße gehen. Bei +uns in Petersburg ist es in dieser Hinsicht ... Nun, lassen wir das ... +Ich laufe dann sofort hierher zurück und bringe Ihnen nach einer +Viertelstunde, mein heiliges Ehrenwort darauf, Rapport, -- wie es mit +ihm steht, ob er schläft oder nicht und dergleichen. Dann, hören Sie +weiter! Dann laufe ich von Ihnen auf einen Sprung zu mir, -- ich habe +Gäste, alle sind betrunken, -- nehme Sossimoff -- das ist der Arzt, der +ihn behandelt, er sitzt jetzt bei mir, ist nicht betrunken, er ist nie +betrunken. Ich schleppe ihn zu Rodja und bin wieder sofort bei Ihnen, +also im Laufe von einer Stunde haben Sie zwei Rapporte über ihn, -- und +vom Arzte, verstehen Sie, vom Arzte selbst, das ist mehr wert als von +mir! Sollte es schlimmer sein, ich schwöre Ihnen, so bringe ich Sie +selbst hierher, steht aber alles gut, so gehen Sie schlafen. Ich aber +werde diese Nacht hier schlafen, im Flure, er wird nichts hören, und +Sossimoff werde ich sagen, er soll bei der Wirtin schlafen, damit er da +ist, wenn man ihn braucht. Nun, was ist für ihn jetzt besser, -- Sie +oder der Arzt? Der Arzt ist doch nützlicher, nützlicher. Nun, gehen Sie +also nach Hause! Zu der Wirtin ist es unmöglich; mir ist es möglich, +Ihnen aber nicht, -- sie wird Sie nicht hereinlassen, weil ... weil sie +eine Närrin ist. Sie wird auf Awdotja Romanowna meinetwegen eifersüchtig +sein, wenn Sie es wissen wollen, und auch auf Sie selbst ... Auf Awdotja +Romanowna aber unbedingt. Sie ist ein vollkommen, vollkommen +unberechenbarer Charakter! Übrigens, ich bin auch ein Narr ... Ich +pfeife darauf! Gehen wir! Glauben Sie mir? Nun, glauben Sie mir oder +nicht? ...« + +»Gehen wir, Mama,« sagte Awdotja Romanowna, »er wird bestimmt so tun, +wie er versprochen hat. Er hat schon einmal den Bruder zum Leben +erweckt, und wenn der Arzt wirklich damit einverstanden ist, hier zu +schlafen, dann ist es am besten so.« + +»Sehen Sie ... Sie ... Sie verstehen mich, weil Sie ein Engel sind!« +rief Rasumichin entzückt aus. »Gehen wir! Nastasja! Schnell herauf und +setze dich mit dem Lichte zu ihm; ich komme in einer Viertelstunde ...« + +Obwohl Pulcheria Alexandrowna nicht ganz überzeugt war, widersetzte sie +sich nicht mehr. Rasumichin bot ihnen beiden seinen Arm und zog sie die +Treppe hinab. Es beunruhigte sie übrigens eins -- »obwohl er flink und +gut ist, kann er aber auch erfüllen, was er verspricht? Er ist doch in +solchem Zustande! ...« + +»Sie haben Angst, weil Sie glauben, daß ich nicht ganz klar im Kopfe +bin!« unterbrach Rasumichin ihren Gedankengang, als ob er ihn erraten +hätte, während er mit Riesenschritten weiterging, ohne zu bemerken, daß +die beiden Damen ihm kaum folgen konnten. »Unsinn! das heißt ... ich bin +wie ein Stück Holz betrunken, aber das hat nichts zu sagen; denn ich bin +nicht vom Wein betrunken. Als ich Sie erblickte, da stieg mir das Blut +zu Kopfe ... Aber pfeifen Sie auf mich! Achten Sie nicht darauf, -- ich +lüge; ich bin Ihrer unwürdig! ... Wenn ich Sie nach Hause gebracht habe, +gieße ich mir schleunigst hier aus diesem Kanal zwei Eimer Wasser über +den Kopf, damit ich wieder zur Besinnung komme ... Wenn Sie nur wüßten, +wie ich Sie beide liebe! ... Lachen Sie nicht und seien Sie mir nicht +böse! ... Seien Sie auf alle böse, aber auf mich sollen Sie nicht böse +sein! Ich bin sein Freund, also bin ich auch Ihr Freund. Ich will es so +... Ich habe es geahnt, ... im vorigen Jahre gab es so einen Augenblick +... Übrigens, ich habe gar nichts geahnt, denn Sie sind wie vom Himmel +gefallen. Ich werde vielleicht auch die ganze Nacht nicht schlafen ... +Dieser Sossimoff fürchtete vorhin, daß er den Verstand verlieren könnte +... Darum muß man ihn nicht reizen ...« + +»Was sagen Sie?« rief die Mutter aus. + +»Hat das der Arzt gesagt?« fragte erschrocken Awdotja Romanowna. + +»Er hat gesagt, aber nicht das, sondern ganz was anderes. Er hat ihm +auch eine Arznei gegeben, ein Pulver, ich habe es gesehen, und da kamen +Sie ... Ach! ... Es wäre besser, Sie wären morgen gekommen! Insofern ist +es gut, daß wir weggingen. Nach einer Stunde wird Ihnen Sossimoff selbst +über alles Rapport erstatten. Sehen Sie, der ist nicht betrunken! Auch +ich wäre nicht betrunken ... Warum aber habe ich so viel getrunken? Wie +sie mich in eine Diskussion hineingebracht haben, die Verfluchten! Ich +habe mir selbst das Versprechen gegeben, nicht zu streiten! ... Nun +redeten sie aber so einen Blödsinn zusammen! Ich habe mich beinahe mit +ihnen geprügelt! Ich habe nun meinen Onkel als Präsidium hinterlassen +... Können Sie es glauben, -- sie verlangen völlige Unpersönlichkeit des +einzelnen und finden darin den Sinn des Lebens! Bloß nicht für sich +selbst sein, möglichst wenig eigenartig sein! Und das halten sie für den +allergrößten Fortschritt. Und wenn sie wenigstens auf eigene Art lügen +würden, so aber ...« + +»Hören Sie,« unterbrach ihn schüchtern Pulcheria Alexandrowna, aber das +brachte ihn noch mehr in Eifer. + +»Ja, was meinen Sie?« rief Rasumichin und erhob seine Stimme noch mehr. +»Meinen Sie, ich rede so, weil sie lügen? Unsinn! Ich liebe es, wenn man +lügt. Das Lügen ist das einzige menschliche Privilegium vor allen +Organismen. Wenn du lügst, -- kommst du zur Wahrheit! Ich bin darum auch +Mensch, weil ich lüge. Keine einzige Wahrheit ist erreicht, ohne daß man +vorher vierzigmal, vielleicht auch hundertundvierzigmal gelogen hat, und +das ist in seiner Art höchst ehrenvoll. Wir aber verstehen nicht einmal, +auf eigene Art zu lügen! Lüge mir vor, aber lüge in deiner Weise, und +ich gebe dir dann einen Kuß. In seiner eigenen Weise zu lügen ist besser +noch als Wahrheit nur aus fremder Quelle; im ersten Falle bist du ein +Mensch, im letzteren bist du bloß ein Papagei. Die Wahrheit wird nicht +fortlaufen, das Leben aber kann man dabei mit Brettern zunageln; wir +haben Beispiele dafür. Nun, was sind wir jetzt? Wir alle, alle ohne +Ausnahme, sitzen in bezug auf Wissenschaft, Entwicklung, Denken, +Erfindungen, Ideale, Wünsche, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und +alles, alles, alles und alles noch in der ganz untersten Klasse des +Gymnasiums! Uns hat es genügt, mit fremder Weisheit auszukommen, -- wir +haben Geschmack daran gefunden! Ist es nicht so? Habe ich recht?« + +»Oh, mein Gott, ich weiß es nicht,« sagte die arme Pulcheria +Alexandrowna. + +»Es ist so, so ... obwohl ich mit Ihnen nicht in allem einverstanden +bin,« fügte Awdotja Romanowna ernst hinzu, aber gleich darauf schrie sie +auf, weil er ihr diesmal zu stark die Hand gedrückt hatte. + +»So? Sie sagen, es sei so? Ach, dann sind Sie ... Sie ...« rief er voll +Entzücken aus. »Sie sind die Quelle der Güte, Reinheit, der Vernunft und +... der Vollkommenheit! Geben Sie mir Ihre Hand, geben Sie ... geben +auch Sie Ihre Hand, ich will Ihnen beiden die Hände küssen, hier, +sofort, auf den Knien!« + +Und er warf sich mitten auf dem Trottoir, das zum Glück leer war, auf +die Knie hin. + +»Hören Sie auf, ich bitte Sie, was machen Sie?« rief die äußerst +betroffene Pulcheria Alexandrowna. + +»Stehen Sie doch auf, stehen Sie doch auf!« lachte Dunja, aber mit einer +gewissen Unruhe. + +»In keinem Falle, Sie müssen erst Ihre Hände gegeben haben! So ist es +gut, nun genug, ich bin aufgestanden und nun wollen wir weitergehen! Ich +bin ein unglückseliger Tolpatsch, ich bin Ihrer unwürdig und bin +betrunken und schäme mich ... Ich bin nicht wert, Sie zu lieben, aber +die Knie vor Ihnen zu beugen ist die Pflicht eines jeden, wenn er nicht +ein vollkommenes Tier ist! Und ich habe vor Ihnen die Knie gebeugt ... +Da sind auch Ihre möblierten Zimmer, und schon ihretwegen allein war +Rodion im Rechte, als er vorhin Ihren Peter Petrowitsch hinauswarf! Wie +durfte er es wagen, Sie in solchen Zimmern unterzubringen? Das ist ein +Skandal! Wissen Sie, wer hier absteigt? Sie sind doch seine Braut! Sie +sind seine Braut, nicht wahr? Und nun sage ich Ihnen, daß Ihr Bräutigam +nach diesem ein Schuft ist!« + +»Hören Sie, Herr Rasumichin, Sie haben vergessen ...« begann Pulcheria +Alexandrowna. + +»Ja, ja, Sie haben recht, ich habe mich vergessen, ich schäme mich!« +rief Rasumichin erschrocken. »Aber ... aber ... aber ... Sie können mir +nicht böse sein, daß ich so rede! Denn ich sage es aufrichtig und nicht +weil ... hm! das wäre gemein; mit einem Worte, nicht weil ich Sie ... +hm! ... nun, also, es ist nicht nötig, ich will nicht sagen, warum, ich +darf es nicht! ... Wir hatten alle vorhin gleich begriffen, als er +hereinkam, daß dieser Mensch nicht zu uns paßt. Nicht weil er mit +gebrannten Locken vom Friseur kam, nicht weil er sich beeilte, seinen +Verstand zu zeigen, sondern weil er ein Aushorcher und Spekulierer ist, +weil er ein Jude und Gauner ist, und das sieht man. Sie denken, er ist +klug? Nein, er ist ein Dummkopf! Nun, paßt er denn zu Ihnen? Oh, mein +Gott! Sehen Sie, meine Damen,« er blieb plötzlich auf der Treppe stehen, +»wenn sie alle bei mir auch betrunken sind, dafür aber sind sie alle +ehrlich, und obgleich wir auch lügen, denn ich lüge auch, aber wir +werden uns schließlich bis zur Wahrheit durchlügen, weil wir auf einem +anständigen Wege gehen, Peter Petrowitsch jedoch ... geht nicht auf +einem anständigen Wege. Ich habe wohl soeben sie alle tüchtig +geschimpft, aber ich achte sie alle; sogar Sametoff, wenn ich ihn auch +nicht achte, so liebe ich ihn doch, denn er ist noch wie ein junger +Hund! Selbst dieses Vieh von Sossimoff, weil er auch ehrlich ist und +seine Sache versteht ... Aber genug, alles ist gesagt und wird +verziehen. Ist es verziehen? Ist es wirklich? Nun, gehen wir. Ich kenne +diesen Korridor, bin hier ein paarmal gewesen; sehen Sie hier, in Nummer +drei, war einmal ein Skandal ... Nun, wo wohnen Sie? Welche Nummer? +Acht? Nun, schließen Sie sich für die Nacht ein, lassen Sie niemand +herein. Nach einer Viertelstunde kehre ich mit einer Nachricht zurück +und dann noch einmal nach einer halben Stunde mit Sossimoff, Sie werden +sehen! Leben Sie wohl, ich springe!« + +»Mein Gott, Dunetschka, was wird geschehen?« sagte Pulcheria +Alexandrowna und wandte sich voll Unruhe und Angst an die Tochter. + +»Beruhigen Sie sich, Mama,« antwortete Dunja, indem sie ihren Hut und +die Mantille abnahm. »Uns hat Gott selbst diesen Mann gesandt, obgleich +er direkt von einer Kneiperei kommt. Man kann sich auf ihn verlassen, +ich versichere Sie. Was hat er alles schon für den Bruder getan ...« + +»Ach Dunetschka, Gott weiß, ob er kommen wird? Wie konnte ich mich dazu +entschließen, Rodja allein zu lassen! ... Und ich habe es mir nicht, +durchaus nicht vorgestellt, ihn so zu finden! Wie ernst er war, als wäre +er um uns nicht froh ...« + +Tränen zeigten sich in ihren Augen. + +»Nein, das ist nicht wahr, Mama. Sie konnten ihn nicht gut sehen, weil +Sie fortwährend weinten. Er ist von einer schweren Krankheit sehr +mitgenommen, -- das ist der ganze Grund.« + +»Ach, diese Krankheit! Was soll noch werden, was soll daraus werden! Und +wie er mit dir sprach, Dunja!« sagte die Mutter und blickte schüchtern +der Tochter in die Augen, um ihre Gedanken zu erraten, und teilweise +schon dadurch getröstet, weil Dunja ihren Bruder in Schutz nahm, somit +ihm verziehen habe. »Ich bin überzeugt, daß er morgen seinen Sinn ändern +wird,« fügte sie hinzu, sie weiter auszuforschen. + +»Und ich dagegen bin überzeugt, daß er auch morgen dasselbe sagen wird +...« schnitt Awdotja Romanowna ab, und man sprach nicht mehr darüber, +denn es berührte einen Punkt, über den jetzt zu sprechen Pulcheria +Alexandrowna sich zu sehr fürchtete. + +Dunja trat an die Mutter heran und küßte sie. Diese umarmte sie +schweigend und innig. Dann setzte sie sich in unruhiger Erwartung +Rasumichins hin, begann scheu die Tochter zu beobachten, die mit +gekreuzten Armen und selbst voll Erwartung in Gedanken versunken im +Zimmer auf und ab ging. Das Auf- und Abgehen in Gedanken war die +Angewohnheit von Awdotja Romanowna, und die Mutter hütete sich immer, +ihr Nachdenken zu stören. + +Rasumichin war selbstverständlich lächerlich mit seiner plötzlichen, in +der Trunkenheit entflammten Leidenschaft zu Awdotja Romanowna. Aber wenn +man Awdotja Romanowna gesehen hatte, besonders jetzt, wo sie mit +gekreuzten Armen, traurig und nachdenklich auf und ab ging, würden +vielleicht viele ihn entschuldigt haben, ganz abgesehen von seinem +exzentrischen Zustande. Awdotja Romanowna war sehr schön, -- +hochgewachsen, wundervoll schlank, kräftig und selbstbewußt, -- das +äußerte sich in jeder ihrer Bewegungen, tat aber der Weichheit und +Grazie derselben in keiner Weise Eintrag. Ihr Gesicht ähnelte dem des +Bruders, man konnte sie mit Recht eine Schönheit nennen. Ihr Haar war +dunkelblond, ein wenig heller als das des Bruders; die Augen waren fast +schwarz, ihr Blick stolz und doch wieder zuweilen von ungewöhnlicher +Güte. Sie war bleich, aber nicht krankhaft; ihr Gesicht hatte vielmehr +die Frische der Gesundheit. Ihr Mund war etwas klein, die Unterlippe, +frisch und rot, stand kaum merklich hervor; ebenso das Kinn, das war +aber auch die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesichte und +verlieh ihm dafür eine besondere Eigentümlichkeit und vielleicht auch +etwas wie Hochmut. Der Ausdruck ihres Gesichtes war in der Regel mehr +ernst und sinnend als fröhlich; wie stand aber dafür ein Lächeln diesem +Gesichte, wie kleidete sie ein lustiges, junges und sorgloses Lachen! Es +war begreiflich, daß der hitzige, offene, schlichte, ehrliche, +reckenhafte und betrunkene Rasumichin, der noch nie etwas Ähnliches +gesehen hatte, beim ersten Blick den Kopf verlor. Außerdem zeigte ihm +der Zufall gleich zuerst Dunja, wie absichtlich, in dem schönen Momente +der Liebe zum Bruder und der Freude des Wiedersehens. Er sah dann, wie +ihre Unterlippe vor Entrüstung gegenüber den ungestümen und undankbar +grausamen Wünschen des Bruders zuckte, -- und er konnte nicht mehr +widerstehen. + +Er hatte übrigens die Wahrheit gesagt, als er vorhin in seiner +Trunkenheit auf der Treppe damit herausplatzte, daß die exzentrische +Wirtin Raskolnikoffs, Praskovja Pawlowna, nicht bloß wegen Awdotja +Romanowna, sondern vielleicht auch wegen Pulcheria Alexandrowna auf ihn +eifersüchtig sein würde. Trotzdem Pulcheria Alexandrowna schon +dreiundvierzig Jahre alt war, wies ihr Gesicht immer noch Zeichen der +früheren Schönheit auf und außerdem erschien sie bedeutend jünger als +sie war, was so oft der Fall ist bei Frauen, die die Klarheit des +Geistes, die Frische der Eindrücke und das ehrliche, reine Feuer des +Herzens bis zum Alter sich bewahrten. Wir wollen in Parenthese +hinzufügen, daß dies zu bewahren das einzige Mittel ist, auch seine +Schönheit bis ins Alter zu behalten. Ihr Haar zwar begann grau und dünn +zu werden, kleine strahlenartige Runzeln hatten sich schon lange um die +Augen gelegt, die Wangen waren eingefallen und vor Kummer und Sorgen +hager geworden, und dennoch war dieses Gesicht schön. Es war Dunetschkas +Abbild, nur zwanzig Jahre älter und ohne den besonderen Ausdruck der +Unterlippe, die bei ihr nicht hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war +empfindsam, aber nicht bis zur Süßlichkeit, sie war schüchtern und +nachgiebig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, -- sie konnte in +vielem nachgeben, konnte mit vielem sich abfinden, selbst wenn es ihrer +Überzeugung widersprach, aber zur Verleugnung der Ehrlichkeit und ihrer +tiefsten Überzeugungen konnten sie keine Umstände bringen. + +Genau nach zwanzig Minuten, seit Rasumichin weggegangen war, wurde +zweimal nicht laut, aber hastig an die Türe geklopft; er war +zurückgekehrt. + +»Ich komme nicht herein, habe keine Zeit!« sagte er hastig, als die Türe +geöffnet wurde. »Er schläft einen Herkulesschlaf, ausgezeichnet, ruhig +und geb's Gott, daß er zehn Stunden fortschläft. Nastasja sitzt bei ihm; +ich habe ihr befohlen, nicht wegzugehen, bis ich zurückgekommen bin. +Jetzt schleppe ich Sossimoff her, er wird Ihnen Rapport erstatten, und +dann legen Sie sich schlafen; ich sehe, Sie sind abgespannt bis zum +äußersten ...« Und er lief den Korridor hinab. + +»Welch ein flinker und ... ergebener junger Mann!« rief die Pulcheria +Alexandrowna außerordentlich erfreut aus. + +»Er scheint ein prächtiger Mensch zu sein!« antwortete Awdotja Romanowna +mit einem gewissen Eifer und begann von neuem im Zimmer hin und her zu +wandern. + +Fast nach einer Stunde vernahm man Schritte auf dem Korridor, und bald +darauf wieder ein Klopfen an der Türe. Beide Frauen warteten, diesmal +vollkommen dem Versprechen Rasumichins vertrauend, -- und er hatte auch +tatsächlich Sossimoff mitgeschleppt. Sossimoff hatte sich sofort bereit +erklärt, das Fest zu verlassen und Raskolnikoff zu besuchen, aber zu den +Damen ging er unwillig und mißtrauisch, da er dem betrunkenen Rasumichin +nicht geglaubt hatte. Seine Eigenliebe war aber sofort beruhigt und er +fühlte sich sogar geschmeichelt, -- er sah, daß man wirklich auf ihn, +wie auf einen Propheten, gewartet hatte. Er blieb genau zehn Minuten und +hatte es verstanden, Pulcheria Alexandrowna vollkommen zu beruhigen. Er +sprach voll ungewöhnlicher Teilnahme, aber zurückhaltend und sehr ernst, +ganz wie ein siebenundzwanzigjähriger Arzt bei einer wichtigen +Konsultation, mit keinem Worte schweifte er vom Gegenstande ab und +zeigte nicht den geringsten Wunsch, mit den Damen in ein persönlicheres +und privates Verhältnis zu kommen. Als er beim Eintritt gesehen hatte, +wie blendend schön Awdotja Romanowna war, vermied er, sie zu beachten +und wandte sich während des ganzen Besuches ausschließlich an Pulcheria +Alexandrowna. Dies alles gewährte ihm eine außerordentliche innere +Genugtuung. Über den Kranken äußerte er, daß er ihn gegenwärtig in +durchaus befriedigendem Zustande gefunden habe. Seinen Beobachtungen +nach, habe die Krankheit des Patienten, außer der schlechten materiellen +Lage in den letzten Monaten, noch einige seelische Ursachen, »sie ist +sozusagen das Resultat vieler komplizierter, moralischer und materieller +Einflüsse, Aufregungen, Sorgen, gewisser Ideen ... und dergleichen«. Als +er zufällig bemerkte, daß Awdotja Romanowna besonders aufmerksam +zuzuhören begann, ging er auf dieses Thema näher ein. Auf die aufgeregte +und schüchterne Frage Pulcheria Alexandrownas, wegen seines »gewissen +Verdachts von geistiger Störung,« antwortete er mit ruhigem und offenem +Lächeln, daß man seine Worte übertrieben habe, daß man bei dem Kranken +wohl eine fixe Idee, etwas, das auf Monomanie deute, konstatieren könne, +-- er, Sossimoff, verfolge jetzt besonders diesen äußerst interessanten +Zweig der Medizin, -- aber man dürfe auch nicht vergessen, daß der +Kranke bis heute in fieberhaften Phantasien befangen war, und ... und, +selbstverständlich werde die Ankunft der Verwandten auf ihn kräftigend, +zerstreuend und heilbringend wirken, »wenn nur neue, besondere +Erschütterungen vermieden würden,« fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann +erhob er sich, verabschiedete sich einfach und freundlich, begleitet von +Segnungen, heißer Dankbarkeit und Bitten; das Händchen Awdotja +Romanownas streckte sich sogar, ohne daß er es suchte, zum Abschied ihm +entgegen, und er ging fort, außerordentlich zufrieden mit seinem Besuche +und noch mehr mit sich selbst. + +»Morgen wollen wir weiter sehen; legen Sie sich jetzt unbedingt nieder!« +sagte Rasumichin, indem er mit Sossimoff fortging. »Morgen bin ich +möglichst früh mit einem Rapport bei Ihnen.« + +»Welch ein reizendes kleines Mädchen diese Awdotja Romanowna ist!« +bemerkte Sossimoff und schnalzte mit der Zunge, als sie beide auf die +Straße hinaustraten. + +»Reizend? Du hast reizend gesagt!« brüllte Rasumichin, stürzte sich +plötzlich auf Sossimoff und packte ihn an der Kehle. »Wenn du es noch +einmal wagst ... Verstehst du? Verstehst du?« schrie er, schüttelte ihn +am Kragen und drückte ihn an die Wand. »Hast du gehört?« + +»Laß mich los, betrunkener Teufel!« wehrte sich Sossimoff, blickte ihn +dann, nachdem Rasumichin ihn losgelassen hatte, aufmerksam an und +schüttelte sich plötzlich vor Lachen. + +Rasumichin stand mit gesenkten Armen und in düster ernstem Nachdenken +vor ihm. + +»Selbstverständlich bin ich ein Esel,« sagte er finster, wie eine +Gewitterwolke, »aber auch du ... bist einer.« + +»Nein, Bruder, nein, ich bin keiner. Ich träume nicht von Dummheiten.« + +Sie gingen schweigend weiter und erst, als sie sich der Wohnung +Raskolnikoffs näherten, unterbrach Rasumichin mit sorgenvollem Gesichte +das Schweigen. + +»Höre,« sagte er zu Sossimoff, »du bist ein prächtiger Bursche, aber du +bist, außer all deinen üblen Eigenschaften, noch ein Stromer, das weiß +ich, und außerdem einer von den ärgsten. Du bist ein nervöser, schwacher +Lappen, hast verrückte Anwandlungen, hast Fett angesetzt und kannst dir +nichts versagen, -- und das nenne ich schon gemein, denn es führt zum +Gemeinen. Du hast dich so verwöhnt, daß ich -- offen gesagt, -- nicht im +geringsten verstehe, wie du dabei ein guter und sogar aufopfernder Arzt +sein kannst. Du -- ein Arzt -- schläfst auf einem Pfühle und stehst für +einen Kranken in der Nacht auf! Nach drei Jahren wirst du nicht mehr +wegen eines Kranken aufstehen ... Nun, zum Teufel damit, das ist es +nicht, sondern folgendes, -- du schläfst heute Nacht in der Wohnung der +Wirtin, -- ich habe sie mit Mühe dazu überredet, -- und ich in der +Küche, -- da habt ihr Gelegenheit, einander näher kennenzulernen! Nicht +etwa, wie du meinst, um ...! Davon ist keine Rede!« + +»Ich meine auch gar nichts.« + +»Hier findest du, Bruder, Schamhaftigkeit, Schweigsamkeit, +Schüchternheit, eine gräßliche Keuschheit und dabei -- Seufzer, und sie +schmilzt wie Wachs! Befreie mich von ihr, im Namen aller Teufel in der +Welt! Sie ist sehr ansprechend! ... Ich vergelte es dir, tausendfach +vergelte ich es dir!« + +Sossimoff lachte noch stärker als vorher. + +»Sieh mal, wie du aus dem Häuschen bist! Was soll ich denn mit ihr?« + +»Ich versichere dich, du brauchst dich wenig mit ihr abzugeben, rede +bloß irgendeinen Unsinn, sprich, was du willst, setze dich aber neben +sie und rede frisch drauf los. Du bist ja auch Arzt, fange an, sie zu +behandeln. Ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen. Sie hat ein +Klavier; du weißt, ich klimpere ein bißchen; ich habe bei ihr ein +kleines Lied, ein echtes russisches Lied liegen, >Ich vergieße bittre +Tränen ...< Sie liebt echte Volkslieder, -- nun, mit einem Liede fing es +auch an; und du spielst doch Klavier, wie ein Virtuos, wie ein Meister, +wie Rubinstein ... Ich versichere, du wirst es nicht bereuen! ...« + +»Hast du ihr denn etwas versprochen? Hast du ihr etwas Schriftliches +gegeben? Hast du ihr versprochen, sie zu heiraten ...« + +»Nein, nichts, rein gar nichts! Und sie ist gar nicht so; Tschebaroff +wollte ihr einen Antrag ...« + +»Nun, so laß sie doch laufen!« + +»Man kann sie nicht so ohne weiteres laufen lassen!« + +»Warum denn nicht?« + +»Man kann es nicht tun, und basta! Es ist da etwas, was mich festhält.« + +»Warum hast du sie denn verleitet?« + +»Ich habe sie gar nicht verleitet, ich habe mich selbst vielleicht aus +Dummheit verleiten lassen, ihr aber wird es gleichgültig sein, ob du +oder ich, nur, daß jemand neben ihr sitzt und seufzt. Es ist Bruder ... +Ich kann es dir nicht erklären, es ist ... nun, du kannst doch gut +Mathematik, und beschäftigst dich noch jetzt damit, soviel ich weiß ... +fang an mit ihr die Integralrechnung durchzunehmen, bei Gott, ich +scherze nicht, ich spreche im Ernst, ihr wird es vollkommen gleich sein, +-- sie wird dich ansehen und seufzen, und so wird es ein Jahr dauern. +Ich habe ihr unter anderem sehr lange, zwei Tage nacheinander, von dem +Herrenhaus in Preußen erzählt, -- denn was soll man mit ihr reden? -- +sie seufzte bloß und schwitzte! Nur über Liebe sprich nicht, -- sie wird +furchtbar verlegen, -- aber zeige doch, daß du nicht weggehen kannst, -- +das genügt. Es ist sehr komfortabel dort; man ist ganz wie zu Hause, -- +kann lesen, sitzen, liegen oder schreiben ... Man kann sogar einen Kuß +geben, mit Vorsicht jedoch ...« + +»Was soll ich aber mit ihr?« + +»Ach, ich kann dir es nicht erklären. Siehst du, -- ihr paßt +ausgezeichnet zueinander! Ich habe schon früher an dich gedacht ... Du +wirst schon damit enden! Ist es denn dir nicht einerlei, -- ob früher +oder später? Hier ist, Bruder, so etwas wie ein Pfühl, -- ach! und auch +nicht das allein! Hier lockt es einen und zieht, hier ist das Ende der +Welt, hier wirft man den Anker, hat einen stillen Zufluchtsort, +sozusagen das Zentrum der Erde, die Essenz von Pfannkuchen, +Abendsamowars, stillen Seufzern und warmen gestrickten Jacken und +geheizten Ofenbänken -- nun, es ist, als ob du gestorben wärest und +gleichzeitig am Leben bist, von beidem die Vorteile auf einen Schlag! +Nun, Bruder, zum Teufel, ich habe zu viel geschwätzt, es ist Zeit, +schlafen zu gehen! Höre, -- ich wache in der Nacht zuweilen auf, und da +will ich nach ihm sehen. Es ist aber nichts, Unsinn, alles ist gut. +Beunruhige dich nicht besonders, wenn du aber willst, sieh auch mal +nach. Wenn du aber etwas merken solltest, Fieber zum Beispiel oder +Phantasieren oder etwas anderes, weck mich sofort auf. Übrigens, es wird +nichts passieren ...« + + + II. + +Am andern Morgen gegen acht Uhr wachte Rasumichin ernst und sorgenvoll +auf. Eine Menge von neuen und unvorhergesehenen Fragen tauchte in ihm +auf. Er hätte sich's früher nicht träumen lassen, daß er jemals so +aufwachen würde. Er erinnerte sich bis aufs geringste alles gestern +Vorgefallenen und begriff, daß ihm etwas nicht Alltägliches widerfahren +sei; daß er in sich einen ihm bis jetzt völlig neuen Eindruck, der +keinem früheren ähnelte, aufgenommen habe. Gleichzeitig war er sich +vollkommen klar, daß der Traum, der in seinem Kopfe entflammt war, im +höchsten Grade unerfüllbar sei, -- so unerfüllbar, daß er sich seiner +schämte, und er sich schleunigst anderen, alltäglichen Sorgen und +Plagen, die ihm der »verfluchte gestrige Tag« gebracht hatte, zuwandte. + +Die unangenehmste Erinnerung war für ihn, wie »niedrig und gemein« er +sich gestern benommen hatte, nicht allein, weil er betrunken war, +sondern weil er vor dem jungen Mädchen aus dummer übereilter Eifersucht, +ihre Lage ausnutzend, ihren Bräutigam geschimpft hatte, ohne daß er ihr +gegenseitiges Verhältnis und die Verpflichtungen, geschweige denn den +Mann selbst ordentlich kannte. Und welches Recht hatte er, so schnell +und übereilt über ihn zu urteilen? Und wer hatte ihn zum Richter +berufen? Und kann denn solch ein Wesen, wie Awdotja Romanowna, sich +einem unwürdigen Menschen des Geldes wegen hingeben? Also, muß er doch +auch Tugenden haben. Die möblierten Zimmer? Woher sollte er denn in der +Tat erfahren, was für möblierte Zimmer er genommen hatte? Er läßt doch +eine Wohnung instand setzen ... pfui, welche Erniedrigung! War das etwa +eine Entschuldigung, daß er betrunken war? Eine dumme Ausrede, die ihn +noch mehr bloßstellte. Im Weine liegt die Wahrheit, und da hat sich auch +die ganze Wahrheit, »das heißt, der ganze Schmutz seines neidischen, +rohen Herzen«, gezeigt! Ist denn solch eine Idee ihm, Rasumichin, +überhaupt erlaubt? Wer ist er im Vergleiche mit solch einem jungen +Mädchen, -- er, der betrunkene Skandalmacher und gestrige Prahlhans? +»Ist denn so eine zynische und lächerliche Zusammenstellung überhaupt +möglich?« Rasumichin wurde bei diesem Gedanken rot, dazu erinnerte er +sich noch, wie absichtlich, deutlich, daß er ihnen gestern auf der +Treppe erzählt hatte, die Wirtin werde um seinetwillen auf Awdotja +Romanowna eifersüchtig sein ... nein, es war unerträglich. Wütend schlug +er mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich die Hand und schlug +einen Ziegelstein heraus. + +»Gewiß,« -- murmelte er nach einer Weile vor sich hin, im Gefühle seiner +Erniedrigung, -- »gewiß, alle diese Scheußlichkeiten lassen sich nie +mehr beschönigen und verwischen ... also, soll man auch daran nicht +denken, sondern man muß schweigend seine Pflichten erfüllen ... nicht +um Verzeihung bitten, überhaupt nichts sagen, und ... und +selbstverständlich ist jetzt alles verloren!« + +Trotzdem besah er beim Ankleiden seinen Anzug sorgfältiger als sonst. +Einen anderen Anzug besaß er nicht, und wenn er auch einen anderen +gehabt hätte, hätte er ihn vielleicht nicht angezogen, -- »gerade nicht +angezogen«. Auf keinen Fall aber durfte man ein Zyniker und Schmutzfink +bleiben, -- er hatte kein Recht, die Gefühle anderer zu beleidigen, um +so mehr, als sie, die anderen, ihn brauchten und ihn selbst zu sich +riefen. Also bürstete er aufs peinlichste seine Kleider aus. Seine +Wäsche war stets erträglich, darauf hielt er etwas. + +Er wusch sich an diesem Morgen mit großer Sorgfalt, -- bei Nastasja fand +er Seife, -- er wusch sein Haar, den Hals und besonders die Hände. Als +aber die Frage an ihn herantrat, ob er seine Borsten rasieren sollte +oder nicht, -- Praskovja Pawlowna hatte noch von ihrem verstorbenen +Manne, Herrn Sarnitzin, ausgezeichnete Rasiermesser, -- da wurde sie +unbarmherzig abgelehnt, -- »so soll es bleiben! Wenn sie meinen, daß ich +mich rasiert habe, um ... und sie würden es meinen! Nein, ich tue es +nicht, um keinen Preis in der Welt!« + +»Und ... und die Hauptsache ist, daß er so grob, schmutzig ist und +Manieren wie aus der Kneipe hat, und ... und er weiß auch wohl, daß er +nun wenigstens ein bißchen ein anständiger Mensch ist ... nun, was ist +denn da stolz zu sein, daß er ein anständiger Mensch ist? Jeder muß ein +anständiger Mensch sein und mehr ... er aber hat -- das weiß er -- +manches auf dem Kerbholz ... nichts Unehrenhaftes zwar, aber doch +allerlei! ... Und was für Gedanken hatte er gehabt? Hm ... und kann man +denn dies alles auf eine Stufe mit Awdotja Romanowna stellen? Nun, aber +zum Teufel damit! Mag es so bleiben! Ich will absichtlich so schmutzig, +schmierig, wie aus der Kneipe sein, und pfeife auf alles andere! Ich +will es noch mehr zeigen! ...« + +Bei diesen Selbstgesprächen traf ihn Sossimoff an, der in der Wohnstube +von Praskovja Pawlowna geschlafen hatte. Er wollte nach Hause gehen und +sich vorher noch einmal den Kranken ansehen. Rasumichin teilte ihm mit, +daß derselbe wie ein Murmeltier schlafe. Sossimoff ordnete an, ihn nicht +zu wecken, bis er selbst aufwache. Er versprach, in der elften Stunde +wiederzukommen. + +»Wenn er nur zu Hause bleiben wird,« -- fügte er hinzu. -- + +»Pfui, Teufel! Man hat noch nicht einmal Macht über seinen Kranken und +soll ihn behandeln! Weißt du es, geht _er_ zu denen, oder kommen _die_ +hierher?« + +»Ich glaube, die kommen her,« -- antwortete Rasumichin, als er den Zweck +der Frage verstanden hatte, -- »und sie werden sicher über ihre +Familienangelegenheiten sprechen. Ich gehe fort. Du als Arzt hast +selbstverständlich mehr Rechte als ich.« + +»Ich bin doch kein Beichtvater; ich will kommen und sofort weggehen. Ich +habe noch mehr zu tun.« + +»Mich beunruhigt eins,« -- unterbrach ihn Rasumichin mit verdüstertem +Gesichte, -- »ich habe gestern in der Trunkenheit ihm auf dem Wege +hierher allerhand Dummheiten erzählt, -- allerhand ... unter anderem +auch, daß du fürchtest, daß er anscheinend ... zum Irrsinn neige ...« + +»Du hast auch gestern den Damen davon geschwatzt.« + +»Ich weiß, daß es dumm war. Meinetwegen kannst du mich verhauen! Sag' +mir aber, hattest du wirklich daran geglaubt?« + +»Ich sage doch, es ist Scherz gewesen; was soll ich geglaubt haben? Du +hast ihn mir selbst als einen Monomanen geschildert, als du mich zu ihm +brachtest ... Nun, und gestern haben wir noch mehr geschürt, das heißt, +eigentlich du, mit deiner Erzählung ... von dem Anstreicher; ein schönes +Gespräch, wenn vielleicht gerade damit seine Verwirrung zusammenhängt! +Wenn ich alles genau gewußt hätte, was damals im Polizeibureau +vorgefallen war und daß ihn dort irgendeine Kanaille mit diesem Verdacht +... gekränkt hatte, ich hätte gestern ein solches Gespräch nicht +zugelassen. Diese Monomanen machen doch aus einem Tropfen einen Ozean +und sehen die unsinnigsten Dinge deutlich im wachen Zustande ... Wie ich +mich erinnere, ist mir gestern aus der Erzählung von Sametoff schon die +Sache zur Hälfte klar geworden. Das ist noch gar nichts. Ich kenne einen +Fall, wo ein Hypochonder, ein vierzigjähriger Mann, nicht imstande war, +den täglichen Spott eines achtjährigen Knaben bei Tische zu ertragen und +ihn deshalb ermordete! Und hier, er zerlumpt, ein frecher +Polizeikommissar, beginnende Krankheit, und -- so ein Verdacht! Einem +ausgesprochenen Hypochonder gegenüber! Mit einer wahnsinnigen, besonders +ausgeprägten Eigenliebe! Vielleicht sitzt gerade hier der Ausgangspunkt +der Krankheit! Nun, aber zum Teufel! ... Apropos, dieser Sametoff ist +wirklich ein lieber Junge, aber hm ... es war doch überflüssig, daß er +gestern dies alles erzählte. Ein furchtbarer Schwätzer!« + +»Wem hat er denn alles erzählt? Mir und dir!« + +»Und Porphyri.« + +»Nun, was tut denn das?« + +»Hm, sag' mal, hast du irgendeinen Einfluß auf die Mutter und Schwester? +Man müßte heute ihm gegenüber vorsichtiger sein ...« + +»Sie werden sich schon einigen!« -- antwortete Rasumichin unwillig. + +»Und warum ist er so gegen den Luschin? Ein Mensch mit Geld, ihr, wie es +scheint, nicht unangenehm ... und sie haben doch keinen blanken Heller!« + +»Was forschest du mich aus?« -- rief Rasumichin gereizt. -- »Woher soll +ich wissen, ob sie einen Heller haben oder nicht? Frage sie doch selbst, +vielleicht sagen sie es dir ...« + +»Na, wie dumm du zuweilen bist! Der gestrige Rausch sitzt noch in dir +... Auf Wiedersehen! Danke in meinem Namen deiner Praskovja Pawlowna für +das Nachtlager. Sie hat sich eingeschlossen, auf meinen >Guten Morgen< +hat sie durch die Tür geantwortet, war aber um sieben Uhr aufgestanden, +man brachte ihr aus der Küche durch den Korridor den Samowar ... Ich +hatte nicht die Ehre, sie zu sehen ...« + +Punkt neun Uhr erschien Rasumichin in Bakalejeffs »Möbliertem Zimmer«. +Beide Damen erwarteten ihn schon lange mit nervöser Ungeduld. Sie waren +schon vor sieben Uhr aufgestanden. Er trat finster wie die Nacht ein, +machte eine linkische Verbeugung, worüber er sofort ärgerlich wurde -- +selbstverständlich auf sich selbst. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt +gemacht, -- Pulcheria Alexandrowna stürzte buchstäblich zu ihm hin, +erfaßte ihn an beiden Händen und küßte sie beinahe. Er warf einen +schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna, aber auch auf diesem stolzen +Gesichte lag in diesem Augenblicke solch ein Ausdruck von Dankbarkeit +und freundlicher Gesinnung, solch eine vollkommene und unerwartete +Achtung -- (an Stelle von spöttischen Blicken und unwillkürlicher +schlecht verborgener Verachtung) -- daß es ihm tatsächlich angenehmer +gewesen wäre, wenn man ihn mit Scheltworten begrüßt hätte, es war zu +beschämend. Zum Glück gab es ein Thema zur Unterhaltung, und er benutzte +es sofort. + +Als Pulcheria Alexandrowna vernahm, daß er zwar noch nicht aufgewacht, +aber »daß alles ausgezeichnet gehe,« erklärte sie, das wäre sehr gut, +weil sie noch vorher mit ihm, Rasumichin, über sehr, sehr vieles zu +sprechen habe. Er wurde gefragt, ob er schon Tee getrunken habe und dann +eingeladen, mit ihnen den Tee zu trinken, -- sie hatten in Erwartung +Rasumichins noch nicht gefrühstückt. Awdotja Romanowna klingelte, auf +ihr Zeichen erschien ein schmutziger, zerlumpter Kerl, und bei ihm wurde +der Tee bestellt, der auch endlich gereicht wurde, aber so schmutzig und +so unanständig, daß die Damen sich schämten. Rasumichin begann energisch +über diese möblierten Zimmer zu schimpfen, erinnerte sich aber Luschins, +verstummte, wurde verlegen und war sehr froh, als Pulcheria Alexandrowna +ihn mit ihren Fragen nicht mehr losließ. + +Er beantwortete sie alle, sprach drei Viertelstunden lang, wurde +beständig unterbrochen und von neuem befragt, und teilte alles +Hauptsächliche und Notwendige, das er aus dem letzten Jahre kannte, mit, +und schloß mit einer genauen Erzählung von der Krankheit Rodion +Romanowitschs. Er ließ aus, was verschwiegen werden mußte, unter anderem +den Auftritt in dem Polizeibureau mit allen seinen Folgen. Man lauschte +gierig seiner Erzählung; als er aber glaubte, daß er zu Ende sei und +seine Zuhörerinnen befriedigt habe, zeigte es sich, daß er für sie kaum +begonnen zu haben schien. + +»Sagen Sie, sagen Sie mir, wie meinen Sie ... ach, entschuldigen Sie, +ich kenne ja noch nicht einmal Ihren und Ihres Vaters Namen!« -- sagte +Pulcheria Alexandrowna eilig. + +»Dmitri Prokofjitsch.« + +»Also, Dmitri Prokofjitsch, ich möchte sehr gern erfahren ... wie er +überhaupt ... wie er jetzt die Dinge betrachtet, das heißt, verstehen +Sie mich ... wie soll ich es Ihnen erklären, das heißt, besser gesagt, +-- was liebt er und was liebt er nicht? Ist er immer so gereizt? Was hat +er für Wünsche und Träume, wenn man so sagen kann? Was hat auf ihn jetzt +einen besonderen Einfluß? Mit einem Worte, ich möchte ...« + +»Ach, Mama, wie kann man denn das alles auf einmal beantworten!« -- +bemerkte Dunja. + +»Ach, mein Gott, ich habe doch nicht, gar nicht erwartet, ihn so zu +finden, Dmitri Prokofjitsch.« + +»Das ist sehr natürlich,« -- antwortete Rasumichin. -- »Ich habe keine +Mutter mehr, aber mein Onkel kommt jedes Jahr hergereist und erkennt +mich jedesmal beinahe nicht mehr, selbst dem äußeren nach nicht, und ist +doch auch ein kluger Mann. Nun, und in den drei Jahren Ihrer Trennung +ist viel Wasser den Berg hinuntergeflossen. Ja, und was soll ich Ihnen +sagen? Anderthalb Jahre kenne ich Rodion, -- er ist verschlossen, +düster, selbstbewußt und stolz; in der letzten Zeit -- vielleicht aber +auch schon früher -- argwöhnisch und hypochondrisch. Dabei großmütig und +gut. Er liebt nicht seine Gefühle zu zeigen, und würde lieber hart +erscheinen, als sein Herz zu offenbaren. Zuweilen erscheint er übrigens +gar nicht hypochondrisch, sondern einfach kalt und gefühllos bis zur +Unmenschlichkeit, als ob in ihm zwei entgegengesetzte Charaktere +abwechselten. Er ist zuweilen schrecklich einsilbig! Er hat nie Zeit, +immer stören ihn die anderen, dabei liegt er still und tut nichts. Er +ist nicht spöttisch, nicht als ob es ihm an Witz mangelte, sondern weil +er keine Zeit für solche Nichtigkeiten übrig hat. Er hört nicht bis zu +Ende, wenn man ihm erzählt. Er interessiert sich nie für Dinge, für die +sich alle im gegebenen Augenblicke interessieren. Er schätzt sich hoch +ein und ich glaube, nicht ohne ein gewisses Recht dazu. Nun, was noch +... Mir dünkt, Ihre Ankunft wird auf ihn einen sehr heilsamen Einfluß +ausüben.« + +»Ach, möge es Gott geben!« -- rief Pulcheria Alexandrowna aus, die durch +die Ansicht Rasumichins über ihren Rodja niedergedrückt war. + +Rasumichin aber blickte endlich Awdotja Romanowna mit etwas mehr Mut an. +Er hatte sie während des Gespräches öfters angesehen, aber nur flüchtig, +auf einen kurzen Augenblick, und wandte immer gleich seine Augen ab. +Awdotja Romanowna setzte sich bald an den Tisch und hörte aufmerksam zu, +bald stand sie wieder auf, begann nach ihrer Gewohnheit mit gekreuzten +Armen und zusammengepreßten Lippen im Zimmer auf und ab zu gehen und +stellte zuweilen Fragen, ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, und in +Gedanken versunken. Auch sie hatte die Gewohnheit, nicht bis zu Ende +zuzuhören. Sie war mit einem dunklen Kleide aus leichtem Stoff +bekleidet, um den Hals war ein weißes durchsichtiges Tüchlein +geschlungen. Aus vielen Anzeichen hatte Rasumichin bald die dürftigsten +Verhältnisse der beiden Frauen ersehen. Wenn Awdotja Romanowna wie eine +Königin gekleidet gewesen wäre, hätte er sich wohl vor ihr gar nicht +gefürchtet; jetzt aber hatte sich vielleicht gerade aus dem Grunde, weil +sie so ärmlich gekleidet war, und weil er die ganze ärmliche Umgebung +bemerkt hatte, in seinem Herzen eine gewisse Scheu eingenistet, und er +ängstigte sich für jedes seiner Worte und für jede Bewegung, was für +einen Menschen, der ohnedem sich nicht traute, sicher unbequem war. + +»Sie haben viel Interessantes über den Charakter meines Bruders erzählt +und ... haben es unparteiisch gesagt. Das ist gut; ich dachte, Sie beten +ihn an,« -- bemerkte Awdotja Romanowna mit einem Lächeln. -- »Es scheint +auch besser, wenn um ihn eine Frau ist,« -- fügte sie nachdenklich +hinzu. + +»Das habe ich nicht gemeint, aber Sie haben vielleicht auch darin recht, +nur ...« + +»Was?« + +»Er liebt doch niemand; vielleicht wird er auch nie lieben,« -- schnitt +Rasumichin ab. + +»Das heißt, er ist unfähig, jemand zu lieben?« + +»Wissen Sie, Awdotja Romanowna, daß Sie Ihrem Bruder auffallend ähnlich +sehen, in allem!« -- platzte er plötzlich heraus, sich selber +überraschend, als er sich aber erinnerte, was er ihr soeben über den +Bruder gesagt hatte, wurde er rot wie ein Krebs und stark verlegen. + +Awdotja Romanowna mußte bei seinem Anblicke laut auflachen. + +»In bezug auf Rodja könntet ihr beide euch irren,« -- sagte Pulcheria +Alexandrowna etwas pikiert. -- »Ich rede nicht von dem jetzigen, +Dunetschka. Das, was Peter Petrowitsch in diesem Briefe schreibt ... und +was wir mit dir voraussetzten, -- kann unwahr sein, aber Sie können sich +nicht vorstellen, Dmitri Prokofjitsch, wie phantastisch er ist und -- +wie soll ich es sagen -- launisch er ist. Ich konnte mich nie auf seinen +Charakter verlassen, selbst als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin +überzeugt, daß er auch jetzt plötzlich irgend etwas tun kann, woran +keiner je dachte ... Wir brauchen nicht weit zu gehen, -- ist es Ihnen +bekannt, wie er vor anderthalb Jahren mich überraschte, erschütterte, ja +fast bis zum Tode erschreckte, als er diese, wie heißt sie doch, -- die +Tochter von dieser Sarnitzin heiraten wollte?« + +»Wissen Sie etwas Näheres über diese Geschichte?« -- fragte ihn Awdotja +Romanowna. + +»Glauben Sie,« -- fuhr Pulcheria Alexandrowna voll Eifer fort, -- »ihn +hätten damals meine Tränen, meine Bitten, meine Krankheit, mein Tod +vielleicht aus Gram, unsere große Armut, zurückgehalten? Er würde über +alle Hindernisse in größter Ruhe hinweggeschritten sein. Aber ist es +möglich, ist es möglich, daß er uns nicht liebt?« + +»Er hat mir nie selbst etwas über diese Geschichte gesagt,« -- +antwortete Rasumichin vorsichtig, -- »aber ich habe einiges von Frau +Sarnitzin selbst gehört, die in ihrer Art auch nicht von den +Mitteilsamen ist, und was ich gehört habe, ist vielleicht ein wenig +seltsam.« + +»Und was, was haben Sie gehört?« -- frugen gleichzeitig beide Frauen. + +»Es ist nichts gar so Besonderes. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die +schon eine vollständig abgemachte Sache war und bloß wegen des Todes der +Braut nicht zustande kam, Frau Sarnitzin selbst sehr mißfiel ... +Außerdem erzählt man, daß die Braut nicht hübsch war, das heißt, man +sagt, sie sei sogar häßlich gewesen ... und sehr kränklich ... und +eigentümlich ... sie hatte aber, wie es scheint, auch ihre Vorzüge. Es +mußten unbedingt irgendwelche Vorzüge dagewesen sein, sonst konnte man +so was nicht verstehen ... Mitgift hatte sie gar keine, und auf Mitgift +hätte er auch nicht gerechnet ... Es ist überhaupt schwer in solch einer +Sache zu urteilen.« + +»Ich bin überzeugt, daß sie ein würdiges junges Mädchen war,« bemerkte +Awdotja Romanowna kurz. + +»Gott wird es mir verzeihen, ich habe mich aber doch über ihren Tod +gefreut, obwohl ich es nicht weiß, wer von ihnen den andern zugrunde +gerichtet hätte, -- er sie oder sie ihn,« schloß Pulcheria Alexandrowna. + +Dann begann sie vorsichtig mit Unterbrechungen, wobei sie ständig Dunja +anblickte, was jener offenbar unangenehm war, wieder über den gestrigen +Auftritt zwischen Rodja und Luschin zu fragen. Dieser Vorfall +beunruhigte sie, wie man merken konnte, am meisten, bis zu Angst und +Zittern. Rasumichin erzählte von neuem alles bis ins einzelne und fügte +diesmal noch seine Ansicht hinzu, -- er beschuldigte Raskolnikoff, daß +er Peter Petrowitsch vorsätzlich gekränkt habe und entschuldigte ihn +sehr wenig durch seine Krankheit. + +»Er hat es sich noch vor der Erkrankung ausgedacht,« -- fügte er hinzu. + +»Das denke ich auch« -- sagte Pulcheria Alexandrowna niedergeschlagen. + +Sie war aber sehr überrascht, daß Rasumichin heute sich so vorsichtig +und mit Achtung über Peter Petrowitsch äußerte. Auch Awdotja Romanowna +war erstaunt. + +»Ist das Ihre Meinung über Peter Petrowitsch?« -- konnte sich Pulcheria +Alexandrowna nicht enthalten zu fragen. + +»Über den künftigen Mann Ihrer Tochter kann ich auch keine andere +Meinung haben,« -- antwortete Rasumichin fest und eifrig. -- »Und ich +sage es nicht aus fader Höflichkeit, sondern weil ... weil ... nun, +sagen wir, aus dem Grunde allein, weil Awdotja Romanowna selbst +freiwillig diesen Menschen mit ihrer Wahl beehrte. Wenn ich ihn aber +gestern so geschimpft habe, so war es, weil ich gestern schmählich +betrunken und außerdem ... ohne Verstand war, ja, ohne Verstand, ich +hatte den Verstand verloren, vollkommen ... und heute schäme ich mich +dessen! ...« Er errötete und verstummte. Auch Awdotja wurde rot, aber +unterbrach nicht das Schweigen. Sie hatte kein einziges Wort seit dem +Augenblicke gesagt, als man über Luschin zu sprechen begann. Und +Pulcheria Alexandrowna war ohne ihre Unterstützung offenbar unschlüssig. +Schließlich sagte sie, stockend und ununterbrochen die Tochter +anblickend, daß ein Umstand sie jetzt außerordentlich beunruhige. + +»Sehen Sie, Dmitri Prokofjitsch,« -- begann sie. »Ich will gegenüber +Dmitri Prokofjitsch vollkommen offen sein, Dunetschka.« + +»Selbstverständlich, Mama,« -- bemerkte Awdotja Romanowna nachdrücklich. + +»Sehen Sie, die Sache ist die,« -- beeilte sie sich nun, ihren Kummer +mitzuteilen, als hätte man ihr durch die Erlaubnis eine schwere Bürde +abgenommen. -- »Heute, in aller Frühe, erhielten wir von Peter +Petrowitsch einen Brief, als Antwort auf unsere gestrige Mitteilung von +unserer Ankunft. Sehen Sie, er sollte uns gestern auf dem Bahnhofe +selbst, wie er auch versprochen hatte, empfangen. + +Anstatt dessen war ein Diener zu unserem Empfang auf den Bahnhof gesandt +worden, mit der Adresse von diesen möblierten Zimmern und um uns den Weg +zu zeigen. Peter Petrowitsch aber ließ uns mitteilen, daß er heute +morgen hier bei uns erscheinen werde. Anstatt dessen kam heute früh +dieser Brief von ihm ... Es ist das beste, Sie lesen ihn selbst; in ihm +ist ein Punkt, der mich sehr beunruhigt ... Sie werden selbst sofort +sehen, welchen Punkt ich meine, und ... sagen Sie mir Ihre aufrichtige +Meinung, Dmitri Prokofjitsch! Sie kennen besser als alle den Charakter +Rodjas und können uns am besten raten. Ich sage Ihnen im voraus, daß +Dunetschka schon alles vom ersten Schritt an beschlossen hat, ich aber, +ich weiß noch nicht, wie ich handeln soll und ... und wartete die ganze +Zeit auf Sie.« + +Rasumichin entfaltete den Brief, der mit dem gestrigen Datum versehen +war, und las folgendes: + +»Sehr verehrte Pulcheria Alexandrowna! + +Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich infolge plötzlich +eingetretener Hindernisse Sie auf dem Bahnsteige nicht empfangen konnte, +ich sandte darum einen gewandten Menschen. Ebenso werde ich auch morgen +früh nicht die Ehre einer Zusammenkunft mit Ihnen haben können, +infolge unaufschiebbarer Angelegenheiten im Senat, und um Ihre +verwandtschaftliche Zusammenkunft mit Ihrem Sohne und Awdotja Romanownas +mit ihrem Bruder nicht zu stören. Ich will mir aber die Ehre nehmen, Sie +spätestens morgen, Punkt acht Uhr abends, aufzusuchen, um Ihnen meine +Aufwartung in Ihrer Wohnung zu machen, wobei ich mir erlaube, eine +inständige und -- ich füge hinzu -- dringende Bitte auszusprechen, daß +bei unserer gemeinsamen Zusammenkunft Rodion Romanowitsch nicht anwesend +sein soll, da er mich bei meinem gestrigen Besuche während seiner +Krankheit beispiellos und schwer gekränkt hat, und weil ich außerdem mit +Ihnen persönlich eine notwendige und ausführliche Erklärung über einen +Punkt haben möchte, über den ich Ihre eigene Deutung zu erfahren +wünsche. Ich habe die Ehre, im voraus mitzuteilen, daß, falls ich, +entgegen meiner Bitte, Rodion Romanowitsch antreffen sollte, ich +gezwungen sein würde, mich zu entfernen, woran Sie allein sich die +Schuld zuzuschreiben hätten. + +Ich schreibe es in der Voraussetzung, daß Rodion Romanowitsch, der bei +meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, nach zwei Stunden +plötzlich genas, ausgehen und also zu Ihnen kommen kann. Ich habe mich +davon mit meinen eigenen Augen überzeugt, als er gestern in der Wohnung +eines von Pferden überfahrenen Trunkenboldes, der an den Verletzungen +gestorben ist, dessen Tochter, einem Mädchen von verrufenem +Lebenswandel, etwa fünfundzwanzig Rubel aushändigte, unter dem Vorwande, +die Kosten der Beerdigung zu tragen, was mich sehr überraschte, weil ich +wußte, mit welcher Mühe Sie diese Summe erhielten. Hierbei übermittele +ich meine besondere Achtung der geehrten Awdotja Romanowna und bitte +Sie, meine achtungsvolle Ergebenheit entgegenzunehmen. + + Ihr untertänigster Diener + P. Luschin.« + +»Was soll ich jetzt tun, Dmitri Prokofjitsch?« -- sagte Pulcheria +Alexandrowna fast weinend. -- »Wie kann ich Rodja zumuten, nicht zu +kommen? Er verlangte gestern so eindringlich die Absage an Peter +Petrowitsch, und nun verlangt man, ihn selber abzuweisen. Ja, er wird +absichtlich kommen, wenn er es erfährt und ... was geschieht dann?« + +»Handeln Sie so, wie Awdotja Romanowna beschlossen hat,« -- antwortete +ruhig und sofort Rasumichin. + +»Ach, mein Gott! Sie sagt ... sie sagt -- Gott weiß was, und erklärt mir +nicht den Zweck! Sie sagt, es würde am besten sein, das heißt, nicht am +besten sein, sondern es sei aus einem Grunde unbedingt nötig, daß auch +Rodja heute um acht Uhr abends bestellt werde, und daß sie unbedingt +hier einander träfen ... Und ich wollte ihm nicht einmal den Brief +zeigen, und es irgendwie durch Ihre Vermittelung einrichten, daß er +nicht herkäme ... denn er ist so gereizt ... Ja, und ich verstehe gar +nicht, was für ein Trunkenbold dort gestorben ist und was das für eine +Tochter ist, und in welcher Weise konnte er dieser Tochter das letzte +Geld abgeben ... das ...« + +»Das Ihnen so teuer zu stehen kam, Mama,« -- fügte Awdotja Romanowna +hinzu. + +»Er war gestern außer sich,« -- sagte Rasumichin nachdenklich. -- »Wenn +Sie erst wüßten, was er gestern in einer Restauration angerichtet hat, +es war ja klug ... hm! Von einem Verstorbenen und von einem Mädchen +sprach er tatsächlich gestern etwas zu mir, als wir nach Hause gingen, +aber ich habe kein Wort verstanden ... übrigens, war ich gestern auch +...« + +»Mama, am besten gehen wir zu ihm hin und dort, versichere ich Sie, +werden wir sofort sehen, was zu tun ist. Und außerdem ist es Zeit, -- +Herrgott! Es ist über zehn Uhr!« -- rief sie aus, nachdem sie einen +Blick auf ihre prachtvolle goldene Uhr mit Emaille warf, die an einer +sehr feinen venetianischen Kette um ihren Hals hing, und mit der übrigen +Kleidung gar nicht harmonierte. + +»Ein Geschenk des Bräutigams,« -- dachte Rasumichin. + +»Ach, es ist Zeit ... es ist Zeit, Dunetschka, es ist Zeit!« -- regte +sich Pulcheria Alexandrowna auf. »Er wird denken, daß wir ihm noch von +gestern her böse sind, weil wir solange nicht kommen. Ach, mein Gott!« + +Indem sie es sagte, warf sie eilig ihre Mantille um und setzte den Hut +auf; auch Dunetschka zog sich an. Ihre Handschuhe waren nicht bloß +abgetragen, sondern sogar zerrissen, wie Rasumichin bemerkte, indessen +verlieh diese augenscheinliche Armut der Kleidung den Damen eine Art +Würde, was immer bei denen der Fall ist, die ein ärmliches Kleid zu +tragen verstehen. Rasumichin blickte voll Ehrfurcht Dunetschka an und +war stolz, daß er sie begleiten durfte. »Die Königin,« -- dachte er im +stillen, -- »die ihre Strümpfe in Gefängnissen stopfte, sah sicher in +jenem Augenblicke wie eine echte Königin aus und königlicher als zur +Zeit der prachtvollsten Feste und Empfänge.« + +»Mein Gott!« -- rief Pulcheria Alexandrowna aus, -- »habe ich je +gedacht, daß ich ein Wiedersehen mit meinem Sohne, mit meinem lieben, +lieben Rodja fürchten werde, wie ich es jetzt tue! ... Ich fürchte mich, +Dmitri Prokofjitsch!« -- fügte sie hinzu und blickte ihn schüchtern an. + +»Fürchten Sie sich nicht, Mama,« sagte Dunja und küßte sie, -- »glauben +Sie besser an ihn. Ich glaube.« + +»Ach, mein Gott! Ich glaube auch, habe aber die ganze Nacht nicht +geschlafen!« -- rief die arme Frau aus. + +Sie traten auf die Straße hinaus. + +»Weißt du, Dunetschka, als ich gegen Morgen erst ein wenig einschlief, +träumte ich plötzlich von der verstorbenen Marfa Petrowna ... sie war +ganz in weiß ... sie kam auf mich zu, nahm mich an der Hand, schüttelte +den Kopf über mich, und so streng, so streng, als ob sie mich verdamme +... Ist das auch ein gutes Zeichen? Ach, mein Gott, Dmitri Prokofjitsch, +Sie wissen es noch nicht, -- Marfa Petrowna ist gestorben!« + +»Nein, ich weiß es nicht. Was für eine Marfa Petrowna?« + +»Nachher, Mama,« -- mischte sich Dunja ein, -- »er weiß ja noch nicht, +wer Marfa Petrowna war.« + +»Ach, Sie wissen es nicht? Und ich dachte, Sie kennen schon alles. +Entschuldigen Sie mich, Dmitri Prokofjitsch, ich verliere in diesen +Tagen völlig den Verstand. Ich sehe Sie wirklich wie unsere Vorsehung +an, und darum war ich auch so überzeugt, daß Sie alles schon kennen. Ich +betrachte Sie wie einen Verwandten ... Seien Sie mir nicht böse, daß ich +so spreche. Ach, mein Gott, was ist mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie +sie verletzt?« + +»Ja, ich habe sie verletzt,« -- murmelte glückselig Rasumichin. + +»Ich spreche zuweilen so offenherzig, daß Dunja mich korrigiert ... +Aber, mein Gott, in was für einer Kammer er lebt! Ist er wohl schon +aufgewacht? Und diese Frau, seine Wirtin, rechnet dies für ein Zimmer? +Hören Sie, Sie sagen, er liebt nicht, sein Herz zu zeigen, so daß ich +vielleicht ihm auch überdrüssig werden kann ... mit meinen Schwächen? +... Können Sie mir nicht sagen, Dmitri Prokofjitsch, wie ich ihm +gegenüber sein soll? Wissen Sie, ich gehe ganz wie verloren umher.« + +»Fragen Sie ihn nicht zu sehr aus, wenn Sie merken, daß er das Gesicht +verzieht; besonders über seine Gesundheit fragen Sie ihn nicht zu viel, +er liebt es nicht.« + +»Ach, Dmitri Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein.« + +»Hier ist die Treppe ... Was für eine schreckliche Treppe ...« + +»Mama, Sie sind so bleich, beruhigen Sie sich, meine Liebe,« -- sagte +Dunja und schmiegte sich an sie, -- »er muß glücklich sein, Sie zu +sehen, und Sie quälen sich so,« -- fügte sie mit funkelnden Augen hinzu. + +»Warten Sie, ich sehe zuerst nach, ob er aufgewacht ist.« + +Die Damen folgten langsam Rasumichin, der vorher die Treppe +hinaufgegangen war, und als sie im vierten Stock an der Türe der Wirtin +vorbei gingen, bemerkten sie, daß die Türe zu deren Wohnung ganz +unbedeutend geöffnet war, und daß zwei schwarze Augen sie beide schnell +in der Dunkelheit betrachteten. Als ihre Blicke sich kreuzten, wurde die +Türe plötzlich zugeschlagen und mit solch einem Knall, daß Pulcheria +Alexandrowna vor Schreck beinahe aufgeschrien hätte. + + + III. + +»Er ist gesund, gesund!« -- rief den Eintretenden Sossimoff fröhlich zu. + +Er war schon vor zehn Minuten gekommen und saß in seiner gestrigen Ecke +auf dem Sofa. Raskolnikoff saß in der andern Ecke ihm gegenüber, +vollkommen angekleidet und frisch gewaschen und gekämmt, was schon lange +nicht mehr vorgekommen war. Das Zimmer war mit einem Male voll, aber +Nastasja fand doch Zeit, den Besuchern zu folgen, um zuzuhören. + +In der Tat, Raskolnikoff war fast gesund, besonders im Vergleiche mit +gestern, er war bloß sehr blaß, zerstreut und düster. Dem Äußeren nach +glich er einem Verwundeten oder einem, der einen starken physischen +Schmerz duldet, -- seine Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen +aufeinander gepreßt und der Blick fieberhaft. Er sprach wenig und +widerwillig, wie mit großer Anstrengung oder als erfülle er eine +Pflicht, und eine Unruhe zeigte sich zuweilen in seinen Bewegungen. + +Es fehlte bloß die Binde um den Arm oder ein Verband um den Finger, um +die völlige Ähnlichkeit mit einem Verletzten vollzumachen. + +Aber dieses bleiche und düstere Gesicht erhellte sich auf einen +Augenblick, als Mutter und Schwester eintraten, aber sein Gesicht nahm +rasch statt der früheren düsteren Zerstreutheit den Ausdruck innerer +Pein an, und Sossimoff, der seinen Patienten mit dem ganzen Eifer des +Anfängers beobachtete und studierte, bemerkte voll Verwunderung, statt +Freude über die Ankunft der Verwandten, die mühsam versteckte +Entschlossenheit, eine mehrstündige Folterqual zu ertragen, die man +nicht umgehen kann. Er sah später, wie fast jedes Wort der +nachträglichen Unterhaltung irgendeine Wunde seines Patienten zu +berühren und aufzuwühlen schien, gleichzeitig aber war er wieder +erstaunt, wie dieser heute verstand, sich zu bemeistern und seine +Gefühle zu verbergen, -- der gestrige Monomane, der wegen des geringsten +Wortes fast in Raserei geriet. + +»Ja, ich sehe jetzt selbst, daß ich fast gesund bin,« sagte +Raskolnikoff, und küßte die Mutter und die Schwester freundlich, worüber +Pulcheria Alexandrowna in Entzücken geriet, »und ich spreche nicht mehr +wie _gestern_,« fügte er hinzu, sich an Rasumichin wendend, und drückte +ihm freundschaftlich die Hand. + +»Ich habe mich heute nicht wenig über ihn gewundert,« begann Sossimoff, +der über die Eingetretenen sehr erfreut war, weil er in den zehn Minuten +den Faden des Gespräches mit seinem Kranken schon verloren hatte. »Nach +drei oder vier Tagen, wenn es so weiter geht, wird alles beim alten +sein, das heißt, wie es vor einem oder zwei Monaten ... vielleicht auch +vor drei Monaten war. Es hat sich doch seit langem vorbereitet und +entwickelt ... ah? Wollen Sie jetzt eingestehen, daß Sie selbst +vielleicht mit daran schuld waren?« fügte er mit einem vorsichtigen +Lächeln hinzu, als fürchte er, ihn schon dadurch zu reizen. + +»Es ist sehr möglich,« antwortete Raskolnikoff kalt. + +»Ich sage es nur aus dem Grunde,« fuhr Sossimoff fort, »weil Ihre +völlige Genesung jetzt hauptsächlich von Ihnen allein abhängt. Jetzt, wo +man mit Ihnen reden kann, möchte ich Ihnen vorhalten, daß es notwendig +ist, die ursprünglichen, sozusagen die Grundursachen zu beseitigen, die +Ihren Krankheitszustand hervorgerufen haben, dann werden Sie auch +genesen, sonst kann es wieder schlimmer werden. Diese ursprünglichen +Ursachen kenne ich nicht, aber Ihnen müssen Sie bekannt sein. Sie sind +ein kluger Mensch und haben sich selbst sicher beobachtet. Mir scheint, +der Anfang Ihrer Krankheit fällt teilweise mit Ihrem Austritt aus der +Universität zusammen. Sie dürfen nicht ohne Beschäftigung sein, und +darum können Arbeit und ein fest vorgenommenes Ziel, wie mich dünkt, +Ihnen von sehr großem Werte sein.« + +»Ja, ja, Sie haben vollkommen recht ... ich will sofort die Universität +besuchen, und dann wird alles ... wie geschmiert gehen ...« + +Sossimoff, der seine klugen Ratschläge teilweise wegen der Wirkung auf +die Damen erteilt hatte, war natürlich verblüfft, als er seine Rede +beendete und auf dem Gesicht seines Zuhörers einen entschieden +spöttischen Ausdruck bemerkte. Das währte übrigens nur einen Augenblick. +Pulcheria Alexandrowna begann sofort, Sossimoff zu danken, besonders für +seinen Nachtbesuch im Hotel. + +»Wie, er ist in der Nacht bei euch gewesen?« fragte Raskolnikoff +anscheinend beunruhigt. »Also habt ihr auch nach der Reise nicht +geschlafen?« + +»Ach, Rodja, das war doch vor zwei Uhr. Wir haben uns auch zu Hause +nicht früher als um zwei Uhr schlafen gelegt.« + +»Ich weiß nicht, wie ich ihm danken soll,« fuhr Raskolnikoff finster +fort und den Blick senkend, »abgesehen von der Geldfrage -- +entschuldigen Sie, daß ich es erwähnte« (er wandte sich an Sossimoff), +»ich weiß gar nicht, wodurch ich so eine besondere Aufmerksamkeit +Ihrerseits verdient habe? Ich verstehe es einfach nicht ... und ... es +lastet auf mir sogar, weil es mir unverständlich ist, -- ich sage es +Ihnen ganz offen --.« + +»Werden Sie nur nicht gereizt,« lachte Sossimoff gezwungen. »Stellen Sie +sich vor, daß Sie mein erster Patient sind, nun, und unsereiner, der +soeben zu praktizieren anfängt, liebt seine ersten Patienten wie eigene +Kinder, und manche sogar verlieben sich in sie. Und ich bin an Patienten +nicht reich.« + +»Ich will gar nicht reden von dem dort,« fügte Raskolnikoff hinzu und +wies auf Rasumichin, »auch er hat außer Kränkungen und Sorgen nichts von +mir erfahren.« + +»Was er faselt! Bist du etwa heute in einer gerührten Stimmung?« rief +Rasumichin. + +Wenn er etwas scharfsinniger gewesen wäre, hätte er gesehen, daß hier +nichts von einer gerührten Stimmung da war, eher das Gegenteil. Awdotja +Romanowna aber hatte es gemerkt. Sie beobachtete durchdringend und voll +Unruhe den Bruder. + +»Von Ihnen, Mama, wage ich nicht zu sprechen,« fuhr er fort, als sage er +etwas vorher auswendig Gelerntes auf. »Heute erst konnte ich +einigermaßen einsehen, wie Sie sich gestern hier in Erwartung meiner +Rückkehr gequält haben müssen.« + +Dann reichte er plötzlich stumm und mit einem Lächeln der Schwester die +Hand. In diesem Lächeln schimmerte ein wahres, unverfälschtes Gefühl. +Dunja erfaßte sofort, erfreut und dankbar, die ausgestreckte Hand und +drückte sie innig. Zum erstenmal wandte er sich an sie nach dem +gestrigen Zerwürfnis. Das Gesicht der Mutter leuchtete vor Entzücken und +Glück beim Anblick dieser endgültigen und wortlosen Aussöhnung zwischen +Bruder und Schwester. + +»Dafür liebe ich ihn!« flüsterte, sich energisch auf dem Stuhle wendend, +Rasumichin, der sich leicht begeisterte. »Er hat solche Regungen! ...« + +»Und wie alles sich bei ihm gut macht,« dachte die Mutter, »was für edle +Regungen er hat, und wie schlicht und zart er das gestrige +Mißverständnis mit der Schwester beseitigt hat -- nur dadurch, daß er +ihr die Hand im richtigen Augenblicke reichte und sie lieb anblickte ... +Und was für schöne Augen er hat und wie schön das ganze Gesicht ist ... +Er ist sogar schöner als Dunetschka ... Aber, mein Gott, was für einen +Anzug hat er an, wie schrecklich ist er gekleidet! Der Markthelfer +Wassja im Laden Atanassi Iwanowitsch ist besser gekleidet! ... Und ich +möchte mich ihm an den Hals werfen und ihn umarmen, und ... weinen -- +aber ich fürchte mich, ich fürchte ... wie er es auffassen könnte, oh +Gott! Er spricht wohl freundlich, aber ich fürchte mich! Nun, warum +fürchte ich mich? ...« + +»Ach, Rodja, du wirst nicht glauben,« beeilte sie sich plötzlich, seine +Bemerkung zu beantworten, »wie wir gestern, ich und Dunetschka ... +unglücklich waren! Jetzt, wo alles vorüber und beendet ist, und wir alle +wieder glücklich sind, -- kann man es sagen. Stell dir vor, wir laufen +hierher, um dich zu umarmen, fast direkt von der Eisenbahn, und diese +Frau, -- ah, da ist sie auch! Guten Tag, Nastasja! ... Sie sagt uns +plötzlich, daß du im starken Fieber liegst und daß du soeben ohne Wissen +des Arztes im Fieber weggelaufen seist, und daß man dich suchen gegangen +sei. Du glaubst nicht, wie das uns traf! Ich stellte mir sofort vor, wie +der Leutnant Potantschikoff, unser Bekannter, ein Freund deines Vaters, +-- du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja -- tragisch endete, er +hatte auch starkes Fieber und war in derselben Weise weggelaufen und in +einen Brunnen im Hofe hineingefallen, am anderen Tage erst konnte man +ihn herausziehen. Und wir haben es uns selbstverständlich noch schwärzer +ausgemalt. Wir wollten hinausstürzen und Peter Petrowitsch suchen, um +mit seiner Hilfe wenigstens ... denn wir waren allein, vollkommen +allein,« sagte sie mit kläglicher Stimme und verstummte plötzlich, als +sie sich erinnerte, daß es noch ziemlich gefährlich sei, über Peter +Petrowitsch zu sprechen, ungeachtet dessen, »daß alle schon wieder +vollkommen glücklich sind.« + +»Ja, ja ... das alles ist sicher ärgerlich ...« murmelte Raskolnikoff, +aber mit solch einem zerstreuten und fast unaufmerksamen Ausdrucke, daß +Dunetschka ihn voll Erstaunen ansah. + +»Was wollte ich doch sagen,« fuhr er fort und versuchte sich zu +besinnen, »ja, -- bitte, Mama, und du, Dunetschka, denkt nicht, daß ich +nicht als erster heute zu euch kommen wollte und etwa auf euren Besuch +wartete.« + +»Ja, was fällt dir ein, Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna, die jetzt +auch erstaunte, aus. + +»Weshalb spricht er so konventionell?« dachte Dunetschka. »Er söhnt sich +aus und bittet um Verzeihung, als erfülle er eine Pflicht oder sage das +Gelernte auf!« + +»Ich bin soeben aufgewacht und wollte zu euch gehen, aber mich hielten +meine Kleider auf; ich hatte vergessen, ihr ... Nastasja zu sagen ... +dieses Blut auszuwaschen ... Jetzt, soeben erst habe ich mich +angezogen.« -- + +»Blut! Was für Blut?« sagte Pulcheria Alexandrowna erschrocken. + +»Es ist nichts ... regen Sie sich nicht auf. Das Blut kommt daher, weil +ich, als ich gestern besinnungslos herumirrte, auf einen überfahrenen +Menschen stieß ... auf einen Beamten ...« + +»Besinnungslos? Aber du erinnerst dich an alles,« unterbrach ihn +Rasumichin. + +»Das ist richtig,« antwortete ihm Raskolnikoff mit Bedacht, »ich +erinnere mich an alles, bis auf die geringste Kleinigkeit, aber dennoch, +denk dir, -- warum ich das getan und dort gewesen bin und jenes gesagt +habe, -- kann ich mir nicht erklären.« + +»Das ist eine sehr bekannte Tatsache,« mischte sich Sossimoff ein, +»zuweilen ist die Ausführung einer Sache meisterlich, glänzend, die +Direktion der Handlungen aber, der Ursprung der Handlungen, ist dunkel +und hängt von allerhand krankhaften Empfindungen ab. Es ist wie im +Traume.« + +»Es ist vielleicht gut, daß er mich beinahe für einen Irrsinnigen hält,« +dachte Raskolnikoff. + +»Aber das kann man vielleicht auch von Gesunden sagen,« bemerkte +Dunetschka und sah Sossimoff besorgt an. + +»Ihre Bemerkung ist ziemlich richtig,« antwortete er, »in diesem Sinne +gleichen wir fast alle tatsächlich und sehr oft Verrückten, nur mit dem +kleinen Unterschiede, daß die >Kranken< ein bißchen mehr verrückt sind +als wir, man muß hier eine Grenze festhalten. Einen ganz harmonischen +Menschen aber, -- das ist wahr, -- gibt es fast nicht; auf Zehntausende, +vielleicht aber auch auf viele Hunderttausende findet man einen ...« + +Bei dem Worte »verrückt,« das Sossimoff unvorsichtigerweise +entschlüpfte, als er auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam, verzogen +alle die Gesichter. Raskolnikoff saß in Gedanken und mit einem seltsamen +Lächeln auf den bleichen Lippen da, als schenke er dem keine +Aufmerksamkeit. Er fuhr fort etwas zu erwägen. + +»Nun, was ist mit dem Überfahrenen? Ich habe dich unterbrochen!« rief +schnell Rasumichin. + +»Was?« schien er zu erwachen, »ja ... nun, da habe ich mich mit Blut +beschmutzt, als ich half, ihn in seine Wohnung zu tragen ... Ja, Mama, +ich habe gestern etwas Unverzeihliches getan, -- ich war wirklich nicht +bei Verstand. Ich habe gestern alles Geld, das Sie mir geschickt haben, +... seiner Frau ... zur Beerdigung gegeben. Sie ist jetzt Witwe, eine +schwindsüchtige, beklagenswerte Frau ... drei kleine Kinder, Waisen, +hungrig ... im Hause ist nichts ... und es ist noch eine Tochter da ... +Vielleicht hätten Sie auch selbst gegeben, wenn Sie gesehen hätten ... +Ich hatte übrigens gar kein Recht, ich gestehe es ein, besonders weil +ich weiß, wie Sie dieses Geld sich verschafft haben. Um zu helfen, muß +man erst ein Recht dazu haben, sonst -- >_Crevez, chiens, si vous n'êtes +pas contents_{[3]}<.« Er lachte. »Ist es nicht wahr, Dunja?« + +»Nein, es ist nicht wahr,« antwortete Dunja fest. + +»Bah! Auch du hast ... Ansichten! ...« murmelte er und blickte sie fast +mit Haß an und lächelte spöttisch. »Ich hätte dies in Betracht ziehen +müssen ... Nun, was ist dabei, es ist lobenswert und für dich besser ... +und wenn du bis zu einer Grenze kommst, die du nicht übertreten kannst +-- wirst du unglücklich sein, und wenn du sie überschreitest, -- wirst +du vielleicht noch unglücklicher sein ... Übrigens aber, dies ist alles +Unsinn!« fügte er gereizt hinzu, ärgerlich über seine unwillkürliche +Offenheit. »Ich wollte bloß sagen, daß ich Sie, Mama, um Verzeihung +bitte,« schloß er scharf und bündig. + +»Aber Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« sagte +erfreut die Mutter. + +»Seien Sie nicht davon überzeugt,« antwortete er und verzog den Mund zu +einem Lächeln. + +Ein Schweigen trat ein. Etwas Gespanntes lag in diesem ganzen Gespräche +und im Schweigen, wie auch in der Versöhnung und Verzeihung, und alle +fühlten es. + +»Als ob sie sich vor mir fürchteten,« dachte Raskolnikoff und blickte +die Mutter und die Schwester unter der gesenkten Stirn hervor an. + +Pulcheria Alexandrowna wurde immer ängstlicher, je länger sie schwieg. + +»Aus der Ferne schien sie doch zu lieben,« durchzuckte es ihn. + +»Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« platzte plötzlich +Pulcheria Alexandrowna heraus. + +»Was für eine Marfa Petrowna?« + +»Ach, mein Gott, Marfa Petrowna Sswidrigailowa! Ich habe dir so viel +über sie geschrieben.« + +»Ach, ja ich erinnere mich ... also sie ist gestorben? Ach, in der Tat?« +fuhr er plötzlich auf, als sei er erwacht. »Ist sie wirklich gestorben? +Woran denn?« + +»Stell dir vor, ganz plötzlich!« beeilte sich Pulcheria Alexandrowna ihm +zu antworten, ermutigt durch seine Neugier, »und gerade in der Zeit, als +ich dir den Brief schickte, sogar an demselben Tage! Denk dir, dieser +schreckliche Mensch scheint auch die Ursache ihres Todes zu sein. Man +erzählt, er habe sie furchtbar verprügelt!« + +»Leben sie denn in dieser Weise?« fragte er, sich an die Schwester +wendend. + +»Nein, im Gegenteil. Er war ihr gegenüber stets sehr geduldig und +höflich. In vielen Fällen sogar zu duldsam ihrer Art gegenüber, volle +sieben Jahre ... Mit einem Male scheint er die Geduld verloren zu +haben.« + +»Also ist er gar nicht so schrecklich, wenn er sieben Jahre ausgehalten +hat? Du scheinst ihn, Dunetschka, zu entschuldigen?« + +»Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Ich kann mir nichts +Schrecklicheres vorstellen,« antwortete Dunja fast erbebend, zog die +Augenbrauen zusammen und wurde nachdenklich. + +»Es geschah am Morgen,« fuhr Pulcheria Alexandrowna eilig fort. »Dann +befahl sie, sofort anzuspannen, um gleich nach dem Mittagessen in die +Stadt zu fahren, weil sie stets in solchen Fällen in die Stadt fuhr; sie +aß zu Mittag, wie man sagt, mit großem Appetit ...« + +»Verprügelt, wie sie war?« + +»... Sie hatte übrigens auch immer diese ... Angewohnheit, und kaum als +sie gegessen hatte, ging sie, um nicht zu spät abzufahren, sofort in die +Badestube ... Siehst du, sie nahm aus Gesundheitsrücksichten Bäder; sie +haben dort eine kalte Quelle, und sie badete dort jeden Tag, und als sie +ins Wasser stieg, traf sie plötzlich der Schlag!« + +»Kein Wunder,« sagte Sossimoff. + +»Und hat er sie stark verprügelt?« + +»Das ist aber doch gleichgültig,« sagte Dunja. + +»Hm. Übrigens, was haben Sie für ein Vergnügen, Mama, solch einen Unsinn +zu erzählen,« kam es gereizt und plötzlich von den Lippen Raskolnikoffs. + +»Ach, mein Freund, ich wußte nicht mehr, worüber ich sprechen soll,« +sagte Pulcheria Alexandrowna. + +»Ja, was ist das, fürchtet ihr mich etwa?« sagte er mit einem +gezwungenen Lächeln. + +»Das ist wahr,« antwortete Dunja und sah den Bruder offen und streng an. +»Als Mama die Treppe hinaufging, schlug sie sogar ein Kreuz vor Angst.« + +Sein Gesicht verzog sich wie im Krampf. + +»Ach, Dunja, was ist mit dir! Sei nicht böse, Rodja, ich bitte dich ... +Warum hast du das gesagt, Dunja!« sagte Pulcheria Alexandrowna verlegen, +»das ist wahr, als ich hierherreiste, träumte ich den ganzen Weg, wie +wir uns wiedersehen, wie wir einander alles erzählen werden ... und war +so glücklich, daß ich die Reise nicht einmal belästigend fand! Ja, was +sage ich! Ich bin auch jetzt glücklich ... Du hast unrecht, Dunja ... +Ich bin schon allein dadurch glücklich, daß ich dich sehe, Rodja ...« + +»Lassen Sie es, Mama,« murmelte er in Verlegenheit und drückte ihr die +Hand ohne sie anzublicken, »wir werden schon Zeit haben uns +auszusprechen.« + +Nachdem er das gesagt hatte, wurde er wieder verlegen und erbleichte, -- +wieder durchzog eine kurze schreckliche Empfindung in toter Kälte seine +Seele, wieder wurde es ihm plötzlich vollkommen klar, daß er soeben eine +furchtbare Lüge gesagt hatte, daß er nie wieder sich aussprechen könne, +daß er nie mehr, niemals und mit niemandem, überhaupt _sprechen_ dürfe. +Der Eindruck dieses qualvollen Gedankens war so stark, daß er auf einen +Moment sich fast vergaß, von seinem Platze aufstand und ohne jemand +anzublicken, aus dem Zimmer zu gehen im Begriffe war. + +»Was ist dir?« rief Rasumichin und faßte ihn an der Hand. + +Er setzte sich wieder hin und begann sich schweigend umzusehen; alle +blickten ihn befremdet an. + +»Ja, warum seid ihr alle so langweilig!« rief er plötzlich, ganz +unerwartet. »Sagt doch etwas! Warum sitzen wir so herum! Nun, so redet +doch! Wollen wir uns unterhalten ... Sind zusammengekommen und schweigen +... redet doch etwas!« + +»Gott sei dank! Ich dachte, mit ihm geschieht irgend etwas wie gestern,« +sagte Pulcheria Alexandrowna und bekreuzigte sich. + +»Was ist mit dir, Rodja?« fragte Awdotja Romanowna mißtrauisch. + +»Nichts, ich denke gerade an etwas Komisches,« antwortete er und lachte +plötzlich. + +»Nun, wenn es etwas Komisches ist, so ist es gut! Ich dachte beinahe +selbst ...« murmelte Sossimoff und erhob sich vom Sofa. »Ich muß jetzt +gehen; ich komme noch einmal her, vielleicht ... wenn ich Sie antreffe +...« Er verabschiedete sich und ging hinaus. + +»Welch ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna. + +»Ja, er ist prächtig, ausgezeichnet, gebildet, klug ...« sagte plötzlich +Raskolnikoff schnell und mit einer an ihm nicht gewohnten Lebhaftigkeit, +»ich erinnere mich nicht, daß ich ihn vor meiner Krankheit getroffen +hätte ... und doch ist mir, als hätte ich ihn irgendwo schon getroffen +... Dieser da ist auch ein guter Mensch!« er wies mit dem Kopfe auf +Rasumichin, -- »gefällt er dir, Dunja?« fragte er sie und lachte +plötzlich, ohne daß man wußte warum. + +»Er gefällt mir sehr,« antwortete Dunja. + +»Pfui, wie ... gemein du bist!« sagte Rasumichin furchtbar verlegen und +errötend und stand vom Stuhle auf. + +Pulcheria Alexandrowna lächelte ein wenig und Raskolnikoff lachte laut. + +»Wohin willst du denn?« + +»Ich muß auch ... gehen.« + +»Du mußt gar nicht, bleibe hier! Sossimoff ist fortgegangen und da mußt +du auch gehen? Bleib nur. Wieviel Uhr ist es? Ist es schon zwölf? Was du +für eine nette Uhr hast, Dunja! Ja, warum schweigt ihr wieder? Bloß ich, +ich allein rede die ganze Zeit! ...« + +»Die Uhr ist ein Geschenk von Marfa Petrowna,« antwortete Dunja. + +»Und eine sehr teure Uhr,« fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. + +»So--o! Wie groß ist sie, fast keine Damenuhr mehr.« + +»Ich habe solche gern,« sagte Dunja. + +»Also, es ist kein Geschenk vom Bräutigam,« dachte Rasumichin und wurde +froh darüber. + +»Ich dachte, sie ist ein Geschenk von Luschin,« bemerkte Raskolnikoff. + +»Nein, er hat Dunetschka noch nichts geschenkt.« + +»So--o! Erinnern Sie sich noch, Mama, daß ich verliebt war und heiraten +wollte,« sagte er plötzlich und sah die Mutter an, die von der +unerwarteten Bemerkung und dem Tone, mit dem er sprach, betroffen war. + +»Ach, mein Freund, ja ich erinnere mich!« Pulcheria Alexandrowna +wechselte mit Dunetschka und Rasumichin einen Blick. + +»Hm! Ja! Was soll ich Ihnen erzählen? Ich erinnere mich dessen ganz +wenig. Sie war ein sehr krankes Mädchen,« fuhr er fort, anscheinend +wieder in Gedanken versunken und mit gesenktem Blicke, »ganz krank war +sie; sie liebte Almosen zu geben und träumte immer vom Kloster, und +einmal weinte sie arg, als sie mir davon erzählte. Ja, ja ... ich +erinnere mich ... ich erinnere mich dessen gut. Sie sah so ... häßlich +aus. Ich weiß wirklich nicht, warum ich damals eine Neigung zu ihr +faßte, vielleicht weil sie immer krank war ... Wäre sie noch lahm oder +buckelig gewesen, ich hätte sie dann, glaube ich, noch mehr geliebt ...« +(er lächelte nachdenklich). »Es war so ... ein Frühlingstraum ...« + +»Nein, es war nicht allein ein Frühlingstraum,« sagte Dunetschka innig. + +Er blickte aufmerksam und durchdringend die Schwester an, ohne ihre +Worte recht gehört oder gar verstanden zu haben. Dann stand er in tiefem +Nachdenken auf, trat an die Mutter heran, küßte sie, kehrte auf seinen +Platz zurück und setzte sich wieder. + +»Du liebst sie auch jetzt noch!« sagte Pulcheria Alexandrowna gerührt. + +»Sie? Jetzt? Ach ja ... Sie meinen sie! Nein. All das ist jetzt wie aus +einer anderen Welt ... und so lange her. Ja und alles, was hier rings um +mich geschieht, ist, als geschähe es nicht hier ...« + +Er blickte sie aufmerksam an. + +»Auch euch ... ich sehe euch, wie tausend Werst weit von hier ... Ja, +und zum Teufel, warum sprechen wir darüber! Und warum fragt ihr mich +aus?« fügte er ärgerlich hinzu und verstummte, kaute an den Fingernägeln +und wurde von neuem nachdenklich. + +»Wie schlecht deine Wohnung ist, Rodja, sie ist wie ein Sarg,« sagte +plötzlich Pulcheria Alexandrowna, das peinliche Schweigen unterbrechend, +»ich bin überzeugt, daß zur Hälfte dich diese Wohnung zu einem +Melancholiker gemacht hat.« + +»Die Wohnung? ...« antwortete er zerstreut. »Ja, diese Wohnung hat viel +dazu beigetragen ... ich habe es auch gedacht ... Wenn Sie aber wüßten, +welchen merkwürdigen Gedanken Sie soeben aussprachen,« fügte er +plötzlich hinzu und lächelte eigentümlich. + +Noch ein Weniges, und diese Gesellschaft, seine nächsten Verwandten, die +er nach dreijähriger Trennung wiedersah, und diese Art von Gesprächen, +die kein Thema festzuhalten vermochten, mußten ihm schließlich ganz +unerträglich werden. Es gab jedoch noch eine unaufschiebbare +Angelegenheit, die heute noch, so oder so, aber unbedingt entschieden +werden sollte, -- so hatte er vorhin schon, als er erwachte, +beschlossen. Jetzt freute er sich darüber, wie über einen Ausweg. + +»Höre, Dunja,« begann er ernst und trocken, »ich bitte +selbstverständlich wegen des Gestrigen um Verzeihung, aber ich halte es +für meine Pflicht, dich noch einmal zu erinnern, daß ich von meinem +Hauptverlangen nicht zurücktrete. Entweder ich oder Luschin. Mag ich ein +Schuft sein, du aber darfst es nicht werden. Einer allein. Wenn du +Luschin heiratest, höre ich sofort auf, dich als meine Schwester +anzusehen.« + +»Rodja, Rodja! Das ist doch dasselbe wie gestern,« rief Pulcheria +Alexandrowna kummervoll aus, »und warum nennst du dich immer einen +Schuft, ich kann es nicht ertragen! Auch gestern war dasselbe ...« + +»Bruder,« antwortete Dunja fest und ebenso trocken, »in alledem liegt +ein Irrtum deinerseits. Ich habe es heute überlegt und den Irrtum +gefunden. Die Hauptsache ist, daß du, wie es mir scheint, denkst, ich +bringe mich jemandem und um jemandes willen zum Opfer. Das ist nicht +richtig. Ich heirate nur meinethalben, weil mir das Leben so zu führen +selbst schwer fällt; dann aber will ich auch sicher froh sein, wenn es +mir gelingen sollte, meinen Verwandten nützlich zu sein, zu meinem +Entschlusse aber ist dies nicht der hauptsächlichste Beweggrund ...« + +»Sie lügt!« dachte er und kaute vor Wut an seinen Nägeln. »Sie ist +stolz! Sie will es nicht eingestehen, daß sie Wohltaten erweisen möchte! +Oh, diese niedrigen Charaktere! Sie lieben, als haßten sie ... Oh, wie +ich sie alle ... hasse!« + +»Mit einem Worte, ich heirate Peter Petrowitsch,« fuhr Dunetschka fort, +»weil ich von zwei Übeln das kleinste wähle. Ich habe die Absicht, alles +ehrlich zu erfüllen, was er von mir erwartet, also betrüge ich ihn nicht +... Warum lächelst du jetzt?« + +Sie errötete und in ihren Augen blitzte der Zorn. + +»Du willst alles erfüllen?« fragte er mit einem giftigen Lächeln. + +»Bis zu einer gewissen Grenze. Die Art und die Form des Antrages von +Peter Petrowitsch haben mir sofort gezeigt, was er braucht. Er schätzt +sich gewiß vielleicht zu hoch ein, aber ich hoffe, daß er auch mich +schätzt ... Warum lachst du wieder?« + +»Und warum errötest du wieder? Du lügst, Schwester, du lügst bewußt, +bloß aus weiblichem Eigensinn, um nur auf deinem Willen vor mir zu +bestehen ... Du kannst Luschin nicht achten, -- ich habe ihn gesehen und +mit ihm gesprochen. Also, verkaufst du dich für Geld und also handelst +du in jedem Falle niedrig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch +erröten kannst!« + +»Es ist nicht wahr, ich lüge nicht! ...« rief Dunetschka, ihre ganze +Kaltblütigkeit verlierend, »ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht +überzeugt wäre, daß er mich schätzt und auf mich etwas gibt; ich würde +ihn nicht heiraten, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß ich ihn +selbst achten kann. Zum Glück kann ich mich davon sicher und heute noch +überzeugen. Und solch eine Heirat ist keine Schuftigkeit, wie du sagst! +Und wenn du auch recht hättest, wenn ich tatsächlich mich zu einer +Schuftigkeit entschlossen hätte, -- ist es dann nicht grausam von dir, +so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir ein Heldentum, das du +vielleicht selbst nicht hast? Das ist Despotismus, das ist +Gewalttätigkeit! Wenn ich jemand zugrunde richte, doch höchstens mich +selbst ... Ich habe noch niemanden getötet ... Warum schaust du mich so +an? Warum bist du so bleich geworden? Rodja, was ist dir? Rodja, lieber +...« + +»Herrgott! Sie hat ihn bis zur Ohnmacht gebracht!« -- rief Pulcheria +Alexandrowna aus. + +»Nein, nein ... das ist Unsinn ... es ist nichts! ... Der Kopf +schwindelt mir nur ein wenig. Es ist keine Ohnmacht ... Ihr wittert +überall Ohnmachten ... Hm! ja ... was wollte ich sagen? Ja, -- wie +willst du dich heute überzeugen, daß du ihn achten kannst, und daß er +dich ... schätzt etwa, wie du sagtest? Du sagtest, schien mir, heute? +Oder habe ich mich verhört?« + +»Mama, zeigen Sie dem Bruder den Brief von Peter Petrowitsch,« -- sagte +Dunetschka. + +Pulcheria Alexandrowna reichte ihm mit zitternden Händen den Brief. Er +nahm ihn mit großer Neugierde. Ehe er ihn aber öffnete, blickte er +plötzlich verwundert Dunetschka an. + +»Sonderbar,« -- sagte er langsam, als wäre er durch einen neuen Gedanken +überrascht, »warum rege ich mich so auf? Warum dieses ganze Geschrei? +Heirate, wen du willst!« + +Er sagte es scheinbar für sich selbst, sprach es aber laut aus und +blickte eine Weile die Schwester wie verblüfft an. + +Er öffnete endlich den Brief, wobei er immer noch den Ausdruck einer +seltsamen Verwunderung behielt; dann begann er langsam und aufmerksam zu +lesen und las den Brief zweimal. Pulcheria Alexandrowna war in großer +Unruhe, auch die anderen erwarteten etwas Besonderes. + +»Mich wundert es,« -- begann er nach einigem Nachdenken und gab den +Brief der Mutter zurück, wandte sich aber zu keinem einzelnen, -- »er +führt doch Prozesse, ist Advokat, und seine Weise zu sprechen hat auch +so einen ... Anstrich, -- aber wie ungebildet er schreibt.« Alle rührten +sich, das hatten sie nicht erwartet. + +»Sie schreiben doch alle so,« -- bemerkte Rasumichin kurz. + +»Hast du den Brief gelesen?« + +»Ja.« + +»Wir haben ihn gezeigt, Rodja, wir ... haben vorhin uns beratschlagt,« +-- begann Pulcheria Alexandrowna verlegen. + +»Es ist eigentlich der Gerichtsstil,« -- unterbrach Rasumichin, -- +»Gerichtspapiere werden heute noch so geschrieben.« + +»Gerichtsstil? Ja, wirklich, Gerichtsstil, Geschäftsstil ... Er ist +nicht ganz ungebildet geschrieben und auch nicht sehr literarisch; ein +Geschäftsbrief!« + +»Peter Petrowitsch verheimlicht auch nicht, daß er wenig gelernt hat, +und ist sogar stolz darauf, daß er seinen Weg selbst gemacht hat,« -- +bemerkte Awdotja Romanowna, neuerlich durch den Ton des Bruders +gekränkt. + +»Nun, wenn er stolz darauf ist, hat er auch ein Recht dazu, -- ich +widerspreche nicht. Du, Schwester, scheinst gekränkt zu sein, daß ich +aus dem ganzen Brief nur so eine frivole Schlußfolgerung gezogen habe, +und meinst, daß ich absichtlich über solche Kleinigkeiten gesprochen +habe, um mich über dich aus Ärger lustig zu machen. Im Gegenteil, mir +kam in bezug des Stils ein in diesem Falle nicht ganz überflüssiger +Gedanke. In dem Briefe ist ein Ausdruck -- >woran Sie allein sich die +Schuld zuzuschreiben hätten<, der sehr bedeutungsvoll und klar +hingesetzt ist, und außerdem enthält der Brief die Drohung, daß er +sofort fortgehen werde, wenn ich hinkomme. Diese Drohung fortzugehen, +ist gleichbedeutend der Drohung, euch beide zu verlassen, wenn ihr +unfolgsam sein werdet, und gerade jetzt zu verlassen, wo er euch nach +Petersburg gebracht hat. Nun, was meinst du, -- kann man durch solch +einen Ausdruck seitens Luschins ebenso gekränkt sein, wie wenn er es +geschrieben hätte« -- (er zeigte auf Rasumichin) -- »oder Sossimoff oder +einer von uns?« + +»N--nein,« -- antwortete Dunetschka, -- »ich habe sehr gut verstanden, +daß es zu naiv ausgedrückt ist, und daß er vielleicht bloß nicht +versteht zu schreiben ... Das hast du gut beurteilt, Bruder. Ich habe +das nicht mal erwartet ...« + +»Das ist in Gerichtssprache ausgedrückt und im Gerichtsstil kann man es +anders nicht schreiben, und es ist gröber herausgekommen, als er +vielleicht wollte. Übrigens, ich muß dich ein wenig enttäuschen, -- in +diesem Briefe gibt es noch eine Äußerung, eine Verleumdung in bezug auf +mich, und eine ziemlich gemeine. Ich habe das Geld gestern der Witwe, +einer schwindsüchtigen und niedergeschmetterten Frau, gegeben, und nicht +unter dem Vorwande, die Beerdigungskosten zu tragen, sondern einfach zur +Beerdigung, auch nicht der Tochter, -- einem Mädchen, wie er schreibt, +>von verrufenem Lebenswandel< -- und die ich gestern zum ersten Male in +meinem Leben gesehen habe, sondern tatsächlich der Witwe. In diesem +allen sehe ich den zu eiligen Wunsch, mich mit Schmutz zu bewerfen und +mit euch zu verzwisten. Es ist wiederum in der Gerichtssprache +ausgedrückt, das heißt mit einer zu deutlichen Klarlegung des Zweckes +und einer sehr naiven Eile. Er ist ein kluger Mann, aber um klug zu +handeln genügt nicht, nur Verstand zu haben. Dies alles zeigt den +Menschen und ... ich glaube nicht, daß er dich hochschätzt. Ich teile es +dir nur zur Belehrung mit, denn ich wünsche aufrichtig dein Gutes ...« + +Dunetschka antwortete nicht; ihr Entschluß war schon vorhin gefaßt, sie +erwartete bloß den Abend. + +»Wie entschließt du dich denn, Rodja?« -- fragte Pulcheria Alexandrowna, +noch mehr beunruhigt als vorhin, durch den plötzlichen, neuen, +_geschäftlichen_ Ton seiner Rede. + +»Was heißt -- entschließest du dich?« -- + +»Peter Petrowitsch schreibt doch, daß du heute abend nicht bei uns sein +sollst, und daß er fortgehen werde ... wenn du doch kommen solltest. +Also, wie ... wirst du kommen?« + +»Die Entscheidung hierüber kommt doch selbstverständlich nicht mir, +sondern erstens Ihnen zu, wenn Sie dieses Verlangen von Peter +Petrowitsch nicht kränkt, und zweitens Dunja, wenn sie sich auch nicht +gekränkt fühlt. Und ich will handeln, wie es für sie am besten ist,« -- +fügte er trocken hinzu. + +»Dunetschka hat schon beschlossen, und ich bin mit ihr völlig +einverstanden,« -- beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu bemerken. + +»Ich habe beschlossen, dich, Rodja, zu bitten, eindringlich zu bitten, +unbedingt bei dieser Zusammenkunft zugegen zu sein,« -- sagte Dunja, -- +»willst du kommen?« + +»Ich will kommen.« + +»Auch Sie bitte ich, bei uns um acht Uhr zu sein,« -- wandte sie sich an +Rasumichin, -- »Mama, ich fordere ihn auch auf.« + +»Sehr gut, Dunetschka. Nun, wie ihr beschlossen habt, möge es bleiben,« +-- fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. -- »Und für mich ist es auch +leichter; ich liebe nicht, mich zu verstellen und zu lügen; besser +wollen wir die ganze Wahrheit sagen ... Mag Peter Petrowitsch jetzt böse +sein oder nicht!« + + + IV. + +In diesem Augenblicke wurde die Türe leise geöffnet und ins Zimmer trat, +sich schüchtern umblickend, ein junges Mädchen herein. Alle wandten sich +mit Erstaunen und Neugier zu ihr um. Raskolnikoff erkannte sie nicht +gleich auf den ersten Blick. Es war Ssofja Ssemenowna Marmeladowa. +Gestern hatte er sie zum ersten Male gesehen, aber in solch einem +Augenblicke, in solcher Umgebung und solch einem Aufzuge, daß in seiner +Erinnerung das Bild einer ganz anderen Person haften geblieben war. +Jetzt war es ein einfach und sogar ärmlich angezogenes Mädchen, noch +sehr jung, fast einem Kinde ähnlich, mit bescheidenem und anständigem +Wesen, und mit einem klaren, aber anscheinend verängstigten Gesichte. +Sie hatte ein sehr einfaches Hauskleid an und auf dem Kopfe einen alten +Hut von früherer Mode; nur in den Händen trug sie den Sonnenschirm von +gestern. Als sie plötzlich ein Zimmer voll Menschen erblickte, wurde sie +nicht bloß verlegen, sondern verlor die Fassung und ward verzagt wie ein +kleines Kind, und machte sogar eine Bewegung, als wollte sie wieder +gehen. + +»Ach ... Sie sind es? ...« sagte Raskolnikoff außerordentlich +verwundert, und wurde plötzlich selbst verlegen. Er dachte sofort daran, +daß die Mutter und die Schwester aus dem Briefe Luschins schon etwas von +einem gewissen Mädchen »von verrufenem Lebenswandel« wußten. Soeben +hatte er noch gegen die Verleumdung Luschins protestiert und erwähnt, +daß er dieses Mädchen zum ersten Male gesehen habe, und plötzlich tritt +sie selbst ein. Er erinnerte sich auch, daß er gar nicht gegen den +Ausdruck -- »von verrufenem Lebenswandel« protestiert habe. Dies alles +durchzog unklar und flüchtig seinen Kopf. Als er aber aufmerksamer +hinblickte, sah er, wie gedrückt dieses erniedrigte Wesen war, und sie +tat ihm plötzlich leid. Als sie aber im Schreck sich anschickte +wegzulaufen, schlug seine Stimmung um. + +»Ich habe Sie nicht erwartet,« -- sagte er hastig und hielt sie mit +seinem Blicke zurück. -- »Setzen Sie sich bitte. Sie kommen sicher im +Auftrage Katerina Iwanownas. Erlauben Sie, setzen Sie sich nicht +hierhin, sondern dorthin« ... Bei Ssonjas Eintritt war Rasumichin, der +auf einem der drei Stühle Raskolnikoffs gerade neben der Türe gesessen +hatte, aufgestanden, um ihr zum Hereingehen Platz zu machen. Zuerst +wollte ihr Raskolnikoff den Platz in der Ecke des Sofas anbieten, wo +Sossimoff gesessen hatte, aber es fiel ihm ein, daß dieses Sofa ein zu +_familiärer_ Platz sei, ihm als Bett diene und beeilte sich, ihr den +Stuhl Rasumichins anzubieten. + +»Und du setzt dich hierher,« -- sagte er zu Rasumichin und wies ihn in +die Ecke, wo Sossimoff gesessen hatte. + +Ssonja setzte sich, fast zitternd vor Angst, und blickte schüchtern auf +die beiden Damen. Man sah, daß sie selbst nicht begriff, wie sie sich +neben sie hinsetzen konnte. Als es ihr bewußt wurde, erschrak sie so, +daß sie wieder aufstand und sich in völliger Verwirrung an Rasumichin +wandte. + +»Ich ... ich ... bin nur auf einen Augenblick gekommen, verzeihen Sie, +daß ich Sie gestört habe,« -- sagte sie stockend. + +»Ich komme im Auftrage Katerina Iwanownas, sie hatte sonst niemanden zum +Schicken ... Und Katerina Iwanowna läßt Sie sehr bitten, zu der +Totenmesse morgen früh ... zu kommen. Nach dem Gottesdienst ... auf dem +Mitrofaniewschen Friedhof und nachher bei uns ... bei ihr ... zu essen +... Ihr die Ehre zu erweisen ... Sie läßt Sie bitten.« + +Sie stockte und verstummte. + +»Ich will es unbedingt versuchen ... unbedingt,« -- antwortete +Raskolnikoff, indem er sich auch erhob, ebenso stockte und nicht +ausredete. -- »Bitte, tun Sie mir den Gefallen, setzen Sie sich,« -- +sagte er plötzlich, -- »ich muß mit Ihnen sprechen. Bitte, -- Sie haben +es vielleicht eilig, -- tun Sie mir aber den Gefallen und schenken Sie +mir nur noch zwei Minuten ...« und er schob ihr den Stuhl hin. Ssonja +setzte sich wieder, und wieder warf sie schüchtern und verstört einen +schnellen Blick auf die beiden Damen und senkte sogleich wieder die +Augen. + +Das bleiche Gesicht Raskolnikoffs errötete; er schien wie umgewandelt, +seine Augen funkelten. + +»Mama,« -- sagte er fest und eindringlich, -- »das ist Ssofja Ssemenowna +Marmeladowa, die Tochter des unglücklichen Herrn Marmeladoff, der +gestern vor meinen Augen vom Pferde zu Boden getreten wurde, was ich +Ihnen schon erzählt habe ...« + +Pulcheria Alexandrowna blickte nach Ssonja und kniff ein wenig die Augen +zusammen. Trotz ihrer Verlegenheit vor dem eindringlichen und +herausfordernden Blicke Rodjas konnte sie sich dieses Vergnügen nicht +versagen. Dunetschka sah ernst und unverwandt dem armen Mädchen ins +Gesicht und betrachtete sie unschlüssig. Als Ssonja diese Vorstellung +hörte, erhob sie die Augen auf einen Augenblick und wurde noch mehr +verlegen. + +»Ich wollte Sie fragen,« -- wandte sich Raskolnikoff schnell zu ihr, -- +»wie hat sich heute alles bei Ihnen gemacht? Hat man sie nicht +belästigt? ... Zum Beispiel die Polizei.« + +»Nein, alles ging glatt ... Es war doch deutlich zu sehen, woran er +gestorben ist; man hat uns weiter nicht belästigt, nur die Mieter sind +böse.« + +»Warum?« + +»Weil die Leiche so lange steht ... jetzt ist es doch heiß, es gibt +einen Geruch ... so daß man die Leiche heute zur Abendmesse auf den +Friedhof tragen wird, und läßt sie dort bis morgen in der Kapelle +stehen. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht, jetzt aber sieht sie +selbst ein, daß es so besser ist ...« + +»Also heute?« + +»Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen, morgen bei der Totenmesse in +der Kirche zu sein, und dann bei ihr zu essen.« + +»Sie gibt zu seinem Andenken ein Essen?« + +»Ja, einen Imbiß; sie läßt Ihnen sehr danken, daß Sie gestern uns +geholfen haben ... ohne Sie wäre gar nichts da, womit man ihn hätte +beerdigen können.« + +Ihre Lippen und ihr Kinn bebten plötzlich, aber sie nahm sich zusammen, +hielt an sich, und senkte wieder die Augen zu Boden. + +Während des Gespräches schaute sie Raskolnikoff unverwandt an. Sie hatte +ein zartes, ganz mageres und blasses Gesichtchen, ziemlich unregelmäßige +Züge, mit einer spitzen kleinen Nase und ebensolchem Kinn. Man konnte +sie nicht einmal hübsch nennen, aber ihre blauen Augen waren so klar, +und, wenn sie sich belebten, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes so gut +und schlicht, daß sie einen unwillkürlich anzog. In ihrem Gesichte und +auch in ihrer ganzen Gestalt lag außerdem etwas besonders +Charakteristisches, -- trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie jünger aus als +sie war, fast wie ein Kind, und dies zeigte sich zuweilen in gelungener +Weise bei einigen ihrer Bewegungen. + +»Aber wie konnte denn Katerina Iwanowna mit so wenig Mitteln auskommen, +und hat dazu noch die Absicht, ein Essen zu geben?« ... fragte +Raskolnikoff, bestrebt, das Gespräch fortzuführen. + +»Der Sarg ist einfach ... und alles ist einfach, so daß es nicht teuer +kommt ... wir haben vorhin mit Katerina Iwanowna alles ausgerechnet, es +bleibt noch so viel übrig, um sein Andenken zu ehren ... und Katerina +Iwanowna möchte das so sehr gern. Man kann nichts dagegen sagen ... ihr +ist es ein Trost ... so ist sie nun, Sie wissen doch ...« + +»Ich verstehe, verstehe ... Selbstverständlich ... Warum betrachten Sie +so mein Zimmer? Meine Mama sagt auch, daß es einem Sarge ähnelt.« + +»Sie haben gestern uns alles gegeben!« -- sagte plötzlich Ssonjetschka +leise und hastig, und schlug wieder die Augen nieder. + +Ihre Lippen und ihr Kinn bebten wieder. Sie war längst schon von der +ärmlichen Umgebung Raskolnikoffs überrascht, und jetzt waren ihr diese +Worte entschlüpft. Es trat Schweigen ein. Dunetschkas Augen schienen zu +leuchten, und Pulcheria Alexandrowna blickte Ssonja freundlich an. + +»Rodja,« -- sagte sie, sich erhebend, -- »wir essen selbstverständlich +zusammen zu Mittag. Dunetschka, komm ... Rodja, du solltest ausgehen, +etwas spazieren gehen, dann dich ausruhen, hinlegen, und dann kommst du +zu uns ... Ich fürchte, wir haben dich ermüdet ...« + +»Ja, ja, ich will kommen,« -- antwortete er eilig im Aufstehen, -- »... +ich habe übrigens noch zu tun ...« + +»Ja, werdet ihr nicht mal zusammen zu Mittag essen?« -- rief Rasumichin +und blickte erstaunt Raskolnikoff an. -- »Was ist mit dir?« + +»Ja, ja, ich komme selbstverständlich ... Bleibe noch einen Augenblick. +Sie brauchen ihn doch jetzt nicht, Mama? Oder nehme ich ihn euch +vielleicht weg?« + +»Ach, nein, nein! Und Sie, Dmitri Prokofjitsch, kommen Sie zu Mittag, +seien Sie so gut.« + +»Bitte, kommen Sie,« -- bat auch Dunetschka. + +Rasumichin verbeugte sich und strahlte förmlich. Auf einen Augenblick +waren alle sonderbar verlegen. + +»Lebwohl, Rodja, das heißt, auf Wiedersehen! Ich liebe nicht >lebwohl< +zu sagen. Lebwohl, Nastasja, ... ach, wieder habe ich >lebwohl< gesagt! +...« + +Pulcheria Alexandrowna wollte sich auch vor Ssonjetschka verbeugen, aber +sie brachte es nicht fertig und ging eilig aus dem Zimmer. + +Awdotja Romanowna wartete, bis die Reihe an sie kam, und als sie hinter +der Mutter an Ssonja vorbeiging, verabschiedete sie sich von ihr mit +einem aufmerksamen, höflichen und achtungsvollen Gruß. Ssonjetschka +wurde verlegen, grüßte hastig und erschrocken, und ein schmerzliches +Empfinden drückte sich in ihrem Gesichte aus, als ob die Höflichkeit und +Aufmerksamkeit Awdotja Romanownas sie bedrückte und peinigte. + +»Dunja, lebwohl!« -- rief Raskolnikoff ihr auf der Treppe nach, -- »gib +mir doch die Hand!« + +»Ich habe sie dir doch gereicht, hast du es vergessen?« antwortete Dunja +innig und wandte sich zu ihm um. + +»Nun, was tut es, gib sie mir noch einmal!« + +Und er drückte stark ihre kleinen Finger. Dunetschka lächelte ihm zu, +errötete, riß schnell ihre Hand aus der seinen und ging glücklich der +Mutter nach. + +»Nun, das ist prächtig!« -- sagte er zu Ssonja, indem er in sein Zimmer +zurückkehrte und sie klar anblickte, -- »gebe Gott den Toten die Ruhe +und lasse die Lebenden leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Es ist doch so?« + +Ssonja sah verwundert in sein plötzlich erhelltes Gesicht; er blickte +sie einige Augenblicke schweigend und unverwandt an, -- was ihr +verstorbener Vater von ihr erzählt hatte, lebte in dieser Minute in +seiner Erinnerung auf ... + + * * * * * + +»Herrgott, Dunetschka!« -- sagte Pulcheria Alexandrowna, als sie kaum +auf der Straße waren, -- »ich freue mich, daß wir weggegangen sind; es +wird mir leichter zumute. Wie hätte ich mir gestern im Eisenbahnwagen +denken können, daß ich darüber froh sein könnte!« + +»Ich sage Ihnen noch einmal, Mama, daß er noch sehr krank ist. Können +Sie es denn nicht sehen? Vielleicht ist er so aufgeregt, weil er +unseretwegen litt. Man muß nachsichtig sein, und man kann vieles, vieles +verzeihen.« + +»Du aber warst nicht nachsichtig!« -- unterbrach sie eifrig und +eifersüchtig Pulcheria Alexandrowna. -- »Weißt du, Dunja, ich sah euch +beide an, du bist sein Ebenbild, und nicht so sehr äußerlich als +seelisch, beide seid ihr schwerblütig, beide seid ihr düster und +jähzornig, beide hochmütig und beide hochherzig ... Es kann doch nicht +sein, daß er ein Egoist ist, Dunetschka, he? ... Und wenn ich daran +denke, was uns heute abend bevorsteht, so steht mir das Herz still!« + +»Regen Sie sich nicht auf, Mama, es wird geschehen, was geschehen muß.« + +»Dunetschka! Denk doch nur, in welcher Lage wir jetzt sind! Was +geschieht, wenn Peter Petrowitsch sich zurückzieht?« -- sagte +unvorsichtigerweise die arme Pulcheria Alexandrowna. + +»Ja, und was ist er dann wert?« -- antwortete Dunetschka scharf und +verächtlich. + +»Wir haben gut getan, daß wir jetzt weggingen,« -- beeilte sich +Pulcheria Alexandrowna fortzufahren, -- »er hatte etwas Eiliges vor; mag +er ausgehen, er wird frische Luft amten ... es ist furchtbar dumpf bei +ihm ... aber wo kann man hier frische Luft atmen? Auch auf den Straßen +hier ist es wie in einem Zimmer ohne Ventilation -- Herrgott, was ist +das für eine Stadt! ... Warte doch, geh aus dem Wege, man wird dich noch +umstoßen, sie tragen da etwas! Ein Klavier tragen sie, wirklich ... wie +sie stoßen ... Dieses Mädchen fürchte ich auch sehr ...« + +»Was für ein Mädchen, Mama?« + +»Ja, diese dort, Ssofja Ssemenowna, die soeben da war ...« + +»Warum denn?« + +»Ich habe so eine Ahnung, Dunja. Nun, glaube mir oder nicht, aber als +sie hereinkam, dachte ich im selben Augenblick, daß hier die Hauptsache +sei ...« + +»Nichts ist da!« -- rief Dunja ärgerlich aus. -- »Was haben Sie auch für +Ahnungen, Mama! Er kennt sie erst seit gestern, und jetzt, als sie +hereintrat, erkannte er sie nicht einmal gleich.« + +»Nun, du wirst sehen! ... Sie bringt mich in Verwirrung, du wirst sehen, +wirst sehen! Und ich bin so erschrocken, -- sie blickt mich an und +blickt mich an, hat solche Augen, ich konnte kaum auf dem Stuhle sitzen +bleiben, erinnerst du dich, als er sie vorstellte? Und sonderbar +erscheint es mir, -- Peter Petrowitsch schreibt über sie in solcher +Weise, und er stellt sie uns vor und dir noch dazu! Sie muß ihm doch +teuer sein!« + +»Er schreibt über vieles! Über uns hat man auch gesprochen und +geschrieben, haben Sie es vergessen? Und ich bin überzeugt, daß sie ... +gut ist, und daß alles Unsinn ist!« + +»Möge es Gott geben!« + +»Und Peter Petrowitsch ist ein häßliches Klatschmaul,« -- schnitt +plötzlich Dunetschka ab. + +Pulcheria Alexandrowna fuhr zusammen. Das Gespräch war plötzlich +abgebrochen. -- -- + + * * * * * + +»Höre, höre mal, ich habe etwas mit dir vor ...« -- sagte Raskolnikoff +und führte Rasumichin zum Fenster hin. + +»Also, ich will Katerina Iwanowna ausrichten, daß Sie kommen ...« wollte +sich Ssonjetschka verabschieden. + +»Sofort, Ssofja Ssemenowna, wir haben keine Geheimnisse, Sie stören +nicht ... Ich möchte Ihnen noch ein paar Worte sagen ... Höre mal,« -- +wandte er sich wieder an Rasumichin. -- »Du kennst doch diesen ... Wie +heißt er? ... Porphyri Petrowitsch?« + +»Und ob? Er ist doch verwandt mit mir. Weshalb?« -- fügte jener mit +Neugier hinzu. + +»Er führt doch jetzt diese Sache ... nun, über den Mord ... worüber ihr +gestern gesprochen habt ...?« + +»Ja ... und?« -- Rasumichin sperrte die Augen auf. + +»Er hat die Pfandgeber befragt, ich habe auch dort versetzt, +Kleinigkeiten, jedoch auch einen Ring von der Schwester, den sie mir zum +Andenken schenkte, als ich abreiste, und die silberne Uhr meines Vaters. +Alles das kostet fünf oder sechs Rubel, mir aber sind sie zu teuer als +Andenken. Was soll ich jetzt tun? Ich will nicht, daß die Sachen +verloren gehen, besonders die Uhr. Ich bebte davor, daß die Mutter +danach fragen würde, als wir über Dunetschkas Uhr sprachen. Es ist das +einzige, was vom Vater herrührt. Sie wird krank werden, wenn die Uhr +verloren geht! Frauen sind einmal so! Also, was soll ich tun, sage es +mir! Ich weiß, daß ich im Polizeibureau es anmelden muß. Ist es aber +nicht besser, sich an Porphyri selbst zu wenden?? Ah! He! Wie meinst du? +Man müßte es schnell tun. Du wirst sehen, daß die Mutter mich vor dem +Mittage danach noch fragt.« + +»Keinesfalls im Polizeibureau, unbedingt sich an Porphyri wenden!« rief +Rasumichin in ungewöhnlicher Aufregung. -- »Nun, wie ich froh bin! Ja, +was ist da viel zu denken, gehen wir sofort hin, es sind bloß zwei +Schritte, wir treffen ihn bestimmt an.« + +»Meinetwegen ... gehen wir zu ihm ...« + +»Und er wird sehr, sehr erfreut sein, dich kennenzulernen! Ich habe ihm +viel von dir gesprochen, zu verschiedenen Malen ... Auch gestern wieder. +Gehen wir! ... Also du hast die Alte gekannt? So so! ... Ausgezeichnet +hat sich alles gemacht! ... Ach, ja ... Ssofja Iwanowna ...« + +»Ssofja Ssemenowna,« -- korrigierte ihn Raskolnikoff. -- »Ssofja +Ssemenowna, das ist mein Freund Rasumichin, und ein guter Mensch ist er +...« + +»Wenn Sie jetzt gehen müssen ...« -- begann Ssonja, wobei sie Rasumichin +gar nicht angesehen hatte, was sie noch mehr verwirrt machte. + +»Nun, gehen wir!« -- beschloß Raskolnikoff, -- »ich komme zu Ihnen heute +noch, Ssofja Ssemenowna, sagen Sie mir, wo Sie wohnen.« + +Er war nicht verwirrt, aber er schien es eilig zu haben und vermied +ihren Blick. Ssonja gab ihre Adresse und errötete dabei. Sie gingen +gleichzeitig fort. + +»Schließt du denn das Zimmer nicht ab?« -- sagte Rasumichin, hinter +ihnen die Treppe hinabsteigend. + +»Nie! ... ich will schon seit zwei Jahren ein Schloß kaufen,« -- fügte +er nachlässig hinzu. -- »Glücklich sind die Menschen, die nichts +abzuschließen haben, nicht wahr?« -- wandte er sich lachend an Ssonja. + +Auf der Straße blieben sie am Tore stehen. + +»Sie müssen nach rechts, Ssofja Ssemenowna! Wie haben Sie mich denn +gefunden?« -- fragte er sie, schien aber etwas ganz anderes sagen zu +wollen. + +Er wollte die ganze Zeit in ihre stillen klaren Augen blicken, und es +gelang ihm immer nicht ... + +»Sie gaben doch gestern Poletschka Ihre Adresse.« + +»Polja? Ach ja ... Poletschka! Das ist ... die Kleine ... das ist Ihre +Schwester? Also, ich gab ihr meine Adresse!« + +»Haben Sie es denn vergessen?« + +»Nein ... ich erinnere mich ...« + +»Und ich habe von Ihnen noch durch den Verstorbenen gehört ... Ich +kannte bloß damals Ihren Namen nicht, und auch er selbst wußte ihn nicht +... Jetzt aber kam ich ... und als ich gestern Ihren Namen hörte ... da +fragte ich heute: wo wohnt hier Herr Raskolnikoff? ... Und ich wußte +nicht, daß Sie auch ein Zimmer gemietet ... Leben Sie wohl ... Ich will +Katerina Iwanowna ...« + +Sie war sehr froh, daß sie endlich loskam; und ging mit gesenktem Kopfe +eilig, um nur schneller aus ihren Augen zu verschwinden, um nur +schneller diese zwanzig Schritte bis zur Biegung nach rechts in die +Seitenstraße zu durcheilen und endlich allein zu sein; um im schnellen +Gehen, ohne jemand anzublicken und unbeachtet, nachzudenken, sich zu +erinnern und jedes Wort und jeden Umstand sich zurückzurufen. Nie, nie +hatte sie Ähnliches empfunden. Eine ganz neue Welt war unbekannt und +dunkel in ihre Seele gedrungen. Sie erinnerte sich plötzlich, daß +Raskolnikoff heute selbst zu ihr kommen wollte, vielleicht schon heute +morgen, vielleicht gleich! + +»Besser nicht heute, bitte, nicht heute!« -- murmelte sie mit stockendem +Herzen, als flehe sie jemand an, wie ein erschrecktes Kind. -- +»Herrgott! Zu mir ... in dies Zimmer ... er wird sehen ... oh, Gott!« + +Sie konnte sicher in diesem Augenblicke den fremden Herrn nicht +bemerken, der eifrig sie beobachtete und ihr auf den Fersen folgte. Er +begleitete sie schon von dem Tore der Wohnung Raskolnikoffs an. In dem +Augenblicke, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikoff und sie auf dem +Fußsteige, um ein paar Worte zu wechseln, stehen blieben, schien dieser +Vorübergehende plötzlich aufzufahren, als er an ihnen vorbeiging und +zufällig die Worte Ssonjas auffing, -- »da fragte ich, wo wohnt hier +Herr Raskolnikoff?« Er warf einen schnellen, aber aufmerksamen Blick +allen dreien zu, besonders aber Raskolnikoff, an den sich Ssonja wandte, +sah dann das Haus an und merkte es sich. Dies alles war in einem kurzen +Augenblick, im Vorbeigehen geschehen und unauffällig, nun verminderte er +seine Schritte, als wartete er. Er wartete auf Ssonja, denn er hatte +gesehen, daß sie sich verabschiedete und wohl sofort nach Hause gehen +würde. + +»Aber wohin nach Hause? Ich habe dieses Gesicht irgendwo gesehen,« -- +dachte er und forschte in seiner Erinnerung nach dem Gesicht Ssonjas, -- +»... ich muß es erfahren.« Als er die Biegung erreichte, ging er auf die +andere Seite der Straße hinüber, wandte sich um und sah, daß Ssonja +denselben Weg wie er eingeschlagen hatte und ihn nicht gewahrte. Sie bog +in dieselbe Straße ein. Er verlor sie nicht aus den Augen und ging nach +etwa fünfzig Schritten wieder auf dieselbe Seite hinüber, auf der Ssonja +dahinschritt, holte sie ein und folgte ihr auf fünf Schritt Entfernung. +-- Es war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, etwas mehr als +mittelgroß, wohlbeleibt, mit breiten und schrägen Schultern, was ihm ein +etwas gebücktes Aussehen verlieh. Er war elegant und bequem gekleidet +und sah ansehnlich aus. In den Händen trug er einen hübschen Stock, den +er bei jedem Schritt auf das Trottoir aufstieß, und seine Hände staken +in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit hervorstehenden +Backenknochen war nicht unangenehm, und seine Gesichtsfarbe frisch, +nicht von Petersburger Art. Sein noch sehr dichtes Haar war ganz +hellblond und kaum leicht ergraut, und der breite dichte Bart, der wie +eine Schaufel herabhing, war noch heller als das Kopfhaar. Seine blauen +Augen blickten kalt, durchdringend und sinnend; die Lippen waren rot. +Überhaupt war er ein ausgezeichnet konservierter Mann und schien +bedeutend jünger zu sein, als er war. + +Als Ssonja auf den Kanal hinauskam, waren sie beide allein auf dem +Fußsteige. Während er sie beobachtete, hatte er schon ihre +Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Als Ssonja ihr Haus +erreichte, ging sie durch das Tor, er folgte ihr und schien überrascht +zu sein. Im Hofe bog sie rechts in die Ecke ab, wo die Treppe zu ihrer +Wohnung war. »Ah!« -- murmelte der Unbekannte und begann hinter ihr her +die Stufen hinaufzusteigen. Hier erst bemerkte ihn Ssonja. Sie ging bis +ins dritte Stockwerk, bog in den Korridor ein und klingelte an der Türe +Nr. 9, wo mit Kreide -- »_Kapernaumoff, Schneider_« -- angeschrieben +war. »Ah!« -- wiederholte der Unbekannte, verwundert über dieses +seltsame Zusammentreffen, und klingelte an der Türe Nr. 8. Beide Türen +waren voneinander kaum sechs Schritte entfernt. + +»Sie wohnen bei Kapernaumoff!« sagte er, blickte Ssonja an und lachte. +»Er hat mir gestern eine Weste umgeändert. Und ich wohne hier neben +Ihnen bei Madame Gertrude Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!« Ssonja +schaute ihn aufmerksam an. + +»Wir sind also Nachbarn,« fuhr er besonders freundlich fort. »Ich bin +erst seit drei Tagen in der Stadt. Nun, vorläufig auf Wiedersehen.« + +Ssonja antwortete nicht; die Tür wurde geöffnet und sie schlüpfte +hinein. Sie schämte sich und schien sich zu ängstigen ... + + * * * * * + +Rasumichin war auf dem Wege zu Porphyri in besonders aufgeregtem +Zustande. + +»Das ist prächtig, Bruder,« wiederholte er ein paarmal, »und ich freue +mich! Ich freue mich!« + +»Ja, worüber freut er sich?« dachte Raskolnikoff. + +»Ich wußte gar nicht, daß du auch bei der Alten versetzt hast. Und ... +und ... ist es lange her? Das heißt, warst du vor längerer Zeit bei +ihr?« + +»Wie naiv und dumm er ist!« + +»Wann? ...« Raskolnikoff blieb stehen und besann sich: »Ja, drei Tage +vielleicht vor ihrem Tode war ich dort. Übrigens, ich gehe doch nicht +jetzt hin, um die Sachen auszulösen,« sagte er hastig und wie besorgt um +seine Sachen, »ich habe ja wieder bloß einen einzigen Rubel in Silber +... infolge des gestrigen verfluchten Fieberanfalls ...« + +Den Fieberanfall betonte er besonders. + +»Nun, ja, ja, ja,« bestätigte Rasumichin eilig, »also darum auch hat +dich ... er damals überrascht ... und weißt du, du hast auch im Fieber +von allerhand Ringen und Ketten immer phantasiert! ... Nun, ja, ja ... +Das ist klar, alles ist jetzt klar.« + +»Also doch! Wie dieser Gedanke bei ihnen sich festgesetzt hat! Dieser +da, dieser Mensch ließe sich für mich ans Kreuz schlagen, und er ist +doch froh, daß es sich geklärt hat, warum ich im Fieber von Ringen +redete! Wie tief es bei ihnen allen wurzelt! ...« + +»Werden wir ihn auch antreffen?« fragte er laut. + +»Wir treffen ihn bestimmt an,« beeilte sich Rasumichin zu antworten. »Er +ist ein prächtiger Bursche, du wirst sehen! Ein wenig plump, das heißt, +er ist wohl Weltmann, aber ich meine in anderem Sinne ist er plump. Ein +kluger Bursche. Er hat nur eine eigentümliche Denkweise. Mißtrauisch, +skeptisch, ein Zyniker ... liebt er zu betrügen, das heißt nicht zu +betrügen, sondern einen anzuführen ... Er hat die alte Mode auf Indizien +... versteht aber seine Sache, versteht sie gut ... Er hat im vorigen +Jahre das Dunkel über einen Mord ausgetüftelt, wo fast alle Spuren schon +verloren waren! Er wünscht sehr, dich kennenzulernen!« + +»Ja, warum denn sehr?« + +»Das heißt, nicht etwa so ... siehst du, in der letzten Zeit, als du +krank wurdest, hatte ich viel und oft Gelegenheit, dich zu erwähnen ... +Nun, er hörte zu ... und als er erfuhr, daß du Jura studiert hast und +infolge allerhand Umstände den Kursus nicht beenden konntest, sagte er, +wie schade! Ich folgerte daraus ... das heißt, dies alles zusammen, +nicht nur dies eine ... gestern hat Sametoff ... Siehst du, Rodja, ich +habe dir gestern in meiner Betrunkenheit, als wir nach Hause gingen, +etwas erzählt ... und ich fürchte nun, Bruder, daß du es übertreiben +könntest, siehst du ...« + +»Was denn? Daß man mich für verrückt hält? Ja, vielleicht ist es auch +wahr.« + +Er lächelte gezwungen. + +»Ja, ja ... das heißt, pfui, nein! ... Nun, alles, was ich sprach ... +und auch über anderes, ist Unsinn und in Betrunkenheit gesagt.« + +»Ja, wozu entschuldigst du dich! Wie mir das alles zum Ekel ist!« rief +Raskolnikoff mit übertriebener, zum Teil gespielter Gereiztheit. + +»Ich weiß, ich weiß, verstehe es. Sei überzeugt, daß ich es verstehe. +Ich sollte mich schämen, davon nur zu sprechen ...« + +»Wenn du dich schämst, was sprichst du darüber!« + +Beide verstummten. Rasumichin war äußerst vergnügt und Raskolnikoff +fühlte es voll Widerwillen. Ihn beunruhigte auch das, was Rasumichin +soeben über Porphyri erzählt hatte. + +»Vor dem muß man auch ein Klagelied anstimmen,« dachte er erbleichend +und mit Herzklopfen, »und es recht natürlich machen. Am besten wäre +vielleicht, nichts vorzuklagen. Absichtlich nichts vorklagen! Nein, +absichtlich wäre wieder nicht natürlich ... Nun, wie es sich macht ... +wir werden ja sehen ... bald genug ... aber ist es gut oder nicht gut, +daß ich hingehe? Der Schmetterling fliegt von selbst ins brennende +Licht. Mein Herz klopft, das ist nicht gut! ...« + +»In diesem grauen Hause wohnt er,« sagte Rasumichin. + +»Am wichtigsten ist es, ob Porphyri es weiß oder nicht, daß ich gestern +in der Wohnung dieser Hexe war ... und von dem Blut sprach? Sogleich muß +ich es erfahren, beim ersten Schritt, wenn ich hineinkomme, muß ich es +ihm am Gesichte anmerken; sonst ... und wenn ich zugrunde gehe, ich muß +es erfahren!« + +»Weißt du auch?« wandte er sich plötzlich an Rasumichin mit einem +schelmischen Lächeln, »ich habe bemerkt, Bruder, daß du dich seit heute +früh in einer ungewöhnlichen Aufregung befindest? Ist es so?« + +»In was für einer Aufregung? In gar keiner Aufregung,« fuhr Rasumichin +auf. + +»Nein, Bruder, es ist dir tatsächlich anzusehen. Auf dem Stuhl saßest du +vorhin, wie du sonst nie sitzest, so nur auf einem Endchen und die ganze +Zeit durchzuckte es dich, wie wenn du Krämpfe hättest. Du sprangst mir +nichts dir nichts auf. Bald sahst du böse aus, bald verzog sich dein +Gesicht plötzlich zu einem süßen Lächeln. Sogar rot wurdest du, +besonders als man dich zu Mittag einlud.« + +»Nichts von alledem ist wahr, du lügst! ... Was denkst du dir?« + +»Ja, und jetzt drehst und wendest du dich wie ein Schulbube? Pfui! +Teufel! Er ist schon wieder rot geworden!« + +»Was du für ein Schwein bist!« + +»Ja, warum wirst du so verlegen? Romeo! Warte, ich will es irgend +jemanden heute noch erzählen, ha--ha--ha! Ich werde Mama zum Lachen +bringen ... und noch jemand ...« + +»Höre mal, höre, aber im Ernste, es ist doch ... Was soll das bedeuten, +zum Teufel!« Rasumichin wurde ganz verwirrt und starr vor Schrecken. +»Was willst du ihnen erzählen? Ich bin, Bruder ... Pfui, welch ein +Schwein du bist!« + +»Du bist wie eine Frühlingsrose! Und wie es dir steht, wenn du es nur +wüßtest. Romeo, ein neuer Romeo! Und wie du dich heute gewaschen hast, +vielleicht auch die Nägel gereinigt? Ah? Wann war dies zuletzt der Fall? +Und du hast dich, bei Gott, mit Pomade eingeschmiert! Beuge dich mal!« + +»Schwein!« + +Raskolnikoff lachte so stark, daß er sich nicht mehr halten konnte, mit +Lachen traten sie auch in die Wohnung von Porphyri Petrowitsch ein. Das +wollte eben Raskolnikoff bezwecken, -- drinnen in den Zimmern konnte man +es hören, daß sie lachend ins Vorzimmer eingetreten waren und dort immer +noch lachten. + +»Kein Wort hier, oder ich ... zerschmettere dich!« flüsterte Rasumichin +und packte wütend Raskolnikoff an der Schulter. + + + V. + +Sie gingen hinein. Raskolnikoff sah aus, als hielte er mit Gewalt an +sich, um nicht loszuplatzen. Ihm folgte mit gänzlich verändertem +Gesichte Rasumichin, rot wie eine Päonie, vor Scham und Wut, und +verlegen. Sein Gesicht und die ganze Gestalt waren in diesem Augenblicke +lächerlich und rechtfertigten Raskolnikoffs Heiterkeit. Raskolnikoff, +dem Hausherrn noch nicht bekannt, verbeugte sich vor ihm, der mitten im +Zimmer stand und sie fragend anblickte, reichte ihm die Hand und drückte +die seinige, immer noch mit sichtlicher, großer Mühe seine Lustigkeit +bekämpfend, um wenigstens ein paar Worte sagen und sich vorstellen zu +können. Aber kaum war es ihm gelungen, eine ernste Miene anzunehmen und +etwas hinzumurmeln, -- als er plötzlich, wie unwillkürlich wieder +Rasumichin anblickte und da hielt er es nicht mehr aus, -- sein +unterdrücktes Lachen brach um so ungestümer hervor, je stärker er es bis +jetzt zurückgehalten hatte. Die ungewöhnliche Wut, mit der Rasumichin +dieses »herzliche« Lachen auffaßte, verlieh diesem ganzen Auftritt das +Aussehen von aufrichtigster Lustigkeit und, was die Hauptsache war, +Natürlichkeit. Rasumichin trug, als beabsichtigte er's, noch viel dazu +bei. + +»Pfui, zum Teufel!« brüllte er, holte mit der Hand aus und traf einen +kleinen runden Tisch, auf dem ein leeres Teeglas stand. Alles fiel hin +und zerbrach. + +»Ja, warum müssen denn gleich Stühle zerschlagen werden, meine Herren, +das ist ein Verlust für den Staat!« rief Porphyri Petrowitsch lachend +aus. + +Der Auftritt stellte sich wie folgt dar, -- Raskolnikoff lachte weiter, +seine Hand in der Hand des Hausherrn lassend, aber er kannte das Maß und +wartete nur auf den Augenblick, um schnell und natürlich zu enden. +Rasumichin, durch den Fall des Tisches und des zerschlagenen Glases +völlig verwirrt, blickte düster auf die Scherben, spie aus und drehte +sich schroff nach dem Fenster, wo er sich mit dem Rücken gegen die +übrigen hinstellte und mit fürchterlich finsterem Gesichte +hinausschaute, aber nichts sah. Porphyri Petrowitsch lachte und hätte +noch mehr gelacht, wenn er nur eine Erklärung dafür gehabt hätte. In der +Ecke auf einem Stuhle hatte Sametoff gesessen, der sich beim Eintritt +der Besucher erhob und in Erwartung dastand; sein Mund war zu einem +Lächeln verzogen, aber er schaute stutzig und mißtrauisch dem ganzen +Auftritt zu und sah Raskolnikoff verwirrt an. Die unerwartete +Anwesenheit Sametoffs überraschte Raskolnikoff unangenehm. + +»Da muß man sich in acht nehmen!« dachte er. + +»Entschuldigen Sie, bitte,« begann er plötzlich ganz verlegen, +»Raskolnikoff ...« + +»Erlauben Sie aber, sehr angenehm, und Sie kamen so angenehm herein ... +Was, will er nicht mal >Guten Tag< sagen?« wies Porphyri Petrowitsch auf +Rasumichin. + +»Bei Gott, ich weiß nicht, warum er auf mich wütend ist. -- Ich sagte +ihm bloß auf dem Wege hierher, daß er Romeo ähnlich sei und ... habe es +bewiesen, sonst war nichts.« + +»Du bist ein Schwein!« rief Rasumichin, ohne sich umzuwenden. + +»Er hatte also sehr ernste Gründe, um wegen dieses einzigen Wortes so +böse zu werden,« lachte Porphyri Petrowitsch. + +»Nun auch der Untersuchungsrichter! ... Zum Teufel mit euch allen!« +schnitt Rasumichin ab, plötzlich aber lachte er selbst und ging mit +heiterem Gesichte, als wäre nichts vorgefallen, auf Porphyri Petrowitsch +zu. + +»Schluß damit! Alle seid ihr Dummköpfe. Jetzt zur Sache, -- hier ist +mein Freund, Rodion Romanytsch Raskolnikoff, der erstens von dir viel +gehört hat und mit dir bekannt werden wollte, und der zweitens ein +kleines Ansuchen an dich hat. Ah! Sametoff! Wie kommst du hierher? Kennt +ihr denn einander? Seid ihr schon lange bekannt?« + +»Was bedeutet das!« dachte Raskolnikoff voll Unruhe. + +Sametoff schien ein wenig verlegen zu werden. + +»Wir haben uns gestern doch bei dir kennengelernt,« sagte er +ungezwungen. + +»Also hat mich Gott vor Schererei behütet; in der vorigen Woche hat er +mich geplagt, ihn mit dir, Porphyri, irgendwie bekannt zu machen, und +nun habt ihr euch, ohne meine Hilfe, gefunden ... Wo hebst du deinen +Tabak auf?« + +Porphyri Petrowitsch war in Hauskleidung, -- in einem Schlafrock, sehr +reiner Wäsche und in abgetretenen Pantoffeln. Es war ein Mann von etwa +fünfunddreißig Jahren, unter Mittelgröße, dick, mit einem Bäuchlein, +glattrasiert, ohne Schnurrbart, mit kurz geschnittenem Haare auf dem +großen runden Kopfe, der nach hinten zu besonders gewölbt war. Sein +volles, rundes und ein wenig stumpfnäsiges Gesicht hatte eine +kränkliche, dunkelgelbe Farbe, war aber munter und sogar spöttisch. Es +wäre gutmütig zu nennen, wenn nicht der Ausdruck der Augen, die mit fast +weißen, zwinkernden Wimpern bedeckt waren, mit ihrem wässerigen Glanze +störend gewirkt hätte. Der Blick dieser Augen paßte wenig zu der ganzen +Gestalt, die entschieden etwas Weibisches an sich hatte, und machte ihn +viel ernster, als man beim ersten Anblick vermutete. + +Als Porphyri Petrowitsch vernahm, daß der Besucher ein kleines Ansuchen +an ihn habe, bat er ihn sofort, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er setzte +sich selbst in die andere Ecke und sah den Besucher voll Erwartung mit +einer starken und zu ernsten Aufmerksamkeit an, die bedrücken und +vollends gleich beim ersten Zusammensein verwirren mußte, um so mehr, +wenn das, was man vorzubringen hat, durchaus in keinem Verhältnisse zu +einer so ungewöhnlichen Aufmerksamkeit zu stehen scheint. Raskolnikoff +jedoch legte seine Angelegenheit in kurzen und bündigen Worten, deutlich +und klar dar, und war mit sich so zufrieden, daß er noch Gelegenheit +fand, Porphyri Petrowitsch genau zu betrachten. Auch Porphyri +Petrowitsch wandte keinen Augenblick seine Augen von ihm ab. Rasumichin +hatte an demselben Tische ihnen gegenüber Platz genommen und verfolgte +eifrig und ungeduldig die Darstellung der Sache, wobei er alle +Augenblicke und ziemlich auffällig seine Augen von einem zu dem andern +gleiten ließ. + +»Dummkopf!« schimpfte Raskolnikoff bei sich. + +»Sie müssen eine Eingabe an das Polizeibureau machen,« antwortete mit +Geschäftsmiene Porphyri, »daß Sie über diesen Vorfall, das heißt von +diesem Mord erfahren haben, und bitten den Untersuchungsrichter, der +diese Sache führt, zu benachrichtigen, daß die und die Sachen Ihnen +gehören, und daß Sie sie einlösen möchten ... oder Ähnliches ... man +wird Ihnen das übrigens sagen.« + +»Das ist ja das Unbequeme, daß ich in diesem Augenblicke,« Raskolnikoff +bemühte sich, möglichst verlegen zu werden, »nicht recht bei Kassa bin +... und sogar so eine Kleinigkeit nicht kann ... sehen Sie, ich möchte +jetzt nur erklären, daß es meine Sachen sind, und daß, wenn ich Geld +haben werde, ich ...« + +»Das ist einerlei,« antwortete Porphyri Petrowitsch, die Erklärung über +die Finanzlage kalt aufnehmend, »übrigens, Sie können auch direkt an +mich, wenn Sie wollen, in demselben Sinne schreiben, daß Sie das und das +in Erfahrung gebracht haben und die und die Sachen als Ihr Eigentum +angeben und bitten ...« + +»Man kann es auf einfachem Papiere schreiben?« beeilte sich +Raskolnikoff, ihn zu unterbrechen, wieder ein Interesse für die +Geldfrage zeigend. + +»Oh, auf dem allereinfachsten Papiere!« und plötzlich blickte ihn +Porphyri Petrowitsch spöttisch mit zusammengekniffenen Augen an und +schien ihm zuzuzwinkern. + +Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß so geschienen, denn es +dauerte nur einen Augenblick. Etwas war wenigstens gewesen. Raskolnikoff +hätte darauf schwören mögen, daß er ihm zugezwinkert habe, weiß der +Teufel warum. + +»Er weiß alles!« durchzuckte es ihn wie ein Blitz. + +»Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Kleinigkeiten belästigt +habe,« fuhr er etwas verwirrt fort, »meine Sachen sind im ganzen +höchstens fünf Rubel wert, aber sie sind mir besonders teuer, als ein +Andenken an die, von denen ich sie erhalten habe und, offen gestanden, +als ich es hörte, erschrak ich sehr ...« + +»Darum fuhrst du auch gestern so auf, als ich Sossimoff erzählte, daß +Porphyri die Pfandgeber ausfrage!« bemerkte Rasumichin mit deutlicher +Absicht. + +Das war schon unerträglich. Raskolnikoff konnte sich's nicht versagen, +ihn wütend mit seinen vor Zorn funkelnden schwarzen Augen anzublicken. +Er besann sich aber sofort. + +»Du scheinst dich über mich lustig zu machen, Bruder?« wandte er sich an +ihn mit geschickt gespielter Gereiztheit. »Ich sehe es ein, daß ich +vielleicht meine Sorge um diesen Schund übertreibe, der er doch in +deinen Augen ist, aber man darf mich darum weder für einen Egoisten, +noch für einen habgierigen Menschen halten, und für mich brauchen diese +zwei geringen Gegenstände gar kein Schund zu sein. Ich sagte dir schon +vorhin, daß diese silberne Uhr, die einen Spottwert hat, das einzige +ist, was mir von meinem Vater geblieben ist. Du kannst dich über mich +amüsieren, aber soeben ist meine Mutter angekommen,« wandte er sich +plötzlich an Porphyri, »und wenn sie erfahren würde,« kehrte er sich +wieder schnell zu Rasumichin und gab sich besondere Mühe, um mit der +Stimme zu zittern, »daß diese Uhr verloren sei, so würde sie -- schwöre +ich -- in Verzweiflung sein! Sie ist doch eine Frau!« + +»Ich sagte es gar nicht in dem Sinne! Ganz im Gegenteil!« rief +Rasumichin gekränkt. + +»War es auch gut? War es natürlich? Habe ich nicht übertrieben?« sagte +Raskolnikoff bebend zu sich selbst. »Warum sagte ich -- sie ist doch +eine Frau!« + +»Ihre Frau Mutter ist zu Ihnen gekommen?!« erkundigte sich aus +irgendeinem Grunde Porphyri Petrowitsch. + +»Ja.« + +»Wann denn?« + +»Gestern abend.« + +Porphyri Petrowitsch schwieg, als überlege er etwas. + +»Ihre Sachen konnten in keiner Weise verloren gehen,« fuhr er ruhig und +kalt fort. »Ich erwarte Sie schon seit langem.« + +Und als wäre nichts vorgefallen, schob er sorgsam einen Aschbecher +Rasumichin zu, der unbarmherzig die Asche von seiner Zigarette auf den +Teppich streute. Raskolnikoff zuckte zusammen, aber Porphyri schien ihn +nicht anzublicken, noch immer um Rasumichins Zigarette besorgt. + +»Was? Du hast ihn erwartet! Wußtest du denn, daß auch er dort versetzt +hatte?« rief Rasumichin aus. + +»Ihre beiden Sachen, der Ring und die Uhr, waren _bei ihr_ in einem und +demselben Stück Papier eingewickelt, und auf dem Papier war mit +Bleistift deutlich Ihr Name vermerkt, ebenso auch das Datum, wann sie +sie von Ihnen erhalten hatte ...« + +»Wie genau Sie sind! ...« lächelte ein wenig ungeschickt Raskolnikoff +und versuchte, ihm in die Augen zu sehen, er konnte sich aber nicht +enthalten, hinzuzufügen: + +»Ich sage das nur deshalb, weil wahrscheinlich sehr viele Pfandgeber +waren ... so daß es Ihnen doch schwer fallen mußte, sich aller zu +erinnern ... Sie aber erinnern sich im Gegenteil an alles so deutlich, +und ... und ...« + +»Es war dumm! Schwach! Warum habe ich es hinzugefügt!« + +»Alle Pfandgeber sind jetzt schon bekannt, so daß Sie der einzige sind, +der sich noch nicht meldete,« antwortete Porphyri Petrowitsch mit einem +kaum merklichen Anfluge von Spott. + +»Ich war nicht ganz gesund.« + +»Auch davon habe ich gehört. Habe sogar gehört, daß Sie von etwas sehr +mitgenommen waren. Sie sind auch jetzt noch etwas bleich!« + +»Ich bin gar nicht bleich ... im Gegenteil, ich bin ganz gesund!« +schnitt ihn grob und böse Raskolnikoff ab, plötzlich seinen Ton +verändernd. + +Die Wut pochte in ihm und er konnte sie nicht unterdrücken. »Und in der +Wut werde ich mich versprechen!« durchzuckte es ihn von neuem. »Und +warum quälen sie mich! ...« + +»Nicht ganz gesund!« hub Rasumichin an. »Wie er aufschneidet! Bis +gestern noch phantasierte er und war bewußtlos ... Du kannst es mir +glauben, Porphyri, er konnte kaum mehr auf den Füßen stehen, und +trotzdem, als wir, Sossimoff und ich, gestern uns nur auf einen +Augenblick entfernten, -- zog er sich an, lief heimlich weg und irrte +irgendwo fast bis Mitternacht herum, und das, sage ich dir, ganz im +Fieber, kannst du dir so etwas vorstellen! Ein ganz merkwürdiger Fall!« + +»Und geschah es wirklich ganz im Fieber? Sagen Sie mal?« Mit einer +weibischen Bewegung schüttelte Porphyri Petrowitsch den Kopf. + +»Ah, Unsinn! Glauben Sie ihm nicht! Übrigens, Sie glauben es ja auch +sowieso nicht!« entschlüpfte es Raskolnikoff in seiner Wut. + +Aber Porphyri Petrowitsch schien diese seltsamen Worte überhört zu +haben. + +»Wie konntest du dann weggehen, wenn du nicht im Fieber warst?« +ereiferte sich Rasumichin. »Warum bist du weggegangen? Wozu? ... Und +warum gerade heimlich? Sag, warst du damals bei gesundem Verstande? +Jetzt, wo die ganze Gefahr vorbei ist, sage ich es dir offen!« + +»Ich war ihrer gestern überdrüssig geworden,« wandte sich rasch +Raskolnikoff an Porphyri Petrowitsch mit einem dreisten, +herausfordernden Lächeln, »und ich lief von ihnen fort, mir eine Wohnung +zu mieten, damit sie mich nicht wiederfinden sollten, und habe einen +Haufen Geld mitgenommen. Herr Sametoff hat das Geld gesehen. Und sagen +Sie, Herr Sametoff, war ich gestern vernünftig oder im Fieber, +entscheiden Sie unseren Streit!« + +Er hätte in diesem Augenblicke Sametoff erwürgen können. Dessen Blick +und sein Schweigen waren ihm äußerst peinlich. + +»Meiner Ansicht nach redeten Sie sehr vernünftig und sogar schlau, Sie +waren bloß sehr reizbar,« erklärte Sametoff trocken. + +»Und heute sagte mir Nikodim Fomitsch,« bemerkte Porphyri Petrowitsch, +»er hätte Sie gestern noch sehr spät in der Wohnung eines überfahrenen +Beamten getroffen ...« + +»So nehmen wir diesen Fall her!« begann Rasumichin, »warst du nicht +verrückt bei diesem Beamten? Das letzte Geld hat er der Witwe für die +Beerdigung gegeben! Und, wenn du helfen wolltest, -- konntest du ihr +fünfzehn oder zwanzig Rubel geben und wenigstens drei Rubel für dich +behalten, du schenktest ihnen aber alle fünfundzwanzig.« + +»Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, was du noch nicht +weißt? Darum war ich gestern auch so freigebig ... Herr Sametoff weiß, +daß ich einen Schatz gefunden habe! ... Entschuldigen Sie, bitte,« +wandte er sich mit bebenden Lippen an Porphyri Petrowitsch, »daß wir Sie +mit solchem kleinlichen Geschwätz eine halbe Stunde belästigen. Sie sind +unserer überdrüssig, ja?« + +»Erlauben Sie, im Gegenteil, im Ge--gen--teil! Wenn Sie wüßten, wie Sie +mich interessieren! Es ist amüsant, zuzusehen und zuzuhören ... und ich +bin, offen gesagt, so froh, daß Sie endlich einmal gekommen sind ...« + +»Gib aber doch wenigstens Tee! Die Kehle trocknet einem ein!« rief +Rasumichin aus. + +»Eine ausgezeichnete Idee! Vielleicht beteiligen Sie sich alle. Willst +du aber nicht ... etwas Wesentlicheres vor dem Tee haben?« + +»Nein, laß gut sein!« + +Porphyri Petrowitsch ging hinaus, um Tee zu bestellen. + +Die Gedanken drehten sich wie im Wirbelwinde in Raskolnikoffs Kopfe. Er +war aufs äußerste gereizt. + +»Das schönste ist, daß sie sich nicht mal verbergen und nicht einmal den +Anstand wahren wollen! Aus welchem Grunde aber sprach er, wenn er mich +gar nicht kennt, mit Nikodim Fomitsch über mich? Also wollen sie nicht +mal verbergen, daß sie wie eine Koppel Hunde mich verfolgen! Sie speien +mir ganz offen ins Gesicht!« Er zitterte vor Wut. »Schlagt doch offen zu +und spielt nicht wie die Katze mit der Maus. Das ist doch geschmacklos. +Porphyri Petrowitsch, das erlaube ich dir einfach nicht! ... Ich stehe +auf und schleudere allen die ganze Wahrheit ins Gesicht und Sie werden +wenigstens sehen, wie ich Sie verachte!« Er holte schwer Atem. »Wenn mir +aber dies alles nur so vorkommt? Wenn dies aber bloß ein Spiel meiner +Phantasie ist und ich mich irre, aus Unerfahrenheit mich ärgere und +meine gemeine Rolle nicht gut spiele? Vielleicht ist alles ohne jede +Absicht? Ihre Worte sind alle gewöhnlich, aber etwas liegt doch in ihnen +... All dieses kann stets gesagt werden, aber etwas ist doch dabei. +Warum sagte er einfach -- >bei ihr?< Warum fügte Sametoff hinzu, daß ich +schlau gesprochen habe? Warum reden sie in solch einem Tone? Ja ... der +Ton ... Aber Rasumichin saß doch auch hier, warum fiel ihm nichts auf? +Diesem naiven Holzklotze fällt eben nie etwas auf! Ich habe wieder +Fieber! ... Zwinkerte mir Porphyri Petrowitsch vorhin zu oder nicht? Es +war sicher nichts; warum sollte er mir zuzwinkern? Wollen sie meine +Nerven reizen, oder führen sie mich an der Nase herum? Entweder ist +alles ein Phantasiespiel oder sie wissen es! Sogar Sametoff ist dreist +... Ist Sametoff wirklich dreist? Sametoff hat sich's über Nacht +überlegt. Ich ahnte es doch, daß er es sich überlegen wird! Er benimmt +sich wie zu Hause, ist aber zum ersten Male hier. Porphyri betrachtet +ihn nicht als seinen Gast, sitzt mit dem Rücken zu ihm. Sie stecken +unter einer Decke! Sie stecken unbedingt meinetwegen unter einer Decke! +Sie haben sicher vor unserem Kommen über mich gesprochen! ... Wissen sie +etwas von der Wohnung gestern? Mag es schneller herauskommen! ... Als +ich sagte, daß ich gestern weggelaufen wäre, mir eine Wohnung zu mieten, +ließ er es gelten, erfaßte nicht die Gelegenheit ... Mit der Wohnung +habe ich's fein angedeutet, -- es kann mir später nützen! ... Im Fieber +war es, kann ich sagen! ... Ha--ha--ha! Er weiß alles über den gestrigen +Abend! Von der Ankunft der Mutter wußte er nicht! ... Und die Hexe hat +auch das Datum mit Bleistift vermerkt! ... Ihr lügt, ich ergebe mich +nicht! Das sind doch keine Tatsachen, bloß Phantasiegebilde! Nein, rückt +mal mit Tatsachen heraus! Auch der Besuch der Wohnung ist keine +Tatsache, sondern Fieber, -- ich weiß, was ich ihnen sagen muß ... +Wissen sie, daß ich in der Wohnung war? Ich gehe nicht fort, ehe ich es +nicht erfahre! Warum bin ich hergekommen? Daß ich mich jetzt ärgere, das +ist vielleicht eine Tatsache! Wie reizbar ich bin! Vielleicht aber ist +es auch gut; es ist die Rolle eines Kranken ... Er betastet mich. Er +wird mich verwirren wollen. Warum bin ich überhaupt gekommen?« + +Dies alles fuhr ihm durch den Kopf wie ein Blitz. + +Porphyri Petrowitsch kehrte bald zurück. Er war auf einmal vergnügter +geworden. + +»Mein Kopf brummt von dem gestrigen Abend bei dir, Bruder ... und ich +bin ganz zerschlagen,« begann er in einem ganz anderen Tone und wandte +sich lachend an Rasumichin. »War es interessant? Ich verließ euch doch +gestern bei dem interessantesten Punkte. Wer siegte?« + +»Niemand, selbstverständlich. Wir kamen später zu den ewigalten Fragen, +schwebten in höheren Regionen.« + +»Was meinst du, Rodja, worauf sie gestern zu sprechen kamen, -- gibt es +oder gibt es keine Verbrecher? Ich sag dir, sie schwatzten das Blaue vom +Himmel herunter!« + +»Was ist da Merkwürdiges dran? Eine gewöhnliche soziale Frage,« +antwortete Raskolnikoff zerstreut. + +»Die Frage war nicht so formuliert,« bemerkte Porphyri Petrowitsch. + +»Nein, nicht ganz so, das ist wahr,« pflichtete Rasumichin wie +gewöhnlich eilig und sich ereifernd bei. »Sieh, Rodion, höre mich an und +sage dann deine Meinung. Es wäre mir lieb. Ich wollte gestern geradezu +aus der Haut fahren, ich wartete auf dich, denn ich hatte ihnen gesagt, +daß du kommen wirst ... Es begann mit der Anschauung der Sozialisten. +Die Anschauung ist bekannt, -- das Verbrechen ist ein Protest gegen die +anormale soziale Einrichtung, und -- mehr nichts, keine andern Gründe +wurden zugelassen, -- nichts mehr! ...« + +»Da schwindelst du schon!« rief Porphyri Petrowitsch. Er wurde sichtbar +belebter und lachte alle Augenblicke, indem er Rasumichin ansah, der +dadurch noch mehr in Hitze kam. + +»Sonst wurde nichts zugelassen!« unterbrach ihn Rasumichin voll Eifer, +»ich schwindle nicht! ... Ich will dir ihre Bücher zeigen, -- an allem +soll die sogenannte >gute Gesellschaft schuld sein< -- und weiter +nichts! Das ist ihre Lieblingsphrase! Und daraus geht hervor, daß, wenn +die Gesellschaft normal eingerichtet sein wird, mit einem Male auch alle +Verbrecher verschwinden werden, weil es nichts mehr geben wird, dagegen +zu protestieren, und alle werden auf einmal gerecht werden. Die Natur +wird nicht in Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die Natur +hat keinen Platz! Bei ihnen wird die Menschheit nicht von selbst sich in +eine normale Gesellschaft verwandeln, indem sie den historischen, +lebendigen Entwicklungsgang durchmacht, sondern im Gegenteil, ein +soziales System, irgendeinem mathematischen Kopfe entsprungen, soll +sofort die ganze Menschheit verändern und im Nu sie gerecht und +sündenlos machen, ohne jeden historischen und lebendigen +Entwicklungsgang, ohne jeglichen lebendigen Prozeß! Darum hassen sie +auch so instinktiv die Geschichte, -- >in ihr kommen bloß +Scheußlichkeiten und Dummheiten vor<, -- und alles wird bloß durch +Dummheit allein erklärt! Darum lieben sie auch nicht den lebendigen +Lebensprozeß, -- sie brauchen keine lebendige Seele. Eine lebendige +Seele wird Leben verlangen, eine lebendige Seele will nicht einem +Mechanismus gehorchen, eine lebendige Seele ist mißtrauisch, eine +lebendige Seele ist rückschrittlich! Und bei ihnen kann man die Seele +aus Kautschuk machen, tut nichts, daß sie Leichengeruch hat, -- sie ist +dafür nicht lebendig, ohne Willen, eine Sklavenseele und wird sich nicht +empören. Und im Resultate kommt es darauf hinaus, daß sich alles nur um +das Zusammensetzen von Ziegelsteinen und um die Lage der Korridore und +der Zimmer in der kommunistischen Kolonie dreht! Die kommunistische +Kolonie ist fertig, sie verlangt Leben, hat ihren Lebensprozeß noch +nicht abgeschlossen, es ist zu früh für sie, auf den Kirchhof zu kommen! +Mit der Logik allein kann man nicht die Natur überspringen! Die Logik +will drei Fälle voraussetzen, und es gibt ihrer eine Million! Soll man +die ganze Million Fälle abschneiden und alles bloß zur Frage des +Komforts konzentrieren? Die leichteste Lösung der Aufgabe! Sie ist +verlockend einfach und man braucht nicht zu denken! Und das ist die +Hauptsache -- man braucht nicht zu denken! Das ganze Lebensgeheimnis +findet auf zwei Druckbogen Platz!« + +»Wie es dich gepackt hat, du schlugst fest die Trommel! Man muß dich +festhalten,« lachte Porphyri Petrowitsch. »Stellen Sie sich vor,« wandte +er sich an Raskolnikoff, »so war es auch gestern abend, und das in einem +Zimmer, angefüllt mit sechs Mann, die er dazu noch vorher mit Punsch +bewirtet hat, -- können Sie sich so was vorstellen? Nein, Bruder, du +schwindelst, -- >die Gesellschaft< hat bei einem Verbrechen viel zu +bedeuten; das kann ich dir bestätigen.« + +»Ich weiß es selbst, daß sie viel zu bedeuten hat, aber sage mir, -- +wenn ein Vierzigjähriger ein Mädchen von zehn Jahren vergewaltigt, -- +hat ihn etwa die Gesellschaft, die Umgebung dazu gezwungen?« + +»Ja, im strengen Sinne vielleicht auch die Gesellschaft,« bemerkte +Porphyri Petrowitsch mit merkwürdiger Wichtigkeit, »ein Verbrechen an +einem kleinen Mädchen kann man sehr, sehr gut durch >die Gesellschaft< +erklären.« + +Rasumichin geriet nun fast in Wut. + +»Nun, willst du, so werde ich dir sofort beweisen,« brüllte er »daß du +weiße Wimpern einzig und allein darum hast, weil der Turm von Iwan +Weliki fünfundsiebzig Meter hoch ist, und ich will es dir klar, genau, +fortschrittlich, und sogar mit einem liberalen Anfluge beweisen! Ich +übernehme es! Nun, willst du mit mir wetten?« + +»Ich nehme die Wette an! Wollen wir mal hören, wie er es beweisen will!« + +»Ja, du stellst dich bloß so an, zum Teufel!« rief Rasumichin aus, +sprang von seinem Stuhle und wehrte mit der Hand ab. »Nun, lohnt es sich +mit dir zu sprechen? Er tut dies nur absichtlich, du kennst ihn noch +nicht, Rodion! Auch gestern war er auf ihrer Seite, bloß, um sie alle +anzuführen. Und was er gestern alles sagte, oh Gott! Und die waren um +ihn froh! ... Er kann in dieser Weise zwei Wochen aushalten. Im vorigen +Jahre erzählte er uns aus irgendeinem Grunde, daß er ins Kloster gehe, +-- zwei Monate blieb er dabei! Vor kurzem wollte er uns aufbinden, daß +er heiraten würde, und daß alles schon zur Hochzeit bereit sei. Sogar +einen neuen Anzug hatte er sich bestellt. Wir fingen schon an, ihm zu +gratulieren. Keine Braut, nichts war da, -- alles Phantasiespiel!« + +»Da hast du wieder geschwindelt! Den Anzug hatte ich vorher bestellt! +Wegen des neuen Anzuges kam es mir auch in den Sinn, euch alle +anzuführen!« + +»Können Sie sich wirklich so verstellen?« fragte Raskolnikoff +nachlässig. + +»Und Sie glauben es nicht? Warten Sie, auch Sie will ich anführen -- +ha--ha--ha! Nein, hören Sie, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Bei +allen diesen Fragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleinen Mädchen erinnere +ich mich plötzlich, -- übrigens habe ich mich stets dafür interessiert, +-- an einen Aufsatz von Ihnen, -- >Über Verbrechen ...< oder wie er +heißt, ich habe den Titel vergessen, ich erinnere mich nicht genau an +ihn. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in dem >Periodischen +Worte< zu lesen.« + +»Meinen Aufsatz? In dem >Periodischen Worte?<« fragte verwundert +Raskolnikoff, »ich habe tatsächlich vor einem halben Jahre, als ich die +Universität verließ, einen Aufsatz geschrieben, aber ich habe ihn damals +der Zeitung >Das wöchentliche Wort< und nicht dem >Periodischen< +übergeben.« + +»Er ist aber im >Periodischen< erschienen.« + +»Das >Wöchentliche Wort< hörte damals auf zu erscheinen, darum druckte +man ihn auch nicht ...« + +»Das ist richtig; und das >Wöchentliche Wort< verschmolz mit dem +>Periodischen< und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten +dort. Sie wußten es nicht?« + +Raskolnikoff wußte tatsächlich nichts davon. + +»Erlauben Sie, Sie können doch Geld für den Aufsatz verlangen! Was Sie +für ein Mensch sind! Sie leben so einsam, daß Sie selbst von solchen +Dingen, die Sie doch direkt angehen, keine Ahnung haben.« + +»Bravo, Rodja! Auch ich wußte nichts,« rief Rasumichin aus. »Ich gehe +heute noch in die Lesehalle und verlange die Nummer. Vor zwei Monaten +war es! Welches Datum? Na, einerlei, ich werde ihn schon finden! Das ist +mal eine Sache! Und er sagte nichts davon!« + +»Woher haben Sie zu wissen bekommen, daß der Aufsatz von mir ist? Er ist +nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.« + +»Zufällig, und auch erst in diesen Tagen. Durch den Redakteur; ich kenne +ihn ... Ich war sehr interessiert.« + +»Ich betrachtete, soweit ich mich erinnere, den psychologischen Zustand +eines Verbrechers während des ganzen Vorganges.« + +»Ja, und Sie behaupteten, daß die Vollbringung eines Verbrechens stets +von einer Krankheit begleitet wird. Sehr, sehr originell, aber ... mich +interessierte eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein +gewisser Gedanke, der zum Schlusse vorkommt, den Sie aber leider nur +unklar andeuteten ... Wenn Sie sich entsinnen, es ist da angedeutet, daß +in der Welt offenbar Menschen existieren, die tun können ... das heißt +nicht bloß können, sondern volles Recht dazu haben, allerhand +Scheußlichkeiten und Verbrechen zu vollbringen, und daß für sie das +Gesetz nicht geschrieben ist.« + +Raskolnikoff lächelte über die starke absichtliche Verdrehung seiner +Idee. + +»Wie? Was? Ein Recht auf Verbrechen? Aber doch nicht aus dem Grunde, +weil die Gesellschaft schuld ist?« erkundigte sich Rasumichin voll +Schrecken. + +»Nein, nein, nicht aus dem Grunde,« antwortete Porphyri Petrowitsch. +»Die ganze Sache dreht sich darum, daß in seinem Aufsatze die Menschen +in >gewöhnliche< und >ungewöhnliche< eingeteilt werden. Die Gewöhnlichen +müssen in Gehorsam leben und haben kein Recht, ein Gesetz zu +überschreiten, weil sie -- eben Gewöhnliche sind. Und die Ungewöhnlichen +haben das Recht, allerhand Verbrechen zu vollbringen und in jeder Weise +das Gesetz zu verletzen, und das, weil sie Ungewöhnliche sind. So +scheint es mir in Ihrem Aufsatze zu stehen, wenn ich nicht irre?« + +»Aber wie ist denn das? Es kann nicht sein, daß es so gemeint ist!« +murmelte Rasumichin zweifelnd. + +Raskolnikoff lächelte wieder. Er hatte sofort verstanden, wie die Sache +stand und worauf man ihn bringen wollte; er entsann sich der Stelle und +beschloß, die Herausforderung anzunehmen. + +»Es steht nicht ganz so in meinem Aufsatze,« begann er schlicht und +bescheiden. »Übrigens, ich muß gestehen, daß Sie ihn nahezu richtig +wiedergegeben haben, und wenn Sie es wünschen, auch vollkommen richtig +...« Es paßte ihm anscheinend, zuzugeben, daß der Gedanke vollkommen +richtig wiedergegeben war. »Der Unterschied besteht einzig darin, daß +ich gar nicht behauptete, daß die ungewöhnlichen Menschen unbedingt +allerhand Scheußlichkeiten vollbringen müssen und dazu verpflichtet +sind, wie Sie es sagen. Ich glaube auch, daß man einen solchen Aufsatz +in der Presse nicht zugelassen hätte. Ich habe einfach angedeutet, daß +ein >ungewöhnlicher< Mensch das Recht habe ... das heißt kein +offizielles Recht, sondern in sich selbst das Recht trage, seinem +Gewissen zu gestatten ... einige Hindernisse zu überschreiten, und +einzig in dem Falle, wenn die Erfüllung seiner Idee, -- die zuweilen +vielleicht für die ganze Menschheit heilbringend ist, -- dieses +verlangt. Sie beliebten zu sagen, daß mein Aufsatz nicht deutlich sei; +ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Ich irre mich +vielleicht nicht, wenn ich annehme, daß Sie es wünschen, gut. Meine +Ansicht geht dahin, -- wenn die Entdeckungen von Newton und Kepler, +infolge irgendwelcher Kombinationen, in keiner Weise der Menschheit +anders bekannt werden konnten als durch den Verlust des Lebens von +einem, zehn, hundert und mehr Menschen, die der Erfindung störend waren, +oder ihr als ein Hindernis im Wege standen, so hätte Newton das Recht +gehabt und wäre sogar verpflichtet gewesen ... diese zehn oder hundert +Menschen zu beseitigen, um seine Erfindungen der ganzen Menschheit +bekannt zu machen. Daraus läßt sich übrigens gar nicht schließen, daß +Newton das Recht hatte, jeden beliebigen, den ersten besten zu ermorden +oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Weiter entwickelte ich -- +soweit ich mich erinnern kann -- in meinem Aufsatze, daß alle ... nun, +nehmen wir zum Beispiel die Gesetzgeber und Führer der Menschheit, +angefangen von den allerältesten Lykurg, Solon bis Mahomet, Napoleon und +so weiter herauf: alle waren ohne Ausnahme Verbrecher, schon dadurch +allein, daß sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft +heilig geehrte und von den Vätern übernommene Gesetz verletzten, -- und +sie schraken sicher nicht vor dem Blutvergießen zurück, wenn ihnen nur +das Blut, -- und es war zuweilen ganz unschuldiges und tapfer für das +alte Gesetz vergossenes Blut -- helfen konnte. Es ist sogar auffallend, +daß der größte Teil dieser Wohltäter und Führer der Menschheit besonders +grausame Blutvergießer waren. Mit einem Worte, ich ziehe den Schluß, daß +auch alle, nicht bloß die Großen, sondern auch die kaum über das Maß +hervortretenden Menschen, das heißt, die auch nur eine geringe Fähigkeit +haben, etwas Neues zu sagen, unbedingt ihrer Natur nach mehr oder +weniger Verbrecher sein müssen. Anders würde es ihnen schwer fallen, aus +dem Gleise herauszukommen; und im Gleise zu bleiben können sie gar nicht +wollen, wiederum ihrer Natur nach, und meiner Ansicht nach sind sie +sogar verpflichtet, es nicht zu wollen. Mit einem Worte, Sie sehen, daß +bis dato etwas besonders Neues nicht in dem Aufsatze steht. Das wurde +schon tausendmal gedruckt und gelesen. Was meine Einteilung der Menschen +in gewöhnliche und ungewöhnliche anbetrifft, gebe ich zu, daß sie ein +wenig willkürlich ist, aber ich klammere mich auch nicht an genaue +Zahlen. Ich glaube nur an meinen Hauptgedanken. Er besteht gerade darin, +daß die Menschen infolge eines Naturgesetzes überhaupt in zwei Gattungen +zerfallen, -- eine niedrige, die gewöhnlichen, das heißt sozusagen das +Material, das einzig zur Weitererzeugung dient, und eigentliche +Menschen, das heißt solche, die die Begabung oder das Talent haben, in +ihrem Kreise ein neues Wort zu sagen. Selbstverständlich gibt es hier +endlose Unterabteilungen, aber die bezeichnenden Merkmale beider +Gattungen sind ziemlich scharf, -- die erste Gattung, das heißt das +Material, besteht, im allgemeinen gesagt, aus Menschen, die ihrer Natur +nach konservativ und gesittet sind, in Gehorsam leben und es lieben, +gehorsam zu sein. Meiner Ansicht nach sind sie auch verpflichtet, +gehorsam zu sein, denn das ist ihre Bestimmung und dabei ist entschieden +nichts Erniedrigendes für sie. Die zweite Gattung, -- die überschreiten +alle das Gesetz, sind Zerstörer oder neigen dazu, je nach ihren +Fähigkeiten. Die Verbrechen dieser Menschen sind selbstverständlich +relativ und verschieden; meistens verlangen sie die Zerstörung des +Gegenwärtigen im Namen eines Besseren. Wenn er aber seiner Idee wegen, +-- sagen wir -- über eine Leiche schreiten oder Blut vergießen muß, so +kann er, meine ich, innerlich von seinem Gewissen aus sich die Erlaubnis +geben, über diese Leiche hinwegzuschreiten, -- das heißt, je nach der +Idee und ihrem Umfange, -- halten Sie das fest! Nur in diesem Sinne +spreche ich auch in meinem Aufsatze über ihr Recht auf Verbrechen. Sie +entsinnen sich doch, daß wir mit einer juristischen Frage anfingen. +Übrigens, es ist nicht wert, sich viel aufzuregen, -- die Menge erkennt +fast nie dieses Recht für sie an, sie läßt sie hinrichten und hängen -- +mehr oder weniger -- und erfüllt dadurch vollkommen richtig ihre +konservative Bestimmung, jedoch mit dem Unterschiede, daß dieselbe Menge +in den folgenden Generationen die Hingerichteten auf das Piedestal +stellen und sie anbeten wird -- mehr oder weniger. Die erste Gattung ist +immer der Herr der Gegenwart, die zweite -- der Herr der Zukunft. Die +ersten bewahren die Welt und vermehren sie der Zahl nach; die zweiten +bewegen die Welt und führen sie zum Ziele. Wie die einen, so haben auch +die anderen das vollkommen gleiche Recht, zu existieren. Mit einem +Worte, in meinem Aufsatze haben alle gleich großes Recht und -- _vive la +guerre éternelle_{[1]}, -- bis zum Neuen Jerusalem, versteht sich!« + +»Also, Sie glauben trotzdem an Neu-Jerusalem?« + +»Ich glaube daran,« antwortete Raskolnikoff fest. Indem er dies sagte, +blickte er zu Boden, wie er auch während seiner langen Rede auf einen +Punkt des Teppiches geblickt hatte. + +»Und, und glauben Sie auch an Gott? Entschuldigen Sie meine Neugier.« + +»Ich glaube an ihn,« wiederholte Raskolnikoff und hob die Augen zu +Porphyri Petrowitsch empor. + +»Und, und glauben Sie an die Auferstehung des Lazarus?« + +»Ich glau--be. Warum wollen Sie das wissen?« + +»Glauben Sie buchstäblich daran?« + +»Buchstäblich.« + +»So, so ... ich fragte bloß aus Neugier. Entschuldigen Sie. Aber +erlauben Sie, -- ich kehre zu dem Gesagten zurück, -- jene werden doch +nicht immer hingerichtet, manche ganz im Gegenteil ...« + +»Triumphieren während ihres Lebens? Oh ja, manche erreichen es auch +während ihrer Lebenszeit, und dann ...« + +»Beginnen sie selbst hinzurichten?« + +»Wenn es nötig ist, und wissen Sie, eigentlich meistenteils. Ihre +Bemerkung war treffend.« + +»Danke. Aber sagen Sie bitte, wie soll man diese Ungewöhnlichen von den +Gewöhnlichen unterscheiden? Gibt es etwa bei der Geburt solche Merkmale? +Ich meine, daß hier mehr Klarheit, sozusagen mehr äußerliche Genauigkeit +sein müßte, -- entschuldigen Sie bei mir die natürliche Besorgnis eines +praktischen und loyalen Menschen, aber könnte man hier nicht zum +Beispiel eine besondere Kleidung einführen, irgend etwas tragen, +irgendwie sie kennzeichnen? ... Denn, gestehen Sie selbst, wenn eine +Verwechslung stattfindet, und einer aus der einen Gattung sich +einbildet, daß er zu der anderen Gattung gehöre und anfängt >alle +Hindernisse zu beseitigen<, wie Sie sich sehr treffend ausdrückten, so +kann dabei ...« + +»Oh, das kommt sehr oft vor! Ihr letzter Einwurf ist noch besser als der +vorige ...« + +»Danke sehr ...« + +»Keine Ursache; aber ziehen Sie doch in Betracht, daß ein Irrtum nur +seitens der ersten Gattung, das heißt der >gewöhnlichen< Menschen, wie +ich sie vielleicht sehr unglücklich genannt habe, möglich ist. Trotz +ihrer angeborenen Neigung zum Gehorsam lieben es sehr viele von ihnen, +aus einem gewissen, lebhaften Naturell, das auch einer Kuh nicht versagt +ist, sich einzubilden Fortschrittsmänner, >Zerstörer<, zu sein und +glauben es mit einem neuen Worte erreicht zu haben, und sie tun +vollkommen aufrichtig. Und die tatsächlich Neuen bemerken sie darüber +sehr oft nicht, verachten sie sogar als rückschrittliche und +untergeordnete Menschen. Meiner Ansicht nach aber kann hier keine große +Gefahr vorliegen, denn sie erreichen nie viel im Leben. Für ihre +Verblendung könnte man sie zuweilen züchtigen, um sie an ihren Platz zu +erinnern, aber auch nicht mehr; man braucht aber dabei oftmals keinen +Vollstrecker, sie werden sich selbst züchtigen, weil sie sehr +wohlgesittet sind, -- manche erweisen einander diesen Dienst, andere +aber tun es eigenhändig ... Sie legen sich dabei allerhand öffentliche +Bußen auf, -- es macht sich das hübsch und wirkt belehrend: mit einem +Worte, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen ... Für sie besteht ein +Gesetz.« + +»Nun, in diesem Punkte haben Sie mich wenigstens etwas beruhigt, aber da +haben wir noch einen bösen Punkt, -- sagen Sie mir bitte, gibt es viele +solche Leute, die das Recht haben, andere zu morden, sogenannte +>Ungewöhnliche<? Ich bin selbstverständlich bereit, mich vor Ihnen zu +beugen, aber Sie müssen doch selbst zugeben, daß es ängstlich ist, wenn +es viele von der Art gäbe?« + +»Oh, regen Sie sich auch in diesem Punkte nicht auf,« fuhr Raskolnikoff +in demselben Tone fort, »Menschen mit neuen Gedanken, sogar solche, die +nur einigermaßen befähigt sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt +ungewöhnlich wenige geboren, sogar merkwürdig wenig. Eines ist mir klar, +daß die Ordnung für das Entstehen und Gedeihen aller dieser Kategorien +und Subkategorien sehr genau und sicher durch irgendein Naturgesetz +bestimmt ist. Dieses Gesetz ist uns selbstverständlich unbekannt, aber +ich glaube, daß es existiert und späterhin vielleicht auch einmal +bekannt werden wird. Die ungeheure Menge Menschen, das Material +existiert bloß in der Welt, um schließlich durch irgendeine Anstrengung, +durch einen geheimnisvollen Vorgang, durch eine Kreuzung von +Geschlechtern und Gattungen sich zusammen zu fassen und einen einzigen +-- sagen wir von tausend -- einigermaßen selbständigen Menschen in die +Welt zu setzen. Mit einer noch größeren Selbständigkeit wird vielleicht +nur ein einziger von zehntausend geboren, -- ich spreche bildlich. Mit +einer noch größeren von hunderttausend ein einziger. Geniale Menschen +von Millionen und große Genies, die Vollender der Menschheit, kommen +vielleicht zur Welt nach dem Ableben von vielen tausend Millionen +Menschen. Mit einem Worte, ich habe keinen Blick in die Retorte +geworfen, in der dies alles vorgeht. Aber ein bestimmtes Gesetz +existiert unbedingt und muß existieren; hier kann es keinen Zufall +geben.« + +»Ja, sagt einmal, scherzt ihr etwa beide?« rief Rasumichin endlich aus. +»Führt ihr einander an der Nase herum oder nicht? Sie sitzen und treiben +miteinander Spaß! Meinst du es ernst, Rodja?« + +Raskolnikoff erhob sein bleiches und fast trauriges Gesicht zu ihm und +antwortete nichts. Und merkwürdig erschien Rasumichin, im Vergleiche zu +diesem stillen und traurigen Gesichte, der offene, zudringliche, +gereizte und unhöfliche, beißende Spott von Porphyri Petrowitsch. + +»Nun, Bruder, wenn es tatsächlich ernst ist, so ... Du hast gewiß recht, +wenn du sagst, daß dies nicht neu sei und allem, was wir tausendmal +gelesen und gehört haben, gleiche. Aber was tatsächlich originell in +alledem ist, -- und in der Tat dir zu meinem Entsetzen allein gehört, +ist der Punkt, daß du trotzdem Blutvergießen dem Gewissen nach +gestattest und es -- entschuldige mich, -- sogar mit so einem Fanatismus +tust ... In diesem also besteht auch der Hauptgedanke deines Aufsatzes. +Diese Erlaubnis, dem Gewissen nach Blut zu vergießen, das ... das ist +meiner Meinung nach schrecklicher als eine offizielle Erlaubnis, Blut zu +vergießen, sozusagen eine gesetzliche ...« + +»Vollkommen richtig, -- es ist schrecklicher,« pflichtete Porphyri +Petrowitsch bei. + +»Nein, du hast dich von irgend etwas hinreißen lassen! Das muß ein +Irrtum sein. Ich will den Aufsatz lesen ... Du hast dich bestimmt +hinreißen lassen! Du kannst nicht so denken ... Ich will es lesen.« + +»Im Aufsatze steht dies alles nicht, es ist dort bloß angedeutet,« sagte +Raskolnikoff. + +»So, so,« Porphyri Petrowitsch rückte auf seinem Stuhle hin und her, +»mir ist es jetzt ziemlich klar, wie Sie belieben Verbrechen zu +betrachten, aber ... entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit, -- ich +belästige Sie zu sehr, schäme mich selbst darüber, -- aber sehen Sie, -- +Sie haben mich vorhin sehr beruhigt über die Möglichkeit einer +Verwechslung der beiden Kategorien, aber ... mich quälen nun allerhand +praktische Fälle! Nehmen wir an, irgendein Mann oder Jüngling bildet +sich plötzlich ein, er sei Lykurg oder Mahomet ... ein Zukünftiger, +verstehen Sie, und -- beginnt nun alle Hindernisse zu beseitigen ... Es +steht ihm, sagt er sich, ein langer Weg bevor und für diesen Weg braucht +er Geld ... so beginnt er sich das Geld zu verschaffen ... wissen Sie?« + +Sametoff prustete plötzlich vor Lachen; Raskolnikoff würdigte ihn nicht +eines Blickes. + +»Ich muß zugeben,« antwortete er ruhig, »daß solche Fälle in der Tat +vorkommen müssen. Dümmere und besonders eitle Menschen fallen darauf +herein; insbesondere die Jugend.« + +»Sehen Sie. Nun, was soll da geschehen?« + +»Ja, was denn,« lächelte ein wenig Raskolnikoff, »ich bin doch daran +nicht schuld. So ist es einmal und wird immer so bleiben. Er« -- er wies +auf Rasumichin -- »sagte soeben, daß ich Blutvergießen gestatte. Was ist +denn dabei? Die Gesellschaft ist doch mit Verbannung, Gefängnissen, +Untersuchungsrichtern, Zuchthäusern genug gesichert, -- wozu denn sich +beunruhigen? Sucht den Dieb! ...« + +»Nun, und wenn wir ihn finden?« + +»Fort mit ihm.« + +»Das ist sehr logisch. Nun, und wie steht es mit dem Gewissen?« + +»Was kümmert Sie das?« + +»Doch, aus Humanität.« + +»Wer ein Gewissen hat, mag darunter leiden, wenn er seinen Irrtum +einsieht. Das ist auch eine Strafe für ihn, -- außer der Zwangsarbeit.« + +»Nun, und die tatsächlich Genialen,« fragte Rasumichin mit düsterem +Gesichte, »die nämlich, denen das Recht gegeben ist zu morden, die +sollen gar nicht, auch nicht wegen des vergossenen Blutes leiden?« + +»Warum sagst du: sollen? Es gibt hier weder eine Erlaubnis, noch ein +Verbot. Mag er leiden, wenn ihm das Opfer leid tut ... Leiden und +Schmerz hängen immer mit einer weiten Erkenntnis und einem tiefen Herzen +zusammen. Die wirklich großen Menschen müssen auf Erden großes Leid +empfinden,« fügte er plötzlich nachdenklich, nicht im Tone des +Gespräches, hinzu. + +Er hob die Augen auf, blickte alle sinnend an, lächelte und nahm seine +Mütze. Er war im Vergleiche mit seinem Eintritt zu ruhig, und er fühlte +es auch. Alle erhoben sich. + +»Nun, schelten Sie mich oder nicht, ärgern Sie sich über mich oder +nicht, aber ich kann es nicht unterlassen,« sagte Porphyri Petrowitsch +wieder, »erlauben Sie mir noch eine kleine Frage -- ich belästige Sie +sehr, -- nur eine einzige kleine Idee möchte ich aussprechen, bloß um es +nicht zu vergessen ...« + +»Gut, sagen Sie Ihre kleine Idee.« Raskolnikoff stand ernst und bleich +in Erwartung vor ihm. + +»Ja, sehen Sie ... ich weiß wirklich nicht, wie ich mich glücklich +ausdrücken soll ... die Idee ist zu gelungen ... ist psychologisch ... +Sehen Sie, als Sie Ihren Aufsatz schrieben, -- da war es doch nicht ganz +ohne, he--he--he--, -- daß Sie sich selbst, -- nun, sagen wir, ein +bißchen vielleicht, -- auch für einen >ungewöhnlichen< Menschen hielten, +der ein neues Wort -- in Ihrem Sinne, versteht sich, -- sagt ... War es +nicht so?« + +»Sehr möglich,« antwortete Raskolnikoff verächtlich. Rasumichin machte +eine Bewegung. + +»Und wenn es so ist, würden Sie in diesem Falle sich entschließen, -- +nun, sagen wir, wegen irgendwelcher Fehlschläge und beschränkter +Verhältnisse oder auch um irgendwie die Menschheit zu fördern, -- über +ein Hindernis hinweg zu schreiten? ... Nun, zum Beispiel, zu morden und +zu rauben? ...« + +Und wieder schien er ihm plötzlich mit dem linken Auge zuzuzwinkern und +lachte unhörbar, -- genau wie vorhin. + +»Wenn ich auch über eines hinweg schreiten würde, so würde ich es Ihnen +sicher nicht sagen,« antwortete Raskolnikoff mit herausfordernder +hochmütiger Verachtung. + +»Ach was, ich interessiere mich doch in rein literarischer Hinsicht, um +eigentlich Ihren Aufsatz mehr zu verstehen ...« + +»Jetzt wird er deutlich und unverschämt!« dachte Raskolnikoff voll +Widerwillen. + +»Gestatten Sie mir gütigst zu bemerken,« antwortete er trocken, »daß ich +mich weder für einen Mahomet noch für einen Napoleon halte ... für keine +von solchen Persönlichkeiten, also kann ich, da ich keiner von denen +bin, Ihnen auch keine befriedigende Erklärung geben, wie ich handeln +würde.« + +»Nun, aber bitte, wer hält sich jetzt in Rußland nicht für einen +Napoleon?« sagte Porphyri Petrowitsch plötzlich mit großer Familiarität. + +Sogar im Tone seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches. + +»Möglicherweise hat auch ein künftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna +in der vorigen Woche mit dem Beile erschlagen?« platzte Sametoff heraus. + +Raskolnikoff schwieg und blickte unverwandt und fest Porphyri +Petrowitsch an. Rasumichins Gesicht verfinsterte sich. Ihm war schon +vorher etwas aufgefallen. Er blickte zornig um sich. Eine Minute +düsteren Schweigens verging. Raskolnikoff wandte sich, um wegzugehen. + +»Sie wollen schon fortgehen?« sagte Porphyri Petrowitsch freundlich und +reichte ihm außerordentlich liebenswürdig die Hand. »Ich freue mich +sehr, sehr über Ihre Bekanntschaft. Und was Ihre Bitte anbetrifft, seien +Sie ohne Sorge. Schreiben Sie nur so, wie ich Ihnen sagte. Oder noch +besser, kommen Sie selber einmal zu mir ... vielleicht in diesen Tagen +... morgen ... ich werde gegen elf Uhr da sein. Wir wollen dann alles +besorgen ... uns auch etwas unterhalten ... Sie, als einer der letzten, +die dort gewesen waren, könnten uns vielleicht etwas mitteilen ...« + +»Sie wollen mich offiziell, mit allem Zubehör, verhören?« fragte +Raskolnikoff scharf. + +»Warum denn? Vorläufig ist das gar nicht nötig. Sie haben das falsch +verstanden. Sehen Sie, ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen und ... +und habe schon mit allen Pfandgebern gesprochen ... manche Aussagen habe +ich zu Protokoll genommen ... und Sie, als der letzte ... Ja, a propos!« +rief er plötzlich, sich über etwas freuend, »ich erinnere mich jetzt, +was ist denn mit mir! ...« wandte er sich an Rasumichin. »Siehst du, du +hast mir von diesem Nikolai die Ohren vollgeblasen ... nun, ich weiß +auch selbst, ich weiß,« wandte er sich an Raskolnikoff, »daß der Bursche +unschuldig ist, aber was ist da zu machen, ich mußte auch Dmitri +belästigen ... ja, die Sache ist nun die, -- als Sie damals die Treppe +hinaufgingen ... erlauben Sie, -- Sie waren doch in der achten Stunde +dort?« + +»Ja, in der achten,« antwortete Raskolnikoff und empfand es im selben +Momente unangenehm, da er dies doch nicht zu sagen brauchte. + +»Also, als Sie die Treppe in der achten Stunde hinaufgingen, haben Sie +da nicht im zweiten Stock, in einer offenstehenden Wohnung -- erinnern +Sie sich? -- zwei Arbeiter oder wenigstens einen von ihnen gesehen? Sie +strichen dort an, haben Sie sie nicht bemerkt? Das ist sehr, sehr +wichtig für die beiden! ...« + +»Anstreicher? Nein, ich habe sie nicht gesehen ...« antwortete +Raskolnikoff langsam und wie in seiner Erinnerung suchend, dabei spannte +er unter schweren Qualen sein ganzes Wesen an, um alsbald die gestellte +Falle zu erkennen und nichts zu übersehen. »Nein, ich habe sie nicht +gesehen und eine offenstehende Wohnung auch nicht bemerkt ... aber ich +erinnere mich -- (er hatte die Falle jetzt erkannt und triumphierte) -- +daß im vierten Stock ein Beamter aus der Wohnung auszog ... gerade +gegenüber Aljona Iwanowna ... ich erinnere mich dessen ... erinnere mich +klar ... Soldaten trugen ein Sofa hinaus und preßten mich dabei an die +Wand ... Anstreicher, nein, deren erinnere ich mich nicht ... und eine +offenstehende Wohnung habe ich nirgends gesehen. Ja, nirgends ...« + +»Ja, was ist denn das!« rief plötzlich Rasumichin, als sei er zu sich +gekommen und hätte es sich überlegt, »ja, die Anstreicher arbeiteten +doch am Tage des Mordes dort und er war drei Tage vorher dort? Was +fragst du denn?« + +»Ach! Ich habe es verwechselt!« schlug sich Porphyri Petrowitsch vor die +Stirn. »Zum Teufel, ich verliere noch den Verstand durch diese Sache!« +wandte er sich wie entschuldigend an Raskolnikoff. »Uns ist es so +wichtig, zu erfahren, ob man jemand in der achten Stunde in der Wohnung +gesehen hat und da bildete ich mir ein, daß Sie es auch sagen könnten +... ich habe es rein verwechselt!« + +»Man muß eben aufmerksamer sein,« bemerkte Rasumichin grimmig. + +Die letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesagt. Porphyri Petrowitsch +begleitete sie außerordentlich liebenswürdig bis zur Türe. Beide traten +finster und verdrießlich auf die Straße hinaus und redeten einige +Schritte kein Wort. Raskolnikoff tat einen tiefen Atemzug. + + + VI. + +»... Ich glaube nicht daran! Ich kann es nicht glauben!« wiederholte +Rasumichin bestürzt und versuchte mit aller Kraft die Einwände +Raskolnikoffs zu widerlegen. + +Sie näherten sich schon den »Möblierten Zimmern« von Bakalejeff, wo +Pulcheria Alexandrowna und Dunja sie seit langem erwarteten. Rasumichin +blieb alle Augenblicke im Eifer des Gespräches stehen, verwirrt und +schon dadurch allein aufgeregt, daß sie zum erstenmale _darüber_ klar +gesprochen hatten. + +»Du glaubst es nicht!« antwortete Raskolnikoff mit einem kalten und +nachlässigen Lächeln. »Du hast nach deiner Gewohnheit nicht acht gehabt, +aber ich wog jedes Wort ab.« + +»Du bist argwöhnisch, darum legtest du auch jedes Wort auf die Wage ... +Hm ... in der Tat, ich gebe zu, der Ton von Porphyri war ziemlich +merkwürdig; besonders aber dieser Schuft Sametoff! ... Du hast recht, +etwas war an ihm, -- aber warum? Warum?« + +»Er hat sich's über Nacht überlegt.« + +»Aber im Gegenteil, im Gegenteil! Wenn sie diesen hirnlosen Gedanken +wirklich hätten, so würden sie mit allen Kräften ihn zu verbergen suchen +und ihre Karten verdeckt halten, um dich später plötzlich zu fangen ... +Jetzt aber ist es unverschämt und unvorsichtig!« + +»Wenn sie Tatsachen, das heißt wirklich Tatsachen oder einen +einigermaßen begründeten Verdacht hätten, dann würden sie wirklich +versuchen, ihr Spiel zu verbergen, -- in der Hoffnung, noch mehr zu +gewinnen und ... hätten übrigens auch längst eine Haussuchung +vorgenommen! Aber sie haben keine Tatsache, keine einzige, -- alles ist +Phantasie, alles hat zwei Seiten, sie haben nur im allgemeinen eine +Idee, -- so versuchen sie durch Unverschämtheit zu verwirren. Vielleicht +aber ist er auch wütend darüber, daß er keine Tatsachen hat, und aus +Ärger läßt er sich gehen. Vielleicht aber hat er auch damit einen Zweck +verfolgt ... Er scheint ein kluger Mann zu sein ... Er wollte mich +vielleicht erschrecken damit, daß er etwas weiß ... Hier, Bruder, liegt +eine eigene Psychologie ... Übrigens aber, ist es gemein, dies alles zu +erklären. Laß es!« + +»Und beleidigend, beleidigend! Ich verstehe dich! Aber ... da wir schon +einmal deutlich darüber reden -- und es ist gut, daß wir endlich klar +darüber sprechen können, ich freue mich darüber, -- so will ich dir +jetzt offen gestehen, daß ich lange schon bei ihnen diesen Gedanken, in +dieser ganzen Zeit gemerkt habe, selbstverständlich in einer kaum +merkbaren, in einer schleichenden Form. Warum aber? Wie können sie es +wagen? Wo liegen bei ihnen die Gründe? Wenn du wüßtest, wie ich wütend +war! Wie, -- aus dem Grunde, weil da ein armer Student ist, +heruntergekommen durch große Armut und Hypochondrie, am Vorabend einer +schrecklichen Krankheit, verbunden mit Fieberwahn, die vielleicht längst +in ihm saß, -- merk dir das! -- ein argwöhnischer, ehrgeiziger Mensch, +der seinen Wert kennt und der sechs Monate in einem Winkel gesessen und +niemand gesehen hat; er steht in Lumpen und in Stiefeln ohne Sohlen vor +allerhand Polizisten und leidet unter ihren Schmähungen; dazu kommt noch +eine unerwartete Schuld, ein nicht eingelöster Wechsel von Hofrat +Tschebaroff, dumpfer Farbengeruch, dreißig Grad Wärme, stickige Luft, +eine Menge Menschen, die Erzählung von der Ermordung einer Person, bei +der er am Vorabend war, und dies alles -- auf leeren Magen! Ja, wie soll +man dabei nicht ohnmächtig werden! Und darauf, darauf wird alles +begründet! Zum Teufel! Ich verstehe, daß es einen ärgert, aber an deiner +Stelle, Rodja, würde ich ihnen allen ins Gesicht lachen, oder noch +besser, ihnen allen ordentlich in die Fratze spucken, ich würde noch ein +paar Dutzend Ohrfeigen verteilen, selbstverständlich in kluger Weise, +wie man sie stets geben muß, und würde damit die Sache abschließen. +Pfeif darauf! Halt dich fest! Es ist eine Schande!« + +»Er hat es gut dargestellt,« dachte Raskolnikoff. + +»Pfeif darauf? Und morgen ist wieder Verhör!« sagte er bitter. »Soll ich +mich etwa in Verhandlungen mit ihnen einlassen? Ich ärgere mich schon, +daß ich mich gestern in dem Restaurant bis zu Sametoff erniedrigt habe +...« + +»Zum Teufel! Ich will selbst zu Porphyri gehen! Und ich will ihn schon +_in verwandtschaftlicher Weise_ vorkriegen; er soll mir alles haarklein +erzählen. Und Sametoff ...« + +»Endlich kommt er auf ihn!« dachte Raskolnikoff. + +»Halt!« rief Rasumichin und packte ihn plötzlich an der Schulter, »halt! +Du hast geschwindelt! Ich habe es mir überlegt, du hast geschwindelt! +Wieso ist das eine Falle? Du sagst, daß die Frage über die Anstreicher +eine Falle war? Denk doch nach, -- wenn du _es_ getan hättest, hättest +du es zugegeben, daß du gesehen hast, wie die Wohnung gemalt wurde ... +und die Arbeiter? Im Gegenteil, -- du hättest gesagt, ich habe nichts +gesehen, wenn du es auch gesehen hättest! Wer zeugt denn gegen sich +selbst?« + +»Wenn ich _es_ getan hätte, so würde ich unbedingt gesagt haben, daß ich +wie die Anstreicher, so auch die Wohnung gesehen habe,« antwortete +Raskolnikoff unwillig und mit sichtlichem Ekel. + +»Ja, warum gegen sich selbst aussagen?« + +»Weil nur Bauern oder ganz unerfahrene Neulinge beim Verhör offen und +alles nacheinander leugnen. Ein einigermaßen gebildeter und schlauer +Mann versucht unbedingt und nach Möglichkeit alle äußeren, +unverfänglichen Tatsachen zu bestätigen; er sucht bloß andere Gründe +anzuführen, bringt seine eigene besondere und unerwartete Erklärung +hinein, die eine vollkommen andere Bedeutung gibt und alles in einem +anderen Lichte erscheinen läßt. Porphyri konnte gerade damit rechnen, +daß ich unbedingt in dieser Weise antworten und sicher sagen würde, daß +ich sie gesehen habe, nur der Wahrscheinlichkeit halber, und dabei +irgend etwas zur Erklärung hinzufügen würde.« + +»Er hätte dir sofort gesagt, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter dort +gewesen sein konnten, und daß also du gerade am Tage des Mordes, um acht +Uhr, dort gewesen bist. Er hätte dich mit dieser Kleinigkeit gefangen.« + +»Er rechnete auch damit, daß ich keine Zeit haben werde, es mir zu +überlegen und mich beeilen würde, wahrheitsgetreuer zu antworten und +dabei vergessen würde, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter da sein +konnten.« + +»Wie kann man aber das vergessen?« + +»Sehr leicht! Auf solche geringfügigen Dinge fallen am ehesten schlaue +Menschen herein. Je schlauer ein Mensch ist, um so weniger ahnt er, daß +man ihn bei etwas Einfachem ertappen würde. Den schlauesten Menschen muß +man gerade mit dem Einfachsten verwirren. Porphyri ist gar nicht so +dumm, wie du denkst ...« + +»Er ist nach alledem ein Schuft!« + +Raskolnikoff konnte sich des Lachens nicht erwehren. Aber im selben +Augenblicke erschien ihm seine eigene Lust und die Begeisterung, mit der +er seine letzte Erklärung abgegeben hatte, überaus sonderbar; das ganze +vorangehende Gespräch hatte er mit einem düsteren Widerwillen, nur unter +dem Zwange der Situation geführt. + +»Ich bekomme noch Geschmack daran!« dachte er. + +Jedoch gleich darauf wurde er unruhig, als hätte ihn ein unerwarteter +und beunruhigender Gedanke überrascht. Seine Unruhe wuchs. Sie waren +schon am Eingange zu den möblierten Zimmern von Bakalejeff. + +»Geh allein hinein,« sagte plötzlich Raskolnikoff, »ich komme sofort +zurück.« + +»Wohin willst du? Wir sind ja schon da!« + +»Ich muß, ich muß; ich habe etwas zu tun ... ich komme nach einer halben +Stunde wieder ... Sage es ihnen.« + +»Wie du willst, ich begleite dich aber!« + +»Was, willst auch du mich quälen!« rief er mit solcher bitteren +Gereiztheit und solcher Verzweiflung im Blicke, daß Rasumichin +fassungslos wurde. + +Er blieb eine Weile auf der Außentreppe stehen und sah finster zu, wie +jener schnell in der Richtung nach seiner Wohnung dahinschritt. +Schließlich biß er die Zähne zusammen, ballte die Faust, schwur sich +selbst, daß er heute noch den ganzen Porphyri wie eine Zitrone +ausquetschen würde, und ging die Treppe hinauf, um Pulcheria +Alexandrowna, die durch ihre lange Abwesenheit schon aufgeregt war, zu +beruhigen. + +Als Raskolnikoff bei seinem Hause anlangte, waren seine Schläfen mit +Schweiß bedeckt und er atmete schwer. Er eilte die Treppe hinauf, trat +in seine nicht abgeschlossene Wohnung und hakte sofort die Türe zu. Dann +stürzte er erschreckt und wie wahnsinnig zu der Ecke, zu dem Loche +hinter den Tapeten, wohin er damals die Sachen gelegt hatte, steckte die +Hand hinein und scharrte einige Minuten aufs höchste erregt in dem Loche +und untersuchte alle Ecken und Falten der Tapete. Als er nichts fand, +stand er auf und holte tief Atem. Als er sich vorhin der Treppe von +Bakalejeff näherte, war es ihm plötzlich in den Sinn gekommen, daß +irgendeine Sache, eine Kette oder ein Manschettenknopf etwa, oder auch +ein Stück Papier, in dem sie eingewickelt waren, mit einem Vermerk von +der Hand der Alten auf irgendeiner Spalte liegen geblieben sein konnte +und als ein unerwarteter und unabwendbarer Beweis vor ihnen auftauchen +konnte. + +Er stand, wie in Nachdenken versunken und ein sonderbares, demütiges, +halb sinnloses Lächeln umspielte seine Lippen. Er nahm seine Mütze und +ging langsam hinaus. Seine Gedanken irrten umher. Nachdenklich trat er +unter das Tor. + +»Da ist der Herr selbst!« rief eine laute Stimme; er erhob den Kopf. + +Der Hausknecht stand an der Türe seiner Kammer und zeigte auf einen +nicht sonderlich großen Mann, der wie ein Kleinbürger aussah, und der +mit einem Mantel, einem Schlafrock ähnlich, und einer Weste bekleidet +war und von weitem eine große Ähnlichkeit mit einem Weibe hatte. Sein +Kopf, mit einer fettigen Mütze bedeckt, hing nach vorne, die ganze +Gestalt schien gekrümmt. Sein schlaffes, runzeliges Gesicht deutete auf +ein Alter über fünfzig; die kleinen verschwommenen Augen blickten +finster, ernst und mißvergnügt drein. + +»Was soll's?« fragte Raskolnikoff und trat zu dem Hausknechte. + +Der Kleinbürger wendete seine Augen zu ihm und blickte ihn unter der +Stirn hervor durchdringend, aufmerksam und andauernd an; dann wandte er +sich um und ging, ohne ein Wort gesagt zu haben, zum Tore auf die Straße +hinaus. + +»Ja, was ist denn das?« rief Raskolnikoff. + +»Dieser da fragte, ob hier ein Student wohne, nannte Ihren Namen, und +bei wem Sie wohnen. Sie kamen gerade, ich zeigte Sie ihm, nun ist er +fortgegangen. Das ist komisch.« + +Der Hausknecht hatte auch gewisse Bedenken, er dachte eine kleine Weile +nach, drehte sich aber um und ging in seine Kammer. + +Raskolnikoff stürzte dem Kleinbürger nach und erblickte ihn sofort, wie +er auf der anderen Seite der Straße gleichmäßig und nicht eilig, mit zu +Boden gerichteten Augen und anscheinend nachdenklich dahinschritt. Er +holte ihn bald ein, ging eine Weile hinter ihm; schließlich trat er +neben ihn und blickte ihm von der Seite ins Gesicht. Der Kleinbürger +bemerkte ihn sofort und schaute ihn schnell von oben bis unten an, ließ +aber wieder die Augen sinken, und in dieser Weise gingen sie eine +Strecke nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen. + +»Haben Sie nach mir gefragt ... beim Hausknecht?« sagte Raskolnikoff +endlich, aber nicht sehr laut. + +Der Kleinbürger gab ihm keine Antwort und blickte ihn nicht an. Wieder +gingen sie stumm dahin. + +»Ja, warum ... kommen Sie und fragen ... und schweigen jetzt ... ja, was +ist denn das?« Raskolnikoffs Stimme stockte und die Worte kamen ihm +schwer über die Lippen. + +Der Kleinbürger erhob diesmal die Augen und sah mit einem drohenden, +finsteren Blicke Raskolnikoff an. »Mörder!« sagte er plötzlich mit +leiser, aber klarer und deutlicher Stimme ... + +Raskolnikoff ging neben ihm weiter. Seine Füße wurden plötzlich +schrecklich schwach, im Rücken fühlte er Kälte und sein Herz schien auf +einen Augenblick still zu stehen; dann fing es an zu klopfen, als wollte +es sich losreißen. So gingen sie etwa hundert Schritte nebeneinander und +wieder vollkommen stumm. + +Der Kleinbürger blickte ihn nicht an. + +»Was fällt Ihnen ein ... was ... wer ist ein Mörder?« murmelte +Raskolnikoff kaum hörbar. + +»_Du_ bist ein Mörder,« sagte jener, noch deutlicher und +bedeutungsvoller und blickte mit dem Lächeln eines haßerfüllten +Triumphes in das bleiche Gesicht Raskolnikoffs und seine erloschenen +Augen. + +Sie kamen zu einer Straßenkreuzung. Der Kleinbürger bog links in eine +Straße ein und ging weiter, ohne sich umzusehen. Raskolnikoff blieb +stehen und sah ihm lange nach. Er sah, wie jener nach fünfzig Schritten +ungefähr sich umwandte und ihn, der immer noch unbeweglich auf derselben +Stelle stand, anblickte. Man konnte nicht sehen, aber Raskolnikoff +schien es, als hätte er auch diesmal sein kaltes, haßvolles und +triumphierendes Lächeln gehabt. + +Mit langsamen, schweren Schritten, mit zitternden Knien und fröstelnd +kehrte Raskolnikoff zurück und ging in sein Zimmer hinauf. Er nahm seine +Mütze ab und legte sie auf den Tisch hin und stand etwa zehn Minuten +unbeweglich daneben. Dann legte er sich völlig ermattet auf das Sofa und +streckte sich mit einem schwachen, krankhaften Stöhnen aus; seine Augen +waren geschlossen. So lag er eine halbe Stunde. + +Er dachte an nichts. Es waren wohl Gedanken oder Fetzen von Gedanken da, +Vorstellungen, ohne Ordnung und Zusammenhang, -- Gesichter von Menschen, +die er noch als Kind gesehen hatte, oder denen er irgendwo nur ein +einziges Mal begegnet war, und an die er sich nie mehr erinnert hatte, +-- der Turm der W.schen Kirche, ein Billard, Zigarrengeruch in einem +Tabaksladen im Kellergeschosse, eine Kneipe, eine Küchentreppe, ganz +dunkel, ganz mit Unrat begossen und mit Eierschalen bedeckt, und +irgendwo ertönte das Sonntagsgeläute der Glocken ... Die Gegenstände +wechselten und drehten sich wie im Wirbelwinde. Manche gefielen ihm +sogar und er wollte sich an ihnen festklammern, aber sie erloschen, es +bedrückte ihn innerlich etwas, aber nicht sehr stark. Zuweilen war es +sogar gut ... Ein leichtes Frösteln blieb und selbst das war fast +angenehm. Er hörte die eiligen Schritte Rasumichins und seine Stimme, er +schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Türe +und blieb eine Weile auf der Schwelle, wie unschlüssig, stehen. Dann +trat er leise in das Zimmer und ging vorsichtig zu dem Sofa. Man hörte +Nastasja flüstern. + +»Laß ihn; mag er schlafen; er kann nachher essen.« + +»Das ist wahr,« antwortete Rasumichin. + +Beide gingen leise hinaus und machten die Türe zu. Noch eine halbe +Stunde verging. Raskolnikoff öffnete die Augen, legte sich wieder auf +den Rücken und steckte die Hände unter den Kopf ... + +»Wer ist er? Wer ist dieser wie aus der Erde hervorgewachsener Mensch? +Wo war er und was hat er gesehen? Er hat alles gesehen, das ist +zweifellos. Wo war er damals und von wo sah er es? Warum erscheint er +erst jetzt, wie aus der Erde gestiegen? Und wie konnte er es sehen, -- +ist es denn möglich? ... Hm ...« fuhr Raskolnikoff fort, erstarrend und +zusammenfahrend, »aber das Etui, das Nikolai hinter der Türe gefunden +hat, -- war denn das nicht auch möglich? Beweise? Ein Hunderttausendstel +übersieht man, -- und der Beweis wächst zu einer ägyptischen Pyramide! +Eine Fliege ist vorbeigeflogen, sie hat es gesehen! Aber ist es denn +möglich?« + +Und er fühlte mit Ekel, wie er plötzlich schwach, physisch schwach +geworden war. + +»Ich hätte es wissen müssen,« dachte er mit einem bitteren Lächeln, »und +wie durfte ich, indem ich mich kannte und ahnte, wie ich sein würde, ein +Beil nehmen und mit Blut mich besudeln. Ich war verpflichtet, es vorher +zu wissen ... Ach! Ich wußte es doch vorher!« ... + +Zuweilen blieb er unbeweglich an irgendeinem Gedanken haften. + +»Nein, die Menschen sind nicht so gemacht; ein wahrer Herrscher, dem +alles erlaubt ist, zerstört Toulon, veranstaltet eine Abschlachtung in +Paris, vergißt eine Armee in Ägypten, verbraucht eine halbe Million +Menschen im russischen Feldzuge und wird in Wilna durch ein Wortspiel +damit fertig; und ihm stellt man nach dem Tode Standbilder auf, -- somit +ist auch alles erlaubt. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht aus +Fleisch und Blut, sondern aus Eisen!« + +Ein plötzlicher Nebengedanke brachte ihn fast zum Lachen. + +»Napoleon, Pyramiden, Waterloo, -- und eine magere Beamtenwitwe, +Wucherin, mit einer roten Truhe unter dem Bett, -- nun, wie soll das -- +sagen wir selbst Porphyri Petrowitsch -- verdauen können! ... Wie sollen +sie es auch verdauen! ... Die Ästhetik wird sie hindern. >Will ein +Napoleon,< werden sie sagen, >unter das Bett zu einer Alten kriechen!< +Ach, Unsinn! ...« Ab und zu fühlte er, daß er phantasiere, -- er verfiel +dann einer fieberhaften verzückten Stimmung. + +»Die Alte ist Unsinn!« dachte er und wühlte eifrig und heftig seine +Gedankengänge weiter: + +»Daß es diese Alte war, war vielleicht ein Irrtum, aber die Hauptsache +liegt nicht an ihr. Die Alte war nur eine Krankheit ... ich wollte +schneller darüber hinweg schreiten ... ich habe nicht einen Menschen +getötet, ich habe ein Prinzip getötet! Das Prinzip habe ich wohl +getötet, bin aber nicht darüber hinweg geschritten, ich bin auf dieser +Seite geblieben ... Ich habe bloß verstanden, zu töten. Auch das habe +ich nicht mal verstanden, wie es sich zeigt ... Prinzip? Warum hat +vorhin der Dummkopf Rasumichin die Sozialisten gescholten? Sie sind +fleißige Leute und arbeitsam; sie beschäftigen sich mit dem >allgemeinen +Glück<. Nein, mir ist das Leben einmal gegeben und nie kommt es wieder; +ich will nicht auf das >allgemeine Glück< warten. Ich will auch selbst +leben, sonst lieber gar nicht. Was denn? Ich konnte nicht an einer +hungrigen Mutter vorbeigehen und meinen Rubel in der Erwartung des +>allgemeinen Glücks< in der Tasche festhalten. >Ich trage<, konnte ich +sagen, >einen kleinen Stein bei zum allgemeinen Glück, und darum habe +ich Seelenruhe.< Ha--ha--ha! Warum seid ihr an mir vorbeigegangen? Ich +lebe doch bloß einmal, ich will doch auch ... Ach was, ich bin eine +ästhetische Laus und mehr nicht,« fügte er hinzu und lachte plötzlich +wie ein Irrsinniger. »Ja, ich bin tatsächlich eine Laus,« fuhr er fort, +indem er sich voll Schadenfreude an den Gedanken klammerte, sich +hineinbohrte, mit ihm spielte und sich mit ihm amüsierte, »und schon aus +dem Grunde allein, weil ich erstens jetzt darüber räsonniere, daß ich +eine Laus bin, und zweitens, weil ich einen ganzen Monat die allgütige +Vorsehung belästige, indem ich sie als Zeuge anrief, daß ich es nicht +meines Fleisches und meiner Lust willen unternehme, sondern ein +prächtiges und herrliches Ziel im Auge habe, -- ha--ha--ha! Drittens, +weil ich mir vorgenommen hatte, möglichst Gerechtigkeit bei der +Ausführung walten zu lassen und Gewicht und Maß, wie auch Berechnung +einzuhalten, -- von allen Läusen wählte ich die allernutzloseste und +beschloß, nachdem ich sie ermordet haben würde, genau so viel zu nehmen, +als ich zum ersten Schritt brauche, -- nicht mehr und nicht weniger ... +und das übrige würde also laut dem Vermächtnis dem Kloster zugefallen +sein ... ha--ha--ha! Und zu guter Letzt bin ich selber eine Laus,« fügte +er mit Zähneknirschen hinzu, »weil ich vielleicht selbst noch schlimmer +und abscheulicher bin als die getötete Laus, und weil ich im voraus +ahnte, daß ich mir dies sagen würde, nachdem ich sie ermordet haben +würde! Kann ich denn mit diesem Entsetzen irgend etwas vergleichen! Oh, +Trivialität! Oh, Gemeinheit! ... Oh, wie ich den >Propheten< zu Pferde +mit einem Säbel in der Hand begreife, -- Allah befiehlt und die +>zitternden< Kreaturen sollen gehorchen! Der >Prophet< ist +tausendmal im Rechte, wenn er irgendwo mitten in der Straße eine +aus--ge--zeich--ne--te Batterie aufstellt und auf Unschuldige und +Schuldige schießt, ohne sich herabzulassen, eine Erklärung abzugeben! +Gehorcht, zitternde Kreaturen und -- wünscht nichts, denn -- ihr _habt_ +nichts zu wünschen! ... Oh, um nichts in der Welt, um keinen Preis will +ich der Alten verzeihen!« Sein Haar war mit Schweiß bedeckt, die +bebenden Lippen waren trocken und der unbewegliche Blick auf die +Zimmerdecke gerichtet. + +»Mutter und Schwester, -- wie ich sie geliebt habe! Warum hasse ich sie +jetzt? Ja, ich hasse sie, hasse sie physisch, ich kann sie nicht mehr +neben mir ertragen ... Vorhin ging ich zur Mutter hin und küßte sie, ich +erinnere mich dessen ... Sie zu umarmen und denken zu müssen, wenn sie +es wüßte, so ... soll ich ihr es sagen? Man kann mir das zutrauen ... +Hm! Sie muß ebenso sein wie ich ...« fügte er hinzu, mühsam seinen +Gedanken verfolgend, als kämpfe er mit dem ihn packenden Fieber. »Oh, +wie ich jetzt diese Alte hasse! Ich könnte sie noch einmal ermorden, +wenn sie zu sich käme! Arme Lisaweta! Warum kam sie hinzu? ... +Sonderbar, warum ich an sie fast gar nicht denke, als hätte ich sie +nicht ermordet! ... Lisaweta! Ssonja! Ihr armen sanften Geschöpfe mit +euren sanften Augen ... Ihr Lieben! ... Warum weinen sie nicht? Warum +stöhnen sie nicht? ... Sie geben alles hin ... blicken sanft und still +... Ssonja, Ssonja! Stille Ssonja! ...« + +Er verlor das Bewußtsein; merkwürdig erschien es ihm, daß er sich nicht +entsann, wie er auf die Straße gekommen. Es war schon später Abend. Die +Dämmerung nahm zu, der volle Mond leuchtete immer heller und heller; +aber die Luft war besonders dumpf. Menschen gingen in Haufen in den +Straßen; Handwerker und Geschäftsleute wanderten nach Hause; andere +gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und stehendem Wasser. +Raskolnikoff schritt traurig und sorgenvoll dahin, -- er erinnerte sich +sehr gut, daß er zu irgendeinem Zwecke aus dem Hause gegangen sei und +daß er etwas tun sollte und sich dabei beeilen müßte, was es aber war, +-- hatte er vergessen. Plötzlich blieb er stehen und sah, daß auf der +anderen Seite der Straße, auf dem Fußwege, ein Mann stand und ihm mit +der Hand winkte. Er ging über die Straße zu ihm hin, da wandte sich +dieser Mann um, ging weiter, als wäre nichts gewesen, mit gesenktem +Kopfe, ohne sich umzuwenden und ohne merken zu lassen, daß er ihn +gerufen habe. »Ja, hatte er mich auch gerufen?« dachte Raskolnikoff und +ging ihm nach. Kaum zehn Schritte entfernt von ihm, erkannte er ihn +plötzlich -- und erschrak; es war der Kleinbürger von vorhin, im selben +Schlafrocke und ebenso gekrümmt. Raskolnikoff folgte ihm von weitem; +sein Herz klopfte; sie bogen in eine Gasse ein, -- der Kleinbürger +wandte sich noch immer nicht um. + +»Weiß er, daß ich ihm folge?« dachte Raskolnikoff. Der Kleinbürger trat +in das Tor eines großen Hauses. Raskolnikoff ging schnell zu dem Tore +hin, um hineinzusehen, ob er sich nicht umschaue und ihn rufen würde. +Und in der Tat, als der Kleinbürger durch das Tor geschritten war und +schon in den Hof trat wandte er sich wieder um und schien ihm wieder zu +winken. Raskolnikoff durchschritt sofort das Tor, aber der Kleinbürger +war nicht mehr auf dem Hofe. Also muß er hier die erste Treppe +hinaufgegangen sein. Raskolnikoff stürzte ihm nach. Ein paar Treppen +höher vernahm man gleichmäßige, nicht eilige Schritte. Sonderbar, die +Treppe kam ihm bekannt vor! Hier im ersten Stock ist ein Fenster; durch +die Scheiben schimmert traurig und geheimnisvoll der Mond; da ist auch +der zweite Stock. Oh! Das ist dieselbe Wohnung, in der die Arbeiter +anstrichen ... Wie hatte er das Haus nicht sofort wiedererkennen können? +Die Schritte des vorangehenden Menschen waren verhallt, »er ist also +stehen geblieben oder hat sich irgendwo versteckt«. Da ist der dritte +Stock; soll ich weitergehen? Und welch eine Stille hier herrscht, es ist +zum Fürchten ... Er ging jedoch höher hinauf. Das Geräusch seiner +eigenen Schritte erschreckte und beunruhigte ihn. Mein Gott, wie dunkel +es ist! Der Kleinbürger hat sich sicher irgendwo in einer Ecke +versteckt. Ah! Die Wohnung ist weit offen; er dachte nach und trat ein. +Im Vorzimmer war es sehr dunkel und leer, keine Menschenseele, als hätte +man alles fortgebracht; leise, auf den Fußspitzen ging er in die +Wohnstube hinein, -- das ganze Zimmer war hell vom Mondenschein +überflutet; alles war hier wie vorher, -- die Stühle standen da, der +Spiegel, das gelbe Sofa und die eingerahmten Bilder. Der große, runde, +kupferrote Mond blickte durch die Fensterscheiben hinein. »Diese Stille +kommt vom Monde,« dachte Raskolnikoff, »er gibt jetzt sicher ein Rätsel +auf.« Er stand und wartete, wartete lange, und je stiller der Mond war, +um so stärker klopfte sein Herz, es tat ihm sogar weh. Und immer noch +diese Stille. Plötzlich ertönte ein kurzes trockenes Knacken, als hätte +man einen Holzspan zerbrochen und wieder wurde alles still. Eine +aufgewachte Fliege stieß im Fluge an die Scheibe und summte kläglich. Im +selben Augenblicke entdeckte er in der Ecke zwischen einem kleinen +Schrank und dem Fenster, wie es ihm schien, einen an der Wand hängenden +Pelzmantel. »Warum hängt da ein Pelzmantel?« dachte er, »er war doch +früher nicht da ...« Er trat sehr leise heran und erriet; daß hinter dem +Pelzmantel sich jemand versteckt hielt. Er schob vorsichtig mit der Hand +den Mantel zur Seite und entdeckte einen Stuhl, und auf dem Stuhle in +der Ecke saß die Alte, ganz zusammengekauert und mit gesenktem Kopfe, so +daß er das Gesicht gar nicht sehen konnte, aber sie war es. Er stand +eine Weile vor ihr; »sie fürchtet sich!« dachte er; zog dann leise das +Beil aus der Schlinge und versetzte der Alten einen Schlag auf den Kopf +und noch einen zweiten. Aber merkwürdig, -- sie rührte sich nicht bei +den Schlägen, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, beugte sich über sie +und begann sie zu betrachten, da ließ sie den Kopf noch mehr sinken. Er +beugte sich dann fast zu Boden und blickte ihr von unten ins Gesicht; er +sah sie an und erstarrte, -- die Alte saß und lachte, -- sie schüttelte +sich vor Lachen, ein leises, unhörbares Lachen, sie hielt aus +Leibeskräften an sich, damit er es nicht hören solle. Da schien es ihm, +als würde die Tür zum Schlafzimmer ein wenig geöffnet, und auch da +schien man zu lachen und zu flüstern. Die Wut übermannte ihn, -- er +begann aus voller Kraft der Alten auf den Kopf zu schlagen, aber mit +jedem Schlage hörte man immer stärker das Lachen und Flüstern im +Schlafzimmer, und die Alte schüttelte sich nur so vor Lachen. Er stürzte +hinaus, da war das ganze Vorzimmer schon voll von Menschen, die Tür zu +der Treppe war weit geöffnet und auf dem Flure, auf der Treppe und dort +unten standen Menschen, Kopf an Kopf, und blickten alle auf ihn, sie +waren alle still, sie schienen auf etwas zu warten und schwiegen! ... +Sein Herz krampfte sich, die Füße ließen sich nicht mehr bewegen, waren +wie angewachsen ... Er wollte schreien und -- wachte auf. + +Er holte schwer Atem, -- aber merkwürdig, der Traum schien sich immer +noch fortzusetzen, -- seine Tür war weit geöffnet und auf der Schwelle +stand ein völlig unbekannter Mann und betrachtete ihn aufmerksam. + +Raskolnikoff hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet und schloß sie +auch sofort wieder. Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. »Ist +das noch der Traum oder nicht?« dachte er und hob kaum merklich die +Wimpern, um zu sehen, -- der Unbekannte stand auf derselben Stelle und +blickte ihn weiter unverwandt an. Auf einmal trat er vorsichtig über die +Schwelle, schloß leise die Türe hinter sich zu, ging an den Tisch und +wartete eine Weile, -- während dieser Zeit wandte er kein Auge von +Raskolnikoff ab, -- er setzte sich leise auf einen Stuhl neben das Sofa +hin; seinen Hut stellte er auf den Boden neben sich, stützte sich mit +beiden Händen auf seinen Stock und legte das Kinn auf die Hände. Man +konnte sehen, daß er sich anschickte, lange zu warten. Soweit +Raskolnikoff durch die blinzelnden Wimpern sehen konnte, war dieser Mann +nicht mehr jung, und hatte einen dichten, hellblonden, fast weißen Bart. + +Es vergingen etwa zehn Minuten. Es war noch hell, aber der Abend nahte +schon. Im Zimmer herrschte eine vollkommene Stille. Sogar von der Treppe +drang kein Ton herein. Bloß eine große Fliege summte und schlug sich im +Fluge an die Fensterscheibe. Dies wurde endlich unerträglich. -- +Raskolnikoff erhob sich plötzlich und setzte sich auf das Sofa hin. + +»Nun sagen Sie, was wünschen Sie?« + +»Sehen Sie, ich wußte es doch, daß Sie nicht schlafen, sondern sich bloß +den Anschein geben,« antwortete der Unbekannte eigentümlich und lachte +ruhig. »Erlauben Sie mich Ihnen vorzustellen: Arkadi Iwanowitsch +Sswidrigailoff ...« + + + + + Vierter Teil + + + I. + +»Ist das etwa die Fortsetzung des Traumes?« dachte Raskolnikoff noch +einmal. + +Er betrachtete vorsichtig und mißtrauisch den unerwarteten Besucher. + +»Sswidrigailoff? Welch ein Unsinn! Es kann nicht sein!« sagte er +schließlich laut und zweifelnd. + +Der Besucher schien über diesen Ausruf gar nicht erstaunt zu sein. + +»Ich bin zu Ihnen aus zwei Gründen gekommen, -- erstens wollte ich Sie +persönlich kennenlernen, da ich längst über Sie sehr Interessantes und +Vorteilhaftes gehört habe; zweitens aber bilde ich mir ein, daß Sie sich +vielleicht nicht weigern werden, mir bei einem Vorhaben zu helfen, das +besonders die Interessen Ihrer Schwester Awdotja Romanowna betrifft. +Mich allein, ohne Empfehlung, wird sie vielleicht jetzt nicht mal ins +Haus lassen infolge eines Vorurteiles; mit Ihrer Hilfe rechne ich +darauf.« + +»So rechnen Sie schlecht,« unterbrach ihn Raskolnikoff. + +»Ihre Angehörigen sind doch erst gestern angekommen, erlauben Sie mir +die Frage?« + +Raskolnikoff antwortete nicht. + +»Ja, gestern, ich weiß es. Ich bin selbst erst seit vorgestern hier. +Doch, was soll ich Ihnen weiter sagen, Rodion Romanowitsch; ich halte es +für überflüssig, mich zu rechtfertigen, nur eins lassen Sie mich +bemerken, -- habe ich denn tatsächlich etwas verbrochen, wenn man alles +ohne Vorurteile, mit ruhiger Vernunft betrachtet?« + +Raskolnikoff betrachtete ihn immer noch schweigend. + +»Der Umstand, daß ich in meinem Hause ein wehrloses, junges Mädchen +verfolgt und >sie mit meinen abscheulichen Anerbieten beleidigt habe<, +soll ein Verbrechen sein? Ich komme Ihnen zuvor. -- Denken Sie doch +daran, daß ich auch nur ein Mensch bin, _et nihil humanum_ ... mit einem +Worte, daß ich auch fähig bin, Reize zu empfinden und zu lieben, -- was +sicher nicht mit unserem Wollen geschieht, sondern in unserer Natur +liegt, und damit läßt sich alles auf die allernatürlichste Weise +erklären. Die Frage ist nur die, bin ich ein Scheusal oder selbst ein +Opfer? Nun, und wenn ich das Opfer bin? Und sehen Sie, indem ich dem +Gegenstande meiner Liebe anbot, mit mir nach Amerika oder in die Schweiz +zu fliehen, empfand ich dabei die allerehrerbietigsten Gefühle und +glaubte uns zum gegenseitigen Glück zu verhelfen! ... Der Verstand dient +doch der Leidenschaft, und ich richtete mich selbst dabei zugrunde, das +müssen Sie doch auch in Betracht ziehen! ...« + +»Darum handelt es sich gar nicht,« unterbrach ihn Raskolnikoff voll +Widerwillen. »Sie sind mir einfach widerlich, ob Sie schuldig sind oder +nicht, und man will mit Ihnen nichts zu tun haben, man jagt Sie fort und +so gehen Sie doch Ihrer Wege! ...« + +Sswidrigailoff lachte laut auf. + +»Aber Sie sind ... man kann Sie nicht verwirren!« sagte er und lachte +offen heraus, »ich dachte es schlau angefangen zu haben, aber es gelang +nicht, Sie stellten sich gleich auf den richtigsten Standpunkt.« + +»Ja, und Sie wollen auch in diesem Augenblicke schlau sein.« + +»Was wäre dabei? Nun, was wäre dabei?« wiederholte Sswidrigailoff und +lachte weiter. »Es ist doch _bonne guerre_{[4]}, wie man es nennt und +eine höchst erlaubte Schlauheit! ... Aber Sie haben mich unterbrochen; +ich wiederhole noch einmal, ob es so oder anders gekommen wäre, es wären +keine Unannehmlichkeiten vorgefallen, wenn nicht noch der Auftritt im +Garten hinzugekommen wäre. Marfa Petrowna ...« + +»Marfa Petrowna, sagt man, haben Sie auch ins Grab gebracht?« unterbrach +ihn schroff Raskolnikoff. + +»Sie haben auch davon gehört? Wie sollten Sie es übrigens nicht zu hören +bekommen ... Hier weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll, +obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung im höchsten Maße ruhig +ist. Glauben Sie ja nicht, daß ich irgend etwas dabei fürchte; dies +alles ist in völliger Ordnung und mit Genauigkeit geprüft worden, -- die +ärztliche Untersuchung hat einen Herzschlag nachgewiesen, der infolge +sofortigen Badens nach einem reichlichen Mittagessen erfolgt ist, wobei +fast eine ganze Flasche Wein geleert wurde, und anderes konnte nicht +festgestellt werden ... Nein, sehen Sie, ich habe eine Zeitlang, +besonders im Eisenbahnwagen auf dem Wege hierher nachgedacht, ob ich zu +diesem ... Unglück irgendwie, moralisch, durch Reizung oder etwas +ähnliches, nicht beigetragen habe? Ich bin zu dem Resultate gekommen, +daß dies positiv nicht der Fall sein konnte.« + +Raskolnikoff lachte. + +»Warum fällt es Ihnen denn noch ein, sich so zu beunruhigen?« + +»Worüber lachen Sie denn? Denken Sie doch nach, -- ich habe sie nur +zweimal mit der Reitgerte geschlagen, ohne daß Spuren zu sehen waren ... +Halten Sie mich, bitte, nicht für frivol; ich weiß sehr wohl, daß das +schändlich von mir war ... und so weiter; aber ich weiß auch sicher, daß +Marfa Petrowna vielleicht froh war über meinen, sagen wir, Mangel an +Beherrschung. Die Geschichte mit Ihrer Schwester war bis zum letzten +Tropfen erschöpft. Marfa Petrowna sah sich gezwungen, den dritten Tag +schon zu Hause zu sitzen; sie hatte nichts, womit sie sich im Städtchen +zeigen konnte, und außerdem war sie allen mit diesem Briefe -- über das +Vorlesen dieses Briefes haben Sie doch gehört, -- lästig geworden. Da +kamen ihr diese zwei Schläge mit der Reitgerte wie vom Himmel geschickt, +-- ihr erstes war, sofort den Wagen vorfahren zu lassen! ... Ich spreche +nicht mal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen sehr, sehr +angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der zur Schau getragenen +Entrüstung! Diese Fälle kommen bei allen vor. -- Der Mensch liebt es im +allgemeinen sehr, beleidigt zu sein; haben Sie das noch nicht bemerkt? +Bei Frauen aber ist dies besonders der Fall. Man kann so weit gehen und +sagen, daß sie sich damit gern die Zeit vertreiben.« + +Einen Augenblick dachte Raskolnikoff aufzustehen und wegzugehen, um +dadurch diesem Besuche ein Ende zu machen. Eine gewisse Neugier aber und +vielleicht Berechnung hielten ihn für eine Weile zurück. + +»Sie prügeln wohl gerne?« fragte er ihn zerstreut. + +»Nein, nicht besonders,« antwortete Sswidrigailoff ruhig. »Und mit Marfa +Petrowna habe ich mich fast nie geprügelt. Wir lebten in großer +Eintracht und sie war stets mit mir zufrieden. Die Gerte habe ich in den +sieben Jahren nur zweimal gebraucht, wenn man ein drittes Mal, das +übrigens sehr zweifelhaft ist, nicht mitzählt; das erste Mal war es zwei +Monate nach unserer Heirat, gleich nach der Ankunft auf dem Gut, und nun +der jetzige, letzte Fall. Sie dachten schon, ich sei so ein Scheusal, +Rückschrittler und Anhänger der Leibeigenschaft? He--he--he ... Ja, +nebenbei gesagt, -- erinnern Sie sich nicht, Rodion Romanowitsch, wie +vor einigen Jahren, noch zu Zeiten der wohltätigen Pressefreiheit, man +einen Edelmann -- ich habe seinen Namen vergessen, -- der eine Deutsche +im Eisenbahnwagen verprügelte, öffentlich an den Pranger stellte, +erinnern Sie sich noch? Es war im selben Jahre, glaube ich, als die +>Egyptischen Nächte< öffentlich vorgetragen wurden und ein Skandal +passierte, erinnern Sie sich jetzt? >Schwarze Augen! Oh, wo bist du, +goldene Zeit unserer Jugend! ...< So, und hier haben Sie meine Meinung, +-- für den Herrn, der die Deutsche verprügelte, habe ich keine +Sympathie, denn warum soll man in der Tat ... mit dem sympathisieren! +Hierbei kann ich nicht umhin zu bemerken, daß zuweilen sich solche +anregende >Deutsche< finden, und daß es keinen einzigen Fortschrittler, +wie es mir scheint, gibt, der für sich vollkommen garantieren könnte. +Von diesem Standpunkte hatte damals niemand die Sache betrachtet, +indessen aber ist er der eigentlich humane Standpunkt wahrhaftig, so ist +es!« + +Nachdem er das gesagt hatte, lachte Sswidrigailoff von neuem. +Raskolnikoff war es klar, daß dieser Mensch, der sich etwas fest +vorgenommen hatte, darauf bestimmt lossteuerte. + +»Sie haben jedenfalls einige Tage nacheinander mit niemandem +gesprochen?« fragte er ihn. + +»Das könnte stimmen. Warum? Sie wundern sich wohl, daß ich so gesprächig +bin.« + +»Nein, ich wundere mich, daß Sie so vernünftig reden.« + +»Weil ich mich durch die Grobheit Ihrer Zwischenfragen nicht gekränkt +fühlte? Ist es so? Ja ... warum sollte ich gekränkt sein? Wie man mich +fragte, so antwortete ich auch,« fügte er mit wunderbarer Gutmütigkeit +hinzu. »Ich interessiere mich fast für nichts, bei Gott,« fuhr er fort, +wie sinnend. »Ich bin besonders jetzt mit nichts beschäftigt ... +Übrigens ist es begreiflich, wenn Sie denken, ich wollte mich bei Ihnen +einschmeicheln und um so mehr, weil ich ein Anliegen, wie ich selbst +erklärte, an Ihre Schwester habe. Aber ich will Ihnen offen sagen, -- +mir ist es langweilig, besonders seit diesen drei Tagen, so daß ich mich +auf Ihre Gesellschaft freute ... Seien Sie mir aber nicht böse, Rodion +Romanowitsch, Sie kommen mir aber selbst sehr merkwürdig vor. Fassen Sie +es auf wie Sie wollen, aber es ist etwas an Ihnen und gerade jetzt, +nicht nur in diesem Augenblicke, sondern überhaupt jetzt ... Nun, nun, +ich will nicht mehr davon reden, verziehen Sie nur nicht gleich die +Stirn! Ich bin doch nicht solch ein Bär, wie Sie glauben.« + +Raskolnikoff blickte ihn finster an. + +»Sie sind vielleicht gar kein Bär,« sagte er. »Mir scheint es sogar, Sie +gehören zur guten Gesellschaft oder Sie verstehn wenigstens bei +Gelegenheit auch ein anständiger Mann zu sein.« + +»Ich interessiere mich auch nicht besonders für irgend wessen Meinung +über mich,« antwortete Sswidrigailoff trocken, mit einem Anfluge von +Hochmut, »und warum soll man nicht fade sein, wenn diese Art unserem +Lande so geläufig ist und ... und wenn man noch eine natürliche Neigung +dazu hat,« fügte er hinzu und lachte wieder. + +»Ich habe gehört, daß Sie hier viele Bekannte haben. Sie sind doch nicht +ohne das, was man >Verbindungen< nennt. Wozu haben Sie mich denn nötig, +wenn nicht zu einem bestimmten Zwecke?« + +»Ganz richtig, ich habe Bekannte hier,« fuhr Sswidrigailoff fort, ohne +die Hauptfrage zu beantworten, »ich habe auch einige getroffen; ich +wandre schon den dritten Tag herum, erkenne manche selbst wieder und +mich scheint man auch wiederzuerkennen. Ich bin anständig angezogen und +werde für keinen armen Menschen gehalten; uns hat die Aufhebung der +Leibeigenschaft nicht berührt, -- uns sind Wälder und Wiesen geblieben, +das Einkommen ist demnach nicht vermindert worden. Aber ... ich will +meine Beziehungen nicht pflegen, auch früher waren sie mir langweilig. +Ich gehe nun den dritten Tag herum und gebe mich nicht zu erkennen ... +Dazu kommt noch diese Stadt! Sagen Sie mir bitte, wie ist sie +entstanden! Eine Stadt von Beamten und allerhand Seminaristen! Ich habe +wirklich früher vieles nicht bemerkt, als ich vor acht Jahren mich hier +herumtrieb ... Ich setzte alle meine Hoffnungen nur noch ganz allein auf +die Anatomie, bei Gott!« + +»Was für eine Anatomie?« + +»Nun, ich hoffe auf alle diese Klubs und französischen Restaurants und +vielleicht noch auf den Fortschritt, -- nun, der möge nach unserem Tode +kommen,« fuhr er fort, ohne wieder die Frage zu beachten. »Und was ist +das für ein Vergnügen, Falschspieler zu sein?« + +»Waren Sie denn auch Falschspieler?« + +»Warum denn auch nicht? Wir waren eine ganze Gesellschaft vor acht +Jahren und eine höchst anständige; wir vertrieben uns die Zeit, und +wissen Sie, es waren alles Menschen mit guten Umgangsformen, es waren +Dichter und reiche Leute darunter. Ja, und überhaupt bei uns in der +russischen Gesellschaft trifft man bei denen, die schon Prügel bekommen +haben, die allerbesten Umgangsformen, -- haben Sie es noch nicht +gemerkt? Ich bin auf dem Lande ein wenig heruntergekommen. Und trotzdem +wollte mich damals ein Griechenkerl aus Njeschin wegen Schulden ins +Gefängnis einsperren lassen. Da tauchte Marfa Petrowna auf, handelte ein +wenig und löste mich für dreißigtausend Silberlinge aus -- im ganzen +schuldete ich siebzigtausend. Wir traten in den gesetzlichen Ehestand +und sie brachte mich sofort auf ihr Gut, als habe sie einen Schatz +gehoben. Sie war um fünf Jahre älter als ich. Liebte mich sehr. Sieben +Jahre habe ich dort gelebt. Und stellen Sie sich vor, sie hatte ihr +ganzes Leben das Dokument in Händen, es war auf einen fremden Namen über +diese dreißigtausend von mir ausgestellt, so daß, wenn ich +beabsichtigte, mich gegen sie zu empören, -- ich sofort ins Loch +gekommen wäre. Und sie hätte es getan! Bei Frauen ist alles möglich.« + +»Und wäre das Dokument nicht vorhanden gewesen, so wären Sie auch +sicherlich schon lange ausgekniffen?« + +»Ich weiß nicht, was ich Ihnen da sagen soll. Dieses Dokument genierte +mich fast gar nicht. Ich hatte keine Lust, irgendwohin zu reisen, und +Marfa Petrowna riet mir selbst ein paarmal eine Auslandsreise, als sie +merkte, daß ich mich langweile. Wozu aber? Im Auslande war ich vorher +gewesen und da war es mir immer langweilig. Eigentlich langweilte ich +mich nicht, aber sehen Sie, man sieht die Sonne untergehen, ringsum ist +das Meer -- die Bucht von Neapel, und es wird einem traurig zumute. Am +unangenehmsten ist es, daß man tatsächlich Sehnsucht nach Hause bekommt. +Nein, in der Heimat ist es besser, -- hier schiebt man die Schuld immer +den andern zu und nimmt sich selbst in Schutz. Ich würde mich vielleicht +jetzt gegebenenfalls an einer Expedition nach dem Nordpol beteiligen, +denn -- _j'ai le vin mauvais_{[5]}, es widert mich an, zu trinken, und +außer dem Wein bleibt mir nichts übrig. Man sagt, daß Berg am Sonntag im +Jussupoffschen Garten in einem großen Ballon aufsteigen will und +Mitreisende gegen eine bestimmte Bezahlung auffordert, ist das wahr?« + +»Was, Sie wollen wohl mitfliegen?« + +»Ich? Nein ... so ...« murmelte Sswidrigailoff und wurde wirklich +nachdenklich. + +»Was ist mit dem nur los?« dachte Raskolnikoff. + +»Nein, das Dokument genierte mich nicht,« fuhr Sswidrigailoff sinnend +fort. »Ich verließ freiwillig nicht das Gut. Ja und es wird bald ein +Jahr, seit Marfa Petrowna mir zu meinem Namenstage dieses Dokument +zurückgab und außerdem mir noch eine nennenswerte Summe schenkte. Sie +hatte ein schönes Vermögen. >Sehen Sie, wie ich Ihnen vertraue, Arkadi +Iwanowitsch<, wahrhaftig, so sagte sie. Sie glauben nicht, daß sie so +gesagt hat? Wissen Sie, ich bin auf dem Lande ein anständiger Hauswirt +geworden; man kennt mich im ganzen Umkreise. Ich ließ mir auch Bücher +kommen. Marfa Petrowna fand es zuerst gut, später aber fürchtete sie +immer, ich könnte mich durch zu vieles Lesen überanstrengen.« + +»Sie vermissen Marfa Petrowna, wie es scheint, sehr?« + +»Ich? Vielleicht. Wahrhaftig, vielleicht. Ja, nebenbei gesagt, glauben +Sie an Gespenster?« + +»Was für Gespenster?« + +»An gewöhnliche Gespenster!« + +»Sie glauben daran?« + +»Vielleicht, vielleicht auch nicht, _pour vous plaire_{[6]} ... Das +heißt eigentlich, glaube ich ...« + +»Erscheinen sie bei Ihnen etwa?« + +Sswidrigailoff blickte ihn sonderbar an. + +»Marfa Petrowna geruht mich zu besuchen,« sagte er und verzog seinen +Mund zu einem merkwürdigen Lächeln. + +»Was heißt es, sie geruht Sie zu besuchen?« + +»Ja, sie ist schon dreimal dagewesen. Zum erstenmal sah ich sie am Tage +der Beerdigung, eine Stunde nach ihrem Begräbnis. Das war am Tage vor +meiner Abreise. Das zweitemal war es vorgestern auf der Reise, am frühen +Morgen auf der Station Malaja Wischera, und zum dritten Male heute, vor +zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich abgestiegen bin; ich war allein.« + +»Sehen Sie sie im wachen Zustande?« + +»Vollkommen. Alle dreimal im wachen Zustande. Sie tritt herein, spricht +einen Augenblick und geht durch die Tür hinaus, stets durch die Türe. +Man kann es sogar hören.« + +»Ich habe es mir gleich gedacht, daß mit Ihnen unbedingt irgend etwas +dieser Art vorgehen muß!« sagte plötzlich Raskolnikoff und staunte im +selben Augenblicke, daß er das gesagt hatte. Er war in großer Aufregung. + +»So, so? Sie haben es sich gedacht?« fragte Sswidrigailoff verwundert. +»Ist es möglich? Sagte ich nicht, daß es zwischen uns einen gemeinsamen +Punkt geben muß.« + +»Das haben Sie nie gesagt!« antwortete scharf und außer sich +Raskolnikoff. + +»Habe ich es nicht gesagt?« + +»Nein!« + +»Mir war, als hätte ich es gesagt. Als ich vorhin eintrat und sah, daß +Sie mit geschlossenen Augen liegen und sich bloß schlafend stellten, da +sagte ich mir, >er ist derselbe!<« + +»Was heißt das -- er ist derselbe? Was meinen Sie damit?« rief +Raskolnikoff aus. + +»Was ich meine? Wirklich, ich weiß es nicht ...« murmelte Sswidrigailoff +offenherzig und scheinbar selbst verwirrt vor sich hin. Sie schwiegen +etwa eine Minute und blickten einander unablässig an. + +»Das ist alles Unsinn!« rief Raskolnikoff ärgerlich. »Was sagt sie Ihnen +denn, wenn sie erscheint?« + +»Sie? Stellen Sie sich vor, sie spricht über die geringsten +Kleinigkeiten und mögen Sie sich über mich wundern oder nicht, -- gerade +das ärgert mich. Das erstemal, als sie erschien, -- wissen Sie, ich war +müde nach der Totenmesse und dem Begräbnis und dem Essen und war in +meinem Schreibzimmer allein geblieben, hatte mir eine Zigarre angesteckt +und war in Gedanken versunken, -- da trat sie also durch die Türe ein +und sagte: >Arkadi Iwanowitsch, Sie haben heute bei all dem Trubel +vergessen, die Uhr im Speisezimmer aufzuziehen.< Diese Uhr habe ich +tatsächlich all die sieben Jahre jede Woche selbst aufgezogen, und wenn +ich es vergessen hatte, erinnerte sie mich stets daran. Am anderen +Morgen war ich schon auf der Reise hierher. Ich komme am frühen Morgen +auf einer Station an, hatte die Nacht nur wenig geschlummert, fühlte +mich zerschlagen, die Augen waren müde, und als ich mir eine Tasse +Kaffee nahm, sah ich plötzlich, wie sich Marfa Petrowna neben mich mit +einem Kartenspiel in der Hand hinsetzte. >Soll ich Ihnen nicht die +Karten legen, Arkadi Iwanowitsch?< fragte sie mich. Sie war eine +Meisterin im Kartenlegen. Nein, ich werde es mir nie verzeihen, daß ich +mir die Karten nicht legen ließ. Ich lief im Schrecken fort, es war auch +höchste Zeit, denn es wurde zum Abfahren geläutet. Heute sitze ich nun +nach einem sehr schlechten Essen aus einer Stadtküche mit schwerem Magen +da und rauche, -- da erscheint wieder Marfa Petrowna sehr geputzt, in +einem neuen grünen Seidenkleide mit einer sehr langen Schleppe. >Guten +Tag, Arkadi Iwanowitsch!< sagte sie. >Wie gefällt Ihnen mein Kleid? +Anisja kann es nicht so gut machen.< Anisja, wissen Sie, ist unsere +Schneiderin auf dem Lande, eine frühere Leibeigene, hat ihr Handwerk in +Moskau erlernt, -- ein hübsches Mädel. Also, Marfa Petrowna steht vor +mir und zeigt sich von allen Seiten. Ich besah mir das Kleid und blickte +ihr dann aufmerksam ins Gesicht. >Was ist es für ein Vergnügen, Marfa +Petrowna, wegen solcher Kleinigkeiten zu mir zu kommen und mich zu +belästigen.< -- >Ach, mein Gott, man darf Sie auch nicht mal fragen!< +Und ich sagte ihr, um sie zu necken: >Ich will mich verheiraten, Marfa +Petrowna.< -- >Das kann man von Ihnen erwarten, Arkadi Iwanowitsch; Sie +legen damit nicht viel Ehre ein, da Sie kaum Ihre Frau beerdigt haben +und schon heiraten wollen. Und wenn Sie noch gut gewählt hätten, so aber +-- ich weiß es -- werden weder Sie selbst, noch Ihre Auserwählte es gut +haben.< Darauf ging sie hinaus mit rauschender Schleppe. Ist das nicht +alles Unsinn?« + +»Ich glaube, das sind alles ausgedachte Lügen?« erwiderte Raskolnikoff. + +»Ich lüge selten,« antwortete Sswidrigailoff sinnend und als hätte er +die Grobheit der Frage gar nicht gemerkt. + +»Haben Sie nie vorher Gespenster gesehen?« + +»Nein, ich habe wohl ein einziges Mal im Leben vor sechs Jahren ein +Gespenst gesehen. Ich hatte einen Diener Filka; gerade, als man ihn +beerdigt hatte, rief ich in der Zerstreutheit: >Filka, die Pfeife!< und +er kam herein und ging zu dem Pfeifenständer. Ich saß und dachte, >er +wird sich wohl rächen wollen<, denn vor seinem Tode hatten wir uns +ordentlich gezankt. >Wie, wagst du<, sagte ich zu ihm, >zu mir mit einem +zerrissenen Ellenbogen zu kommen, -- hinaus, Hallunke!< Er wandte sich +um, ging hinaus und erschien nie mehr. Ich habe es Marfa Petrowna nicht +erzählt. Ich wollte für ihn eine Totenmesse abhalten lassen, aber +genierte mich.« + +»Gehen Sie zu einem Arzte!« + +»Ich weiß auch ohne Sie, daß ich nicht gesund bin, obwohl ich wahrhaftig +nicht weiß, wo es mir fehlt; meiner Ansicht nach bin ich sicher fünfmal +gesünder als Sie. Ich habe Sie jedoch nicht danach gefragt. Ich habe Sie +vielmehr gefragt, glauben Sie, daß es Gespenster gibt?« + +»Nein, ich kann um nichts in der Welt daran glauben!« rief Raskolnikoff +wütend aus. + +»Wie spricht man von solchem Falle gewöhnlich?« murmelte Sswidrigailoff +vor sich hin, sah dabei zur Seite und hatte ein wenig den Kopf gesenkt. +»Die einen sagen, -- du bist krank, und das, was sich dir vorstellt, ist +ein nicht existierender Wahn. Das ist aber doch unlogisch. Ich gebe zu, +daß Gespenster nur Kranken erscheinen, aber das beweist doch bloß, daß +die Gespenster niemand anderen als Kranken erscheinen können, jedoch +nicht, daß sie an und für sich nicht existieren.« + +»Gewiß, sie existieren auch nicht!« bestand Raskolnikoff gereizt auf +seiner Ansicht. + +»Nicht? Sie meinen es?« fuhr Sswidrigailoff langsam fort und blickte ihn +an. »Nun, man kann es auch so betrachten, -- Sie müssen mir helfen, -- +Gespenster sind sozusagen Teile und Stückchen aus anderen Welten, ihr +Anfang. Ein gesunder Mensch braucht sie selbstverständlich nicht zu +sehn, denn ein Gesunder ist der meist irdische Mensch und soll also der +Ordnung und Vollständigkeit wegen nur das gegenwärtige Leben leben. Nun, +wenn er aber erkrankt und wenn die normale irdische Ordnung im +Organismus ein wenig ins Wanken geraten ist, beginnt sich sofort die +Möglichkeit einer anderen Welt zu zeigen, und je stärker er erkrankt, um +so mehr gibt es für ihn Berührungspunkte mit dieser Welt, bis er, wenn +er schließlich stirbt, in die andere Welt übergeht. Ich habe darüber +seit langem nachgedacht. Wenn Sie an ein zukünftiges Leben glauben, so +können Sie auch an diesen Gedanken glauben.« + +»Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben,« sagte Raskolnikoff. + +Sswidrigailoff saß nachdenklich da. + +»Wenn es aber dort drüben nur Spinnen oder dergleichen gibt,« sagte er +rasch. + +»Er ist verrückt,« dachte Raskolnikoff. + +»Uns erscheint immer die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen +kann, als etwas ungeheuer Großes. Aber warum soll sie denn unbedingt +ungeheuer groß sein? Und schließlich stellen Sie sich vor, anstatt +dessen wird dort ein kleines Zimmer sein, ähnlich einer Badestube auf +dem Lande; verräuchert, in allen Ecken Spinnen, und das wird die ganze +Ewigkeit sein. Wissen Sie, ich stelle sie mir zuweilen in dieser Art +vor.« + +»Und stellen Sie sich tatsächlich nichts tröstlicheres und gerechteres +vor, als dieses!« rief Raskolnikoff aufgeregt. + +»Gerechteres? Woher wissen wir es, vielleicht _ist_ dies auch gerecht; +und wissen Sie, _ich_ würde es unbedingt so einrichten!« antwortete +Sswidrigailoff und lächelte unbestimmt. + +Es überlief Raskolnikoff bei dieser abscheulichen Antwort kalt. +Sswidrigailoff erhob den Kopf, blickte ihn aufmerksam an und lachte +plötzlich laut auf. + +»Nein, bedenken Sie bloß,« rief er aus, »vor einer halben Stunde hatten +wir einander noch nicht gesehen, hielten uns für Feinde, hatten eine +Angelegenheit auszutragen; wir ließen die Sache fallen und verwirren uns +in diese Ideen! Nun, habe ich nicht die Wahrheit gesagt, daß wir von +_einem_ Stamme sind?« + +»Tun Sie mir den Gefallen,« fuhr Raskolnikoff gereizt fort, »erklären +Sie sich schneller und teilen Sie mir mit, warum Sie mir die Ehre +erwiesen haben, mich zu besuchen ... und ... und ich habe Eile, habe +keine Zeit, ich will fortgehen ...« + +»Bitte, bitte. Ihre Schwester Awdotja Romanowna heiratet Herrn Peter +Petrowitsch Luschin?« + +»Können Sie nicht jede Frage über meine Schwester vermeiden und ihren +Namen unerwähnt lassen? Ich begreife nicht, wie Sie es wagen, in meiner +Gegenwart ihren Namen auszusprechen, wenn Sie tatsächlich Sswidrigailoff +sind.« + +»Ich bin doch gekommen, um über sie zu sprechen, wie soll ich denn ihren +Namen nicht erwähnen?« + +»Gut. Reden Sie, aber schnell!« + +»Ich bin überzeugt, daß Sie sich Ihre Meinung über diesen Herrn Luschin, +einen Verwandten meiner Frau, schon gebildet haben, wenn Sie ihn nur +eine halbe Stunde gesehen oder irgend etwas Sicheres und Genaues über +ihn gehört haben. Er paßt nicht für Awdotja Romanowna. Meiner Ansicht +nach bringt sich Awdotja Romanowna hier sehr großmütig und uneigennützig +zum Opfer für ... für ihre Familie. Mir schien es, auf Grund all dessen, +was ich über Sie gehört habe, daß Sie Ihrerseits sehr zufrieden sein +würden, wenn diese Heirat ohne Verletzung der Interessen nicht +zustandekommen würde. Jetzt aber, nachdem ich Sie persönlich +kennengelernt habe, bin ich davon sogar überzeugt.« + +»Ihrerseits ist dies alles sehr naiv, entschuldigen Sie, ich wollte +sagen, frech,« erwiderte Raskolnikoff. + +»Das heißt, Sie sagen damit, daß ich für meinen eigenen Nutzen sorge. +Seien Sie ruhig, Rodion Romanowitsch, wenn ich meine eigenen Vorteile im +Auge haben würde, so hätte ich mich nicht so offen ausgesprochen, ich +bin doch nicht ganz dumm. In dieser Beziehung will ich Ihnen eine +psychologische Merkwürdigkeit offenbaren. Vorhin sagte ich, als ich +meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, daß ich selbst ein Opfer +dieser Liebe sei. Nun, mögen Sie wissen, daß ich jetzt gar keine Liebe +mehr, absolut gar keine empfinde, so daß ich mich über mich selbst +wundere, denn ich hatte doch tatsächlich so empfunden ...« + +»Aus Müßiggang und Unsittlichkeit,« unterbrach ihn Raskolnikoff. + +»Ich bin wirklich ein Nichtstuer und Wüstling. Aber, Ihre Schwester hat +so viele Vorzüge, daß ich einem gewissen Eindrucke unterliegen mußte. +Doch das ist alles Unsinn, wie ich es selbst jetzt auch einsehe.« + +»Haben Sie es seit langem eingesehen?« + +»Ich habe es schon früher gemerkt, mich aber vorgestern im Augenblicke +meiner Ankunft in Petersburg endgültig davon überzeugt. Übrigens, in +Moskau noch stellte ich mir vor, daß ich nur reise, um mit Herrn Luschin +in Konkurrenz zu treten und um Awdotja Romanownas Hand anzuhalten.« + +»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber tun Sie mir den +Gefallen, sich kürzer zu fassen und direkt auf den Zweck Ihres Besuches +überzugehen. Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...« + +»Mit größtem Vergnügen. Als ich hier angekommen war und mich +entschlossen hatte, jetzt eine ... Reise anzutreten, wollte ich einige +notwendige Anordnungen vorher treffen. Meine Kinder sind bei der Tante +geblieben und sind reich; mich persönlich brauchen sie nicht. Was für +ein Vater wäre ich auch? Ich habe mir selbst nur das genommen, was mir +Marfa Petrowna vor einem Jahre geschenkt hatte. Für mich reicht es. +Entschuldigen Sie, ich komme sofort zur Sache selbst. Vor meiner Reise, +die vielleicht bald verwirklicht wird, will ich aber mit Herrn Luschin +abrechnen. Nicht etwa, daß ich ihn gar nicht ausstehen kann, aber um +seinetwillen entstand der Streit mit Marfa Petrowna, nachdem ich +erfahren hatte, daß sie diese Heirat eingeleitet hat. Ich möchte jetzt, +durch Ihre Vermittlung, Awdotja Romanowna sehen und meinetwegen in Ihrer +Anwesenheit ihr erklären, daß sie von seiten des Herrn Luschin nicht nur +nicht den geringsten Vorteil, sondern sicher eine unbedingte +Enttäuschung erfahren wird. Dann möchte ich, nachdem ich sie wegen aller +Unannehmlichkeiten um Entschuldigung gebeten habe, mir die Erlaubnis +einholen, ihr zehntausend Rubel anzubieten, um ihr in dieser Weise den +Bruch mit Herrn Luschin zu erleichtern; ich bin überzeugt, daß sie sich +gegen einen Bruch mit ihm nicht sträubt, wenn sich nur eine Möglichkeit +bietet.« + +»Sie sind aber tatsächlich, tatsächlich verrückt!« rief Raskolnikoff, +mehr erstaunt als ärgerlich. »Wie können Sie sich unterstehen, so zu +sprechen!« + +»Ich wußte es, daß Sie mich anschreien werden, aber trotzdem ich nicht +reich bin, kann ich vollkommen über diese zehntausend Rubel verfügen, +ich brauche sie gar nicht. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht annehmen +will, werde ich sie vielleicht in der dümmsten Art verwenden. Das ist +das eine. Mein Gewissen ist vollkommen ruhig, ich biete sie ohne +jeglichen Hintergedanken an. Nun zweitens. Glauben Sie es, oder glauben +Sie es nicht, später werden Sie und Awdotja Romanowna es erfahren. Die +ganze Sache dreht sich doch darum, daß ich tatsächlich Mühe und +Unannehmlichkeiten Ihrer verehrten Schwester verursacht habe; und da ich +eine aufrichtige Reue empfinde, wünsche ich von Herzen, -- mich nicht +etwa loskaufen und die Unannehmlichkeiten bezahlen, sondern einfach ihr +etwas Vorteilhaftes aus dem Grunde zu erweisen, weil ich doch +schließlich kein Privilegium habe, nur Böses zu tun. Wenn sich in meinem +Anerbieten eine winzige Spur von Berechnung fände, so würde ich ihr doch +nicht bloß zehntausend anbieten, da ich vor fünf Wochen ihr viel mehr +angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht sehr, sehr bald ein junges +Mädchen heiraten, folglich muß dadurch der ganze Verdacht, daß ich gegen +Awdotja Romanowna etwas im Schilde führe, fortfallen. Zum Schlusse +möchte ich noch sagen, daß Awdotja Romanowna, indem sie Herrn Luschin +heiratet, dasselbe Geld nimmt, nur von anderer Seite ... Ärgern Sie +bitte sich nicht, Rodion Romanowitsch, überlegen Sie es sich ruhig und +kaltblütig ...« + +Sswidrigailoff war, während er dies sagte, selbst außerordentlich +kaltblütig und ruhig. + +»Ich bitte Sie, zu Ende zu kommen,« sagte Raskolnikoff. »Jedenfalls ist +es unverzeihlich frech.« + +»Keineswegs. Demnach könnte ein Mensch einem anderen in dieser Welt nur +Böses zufügen und hat im Gegenteil kein Recht wegen leerer +konventioneller Formalitäten, ihm ein bißchen Gutes zu erweisen. Das ist +unsinnig. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und diese Summe Ihrer +Schwester laut Testament hinterlassen hätte, würde sie sich auch dann +weigern, sie anzunehmen?« + +»Sehr möglich.« + +»Nein, das glaube ich nicht. Übrigens, wenn sie nein sagt, mag es dabei +bleiben, zehntausend aber sind unter Umständen eine angenehme Sache. In +jedem Falle bitte ich Sie, Awdotja Romanowna das Gesagte mitzuteilen.« + +»Nein, ich werde es ihr nicht mitteilen.« + +»In diesem Falle, Rodion Romanowitsch, werde ich gezwungen sein, eine +persönliche Zusammenkunft herbeizuführen, also auch sie belästigen.« + +»Und wenn ich es ihr mitteilen werde, wollen Sie dann von einer +persönlichen Zusammenkunft absehen?« + +»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll. Einmal möchte ich +sie doch gerne sehen.« + +»Hoffen Sie nicht darauf!« + +»Schade. Sie kennen mich noch nicht. Vielleicht werden wir uns +näherkommen.« + +»Sie meinen, daß wir einander näherkommen werden?« + +»Warum denn nicht?« sagte Sswidrigailoff lächelnd, stand auf und nahm +seinen Hut. »Nicht, daß es mir Spaß machte, Sie zu belästigen, und als +ich hierher ging, rechnete ich nicht mit dieser Möglichkeit, obwohl mir +Ihr Gesicht schon vorhin, heute morgen, auffiel ...« + +»Wo haben Sie mich heute früh gesehen?« fragte Raskolnikoff voll Unruhe. + +»Zufällig ... Mir kommt es immer vor, als wäre etwas in Ihnen, was +meinem Wesen entspricht ... Regen Sie sich nicht auf, ich bin nicht +aufdringlich; ich bin mit Falschspielern gut ausgekommen, war dem +Fürsten Sswirbei, einem entfernten Verwandten und Würdenträger, nicht +zur Last gefallen, habe es verstanden, Frau Prilukoff ins Album ein +Gedicht über die Raphaelsche Madonna zu schreiben, habe mit Marfa +Petrowna sieben Jahre auf einem Fleck verlebt, in früheren Zeiten im +Hause Wjasemski auf dem Heumarkte geschlafen und werde nun vielleicht +mit Berg im Luftballon aufsteigen.« + +»Nun, schon gut. Erlauben Sie mir die Frage, wollen Sie bald Ihre Reise +antreten?« + +»Welch eine Reise?« + +»Von der Sie sprachen ... Sie sagten es doch selbst.« + +»Ach ja! ... in der Tat, ich sprach von der Reise ... Nun, das ist eine +große Frage ... Wenn Sie aber wüßten, wonach Sie mich soeben fragten!« +fügte er hinzu und lachte laut und kurz. »Ich werde vielleicht anstatt +zu reisen, mich verheiraten. Man freit mir eine Braut.« + +»Hier?« + +»Ja.« + +»Wann haben Sie denn dazu Zeit gefunden?« + +»Mit Awdotja Romanowna jedoch möchte ich sehr gern einmal +zusammentreffen. Ich bitte Sie in allem Ernst. Nun, auf Wiedersehen, ach +... ja! Ich hätte bald vergessen, Rodion Romanowitsch! Teilen Sie bitte +Ihrer Schwester mit, daß sie im Testamente Marfa Petrownas mit +dreitausend Rubeln bedacht ist. Das ist absolut richtig. Marfa Petrowna +hat es eine Woche vor ihrem Tode angeordnet, und zwar in meiner +Anwesenheit. Nach zwei oder drei Wochen kann Awdotja Romanowna auch das +Geld erhalten.« + +»Sagen Sie die Wahrheit?« + +»Die volle Wahrheit. Teilen Sie es ihr mit. Nun, Ihr Diener. Ich wohne +nicht sehr weit von Ihnen.« + +Beim Weggehen stieß Sswidrigailoff in der Tür mit Rasumichin zusammen. + + + II. + +Es war schon fast acht Uhr; beide eilten zu Bakalejeff, um früher als +Luschin da zu sein. + +»Wer war denn das?« fragte Rasumichin, als sie auf die Straße +hinaustraten. + +»Es war Sswidrigailoff, derselbe Gutsbesitzer, in dessen Hause meine +Schwester als Gouvernante Kränkungen dulden mußte. Weil er ihr +nachstellte, verließ sie das Haus, von seiner Frau Marfa Petrowna +hinausgejagt. Dieselbe Marfa Petrowna hat nachher Dunja um Verzeihung +gebeten und ist jetzt plötzlich gestorben. Vorhin sprachen wir von ihr. +Ich weiß nicht warum, aber ich fürchte diesen Menschen sehr. Er reiste +sofort nach der Beerdigung seiner Frau hierher, ist sehr sonderbar und +hat sich zu etwas entschlossen ... Er scheint etwas zu wissen ... Man +muß Dunja vor ihm schützen ... und das wollte ich dir auch sagen, hörst +du?« + +»Schützen! Was kann er denn gegen Awdotja Romanowna vorhaben? Nun, ich +danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst ... Wir wollen sie schützen! +... Wo lebt er?« + +»Ich weiß es nicht.« + +»Warum hast du ihn nicht gefragt? Ach, schade! Ich werde es übrigens +bald erfahren!« + +»Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikoff nach einigem Schweigen. + +»Nun ja, ich habe ihn mir gemerkt; gut gemerkt!« + +»Hast du ihn wirklich gesehen? Deutlich gesehen?« wiederholte +Raskolnikoff. + +»Freilich, ich erinnere mich seiner deutlich; unter tausend erkenne ich +ihn wieder, ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.« + +Sie schwiegen wieder. + +»Hm ... das ist gut ...« murmelte Raskolnikoff. »Sonst, weißt du ... +dachte ich ... mir scheint es manchmal, als wenn es eine Einbildung von +mir wäre.« + +»Was meinst du damit? Ich verstehe dich nicht ganz.« + +»Ihr sprecht doch alle davon,« fuhr Raskolnikoff fort und verzog den +Mund zu einem Lächeln, »daß ich verrückt sei; mir schien es nun +augenblicklich, als ob ich tatsächlich verrückt sei und bloß ein +Gespenst gesehen habe.« + +»Was fällt dir ein?« + +»Wer weiß es denn! Vielleicht bin ich wahrhaftig verrückt, und alles, +was in diesen Tagen vorgefallen ist, geschah vielleicht nur in meiner +Einbildung ...« + +»Ach, Rodja! Man hat dich wieder aufgeregt! ... Ja, was sagte er denn, +warum kam er?« + +Raskolnikoff antwortete nicht, Rasumichin sann eine Weile nach. + +»Nun, höre mir zu,« begann er. »Ich war bei dir gewesen, da schliefst +du. Dann aßen wir zu Mittag und ich ging nachher zu Porphyri. Sametoff +war noch immer da. Ich wollte anfangen mit ihm zu sprechen, aber es kam +nichts heraus. Ich konnte nie in richtiger Weise beginnen. Sie schienen +auch nicht zu begreifen und wollten nichts begreifen und waren gar nicht +beschämt. Ich führte Porphyri zum Fenster hin und begann zu sprechen, +aber es kam wieder nichts dabei heraus, -- er blickte zur Seite und ich +blickte zur Seite. Schließlich streckte ich ihm die Faust drohend +entgegen und sagte, daß ich ihn in verwandtschaftlicher Weise +zerschmettern werde. Er sah mich bloß an und sagte nichts. Ich ließ die +Sache fallen und ging weg, das ist alles. Sehr dumm, nicht wahr. Mit +Sametoff redete ich kein Wort. Siehst du aber, -- ich dachte anfangs, +ich habe die Sache verschlimmert, aber wie ich die Treppe hinunterstieg, +kam mir, nein besser, erleuchtete mich der Gedanke, warum beunruhigen +wir uns eigentlich? Wenn dir wenigstens eine Gefahr drohen würde oder +etwas ähnliches in Aussicht wäre, nun, dann wäre es verständlich! Was +geht es aber dich an? Du hast mit der Sache nichts zu tun, also pfeife +auf sie; wir werden noch später über sie lachen und ich würde an deiner +Stelle sie noch mystifizieren. Wie sie sich nachher schämen werden! +Pfeif darauf; wir können sie auch nachher verprügeln, jetzt aber wollen +wir über sie lachen!« + +»Du hast recht, versteht sich!« antwortete Raskolnikoff. + +»Aber was wirst du morgen sagen?« dachte er sofort. + +Sonderbar, bis jetzt war ihm noch nie der Gedanke gekommen, »was wird +Rasumichin denken, wenn er es erfährt?« Und bei diesem Gedanken blickte +Raskolnikoff ihn gespannt an. An dem jetzigen Berichte Rasumichins über +seinen Besuch bei Porphyri hatte er weniger Interesse, -- seit der Zeit +war vieles verschwunden und hinzugekommen! ... + +Im Korridor stießen sie mit Luschin zusammen, -- er war punkt acht Uhr +erschienen und suchte das Zimmer, so daß alle drei zugleich eintraten, +ohne aber einander anzublicken und ohne sich zu grüßen. Die jungen Leute +gingen sofort in die Stube hinein, Peter Petrowitsch verblieb aus +Anstand eine Weile im Vorzimmer und nahm den Mantel ab. Pulcheria +Alexandrowna ging ihm sofort entgegen, um ihn an der Schwelle zu +empfangen. Dunja begrüßte den Bruder. + +Peter Petrowitsch trat ein und verneigte sich ziemlich liebenswürdig, +aber auch mit besonderer Zurückhaltung vor den Damen. Er sah aus, als +wäre er ein wenig verwirrt und als ob er sich noch nicht gefaßt hätte. +Pulcheria Alexandrowna, auch ein wenig aufgeregt, beeilte sich sofort, +alle um einen Tisch, auf dem ein Samowar brannte, zu placieren. Dunja +und Luschin setzten sich einander gegenüber zu beiden Seiten des +Tisches. Rasumichin und Raskolnikoff kamen Pulcheria Alexandrowna +gegenüber zu sitzen, -- Rasumichin neben Luschin, Raskolnikoff neben der +Schwester. + +Es trat Schweigen ein. Peter Petrowitsch zog langsam ein +Batisttaschentuch hervor, das nach Parfüm duftete und schneuzte sich mit +der Miene eines tugendhaften, in seiner Würde gekränkten Menschen, der +fest entschlossen ist, Erklärungen zu verlangen. Im Vorzimmer war ihm +der Gedanke gekommen, -- den Mantel nicht abzunehmen und fortzugehen und +dadurch die Damen streng und nachdrücklich zu bestrafen, um sie mit +einem Male ihr Unrecht fühlen zu lassen. Aber er konnte sich nicht dazu +entschließen. Außerdem liebte er keine Ungewißheit, und hier galt es, +festzustellen, aus welchem Grunde sein Befehl so offensichtlich nicht +befolgt wurde, es mußte irgend etwas Besonderes sein, und so war es +besser abzuwarten; zu strafen war immer Zeit genug, es lag ja in seinen +Händen. + +»Ich hoffe, die Reise ist glücklich abgelaufen?« wandte er sich im +offiziellen Tone an Pulcheria Alexandrowna. + +»Gottlob ja, Peter Petrowitsch.« + +»Sehr angenehm zu hören. Und Awdotja Romanowna ist auch nicht ermüdet?« + +»Ich bin jung und stark und werde nicht müde, aber für Mama war es sehr +schwer gewesen,« antwortete Dunetschka. + +»Was ist da zu machen; die Entfernungen in unserm Lande sind groß. Groß +ist das sogenannte >Mütterchen Rußland< ... Ich aber konnte beim besten +Willen Sie gestern nicht empfangen. Ich hoffe jedoch, daß alles ohne +Aufregung gut verlaufen ist?« + +»Ach nein, Peter Petrowitsch, wir waren sehr mutlos,« beeilte sich +Pulcheria Alexandrowna mit besonderer Betonung zu bemerken, »und wenn +uns nicht Gott selbst Dmitri Prokofjitsch gestern gesandt hätte, so +wären wir sehr verlassen gewesen. Das ist er, Dmitri Prokofjitsch +Rasumichin,« fügte sie hinzu, ihn Luschin vorstellend. + +»Ich hatte schon das Vergnügen ... gestern,« murmelte Luschin und sah +Rasumichin dabei feindselig von der Seite an, sein Gesicht verdüsterte +sich und er schwieg. + +Peter Petrowitsch gehörte zu den Leuten, die in der Gesellschaft +außerordentlich liebenswürdig sind und auf Liebenswürdigkeit besonderen +Anspruch erheben, die aber auch sofort, wenn das geringste nicht nach +ihrem Geschmack ist, alle ihre guten Eigenschaften verlieren und eher +Mehlsäcken als gewandten und die Gesellschaft belebenden Kavalieren +gleichen. Alle verstummten wieder eine Weile, -- Raskolnikoff schwieg +hartnäckig und Awdotja Romanowna wollte das Schweigen nicht vorzeitig +unterbrechen. Rasumichin hatte nichts zu sagen, so daß Pulcheria +Alexandrowna wieder unruhig wurde. + +»Marfa Petrowna ist gestorben, Sie haben es wohl gehört?« begann sie zu +einem ihrer Hauptaushilfemittel greifend. + +»Ich habe es gehört. Ich wurde sofort benachrichtigt und bin sogar jetzt +gekommen, Ihnen mitzuteilen, daß Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff +unverzüglich nach der Beerdigung seiner Gattin nach Petersburg abgereist +ist. So lauten wenigstens die sichersten Nachrichten, die ich empfangen +habe.« + +»Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunja voll Unruhe und wechselte mit +der Mutter einen Blick. + +»Ja, es ist ganz sicher und er kommt selbstverständlich nicht ohne +Absichten, wenn man die Eile der Abreise und überhaupt die +vorangegangenen Umstände in Betracht zieht.« + +»Mein Gott! Will er etwa auch hier Dunetschka nicht in Ruhe lassen?« +rief Pulcheria Alexandrowna aus. + +»Mir scheint es, weder Sie noch Awdotja Romanowna brauchen sich +besonders aufzuregen, wenn Sie natürlich nicht selbst mit ihm in +Verbindung treten wollen. Was mich anbetrifft, so werde ich nach ihm +forschen und mich erkundigen, wo er abgestiegen ist ...« + +»Ach, Peter Petrowitsch, Sie werden nicht glauben, wie Sie mich jetzt +erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn bloß +zweimal gesehen, er erschien mir schrecklich, fürchterlich! Ich bin +überzeugt, daß er die Ursache von Marfa Petrownas Tode ist.« + +»Darüber läßt sich nichts sagen. Ich habe genaue Nachrichten. Ich +bestreite nicht, daß er vielleicht den Gang der Dinge sozusagen durch +den moralischen Einfluß von Kränkungen beschleunigt habe; denn im Urteil +über sein Benehmen und überhaupt über seinen sittlichen Charakter bin +ich mit Ihnen völlig einig. -- Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und +was Marfa Petrowna ihm hinterlassen hat, darüber werde ich in kürzester +Zeit erfahren, aber hier, in Petersburg, wird er selbstverständlich, +wenn er nur einigermaßen Mittel besitzt, sofort seinen alten +Gewohnheiten nachgehen. Er ist der verdorbenste und in Lastern +verkommenste Mensch seines Geschlechts. Ich habe einen triftigen Grund +anzunehmen, daß Marfa Petrowna, die das Unglück hatte, sich in ihn zu +verlieben und ihn vor acht Jahren von Schulden befreite, auch in anderer +Hinsicht ihm geholfen hat, -- einzig und allein dank ihrer Bemühungen +und Opfer wurde eine kriminelle Sache mit einem Beigeschmack von +tierischer und sozusagen phantastischer Roheit vertuscht, für die er mit +größter Wahrscheinlichkeit nach Sibirien geschickt worden wäre. Sehen +Sie, so ist dieser Mensch, wenn Sie es wissen wollen.« + +»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Petrowna aus. + +Raskolnikoff hörte aufmerksam zu. + +»Sagen Sie die Wahrheit, daß Sie darüber genaue Nachrichten besitzen?« +fragte Dunja streng und nachdrücklich. + +»Ich erzähle bloß das, was ich selbst, als Geheimnis, von der +verstorbenen Marfa Petrowna gehört habe. Ich muß bemerken, daß diese +Sache vom juristischen Standpunkte sehr dunkel ist. Hier lebte und +scheint noch jetzt eine gewisse Rößlich zu leben, eine Ausländerin, eine +kleine Wucherin, die aber sich auch mit anderen Geschäften abgibt. Zu +dieser Rößlich stand seit langem Herr Sswidrigailoff in gewissem sehr +nahem und geheimnisvollem Verhältnisse. Bei der Rößlich wohnte eine +entfernte Verwandte, eine Nichte, glaube ich, ein taubstummes Mädchen +von fünfzehn oder vierzehn Jahren, die diese Rößlich grenzenlos haßte, +der sie jedes Stück Brot vorwarf und die sie sogar unmenschlich schlug. +Eines Tages wurde dieses Mädchen auf dem Boden erhängt aufgefunden. Es +wurde festgestellt, daß sie mit Selbstmord geendet hatte. Nach den +gewöhnlichen Formalitäten wurde die Sache abgeschlossen, später aber +lief eine Denunziation ein, daß das Kind von Herrn Sswidrigailoff ... +grausam mißhandelt worden sei. Es ist wahr, die Sache war sehr dunkel, +die Denunziation stammte von einer anderen Deutschen, einem +verwerflichen Frauenzimmer, die kein Vertrauen genoß; schließlich ergab +es sich dank den Bemühungen und dem Gelde Petrownas, daß im Grunde +genommen gar keine Denunziation eingelaufen sei; alles beschränkte sich +auf ein Gerücht. Aber dieses Gerücht war bedeutsam genug. Sie, Awdotja +Romanowna, haben sicher auch von der Geschichte mit dem Diener Filka +gehört, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, an +Mißhandlungen gestorben ist.« + +»Ich habe im Gegenteil gehört, daß dieser Filka sich selbst erhängt +habe.« + +»Das stimmt, aber die ununterbrochenen Verfolgungen und Strafen des +Herrn Sswidrigailoff haben ihn gezwungen oder besser gesagt, zum +Selbstmorde getrieben.« + +»Davon weiß ich nichts,« antwortete Dunja trocken, »ich habe bloß eine +sehr sonderbare Geschichte gehört, -- dieser Filka war ein Hypochonder, +ein Philosoph, die Menschen sagten von ihm, er habe zu viel gelesen, und +er hat sich eher wegen der Spötteleien, als wegen der Schläge von Herrn +Sswidrigailoff erhängt. Als ich dort im Hause war, behandelte er die +Leute gut, und die Leute liebten ihn sogar, obwohl sie ihm an dem Tode +Filkas die Schuld gaben.« + +»Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie auf einmal geneigt sind, ihn zu +entschuldigen,« bemerkte Luschin und verzog den Mund zu einem +zweideutigen Lächeln. »Er ist in der Tat ein schlauer Mensch und für +Damen verführerisch, wofür Marfa Petrowna, die eines eigentümlichen +Todes gestorben ist, als trauriges Beispiel dient. Ich wollte bloß Ihnen +und Ihrer Frau Mutter mit meinem Ratschlage einen Dienst erweisen, +in Anbetracht seiner neuen und zweifellos bevorstehenden +Annäherungsversuche. Was mich anbetrifft, so bin ich fest überzeugt, daß +dieser Mensch selbstverständlich wieder im Schuldgefängnisse +verschwinden wird. Marfa Petrowna hat nie und nimmer die Absicht gehabt, +irgend etwas auf seinen Namen zu übertragen, weil sie die Kinder im Auge +hatte, und wenn sie ihm etwas hinterlassen hat, so ist es höchstens das +Notwendigste, kaum nennenswert und was für einen Menschen von seinen +Gewohnheiten auch nicht ein Jahr ausreicht.« + +»Peter Petrowitsch, ich bitte Sie,« sagte Dunja, »hören wir auf, von +Herrn Sswidrigailoff zu sprechen. Es macht mich schwermütig.« + +»Er war soeben bei mir,« sagte plötzlich Raskolnikoff, zum ersten Male +sein Schweigen brechend. + +Von allen Seiten ertönten Ausrufe und alle wandten sich an ihn. Sogar +Peter Petrowitsch wurde aufgeregt. + +»Vor anderthalb Stunden, als ich schlief, kam er herein, weckte mich auf +und stellte sich vor,« fuhr Raskolnikoff fort. »Er war ziemlich +ungezwungen und lustig und hofft sicher, daß ich mit ihm in nähere +Beziehungen treten werde. Unter anderem bittet er sehr um eine +Zusammenkunft mit dir, Dunja, und bat mich, der Vermittler dieser +Zusammenkunft zu sein. Er will dir ein Anerbieten machen; worin dies +besteht, hat er mir mitgeteilt. Außerdem teilte er mir positiv mit, daß +Marfa Petrowna Zeit gefunden hat, eine Woche vor ihrem Tode, dir, Dunja, +dreitausend Rubel zu vermachen, und daß du dieses Geld in sehr kurzer +Zeit erhalten kannst!« + +»Gott sei Dank!« rief Pulcheria Alexandrowna und schlug ein Kreuz. »Bete +für sie, Dunja, bete!« + +»Das ist tatsächlich wahr?« entschlüpfte es Luschin. + +»Nun und weiter?« drängte Dunja. + +»Dann sagte er, daß er selbst nicht reich sei und das ganze Vermögen +seinen Kindern, die jetzt bei der Tante sind, zufällt. Er sagte auch, +daß er irgendwo nicht weit von mir abgestiegen sei, wo aber -- das weiß +ich nicht, ich habe ihn nicht gefragt ...« + +»Aber, was will er denn Dunetschka anbieten?« fragte die erschrockene +Pulcheria Alexandrowna. »Hat er es dir gesagt?« + +»Ja, er hat es gesagt.« + +»Was ist es denn?« + +»Ich will es nachher sagen.« Raskolnikoff verstummte und wandte sich zu +seinem Glase Tee. + +Peter Petrowitsch sah auf seine Uhr. + +»Ich muß in einer notwendigen Angelegenheit weggehen und werde dann +nicht stören,« fügte er mit merklich gekränkter Miene hinzu und erhob +sich halb vom Stuhle. + +»Bleiben Sie, Peter Petrowitsch,« sagte Dunja, »Sie hatten doch die +Absicht, den ganzen Abend hier zu verbringen. Außerdem schrieben Sie +selbst, daß Sie wünschen, über etwas mit Mama zu sprechen.« + +»Das ist richtig, Awdotja Romanowna,« sagte Peter Petrowitsch mit +Nachdruck, setzte sich wieder hin, behielt aber den Hut in der Hand, +»ich wollte tatsächlich mit Ihnen und mit Ihrer verehrten Frau Mutter, +und sogar über sehr wichtige Punkte, sprechen. Aber, wie Ihr Bruder in +meiner Gegenwart sich über einige Angebote Herrn Sswidrigailoffs nicht +näher erklären kann, so wünschte ich auch nicht und kann nicht ... in +Gegenwart von anderen ... über einige äußerst wichtige Punkte sprechen. +Außerdem ist meine Haupt- und eindringlichste Bitte nicht erfüllt worden +...« Luschin nahm eine bittre Miene an und schwieg würdevoll. + +»Ihre Bitte, daß mein Bruder bei unserer Zusammenkunft nicht zugegen +wäre, ist einzig auf mein Verlangen nicht erfüllt worden,« sagte Dunja. +»Sie schrieben, daß Sie von meinem Bruder beleidigt worden sind; ich +denke, daß sich dies sofort aufklären läßt und Sie beide werden sich +vertragen. Und wenn Rodja Sie tatsächlich beleidigt hat, so _muß_ und +_wird_ er Sie um Entschuldigung bitten.« + +Peter Petrowitsch wurde sofort kouragierter. + +»Es gibt gewisse Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten +Willen nicht vergessen kann. In allem gibt es eine Grenze, die zu +überschreiten gefährlich ist; denn, _ist_ sie einmal überschritten, so +ist es unmöglich, zurückzukehren.« + +»Ich sprach eigentlich nicht darüber, Peter Petrowitsch,« unterbrach ihn +Dunja ein wenig ungeduldig, »verstehn Sie mich so, daß die ganze Zukunft +jetzt davon abhängt, ob dieses alles sich möglichst schnell aufklären +und erledigen wird oder nicht? Ich sage offen, daß ich anders es nicht +ansehen kann, und wenn Sie mich nur ein wenig schätzen, so muß die ganze +Geschichte, wie schwer es auch sein mag, heute noch beigelegt werden. +Ich wiederhole Ihnen, wenn mein Bruder die Schuld trägt, wird er um +Verzeihung bitten.« + +»Ich bin erstaunt, daß sie die Frage so stellen, Awdotja Romanowna,« +wurde Luschin immer mehr gereizt, »wenn ich Sie schätze und sozusagen +verehre, brauche ich doch gleichzeitig nicht jeden aus Ihrer Familie +besonders gern zu haben. Wenn ich auf den glücklichen Besitz ihrer Hand +Anspruch erhebe, brauche ich doch nicht gleichzeitig Verpflichtungen zu +übernehmen, die unvereinbar ...« + +»Ach, lassen Sie diese Empfindlichkeit, Peter Petrowitsch,« unterbrach +ihn Dunja mit Wärme, »und seien Sie der kluge und edle Mensch, für den +ich Sie stets gehalten habe und halten will. Ich habe Ihnen ein großes +Versprechen gegeben, ich bin Ihre Braut geworden; vertrauen Sie doch mir +in dieser Sache und glauben Sie mir, ich werde die Kraft haben, +unparteiisch zu urteilen. Der Umstand, daß ich die Rolle eines Richters +übernehme, ist für meinen Bruder ebenso eine Überraschung wie für Sie. +Als ich ihn heute nach dem Empfang Ihres Briefes aufforderte, unbedingt +zu unserer Zusammenkunft zu kommen, habe ich ihm nichts von meinen +Absichten mitgeteilt. Verstehn Sie doch, daß, wenn Sie sich nicht +vertragen, ich zwischen Ihnen beiden wählen muß, -- entweder Sie oder +ihn. So ist die Frage, wie von seiner, so auch von Ihrer Seite gestellt. +Ich will und darf mich nicht in der Wahl irren. Ihretwegen muß ich mit +meinem Bruder brechen; meines Bruders wegen muß ich mit Ihnen brechen. +Ich will und kann jetzt sicher erfahren, -- ist er mir wirklich ein +Bruder? Und von Ihnen, ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen und +Sie mir ein Gatte sein können?« + +»Awdotja Romanowna,« sagte Luschin verletzt. »Ihre Worte sind für mich +zu bedeutungsvoll, ich will sogar sagen, kränkend, in Anbetracht der +Stellung, die ich die Ehre habe Ihnen gegenüber einzunehmen. Ich spreche +schon gar nicht von der kränkenden und sonderbaren Gegenüberstellung +zwischen mir ... und einem aufgeblasenen Jüngling, aber in Ihren Worten +geben Sie mir die Möglichkeit zu, das mir gegebene Versprechen zu +brechen. Sie sagen, >entweder Sie, oder er<? also zeigen Sie damit, wie +wenig ich für Sie bedeute ... ich kann dies bei den Beziehungen ... und +Umständen, die zwischen uns bestehen, nicht zulassen.« + +»Wie!« flammte Dunja auf. »Ich stelle Ihre Interessen auf eine Stufe mit +allem, was mir im Leben bis jetzt teuer war, was bis jetzt mein _ganzes_ +Leben ausmachte, und Sie sind gekränkt, daß ich Sie _zu wenig_ schätze!« + +Raskolnikoff lächelte schweigend und höhnisch, Rasumichin war empört; +Peter Petrowitsch aber ließ die Erwiderung nicht gelten, er wurde im +Gegenteil mit jedem Worte immer zudringlicher und gereizter, als hätte +er daran Geschmack gefunden. + +»Die Liebe zum künftigen Lebensgefährten, zum Manne, muß die Liebe zum +Bruder überwiegen,« sagte er sentenziös, »in jedem Falle aber kann ich +nicht auf ein und derselben Stufe stehn ... Aber obwohl ich vorhin +bestimmt sagte, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders nicht wünsche, alles +zu erklären, und nicht sagen könne, weswegen ich hierhergekommen bin, +habe ich jetzt trotzdem die Absicht, mich an Ihre verehrte Frau Mutter +zu wenden, um eine notwendige Aufklärung über einen sehr wichtigen und +mich beleidigenden Punkt zu erhalten. Ihr Sohn,« wandte er sich an +Pulcheria Alexandrowna, »hat mich gestern in Gegenwart des Herrn +Rassudkin« ... (»Nicht wahr, der Name ist doch richtig, ich habe Ihren +Namen vergessen, entschuldigen Sie,« verbeugte er sich höflich vor +Rasumichin) »durch die Verdrehung eines Gedankens von mir, den ich Ihnen +einmal in einem Privatgespräch bei einer Tasse Kaffee mitteilte, +beleidigt. Mein Gedanke war, daß die Heirat mit einem armen Mädchen, das +schon die Sorgen des Lebens erfahren hat, meiner Ansicht nach vom +Standpunkte der Ehe aus vorteilhafter sei, als mit einem, das im +Überflusse lebt, weil es in moralischer Hinsicht nützlicher sei. Ihr +Sohn hat absichtlich den Sinn meiner Worte äußerst entstellt und mich +böswilliger Absichten beschuldigt, indem er sich meiner Ansicht nach auf +Ihren eigenen Brief stützte. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn es +Ihnen, Pulcheria Alexandrowna, möglich wäre, mich vom Gegenteil zu +überzeugen und mich dadurch sehr zu beruhigen. Teilen Sie mir mit, in +welchen Ausdrücken Sie meine Worte in Ihrem Briefe an Rodion +Romanowitsch wiedergegeben haben?« + +»Ich entsinne mich nicht,« sagte Pulcheria Alexandrowna verwirrt, »ich +habe sie aber wiedergegeben, wie ich sie selbst verstanden hatte. Ich +weiß nicht, wie Rodja es Ihnen erzählt hat ... Vielleicht hat er auch +einiges übertrieben.« + +»Ohne Ihren Anstoß konnte er sie nicht übertreiben.« + +»Peter Petrowitsch,« erwiderte Pulcheria Alexandrowna voll Würde, »der +Beweis, daß ich und Dunja Ihre Worte nicht in sehr schlechtem Sinne +aufgefaßt haben, ist, daß wir _hier_ sind.« + +»Das war gut, Mama!« sagte Dunja lobend. + +»Also, auch daran bin ich schuld!« bemerkte Luschin gekränkt. + +»Sehen Sie, Peter Petrowitsch, Sie beschuldigen immer Rodion, Sie selbst +aber haben vorhin in dem Briefe über ihn die Unwahrheit geschrieben,« +fügte Pulcheria Alexandrowna ermutigt hinzu. + +»Ich erinnere mich nicht, daß ich irgendeine Unwahrheit geschrieben +hätte.« + +»Sie haben geschrieben,« sagte Raskolnikoff scharf, ohne sich zu Luschin +umzuwenden, »daß ich gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen +gegeben habe, wie es in der Tat war, sondern seiner Tochter, die ich +nebenbei gesagt niemals vor dem gestrigen Tage gesehen habe. Sie haben +dies geschrieben, um mich mit meinen Verwandten zu entzweien, und haben +auch aus dem Grunde sich in abscheulichen Ausdrücken über den +Lebenswandel des jungen Mädchen geäußert, das Sie nicht einmal kennen. +Das sind alles gemeine Klatschereien.« + +»Entschuldigen Sie, mein Herr,« antwortete Luschin zitternd vor Wut, »in +meinem Briefe habe ich mich über Ihre Eigenschaften und Handlungen +einzig aus dem Grunde geäußert, um die Bitte Ihrer Schwester und Mutter +zu erfüllen und ihnen zu beschreiben, wie ich Sie gefunden und welch +einen Eindruck Sie auf mich gemacht haben. Was das in meinem Briefe +Erwähnte anbetrifft, so zeigen Sie mir wenigstens eine unwahre Zeile, +das heißt, daß Sie das Geld nicht verbraucht haben und daß in dieser +wenn auch unglücklichen Familie keine unwürdigen Personen sich +befinden?« + +»Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen nicht den kleinen +Finger dieses unglücklichen Mädchens wert, auf das Sie einen Stein +werfen.« + +»Nun, können Sie sich auch entschließen, sie in die Gesellschaft Ihrer +Mutter und Schwester einzuführen?« + +»Ich habe es schon getan, wenn Sie es wissen wollen. Ich habe sie heute +neben meine Mutter und Dunja gesetzt.« + +»Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. + +Dunetschka errötete; Rasumichin zog die Augenbrauen zusammen. Luschin +lächelte höhnisch und hochmütig. + +»Sie belieben selbst zu sehen, Awdotja Romanowna,« sagte er, »daß hier +keine Verständigung möglich ist. Ich hoffe jetzt, daß diese Sache +abgetan und ein für allemal aufgeklärt ist. Ich will mich entfernen, um +die weitere angenehme Zusammenkunft der Verwandten und die Mitteilung +von Geheimnissen nicht zu stören.« Er erhob sich vom Stuhle und nahm +seinen Hut. »Beim Weggehen erlaube ich mir zu bemerken, daß ich hoffe, +künftig von ähnlichen Begegnungen und sozusagen Ausgleichsversuchen +befreit zu sein. Sie, verehrte Pulcheria Alexandrowna, möchte ich +besonders bitten, um so mehr, als auch mein Brief an Sie und nicht an +andere adressiert war.« + +Pulcheria Alexandrowna fühlte sich gekränkt. + +»Was, wollen Sie uns ganz in Ihre Macht nehmen, Peter Petrowitsch? Dunja +hat uns den Grund gesagt, warum Ihr Wunsch nicht erfüllt worden ist, -- +sie hatte gute Absichten damit verfolgt. Ja, und Sie schreiben mir, als +ob Sie mir zu befehlen hätten. Sollen wir denn jeden Ihrer Wünsche als +Befehl ansehen? Ich will Ihnen im Gegenteil sagen, daß Sie jetzt uns +gegenüber besonders delikat und nachgiebig sein sollten, weil wir alles +im Stich gelassen haben und im Vertrauen zu Ihnen hierhergereist sind, +also auch uns sowieso fast in Ihrer Gewalt befinden.« + +»Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und besonders im +gegenwärtigen Augenblick nicht, wo Ihnen über die von Marfa Petrowna +nachgelassenen dreitausend Rubel Mitteilung zukam, was Ihnen sehr +willkommen zu sein scheint, wie man nach dem neuen Tone, in dem Sie mit +mir sprechen, annehmen kann,« fügte er höhnisch hinzu. + +»Nach dieser Bemerkung zu urteilen, haben Sie tatsächlich auf unsere +Hilflosigkeit gerechnet,« sagte Dunja gereizt. + +»Jetzt wenigstens kann ich dies nicht mehr, und ich möchte besonders +nicht die Mitteilung der geheimnisvollen Angebote von Arkadi Iwanowitsch +Sswidrigailoff stören, mit denen er Ihren Bruder betraut hat, und die +für Sie, wie ich sehe, eine wichtige und vielleicht auch sehr angenehme +Überraschung sind.« + +»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. + +Rasumichin konnte nicht mehr auf dem Stuhle sitzen. + +»Und du schämst dich jetzt nicht, Schwester?« fragte Raskolnikoff. + +»Ich schäme mich, Rodja,« sagte Dunja. »Peter Petrowitsch, gehen Sie +hinaus!« wandte sie sich zu ihm, bleich vor Zorn. + +Mit einem solchen Ende hatte Peter Petrowitsch nicht gerechnet. Er hatte +zu sehr auf sich selbst, auf seine Macht und die Hilflosigkeit seiner +Opfer gebaut. Aber er glaubte es auch jetzt noch nicht. Er erbleichte +und seine Lippen zitterten. + +»Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt zu dieser Türe hinausgehe mit einem +solchen Abschiede, so -- bedenken Sie es -- kehre ich nie mehr zurück. +Überlegen Sie es sich gut! Mein Wort ist unerschütterlich.« + +»Welch eine Frechheit!« rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem +Platze, »ich will gar nicht, daß Sie zurückkehren!« + +»Wie! Also so steht es!« rief Luschin aus, der bis zum letzten +Augenblicke an solchen Ausgang nicht geglaubt hatte, und der nun +vollkommen den Faden verlor, »also, so ist es gemeint! Aber wissen Sie +auch, Awdotja Romanowna, daß ich dagegen protestieren könnte.« + +»Welch ein Recht haben Sie, in solcher Weise mit ihr zu sprechen!« trat +Pulcheria Alexandrowna hitzig ein. »Wie können Sie protestieren? Und was +für Rechte haben Sie? Und soll ich Ihnen, solch einem, meine Dunja +geben? Gehen Sie, verlassen Sie uns! Wir sind selbst schuld, daß wir auf +solch eine ungerechte Sache eingingen und am meisten ich ...« + +»Sie haben mich doch, Pulcheria Alexandrowna,« ereiferte sich Luschin in +seiner Wut, »durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt +lossagen ... und endlich ... endlich haben Sie mich dadurch sozusagen in +Unkosten gestürzt ...« + +Diese letzte Anmaßung war dem Charakter von Peter Petrowitsch so +entsprechend, daß Raskolnikoff, bleich vor Zorn und Anstrengung an sich +zu halten, sich nicht enthalten konnte und -- laut auflachte. Pulcheria +Alexandrowna aber war außer sich. + +»In Unkosten? In was für Unkosten? Meinen Sie etwa damit unseren Koffer? +Es hat doch ein Schaffner ihn umsonst hergeschafft. Mein Gott, wir haben +Sie gebunden! Besinnen Sie sich doch, Peter Petrowitsch, Sie haben uns +an Händen und Füßen gebunden und nicht wir Sie!« + +»Genug, Mama, bitte, genug!« bat Awdotja Romanowna. »Peter Petrowitsch, +tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie!« + +»Ich gehe sofort, aber noch ein letztes Wort!« sagte er, völlig außer +sich. »Ihre Mutter scheint vollkommen vergessen zu haben, daß ich mich +entschlossen hatte, trotz den Gerüchten in der Stadt, die im ganzen +Umkreise über Ihren Ruf verbreitet waren, Sie zu heiraten. Indem ich +Ihretwegen die öffentliche Meinung nicht beachtete und Ihren Ruf +herstellte, konnte ich sicher sehr auf eine Vergeltung hoffen und sogar +Ihre Dankbarkeit verlangen ... Und jetzt erst sind mir die Augen +geöffnet worden! Ich sehe selbst, daß ich sehr übereilt gehandelt habe, +indem ich der öffentlichen Stimme keine Beachtung schenkte ...« + +»Ja, hat er denn zwei Köpfe!« rief Rasumichin aus, sprang vom Stuhle auf +und schickte sich schon an, ihm einen Denkzettel zu geben. + +»Sie sind ein gemeiner und böser Mensch!« sagte Dunja. + +»Kein Wort mehr! Keine Bewegung!« rief Raskolnikoff und hielt Rasumichin +zurück; dann trat er dicht an Luschin heran. + +»Gehen Sie sofort hinaus!« sagte er leise und deutlich, »und kein Wort +mehr, sonst ...« + +Peter Petrowitsch blickte ihn einige Sekunden mit bleichem vor Wut +verzogenem Gesichte an, wandte sich um und ging hinaus, und sicher hat +selten jemand soviel Haß auf einen andern in seinem Herzen +davongetragen, wie dieser Mann gegen Raskolnikoff. Ihn und nur ihn +allein machte er für alles verantwortlich. Merkwürdig, daß er sich, als +er schon die Treppe hinabstieg, immer noch einbildete, daß die Sache +vielleicht nicht ganz verloren und bei den Damen wenigstens sogar »sehr +leicht« ins Geleise zu bringen sei. + + + III. + +Die Hauptsache war, daß er bis zum letzten Augenblicke einen derartigen +Ausgang gar nicht erwartet hatte. Er spielte bis zum letzten Momente den +Überlegenen, ohne auch nur die Möglichkeit zu ahnen, daß zwei arme und +schutzlose Frauen sich seiner Macht entziehen könnten. Zu dieser +Überzeugung trugen seine Eitelkeit und sein übermäßiges Selbstbewußtsein +viel bei, das man am besten Selbstverliebtheit nennen kann. Peter +Petrowitsch, der sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet hatte, +hatte die krankhafte Angewohnheit, sich selbst mit Wohlgefallen zu +betrachten, schätzte seinen Verstand und seine Fähigkeiten hoch ein, ja, +er besah sogar zuweilen, wenn er allein war, sein Gesicht mit Liebe im +Spiegel. Am meisten in der Welt aber liebte und schätzte er sein Geld, +das er durch Arbeit und allerhand Machinationen erworben hatte, -- es +stellte ihn nach seinem Dafürhalten auf gleiche Stufe mit allem, was +höher war als er. + +Indem er voll Bitterkeit Dunja daran erinnerte, daß er sich entschlossen +hatte, sie, trotz der schlechten Gerüchte über sie, zu heiraten, sprach +Peter Petrowitsch vollkommen aufrichtig, er empfand eine tiefe +Entrüstung über solch einen »schwarzen Undank«. Als er aber damals um +Dunja anhielt, war er schon von der Sinnlosigkeit aller dieser +Klatschgeschichten völlig überzeugt, die von Marfa Petrowna selbst +öffentlich widerrufen und schon längst vom ganzen Städtchen, das Dunja +warm in Schutz nahm, vergessen waren. Er würde es selber jetzt nicht +geleugnet haben, daß er alles damals schon gewußt hatte. Aber trotzdem +rechnete er seinen Entschluß, Dunja zu sich zu erheben, hoch an und +hielt ihn für eine große Tat. Indem er dies gegen Dunja aussprach, +drückte er einen geheimen längst gehegten Gedanken aus, an dem er mehr +als einmal sich selber erbaut hatte, und er konnte es nicht begreifen, +daß die anderen seine große Tat nicht mit gleicher Bewunderung ansahen. +Als er damals Raskolnikoff einen Besuch machte, kam er mit den Gefühlen +eines Wohltäters, der sich anschickt, die Früchte seiner Taten zu ernten +und schmeichelhaftes Lob zu hören. Auch jetzt, als er die Treppe +hinabstieg, hielt er sich selbstverständlich für im höchsten Grade +gekränkt und verkannt. + +Dunja hatte er einfach nötig; es war ihm undenkbar, auf sie zu +verzichten. Lange schon, seit einigen Jahren, träumte er mit Behagen von +einer Heirat, aber er sparte fortwährend noch mehr Geld und wartete. Er +dachte mit Begeisterung in seinen geheimsten Träumen an ein +wohlgesittetes und armes (sie mußte unbedingt arm sein) Mädchen, das +jung, sehr hübsch, aus guter Familie, gebildet, sehr eingeschüchtert +sein mußte, das außerordentlich viel Unglück durchgemacht hatte und das +sich vor ihm vollkommen beugen würde, an ein solches Mädchen, das ihr +ganzes Leben lang ihn als ihren Retter ansehen, ihn verehren, sich ihm +unterordnen und ihn, nur ihn allein bewundern würde. Wieviel Szenen, +wieviel wonnige Episoden hatte er sich in der Phantasie über dieses +verführerische und reizende Thema ausgemalt, wenn er in aller Stille von +der Arbeit ausruhte! Und siehe da, der Traum von so viel Jahren wurde +fast ganz zur Wirklichkeit, -- die Schönheit und die Bildung Awdotja +Romanownas hatten ihn überrascht, und ihre hilflose Lage reizte ihn aufs +äußerste. Hier war mehr noch vorhanden, als er geträumt hatte; er hatte +ein stolzes, charakterfestes, tugendhaftes Mädchen getroffen, das an +Erziehung und Bildung höher stand, als er selber (das fühlte er), und +solch ein Wesen wird ihm ihr ganzes Leben wegen seiner großen Tat +sklavisch dankbar sein und in Verehrung sich vor ihm in den Staub +werfen, er aber wird grenzenlos und unbedingt über sie herrschen ... Als +hätte es so sein müssen, hatte er sich kurz vorher nach langem Wägen und +Warten entschlossen, seine Laufbahn zu ändern und in einen größeren +Wirkungskreis überzugehen, um gleichzeitig allmählich in die höhere +Gesellschaft, an die er lange schon mit Sehnsucht gedacht hatte, +hineinzukommen ... Mit einem Worte, er entschloß sich, es in Petersburg +zu versuchen. Er wußte, daß man durch Frauen sehr viel machen konnte. +Der Zauber einer reizenden, tugendhaften und gebildeten Frau konnte +wunderbar seinen Weg ebnen, Leute an ihn heranziehen, ihm einen +Glorienschein verleihen ... und nun war alles zerstört! Dieser +plötzliche abscheuliche Bruch traf ihn wie ein Donnerschlag. Aber es war +ein schlechter Spaß, war Unsinn! Er hat doch nur ein bißchen +übertrieben; er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich auszusprechen, er +hatte bloß gescherzt, ließ sich ein wenig gehen, und es hat so ein +ernstes Ende genommen! Und schließlich, er liebte doch Dunja in seiner +Weise, er herrschte schon über sie in seinen Träumen, -- und nun +plötzlich dieses! ... Nein! Morgen, morgen schon muß alles wieder +ausgeglichen, aufgeklärt und gutgemacht werden, Hauptsache war -- diesen +aufgeblasenen Milchbart, der an allem Schuld war, zu vernichten. Mit +Unbehagen dachte er plötzlich an Rasumichin ... aber er beruhigte sich +gleich -- »es fehlte gerade noch, daß auch er auf eine Stufe mit ihm +gestellt würde!« Wen er aber tatsächlich allen Ernstes fürchtete -- war +Sswidrigailoff ... Mit einem Worte, es standen viel Mühe und Sorgen +bevor ... + + * * * * * + +»Nein, ich, ich bin am meisten schuld!« sagte Dunja, umarmte und küßte +die Mutter, »ich habe mich von seinem Gelde verlocken lassen, aber ich +schwöre dir, Bruder, -- ich konnte nicht glauben, daß er so unwürdig +ist. Hätte ich ihn vorher erkannt, hätte ich mich um alles in der Welt +nicht verlocken lassen! Klage mich nicht an, Bruder!« + +»Gott hat uns gerettet! Gott hat uns gerettet!« murmelte Pulcheria +Alexandrowna, aber wie unbewußt, als hätte sie noch nicht ganz +begriffen, was vorgefallen war. + +Alle freuten sich, und nach fünf Minuten lachten sie sogar. Zuweilen +erblaßte Dunetschka ein wenig und verzog die Augenbrauen bei der +Erinnerung an das Vorgefallene. Pulcheria Alexandrowna konnte es nicht +begreifen, daß sie sich auch freute; der Bruch mit Luschin war ihr heute +früh noch als ein schreckliches Unglück erschienen. Rasumichin aber war +entzückt. Er wagte noch nicht ganz sein Entzücken zu äußern, aber er +bebte am ganzen Körper wie im Fieber, als hätte sich eine zentnerschwere +Last von seinem Herzen gelöst. Jetzt hat er das Recht, ihnen sein ganzes +Leben hinzugeben, ihnen zu dienen ... und noch mehr. -- Aber sofort +jagte er ängstlich alle Zukunftsgedanken fort, er fürchtete sich vor +seiner Phantasie. Nur Raskolnikoff allein saß auf demselben Platze, fast +düster und zerstreut. Er, der am meisten auf den Bruch mit Luschin +bestanden hatte, schien sich jetzt am allerwenigsten für das +Vorgefallene zu interessieren. Dunja dachte unwillkürlich, daß er immer +noch sehr böse auf sie sei, und Pulcheria Alexandrowna betrachtete ihn +ängstlich. + +»Was hat dir denn Sswidrigailoff gesagt?« trat Dunja an ihn heran. + +»Ach ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. + +Raskolnikoff erhob den Kopf. + +»Er will dir unbedingt zehntausend Rubel schenken und äußert dabei den +Wunsch, dich einmal in meiner Gegenwart zu sehen.« + +»Sie zu sehen! Um keinen Preis in der Welt!« rief Pulcheria +Alexandrowna, »und wie wagt er es, ihr Geld anzubieten!« + +Darauf teilte Raskolnikoff ziemlich trocken sein Gespräch mit +Sswidrigailoff mit, wobei er von dem Erscheinen Marfa Petrownas als +Gespenst nichts erwähnte, um nicht zu weit zu gehen, und weil er einen +Widerwillen empfand, irgendeine Unterhaltung, außer der notwendigsten, +zu führen. + +»Was hast du ihm geantwortet?« fragte Dunja. + +»Ich sagte zuerst, daß ich dir keine Mitteilung machen wolle. Darauf +erklärte er mir, daß er dann selbst mit allen Mitteln versuchen werde, +dich zu sehen. Er beteuerte, daß seine Leidenschaft zu dir eine Torheit +gewesen sei und daß er jetzt dir gegenüber nichts mehr empfinde ... Er +will nicht, daß du Luschin heiratest ... Er sprach überhaupt verworren.« + +»Wie erklärst du ihn dir, Rodja? Wie ist er dir erschienen?« + +»Ich muß gestehen, daß ich mir nicht so ganz klar über ihn bin. Er +bietet zehntausend an, sagt aber selbst, er sei nicht reich. Er erklärt, +daß er irgendwohin reisen will, und nach zehn Minuten vergißt er, daß er +darüber gesprochen hat. Plötzlich sagt er auch, daß er heiraten will und +daß man ihm schon eine Braut freit ... Sicher hat er Absichten und am +wahrscheinlichsten -- schlimme ... Aber wieder ist es sonderbar +anzunehmen, daß er so dumm die Sache anfassen würde, wenn er dir +gegenüber schlimme Absichten hätte ... Ich habe selbstverständlich +dieses Geld in deinem Namen ein für allemal ausgeschlagen. Überhaupt +erschien er mir sehr eigentümlich und ... sogar ... mit Anzeichen von +Geistesstörung. Ich kann mich jedoch auch irren; er kann einfach +geschwindelt haben. Der Tod von Marfa Petrowna scheint aber einen +Eindruck auf ihn gemacht zu haben ...« + +»Gott schenke ihrer Seele Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna, »ich will +ewig, ewig für sie zu Gott beten! Nun, wie würde es mit uns jetzt +stehen, Dunja, ohne diese dreitausend Rubel! Mein Gott, sie sind wie vom +Himmel geschickt! Ach, Rodja, wir hatten ja am Morgen im ganzen noch +drei Rubel, und ich überlegte mit Dunetschka die ganze Zeit, wie wir am +schnellsten irgendwo die Uhr versetzen könnten, um bloß nicht von diesem +... zu fordern, bis es ihm selbst in den Sinn kommt.« + +Dunja hatte das Anerbieten Sswidrigailoffs zu stark überrascht. Sie +stand die ganze Zeit in Gedanken versunken. + +»Er hat irgend etwas Schreckliches im Sinn!« sagte sie fast im +Flüstertone zu sich selbst und schauderte. + +Raskolnikoff bemerkte diese maßlose Furcht. + +»Ich glaube, ich werde ihn noch einmal sehen,« sagte er zu Dunja. + +»Wir wollen ihn beobachten! Ich werde ihn finden!« rief Rasumichin +energisch. »Ich will mein Auge nicht von ihm lassen! Rodja hat es mir +erlaubt. Er hat mir selbst vorhin gesagt: Beschütze die Schwester! Und +wollen Sie es auch erlauben, Awdotja Romanowna?« + +Dunja lächelte und reichte ihm die Hand, aber die Sorge verließ nicht +ihr Gesicht. Pulcheria Alexandrowna blickte sie schüchtern an; die +dreitausend Rubel hatten sie sichtlich beruhigt. + +Nach einer Viertelstunde waren alle in lebhaftester Unterhaltung. Sogar +Raskolnikoff hörte einige Zeit aufmerksam zu, obwohl er sich nicht am +Gespräch beteiligte. + +Rasumichin redete in einem fort. + +»Und warum, warum sollen Sie abreisen!« ergoß er sich mit Wonne in einer +begeisterten Rede, »und was wollen Sie in dem Städtchen machen? Und die +Hauptsache, Sie leben alle hier zusammen, und der eine besucht den +anderen, ... braucht ihn sehr, verstehen Sie mich! So versuchen Sie es +wenigstens eine Weile ... Mich nehmen Sie als Ihren Freund, als +Kompagnon, und ich versichere Sie, wir wollen ein ausgezeichnetes +Unternehmen gründen. Hören Sie, ich will Ihnen alles genau erklären, -- +das ganze Projekt mit allen Details! Schon heute Morgen, als noch nichts +vorgefallen war, kam es mir in den Sinn ... Sehen Sie, die Sache besteht +aus folgendem, -- ich habe einen Onkel, -- ich will Sie mit ihm bekannt +machen, ein ausgezeichneter und verehrungswürdiger alter Herr, -- und +dieser Onkel hat ein Vermögen von tausend Rubel, er selbst lebt von +seiner Pension und leidet keine Not. Fast zwei Jahre schon quält er +mich, daß ich diese tausend Rubel für ihn anlegen und ihm sechs Prozent +dafür zahlen soll. Ich weiß ja, wie der Hase läuft, -- er will mir +einfach helfen; im vorigen Jahre aber brauchte ich es nicht, in diesem +Jahre jedoch wartete ich bloß auf seine Ankunft und habe mich +entschlossen, es anzunehmen. Sie geben dann das zweite Tausend von Ihren +drei, und sehen Sie, das genügt für den Anfang, und wir verbünden uns. +Was machen wir aber damit?« + +Und nun begann Rasumichin sein Projekt zu entwickeln und redete viel +darüber, wie wenig fast alle unsere Buchhändler und Verleger von ihrer +Sache verstehen, darum seien sie auch gewöhnlich schlechte Verleger, +während anständige Buchausgaben sich sicher bezahlt machten und einen +zuweilen bedeutenden Nutzen abwürfen. Von der Tätigkeit eines Verlegers +träumte also Rasumichin; er hatte schon zwei Jahre für andere gearbeitet +und beherrschte drei europäische Sprachen recht gut, wenn er auch vor +sechs Tagen Raskolnikoff erklärt hatte, daß er im Deutschen »schwach« +sei, aber das tat er, um ihn zu bewegen, die Hälfte der +Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen. Er log +damals, und Raskolnikoff wußte, daß er log. + +»Warum denn sollen wir unseren eigenen Vorteil versäumen, wenn wir +plötzlich eines der Hauptmittel besitzen, -- und zwar eigenes Geld?« +ereiferte sich Rasumichin. »Gewiß, man muß viel arbeiten, aber wir +wollen arbeiten, Sie, Awdotja Romanowna, ich, Rodion ... manche +Buchausgaben rentieren jetzt prächtig! Und die Hauptunterlage des +Unternehmens besteht darin, daß wir wissen werden, was gerade übersetzt +werden muß. Wir wollen übersetzen und verlegen und lernen, alles +zusammen. Jetzt kann ich nützlich sein, denn ich habe darin Erfahrung. +Es sind bald zwei Jahre, seit ich bei den Verlegern herumlaufe, und ich +kenne alle ihre Schliche; es ist keine Hexerei, glauben Sie mir! Und +warum soll man nicht nach dem Bissen greifen! Ich kenne selbst und +bewahre es als ein Geheimnis, zwei oder drei solcher Werke; für den +Gedanken allein, sie zu übersetzen und zu verlegen, kann man hundert +Rubel für jedes Buch nehmen, und das eine Werk, die Idee allein schon, +gebe ich nicht um fünfhundert Rubel. Was meinen Sie, wenn ich es jemand +mitteilen würde, so ein Holzklotz täte vielleicht noch daran zweifeln. +Und was die geschäftlichen Dinge -- Druckerei, Papier, Verkauf -- +anbetrifft, so überlassen Sie dies mir. Ich kenne alle Schliche! Wir +wollen mit kleinem anfangen und großes erreichen; wenigstens ernähren +können wir uns und erhalten in jedem Falle unser Geld zurück.« + +Dunjas Augen leuchteten. + +»Was Sie vorbringen, gefällt mir sehr, Dmitri Prokofjitsch,« sagte sie. + +»Ich verstehe hiervon gar nichts,« sagte Pulcheria Alexandrowna, +»vielleicht ist es auch gut, aber Gott weiß. Es ist neu und unbekannt. +Gewiß müssen wir hierbleiben, wenigstens eine Zeitlang ...« + +Sie blickte Rodja an. + +»Was meinst du, Bruder?« sagte Dunja. + +»Ich meine, daß er einen sehr guten Gedanken hat,« antwortete er. »Von +einer Firma muß man selbstverständlich vorher nicht träumen, aber fünf +oder sechs Bücher kann man tatsächlich mit zweifellosem Erfolg verlegen. +Ich kenne auch selbst ein Werk, das unbedingt gehen wird. Und daß er die +Sache zu leiten versteht, unterliegt keinem Zweifel, -- er versteht die +Sache ... Übrigens habt ihr noch Zeit, euch zu besprechen ...« + +»Hurra!« rief Rasumichin. »Warten Sie, hier im selben Hause und bei +denselben Wirtsleuten ist eine Wohnung frei. Sie ist ganz abgeschlossen, +hat mit diesen Zimmern keine Verbindung und besteht aus drei möblierten +Stuben, der Preis ist mäßig. Die können Sie fürs erste nehmen. Die Uhr +will ich für Sie morgen versetzen und Ihnen das Geld bringen und das +weitere wird sich finden. Die Hauptsache aber ist, daß Sie alle drei +zusammen leben können, auch Rodja mit Ihnen. Wohin willst du denn, +Rodja?« + +»Wie, Rodja, gehst du schon fort?« fragte Pulcheria Alexandrowna +erschreckt. + +»In solch einem Augenblick!« rief Rasumichin. + +Dunja blickte den Bruder mit mißtrauischem Erstaunen an. Er hielt die +Mütze in den Händen und schickte sich an, wegzugehen. + +»Ihr tut ja, als ob ihr mich beerdigen oder auf ewig Abschied nehmen +müßtet,« sagte er eigentümlich. + +Er wollte lächeln, aber dieses Lächeln gelang ihm schlecht. + +»Wer weiß, vielleicht sehen wir uns auch zum letztenmal,« fügte er +unvermutet hinzu. + +Er wollte es bloß denken, doch die Worte entschlüpften ihm. + +»Um Gottes willen, was ist mit dir!« rief die Mutter aus. + +»Wohin willst du gehen, Rodja?« fragte ihn Dunja in angstvollem Tone. + +»Ich muß jetzt fortgehen,« antwortete er unklar, als sei er im Zweifel, +was er sagen wollte. + +In seinem bleichen Gesichte drückte sich eine feste Entschlossenheit +aus. + +»Ich wollte sagen ... als ich hierher ging ... ich wollte Ihnen, Mama +... und dir, Dunja, sagen, daß es besser sei, wenn wir uns für eine +Zeitlang trennen. Ich fühle mich nicht wohl, ich bin unruhig ... ich +will später wiederkommen, ich werde von selbst kommen, wenn ... es mir +möglich sein wird. Ich denke an euch und liebe euch ... Doch laßt mich! +Laßt mich allein! Ich habe es so beschlossen, schon früher ... Ich habe +es bestimmt beschlossen ... Was mit mir auch geschieht, ob ich zugrunde +gehen werde oder nicht, ich will allein sein. Vergeßt mich ganz und gar. +Es ist so am besten. Erkundigt euch auch nicht nach mir. Wenn es nötig +sein wird, komme ich von selbst oder ... ich rufe euch. Vielleicht wird +noch alles gut! ... Jetzt aber sagt euch von mir los, wenn ihr mich +liebt ... Sonst muß ich euch hassen, ich fühle es ... Lebt wohl!« + +»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna. + +Die Mutter und die Schwester waren furchtbar erschrocken; Rasumichin +ebenfalls. + +»Rodja, Rodja! Versöhne dich mit uns, wir wollen wieder wie früher +sein!« rief die arme Mutter aus. + +Er wandte sich langsam der Türe zu und ging langsam hinaus. Dunja holte +ihn ein. + +»Bruder! Was tust du deiner Mutter an!« flüsterte sie, und ihr Blick +leuchtete vor Empörung. + +Er schaute sie schwermütig an. + +»Es hat nichts zu bedeuten, ich komme, ich werde kommen!« murmelte er +halblaut, als ob er sich nicht völlig bewußt sei, was er sagen wollte, +und ging aus dem Zimmer. + +»Gefühlloser, böser Egoist!« rief Dunja. + +»Er ist ver--rückt und nicht gefühllos! Er ist geistesgestört! Sehen Sie +es denn nicht? Sonst sind Sie gefühllos! ...« flüsterte Rasumichin ihr +zu und drückte stark ihre Hand. + +»Ich komme sofort!« wandte er sich an die erstarrte Pulcheria +Alexandrowna und lief aus dem Zimmer. Raskolnikoff erwartete ihn am Ende +des Korridors. + +»Ich wußte, daß du mir nachgehen wirst,« sagte er. »Gehe zu ihnen zurück +und bleibe bei ihnen ... Sei auch morgen bei ihnen ... und stets. Ich +komme ... vielleicht ... wenn ich kann. Leb wohl!« + +Und ohne ihm die Hand zu reichen, ging er weiter. + +»Ja, wohin gehst du? Was ist mit dir? Was ist geschehen? Kann man denn +so! ...« murmelte Rasumichin fassungslos. + +Raskolnikoff blieb noch einmal stehen. + +»Ich sage dir ein für allemal, -- frage mich nicht und über nichts. Ich +habe dir nichts zu antworten ... Komme nicht zu mir. Vielleicht komme +ich selbst hierher ... Laß mich ... sie aber _verlasse nicht_. Verstehst +du?« + +Es war ziemlich dunkel auf dem Korridor, sie standen unter einer +spärlich brennenden Lampe. Eine Minute blickten sie einander schweigend +an. Rasumichin erinnerte sich sein ganzes Leben dieser Minute. Der +brennende und starre Blick Raskolnikoffs schien mit jedem Momente sich +zu verstärken und drang in seine Seele und in sein Bewußtsein. Da zuckte +Rasumichin zusammen. Ein fürchterliches Etwas trat zwischen sie ... Ein +Gedanke, spürbar wie ein Hauch; ein schauerlicher gräßlicher Gedanke von +beiden gedacht, von beiden verstanden ... Rasumichin wurde bleich wie +ein Toter. + +»Verstehst du jetzt?« sagte Raskolnikoff plötzlich mit schmerzlich +verzogenem Gesichte. »Kehre zurück, gehe zu ihnen,« fügte er sofort +hinzu, drehte sich schnell um und verließ das Haus. + +Ich will nicht beschreiben, was an diesem Abend bei Pulcheria +Alexandrowna geschah, wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie +beruhigte, wie er schwur, daß man Rodja in seiner Krankheit Ruhe geben +müsse, wie er schwur, daß Rodja unbedingt kommen würde, daß er jeden Tag +herkommen würde, daß er sehr, sehr aufgeregt sei, daß man ihn nicht +reizen dürfe; wie er, Rasumichin, auf ihn aufpassen werde, ihm einen +guten Arzt, den besten, ein ganzes Konsilium verschaffen werde ... Mit +einem Worte, Rasumichin wurde an diesem Abend ihr Sohn und Bruder. -- + + + IV. + +Raskolnikoff aber ging direkt zu dem Hause am Kanal, wo Ssonja wohnte. +Es war ein dreistöckiges Haus, alt und grün angestrichen. Er suchte den +Hausknecht auf und erhielt von ihm die ungefähre Auskunft, wo der +Schneider Kapernaumoff wohne. Er fand in einer Ecke auf dem Hofe einen +Eingang zu einer schmalen, dunklen Treppe, er stieg zum zweiten Stock +hinauf und kam auf eine Galerie, die das Haus auf der Hofseite umgab. +Während er in der Dunkelheit und voll Ungewißheit, wo der Eingang zu +Kapernaumoff sein könne, herumirrte, öffnete sich plötzlich drei +Schritte von ihm eine Türe; er griff mechanisch nach ihr. + +»Wer ist da?« fragte eine weibliche Stimme ängstlich. + +»Ich bin es ... komme zu Ihnen,« antwortete Raskolnikoff und trat in ein +winziges Vorzimmer ein. Hier brannte auf einem durchgesessenen Stuhle +ein Licht in einem kupfernen Leuchter. + +»Sie sind es! Oh, Gott!« rief Ssonja mit schwacher Stimme und blieb wie +versteinert stehen. + +»Wo geht es in Ihr Zimmer? Hier?« + +Raskolnikoff suchte nicht ihren Blick und ging schnell in ihr Zimmer +hinein. + +Nach einer Minute kam auch Ssonja mit dem Lichte, stellte es hin und +blieb vor ihm stehen, vollkommen verwirrt, in einer unbeschreiblichen +Aufregung und sichtbar erschrocken durch seinen unerwarteten Besuch. +Eine Röte stieg in ihr bleiches Gesicht, und Tränen traten in ihre Augen +... Es war ihr schwer zumute, sie schämte sich auch, und doch war es ihr +lieb ... Raskolnikoff wandte sich schnell von ihr ab und setzte sich auf +einen Stuhl neben dem Tisch. Er fand Zeit, einen flüchtigen Blick auf +das Zimmer zu werfen. + +Es war ein großes Zimmer, aber außerordentlich niedrig, das einzige +Zimmer, das Kapernaumoffs vermieteten; in der Wand links war eine +verschlossene Tür, die zu ihnen führte. Auf der entgegengesetzten Seite, +rechts in der Wand, befand sich noch eine Tür, die immer verschlossen +war. Hinter ihr war eine andere Wohnung unter einer anderen Nummer. +Ssonjas Zimmer glich einer Scheune, hatte die Gestalt eines +unregelmäßigen Vierecks, was ihm etwas Eigentümliches verlieh. Die eine +Wand mit drei Fenstern, die auf den Kanal hinausgingen, durchschnitt das +Zimmer etwas schief, wodurch die eine Ecke sehr spitz war und in der +Tiefe verlief, so daß man bei schwacher Beleuchtung sie nicht gut +überschauen konnte; die andere Ecke war wieder häßlich stumpf. In diesem +ganzen Zimmer waren fast gar keine Möbel. In einer Ecke rechts war ein +Bett, neben ihm näher zur Türe ein Stuhl. An derselben Wand, wo das Bett +war, standen an der Türe gegen die fremde Wohnung ein einfacher Tisch, +bedeckt mit einem blauen Tischtuche und daneben zwei geflochtene Stühle. +An der entgegengesetzten Wand, in der Nähe der spitzen Ecke, befand sich +eine kleine Kommode aus einfachem Holze, verloren wie in einer Wüste. +Das war das ganze Mobiliar. Die gelblichen, abgerissenen und +beschmutzten Tapeten waren an allen Ecken schwarz geworden; im Winter +mußte es hier feucht und dunstig sein. Die Armut war offensichtlich; +selbst am Bette waren keine Gardinen angebracht. + +Ssonja blickte schweigend ihren Besucher an, der so aufmerksam und +ungeniert ihr Zimmer betrachtete und begann vor Angst zu zittern, als +stände sie vor einem Richter, der über ihr Schicksal entscheiden sollte. + +»Ich komme spät ... Es ist wohl schon elf Uhr?« fragte er sie und erhob +noch immer nicht die Augen zu ihr. + +»Ja,« murmelte Ssonja. »Ach, ja, es ist soviel!« beeilte sie sich zu +sagen, als wäre es ein Ausweg, »soeben schlug bei dem Hauswirte die Uhr +... und ich habe die Schläge gezählt ... Es ist soviel.« + +»Ich komme zum letztenmal zu Ihnen,« fuhr Raskolnikoff düster fort, +obwohl es doch zum erstenmal war, daß er hier war, »ich werde Sie +vielleicht nicht mehr sehen ...« + +»Reisen Sie ... fort?« + +»Ich weiß es nicht ... alles hängt von morgen ab ...« + +»Also, Sie werden morgen nicht bei Katerina Iwanowna sein?« bebte +Ssonjas Stimme. + +»Ich weiß es nicht. Alles hängt von morgen früh ab ... Aber darum +handelt es sich nicht, ich bin gekommen, Ihnen ein paar Worte zu sagen +...« + +Er erhob seinen nachdenklichen Blick zu ihr auf und bemerkte jetzt erst, +daß er saß, während sie noch immer vor ihm stand. + +»Warum stehen Sie denn? Setzen Sie sich doch,« sagte er mit veränderter +Stimme leise und weich. + +Sie setzte sich. Er blickte sie freundlich, fast mitleidig eine Minute +an. + +»Wie mager Sie sind! Sehen Sie nur Ihre Hand! Ganz durchsichtig. Diese +Finger, wie bei einer Toten.« + +Er nahm ihre Hand. Ssonja lächelte schwach. + +»Ich war immer so,« sagte sie. + +»Auch, als Sie zu Hause lebten?« + +»Ja.« + +»Ach, selbstverständlich ja!« sagte er abgerissen, und sein +Gesichtsausdruck und der Ton seiner Stimme veränderten sich wieder. + +Er blickte sich noch einmal um. + +»Sie mieteten das Zimmer von Kapernaumoff?« + +»Ja ...« + +»Diese wohnen dort hinter der Türe?« + +»Ja ... Sie haben auch ein solches Zimmer.« + +»Sie leben alle in einem Zimmer?« + +»Ja, in einem Zimmer.« + +»Ich würde mich nachts in Ihrem Zimmer fürchten,« bemerkte er düster. + +»Die Wirtsleute sind sehr gut, sehr freundlich,« antwortete Ssonja, die +immer noch nicht zu sich gekommen schien und seine Bemerkung nicht +verstanden hatte, »und alle Möbel und alles ... alles gehört den +Wirtsleuten. Sie sind sehr gut, und die Kinder kommen auch oft zu mir +...« + +»Die stotternden?« + +»Ja ... Er stottert auch und ist dazu auch lahm. Und die Frau auch ... +Das heißt, sie stottert nicht so sehr, sie spricht bloß nicht alles aus. +Sie ist sehr gut. Er ist früher Leibeigener gewesen. Und sie haben +sieben Kinder ... und bloß der Älteste stottert, die anderen sind nur +immer krank ... stottern nicht ... Woher wissen Sie das aber?« fügte sie +ein wenig verwundert hinzu. + +»Ihr Vater hat es mir damals erzählt. Er hat mir auch alles über Sie +erzählt ... Auch davon, wie Sie um sechs Uhr fortgingen und um neun +zurückkamen, auch, wie Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien +gelegen hat.« + +Ssonja wurde verlegen. + +»Mir schien es, als hätte ich ihn heute gesehen,« flüsterte sie +unentschlossen. + +»Wen?« + +»Den Vater. Ich ging in die Straße dort, nebenan, an der Ecke in der +zehnten Stunde, und er schien vor mir zu gehen, ganz, als wäre er es. +Ich wollte eben zu Katerina Iwanowna hingehen ...« + +»Waren Sie spazieren gegangen?« + +»Ja,« flüsterte Ssonja abgerissen, wurde wieder verlegen und senkte die +Augen. + +»Katerina Iwanowna hat Sie doch wohl geschlagen, als Sie beim Vater +lebten?« + +»Ach nein, wie kommen Sie darauf, nein, nein!« Ssonja blickte ihn voll +Schrecken an. + +»Also, Sie lieben sie?« + +»Sie? Warum denn nicht!« sagte Ssonja klagend und faltete mit leidendem +Ausdruck die Hände. »Ach! Sie ... Wenn Sie nur wüßten. Sie ist ja ganz +wie ein Kind ... Ihr Verstand ist ja wie gestört ... vor lauter Kummer. +Und wie sie klug war ... wie großmütig ... wie gut! Sie wissen nichts, +nichts ... ach!« + +Ssonja sagte dies wie in Verzweiflung, aufgeregt, darunter leidend und +händeringend. Ihre bleichen Wangen erröteten wieder und in ihren Augen +drückte sich eine tiefe Qual aus. Man sah, daß in ihr sehr vieles durch +seine Worte wachgerufen worden war und daß sie gern etwas äußern und +sagen und für Katerina Iwanowna eintreten wollte. Ein _unerschöpfliches_ +Mitleid, wenn man sich so ausdrücken darf, lag in ihrem Gesichte. + +»Sie soll mich geschlagen haben! Ja, wie kommen Sie dazu! Oh, Gott, sie +mich schlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre dabei! +Was wäre dabei! Sie wissen nichts, gar nichts ... Sie ist so +unglücklich, ach, wie unglücklich sie ist! Und sie ist krank ... Sie +sucht Gerechtigkeit ... Sie ist rein. Sie glaubt so daran, daß in allem +Gerechtigkeit sein müsse und verlangt sie ... Und Sie können sie quälen, +sie wird nichts Ungerechtes tun. Sie merkt selbst nicht, wie unmöglich +es ist, daß es unter den Menschen gerecht zugehe und ist reizbar ... Sie +ist wie ein Kind, wie ein Kind! Sie ist gerecht, gerecht!« + +»Und was wird mit Ihnen geschehen?« + +Ssonja blickte ihn fragend an. + +»Die Last ist doch auf Ihren Schultern geblieben. Es ist wahr, auch +früher lag alles auf Ihren Schultern, und der Verstorbene kam auch zu +Ihnen mit seinen Bitten, um zu einem Gläschen zu kommen. Aber was wird +jetzt werden?« + +»Ich weiß es nicht,« erwiderte Ssonja traurig. + +»Werden sie dort bleiben?« + +»Ich weiß nicht, sie sind der Wirtin die Wohnung schuldig; und die +Wirtin hat heute gesagt, ich hörte es, daß sie ihr kündigen will; +Katerina Iwanowna jedoch sagte schon, daß sie auch selbst keinen +Augenblick länger dort bleiben will.« + +»Aus welchem Grunde ist sie denn so tapfer? Hofft sie auf Sie?« + +»Ach, nein, sagen Sie nicht so etwas ... Wir leben zusammen, gehören +zueinander,« Ssonja wurde wieder erregt und selbst gereizt, genau wie +wenn ein Kanarienvogel oder ein anderer kleiner Vogel böse wird. »Ja, +was soll sie denn tun? Was denn, was soll sie tun?« fragte sie, sich +ereifernd und erregt. »Und wie, wie lange sie heute geweint hat! Ihr +Verstand ist gestört, haben Sie es nicht gemerkt? Er ist gestört; bald +regt sie sich wie ein Kind darüber auf, ob morgen auch alles anständig +sei, die Speisen und alles da sei ... bald ringt sie die Hände, speit +Blut, weint und schlägt die Stirne gegen die Wand aus lauter +Verzweiflung. Dann wird sie wieder ruhiger, hofft auf Sie, -- sagt, daß +Sie ihr ein Helfer sein werden und daß sie bei irgend jemand Geld leihen +und nach ihrer Heimatsstadt mit mir reisen wird; sie will dort eine +Pension für junge Mädchen aus guter Familie errichten, mich als +Aufseherin anstellen, und ein ganz neues, schönes Leben soll für uns +beginnen; sie küßt mich, umarmt und tröstet mich und glaubt fest an die +Ausführung ihres Planes. Sie glaubt so stark an diese Träume. Kann man +ihr denn da widersprechen? Und sie wusch, säuberte und besserte heute +den ganzen Tag alles aus; hat selbst mit ihren schwachen Kräften eine +Wanne ins Zimmer hereingeschleppt, geriet dabei außer Atem und fiel auf +das Bett hin. Wir sind heute am frühen Morgen mit ihr in den Läden +gewesen, um Poletschka und Lene Stiefel zu kaufen, denn die ihrigen sind +ganz zerrissen, da reichte das Geld nach der Berechnung nicht aus, es +fehlte noch sehr viel. Und sie hat so hübsche Stiefelchen ausgesucht, +denn sie hat Geschmack, Sie glauben nicht ... Sie fing dort selbst in +dem Laden, in Gegenwart der Verkäufer, zu weinen an, da das Geld nicht +ausreichte ... Ach, wie leid es einem tat, sie zu sehen.« + +»Dann ist es begreiflich, daß Sie ... so leben,« sagte Raskolnikoff mit +bitterem Lächeln. + +»Und tut es Ihnen denn nicht auch leid? Nicht auch weh?« fuhr Ssonja +wieder fort. »Ich weiß doch, Sie haben selbst Ihr letztes abgegeben, +ohne je wieder etwas davon zu sehen. Und wenn Sie erst alles wüßten, oh, +Gott! Und wie oft, wie oft habe ich sie zu Tränen gereizt! In der +vorigen Woche noch! Ach, ich ... Genau eine Woche vor seinem Tode. Ich +habe grausam gehandelt! Und wie oft, wie oft war ich es! Ach, wie es weh +tut, ich wurde heute den ganzen Tag daran erinnert!« + +Ssonja rang in schmerzlicher Erinnerung die Hände, während sie sprach. + +»Sie wollen grausam sein?« + +»Ja, ich, ich bin es! Ich kam damals hin,« fuhr sie weinend fort, »als +der Verstorbene zu mir sagte, >lies mir vor, Ssonja,< sagte er, >mein +Kopf tut mir etwas weh, lies mir vor ... hier ist ein Buch<, er hatte +irgendein Buch von Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff erhalten; er +wohnt auch dort und hat immer solche spaßige Bücher. Und ich sagte, >ich +muß gehen<, wollte ihm also nicht vorlesen. Ich war hauptsächlich zu +ihnen gekommen, um Katerina Iwanowna die Kragen zu zeigen, hübsche, neue +und ausgewählte Kragen und Manschetten, die mir Lisaweta, eine +Händlerin, billig besorgt hatte. Und Katerina Iwanowna gefielen sie +sehr, sie legte einen Kragen um, besah sich im Spiegel, und sie gefielen +ihr sehr. >Schenk sie mir, Ssonja,< sagte sie, >bitte schenk sie mir.< +Sie hatte bitte gesagt, und sie wollte sie so gern haben. Wann soll sie +aber die Kragen umlegen? Sie dachte nur an die frühere, glücklichere +Zeit. Sie sah sich im Spiegel, betrachtete sich mit Wohlgefallen und hat +doch keine passenden Kleider, gar keine Sachen dazu, -- wer weiß, wie +viele Jahre schon! Und niemals wird sie etwas von jemand erbitten, -- +sie ist stolz und gibt eher das letzte fort, nun aber hatte sie mich +gebeten, -- so hatten ihr die Kragen gefallen! Mir aber tat es leid sie +wegzugeben. >Wozu brauchen Sie sie, Katerina Iwanowna<, sagte ich, so +direkt: wozu? Das hätte ich ihr nicht sagen dürfen. Sie blickte mich +schmerzlich an und wurde sehr traurig, daß ich sie ihr abgeschlagen +hatte, und es war so traurig anzusehen ... Nicht der Kragen wegen, +sondern weil ich es ihr abgeschlagen habe, ich hatte doch ... Ihnen ist +dies doch gleichgültig!« + +»Haben Sie diese Händlerin Lisaweta gekannt?« + +»Ja ... Sie auch?« fragte Ssonja ihn mit einigem Erstaunen. + +»Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht im höchsten Grade, sie wird bald +sterben,« sagte Raskolnikoff nach einigem Schweigen, ohne auf ihre Frage +zu antworten. + +»Ach nein, nein, nein!« Und Ssonja ergriff unbewußt seine beiden Hände, +als ob es an ihm läge, dies zu verhindern und als könnte sie das von ihm +erflehen. + +»Es ist doch besser, wenn sie stirbt!« + +»Nein, es ist nicht, es ist gar nicht besser!« wiederholte sie +erschrocken und ohne Überlegung. + +»Und was wird aus den Kindern? Sie werden sie sicher zu sich nehmen?« + +»Ach, ich weiß es nicht!« rief Ssonja fast in Verzweiflung aus und faßte +sich an den Kopf. + +Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Male ihr aufgetaucht war und +daß sie ihn immer wieder abgewiesen hatte. + +»Und wenn Sie noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten krank werden und man +Sie ins Krankenhaus schafft, was dann?« drang er erbarmungslos weiter in +sie. + +»Ach, wie ist es möglich! Das kann doch nicht sein!« und Ssonjas Gesicht +verzog sich in furchtbarem Schrecken. + +»Wieso kann es nicht sein?« fuhr Raskolnikoff mit einem harten Lächeln +fort. »Sie sind doch nicht davor geschützt? Was wird dann mit jenen +geschehen? Sie werden auf die Straße alle zusammen gehen, Katerina +Iwanowna wird husten und betteln und mit der Stirn an die Wand schlagen, +wie heute, und die Kinder werden weinen ... Dann wird sie hinfallen, man +bringt sie zur Wache, nachher ins Krankenhaus, nachher wird sie sterben, +und was wird aus den Kindern ...« + +»Ach nein! ... Gott wird es nicht zulassen!« entrang es sich der +zusammengeschnürten Brust Ssonjas. + +Sie hörte ihm ängstlich zu, blickte ihn flehend an und faltete in +stummer Bitte die Hände, als hinge alles von ihm ab. Raskolnikoff stand +auf und begann im Zimmer auf- und abzugehen. Es vergingen Minuten. +Ssonja stand mit gesenktem Kopfe und herabhängenden Händen da in +unsäglichem Leid. + +»Kann man nicht sparen? Einen Notgroschen sammeln?« fragte er und blieb +vor ihr stehen. + +»Nein,« flüsterte Ssonja. + +»Versteht sich, nein! Haben Sie es aber auch schon versucht?« fragte er +spöttisch. + +»Ich habe es versucht.« + +»Und es gelang nicht! Nun, das ist ja selbstverständlich! Was ist da +noch zu fragen!« + +Und er wanderte wieder im Zimmer auf und nieder. Es verstrich wieder +eine Weile. + +»Sie erhalten nicht jeden Tag Geld?« + +Ssonja wurde noch mehr betreten, und wieder stieg ihr das Blut ins +Gesicht. + +»Nein,« flüsterte sie mit qualvoller Anstrengung. + +»Mit Poletschka wird sicher dasselbe geschehen,« sagte er plötzlich. + +»Nein, nein! Das darf nicht sein, unmöglich!« rief sie laut, vollkommen +verzweifelt, als hätte man ihr einen Stich ins Herz gegeben. »Gott, Gott +wird so was Schreckliches nicht zulassen! ...« + +»Bei Ihnen läßt er es doch zu.« + +»Nein, nein! Gott wird sie schützen! ...« wiederholte sie ganz außer +sich. + +»Ja, vielleicht gibt es gar keinen Gott,« antwortete Raskolnikoff mit +einem Anflug von Schadenfreude, lachte und blickte sie an. Ssonjas +Gesicht verzerrte sich krampfhaft. Mit einem unbeschreiblichen Vorwurf +schaute sie ihn an, wollte etwas sagen, konnte aber nichts +herausbringen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte dann +bitterlich. + +»Sie sagen, Katerina Iwanownas Verstand sei gestört. Ihr eigener ist +auch gestört,« sagte er nach einigem Schweigen. + +Es vergingen wieder etwa fünf Minuten, während er schweigend auf und ab +ging, ohne sie anzublicken. Endlich trat er an sie heran; seine Augen +funkelten. Er packte sie mit beiden Händen an den Schultern und sah in +ihr weinendes Gesicht. Seine Augen hatten einen heißen, trockenen, +durchdringenden Blick, und seine Lippen bebten vor Erregung ... +Plötzlich beugte er sich nieder, warf sich auf den Boden und küßte ihren +Fuß. Ssonja fuhr entsetzt vor ihm zurück, wie vor einem Irrsinnigen. Er +sah wirklich ganz wie ein Irrsinniger aus. + +»Was ist mit Ihnen, was tun Sie? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und +ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. + +Er stand sofort auf. + +»Ich habe mich nicht vor dir verneigt, sondern vor dem ganzen +menschlichen Leiden,« sagte er mit eigentümlichem Ton und ging zum +Fenster hin. »Höre,« setzte er hinzu, als er nach einem Augenblick zu +ihr zurückkam, »ich habe vorhin zu einem bösen Menschen gesagt, daß er +deinen kleinen Finger nicht wert sei ... und daß ich meiner Schwester +heute eine Ehre erwiesen habe, indem ich sie neben dich hingesetzt habe +...« + +»Ach, was haben Sie gesagt! Und in ihrer Gegenwart?« rief Ssonja +erschrocken aus. »Neben mir zu sitzen! Eine Ehre! Ja, ich bin doch ... +ehrlos ... Ach, warum haben Sie das gesagt?« + +»Nicht wegen deiner Ehrlosigkeit und Sünde habe ich es von dir gesagt, +sondern wegen deines großen Leides. Daß du eine große Sünderin bist, ist +wahr,« fügte er fast entzückt hinzu, »und am meisten bist du dadurch +eine Sünderin, weil du dich _umsonst_ getötet und verkauft hast. Ist das +nicht entsetzlich! Ist es nicht entsetzlich, daß du in diesem Schmutze +lebst, den du so haßt und gleichzeitig es selbst weißt, -- man braucht +dir nur die Augen zu öffnen -- daß du niemandem damit hilfst und +niemanden dadurch rettest! Ja, sage mir doch endlich,« fuhr er fast in +Wut fort, »wie kannst du solche Schande und solche Gemeinheit mit deinen +anderen besten und heiligsten Gefühlen in dir vereinigen? Es wäre doch +gerechter, tausendmal gerechter und vernünftiger, sich mit dem Kopfe +voran ins Wasser zu stürzen und allem ein Ende zu machen!« + +»Und was wird mit ihnen allen geschehen?« fragte Ssonja mit schwacher +Stimme, blickte ihn leidend an, zeigte aber über seinen Vorschlag gar +kein Erstaunen. Raskolnikoff blickte sie eigentümlich an. + +Er hatte alles in ihrem Blicke gelesen. Auch sie hatte tatsächlich schon +selbst diesen Gedanken gehabt. Vielleicht hatte sie sich in der +Verzweiflung oft und ernstlich überlegt, dem Leben schneller ein Ende zu +machen, so daß sie jetzt gar nicht über seinen Vorschlag erstaunt war. +Sie hatte selbst die Härte seiner Worte nicht empfunden, auch den Sinn +seiner Vorwürfe und seine besondere Ansicht über ihre Schande hatte sie +nicht erfaßt, das konnte er sehen. Er aber begriff vollkommen, wie +grauenhaft und schmerzlich sie schon seit langem der Gedanke an ihre +ehrlose und schmachvolle Lage gequält hatte. Was aber war es, was konnte +es sein, -- dachte er, -- das ihren Entschluß, mit einem Schlage allem +ein Ende zu machen, aufhielt? Jetzt erst verstand er völlig, was für sie +diese armen, kleinen verwaisten Kinder und diese beklagenswerte +halbverrückte Katerina Iwanowna mit ihrer Schwindsucht und mit ihrer +Verzweiflung bedeuteten. + +Aber ebenso klar war es ihm, daß Ssonja mit ihrem Charakter und ihrer +Bildung, die sie doch immerhin genossen hatte, in keinem Falle weiter in +dieser Lage aushalten konnte. Und dennoch blieb die Frage offen, -- wie +hatte sie so lange, zu lange schon, in dieser Lage aushalten können, +ohne den Verstand zu verlieren, wenn sie nicht die Kraft besaß, sich ins +Wasser zu stürzen? Gewiß, er begriff, daß Ssonjas Lage eine häufige +Erscheinung in der Gesellschaft war, und unglücklicherweise bei weitem +keine einzelne Ausnahme. Aber dieser Umstand selbst, ihre Bildung und +ihr ganzes vorheriges Leben hätten sie doch sofort beim ersten Schritt +auf diesem widerwärtigen Wege töten müssen. Was hielt sie denn? Doch +nicht die Unzucht? Diese ganze Schande hatte sie offenbar nur mechanisch +berührt; die echte Unzucht war noch mit keinem Tropfen in ihr Herz +gedrungen; er sah es; sie stand völlig rein vor ihm da ... + +»Sie hat drei Wege,« dachte er, »entweder sich in den Kanal zu stürzen, +ins Irrenhaus zu kommen oder ... oder sich schließlich wirklich dem +Laster zu ergeben, das den Verstand betäubt und das Herz versteinert«. + +Der letzte Gedanke war ihm am widerwärtigsten; aber er war schon zu sehr +Skeptiker, er war jung, abstrakt und somit grausam, darum mußte er auch +glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt das Laster, am +allerwahrscheinlichsten sei. + +»Aber ist es denn möglich,« rief er innerlich aus, »soll sich auch +dieses Wesen, das sich noch die Reinheit des Herzens bewahrt hat, bewußt +in diesen abscheulichen stinkenden Schlamm hinabziehen lassen? Hat diese +Erniedrigung schon begonnen und konnte sie etwa dieses Leben schon aus +diesem Grunde leben, weil das Laster ihr nicht mehr widerwärtig +erschien? Nein, nein, es kann nicht sein!« rief er bei sich aus, wie +vorhin Ssonja laut gerufen, »nein, vom Wasser hielt sie bis jetzt der +Gedanke an die Sünde zurück und an _jene_ ... Wenn sie aber bis jetzt +den Verstand nicht verloren hat ... aber wer sagt es denn, daß sie den +Verstand noch nicht verloren hat? Ist sie denn bei gesundem Verstande? +Kann man denn so reden, wie sie es tut? Kann man denn bei gesundem +Verstande so urteilen, wie sie es tut? Kann man denn so über dem +Abgrunde, über dem stinkenden Schlamm sitzen und in der Gefahr, jeden +Augenblick hineingezogen zu werden, trotzdem mit den Händen sich gegen +die Mahnungen wehren und sich die Ohren zuhalten? Was, erwartet sie etwa +ein Wunder? Sicher, so ist es. Sind dies nicht Anzeichen von +Geistesstörung?« + +Er blieb hartnäckig bei diesem Gedanken stehen. Dieser Ausweg gefiel ihm +sogar besser, als jeder andere. Er begann sie aufmerksamer zu +betrachten. + +»Also du betest sehr oft zu Gott, Ssonja?« fragte er sie. + +Ssonja schwieg, er stand neben ihr und wartete auf die Antwort. + +»Was wäre ich denn ohne Gott?« flüsterte sie schnell und energisch, +indem sie ihn flüchtig mit funkelnden Augen anblickte und seine Hand +stark drückte. + +»Ja, es ist so, wie ich gedacht!« sagte er zu sich. + +»Und was tut Gott dir dafür?« fragte er sie weiter ausforschend. + +Ssonja schwieg lange, als könnte sie nicht antworten. Ihre schwache +Brust hob und senkte sich in heftiger Aufregung. + +»Schweigen Sie! Fragen Sie nicht! Sie sind es nicht wert ...« rief sie +plötzlich und sah ihn streng und zornig an. + +»Es ist so! Es ist so!« wiederholte er hartnäckig vor sich hin. + +»Alles tut er!« flüsterte sie schnell und schlug wieder die Augen +nieder. + +»Das ist ihr Ausweg! Das ist die Lösung!« entschied er bei sich und +betrachtete sie mit gesteigertem Interesse. + +Mit einem neuen, eigentümlichen, fast krankhaften Gefühle schaute er in +dieses bleiche magere und regelmäßig eckige Gesichtchen, diese sanften +blauen Augen, die mit so einem Feuer, mit so einem strengen energischen +Blick leuchten konnten, diesen kleinen Körper, der vor Empörung und Zorn +noch bebte, und dies alles erschien ihm noch merkwürdiger und +unfaßlicher. + +»Sie ist närrisch! Sie hat den religiösen Wahnsinn!« wiederholte er für +sich. + +Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal, wenn er auf und ab ging, hatte +er es bemerkt; jetzt nahm er es und sah es sich an. Es war das Neue +Testament in russischer Übersetzung. Das Buch, in Leder gebunden, war +alt und viel gebraucht. + +»Woher hast du es?« rief er. Sie stand immer noch auf derselben Stelle, +drei Schritte vom Tische entfernt. + +»Man hat es mir gebracht,« antwortete sie unwillig und ohne ihn +anzublicken. + +»Wer hat es dir gebracht?« + +»Lisaweta hat es gebracht, ich habe sie darum gebeten.« + +»Lisaweta! Wie seltsam!« dachte er. + +Alles erschien ihm bei Ssonja mit jeder Minute merkwürdiger, +wunderlicher. Er holte das Buch zum Lichte und begann darin zu blättern. + +»Wo steht hier die Geschichte vom armen Lazarus?« fragte er. + +Ssonja blickte unverwandt zu Boden und antwortete nicht. Sie stand ein +wenig abgewandt vom Tische. + +»Von der Auferstehung des Lazarus, wo ist es? Suche es mir, Ssonja.« + +Sie sah ihn mit einem Seitenblick an. + +»Nicht dort ... im vierten Evangelium steht es ...« flüsterte sie +streng, ohne sich ihm zu nähern. + +»Suche es und lies es mir vor,« sagte er, setzte sich, stützte die +Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Hand legend, blickte düster zur +Seite und bereitete sich vor zuzuhören. + +»Nach drei Wochen ist sie im städtischen Irrenhause! Ich werde +vielleicht selbst auch dort sein, wenn es nicht noch schlimmer enden +wird,« murmelte er vor sich hin. + +Ssonja trat unschlüssig an den Tisch, nachdem sie das sonderbare +Verlangen Raskolnikoffs mißtrauisch gehört hatte. Sie nahm das Buch. + +»Haben Sie es denn nicht gelesen?« fragte sie und blickte ihn unter der +Stirn hervor an. Ihre Stimme wurde immer ernster und ernster. + +»Vor langer Zeit ... Als ich noch zur Schule ging. Lies!« + +»Und haben Sie es nicht in der Kirche gehört?« + +»Ich ... bin nie in der Kirche gewesen. Gehst du oft hin?« + +»N--nein,« flüsterte Ssonja. + +Raskolnikoff lächelte. + +»Ich verstehe ... Du wirst wohl morgen auch nicht zur Beerdigung des +Vaters hineingehen?« + +»Ich werde hingehen. Ich war auch in der vorigen Woche in der Kirche ... +habe eine Totenmesse halten lassen.« + +»Für wen?« + +»Für Lisaweta. Man hat sie mit einem Beile erschlagen.« + +Seine Nerven wurden immer reizbarer. Der Kopf begann ihm zu schwindeln. + +»Warst du mit Lisaweta befreundet?« + +»Ja ... Sie war gerecht ... sie kam ... selten ... sie konnte nicht. Wir +lasen zusammen und ... sprachen. Sie wird Gott schauen!« + +Eigentümlich klangen für ihn diese Worte aus der Bibel und wieder erfuhr +er eine Neuigkeit, -- sie hatte mit Lisaweta geheimnisvolle +Zusammenkünfte gehabt und beide waren religiös wahnsinnig. + +»Man kann hier selbst geisteskrank werden! Es steckt an!« dachte er. + +»Lies!« rief er plötzlich hartnäckig und gereizt. + +Ssonja war noch immer unentschlossen. Ihr Herz klopfte. Sie wagte nicht +ihm vorzulesen. Er sah mit Qual die »unglückliche Geisteskranke« an. + +»Wozu denn? Sie glauben doch nicht daran? ...« flüsterte sie leise und +mit stockendem Atem. + +»Lies! Ich will es haben!« bestand er. »Du hast doch auch Lisaweta +vorgelesen.« + +Ssonja schlug das Buch auf und suchte die Stelle. Ihre Hände zitterten, +die Stimme versagte. Zweimal begann sie und konnte über das erste Wort +nicht hinwegkommen. + +»Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus, von Bethanien ...« sagte sie +endlich mit Anstrengung, aber bei dem dritten Worte zitterte plötzlich +ihre Stimme und brach ab, wie eine zu straff gespannte Saite. Der Atem +versagte ihr und die Brust schnürte sich zusammen. + +Raskolnikoff begriff zum Teil, warum Ssonja sich nicht entschließen +konnte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so entschiedener +und gereizter bestand er darauf. Er verstand zu gut, wie schwer es ihr +jetzt fiel, alles _eigene_ preiszugeben und zu enthüllen. Er hatte +begriffen, daß diese Gefühle tatsächlich ihr wahres und vielleicht seit +langer Zeit gehegtes _Geheimnis_ bildeten, vielleicht schon seit der +Jugendzeit, schon in der Familie, neben dem unglücklichen Vater und der +vor Kummer wahnsinnig gewordenen Stiefmutter, mitten unter den hungrigen +Kindern, ihrem häßlichen Geschrei und den fortwährenden Vorwürfen. Aber +gleichzeitig erkannte er, und zwar mit Sicherheit, daß sie trotz ihres +Grams und ihrer Furcht, in dem sie jetzt vorzulesen begann, doch gern, +sehr gern es tat und zwar vor ihm, damit er es höre und unbedingt +_jetzt_ -- mochte kommen, was da wolle! ... Er hatte das in ihren Augen +gelesen und es aus ihrer verzückten Erregung entnommen! ... Sie überwand +sich, unterdrückte den Krampf im Halse, der ihr die Stimme am Anfange +benommen hatte, und fuhr fort, aus dem elften Kapitel des Evangeliums +St. Johannis vorzulesen. So kam sie bis zum 19. Vers: »Und viele Juden +waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. +Als Martha nun hörete, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria +aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: Herr, wärest du +hiergewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch, +daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.« + +Hier blieb sie wieder stehn, in schamhafter Vorahnung, daß ihre Stimme +zittern und versagen würde ... »Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll +auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen +wird in der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin +die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob +er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird +nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: (und wie mit +Schmerz atemholend, las Ssonja deutlich und voller Kraft, als lege sie +selbst öffentlich ein Glaubensbekenntnis ab): + +>Herr, ja, ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die +Welt gekommen ist.<« + +Sie hielt einen Moment inne, erhob schnell zu _ihm_ die Augen, überwand +sich aber rasch und las weiter. Raskolnikoff saß und hörte unbeweglich +zu, ohne sich umzuwenden, den Ellbogen auf den Tisch gestützt und zur +Seite blickend. Sie las bis zum 32. Vers: + +»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sahe ihn, fiel sie zu seinen Füßen +und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht +gestorben. Als Jesus sie sahe weinen und die Juden auch weinen, die mit +ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst. Und sprach: +Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und siehe es. +Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er +ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem +Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht +stürbe?« + +Raskolnikoff wandte sich zu ihr um und sah sie mit Erregung an, -- ja, +es ist so! Sie zitterte am ganzen Körper in wahrem, wirklichem Fieber. +Er hatte es erwartet. Sie näherte sich den Worten über das größte und +unerhörte Wunder, und das Gefühl eines großen Triumphes erfaßte sie. +Ihre Stimme wurde klingend wie Metall; Triumph und Freude klangen darin +und stärkten sie. Die Zeilen verwischten sich, weil es vor ihren Augen +dunkel wurde, aber sie kannte auswendig, was sie las. Bei dem letzten +Vers: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat ...« ließ sie die +Stimme sinken und gab heiß und leidenschaftlich den Zweifel, den Vorwurf +und Tadel der ungläubigen, blinden Juden wieder, die gleich darauf, nach +einer Minute, wie vom Donner getroffen, niederfallen, schluchzen und +glauben werden ... »Auch er, er -- ebenfalls verblendet und ungläubig, +wird es gleich hören, auch er wird glauben, ja, ja, gleich, jetzt +gleich,« durchzuckte es sie und sie bebte in freudiger Erwartung. + +»Jesus aber ergrimmete abermals in ihm selbst und kam zum Grabe. Es war +aber eine Kluft und ein Stein daraufgelegt. Jesus sprach: Hebet den +Stein ab. Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, +er stinket schon; denn er ist vier Tage gelegen.« + +Sie betonte energisch das Wort -- _vier_. + +»Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, +du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein ab, da +der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: Vater, +ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich +allezeit erhörest; sondern um des Volkes Willen, das umher stehet, sage +ich es, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, +rief er mit lauter Stimme: Lazare, komme heraus! _Und der Verstorbene +kam heraus_ ...« (Laut und verzückt las sie es, zitternd und fröstelnd, +als sähe sie es mit eigenen Augen.) + +»Gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Angesicht +verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf +und laßt ihn gehen.« + +»_Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus +tat, glaubten an ihn._« + +Weiter las sie nicht und konnte auch nicht lesen, sie schloß das Buch +und stand schnell vom Stuhle auf. »Das ist alles über die Auferstehung +des Lazarus,« flüsterte sie abgerissen und streng und blieb unbeweglich, +zur Seite gekehrt, stehen, ohne zu wagen und als schäme sie sich, die +Augen zu ihm zu erheben. Ihr fieberhaftes Frösteln dauerte noch an. Der +Lichtstumpf begann in dem schiefen Leuchter auszugehen und beleuchtete +trübe in diesem armseligen Zimmer den Mörder und die Dirne, die so +sonderbar beim Lesen des ewigen Buches zusammengekommen waren. Es +vergingen fünf Minuten oder noch mehr. + +»Ich bin gekommen, um über eine Angelegenheit mit dir zu sprechen,« +sagte Raskolnikoff plötzlich laut und mit düsterem Gesichte, stand auf +und trat an Ssonja heran. Sie erhob schweigend die Augen zu ihm. Sein +Blick war besonders streng und drückte eine wilde Entschlossenheit aus. + +»Ich habe heute meine Verwandten verlassen,« sagte er, »meine Mutter und +Schwester. Ich werde nicht mehr zu ihnen gehen. Ich habe mit allem dort +gebrochen.« + +»Warum?« fragte ihn Ssonja bestürzt. Ihre Begegnung mit seiner Mutter +und Schwester hatte in ihr einen ungewöhnlichen, wenn auch ihr selbst +nicht klaren Eindruck hinterlassen. Die Mitteilung von seinem Bruche mit +ihnen hörte sie fast mit Entsetzen. + +»Ich habe jetzt dich allein,« fügte er hinzu. »Gehen wir zusammen ... +Ich bin zu dir gekommen. Wir sind beide verflucht und so wollen wir auch +beide zusammengehen!« + +Seine Augen leuchteten. »Wie ein Wahnsinniger!« dachte Ssonja. + +»Wohin sollen wir gehen?« fragte sie voll Angst und trat unwillkürlich +einen Schritt zurück. + +»Woher soll ich es wissen? Ich weiß nur eins, daß wir einen und +denselben Weg haben, das weiß ich sicher, -- und weiter nichts. Ein und +dasselbe Ziel.« + +Sie blickte ihn an und verstand nichts. Sie begriff nur eins, daß er +furchtbar, grenzenlos unglücklich sei. + +»Niemand von ihnen wird etwas verstehn, wenn du zu ihnen sprechen +wirst,« fuhr er fort, »ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich, +darum bin ich auch zu dir gekommen.« + +»Ich begreife nicht ...« flüsterte Ssonja. + +»Du wirst später begreifen. Hast du denn nicht ebenso gehandelt. Auch du +bist hinüber geschritten ... du hast es vermocht. Du hast Hand an dich +gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... _dein Leben_, das ist +einerlei! Du hättest im Geist und in der Vernunft leben können und wirst +auf dem Heumarkte enden ... Auch du kannst es nicht aushalten, und wenn +du _allein_ bleibst, wirst du den Verstand verlieren, wie ich auch. Du +bist schon jetzt wie geistesgestört; also müssen wir zusammengehen, ein +und denselben Weg! Gehen wir ihn also!« + +»Warum? Warum sagen Sie das?« sagte Ssonja eigentümlich berührt und tief +erregt durch seine Worte. + +»Warum? Weil es so nicht bleiben darf -- das ist der Grund! Man muß doch +endlich ernst und offen es bedenken, und nicht wie ein Kind weinen und +ausrufen, daß Gott es nicht zulassen wird! Nun, was wird geschehen, wenn +man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Die da ist nicht +bei Verstand und hat Schwindsucht, wird bald sterben und was soll aus +den Kindern werden? Wird denn Poletschka nicht auch zugrunde gehen? Hast +du denn nicht hier Kinder an allen Ecken gesehen, die ihre Mütter +betteln schicken? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter leben und in +welcher Umgebung. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist +ein siebenjähriger lasterhaft und ein Dieb. Und die Kinder sind doch +Ebenbilder Christi. >Ihrer ist das Himmelreich.< Er hat geboten, sie zu +achten und zu lieben, sie sind das künftige Menschengeschlecht ...« + +»Was soll, was soll ich denn tun?« wiederholte Ssonja nervös weinend und +händeringend. + +»Was tun? Ein für allemal das, was nötig ist, abbrechen und weiter +nichts, -- und das Leiden auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht? +Du wirst es nachher verstehen ... Freiheit und Macht, hauptsächlich +Macht! Über alle zitternde Kreaturen und über den ganzen Ameisenhaufen! +... Das ist das Ziel! Denk daran! Das ist mein Geleitwort dir auf den +Weg! Vielleicht spreche ich mit dir zum letzten Male. Wenn ich morgen +nicht zu dir komme, wirst du selbst von allem hören, und dann erinnere +dich meiner jetzigen Worte. Und irgendwann, nachher, nach Jahren, mit +der Zeit, wirst du auch vielleicht verstehn, was sie bedeuteten. Wenn +ich aber morgen zu dir komme, will ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet +hat. Leb wohl!« + +Ssonja fuhr vor Schreck zusammen. + +»Ja, wissen Sie denn, wer sie ermordet hat?« fragte sie und erstarrte +vor Entsetzen und blickte ihn wild an. + +»Ich weiß es und will es sagen ... Dir, nur dir allein! Ich habe dich +gewählt. Ich werde nicht kommen zu dir, um Verzeihung zu bitten, ich +will es bloß sagen. Ich habe dich seit langem gewählt, um es dir zu +sagen, damals noch, als dein Vater über dich erzählte, und ich dachte +daran, als Lisaweta noch lebte. Leb wohl. Gib mir nicht die Hand. +Morgen!« + +Er ging hinaus. Ssonja sah ihm wie einem Geistesgestörten nach; aber +auch sie selbst war wie verrückt und fühlte es. Der Kopf schwindelte +ihr. + +»Mein Gott, wie weiß er es, wer Lisaweta ermordet hat? Was bedeuteten +diese Worte? Es ist furchtbar!« + +Aber _ein_ Gedanke kam ihr nicht in den Sinn. Durchaus nicht! ... + +»Oh, er muß furchtbar unglücklich sein! ... Er hat Mutter und Schwester +verlassen. Warum? Was ist vorgefallen? Und was für Absichten hat er? Was +hat er zu ihr gesagt? Er hat ihren Fuß geküßt und gesagt ... gesagt ... +ja, er hat es deutlich gesagt, daß er ohne sie nicht mehr leben kann ... +Oh, Gott!« + +Ssonja verbrachte in Fieber und Träumen die ganze Nacht. Sie sprang +zuweilen auf, weinte, rang die Hände und bald verfiel sie wieder in +Fieberträume und sie träumte von Poletschka, Katerina Iwanowna, +Lisaweta, von Vorlesen aus dem Evangelium und von ihm ... ihm mit dem +bleichen Gesicht, mit den funkelnden Augen ... Er küßt ihr die Füße, +weinte ... Oh, Gott! + +Hinter der Türe rechts, hinter derselben Türe, die das Zimmer Ssonjas +von der Wohnung von Gertrude Karlowna Rößlich abteilte, war ein +Durchgangszimmer, seit langem unbewohnt, das zu der Wohnung der Frau +Rößlich gehörte und das zu vermieten war, worauf die Zettel an dem Tore +und an den Scheiben der Fenster, die zum Kanal hinausgingen, hinwiesen. +Ssonja war seit langem gewöhnt, dieses Zimmer als unbewohnt zu +betrachten. Indessen aber hatte in dem leeren Zimmer die ganze Zeit an +der Türe Herr Sswidrigailoff gestanden und heimlich gelauscht. Als +Raskolnikoff fortgegangen war, blieb er stehn, dachte nach, ging auf den +Fußspitzen in sein Zimmer, das an das leere grenzte, holte dort einen +Stuhl und stellte ihn leise an die Türe, die zu Ssonjas Zimmer führte. +Das Gespräch erschien ihm amüsant und bedeutungsvoll und hatte ihm sehr +gefallen, -- hatte ihm so gefallen, daß er einen Stuhl hinbrachte, um +künftig, zum Beispiel morgen schon, nicht wieder der Unannehmlichkeit +ausgesetzt zu sein, eine ganze Stunde stehen zu müssen, sondern sich's +bequemer zu machen, um in jeder Beziehung völlig befriedigt zu werden. + + + V. + +Als Raskolnikoff am anderen Morgen, punkt elf Uhr, in das Haus des +--schen Polizeireviers, in die Abteilung des Untersuchungsrichters +eingetreten war und gebeten hatte, ihn Porphyri Petrowitsch anzumelden, +war er verwundert, wie lange man ihn warten ließ, -- es vergingen +mindestens zehn Minuten, ehe man ihn rief. Seiner Berechnung nach mußte +man sich sofort auf ihn stürzen. Er stand indessen im Wartezimmer, es +gingen Menschen an ihm vorüber, die offenbar sich gar nicht für ihn +interessierten. In dem anderen Zimmer, das einer Kanzlei glich, saßen +und schrieben einige Schreiber, und es war ersichtlich, daß niemand auch +eine Ahnung davon hatte, -- wer und was Raskolnikoff sei? Mit unruhigem +und mißtrauischem Blicke beobachtete er alles umher, und suchte, -- ob +nicht neben ihm irgendeine Wache stehe, und ob er keinen geheimnisvollen +Wink sähe, bestimmt, auf ihn acht zu geben, daß er nicht entrinne? Aber +nichts von alledem, -- er sah bloß sorgenvolle Kanzleigesichter und +einige andere Leute, und niemand kümmerte sich um sein Kommen und Gehen. +Immer mehr befestigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser +geheimnisvolle Mensch von gestern, dieses Gespenst, das aus der Erde +hervorgestiegen schien, tatsächlich alles wußte und alles gesehen hatte, +-- man ihm, Raskolnikoff, nicht erlauben würde, jetzt so dazustehen und +ruhig abzuwarten? Und würde man auf ihn bis elf Uhr gewartet haben, bis +es ihm selbst eingefallen wäre, zu erscheinen? Es zeigte sich also, daß +dieser Mensch entweder noch nichts mitgeteilt hatte, oder ... oder er +einfach nichts wußte und mit seinen eigenen Augen nichts gesehen hatte, +-- ja, und wie konnte er es auch gesehen haben? -- und schließlich war +alles, was gestern mit ihm, Raskolnikoff, vorgefallen war, nichts als +eine Wahnerscheinung, die seine gereizte und kranke Einbildung +übertrieben hatte. Diese Vermutung hatte ja gestern schon während der +stärksten Aufregungen und der Verzweiflung in ihm sich zu befestigen +angefangen. Nachdem er sich dies alles jetzt noch einmal überlegt hatte +und sich zu einem neuen Kampfe anschickte, fühlte er plötzlich, daß er +zittre, -- und eine Empörung erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß er aus +Furcht vor dem verhaßten Porphyri Petrowitsch zittere. Am +schrecklichsten für ihn war es, mit diesem Menschen wieder +zusammenzutreffen; er haßte ihn über alle Maßen, grenzenlos, und +fürchtete direkt, seinen Haß irgendwie zu offenbaren. Seine Empörung +über sich selbst war so stark, daß das Zittern sofort aufhörte; er +schickte sich an, mit einer kalten und frechen Miene hineinzugehen und +versprach sich selbst, möglichst viel zu schweigen, zu beobachten und +zuzuhören und dieses Mal um jeden Preis seine krankhafte gereizte Natur +zu überwinden. In diesem Augenblicke rief man ihn zu Porphyri +Petrowitsch hinein. + +Es traf sich, daß in diesem Momente Porphyri Petrowitsch in seinem +Arbeitszimmer allein war. Sein Arbeitszimmer war weder klein, noch groß; +es standen darin ein großer Schreibtisch vor einem Divan, der mit +Wachstuch bezogen war, ein Schrank in einer Ecke und einige Stühle, -- +alles gehörte dem Staate und war aus gelbem poliertem Holze. In einer +Ecke der Hinterwand oder besser gesagt der Scheidewand, war eine +verschlossene Türe, -- also, mußten hinter dieser Wand sich noch andere +Zimmer befinden. Nach Raskolnikoffs Eintritt schloß Porphyri Petrowitsch +sofort die Türe, durch die er eingetreten war, und sie waren allein. Er +begrüßte seinen Besuch mit sichtlich fröhlichstem und freundlichstem +Ausdruck, und erst nach einigen Minuten merkte Raskolnikoff aus einigen +Anzeichen eine gewisse Bestürztheit, als sei er plötzlich aus dem +Konzept gebracht, oder als hatte man ihn auf etwas Verstecktem und +Geheimem ertappt. + +»Ah, Verehrtester! Da sind Sie ja ... in unserer Gegend ...« begann +Porphyri Petrowitsch und streckte ihm beide Hände entgegen. »Nun, nehmen +Sie Platz, Väterchen! Oder vielleicht haben Sie es nicht gern, daß man +Sie Verehrtester und ... Väterchen nennt, -- sozusagen _tout +court_{[7]}? Halten Sie es bitte nicht für familiär ... Bitte, hierher +auf den Divan.« + +Raskolnikoff setzte sich, ohne die Augen von ihm zu wenden. + +»Ja unserer Gegend,« Entschuldigung wegen Familiarität, das französische +»_tout court_{[7]}« und dergleichen mehr, dies alles waren +charakteristische Anzeichen. »Er hat mir beide Hände entgegengestreckt, +hat aber keine Hand gereicht, hat sie rechtzeitig zurückgezogen,« dachte +er mißtrauisch. Beide beobachteten einander, aber kaum begegneten sich +ihre Blicke, als sie beide mit Blitzesschnelle sie voneinander +abwandten. + +»Ich habe Ihnen diese Anmeldung ... über die Uhr gebracht ... hier haben +Sie es. Ist es richtig geschrieben, oder soll ich es umschreiben?« + +»Was? Die Anmeldung? Ja, so ... machen Sie sich keine Sorge, es ist +richtig,« sagte Porphyri Petrowitsch, als hätte er Eile, und erst +nachdem er das gesagt hatte, nahm er das Schriftstück und sah es durch. +»Ja, es ist richtig. Mehr ist auch nicht nötig,« bestätigte er noch +einmal schnell und legte das Papier auf den Tisch. + +Nach einer Minute, als er schon von etwas anderem sprach, nahm er es +wieder in die Hand und legte es in seinen Schreibtisch. + +»Ich glaube, Sie sagten gestern, daß Sie wünschten, mich ... in aller +Form ... über meine Bekanntschaft mit dieser ... Ermordeten zu fragen?« +begann wieder Raskolnikoff. »Nun, warum habe ich >ich glaube< gesagt?« +durchfuhr es ihn. »Warum beunruhige ich mich denn so, daß ich dieses +>ich glaube< hinzugefügt habe?« kam ihm alsbald ein zweiter Gedanke. Und +plötzlich empfand er, daß seine Zweifelsucht, nur bei der Berührung mit +Porphyri Petrowitsch, nur nach zwei Worten, nur von zwei Blicken, in +einem einzigen Augenblick schon ins Ungeheure gestiegen sei ... und daß +dies sehr gefährlich sei, -- seine Nerven wurden gereizt, die Erregung +steigerte sich. »Es ist ein Unglück! Ein Unglück! ... Ich werde mich +wieder versprechen.« -- + +»Ja, ja, ja! Haben Sie keine Sorge! Es hat Zeit, hat Zeit!« murmelte +Porphyri Petrowitsch und ging vor dem Tische auf und ab, wie +absichtslos. Bald eilte er zu dem Fenster, bald zum Schreibtisch, bald +zu dem anderen Tisch, bald mied er den mißtrauischen Blick +Raskolnikoffs, bald blieb er plötzlich stehen und sah ihm unverwandt ins +Gesicht. Sonderbar erschien dabei seine kleine, dicke und runde Gestalt, +die wie ein Gummiball überall hinrollte und sofort von den Wänden und +den Ecken absprang. + +»Wir haben Zeit, wir haben Zeit! ... Rauchen Sie? Haben Sie was zu +rauchen? Bitte, hier ist eine Zigarette,« fuhr er fort und reichte dem +Besucher Zigaretten ... »Wissen Sie, ich empfange Sie hier, meine +Wohnung aber ist hier hinter der Zwischenwand ... freie Dienstwohnung, +ich wohne jetzt noch in meiner alten, eigenen. Man mußte hier einige +kleine Reparaturen vornehmen. Jetzt ist alles fast in Ordnung ... eine +freie Dienstwohnung ist eine schöne Sache? Meinen Sie nicht?« + +»Ja, es ist eine schöne Sache,« antwortete Raskolnikoff und blickte ihn +fast spöttisch an. + +»Eine schöne Sache, eine schöne Sache ...« wiederholte Porphyri +Petrowitsch, als ob er an etwas ganz anderes denke, »ja! eine schöne +Sache!« rief er zum Schlusse laut, erhob plötzlich die Augen zu +Raskolnikoff und blieb zwei Schritte vor ihm stehen. + +Diese fortwährende dumme Wiederholung, daß eine Dienstwohnung eine +schöne Sache sei, widersprach sehr dem ernsten sinnenden und +rätselhaften Blicke, mit dem er jetzt seinen Besuch anstarrte. + +Dies aber reizte noch mehr die Wut Raskolnikoffs, so daß er eine +spöttische und ziemlich unvorsichtige Herausforderung nicht unterdrücken +konnte. + +»Sie wissen doch,« sagte er unerwartet, indem er ihn fast dreist +anblickte, und als empfände er einen Genuß von seiner Dreistigkeit, »daß +es eine juristische Regel, ein juristischer Kniff mancher +Untersuchungsrichter ist, -- zuerst von weitem her mit Kleinigkeiten, +oder auch mit etwas Ernstem aber Fernliegendem zu beginnen, um den zu +Verhörenden sozusagen zu ermutigen, oder besser gesagt, abzulenken, +seine Vorsicht einzuschläfern, um ihn nachher plötzlich und unversehens +mit einer verhängnisvollen und gefährlichen Frage zu betäuben, habe ich +recht? Das wird, glaube ich, in allen Lehrbüchern und Vorschriften bis +heute als unfehlbarer Kunstgriff festgehalten.« + +»Es ist richtig ... und Sie meinen, daß ich es mit der freien +Dienstwohnung bei Ihnen versucht habe ... ah?« + +Als Porphyri Petrowitsch dies gesagt hatte, kniff er die Augen zusammen +und blinzelte ihm zu; etwas Lustiges und Schlaues huschte über sein +Gesicht, die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, die Augen wurden +schmäler, die Gesichtszüge erweiterten sich, und plötzlich brach er in +ein nervöses langandauerndes Lachen aus, das seinen ganzen Körper +erschütterte, dabei sah er Raskolnikoff unentwegt in die Augen. +Raskolnikoff zwang sich in das Lachen einzustimmen. Als aber Porphyri +Petrowitsch sah, daß auch er lache, brach er in ein Gelächter aus, daß +ihm das Blut zu Kopf stieg. Raskolnikoffs Widerwillen überwog seine +Vorsicht, -- er hörte auf zu lachen, sein Gesicht verfinsterte sich und +er sah Porphyri Petrowitsch lange und voll Haß an während dieses +anhaltenden und wie absichtlich nicht aufhörenden Lachens. Übrigens war +die Unvorsichtigkeit beiderseits -- es war doch klar, daß Porphyri +Petrowitsch über seinen Besucher lachte und daß er über dessen +unverhohlenen Mißmut sich nicht im geringsten kümmerte. Das aber war für +Raskolnikoff sehr wichtig -- er hatte begriffen, daß Porphyri +Petrowitsch auch vorhin sich gar nicht verlegen gefühlt hatte, daß im +Gegenteil er, Raskolnikoff, wahrscheinlich in eine Falle geraten sei, +daß es hier etwas gab, was er nicht ahnte, daß vielleicht schon alles +vorbereitet sei, um sich im nächsten Augenblick zu zeigen und ihn zu +überrumpeln ... + +Er ging gerade auf das Ziel los, stand von seinem Platze auf und nahm +seine Mütze. + +»Porphyri Petrowitsch,« begann er gereizt, aber entschlossen, »Sie +äußerten gestern den Wunsch, daß ich zu einem Verhöre herkommen sollte.« +(Er betonte besonders das Wort _Verhör_.) »Ich bin gekommen, und wenn +Sie etwas wünschen, fragen Sie mich, sonst aber gestatten Sie mir, +wegzugehen. Ich habe keine Zeit, denn ich habe zu tun ... Ich muß zu der +Beerdigung eines Beamten, der überfahren worden ist und von dem ... Sie +auch ... schon wissen ...« fügte er hinzu, ärgerte sich aber sofort, daß +er das hinzugefügt hatte und wurde noch gereizter. »Ich bin des Ganzen +überdrüssig, hören Sie, und seit langem schon ... ich bin zum Teil auch +deshalb krank gewesen ... mit einem Worte,« schrie er fast, als er +fühlte, daß die Phrase über seine Krankheit sehr überflüssig war, »mit +einem Worte, -- belieben Sie mich entweder zu fragen oder zu entlassen, +und zwar sofort ... und wenn Sie mich fragen wollen, dann nicht anders, +als nach der gesetzlichen Form! Anders werde ich es nicht erlauben, und +darum sage ich Ihnen einstweilen, leben Sie wohl, da wir jetzt beide +nichts miteinander zu schaffen haben.« + +»Mein Gott! Ja, was ist mit Ihnen? Ja, worüber soll ich Sie denn +fragen,« sagte auf einmal Porphyri Petrowitsch aufgeregt, indem er +sofort den Ton und seine Miene änderte und aufhörte zu lachen, »bitte, +regen Sie sich doch nicht auf,« bemühte er sich um Raskolnikoff, bald +nötigte er ihn, seinen Platz wieder einzunehmen, bald lief er im Zimmer +umher, »es hat Zeit, es hat Zeit und alles sind doch bloß Kleinigkeiten! +Ich bin im Gegenteil so froh, daß Sie endlich zu mir gekommen sind ... +Ich empfange Sie als meinen Gast. Und dieses verfluchte Lachen bitte ich +Sie zu entschuldigen, Väterchen, Rodion Romanowitsch. -- Rodion +Romanowitsch, so ist doch Ihr Vatername, nicht wahr? ... Ich bin ein +nervöser Mensch. Sie haben mich durch Ihre witzige Bemerkung stark zum +Lachen gebracht; zuweilen schüttelt es mich wirklich, als wäre ich aus +Kautschuk, und das dauert manchmal eine halbe Stunde ... Ich neige zum +Lachen. Bei meiner Statur fürchte ich dadurch einmal einen Schlaganfall +zu bekommen. Ja, setzen Sie sich doch, warum stehn Sie? ... Bitte, +setzen Sie sich, Väterchen, sonst denke ich, daß Sie mir böse sind ...« + +Raskolnikoff schwieg, hörte zu und beobachtete ihn, noch immer zornig +und mit düsterem Gesichte. Er nahm Platz, legte aber die Mütze nicht aus +der Hand. + +»Ich will Ihnen, Väterchen Rodion Romanowitsch, von mir selbst etwas +sagen, um Ihnen meinen Charakter sozusagen zu erklären,« fuhr Porphyri +Petrowitsch fort, indem er im Zimmer hin und her eilte und wie vorhin +den Blick seines Gastes zu meiden schien. »Wissen Sie, ich bin ein alter +Junggeselle, ohne weltmännische Art und ohne Beziehungen, außerdem ein +abgetaner Mensch, der schon über die Reife hinaus und in Samen +geschossen ist ... Und Rodion Romanowitsch, haben Sie nicht auch schon +beobachtet, daß bei uns, das heißt bei uns in Rußland, und meistens in +unseren Petersburger Kreisen, wenn zwei kluge Menschen zusammenkommen, +die einander noch nicht gut kennen, aber sich sozusagen gegenseitig +achten, wie wir jetzt zusammengekommen sind, so können sie kaum vor +Ablauf einer halben Stunde ein Gesprächsthema finden, -- sie sitzen, +starren einander an und genieren sich. Alle haben einen Gesprächsstoff, +Damen zum Beispiel ... Leute aus der großen Welt zum Beispiel haben +immer ein Thema zur Unterhaltung, _c'est de rigueur_{[8]}. Die Leute +aber aus den mittleren Schichten, das heißt denkende Menschen, wie wir, +-- sind alle verlegen und nicht gesprächig. Woher kommt das, Väterchen? +Haben wir keine gemeinsamen Interessen, oder sind wir zu ehrlich und +wollen einander nicht betrügen, ich weiß es nicht? Ah? Wie meinen Sie? +Legen Sie doch bitte die Mütze fort, es sieht so aus, als wollten Sie +gleich fortgehen, das ist wirklich peinlich ... Ich freue mich im +Gegenteil sehr, daß Sie hier sind ...« + +Raskolnikoff legte die Mütze weg, verhielt sich aber schweigend und +hörte ernst und mit düsterem Gesichte dem leeren und verworrenen +Geschwätz von Porphyri Petrowitsch zu. + +»Will er tatsächlich mit seinem dummen Geschwätz meine Aufmerksamkeit +ablenken?« dachte er. + +»Ich kann Ihnen leider keinen Kaffee anbieten, es geht hier nicht an; +doch warum soll man sich nicht fünf Minuten mit einem guten Bekannten +zerstreuen,« redete Porphyri Petrowitsch ohne Unterbrechung fort, »und +wissen Sie, alle diese dienstlichen Pflichten ... aber seien Sie bitte, +Väterchen, nicht böse, daß ich in einem fort auf und ab gehe; +entschuldigen Sie, Väterchen, ich fürchte sehr, Sie zu kränken, Bewegung +aber tut mir einfach nötig. Ich sitze die ganze Zeit und bin sehr froh, +so fünf Minuten herumgehen zu können ... Hämorrhoiden ... ich will mich +durch Gymnastik behandeln; man erzählt, daß Staatsräte, wirkliche +Staatsräte und sogar Geheimräte, sehr gern ab und zu über die Schnur +springen; ja, ja, die Wissenschaft in unserem Jahrhundert ... leistet +viel ... Und diese dienstlichen Pflichten, Verhöre und diese ganzen +Formalitäten ... Sie erwähnten, Väterchen, soeben etwas von Verhören ... +ja, wissen Sie, Väterchen Rodion Romanowitsch, diese Verhöre verwirren +zuweilen den Verhörer selbst mehr als den zu Verhörenden ... Das haben +Sie, Väterchen, sehr richtig und witzig soeben bemerkt« (Raskolnikoff +hatte gar keine derartige Bemerkung gemacht). -- »Man wird konfus! +Wirklich, man wird konfus, und immer hat man ein und dasselbe, immer ein +und dasselbe, es geht in einer Leier so fort! Die Reform ist im Anzuge, +wir werden wenigstens einen anderen Titel erhalten, he--he--he! Und was +unser Verfahren, über das Sie vorhin so gelungen sprachen, anbetrifft, +so bin ich ganz Ihrer Meinung. Aber, sagen Sie bitte, welcher +Angeklagte, und wäre es der dümmste Bauer, wüßte nicht, daß man zuerst +anfängt, ihn durch nebensächliche Fragen einzuschläfern, wie Sie +treffend bemerkten, um ihn dann plötzlich mit einem Schlage zu betäuben, +he--he--he! ihn zu betäuben, nach Ihrem glücklichen Ausdruck! +He--he--he! Also, Sie dachten tatsächlich, daß ich es bei Ihnen mit der +Dienstwohnung versuchen wollte ... he, he! Sie sind ein spöttischer +Mensch! Also, ich werde nicht mehr darüber reden! Ach ja, beiläufig, das +eine Wort zieht ja das andere nach, und ein Gedanke ruft den andern, -- +Sie haben vorhin auch die gesetzliche Form erwähnt, wissen Sie, in bezug +auf das Verhör ... Wozu denn eine gesetzliche Form? Die Form ist, wissen +Sie, in vielen Fällen ein Unsinn. Manchesmal ist es vorteilhafter, in +aller Freundschaft miteinander zu sprechen. Die Form läuft nie davon, +darin gestatte ich mir Sie zu beruhigen; ja, und was ist eigentlich die +Form, frage ich Sie? Die gesetzliche Form darf nicht bei jedem Schritt +den Untersuchungsrichter hemmen. Die Arbeit eines Untersuchungsrichters +ist doch sozusagen freie Kunst in ihrer Art, oder etwas Ähnliches ... +he! he!« + +Porphyri Petrowitsch machte für einen kurzen Augenblick eine Pause. Er +redete in einem fort, ohne zu ermüden, bald sinnloses und inhaltloses +Zeug, bald machte er plötzlich rätselhafte Anspielungen und verlor sich +von neuem in sinnloses Geschwätz. Er lief schon fast im Zimmer herum und +bewegte immer schneller und schneller seine dicken kurzen Beine; blickte +dabei die ganze Zeit zu Boden, hatte die rechte Hand auf dem Rücken und +machte mit der linken allerhand Bewegungen, die jedesmal nur wenig mit +seinen Worten übereinstimmten. Raskolnikoff bemerkte plötzlich, daß er +ein paarmal neben der Tür stehen blieb und zu lauschen schien ... + +»Wartet er etwa auf etwas?« dachte er. + +»Und Sie sind vollkommen im Rechte,« begann von neuem Porphyri +Petrowitsch und blickte heiter und mit ungewöhnlicher Treuherzigkeit +Raskolnikoff an, was jenen zu vermehrter Achtsamkeit veranlaßte. »Sie +haben tatsächlich recht, daß Sie über die Rechtsformen sich so lustig +machen, he--he! Diese tiefsinnigen psychologischen Kunstgriffe -- einige +natürlich nur -- sind äußerst lächerlich, ja und vielleicht nutzlos, +wenn sie durch die gesetzliche Form zu sehr beschränkt sind. Ja ... ich +komme wieder auf die gesetzliche Form zurück, -- also, wenn ich den +einen oder den anderen sozusagen für den Verbrecher halte, oder besser +gesagt, ihn im Verdacht habe, in irgendeiner mir übertragenen +Angelegenheit ... Sie bereiten sich doch vor, Jurist zu werden, Rodion +Romanowitsch?« + +»Ja, ich wollte es werden ...« + +»Nun, da möchte ich Ihnen sozusagen ein Beispiel für die Zukunft +anführen, -- das heißt, glauben Sie nicht, daß ich es wage, Sie zu +belehren, -- Sie lassen doch selber große Artikel über Verbrechen +drucken! Nein, ich will Ihnen nur, als eine Tatsache, ein Beispiel +erwähnen, -- also falls ich den einen oder den anderen für den +Verbrecher halten sollte, fragt es sich, soll ich ihn vor der Zeit +beunruhigen, wenn ich auch Beweise gegen ihn habe? Den einen muß ich zum +Beispiel schneller verhaften, ein anderer aber hat einen ganz anderen +Charakter, wirklich, -- warum soll man ihm denn nicht gestatten, in der +Stadt herumzuspazieren -- he--he--he! Nein, ich sehe, daß Sie nicht ganz +verstehn, ich will es Ihnen deutlicher erklären, -- wenn ich ihn zum +Beispiel zu früh einsperre, so gebe ich ihm vielleicht dadurch eine +moralische Stütze, sozusagen, he--he! Sie lachen?« (Raskolnikoff dachte +gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Zähnen und +wandte seinen glühenden Blick von den Augen Porphyri Petrowitschs nicht +ab.) »Das kann bei dem einen Subjekt genau das richtige sein, denn die +Menschen sind verschieden, und da muß vor allem die Praxis entscheiden. +Sie werden jetzt einwenden -- und die Beweise! Ja, nehmen wir an, es +sind Beweise da, aber Beweise haben doch meistenteils, Väterchen, zwei +Seiten, und ich bin doch Untersuchungsrichter, also auch nur ein +schwacher Mensch, und ich gestehe, daß ich die Untersuchung sozusagen +mathematisch klarstellen möchte, und solch einen Beweis zu erbringen +wünsche, daß es so klar wäre, wie zweimal zwei vier ist! Daß es einer +klaren unbestreitbaren Tatsache gleiche! Wenn ich ihn aber vor der Zeit +einsperre, -- und wäre ich fest überzeugt, daß er es ist, -- so kann ich +mich selbst vielleicht der Mittel berauben, ihn weiter zu überführen, +und warum? Weil ich ihm sozusagen eine bestimmte Lage gebe, ihn +sozusagen psychologisch bestimme und festlege, und da wird er sich vor +mir in seine Schale verkriechen, -- er wird endlich begreifen, daß er +Gefangener ist. Man erzählt sich, daß kluge Leute in Sebastopol sofort +nach der Schlacht bei Alma schreckliche Angst hatten, daß der Feind +gleich darauf einen offenen Sturm auf Sebastopol machen und die Stadt +einnehmen würde; als sie aber sahen, daß der Feind eine regelrechte +Belagerung vorzog und die erste Parallele zog, da haben sich die klugen +Leute ordentlich gefreut und sich beruhigt, -- die Sache zieht sich +wenigstens noch zwei Monate hin, denn es dauert ein Endchen, ehe sie +durch eine regelrechte Belagerung die Stadt einnehmen können. Sie lachen +wieder, Sie glauben wieder nicht? Sie sind selbstverständlich auch im +Recht. Sie sind im Recht, Sie sind im Recht! Ich bin mit Ihnen +einverstanden, es sind alles Einzelfälle; der angeführte Fall steht +tatsächlich vereinzelt da! Aber sehen Sie, lieber Rodion Romanowitsch, +man muß dabei folgendes nicht außer acht lassen, -- es gibt doch keinen +allgemeinen Fall, einen solchen, auf den alle rechtlichen Formen und +Regeln passen, nach dem sie berechnet und in Bücher eingetragen sind, +aus dem bloßen Grunde, weil jede Tat, jedes Verbrechen, zum Beispiel +sofort, kaum daß es in Wirklichkeit geschehen ist, sich in einen +vollkommenen Einzelfall verwandelt und zuweilen in einen solchen, der +einem früheren ganz und gar nicht ähnlich ist. Zuweilen passieren in +dieser Hinsicht ganz komische Sachen. Wenn ich nun einen Herrn ganz +allein lasse, ihn nicht festnehme und nicht beunruhige, aber er soll +jede Stunde und jeden Augenblick wissen oder wenigstens ahnen, daß ich +alles weiß, sein ganzes Geheimnis, Tag und Nacht ihn beobachten lasse, +über ihn rastlos wache, und wenn er sich bewußt unter ewigem Verdachte +und in ewiger Angst fühlt, -- bei Gott, da wird er nicht aus und ein +wissen, er wird tatsächlich selbst kommen und wird vielleicht noch etwas +tun, was dem Zweimalzwei bestimmt ähnlich sein wird, was sozusagen wie +ein mathematisches Exempel aussieht, -- und das ist sehr angenehm. Das +kann auch mit einem plumpen Bauern geschehen, aber um so mehr mit +unsereinem, einem modern gebildeten und nach einer bestimmten Richtung +entwickelten Menschen! Denn, mein Lieber, es ist sehr wichtig zu wissen, +in welcher Richtung ein Mensch entwickelt ist. Und die Nerven, die +Nerven, die haben Sie ganz vergessen! Die sind doch heutzutage krank, +schlecht und gereizt! ... Und die Galle, -- wieviel Galle sie alle +haben! Das ist ja, will ich Ihnen nur sagen, in manchen Fällen eine +Fundgrube in ihrer Art! Und warum soll ich beunruhigt sein, daß er +ungefesselt in der Stadt herumgeht? Mag er, mag er vorläufig spazieren +gehen; ich weiß auch ohnedem, daß er mein Opfer ist und niemals von mir +fortläuft! Ja, und wohin soll er auch fliehen, he--he! Ins Ausland etwa? +Ein Pole wird ins Ausland fliehen, aber nicht er, um so mehr, da ich ihn +beobachte und Maßregeln ergriffen habe. Soll er ins Innere des +Vaterlandes etwa fliehen? Dort leben aber Bauern, echte, ungewaschene +Russen; da wird ein modern entwickelter Mensch eher das Gefängnis +vorziehen, als mit solchen Ausländern, wie es unsere Bauern sind, leben, +he--he--he! Aber das ist Unsinn, sind reine Äußerlichkeiten. Was heißt, +-- er wird fliehen! Das ist formell gemeint, es ist nicht die +Hauptsache; er wird mir nicht entfliehen, nicht, weil er nirgends +hinfliehen könnte, -- er wird mir _psychologisch_ nicht entfliehen, +he--he! Was sagen Sie zu dem Ausdruck? Er wird dem Naturgesetze nach mir +nicht entfliehen, wenn er auch irgendwohin fliehen könnte. Haben Sie +einen Schmetterling vor einem Lichte gesehen? Nun, er wird auch so die +ganze Zeit um mich, wie um ein Licht, herumflattern; die Freiheit wird +ihm unlieb werden, er wird nachdenklich werden, sich verwirren, sich +selbst wie in ein Netz verwickeln und sich zu Tode zappeln! ... Nicht +das allein, -- er wird mir selbst irgendein mathematisches Exempel, wie +Zweimalzwei, bringen, -- wenn ich ihm bloß genügend Zeit dazu lasse ... +Und er wird die ganze Zeit, wird die ganze Zeit mich umkreisen und immer +kleinere und kleinere Kreise ziehen und -- bardautz! Er wird mir direkt +in den Mund fliegen und ich werde ihn verschlucken, und das ist aber +sehr angenehm, he--he--he! Sie glauben nicht?« + +Raskolnikoff antwortete nicht, er saß bleich und unbeweglich und sah die +ganze Zeit Porphyri Petrowitsch starr ins Gesicht. + +»Die Lehre ist gut!« dachte er erschauernd. »Das ist nicht mehr ein +Spiel, wie die Katze mit der Maus, wie es gestern der Fall war. Und er +zeigt mir doch nicht nutzlos seine Macht und ... souffliert mir; er ist +dazu zu klug ... Er verfolgt einen anderen Zweck, aber was für einen? +He, es ist Unsinn, Bruder, du willst mir nur Furcht einjagen und spielst +den Schlauen! Du hast keine Beweise und der Mann von gestern existiert +gar nicht! Du willst mich bloß verwirren, vorzeitig reizen und in diesem +Zustande auf mich losschlagen, aber nein, du schlägst vorbei! Aber +warum, warum souffliert er mir in dieser Weise? ... Rechnet er etwa mit +meinen kranken Nerven! ... Nein, Bruder, das wird dir nicht gelingen, +obwohl du etwas vorbereitet hast ... Nun, wollen wir mal sehen, was du +da vorbereitet hast.« + +Und er nahm alle Kräfte zusammen, um sich auf eine furchtbare und +unbekannte Katastrophe gefaßt zu machen. Zuweilen fühlte er einen +heftigen Drang, sich auf Porphyri Petrowitsch zu stürzen und ihn auf der +Stelle zu erwürgen. Als er hereintrat, fürchtete er sich vor dieser Wut. +Er fühlte, daß seine Lippen trocken waren, sein Herz klopfte und daß der +Schaum vor dem Munde eingetrocknet war. Er beschloß trotzdem zu +schweigen. Er begriff, daß das die beste Taktik in seiner Situation sei, +weil er nicht bloß keine Gelegenheit hatte, sich zu versprechen, sondern +im Gegenteil durch sein Schweigen den Gegner reizen konnte, und jener +vielleicht noch sich selbst verraten würde. Er hoffte wenigstens darauf. + +»Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sie meinen, daß ich Ihnen +unschuldige Späße erzähle,« sagte Porphyri Petrowitsch, indem er +lustiger wurde, vor Vergnügen ununterbrochen kicherte und wieder im +Zimmer herumwanderte. »Sie haben selbstverständlich ein Recht dazu. Gott +hat mir so eine Gestalt verliehen, daß sie nur lächerliche Gedanken bei +anderen erregt; bin der Possenreißer, aber ich will nur eins sagen und +wiederhole noch einmal, entschuldigen Sie mich alten Mann, Väterchen +Rodion Romanowitsch, -- Sie sind noch ein junger Mann, sozusagen in der +Jugendblüte, und schätzen darum am höchsten, wie überhaupt die Jugend, +den menschlichen Verstand. Schärfe des Verstandes und abstrakte +Vernunftschlüsse ziehen Sie an. Das ist genau, wie mit dem früheren +österreichischen Hofkriegsrat, soweit ich über Kriegsereignisse urteilen +kann, -- auf dem Papier hatten sie Napoleon geschlagen und gefangen +genommen, haben in ihrem Arbeitszimmer alles in der scharfsinnigsten +Weise ermessen und berechnet, und zuguterletzt ergibt sich General Mack +mit seiner ganzen Armee, he--he--he! Ich sehe, ich sehe, Väterchen +Rodion Romanowitsch, Sie lachen über mich, daß so ein Zivilist, wie ich, +Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführt. Ja, was soll ich tun, ich +habe einmal diese Schwäche, liebe alles Militärische und lese sehr gern +alle diese Kriegsrelationen ... ich habe entschieden in der Wahl meines +Berufes gefehlt. Ich sollte als Militär dienen, gewiß, zum Napoleon +hätte ich es nicht gebracht, höchstens bis zum Major, he--he--he! Nun, +ich will Ihnen jetzt die volle Wahrheit in bezug auf _den Einzelfall_ +sagen, mein Lieber. Wirklichkeit und Natur, mein Herr, sind wichtige +Dinge und machen zuweilen die allerglänzendste Berechnung zuschanden! +He, hören Sie auf mich, einen alten Mann, ich spreche im Ernst. Rodion +Romanowitsch,« -- (indem er dies sagte, schien der kaum +fünfunddreißigjährige Porphyri Petrowitsch tatsächlich gealtert zu sein, +-- sogar seine Stimme hatte sich verändert und sie schien wie verfallen) +-- »und außerdem bin ich aufrichtig ... Bin ich nicht aufrichtig? Was +meinen Sie? Mir scheint, ich bin es im vollen Maße, -- teile Ihnen +solche Dinge umsonst mit, und verlange dafür gar keine Belohnung, +he--he--he! Nun, also, ich fahre fort, -- Scharfsinn ist meiner Meinung +nach ein prächtiges Ding; er ist sozusagen eine Zierde der Natur und ein +Trost des Lebens, und kann solche Kunststücke produzieren, daß zuweilen +ein armer Untersuchungsrichter beim besten Willen sie nicht erraten +kann, der zudem von seiner eigenen Phantasie geleitet wird, wie es oft +genug vorkommt, denn er ist auch nur ein Mensch! Aber die Natur hilft +dem armen Untersuchungsrichter, das ist das Unglück! Daran aber denkt +die von ihrem Scharfsinn hingerissene Jugend nicht, >die über alle +Hindernisse hinwegschreitet<, -- wie Sie sich scharfsinnig und trefflich +auszudrücken beliebten. Er wird -- nehmen wir es an -- lügen, das heißt, +der Mensch, _der Einzelfall_, der Inkognito, und wird ausgezeichnet und +in der schlauesten Weise lügen; nun müßte er, sollte man meinen, +triumphieren und die Früchte seines Scharfsinnes genießen, aber es kommt +ein Krach, -- bei der interessantesten, skandalösesten Stelle fällt er +in Ohnmacht. Angenommen, es kann von Krankheit und zuweilen von der +dumpfen Luft in einem Zimmer kommen, aber trotzdem! Trotzdem ist der +Gedanke gegeben! Er hat unvergleichlich gelogen, hat aber nicht +verstanden, mit der Natur zu rechnen. Darin aber lag die Tücke! Ein +anderes Mal läßt er sich von der Lebhaftigkeit seines Scharfsinnes +hinreißen, beginnt einen Menschen, der ihn im Verdacht hat, zum Narren +zu halten, erbleicht, wie absichtlich, wie im Scherze, aber erbleicht +_schon zu natürlich_, so daß es zu sehr wirklichem Erbleichen gleicht, +und wieder ist der Gedanke gegeben! Wenn ihm auch der Betrug zum ersten +Male gelingt, aber über Nacht denkt jener nach und überlegt es sich +anders, wenn er nicht dumm ist. Und so geschieht es auf Schritt und +Tritt! Das ist noch nichts, -- er beginnt sich selbst vorzudrängen, +beginnt sich hineinzumischen, wo man ihn nicht fragt, spricht in einem +fort über Dinge, über die er im Gegenteil schweigen müßte, läßt +allerhand Allegorien vom Stapel, he--he!, kommt selbst und fragt, warum +man ihn so lange nicht festnimmt, he--he--he! und das kann auch mit dem +scharfsinnigsten Menschen, mit einem Psychologen und Literaten, +passieren! Die Natur ist ein Spiegel, der durchsichtigste Spiegel! Sieh +hinein und betrachte dich, ja so ist es! Ja, warum sind Sie so blaß +geworden, Rodion Romanowitsch, ist es für Sie hier zu dumpf, soll ich +nicht das Fenster aufmachen?« + +»Oh, bemühen Sie sich, bitte, nicht,« -- rief Raskolnikoff aus und +lachte plötzlich laut, -- »bitte, bemühen Sie sich nicht.« + +Porphyri Petrowitsch blieb vor ihm stehen, wartete eine Weile und +stimmte dann in das Lachen ein. Raskolnikoff erhob sich vom Diwan und +brach plötzlich seinen Lachanfall ab. + +»Porphyri Petrowitsch!« -- sagte er laut und deutlich, obwohl er kaum +auf den zitternden Füßen stehen konnte, -- »ich sehe endlich klar, daß +Sie mich positiv im Verdacht haben, diese Alte und ihre Schwester +Lisaweta ermordet zu haben. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß ich all +dessen längst überdrüssig bin. Wenn Sie finden, daß Sie ein Recht haben, +mich gesetzlich zu verfolgen, so verfolgen Sie mich, zu arretieren, so +arretieren Sie mich. Aber ich erlaube nicht, daß man mir ins Gesicht +lacht und mich quält ...« + +Seine Lippen zitterten plötzlich, die Augen loderten vor Wut und die bis +jetzt gemäßigte Stimme schwoll an. »Ich erlaube es nicht!« rief er +plötzlich und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch, -- +»hören Sie, Porphyri Petrowitsch? Ich erlaube es nicht!« + +»Ach, mein Gott, was ist Ihnen!« rief Porphyri Petrowitsch, offenbar +völlig erschreckt; -- »Väterchen! Rodion Romanowitsch! Lieber! Was ist +mit Ihnen?« + +»Ich erlaube es nicht!« -- rief Raskolnikoff noch einmal. + +»Leise, Väterchen! Man könnte es hören und herkommen! Und, was wollen +wir ihnen dann sagen, bedenken Sie!« -- flüsterte Porphyri Petrowitsch +entsetzt und näherte sein Gesicht dem Raskolnikoffs. + +»Ich erlaube es nicht, ich erlaube es nicht!« -- wiederholte +Raskolnikoff mechanisch, aber plötzlich ganz leise. + +Porphyri Petrowitsch wandte sich schnell um und lief, um das Fenster zu +öffnen. + +»Frische Luft hereinlassen! und etwas Wasser müssen Sie trinken, mein +Lieber, es ist ja ein Anfall!« -- und er wollte zur Türe stürzen, um +nach Wasser zu schicken, fand jedoch hier selbst in einer Ecke eine +volle Karaffe. + +»Da, Väterchen, trinken Sie,« -- flüsterte er, mit der Karaffe zu ihm +eilend, -- »vielleicht hilft es ...« + +Die Angst und selbst die Teilnahme von Porphyri Petrowitsch waren so +natürlich, daß Raskolnikoff verstummte und mit Neugier ihn betrachtete. +Das Wasser nahm er nicht an. + +»Rodion Romanowitsch! Lieber! Ja, in dieser Weise werden Sie noch den +Verstand verlieren, ich versichere Sie! Ach! Trinken Sie! Trinken Sie +wenigstens etwas!« + +Er zwang ihn doch, das Glas Wasser in die Hand zu nehmen. Raskolnikoff +führte es mechanisch an die Lippen, besann sich aber und stellte es mit +Widerwillen auf den Tisch. + +»Ja, Sie haben einen kleinen Anfall gehabt! In dieser Weise werden Sie, +mein Lieber, wieder, wie früher schon, krank,« -- begann mit +freundschaftlicher Teilnahme Porphyri Petrowitsch, und anscheinend noch +fassungslos. -- »Mein Gott! Ja, wie kann man sich so wenig schonen? +Gestern war Dmitri Prokofjitsch bei mir gewesen, -- ich gebe zu, ich +habe einen schlimmen, böswilligen Charakter, -- aber was sie alles für +Schlüsse daraus ziehen ... Mein Gott! Er kam gestern zu mir, als Sie +fortgegangen waren, wir saßen beim Mittagessen, er redete und redete, +ich staunte bloß ... kam er etwa in Ihrem Auftrage? Ja, so setzen Sie +sich doch, Väterchen, nehmen Sie Platz um Christi willen!« + +»Nein, er kam nicht in meinem Auftrage! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen +gehen und warum er zu Ihnen gehen würde,« -- antwortete Raskolnikoff +scharf. + +»Sie wußten es?« + +»Ich wußte es. Nun, was ist denn dabei?« + +»Ja, Väterchen, Rodion Romanowitsch, ich weiß noch ganz andere Dinge von +Ihnen; ich weiß alles! Ich weiß auch, wie Sie, als es dunkelte, in der +Nacht _eine Wohnung zu mieten_ gingen, an der Glocke klingelten, und +nach dem Blut fragten, und die Arbeiter und die Hausknechte verwirrt +machten. Ich verstehe auch Ihre damalige Seelenstimmung ... aber Sie +werden sich in dieser Weise um den Verstand bringen, bei Gott! Werden +zugrundegehen! Eine starke, edle Entrüstung kocht in Ihnen gegen die +empfangenen Kränkungen, zuerst vom Schicksal, dann von den +Polizeibeamten, darum stürzen Sie auch hierhin und dorthin, um sozusagen +schneller alle zum Sprechen zu bringen, und um allem mit einem Male ein +Ende zu machen, denn dieser Unsinn und dieser ganze Verdacht ist Ihnen +zum Überdruß. Ist es nicht so? Habe ich die Stimmung erraten? ... Und in +dieser Weise werden Sie nicht allein zugrunde gehen, sondern ziehen auch +unseren Rasumichin hinein, er ist doch dafür ein _zu guter_ Mensch, Sie +wissen es ja selbst. Bei Ihnen ist es eine Krankheit, bei ihm Tugend ... +die Krankheit könnte auch ihn anstecken ... Ich will Ihnen, Väterchen, +wenn Sie sich beruhigt haben, etwas erzählen ... aber setzen Sie sich +doch um Christi willen, Väterchen! Bitte, ruhen Sie sich aus, Sie sehen +blaß aus, ja, setzen Sie sich doch!« Raskolnikoff setzte sich hin, das +Zittern ging vorüber, und sein ganzer Körper begann zu glühen. Mit +tiefem Erstaunen und aufmerksam hörte er dem erschrockenen und +freundschaftlich um ihn bemühten Porphyri Petrowitsch zu. Aber er +glaubte keinem einzigen seiner Worte, obwohl er eine seltsame Neigung +empfand zu glauben. Die unerwarteten Worte Porphyri Petrowitsch' über +die Wohnung hatten ihn äußerst bestürzt. -- »Wie, er weiß also von der +Wohnung?« -- dachte er plötzlich, -- »und erzählt es mir selbst!« + +»Ja, in unserer Gerichtspraxis gab es einmal einen fast ähnlichen Fall, +auch einen psychopathischen, krankhaften Fall,« -- fuhr Porphyri +Petrowitsch schnell fort, -- »da hat auch einer einen Mord sich +zugedichtet und wie, -- eine ganze Halluzination führte er an, brachte +Tatsachen, erzählte einzelne Umstände, verwirrte alle und machte jeden +konfus, und aus welchem Grunde? Er selbst war völlig ohne Absicht und +Wissen mit die Ursache an dem Morde, und als er erfuhr, daß er den +Mördern Veranlassung zu ihrer Tat gegeben hatte, wurde er schwermütig +und tiefsinnig, hatte Erscheinungen, verlor ganz den Verstand und +bildete sich ein, daß er selbst der Mörder sei! Aber der Senat klärte +schließlich die Sache auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und +in Pflege gegeben. Dank dem Senate! Ach, ja, ja! Ja, wie soll es mit +Ihnen enden, Väterchen? In dieser Weise kann man leicht an Nervenfieber +erkranken, wenn man solche Anwandlungen hat, seine Nerven zu reizen, +nachts die Klingel zu ziehen und nach Blut zu fragen! Ich habe diese +ganze Psychologie in der Praxis studiert. In dieser Weise packt es einen +Menschen zuweilen, aus dem Fenster oder von einem Turme zu springen, und +es ist eine verführerische Empfindung. Ebenso ist es auch mit dem +Klingelziehen ... Es ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, Sie sind +krank! Sie vernachlässigen Ihre Krankheit zu sehr. Sie sollten zu einem +erfahrenen Arzt hingehen, der Dicke kann Ihnen doch nicht viel nützen! +... Sie haben Fieberwahn! Sie tun alles nur im Fieberwahne! ...« + +Auf einen Augenblick drehte sich alles vor Raskolnikoffs Augen. + +»Ist es möglich,« -- schwirrte es in seinem Kopfe, -- »ist es möglich, +daß er auch jetzt lügt? Es ist undenkbar, unmöglich!« -- er stieß diesen +Gedanken von sich, da er fühlte, in welchen Grad von Zorn und Raserei +ihn derselbe bringen müßte, und daß er vor Wut den Verstand verlieren +könne. + +»Das war nicht im Fieberwahn, das war im wachen Zustande!« -- rief er +aus und spannte alle Kräfte seines Verstandes an, um das Spiel Porphyri +Petrowitsch' zu durchschauen. -- »Im wachen Zustande, bei vollem +Verstande! Hören Sie?« + +»Ja, ich verstehe und höre es! Sie sagten auch gestern, daß es nicht im +Fieberwahne war, Sie betonten sogar, daß es nicht im Fieberwahne war! +Ich begreife alles, was Sie sagen! Ach! ... Hören Sie doch, Rodion +Romanowitsch, mein lieber Mensch, ziehen Sie doch diesen Umstand in +Erwägung. Wenn Sie tatsächlich in dieser verfluchten Sache schuldig oder +irgendwie darin verwickelt wären, würden Sie dann -- ich bitte Sie -- +selbst betonen, daß Sie dies alles nicht im Fieberwahne, sondern im +Gegenteil bei vollem Verstande getan haben? Und es ganz besonders +betonen, mit einer besonderen Hartnäckigkeit es betonen, -- wäre es denn +möglich, wäre es denkbar, ich bitte Sie? Meiner Meinung nach würden Sie +das Gegenteil behaupten. Wenn Sie kein reines Gewissen hätten, so müßten +Sie unbedingt betonen, -- daß Sie es unbedingt im Fieberwahne getan +haben! Ist es nicht so? Meine Annahme ist doch richtig?« + +Etwas Heimtückisches klang in dieser Frage. Raskolnikoff wich vor +Porphyri Petrowitsch zurück, der sich zu ihm gebeugt hatte, und +betrachtete ihn schweigend, starr und voller Zweifel. + +»Oder nehmen wir den Fall mit Rasumichin, das heißt, ob er gestern aus +freien Stücken kam zu sprechen, oder ob Sie ihn dazu gebracht haben? Ja, +Sie müßten unbedingt gesagt haben, daß er aus eigenem Antriebe gekommen +war, und verheimlichen, daß er es in Ihrem Auftrage getan hat! Sie aber +verheimlichen es nicht! Sie betonen gerade, daß er in Ihrem Auftrage +hier gewesen war!« + +Raskolnikoff hatte es niemals betont. Ein Schauer durchzog seinen +Rücken. + +»Sie lügen wieder,« -- sagte er langsam und schwach, und seine Lippen +verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln, -- »Sie wollen mir wieder +zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel kennen und alle meine Antworten im +voraus wissen,« -- sagte er und fühlte selbst nicht, daß er seine Worte +nicht mehr genügend erwog, -- »Sie wollen mir Furcht einjagen ... oder +Sie lachen einfach über mich ...« + +Er fuhr fort, ihn starr anzusehen, als er dies sagte, und wieder +leuchtete eine grenzenlose Wut in seinen Augen auf. + +»Sie lügen alles!« -- rief er aus. -- »Sie wissen selbst ausgezeichnet, +daß der beste Ausweg für einen Verbrecher ist, nach Möglichkeit nichts +zu verheimlichen, was man nicht verheimlichen kann. Ich glaube Ihnen +nicht!« + +»Wie spitzfindig Sie sind!« -- kicherte Porphyri Petrowitsch, -- »man +wird mit Ihnen, Väterchen, nicht fertig; eine Art Monomanie steckt tief +in Ihnen. Also, Sie glauben mir nicht? Ich sage Ihnen aber, daß Sie mir +schon glauben, daß Sie mir schon zu einem Viertel glauben, und ich will +mein Möglichstes tun, daß Sie mir noch ganz und gar glauben werden, denn +ich habe Sie wirklich gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.« + +Raskolnikoffs Lippen bebten. + +»Ja, ich wünsche Ihnen Gutes, sage ich Ihnen noch einmal,« -- fuhr er +fort, und faßte Raskolnikoff leicht und freundschaftlich am Arm, ein +wenig über dem Ellbogen, -- »ich will es Ihnen auch noch einmal sagen, +-- achten Sie auf Ihre Krankheit. Außerdem sind auch Ihre allernächsten +Verwandten jetzt angekommen; denken Sie auch an die. Sie sollen sie +pflegen und hüten, und Sie erschrecken sie bloß ...« + +»Was geht das Sie an? Woher wissen Sie es? Warum interessieren Sie sich +in dieser Weise für mich? Also, Sie beobachten mich und wollen es mir +zeigen?« + +»Väterchen! Ich habe es doch von Ihnen, von Ihnen selbst erfahren! Sie +merken nicht mal, daß Sie in Ihrer Erregung mir selbst alles und anderen +auch erzählen. Auch von Dmitri Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern +viele interessante Details erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen, +ich sage aber, daß Sie durch Ihren Argwohn, trotz Ihres ganzen +Scharfsinnes, den gesunden Blick für die Dinge verlieren. Nun, nehmen +wir, zum Beispiel, wieder das Klingelziehen, -- solch eine Krankheit, +diese Tatsache, -- es ist doch eine ganze Tatsache, -- liefere ich Ihnen +ohne weiteres aus, ich, der Untersuchungsrichter! Und Sie sehen darin +gar nichts? Nun, sagen Sie, wenn ich nur einen kleinen Verdacht auf Sie +hätte, würde ich so handeln können? Ich müßte im Gegenteil Ihren Argwohn +zuerst einschläfern und nicht mal zeigen, daß ich diese Tatsache schon +kenne, ich müßte Sie in entgegengesetzter Richtung ablenken, um Sie +plötzlich, wie mit einem Schlage auf den Kopf, mit der Frage zu +betäuben, -- >was suchten Sie -- würde ich fragen, -- um zehn Uhr +abends, oder es kann auch elf Uhr gewesen sein, in der Wohnung der +Ermordeten? Warum haben Sie an der Klingel gezogen? Und warum fragten +Sie nach dem Blute? Warum machten Sie die Hausknechte konfus und +forderten sie auf, auf das Polizeibureau, zum Revieraufseher, +mitzugehen?< Sehen Sie, in dieser Weise müßte ich handeln, wenn ich den +winzigsten Verdacht gegen Sie hätte. Ich müßte Sie in aller Form +verhören, eine Haussuchung bei Ihnen vornehmen und Sie möglicherweise +auch arretieren ... Also kann ich doch keinen Verdacht gegen Sie hegen, +wenn ich anders gehandelt habe! Sie haben aber den gesunden Blick +verloren und sehen gar nichts, wiederhole ich!« + +Raskolnikoff zuckte zusammen, so daß Porphyri Petrowitsch es zu deutlich +bemerkte. + +»Sie lügen alles!« -- rief er aus, -- »ich kenne Ihre Absichten nicht, +aber Sie lügen ... Vorhin haben Sie nicht in diesem Sinne gesprochen und +ich kann mich nicht irren ... Sie lügen!« + +»Ich lüge?« -- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch, sich scheinbar +ereifernd, behielt jedoch das lustigste und spöttischste Aussehen bei, +als kümmerte es ihn wenig, welch eine Meinung Herr Raskolnikoff über ihn +habe. -- »Ich lüge? ... Und wie habe ich vorhin Ihnen gegenüber +gehandelt, ich, der Untersuchungsrichter? Ich habe Ihnen selbst alle +Mittel zur Verteidigung genannt und ausgeliefert, habe selbst Ihnen die +ganze Psychologie erklärt, habe Krankheit, Fieberwahn, Kränkungen, +Melancholie und Polizeibeamte und dergleichen mehr erwähnt! Ah! +He--he--he! Obwohl -- nebenbei gesagt, -- alle diese psychologischen +Mittel zur Verteidigung, Ausflüchte und Ausreden äußerst unstichhaltig +sind und zwei Seiten haben. >Ich war krank, hatte Fieberträume, war im +Wahne, erinnere mich nicht<, -- alle diese Ausreden sind ja richtig, +aber es fragt sich, Väterchen, warum in der Krankheit und im Fieberwahne +immer solche Vorstellungen auftauchen und nicht andere? Es können einem +doch auch andere Vorstellungen erscheinen? Ist es nicht so? He--he--he!« + +Raskolnikoff blickte ihn stolz und voll Verachtung an. + +»Mit einem Worte,« -- sagte er laut und eindringlich, indem er aufstand +und dabei Porphyri Petrowitsch ein wenig zur Seite stieß -- »mit einem +Worte, ich will endgültig wissen, ob Sie mich frei von jedem Verdacht +finden oder _nicht_? Sagen Sie es, Porphyri Petrowitsch, sagen Sie es +mir positiv, endgültig, und schnell, sofort!« + +»Das ist eine Geschichte! Ist das eine Plage mit Ihnen,« -- rief +Porphyri Petrowitsch mit vollkommen lustiger, schlauer und gar nicht +bewegter Miene, -- »ja, wozu wollen Sie es wissen, wozu wollen Sie so +vieles wissen, wenn man noch nicht einmal begonnen hat, Sie in +irgendeiner Weise zu belästigen? Sie sind wie ein Kind, dem man Feuer in +die Hand geben soll! Warum beuunruhigen Sie sich in dieser Weise? Warum +drängen Sie sich uns auf, aus welchen Gründen? Ah? He--he--he!« + +»Ich wiederhole Ihnen,« -- rief Raskolnikoff in blinder Wut, -- »daß ich +es länger nicht ertragen kann ...« + +»Was denn? Die Ungewißheit?« -- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch. + +»Höhnen Sie nicht! Ich will es nicht haben! Ich sage Ihnen, ich will es +nicht! ... Ich kann und will es nicht! ... Hören Sie! Hören Sie!« -- +rief er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch. + +»Stiller, leiser! Man könnte es hören! Ich warne Sie in allem Ernst, -- +schonen Sie sich. Ich scherze nicht!« -- sagte Porphyri Petrowitsch im +Flüstertone, aber diesmal lag in seinem Gesichte nicht mehr der frühere +weibisch gutmütige und erschrockene Ausdruck; im Gegenteil, er _befahl_ +es streng, mit zusammengezogenen Augenbrauen und ließ alle +Geheimnistuerei und Zweideutigkeit fallen. Das dauerte jedoch nur einen +kurzen Augenblick. Der bestürzte Raskolnikoff geriet in die höchste Wut, +und doch, merkwürdig, -- wie hypnotisiert gehorchte er wieder dem +Befehle, leiser zu sprechen. + +»Ich lasse mich nicht quälen!« -- flüsterte er, wie vorhin, indem er +sofort voll Schmerz und Haß einsah, daß er dem Befehle gehorchen mußte, +und geriet bei diesem Gedanken in immer größere Wut, -- »arretieren Sie +mich, lassen Sie bei mir Haussuchung halten, aber handeln Sie nach +gesetzlicher Form und spielen Sie nicht mit mir! Wagen Sie es nicht ...« + +»So regen Sie sich doch nicht wieder wegen der gesetzlichen Form auf,« +-- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch mit dem früheren schlauen Lächeln +und betrachtete scheinbar Raskolnikoff mit Vergnügen, -- »Väterchen, ich +habe Sie doch in aller Gemütlichkeit, in aller Freundschaft eingeladen!« + +»Ich will nicht Ihre Freundschaft, ich pfeife darauf! Hören Sie? Und +jetzt nehme ich meine Mütze und gehe fort. Nun, was willst du jetzt +sagen, wenn du mich arretieren willst?« + +Er nahm seine Mütze und ging zu der Türe. + +»Wollen Sie nicht noch die Überraschung sehen, die ich für Sie habe?« +kicherte Porphyri Petrowitsch, faßte ihn wieder am Arme und hielt ihn an +der Türe zurück. Er wurde sichtlich wieder lustiger und lebhafter, was +Raskolnikoff ganz außer sich brachte. + +»Was für eine Überraschung? Was ist es?« -- fragte er, stehen bleibend +und Porphyri Petrowitsch erschreckt anblickend. + +»Die Überraschung sitzt hier hinter der Türe, he--he--he!« -- er zeigte +mit dem Finger auf die verschlossene Tür in der Scheidewand, die in +seine Amtswohnung führte. -- »Ich habe sie dort eingeschlossen, damit +sie nicht fortläuft.« + +»Was sagen Sie? Wo? Was? ...« -- Raskolnikoff trat an die Türe und +wollte sie öffnen, jedoch sie war verschlossen. + +»Sie ist verschlossen, den Schlüssel habe ich!« + +Und er zog aus seiner Tasche einen Schlüssel hervor und zeigte ihn ihm. + +»Du lügst!« -- schrie Raskolnikoff, ohne sich noch einen weiteren Zwang +aufzuerlegen,-- »du lügst, verfluchter Hanswurst!« Er stürzte sich auf +Porphyri Petrowitsch, der sich zwar zur Türe zurückgezogen hatte, aber +keineswegs aus Furcht. + +»Ich merke alle deine Absichten, alle! -- Du lügst und neckst mich, +damit ich mich verraten soll.« + +»Ja, mehr kann man sich doch nicht verraten, als Sie es tun, Väterchen +Rodion Romanowitsch. -- Sie haben ja einen Anfall von Tobsucht. Schreien +Sie nicht so, ich rufe sonst nach Hilfe.« + +»Du lügst, nichts wird geschehen! Rufe deine Leute! Du weißt, daß ich +krank bin und willst mich wütend machen, damit ich mich verraten soll, +das ist deine Absicht! Nein, zeige mir Tatsachen! Ich habe alles +begriffen! Ich weiß, du hast keine Tatsachen, du hast bloß elende, +nichtige Vermutungen von Sametoff! ... Du kanntest meinen Charakter, +wolltest mich in rasende Wut bringen, und dann mich plötzlich mit +Priestern und Delegierten überrumpeln ... Du wartest auf sie? Ah! Was +wartest du? Wo? komm doch mit ihnen!« + +»Was für Delegierte sollte ich haben, Väterchen? Was dem Menschen nicht +alles einfällt! In dieser Weise kann man doch gar nicht nach der +gesetzlichen Form handeln, wie Sie meinen, Sie kennen diesen +gesetzlichen Weg überhaupt nicht, mein Lieber ... Die gesetzliche Form +läuft nicht davon, Sie werden es noch selbst sehen ... --« murmelte +Porphyri Petrowitsch und lauschte an der Türe. + +In diesem Augenblicke hörte man wirklich im anderen Zimmer in der Nähe +der Türe einen Lärm. + +»Ah, sie kommen!« -- rief Raskolnikoff aus, -- »du hast nach ihnen +geschickt! ... Die hast du erwartet! Hast auf sie gerechnet ... Nun, +komme mit ihnen allen, mit den Delegierten, Zeugen ... komme mit was du +willst! Ich bin bereit! Bin bereit!« + +Aber in diesem Momente trat ein merkwürdiges Ereignis ein, für den +gewöhnlichen Gang der Dinge so unerwartet, daß weder Raskolnikoff noch +Porphyri Petrowitsch einen solchen Ausgang erwartet hatte. + + + VI. + +Raskolnikoffs Erinnerung an diesen Moment war in späterer Zeit folgende: + +Das Geräusch hinter der Türe verstärkte sich und die Türe wurde ein +wenig geöffnet. + +»Was soll das?« -- rief Porphyri Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch +gesagt ...« + +Einen kurzen Augenblick erfolgte keine Antwort, jedoch man merkte, daß +hinter der Türe einige Leute standen, die jemanden zurückzuhalten +schienen. + +»Was ist denn los?« -- wiederholte Porphyri Petrowitsch beunruhigt. + +»Man hat den Arrestanten Nikolai gebracht,« -- ertönte eine Stimme. + +»Es ist nicht nötig! Fort mit ihm! Soll warten! ... Weshalb hat man ihn +hierher gebracht? Was ist das für eine Unordnung!« -- rief Porphyri +Petrowitsch, zur Türe stürzend. + +»Ja, er ...,« -- begann dieselbe Stimme und brach plötzlich ab. + +Nicht länger als zwei Sekunden währte ein regelrechter Kampf, als jemand +mit aller Kraft zurückgestoßen wurde, und darauf ein sehr bleicher Mann +direkt in das Arbeitszimmer von Porphyri Petrowitsch eintrat. + +Dieser Mensch sah sehr eigentümlich aus. Er blickte vor sich hin, ohne +von seiner Umgebung etwas zu merken. In seinen Augen funkelte eine +Entschlossenheit, Totenblässe bedeckte sein Gesicht, als hätte man ihn +zum Schafott gebracht. Seine blutleeren Lippen zuckten. + +Er war gekleidet wie ein Mann aus dem Volke, war noch sehr jung, von +mittlerem Wuchse, hager, mit rund beschnittenen Haaren und feinen, +herben Gesichtszügen. Der von ihm unerwartet Zurückgestoßene, ein +Gefängniswärter, stürzte als erster ihm ins Zimmer nach und packte ihn +an den Schultern. Nikolai zog seinen Arm zurück und riß sich abermals +von ihm los. + +In der Türe drängten sich die Neugierigen. Manche von ihnen wollten +eintreten. Alles das geschah in einem Augenblick. + +»Fort, es ist zu früh! Warte, bis ich dich rufen lasse! ... Warum hat +man ihn schon jetzt hergebracht?« murmelte ärgerlich Porphyri +Petrowitsch, ganz außer sich. + +Da warf sich Nikolai auf die Knie nieder. + +»Was ist mir dir?« -- rief Porphyri Petrowitsch erstaunt. + +»Ich bin schuldig! Ich bin der Sünder! Ich bin der Mörder!« -- sagte +plötzlich Nikolai, stockend, aber mit ziemlich lauter Stimme. + +Ein Schweigen, als wären alle erstarrt, trat ein; der eskortierende +Soldat wich zurück und trat nicht mehr an Nikolai heran, er ging +mechanisch zur Türe und blieb dort unbeweglich stehen. + +»Was sagst du?« -- rief Porphyri Petrowitsch, aus seiner Erstarrung +erwachend. + +»Ich ... bin der Mörder ...,« -- wiederholte Nikolai nach kurzem +Schweigen. + +»Wie ... du ... wie ... Wen hast du ermordet?« + +Porphyri Petrowitsch war sichtbar betreten. + +Nach einer kurzen Pause antwortete Nikolai wieder. + +»Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna habe ich ... mit +dem Beile ... erschlagen. Eine Verblendung kam über mich ... --« fügte +er plötzlich hinzu und verstummte von neuem, immer noch auf den Knien +liegend. + +Porphyri Petrowitsch stand nachdenklich da; als er wieder zu sich kam, +winkte er mit den Händen den ungebetenen Zeugen, fortzugehen. Sie +verschwanden sogleich und die Türe wurde zugemacht. Dann blickte er +Raskolnikoff an, der in einer Ecke stand und Nikolai verstört ansah, er +ging auf ihn zu, blieb jedoch auf halbem Wege wieder stehen, betrachtete +ihn nochmals, wandte dann seinen Blick Nikolai zu, und so besah er beide +abwechselnd, bis er sich plötzlich auf Nikolai stürzte, von einem +Gedanken gepackt. + +»Was kommst du mir mit deiner Verblendung daher?« -- rief er ihm wütend +zu. -- »Ich habe doch noch gar nicht gefragt, ob eine Verblendung über +dich gekommen ist oder nicht ... sage mir, hast du gemordet?« + +»Ich bin der Mörder ... ich mache das Bekenntnis ...« -- sagte Nikolai. + +»Ach was! Und womit hast du gemordet?« + +»Mit einem Beile. Ich hatte es mir vorher besorgt.« + +»Nur langsam, nicht so schnell! Du allein?« + +Nikolai verstand die Frage nicht. + +»Hast du allein gemordet?« + +»Allein. Dmitri ist unschuldig und ganz unbeteiligt.« + +»Eile nicht so mit Dmitri! ...« + +»Wie bist du denn damals die Treppe hinuntergelaufen? Die Hausknechte +haben doch euch beide zusammen gesehen?« + +»Ich bin absichtlich ... damals ... mit Dmitri hinuntergelaufen,« -- +antwortete Nikolai schnell als hätte er sich vorher vorbereitet. + +»Ja, da haben wir's wieder!« rief Porphyri Petrowitsch wütend aus, -- +»er glaubt selbst nicht, was er sagt!« -- murmelte er scheinbar vor sich +hin und bemerkte im selben Augenblick Raskolnikoff wieder. + +Er war so stark mit Nikolai beschäftigt, daß er für eine kurze Zeit die +Anwesenheit Raskolnikoffs offenbar vergessen hatte. Er wurde verlegen +... + +»Rodion Romanowitsch, Väterchen! Entschuldigen Sie mich, es geht nicht +an ... bitte ... Sie haben hier nichts zu tun ... ich bin auch selbst +... Sie sehen, welch eine Überraschung! ... Bitte! ...« + +Er nahm ihn bei der Hand und zeigte auf die Türe. + +»Das haben Sie nicht erwartet?« -- sagte Raskolnikoff, der die Sache +selbst noch nicht begriff, jedoch seine Fassung wiedergefunden hatte. + +»Auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Wie Ihre Hand zittert! +He--he--he!« + +»Auch Sie zittern, Porphyri Petrowitsch.« + +»Ja, ich zittere auch; hätte das nie für möglich gehalten! ...« + +Sie standen beide schon an der Türe. Porphyri Petrowitsch wartete mit +Ungeduld auf Raskolnikoffs Hinausgehen. + +»Und Ihre Überraschung, wollen Sie sie mir nicht zeigen?« -- sagte +Raskolnikoff höhnisch. + +»Sie fangen schon wieder so an, während Ihnen die Zähne noch ordentlich +klappern, he--he! Sie sind ein eigener Mensch! Nun, auf Wiedersehen.« + +»Es wäre besser, _Lebewohl_ zu sagen!« + +»So Gott will, so Gott will!« -- murmelte Porphyri Petrowitsch mit einem +schiefen Lächeln. + +Als Raskolnikoff durch die Kanzlei ging, bemerkte er, daß viele ihn +aufmerksam anblickten. Im Vorzimmer sah er unter der Menge die beiden +Hausknechte aus _jenem_ Hause, die er damals in der Nacht mit zum +Polizeiaufseher gehen hieß. Sie standen und warteten. Kaum hatte er die +Treppe erreicht, als er die Stimme Porphyri Petrowitschs hinter sich +vernahm. Er kehrte sich um und bemerkte, daß dieser ihm ganz außer Atem +nachkam. + +»Nur ein Wort noch, Rodion Romanowitsch, über die Sache ... nun, wie +Gott will! aber dennoch muß ich Sie über einiges der Form wegen fragen +... so sehen wir uns noch, nicht wahr?« + +Und Porphyri Petrowitsch blieb lächelnd vor ihm stehen. + +»Nicht wahr?« -- fügte er noch einmal hinzu. + +Man hatte den Eindruck, daß er noch etwas sagen wollte, aber es erfolgte +nichts. + +»Ich bitte Sie, Porphyri Petrowitsch, mich zu entschuldigen wegen des +vorhin Vorgefallenen ... ich habe mich hinreißen lassen,« -- begann +Raskolnikoff, vollkommen gefaßt und dem unwiderstehlichen Wunsche +nachgebend, sich wichtig zu tun. + +»Hat nichts zu sagen, hat nichts auf sich,« -- fiel Porphyri Petrowitsch +fast freudig ein. -- »Auch ich selbst ... ich habe einen gehässigen +Charakter, ich gebe es zu, ich gebe es zu! Wir werden uns ja +wiedersehen. Wenn Gott will, werden wir uns sehr bald wiedersehen! ...« + +»Und dann einander endgültig kennenlernen?« -- fiel Raskolnikoff ein. + +»Und dann einander endgültig kennenlernen,« -- pflichtete ihm Porphyri +Petrowitsch bei, kniff die Augen zusammen und sah ihn durchdringend an. +-- »Jetzt eilen Sie zum Namenstage?« + +»Zur Beerdigung.« + +»Ja, richtig, zur Beerdigung! Schonen Sie Ihre Gesundheit vor allem, +Ihre Gesundheit ...« + +»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen meinerseits wünschen soll!« -- +fiel Raskolnikoff ein, der schon die Treppe hinabstieg und sich wieder +zu Porphyri Petrowitsch umwandte, -- »ich möchte Ihnen >guten Erfolg< +wünschen, aber Ihr Amt ist zu eigenartig!« + +»Wieso denn, eigenartig?« -- Porphyri Petrowitsch spitzte die Ohren, +obwohl er sich schon umgekehrt hatte, um fortzugehen. + +»Warum denn nicht; diesen armen Nikolai haben Sie wahrscheinlich auch +ordentlich psychologisch in Ihrer Weise gequält und gemartert, bis er +gestanden hat; haben ihm wahrscheinlich Tag und Nacht vorinspiriert, -- +>du bist der Mörder, du bist der Mörder ...<, und jetzt, wo er es +eingestanden hat, werden Sie ihn wieder anders vorkriegen. Jetzt heißt +es: >Du lügst, du bist nicht der Mörder! Du kannst es nicht sein! Du +glaubst nicht an deine eigenen Worte!< Nun, ist Ihr Amt nicht komisch?« + +»He--he--he! Sie haben es also gehört, daß ich zu Nikolai gesagt habe, +er glaube nicht an seine eigenen Worte?« + +»Warum sollte ich es nicht gehört haben?« + +»He--he! Sie sind scharfsinnig, sehr scharfsinnig! Sie bemerken alles! +Sie haben einen ausgezeichneten lebhaften Verstand! Und erwischen immer +die komischeste Seite ... he--he! Sagt man nicht, von den +Schriftstellern hatte Gogol am ausgeprägtesten diese Eigenschaft.« + +»Ja, Gogol.« + +»Ja, Gogol ... Auf angenehmes Wiedersehen!« + +»Auf angenehmes Wiedersehen!« + +Raskolnikoff ging direkt nach Hause. Er war zuletzt so verwirrt und +konfus geworden, daß er, als er nach Hause kam, sich auf das Sofa warf +und erst eine Viertelstunde ausruhen mußte, ehe er versuchen konnte, +seine Gedanken einigermaßen zu sammeln. Den Fall mit Nikolai wollte er +gar nicht einmal erörtern, er fühlte eine mächtige Erregung in sich, und +fühlte, daß in dem Geständnis Nikolais etwas Unerklärliches und +Seltsames war; er war jetzt noch nicht imstande, dies alles zu fassen. +Das Geständnis Nikolais war eine unbestreitbare Tatsache. Die Folgen +dieser Tatsache wurden ihm sofort klar, -- die Lüge mußte sich +offenbaren und dann nahm man _ihn_ wieder vor. Aber bis dahin war er +wenigstens frei, er muß nun unbedingt irgend etwas für sich tun, denn +die Gefahr war unvermeidlich. + +Jedoch, in welcher Weise? Die Lage begann sich zu klären. Während er +sich im allgemeinen des ganzen Auftrittes bei Porphyri Petrowitsch +entsann, durchlief es ihn eiskalt. Gewiß kannte er noch nicht alle +Absichten Porphyri Petrowitschs, konnte alle seine Berechnungen vorhin +nicht enträtseln. Doch ein Teil des Spieles war offenbar; +selbstverständlich konnte niemand besser als er selbst verstehen, wie +schrecklich für ihn dieser »Schachzug« im Spiele Porphyri Petrowitschs +sei. Noch ein wenig, und er hätte sich vollkommen verraten. Indem +Porphyri Petrowitsch die Empfindlichkeit seines Charakters erkannt hatte +und vom ersten Augenblick richtig eingeschätzt und durchschaut hatte, +handelte er sehr entschlossen, und fast mit sicherem Erfolge. Es war +nicht zu bestreiten, daß Raskolnikoff sich schon stark kompromittiert +hatte, doch bis zu _Tatsachen_ war es noch nicht gekommen; dies alles +war nur relativ. Faßte er jedoch jetzt auch alles richtig auf? Irrte er +sich nicht? Zu welchem Resultate wollte heute Porphyri Petrowitsch +kommen? Hatte er heute wirklich etwas vorbereitet? Und was war es? +Wartete er wirklich auf etwas oder nicht? Wie würden sie sich heute +getrennt haben, wenn der unerwartete Vorfall mit Nikolai nicht +eingetreten wäre? + +Porphyri Petrowitsch hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt; es war +selbstverständlich von ihm riskiert, aber er hatte es doch getan, und -- +hatte alles aufgedeckt, wie es Raskolnikoff schien, -- wenn Porphyri +Petrowitsch wirklich mehr gehabt hätte, würde er es auch aufgedeckt +haben. Was war nur diese »Überraschung«? War es etwa Fopperei? Hatte sie +eine Bedeutung oder nicht? Konnte sich darunter etwas, das einer +Tatsache, einem positiven Beweis glich, verbergen? Vielleicht der Mann +von gestern? Wo ist er hinverschwunden? Wo war er heute? Wenn Porphyri +Petrowitsch etwas Positives hatte, so hing es sicher mit dem Manne von +gestern zusammen ... Er saß auf dem Sofa, hatte den Kopf tief sinken +lassen, stützte sich auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit beiden +Händen. Ein nervöses Zittern durchlief immer noch seinen ganzen Körper. +Schließlich stand er auf, nahm seine Mütze in die Hand, dachte eine +Weile nach und ging zur Türe. + +Ein Gefühl, daß er wenigstens heute sich in Sicherheit fühlen könne, +rief fast Freude in seinem Herzen wach, -- er wollte jetzt schnell zu +Katerina Iwanowna gehen. Zur Beerdigung kam er selbstverständlich zu +spät, zum Essen langte es noch und er würde dort Ssonja sehen. + +Er blieb stehen, sann nach und ein schmerzliches Lächeln zeigte sich auf +seinen Lippen. + +»Heute! Heute!« -- wiederholte er vor sich, -- »ja, heute noch! Es muß +so sein ...« + +Er wollte gerade die Türe öffnen, als sie auch schon von außen geöffnet +wurde. Er erzitterte und sprang zurück. Sie öffnete sich langsam und +leise, und die Gestalt -- des Mannes von gestern kam zum Vorschein. + +Der Mann blieb auf der Schwelle stehen, sah Raskolnikoff schweigend an +und machte einen Schritt in das Zimmer. Er war genau wie gestern +gekleidet, er hatte die gleiche gebückte Gestalt, nur in seinem Gesicht +und im Blick war eine große Veränderung vorgegangen, -- er sah traurig +drein, und nachdem er eine Weile dagestanden hatte, seufzte er tief. Es +fehlte bloß, daß er die Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur +Seite beugte, um völlig einem Weibe zu ähneln. + +»Was wünschen Sie?« -- fragte Raskolnikoff. + +Der Mann schwieg und verneigte sich auf einmal tief, so tief, daß er mit +einem Finger der rechten Hand den Boden berührte. + +»Was ist mit Ihnen?« -- rief Raskolnikoff aus. + +»Verzeihen Sie,« -- sagte leise der Mann. + +»Was soll ich verzeihen?« + +»Meine bösen Gedanken.« + +Sie blickten einander an. + +»Es quälte mich. Als Sie damals kamen, vielleicht berauscht, und die +Hausknechte aufforderten, mit auf die Polizei zu gehen und nach dem Blut +fragten, quälte es mich, daß man die Sache so ohne weiteres ließ und Sie +für einen Betrunkenen ansah. Und es quälte mich so stark, daß ich den +Schlaf verlor. Und da ich mich Ihrer Adresse erinnerte, bin ich gestern +hierher gekommen und habe den Hausknecht gefragt ...« + +»Wer ist hergekommen?« -- unterbrach ihn Raskolnikoff und da erinnerte +er sich wieder. + +»Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.« + +»Also, Sie sind aus jenem Hause?« + +»Ja, ich stand damals mit den anderen am Tore, erinnern Sie sich nicht? +Ich habe dort seit langem eine Werkstatt. Ich bin Kürschner, +Kleinbürger, arbeite zu Hause ... Am meisten aber quälte es mich ...« + +Und Raskolnikoff erinnerte sich auf einmal klar der ganzen Szene von +vorgestern am Tore; er entsann sich, daß außer den Hausknechten dort +noch einige Menschen, darunter auch Frauen, gestanden hatten. Er +erinnerte sich einer Stimme, die vorschlug, ihn auf die Polizei zu +bringen. Auf das Gesicht des Sprechenden konnte er sich nicht entsinnen +und erkannte ihn auch jetzt nicht, aber er wußte noch, daß er ihm damals +geantwortet und sich nach ihm umgewandt habe ... + +Also, das war die Lösung des ganzes Schreckens von gestern. Am +furchtbarsten war ihm der Gedanke, daß er dadurch fast zugrunde gegangen +wäre, eines solch _nichtigen_ Verhängnisses wegen sich fast zugrunde +gerichtet hätte. Also, außer des Besuches in der Wohnung und des +Gespräches über das Blut konnte dieser Mensch gar nichts erzählen. So +hatte auch Porphyri Petrowitsch gar nichts, keine Tatsachen, nichts +Positives, nichts außer diesem _Fieberwahn_, und außer der +_Psychologie_, die ihre _zwei Seiten_ hat. Wenn keine Tatsachen mehr +auftauchen -- und sie dürfen nicht mehr auftauchen, dürfen, dürfen +nicht, -- was ... was kann man ihm anhaben? Wodurch kann man ihn denn +endgültig überführen, selbst wenn sie ihn auch arretieren würden? So hat +Porphyri Petrowitsch erst jetzt, soeben erst von der Wohnung erfahren, +und vorher nichts davon gewußt. + +»Haben Sie es heute Porphyri Petrowitsch gesagt ... daß ich dort gewesen +war?« -- rief er aus, von einer neuen Idee überrascht. + +»Was für einem Porphyri Petrowitsch?« + +»Dem Untersuchungsrichter.« + +»Ja, ich habe es gesagt. Die Hausknechte gingen damals nicht hin, und da +ging ich denn.« + +»Heute?« + +»Ich war einen Augenblick früher da, als Sie kamen. Ich habe alles mit +angehört, alles, und wie er Sie peinigte.« + +»Wo? Was? Wann?« + +»Ich saß die ganze Zeit bei ihm hinter der Wand.« + +»Wie? Also Sie waren die Überraschung? Ja, wie konnte es denn zugehen? +Erlauben Sie!« + +»Als ich sah,« -- begann der Kleinbürger, -- »daß die Hausknechte trotz +meiner Worte nicht hingehen wollten, weil es, wie sie sagten, schon spät +sei und er vielleicht böse würde, daß sie in so später Stunde noch +daherkämen, quälte es mich, ich verlor den Schlaf und begann mich zu +erkundigen. Und nachdem ich mich gestern erkundigt hatte, ging ich heute +hin. Als ich zum erstenmal kam, war er noch nicht da, als ich nach einer +Stunde wieder kam, empfing er mich nicht, und als ich zum drittenmal da +war, -- ließ man mich zu ihm. Ich erzählte ihm alles, wie es war, er +lief im Zimmer herum und schlug sich mit der Faust vor die Brust. >Was +macht ihr mit mir,< -- sagte er, -- >ihr Räuber? Hätte ich das gewußt, +ich würde ihn mit einer Eskorte geholt haben!< Dann lief er aus dem +Zimmer, rief jemand und begann in einer Ecke mit ihm zu sprechen, dann +kam er wieder zu mir, frug mich aus, schimpfte mich und machte auch sich +Vorwürfe. Ich teilte ihm alles mit, sagte auch, daß Sie gestern nicht +gewagt hätten, mir auf meine Worte zu antworten, und daß Sie mich nicht +erkannt hätten. Da begann er wieder herumzulaufen, sich vor die Brust zu +schlagen und zu ärgern. Als man aber Sie anmeldete, sagte er, -- >nun, +krieche hinter die Wand, sitze dort, rühr dich nicht, was du auch hören +solltest<, und brachte mir selbst einen Stuhl dorthin und schloß mich +ein; >vielleicht werde ich dich noch ausfragen<, sagte er. Als man aber +Nikolai hineingeführt hatte, ließ er mich hinaus, nachdem Sie gegangen +waren. >Ich werde noch einmal nach dir schicken,< sagte er >und werde +dich fragen ...<« + +»Und hat er Nikolai in deiner Gegenwart verhört?« + +»Als er Sie hinausgeleitet und mich hinausgelassen hatte, begann er +Nikolai zu verhören.« + +Der Kleinbürger hielt inne und verneigte sich plötzlich noch einmal tief +und berührte wieder mit einem Finger den Boden. + +»Verzeihen Sie mir die Beschuldigung und meine Bosheit.« + +»Gott vergebe dir,« -- antwortete Raskolnikoff, und kaum hatte er es +gesagt, verneigte sich der Kleinbürger wieder vor ihm, aber diesmal +nicht bis zum Boden, drehte sich um und verließ das Zimmer. + +»Alles hat zwei Seiten, jetzt hat alles zwei Seiten,« -- wiederholte +Raskolnikoff und ging mutiger als je aus dem Zimmer. + +»Ha, jetzt wollen wir noch kämpfen!« -- sagte er mit einem bösen +Lächeln, als er die Treppe hinabstieg. Das böse Lächeln war für ihn +selbst bestimmt; er erinnerte sich seines »Kleinmutes« mit Verachtung +und Beschämung. + + + + + Fünfter Teil + + + I. + +Der Morgen, der auf die für Peter Petrowitsch Luschin verhängnisvolle +Erklärung mit Dunetschka und Pulcheria Alexandrowna folgte, verfehlte +seine ernüchternde Wirkung auch auf Luschin nicht. Er mußte zu seinem +größten Leidwesen allmählich das Ereignis als eine vollzogene und +unwiderrufliche Tatsache ansehen, das ihm noch gestern als Phantom, als +Unmöglichkeit erschienen war. Die schwarze Schlange der verletzten +Eigenliebe hatte die ganze Nacht an seinem Herzen genagt. Nachdem er das +Bett verlassen hatte, besah er sich sofort im Spiegel. Er fürchtete, daß +die Galle ihm übergelaufen sei. Aber es war alles vorläufig in bester +Ordnung, und als Peter Petrowitsch sein edles, weißes und in der letzten +Zeit voller gewordenes Antlitz erblickte, tröstete er sich für einen +Augenblick in der festen Überzeugung, irgendwo anders eine Braut, und +vielleicht eine noch bessere, zu finden. Er wies den Gedanken alsbald +von sich und spie energisch aus, wodurch er ein stilles, aber +sarkastisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Stubengenossen +Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff hervorrief. Peter Petrowitsch +bemerkte dieses Lächeln und beschloß sofort, es seinem jungen Freunde +heimzuzahlen. Es hatte sich in letzter Zeit noch mehr angesammelt. Seine +Wut vergrößerte sich, als es ihm noch bewußt wurde, daß es ganz unnötig +gewesen war, Andrei Ssemenowitsch sein gestriges Erlebnis mitzuteilen. +Das war der zweite Fehler, den er gestern im Eifer, in überflüssiger +Aufregung, in Gereiztheit gemacht hatte ... Zudem folgte nun diesen +ganzen Morgen, wie absichtlich, eine Unannehmlichkeit der anderen. Sogar +im Senate hatte er einen Mißerfolg in der Sache, die er vertrat. Ganz +besonders aber hatte ihn der Hauswirt gereizt, von dem er in Anbetracht +seiner baldigen Heirat eine Wohnung gemietet hatte und die er auf eigene +Rechnung reparieren ließ. Dieser Wirt, irgendein reichgewordener +deutscher Handwerker, weigerte sich, den soeben abgeschlossenen Vertrag +rückgängig zu machen und verlangte die volle Bezahlung der im Vertrage +genannten Entschädigungssumme, obgleich ihm Peter Petrowitsch eine +nahezu völlig renovierte Wohnung zurückgab. Ebenso wollte man auch in +dem Möbelgeschäfte keinen einzigen Rubel von der Anzahlungssumme für die +gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückgeben. +»Ich kann mich doch nicht der Möbel wegen verheiraten!« -- knirschte +Peter Petrowitsch mit den Zähnen, und gleichzeitig durchfuhr ihn noch +einmal eine verzweifelte Hoffnung. -- »Ja, ist denn wirklich alles +unwiderruflich verloren und abgetan? Kann man es denn nicht noch einmal +versuchen?« Der Gedanke an Dunetschka traf verführerisch sein Herz. Es +war ihm ein Augenblick voller Qual, und hätte jetzt gleich der bloße +Wunsch Raskolnikoff töten können, Peter Petrowitsch hätte unverzüglich +diesen Wunsch geäußert. + +»Mein Fehler war auch der, daß ich ihnen kein Geld gab,« -- dachte er, +als er traurig in die Stube von Lebesjätnikoff zurückkehrte, -- »und +warum bin ich, zum Kuckuck, so ein Jude geworden? Hier war es nicht +angebracht! Ich dachte sie in Not zu halten und sie so weit zu bringen, +daß sie mich als ihre Vorsehung betrachten müßten, und es kam so anders +... Pfui! ... Nein, ich hätte ihnen während dieser Zeit, sagen wir, +anderthalbtausend zur Aussteuer geben müssen, allerhand Geschenke, +Nähkästchen, Necessaires, Stoffe und anderen Schund, und die Sache war +gut, war sicher! Man hätte mir nicht so leicht absagen können! Sie +gehören zu den Leuten, die es unbedingt für ihre Pflicht gehalten +hätten, im Falle einer Aufhebung der Verlobung die Geschenke und das +Geld zurückzugeben; und das würde ihnen schwer gefallen sein und hätte +ihnen leid getan! Auch das Gewissen würde sie geplagt haben; wie kann +man, hätten sie sich gesagt, plötzlich einen Menschen verjagen, der bis +jetzt so freigebig und zartfühlend war? ... Ich habe einen schweren +Fehler begangen!« Peter Petrowitsch knirschte mit den Zähnen und nannte +sich einen Dummkopf, -- selbstverständlich nur bei sich. Als er zu +dieser Folgerung gekommen war, kehrte er noch wütender und gereizter +nach Hause zurück, als er fortgegangen war. Die Vorbereitungen für das +Essen in Katerina Iwanownas Zimmer zum Angedenken an den Verstorbenen +nahmen teilweise seine Neugier in Anspruch. Er hatte schon gestern +einiges über dieses Essen gehört; es schwebte ihm selbst vor, als hätte +man auch ihn eingeladen; allein bei seinen eigenen Sorgen hatte er all +dem keine Beachtung geschenkt. Er beeilte sich, sich bei Frau +Lippewechsel näher zu erkundigen, die während der Anwesenheit Katerina +Iwanownas auf dem Friedhofe für das Arrangement sorgte, und erfuhr, daß +das Gedächtnismahl feierlich sein würde. Fast alle Mitbewohner, sogar +auch solche, die der Verstorbene nicht gekannt hatte, waren eingeladen; +Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff war auch, ungeachtet seines +kürzlichen Streites mit Katerina Iwanowna, eingeladen. Auch er selbst, +Peter Petrowitsch, sei geladen und würde mit großer Ungeduld erwartet, +weil er der vornehmste Gast von allen sei. Amalie Iwanowna war +ebenfalls, trotz aller vorgefallenen Unannehmlichkeiten, mit großer Ehre +eingeladen, und mühte sich jetzt selbst ab, um alle häuslichen +Anordnungen zu treffen; sie fühlte sich sehr wichtig dabei, sie war +festlich geputzt, wennschon in Trauer, sie hatte ein ganz neues seidenes +Kleid an und war nicht wenig stolz darauf. Alle diese Tatsachen und +Mitteilungen brachten Peter Petrowitsch auf einen Gedanken; etwas +nachdenklich ging er in sein, das heißt in Andrei Ssemenowitsch +Lebesjätnikoffs Zimmer. Unter anderem hatte er erfahren, daß unter den +Eingeladenen auch Raskolnikoff sei. + +Andrei Ssemenowitsch blieb diesen ganzen Morgen aus einem bestimmten +Grunde zu Hause. Zwischen diesem Herrn und Peter Petrowitsch herrschten +eigentümliche, teilweise auch natürliche Beziehungen, -- Peter +Petrowitsch verachtete und haßte ihn von dem Tage an, als er sich bei +ihm einquartierte, über alle Maßen, gleichzeitig ihn ein wenig +fürchtend. Er war bei ihm nach seiner Ankunft in Petersburg nicht bloß +aus übertriebener Sparsamkeit abgestiegen; obwohl dies wohl der +Hauptgrund war, gab es noch eine andere Ursache. Schon in der Provinz +hatte er von Andrei Ssemenowitsch, seinem früheren Zögling, gehört, als +einem der ersten jungen Progressisten, der sogar eine bedeutende Rolle +in gewissen interessanten und vielbesprochenen Kreisen spiele. Das +überraschte Peter Petrowitsch. Diese mächtigen, alles wissenden, alles +verachtenden und alle entlarvenden Kreise jagten schon lange Peter +Petrowitsch einen besonderen, wenn auch ganz unbestimmten Schrecken ein. +Er selbst konnte sich, zumal er in der Provinz lebte, in keiner Weise +einen annähernd genauen Begriff davon machen. Er hatte, wie viele +andere, gehört, daß es besonders in Petersburg Progressisten, +Nihilisten, Enthüller und dergleichen mehr gebe, aber er übertrieb +gleich vielen, und verdrehte den Sinn und die Bedeutung dieser +Benennungen bis ins Absurde. Am meisten fürchtete er, schon seit einigen +Jahren, _Enthüllungen_, und dies war die hauptsächliche Ursache seiner +beständigen übertriebenen Unruhe, besonders wenn er daran dachte, seine +Tätigkeit nach Petersburg zu verlegen. In dieser Hinsicht war er, wie +man sagt, _verschreckt_, wie zuweilen kleine Kinder verschreckt sind. +Vor einigen Jahren in der Provinz, als er eben seine Laufbahn begonnen +hatte, erlebte er zwei Fälle schlimmer Enthüllungen für zwei ziemlich +bedeutende Persönlichkeiten der Gouvernementsbehörde, zu denen er sich +bis dahin gehalten und die ihn protegierten. Der eine Fall endete für +den Kompromittierten mit besonderem Eklat, der zweite wäre fast noch +schlimmer abgelaufen. Aus diesem Grunde hatte Peter Petrowitsch +beschlossen, sich sofort nach der Ankunft in Petersburg zu erkundigen, +wie die Sache eigentlich sei, und falls nötig, vorzubeugen und sich bei +»unserer jungen Generation« einzuschmeicheln. Dabei rechnete er auf +Andrei Ssemenowitsch, und er hatte schon gelernt, wie beim Besuche +Raskolnikoffs, bestimmte Phrasen aus fremder Quelle wiederzugeben ... + +Gewiß, es gelang ihm bald, Andrei Ssemenowitsch als einen +außerordentlich flachen, einfältigen und unbedeutenden Menschen zu +erkennen. Dies hatte aber keineswegs den Glauben Peter Petrowitschs +erschüttert oder ihn sicherer gemacht. Selbst wenn er sich überzeugt +hätte, daß alle Progressisten eben solche Dummköpfe wären, auch dann +würde sich seine Unruhe nicht gelegt haben. Alle Lehren, Gedanken, +Systeme, mit denen Andrei Ssemenowitsch sich sofort auf ihn gestürzt +hatte, interessierten ihn ganz und gar nicht. Er hatte sein eigenes +Ziel. Er wollte bloß schnell, unverzüglich erfahren, was _hier_ vorginge +und wie? Hatten _diese Leute_ einen Einfluß oder nicht? Würden sie ihn +kompromittieren, wenn er dies oder jenes unternähme, oder nicht? Und +wenn sie einen kompromittierten, fragt es sich, was würden sie dabei im +Auge haben? Worauf richteten sich jetzt eigentlich die Enthüllungen? Und +weiter, -- konnte man sich nicht ihnen in irgendeiner Weise anschließen +und sie irreführen, wenn sie tatsächlich Einfluß haben sollten? Sollte +man es tun oder nicht? Könnte man nicht, zum Beispiel, durch ihre +Vermittlung seine Karriere fördern? Mit einem Worte, es standen hunderte +von Fragen vor ihm. + +Andrei Ssemenowitsch war ein kraftloser und skrophulöser Mann von +kleinem Wuchse, der bei irgend jemand bedienstet war; er war auffallend +blond und hatte einen Kotelettenbart, auf den er sehr stolz war. Seine +Augen waren fast immer entzündet. Er hatte ein ziemlich weiches Herz, in +seinen Reden lag etwas sehr Selbstbewußtes, ja zuweilen etwas +außerordentlich Herausforderndes -- was im Vergleiche zu seiner kleinen +Gestalt fast stets lächerlich wirkte. Amalie Iwanowna rechnete auch ihn +zu ihren angesehensten Mietern, da er nicht trank und sein Zimmer +pünktlich bezahlte. Alles in allem war Andrei Ssemenowitsch wirklich +etwas dumm. Er hatte sich den Progressisten und »unserer jungen +Generation« leidenschaftlich zugesellt. Es war einer aus der bunt +zusammengesetzten Legion flacher Menschen, verfehlter Existenzen und +Halbgebildeten, die nichts ordentliches gelernt hatten, die sich an die +modernste gangbarste Idee heranmachen, um sie sofort zu verflachen und +um alles in einem Nu zu verzerren, auch wenn sie selbst in der +aufrichtigsten Weise ihr dienen. + +Übrigens konnte Lebesjätnikoff, ungeachtet seiner Gutmütigkeit, seinen +Stubengenossen und früheren Vormund Peter Petrowitsch nicht leiden. Es +kam das wie von ungefähr und beruhte auf Gegenseitigkeit. Trotz seiner +Beschränktheit begann Andrei Ssemenowitsch allmählich zu merken, daß ihn +Peter Petrowitsch beschwindelte und im geheimen verachtete, und daß er +nicht der »Rechte« war. Er versuchte, ihm Fouriers System und Darwins +Theorie darzulegen, aber Peter Petrowitsch begann, besonders in der +letzten Zeit, sarkastisch zuzuhören und sogar zu schelten. Peter +Petrowitsch fühlte instinktiv heraus, daß Lebesjätnikoff nicht bloß ein +flacher und ziemlich beschränkter Mensch, sondern auch ein Prahlhans +sei, und daß er keine bedeutenden Verbindungen in seinem eigenen Kreise +hatte, sondern sich nur mit fremden Federn schmückte; mehr noch, -- daß +er nicht mal seine eigene Sache, _die Propaganda_, ordentlich verstand, +weil er zu konfus redete, und ein solcher konnte doch kein Ankläger +sein! Nebenbei wollen wir noch bemerken, daß Peter Petrowitsch in diesen +anderthalb Wochen, besonders aber im Anfange, sehr gern die +merkwürdigsten Absichten von Andrei Ssemenowitsch sich beilegen ließ, +das heißt, er wies sie nicht zurück und erwiderte auch nichts, z. B., +wenn Andrei Ssemenowitsch ihm die Bereitwilligkeit zuschrieb, die +künftige und baldige Gründung einer neuen »_Kommune_« irgendwo in der +nächsten Nähe zu fördern, oder z. B. Dunetschka nicht hinderlich zu +sein, wenn es ihr im ersten Monate nach der Hochzeit einfallen sollte, +sich einen Geliebten anzuschaffen, oder auch seine künftigen Kinder +nicht taufen zu lassen und dergleichen mehr. Peter Petrowitsch +widersprach nicht, seiner Gewohnheit nach, wenn ihm diese Eigenschaften +zugeschrieben wurden, und ließ es zu, daß man ihn dafür lobte, -- so +angenehm war ihm jedes Lob. + +Peter Petrowitsch, der an diesem Morgen einige fünfprozentige +Staatspapiere gewechselt hatte, saß am Tische und zählte das Papiergeld +und die Kupons nach. Andrei Ssemenowitsch, der fast nie Geld hatte, ging +im Zimmer auf und ab und gab sich den Anschein, als betrachte er diesen +Haufen Geld gleichgültig und geringschätzig. Peter Petrowitsch konnte um +nichts in der Welt glauben, daß Andrei Ssemenowitsch so viel Geld +gleichgültig war, und jener wiederum dachte voll Bitterkeit, daß Peter +Petrowitsch wirklich fähig sei, in dieser Weise von ihm zu denken, und +sich möglicherweise freue, ihn, seinen jungen Freund, mit den +aufgebauten Päckchen von Papiergeld zu reizen und zu verhöhnen, indem er +ihn an seine Unbedeutendheit und den zwischen ihnen bestehenden Abstand +erinnerte. + +Andrei Ssemenowitsch fand ihn heute ungewöhnlich gereizt und +unaufmerksam, trotzdem er ihm sein Lieblingsthema über die Errichtung +einer neuen eigenartigen »Kommune« auseinandergesetzt hatte. Die kurzen +Erwiderungen und Bemerkungen, die Peter Petrowitsch inmitten seiner +Berechnungen machte, zeugten von einer sehr deutlichen und beabsichtigt +spöttischen Unhöflichkeit. Aber der »humane« Andrei Ssemenowitsch +schrieb die Stimmung von Peter Petrowitsch dem gestrigen Bruche mit +Dunetschka zu und brannte vor Verlangen, schneller dieses Thema zu +berühren, -- er hätte etwas Fortschrittliches und Propagandistisches für +ihn, was seinen ehrenwerten Freund trösten und »sicher« seiner weiteren +Entwicklung von Nutzen sein müßte. + +»Was ist das für ein Gedächtnismahl, das diese ... die Witwe da +arrangiert?« -- fragte plötzlich Peter Petrowitsch, Andrei Ssemenowitsch +bei der interessantesten Stelle unterbrechend. + +»Als ob Sie das nicht selbst wüßten; ich habe doch gestern mit Ihnen +über dieses Thema gesprochen und Ihnen meine Gedanken über all diese +Gebräuche entwickelt ... Sie hat Sie ja auch eingeladen, ich habe es +gehört, als Sie gestern selbst mit ihr sprachen ...« + +»Ich hätte keineswegs erwartet, daß diese bettelarme, dumme Person all +das Geld zu einem Gedächtnismahl verplempern wird, das sie von diesem +andern Dummkopf ... Raskolnikoff erhalten hat. Ich war erstaunt, als ich +beim Durchgehen sah, -- was für Vorbereitungen gemacht sind ... Wein ist +aufgestellt! ... Es sind allerhand Menschen geladen, -- weiß der Teufel, +was das bedeuten soll!« -- fuhr Peter Petrowitsch fort, der absichtlich +dieses Gespräch anfing. -- »Was? Sie sagen, man hatte auch mich +geladen?« -- fügte er plötzlich hinzu und erhob den Kopf. -- »Wann war +denn das? Ich erinnere mich gar nicht. Ich will übrigens nicht hingehen. +Was soll ich dort? Ich habe mit ihr gestern bloß im Vorbeigehen über die +Möglichkeit gesprochen, daß sie, als die arme Witwe eines Beamten, +seinen Jahresgehalt als eine einmalige Unterstützung erhalten könnte. +Sollte sie mich deswegen vielleicht eingeladen haben? He--he!« + +»Ich habe auch nicht die Absicht hinzugehen,« -- sagte Lebesjätnikoff. + +»Das fehlte noch, wo Sie sie eigenhändig verprügelt haben. Das ist doch +begreiflich, Sie müßten sich schämen, he--he--he!« + +»Wer hat verprügelt und wen?« -- fragte Lebesjätnikoff aufgebracht und +errötete. + +»Sie, Sie haben doch Katerina Iwanowna vor einem Monat verprügelt! Ich +habe es gestern gehört ... Da haben wir die Prinzipien! ... Also die +Frauenfrage hinkt auch. He--he!« + +Und Peter Petrowitsch setzte wie getröstet seine Berechnungen fort. + +»Das ist alles Unsinn und Verleumdung!« -- brauste Lebesjätnikoff auf, +der ungern an diese Geschichte erinnert wurde, -- »das war gar nicht der +Fall! Es war ganz anders ... Sie haben es nicht richtig gehört; alles +ist Klatscherei! Ich habe mich damals nur verteidigt. Sie stürzte sich +zuerst auf mich ... Sie hat mir fast meinen Backenbart ausgerissen ... +ich hoffe denn doch, daß jedem Menschen erlaubt ist, seine Person zu +verteidigen. Außerdem gestatte ich niemand, mir Gewalt anzutun ... Aus +Prinzip. Denn das ist schon Despotismus. Was sollte ich denn tun, -- +etwa alles ruhig mir gefallen lassen? Ich habe sie bloß zurückgestoßen +...« + +»He--he--he!« kicherte Luschin boshaft weiter. + +»Sie sticheln mich nur, weil Sie selbst geärgert wurden und nun böse +darüber sind ... Das ist doch Unsinn und hat gar nichts, rein gar nichts +mit der Frauenfrage zu tun! Sie haben das nicht richtig aufgefaßt; ich +denke sogar, wenn man annimmt, daß die Frau in allem dem Manne gleich +sei, selbst in der physischen Kraft, wie man schon behauptet, so muß +hier erst recht Gleichheit herrschen. Gewiß, ich habe es mir nachher +überlegt, daß es so eine Frage überhaupt nicht geben soll, weil +Prügeleien sowieso nicht stattfinden sollen. In der künftigen +Gesellschaft wird dies undenkbar sein ... es wäre doch sonderbar, eine +Gleichberechtigung zum Prügeln anzustreben. So dumm bin ich nicht ... +obwohl Prügeleien übrigens auch vorkommen können ... ich will sagen, +nachher nicht vorkommen werden, jetzt aber noch vorkommen ... pfui! zum +Teufel! Mit Ihnen wird man ganz konfus! Ich gehe nicht zu diesem Essen, +nicht weil diese Unannehmlichkeit passiert ist, ich gehe vielmehr aus +Prinzip nicht hin, um nicht bei einem so schändlichen Brauch wie einer +Gedächtnisfeier mitzutun; ja, das ist der Grund! Man könnte eigentlich +hingehen, um sich darüber lustig zu machen ... Nur schade, daß keine +Priester da sein werden. Sonst würde ich unbedingt hingehen.« + +»Mit anderen Worten: Gastliches Salz und Brot essen und gleich darauf es +ebenso beschimpfen wie die, die Sie eingeladen haben. So ist es doch +gemeint?« + +»Durchaus nicht beschimpfen, nur protestieren. Ich gehe mit bester +Absicht hin. Ich kann indirekt die Entwicklung und die Propaganda +fördern. Jeder Mensch ist verpflichtet, andere zu fördern und auf sie zu +wirken, je kräftiger er es tut, desto besser ist es vielleicht. Ich kann +eine Idee bringen, einen Samen ausstreuen ... Aus diesem Samen wird eine +Tat entstehen. Womit hätte ich da gekränkt? Anfangs fühlen sie sich +vielleicht gekränkt, nachher aber werden sie selbst einsehen, daß es +ihnen nur von Nutzen war. Bei uns beschuldigte man eine Zeitlang +Terebjewa, -- dieselbe, die jetzt in der Kommune ist, -- weil sie, als +sie sich von ihrer Familie lossagte und ... sich einem hingab, ihrer +Mutter und ihrem Vater geschrieben hatte, sie wolle nicht mehr in +Vorurteilen leben und gehe eine illegale Ehe ein; man fand es +rücksichtslos, so mit den Eltern umzugehen, und meinte, sie hätte es +ihnen schonender und milder beibringen sollen. Meiner Ansicht nach ist +dies alles Unsinn, man soll gar nicht so mild sein, im Gegenteil, ganz +im Gegenteil, man soll erst recht scharf protestieren. Nehmen wir zum +Beispiel die Warentz; sie hat sieben Jahre mit ihrem Manne +zusammengelebt, hat ihn und ihre zwei Kinder verlassen und ihrem Manne +in einem Briefe die Wahrheit gesagt. -- >Ich habe eingesehen, daß ich +mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde Ihnen nie vergeben, daß +Sie mich betrogen haben, indem Sie mir verheimlichten, daß noch eine +andere gesellschaftliche Einrichtung, nämlich die Kommune existiert. Ich +habe es vor kurzem durch einen großmütigen Mann erfahren, dem ich mich +auch hingegeben habe, und mit ihm zusammen begründe ich eine Kommune. +Ich sage Ihnen dies offen, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu +betrügen. Tun Sie, was Sie für gut halten. Hoffen Sie nicht, mich +zurückzuerobern, es ist zu spät. Ich wünsche Ihnen alles Glück.< So muß +man schreiben!« + +»Nicht wahr, diese Terebjewa ist doch die, von der Sie erzählten, daß +sie in der dritten illegalen Ehe lebe?« + +»Richtig betrachtet, erst in der zweiten! Aber mag sie auch in der +vierten oder fünfzehnten Ehe leben, was ist dabei! Und wenn ich jemals +bedauerte, daß mein Vater und meine Mutter gestorben sind, so ist es +sicher jetzt der Fall. Ich habe schon ein paarmal gedacht, wie ich sie +mit meinem Protest aufrütteln würde, wenn sie noch am Leben wären! Ich +hätte absichtlich alles so eingerichtet ... Ich hätte es ihnen gezeigt! +Ich hätte sie staunen gemacht! Es ist wirklich schade, daß ich niemanden +habe!« + +»Um ihn erstaunen zu machen? He--he! Nun, gut!« -- unterbrach ihn Peter +Petrowitsch, -- »sagen Sie mir lieber, Sie kennen doch die Tochter des +Verstorbenen, ein zartes, unbedeutendes Ding! Ist es wahr, was man von +ihr erzählt, hm?« + +»Und was wäre dabei? Meiner Meinung, das heißt meiner persönlichen +Überzeugung nach ist es die normale Lage der Frau. Warum denn nicht? Das +heißt _distinguons_{[9]}. In der gegenwärtigen Gesellschaft gilt das +nicht als normal, weil es eine gezwungene Lage ist, in der künftigen +Gesellschaft ist sie vollkommen normal, weil sie freiwillig sein wird. +Ja, auch jetzt hatte sie das Recht dazu, -- sie litt Not und das war ihr +Fond, sozusagen ihr Kapital, über das sie vollkommenes Recht hat zu +verfügen. Selbstverständlich werden in der künftigen Gesellschaft keine +Fonds mehr nötig sein, ihre Rolle wird in anderer Hinsicht bestimmt, +harmonisch und vernünftig bedingt sein. Was Ssofja Ssemenowna persönlich +anbetrifft, so betrachte ich ihre Handlungen als einen energischen und +personifizierten Protest gegen die gesellschaftliche Einrichtung und +achte sie deswegen um so höher, ja ich freue mich ihrer Handlungsweise!« + +»Man hat mir aber doch erzählt, daß gerade Sie sie gezwungen haben, von +hier auszuziehen!« + +Lebesjätnikoff wurde wütend. + +»Das ist wieder eine Klatscherei!« -- schrie er. -- »Die Sache verhält +sich ganz und gar nicht so! Das ist absolut nicht so gewesen! Katerina +Iwanowna hat damals alles geschwindelt, weil sie nichts davon verstanden +hat! Ich habe mich gar nicht an Ssofja Ssemenowna herangemacht! Ich habe +sie bloß gefördert, vollkommen ohne Hintergedanken, und versuchte in ihr +den Protest zu erwecken ... Mir war es bloß um den Protest zu tun, und +außerdem konnte Ssofja Ssemenowna sowieso nicht mehr hier bleiben!« + +»Luden Sie sie in die Kommune ein?« + +»Sie machen sich immer lustig über mich, doch ohne Erfolg, erlaube ich +mir zu bemerken. Sie verstehen gar nichts davon. Solche Rollen gibt es +in einer Kommune nicht. Darum wird gerade eine Kommune gegründet, damit +solche nicht mehr existieren sollen. In einer Kommune wird ihr Stand +sein jetziges Wesen völlig verändern, und was hier dumm ist, wird dort +vernünftig sein, was jetzt bei den gegenwärtigen Verhältnissen +unnatürlich ist, wird dort vollkommen natürlich sein. Alles hängt davon +ab, in welcher Umgebung und in welcher Gesellschaft ein Mensch lebt. Der +Mensch selbst ist nichts. Mit Ssofja Ssemenowna stehe ich noch jetzt auf +gutem Fuße, was Ihnen als Beweis dienen kann, daß sie mich nie als ihren +Feind und Beleidiger angesehen hat. Ja! Ich schlage ihr jetzt vor, in +eine Kommune einzutreten, aber auf einer ganz anderen Basis! Was +erscheint Ihnen wieder lächerlich? Wir wollen eine eigene Kommune, eine +besondere Kommune auf viel breiteren Grundlagen begründen, als alle +früheren. Wir sind in unseren Überzeugungen weiter gegangen. Wir +negieren mehr! Wenn Dobroljuboff[10] aus dem Grabe steigen würde, möchte +ich mit ihm diskutieren! Und Belinski[11] würde ich übel zurichten! +Vorläufig aber fahre ich fort, Ssofja Ssemenowna zu fördern! Sie ist +eine herrliche, herrliche Natur!« + +»Nun, und Sie benutzen auch die herrliche Natur, ah? He--he!« + +»Nein, nein! Oh, nein! Im Gegenteil!« + +»Nun, nun im Gegenteil! He--he--he! Was Sie nicht sagen!« + +»Glauben Sie mir doch! Warum soll ich es vor Ihnen verheimlichen, ich +bitte Sie? Im Gegenteil, mir erscheint es selbst merkwürdig, -- sie ist +mir gegenüber besonders ängstlich, keusch und schamhaft!« + +»Und Sie fördern sie selbstverständlich ... he--he! Beweisen ihr, daß +diese ganze Schamhaftigkeit Unsinn ist? ...« + +»Gott bewahre, durchaus nicht! Oh, wie gemein, wie dumm -- verzeihen Sie +es mir -- Sie das Wort >Förderung< verstehen! Nichts, rein gar nichts +verstehen Sie! Oh, mein Gott, wie Sie noch ... unreif sind! Wir +erstreben Freiheit für die Frau, und Sie haben bloß das eine im Sinn ... +Ich lasse die Frage über Keuschheit und weibliche Schamhaftigkeit +vollkommen beiseite, als Dinge, die an und für sich nutzlos und voller +Vorurteile sind, aber ich verstehe sie vollkommen und lasse ihre +Keuschheit mir gegenüber gelten, weil darin -- ihr Wille, ihr ganzes +Recht besteht. Wenn sie selbst zu mir sagen würde: -- >Ich will dich +haben<, -- könnte ich mich eines großen Erfolges rühmen, weil das +Mädchen mir sehr gefällt. Gegenwärtig behandelt sie gewiß niemand +höflicher und zuvorkommender und mit größerer Achtung ihrer Würde, als +ich ... Ich warte und hoffe -- und weiter nichts!« + +»Schenken Sie ihr besser etwas. Ich wette, daß Sie daran noch nicht +gedacht haben.« + +»Sie verstehen nichts, gar nichts; ich habe es Ihnen schon oft gesagt! +Gewiß, ihre Lage ist derart, aber hier ist noch eine andere Frage! Eine +ganz andere Frage! Sie verachten sie einfach. Wenn Sie eine Tatsache +sehen, die Sie irrtümlicherweise für verachtungswürdig halten, +verweigern Sie einem menschlichen Wesen eine humane Betrachtung. Sie +wissen noch gar nicht, was sie für eine Natur ist! Mir tut es nur sehr +leid, daß sie in der letzten Zeit fast gänzlich aufgehört hat zu lesen +und keine Bücher von mir mehr nimmt. Früher hat sie sich öfters Bücher +geholt. Es ist auch schade, daß sie trotz ihrer Energie und +Entschlossenheit, zu protestieren, -- die sie schon einmal bewiesen hat, +immer noch wenig Selbständigkeit, sozusagen Unabhängigkeit, wenig +Verneinung besitzt, um sich endgültig von einigen Vorurteilen und ... +Dummheiten loszureißen. Und ungeachtet dessen, daß sie manche Fragen +ausgezeichnet begreift. Sie hat z. B. glänzend die Frage über das +Handküssen verstanden, das heißt, daß der Mann das Gesetz der Gleichheit +mit der Frau überschreitet, wenn er ihr die Hand küßt. Über diese Frage +wurde bei uns debattiert und ich habe es ihr sofort mitgeteilt. Auch für +Assoziationen der Arbeiter in Frankreich zeigt sie Interesse. Jetzt +erörterte ich mit ihr die Frage des ungehinderten Zutritts in alle +Wohnungen der künftigen Gesellschaft.« + +»Was ist das?« + +»In letzter Zeit wurde über die Frage debattiert, ob ein Mitglied der +Kommune das Recht habe, zu jeder Zeit in das Zimmer eines anderen +Mitgliedes, sei es ein Mann oder eine Frau, eintreten darf ..., und es +wurde beschlossen, daß er das Recht dazu habe ...« + +»Wenn aber der oder die in diesem Augenblicke mit einem natürlichen +Bedürfnisse beschäftigt ist, he--he!« + +Andrei Ssemenowitsch wurde böse. + +»Sie reden immer über dasselbe, über die verfluchten >Bedürfnisse<!« -- +rief er voll Haß aus, -- »pfui, wie ärgere ich mich, wie bin ich wütend, +daß ich damals, als ich Ihnen das System erklärte, so vorzeitig diese +verfluchten Bedürfnisse erwähnte! Zum Teufel! Das ist immer der Stein +des Anstoßes für Ihresgleichen, am schlimmsten ist es, daß sie es zur +Zielscheibe ihrer Witzeleien machen, ehe sie erfahren, wie die Sache +ist! Als wären sie im Rechte! Als könnten Sie sich etwas darauf +einbilden! Pfui! Ich habe immer behauptet, daß man diese ganze Frage +Neulingen erst am Schlusse darstellen kann, wenn sie schon von dem +System überzeugt sind, wenn sie schon entwickelt und auf dem richtigen +Wege sich befinden. Ja, und sagen Sie mir bitte, was finden Sie +Häßliches und Verachtungswürdiges, z. B. an einer Mistgrube? Ich bin der +erste, der bereit ist, alle beliebigen Mistgruben zu reinigen! Da ist +noch nicht mal etwas Selbstaufopferndes dabei. Es ist einfach eine +Arbeit, eine edle, für die Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder +andern wert ist, nur bedeutend höher steht, als zum Beispiel die +Tätigkeit irgendeines Rafael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.« + +»Und edler vor allem, edler ist, -- he--he!« + +»Was heißt edel? Ich verstehe solche Ausdrücke bei der Feststellung von +menschlicher Tätigkeit nicht. >Edel<, >großmütig< -- Unsinn, Dummheiten, +alte Worte voller Vorurteile, die ich verneine! Alles, was der +Menschheit _von Nutzen_ ist, ist auch edel. Ich verstehe nur das eine +Wort, -- _nützlich_! Kichern Sie, soviel Sie wollen, es ist doch so!« + +Peter Petrowitsch lachte laut. Er hatte seine Berechnungen abgeschlossen +und das Geld eingesteckt. Ein Teil davon blieb noch auf dem Tische +liegen. Die Frage »über Mistgruben« hatte schon ein paarmal, trotz ihrer +ganzen Flachheit, zur Folge gehabt, daß es zwischen Peter Petrowitsch +und seinem jungen Freunde zu Mißverständnissen und Uneinigkeiten +gekommen war. Die ganze Dummheit war, daß Andrei Ssemenowitsch sich +tatsächlich ärgerte. Luschin fand nur eine Zerstreuung darin, heute +jedoch wollte er Lebesjätnikoff ärgern. + +»Sie sind wegen Ihres gestrigen Mißerfolges wütend und suchen Streit,« +-- platzte endlich Lebesjätnikoff heraus, der trotz seiner +»Unabhängigkeit« und aller seiner »Proteste« nicht wagte, Peter +Petrowitsch entgegenzutreten und noch immer aus früheren Jahren her +gewohnt war, Respekt zu beobachten. + +»Sagen Sie mir lieber,« -- unterbrach ihn Peter Petrowitsch hochmütig +und ärgerlich, -- »können Sie ... oder besser gesagt, sind Sie +tatsächlich so gut mit der erwähnten jungen Person bekannt, daß Sie sie +sofort, auf einen Augenblick, in dieses Zimmer bitten können? Ich +glaube, sie sind schon alle vom Friedhofe zurückgekehrt ... Ich höre +Schritte ... Ich möchte diese Person einen Augenblick sehen.« + +»Wozu denn?« fragte verwundert Lebesjätnikoff. + +»Ich möchte sie sehen. Heute oder morgen verlasse ich diese Wohnung und +möchte ihr noch etwas mitteilen ... Ich bitte Sie übrigens, während der +Unterredung hier zu bleiben. Es ist besser. Sonst könnten Sie, Gott weiß +noch was, denken.« + +»Ich denke mir gar nichts dabei ... Ich habe nur gefragt, und wenn Sie +etwas vorhaben, so gibt's nichts Leichteres, als sie hierher zu bitten. +Ich will sofort hingehen. Und ich will Sie, seien Sie überzeugt, nicht +stören.« + +Und wirklich, nach etwa fünf Minuten kehrte Lebesjätnikoff mit +Ssonjetschka zurück. Sie trat äußerst verwundert und schüchtern ein. In +solchen Fällen war sie stets schüchtern und fürchtete neue Gesichter und +neue Bekanntschaften, schon als Kind fürchtete sie sich davor und +wieviel mehr noch jetzt ... Peter Petrowitsch begrüßte sie »freundlich +und höflich,« und mit einem Anflug von Vertraulichkeit, die bei solch +einem ehrenwerten und soliden Menschen, wie er, einem jungen und in +gewissem Sinne _interessanten_ Wesen gegenüber, seiner Meinung nach, gut +angebracht war. Er beeilte sich, sie »zu ermutigen,« und bot ihr einen +Platz ihm gegenüber am Tische an. Ssonja setzte sich hin, sah sich um, +-- sah Lebesjätnikoff an, das auf dem Tisch liegende Geld, blickte +wieder zu Peter Petrowitsch und wandte die Augen nicht mehr von ihm ab. +Lebesjätnikoff ging zur Türe, Peter Petrowitsch aber stand auf, gab +Ssonja ein Zeichen, sitzen zu bleiben und hielt Lebesjätnikoff zurück. + +»Ist Raskolnikoff dort? Ist er gekommen?« fragte er ihn im Flüstertone. + +»Raskolnikoff? Er ist da. Warum? Ja, er ist da ... Er ist soeben +gekommen, ich habe ihn gesehen ... Was ist mit ihm?« + +»Nun, dann bitte ich Sie inständig, hier bei uns zu bleiben und mich +nicht allein mit diesem ... Fräulein zu lassen. Es ist eine ganz +unbedeutende Sache, aber man kann, weiß Gott, was daraus schließen. Ich +will nicht, daß es Raskolnikoff _dort_ erzählt ... Verstehen Sie, was +ich meine?« + +»Ich verstehe, ich verstehe!« -- begriff plötzlich Lebesjätnikoff. -- +»Ja, Sie haben recht ... Nach meiner persönlichen Überzeugung gehen Sie +in Ihren Befürchtungen zu weit, aber ... Sie haben dennoch recht. Bitte, +ich bleibe. Ich will mich hier ans Fenster stellen und will Sie nicht +stören ... Meiner Ansicht nach haben Sie recht ...« + +Peter Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, setzte sich Ssonja gegenüber, +blickte sie aufmerksam an und gab sich ein außergewöhnlich solides und +sogar ein wenig strenges Aussehen, als möchte er dadurch sagen, -- »du +sollst dir nichts dabei denken, Verehrteste.« Ssonja wurde ganz +verlegen. + +»Zuerst bitte ich Sie, Ssofja Ssemenowna, mich bei Ihrer verehrten Frau +Mutter zu entschuldigen ... Es ist doch richtig? Katerina Iwanowna nimmt +die Stelle einer Mutter bei Ihnen ein?« -- begann er sehr würdevoll und +ziemlich freundlich. + +Man merkte, daß er die freundschaftlichsten Absichten hatte. + +»Ja, sie vertritt mir die Mutter,« -- antwortete Ssonja hastig und +ängstlich. + +»Nun, also entschuldigen Sie mich bei ihr, daß ich durch +unvorhergesehene Umstände gezwungen bin, abzusagen und zu dem Essen +nicht erscheinen kann, trotz der angenehmen Einladung Ihrer Frau +Mutter.« + +»Ich will es sagen; ihr sofort sagen,« -- und Ssonjetschka sprang hastig +vom Stuhle auf. + +»Das ist _noch_ nicht alles,« -- hielt sie Peter Petrowitsch zurück und +lächelte über ihre Einfalt und Unkenntnis von Anstand, -- »Sie kennen +mich wenig, liebe Ssofja Ssemenowna, wenn Sie meinen, daß ich wegen +dieser unbedeutenden, mich allein angehenden Ursache jemanden wie Sie +persönlich bemüht und gebeten hätte, zu mir zu kommen. Ich habe noch ein +anderes Anliegen.« + +Ssonja setzte sich wieder hastig hin. Die bunten Banknoten, die auf dem +Tische lagen, flimmerten wieder vor ihren Augen, sie wandte schnell ihr +Gesicht von ihnen ab und erhob die Augen zu Peter Petrowitsch; es kam +ihr auf einmal höchst unanständig vor, besonders weil _sie_ es war, +fremdes Geld anzublicken. Sie heftete ihren Blick auf den goldenen +Kneifer in der linken Hand Peter Petrowitschs, und auf den großen, +massiven, wertvollen Ring mit einem gelben Stein an seinem Mittelfinger, +-- aber schnell wandte sie die Augen auch davon ab, und da sie nicht +wußte, wohin sie sehen sollte, blickte sie wieder Peter Petrowitsch +unverwandt ins Gesicht. Nachdem er noch würdevoller, als vorhin, eine +Weile geschwiegen hatte, fuhr er fort: + +»Es traf sich, daß ich gestern im Vorübergehen einige Worte mit der +unglücklichen Katerina Iwanowna wechselte. Ein paar Worte genügten, um +zu erfahren, daß sie sich in einem -- unnatürlichen Zustande befindet, +-- wenn man sich so ausdrücken kann ...« + +»Ja ... in einem unnatürlichen,« -- pflichtete Ssonja hastig ihm bei. + +»Oder einfacher und verständlicher gesagt, -- in einem kranken +Zustande.« + +»Ja, einfacher und verständ... ja, sie ist krank.« + +»Nicht wahr, das stimmt. Aus dem Gefühle der Humanität, und ... und +sozusagen, des Mitleides möchte ich meinerseits, ihr unvermeidliches und +unglückliches Schicksal voraussehend, irgendwie ihr nützlich sein. Es +scheint mir, daß die ganze arme Familie jetzt auf Ihnen allein lastet.« + +»Erlauben Sie mir zu fragen,« -- stand Ssonja plötzlich auf, -- »was +haben Sie ihr gestern von der Möglichkeit einer Pension gesagt? Sie +sagte mir, daß Sie es übernommen hätten, ihr eine Pension zu bewirken. +Ist das wahr?« + +»Keineswegs, und sogar in gewisser Beziehung ein Unsinn. Ich habe nur +von einer einmaligen Unterstützung, als der Witwe eines im Dienste +gestorbenen Beamten, erwähnt, -- wenn Protektion da sei, -- aber wie mir +scheint, hat Ihr verstorbener Vater nicht nur die gesetzliche Frist +nicht ausgedient, sondern hatte in der letzten Zeit gar nicht im +staatlichen Dienste gestanden. Mit einem Worte, es konnte Hoffnung, wenn +auch eine ziemlich zweifelhafte, da sein, denn im Grunde genommen, gibt +es in diesem Falle keine Rechte auf eine Unterstützung, sondern im +Gegenteil ... So, sie dachte schon an eine Pension, he--he--he! Eine +flinke Dame!« + +»Ja, an eine Pension ... Sie ist leichtgläubig und gut, und aus Güte +glaubt sie alles und ... und ... sie hat so einen Verstand ... Ja ... +entschuldigen Sie,« -- sagte Ssonja und stand wieder auf, um +fortzugehen. + +»Erlauben Sie, Sie haben mich nicht zu Ende gehört.« + +»Ja, ich habe nicht zu Ende gehört,« -- murmelte Ssonja. + +»Also, setzen Sie sich.« + +Ssonja wurde furchtbar verlegen und setzte sich, zum dritten Male. + +»Nachdem ich ihre Lage mit den unglücklichen kleinen Kindern sehe, +möchte ich, -- wie ich schon gesagt habe -- irgendwie nach meinen +Kräften nützlich sein, das heißt, was man nach Kräften nennt, nicht +mehr. Man könnte zum Beispiel eine Sammlung veranstalten oder sozusagen +eine Verlosung ... oder etwas dieser Art, -- wie es auch stets in +ähnlichen Fällen von den Nächststehenden oder auch Fremden, überhaupt +von Menschen, die helfen möchten, arrangiert wird. Darüber hatte ich die +Absicht, mit Ihnen zu reden. Man könnte es tun.« + +»Ja, es wäre gut ... Gott wird Sie dafür ...« stammelte Ssonja und +blickte Peter Petrowitsch unverwandt an. + +»Man könnte es, aber ... darüber können wir nachher ... das heißt, man +könnte gleich heute den Anfang machen. Wir wollen uns noch einmal am +Abend sehen, es besprechen und sozusagen die Grundlagen festsetzen. +Kommen Sie so gegen sieben Uhr zu mir. Ich hoffe, daß Andrei +Ssemenowitsch sich daran beteiligen wird ... Aber ... hier gibt es einen +Umstand, der vorher und genau erwähnt werden muß. Deshalb habe ich Sie, +Ssofja Ssemenowna, auch hierher bemüht. Meine Ansicht geht nämlich +dahin, daß man Katerina Iwanowna selbst kein Geld in die Hände geben +darf, ja daß es gefährlich ist; der Beweis dafür liegt in dem heutigen +Gedächtnismahl. Ohne eine trockene Rinde Brot zu morgen und ... Stiefel, +und andere nötigen Dinge zu haben, -- wird heute Rum und Madeira und ... +Kaffee eingekauft. Ich habe es im Vorbeigehen gesehen. Morgen hängt +wieder alles bis auf das letzte Stück Brot an Ihnen, und das ist +unsinnig. Darum muß die Sammlung nach meiner persönlichen Ansicht so vor +sich gehen, daß die unglückliche Witwe von dem Gelde nichts wissen darf, +nur Sie allein würden es zu wissen bekommen. Ist das nicht richtiger?« + +»Ich weiß es nicht. Sie ist nur heute so ... nur einmal im Leben ... sie +wollte so gern sein Gedächtnis feiern, ihm die Ehre erweisen ... Sie ist +sonst sehr klug. Aber, wie Sie wollen, und ich werde Ihnen sehr, sehr, +sehr ... und sie werden Ihnen sehr ... Gott wird Ihnen ... und die +Waisen ...« + +Ssonja sprach nicht zu Ende und weinte. + +»So. Nun, also behalten Sie es im Auge, jetzt aber belieben Sie zur +Unterstützung Ihrer Verwandten fürs erste eine meinen Kräften +angemessene Summe von mir entgegenzunehmen. Ich möchte ausdrücklich +wünschen, daß mein Name dabei nicht genannt wird. Bitte ... da ich +sozusagen selbst Sorgen habe, bin ich nicht imstande, mehr ...« + +Und Peter Petrowitsch streckte Ssonja einen Zehnrubelschein entgegen, +wobei er ihn peinlich aufrollte. Ssonja nahm den Schein in Empfang, +errötete, sprang auf, murmelte etwas und begann sich eilig zu +verabschieden. Peter Petrowitsch begleitete sie feierlich bis zur Türe. +Sie sprang aus dem Zimmer, ganz erregt und abgequält und kehrte zu +Katerina Iwanowna in größter Verlegenheit zurück. + +Während dieses Vorganges stand Andrei Ssemenowitsch bald am Fenster, +bald ging er im Zimmer herum und wollte das Gespräch nicht unterbrechen. +Als Ssonja fortgegangen war, trat er auf Peter Petrowitsch zu und +reichte ihm feierlich die Hand. + +»Ich habe alles gehört und alles _gesehen_,« sagte er und betonte +besonders das letzte Wort. »Das ist edel, das heißt, ich wollte sagen, +human! Sie wollten keinen Dank, ich habe es gesehen! Und obwohl ich, +offen gestanden, prinzipiell mit der privaten Wohltätigkeit nicht +sympathisieren kann, weil sie nicht bloß das Übel nicht vertilgt, +sondern es nur noch mehr stärkt, muß ich gestehn, daß ich Ihre Handlung +mit Vergnügen gesehen habe, -- ja, ja, mir gefällt es.« + +»Oh, das ist Unsinn!« murmelte Peter Petrowitsch ein wenig erregt und +blickte aufmerksam Lebesjätnikoff an. + +»Nein, es ist kein Unsinn! Ein Mann, der wie Sie durch den gestrigen +Vorfall beleidigt und geärgert ist, und gleichzeitig fähig ist, an das +Unglück von anderen zu denken, -- ein solcher Mensch ist ... obwohl er +durch seine Handlungen einen sozialen Fehler begeht, -- dennoch ... der +Achtung würdig! Ich habe es sogar von Ihnen, Peter Petrowitsch, nicht +erwartet, um so mehr, nach Ihren Begriffen ... oh, wie Ihre Begriffe +Ihnen noch hinderlich sind! Wie Sie, zum Beispiel, dieser gestrige +Mißerfolg aufregt!« rief der gute kleine Andrei Ssemenowitsch aus und +fühlte wieder eine stärkere Sympathie für Peter Petrowitsch, »und wozu, +wozu brauchen Sie unbedingt diese Ehe, diese _gesetzliche_ Ehe, lieber, +edler Peter Petrowitsch? Warum brauchen Sie unbedingt diese +_Gesetzlichkeit_ in der Ehe? Nun, wenn Sie wollen, schlagen Sie mich, +aber ich freue mich, freue mich, daß diese Ehe nicht zustande gekommen +ist, daß Sie frei sind, daß Sie noch nicht ganz für die Menschheit +verloren sind, ich freue mich ... So, jetzt habe ich mich +ausgesprochen!« + +»Weil ich in Ihrer illegalen Ehe keine Hörner tragen und fremde Kinder +züchten will, aus diesem Grunde brauche ich die gesetzliche Ehe,« sagte +Luschin, nur um etwas zu sagen. + +Er war besonders besorgt und nachdenklich. + +»Kinder? Sie sagen Kinder?« fuhr Andrei Ssemenowitsch auf wie ein +Kampfroß, das das Signal gehört hatte, »Kinder -- das ist eine soziale +Frage und eine Frage von größter Wichtigkeit, das gebe ich zu, aber die +Kinderfrage wird sich anders lösen. Einige verwerfen vollkommen die +Kinder, wie alles, was mit Familie zu tun hat. Wir wollen über die +Kinder nachher reden und wollen uns jetzt mit den Hörnern beschäftigen. +Ich muß Ihnen gestehen, daß das mein schwacher Punkt ist. Dieser üble +Husarenausdruck, der Ausdruck eines Puschkins ist im künftigen Lexikon +undenkbar. Ja, und was sind Hörner? Oh, welch eine Verirrung! Was für +Hörner? Wozu Hörner? Welch ein Unsinn! Im Gegenteil, in der illegalen +Ehe können sie gar nicht existieren! Die Hörner sind nur die natürliche +Folge jeder gesetzlichen Ehe, sozusagen, ihre Korrektur, ein Protest, so +daß sie in diesem Sinne keineswegs erniedrigend sind ... Und wenn ich +irgendwann, -- diesen Unsinn einmal angenommen, -- gesetzlich +verheiratet sein sollte, so würde ich mich sogar über diese verfluchten +Hörner freuen; ich würde dann meiner Frau sagen, -- >mein Freund, ich +habe dich bis jetzt bloß geliebt, jetzt aber achte ich dich auch, weil +du verstanden hast, zu protestieren!< Sie lachen! Das kommt davon, weil +Sie nicht imstande sind, sich von den Vorurteilen loszureißen! Zum +Teufel, ich begreife doch, worin gerade die Unannehmlichkeit besteht, +wenn man in gesetzlicher Ehe betrogen wird, -- aber das ist doch bloß +eine niederträchtige Folge einer niederträchtigen Tatsache, wo beide +Teile erniedrigt sind. Wenn aber die Hörner einem offen aufgesetzt +werden, wie in der illegalen Ehe, dann existieren sie nicht mehr, sie +sind undenkbar und verlieren sogar die Benennung Hörner. Im Gegenteil, +Ihre Frau wird Ihnen bloß beweisen, wie sie Sie schätzt, indem sie Sie +für unfähig hält, ihrem Glücke im Wege zu sein und Sie für so reif +betrachtet, daß Sie wegen ihres neuen Mannes an ihr keine Rache nehmen +werden. Zum Teufel, ich träume zuweilen, daß, wenn ich mich verheiraten +würde, pfui! wenn ich heiraten würde, -- ob illegal, ob gesetzlich, das +ist einerlei, -- würde ich selbst zu meiner Frau einen Liebhaber +bringen, wenn sie sich noch keinen angeschafft hätte, und würde ihr +sagen, -- >mein Freund, ich liebe dich, aber ich wünsche auch, daß du +mich achtest, -- bitte, hier hast du ihn!< Ist das nicht das Richtige?« + +Peter Petrowitsch hörte zu und lachte, aber ohne besondere Begeisterung. +Er hörte fast nicht zu. Er überlegte sich etwas ganz anderes, und +Lebesjätnikoff merkte es auch schließlich. Peter Petrowitsch war +aufgeregt, rieb sich die Hände und dachte nach. Das alles kam Andrei +Ssemenowitsch später erst zum Bewußtsein. + + + II. + +Es würde schwer fallen, genau die Gründe anzuführen, aus welchen die +Idee dieses sinnlosen Gedächtnismahles in dem verstörten Gehirn von +Katerina Iwanowna entstanden war. Es waren beinahe zehn Rubel von dem +Gelde daraufgegangen, das ihr Raskolnikoff eigentlich zur Beerdigung +Marmeladoffs gegeben hatte. Vielleicht hielt sich Katerina Iwanowna dem +Verstorbenen gegenüber verpflichtet, sein Andenken »wie es sich gehört« +zu ehren, damit alle Mitbewohner und besonders Amalie Iwanowna wissen +sollten, daß er »nicht nur gar nicht schlechter als sie, vielleicht weit +besser war,« und daß niemand von ihnen das Recht hatte, sich über ihn zu +stellen. Vielleicht hatte hierzu jener besondere _Stolz der Armen_ am +meisten beigetragen, aus dem viele bei gewissen gesellschaftlichen +Gebräuchen, die, wie es einmal ist, für alle und jeden verbindlich sind, +ihre letzten Kräfte anspannen und die letzten Spargroschen ausgeben, um +bloß »nicht schlechter, als andere« zu sein, und damit die anderen nicht +darüber »reden« können. Es war auch sehr möglich, daß Katerina Iwanowna +das Verlangen hatte, gerade in diesem Falle, namentlich in dem +Augenblicke, wo sie scheinbar von aller Welt verlassen war, allen diesen +»unbedeutenden und schlimmen Mietern« zu zeigen, daß sie nicht nur +Lebensart hatte und sich auf Empfänge verstand, sondern daß sie gar +nicht zu solch einem Lose bestimmt war, daß sie »in einem feinen, ja in +dem aristokratischen Hause eines Obersten« erzogen war, und daß sie +durchaus nicht dazu erzogen war, die Diele selbst zu fegen und des +Nachts Kinderlumpen zu waschen. Diese Anfälle von Stolz und Eitelkeit +suchen zuweilen die ärmlichsten und unterdrücktesten Menschen heim und +verwandeln sich oft bei ihnen in ein gereiztes, unüberwindliches +Bedürfnis. Katerina Iwanowna gehörte eigentlich nicht zu den +Unterdrückten, man konnte sie durch Umstände töten, aber sie moralisch +_unterdrücken_, das heißt, sie einschüchtern und ihren Willen +unterwerfen, -- konnte man nicht. Außerdem sagte Ssonjetschka mit gutem +Grunde, daß ihr Verstand verstört sei. Man konnte es freilich nicht +positiv und endgültig sagen, doch in letzter Zeit, in dem letzten Jahre, +wurde ihr armer Kopf zu stark gequält, als daß er nicht zum Teil +gelitten hätte. Und eine stark fortgeschrittene Schwindsucht trägt auch, +wie die Ärzte sagen, zu einer Geistesstörung bei. + +_Weine_ in Mehrzahl und verschiedene Sorten gab es freilich nicht, +ebenso fehlte auch _Madeira_, -- das war übertrieben, Wein war aber da. +Es gab Branntwein, Rum und Lissaboner, alles von der schlechtesten +Sorte, aber in genügender Menge. Von Speisen waren außer Kutje drei oder +vier Gerichte vorhanden, alles aus der Küche von Amalie Iwanowna, dazu +wurden zwei Samowars aufgestellt für Tee und Punsch, die nach dem Essen +gereicht werden sollten. Katerina Iwanowna hatte alles selbst +eingekauft, als Hilfe hatte sie einen Mieter mitgehabt, einen kläglichen +Polen, der weiß Gott warum bei Frau Lippewechsel wohnte. Er hatte sich +sofort zu Katerina Iwanownas Verfügung gestellt, lief den ganzen +gestrigen Tag und den ganzen heutigen Morgen Hals über Kopf und mit +heraushängender Zunge herum und war besonders bemüht, daß man dies auch +bemerken solle. Wegen jeder Kleinigkeit kam er zu Katerina Iwanowna +gelaufen, war ihr sogar in die Kaufläden nachgegangen, nannte sie +fortwährend »Pani Chorunschina« und wurde ihr zuletzt bis zum Überdrusse +langweilig, obwohl sie zuerst behauptet hatte, daß sie ohne diesen +»bereitwilligen und großmütigen« Menschen vollkommen verloren wäre. +Katerina Iwanowna hatte die Eigenschaft in ihrem Charakter, den ersten +Besten, der ihr in den Weg lief, mit den hellsten und schönsten Farben +zu schmücken, ihn so zu loben, daß mancher sich schämte, allerhand +Umstände, die gar nicht existierten, zu seinem Preise zu erfinden, +selbst daran vollkommen aufrichtig und ehrlich zu glauben, und dann +plötzlich, mit einem Male, sich enttäuscht zu fühlen, alles abzubrechen, +den Menschen zu beschimpfen und hinauszuschmeißen, den sie noch vor +einigen Stunden buchstäblich angebetet hatte. Von Natur aus hatte sie +einen heiteren, fröhlichen und friedfertigen Charakter, infolge des +ununterbrochenen Unglücks und Mißerfolges begann sie geradezu _rasend_ +zu wünschen und zu verlangen, daß alle in Frieden und Freude leben +sollten und anders _nicht leben dürfen_, und der geringste Mißklang im +Leben, die allerkleinsten Mißerfolge brachten sie sofort in Wut, und sie +fing an, unmittelbar nach den stärksten Hoffnungen und Phantasien ihr +Schicksal zu verfluchen, alles, was ihr unter die Hände geriet, zu +zerreißen und fortzuwerfen und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. +Amalie Iwanowna hatte plötzlich in Katerina Iwanownas Augen eine +ungewöhnliche Bedeutung und außergewöhnliche Achtung errungen, +vielleicht einzig aus dem Grunde, weil dieses Gedächtnismahl vorbereitet +wurde und weil Amalie Iwanowna von ganzem Herzen bereit war, an allen +Besorgungen teilzunehmen. Sie hatte es übernommen, den Tisch zu decken, +die Wäsche, das Geschirr und alles übrige herzugeben und in ihrer Küche +das Essen zuzubereiten. Katerina Iwanowna überließ ihr alles und ging +auf den Friedhof. Und wirklich war alles aufs beste hergerichtet, -- der +Tisch war ziemlich reinlich gedeckt, das Geschirr, Gabeln, Messer, +Gläser, Weingläser, Tassen -- all dieses paßte nicht zusammen, war von +den verschiedenen Mietern zusammengeborgt, aber alles stand zur +bestimmten Stunde auf seinem Platze, und Amalie Iwanowna, im Vollgefühle +ihrer gut besorgten Aufgabe, begrüßte die Zurückkehrenden mit einem +gewissen Stolze; sie war sehr geputzt in einer Haube mit neuen +Trauerbändern und im schwarzen Kleide. Dieser Stolz, obwohl berechtigt, +mißfiel aus irgendeinem Grunde Katerina Iwanowna, »als hätte man in der +Tat ohne Amalie Iwanowna nicht verstanden, den Tisch zu decken«! Auch +die Haube mit den neuen Bändern erregte ihr Mißfallen, -- +»möglicherweise ist diese dumme Deutsche noch darauf stolz, daß sie die +Wirtin ist und sich aus Gnade bereit erklärt hat, den armen Mietern zu +helfen? Aus Gnade? Bitte sehr! Bei Katerina Iwanownas Papa, der Oberst +und beinahe Gouverneur war, wurde zuweilen der Tisch für vierzig +Personen gedeckt, so daß irgend eine Amalie Iwanowna oder besser gesagt +Ludwigowna, dort nicht mal in die Küche zugelassen worden wäre ...« +Katerina Iwanowna beschloß aber, ihre Gefühle nicht vor der Zeit zu +äußern, obgleich sie sich im Herzen fest vorgenommen hatte, Amalie +Iwanowna heute noch unbedingt abzutrumpfen und sie an ihren richtigen +Platz zu erinnern, sonst würde die sich Gott weiß was einbilden; +vorläufig behandelte sie sie bloß kalt. Eine andere Unannehmlichkeit +hatte auch teilweise zu der Gereiztheit von Katerina Iwanowna +beigetragen, -- zu der Beerdigung war, außer dem Polen, von den +Geladenen fast niemand erschienen, der aber hatte Zeit genug, auf den +Friedhof zu laufen; zu dem Gedächtnismahle dagegen waren nur die +Unansehnlichsten und Armen gekommen, viele sogar nicht ganz nüchtern, +sozusagen das Pack. Die älteren und angesehensten waren, wie +absichtlich, ferngeblieben, als hätten sie sich alle verabredet. Peter +Petrowitsch Luschin zum Beispiel, man kann sagen, der solideste von +allen Mietern, war nicht erschienen, während Katerina Iwanowna schon +gestern aller Welt, das heißt Amalie Iwanowna, Poletschka, Ssonjetschka +und dem Polen, erzählt hatte, daß dieser edelste und großmütigste Mann +mit besten Verbindungen und von sehr großem Vermögen, ein früherer +Freund ihres ersten Mannes, der in dem Hause ihres Vaters verkehrt habe, +ihr versprochen hätte, alle Mittel in Bewegung zu setzen, um ihr eine +bedeutende Pension zu verschaffen. Wir wollen hierbei bemerken, daß, +wenn Katerina Iwanowna mit Verbindungen und Vermögen anderer Leute +prahlte, sie es vollkommen uneigennützig, sozusagen aus übervollem +Herzen tat, nur aus dem Vergnügen allein, den Gelobten noch mehr zu +preisen und ihm einen größeren Wert zu verleihen. Nächst Luschin und +wahrscheinlich »seinem Beispiele folgend« war auch »dieser üble, +schändliche Lebesjätnikoff« nicht erschienen. Was bildet sich denn +dieser ein? Man hatte ihn bloß aus Gnade und weil er in einem Zimmer mit +Peter Petrowitsch lebte und sein Bekannter war, eingeladen; es wäre +peinlich für ihn gewesen, nicht eingeladen zu sein. Auch eine feine Dame +mit ihrer Tochter, »einer überreifen alten Jungfer,« die erst seit zwei +Wochen bei Amalie Iwanowna lebten, waren nicht erschienen; sie hatten +sich trotz ihres kurzen Aufenthaltes hier schon einige Male über den +Lärm und das Geschrei in Marmeladoffs Zimmer, besonders, wenn der +Verstorbene betrunken nach Hause gekommen war, beklagt. Das hatte +Katerina Iwanowna durch Amalie Iwanowna erfahren, wenn diese sich mit +Katerina Iwanowna zankte, ihr drohte, sie und die ganze Familie +hinauszujagen, und dabei aus vollem Halse schrie, daß sie »anständige +Mieter, deren Fußtritt Sie nicht mal wert sind,« beunruhige. Katerina +Iwanowna hatte absichtlich beschlossen, diese Dame und ihre Tochter, +deren »Fußtritt sie angeblich nicht wert sei,« einzuladen, und um so +mehr, weil jene bei zufälligen Begegnungen sich hochmütig abwandte, -- +damit sie wisse, daß man hier »edler denkt und fühlt und sie, ohne sich +des Bösen zu erinnern, einlade,« und damit sie sehen sollten, daß +Katerina Iwanowna nicht gewohnt sei, in solchen Verhältnissen zu leben. +Es war unbedingt vorausgesetzt, ihnen allen bei Tische zu erklären und +zu erwähnen, daß ihr verstorbener Vater beinahe Gouverneur gewesen sei, +und gleichzeitig indirekt zu verstehen zu geben, daß es überflüssig +wäre, sich bei Begegnungen abzuwenden, und daß es äußerst dumm wäre. +Ebenso war der dicke Oberstleutnant, eigentlich war er Stabskapitän +außer Dienst, nicht erschienen, es stellte sich heraus, daß er seit dem +gestrigen Morgen vor Trunkenheit »ohne Hinterbeine« war. Mit einem +Worte: es waren bloß erschienen, -- der Pole, dann ein häßlicher +schweigsamer Kanzlist, in einem stark glänzenden Frack, mit Finnen im +Gesichte und einem widerlichen Geruche und noch ein tauber und fast +erblindeter alter Mann, der einst in einem Postamt gedient hatte und den +jemand seit undenkbaren Zeiten und aus unbekannten Gründen bei Amalie +Iwanowna untergebracht hatte. Es war auch ein betrunkener +verabschiedeter Leutnant, eigentlich ein Proviantmeister, erschienen mit +einem höchst unanständigen lauten Lachen, und: »stellen Sie sich vor,« +ohne Weste! Einer von den Gästen setzte sich direkt an den Tisch, ohne +sogar Katerina Iwanowna zu begrüßen, und zuguterletzt tauchte eine +Person im Schlafrocke auf, da sie keine Kleider besaß, aber das war so +unanständig, daß es den Bemühungen von Amalie Iwanowna und dem Polen +gelang, ihn hinauszuexpedieren. Der Pole hatte übrigens noch zwei andere +Polen mitgebracht, die niemals bei Amalie Iwanowna gewohnt hatten, und +die niemand vorher in ihrem Hause gesehen hatte. Dies alles reizte +Katerina Iwanowna in höchstem Grade. »Für wen waren schließlich denn +alle Vorbereitungen getroffen?« Man hatte sogar die Kinder, um an Platz +zu gewinnen, nicht am Tische untergebracht, der das ganze Zimmer +einnahm, sondern für sie in der hinteren Ecke auf einem Kasten gedeckt, +wobei die beiden kleineren auf einer Bank saßen, Poletschka aber, als +die Erwachsene, mußte auf sie aufpassen, sie füttern und ihnen »wie +Kindern aus feinem Hause« die Näschen putzen. Mit einem Worte, Katerina +Iwanowna glaubte alle mit doppelter Würde und sogar mit Hochmut begrüßen +zu müssen. Manche blickte sie besonders streng an und bat sie von oben +herab, sich an den Tisch zu setzen. Da sie aber aus irgendeinem Grunde +meinte, Amalie Iwanowna für alle Nichterschienenen verantwortlich machen +zu müssen, begann sie plötzlich, sie äußerst nachlässig zu behandeln, +was jene sofort merkte und dadurch sehr pikiert wurde. Solch ein Anfang +deutete auf kein gutes Ende. Endlich hatten alle Platz genommen. +Raskolnikoff trat fast in demselben Augenblick ein, als sie von dem +Friedhofe zurückkehrten. Katerina Iwanowna war überaus erfreut, ihn zu +sehen, erstens, weil er der einzige »gebildete« von allen Gästen war und +»wie bekannt, nach zwei Jahren in der hiesigen Universität einen +Lehrstuhl einnehmen werde,« und zweitens, weil er sofort und ehrerbietig +sich entschuldigte, daß er trotz seines Wunsches zu der Beerdigung nicht +hatte kommen können. Sie stürzte sich buchstäblich auf ihn, setzte ihn +bei Tisch neben sich zur linken Hand, zur rechten saß Amalie Iwanowna, +und wandte sich ununterbrochen an Raskolnikoff, trotz ihrer beständigen +Unruhe und Sorge, daß das Essen auch richtig herumgereicht wurde und +alle erhielten, trotz des qualvollen Hustens, der sie alle Augenblicke +unterbrach und peinigte, und der sich in diesen letzten zwei Tagen +besonders verstärkt zu haben schien. Sie beeilte sich, ihm halb +flüsternd alle angesammelten Gefühle und ihre ganze gerechte Entrüstung +über das mißlungene Gedächtnismahl mitzuteilen, wobei die Entrüstung oft +unabsichtlich und ohne jede Berechnung, einem ausgelassenen Lachen über +die versammelten Gäste, besonders aber über die Wirtin, Platz machte. + +»An allem ist dieser Kuckuck schuld. Sie wissen, wen ich meine, -- die +dort, dort!« und Katerina Iwanowna wies mit dem Kopfe auf die Wirtin. +»Sehen Sie sie an, -- sie hat die Augen aufgesperrt, fühlt, daß wir über +sie reden, kann aber nichts verstehn. Pfui, so eine Eule! Ha--ha--ha! +... Kche--kche--kche!« hustete sie. »Und was will sie mit ihrer Haube! +Kche--kche--kche! Haben Sie gemerkt, sie möchte gern, daß alle Gäste +meinen sollen, sie beschütze mich und erweise mir mit ihrem Hiersein +eine Ehre. Ich habe sie gebeten, wie man eine anständige Person bittet, +bessere Leute, und zwar die Bekannten des Verstorbenen, einzuladen, und +sehen Sie, wen sie hergebracht hat, -- allerhand Narren! Schmutzfinke! +Sehen Sie nur diesen da mit dem unreinen Teint, -- das ist doch eine +Rotznase auf zwei Beinen! Und diese Polen ... ha--ha--ha! +Kche--kche--kche! Niemand, niemand hat sie vorher hier gesehen, auch ich +nicht. Wozu sind die gekommen, frage ich Sie? Wie hübsch sie sitzen, +nebeneinander. -- Pan, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen zu, +»haben Sie genug vorgelegt? Nehmen Sie noch? Trinken Sie Bier! Wollen +Sie nicht Schnaps? Sehen Sie, -- er ist aufgesprungen und verbeugt sich, +sehen Sie, sehen Sie, -- sie sind wahrscheinlich sehr hungrig, die +Armen! Tut nichts, mögen sie essen! Sie lärmen wenigstens nicht, aber +... aber ich fürchte ... für die silbernen Löffel der Wirtin! ... Amalie +Iwanowna!« wandte sie sich plötzlich an die Wirtin laut, »ich sage Ihnen +im voraus, falls Ihre Löffel gestohlen werden, übernehme ich keine +Verantwortung! Ha--ha--ha!« lachte sie, wandte sich wieder an +Raskolnikoff, wies wieder auf die Wirtin und freute sich über ihre +Bemerkung. »Sie hat es nicht verstanden, sie hat wieder nichts +verstanden! Sehen Sie, wie sie mit aufgesperrtem Munde dasitzt, -- wie +eine echte Eule, eine Eule mit neuen Bändern, ha--ha--ha!« + +Das Lachen verwandelte sich von neuem in einen unerträglichen Husten, +der minutenlang anhielt. Auf ihrem Taschentuch zeigte sich Blut, und +Schweißtropfen traten auf die Stirne. Sie zeigte Raskolnikoff schweigend +das Blut, und kaum hatte sie sich erholt, flüsterte sie mit roten +Flecken auf den Wangen ihm lebhaft wieder zu. + +»Sehen Sie, ich habe ihr einen sehr heiklen Auftrag gegeben, diese Dame +und ihre Tochter einzuladen. Sie wissen doch, von wem ich spreche? Hier +mußte man in der zartesten Weise, in der geschicktesten Art handeln, sie +war aber so ungeschickt, daß diese angereiste dumme Person, dieses +aufgeblasene Geschöpf, diese unbedeutende Provinzmadam, sie die Witwe +irgendeines Majors, die sich hier um eine Pension bemüht und bei den +Behörden deswegen herumläuft ... und die mit ihren fünfundfünfzig Jahren +sich schminkt und färbt ... was allgemein bekannt ist ... daß dieses +Geschöpf nicht nur sich für zu gut hielt, hier zu erscheinen, sondern +sich nicht einmal entschuldigen ließ, wie es in diesen Fällen doch die +gewöhnlichste Höflichkeit verlangt! Ich kann nicht begreifen, warum auch +Peter Petrowitsch nicht gekommen ist? Und wo ist Ssonja? Wo ist sie nur +hingegangen? Ah, da ist sie ja! Ssonja, wo warst du? Merkwürdig, daß du +sogar am Beerdigungstage deines Vaters so unpünktlich bist. Rodion +Romanowitsch, sie soll sich neben Sie setzen. Hier ist dein Platz, +Ssonjetschka ... nimm, was dir gefällt. Nimm von dem Fisch, er ist gut. +Hat man den Kindern auch etwas gegeben? Poletschka, habt ihr alles? +Kche--kche--kche! Nun, gut. Sei ein artiges Kind, Lene und du, Kolja, +zapple nicht mit den Beinen, sitz, wie ein anständiges Kind sitzen muß. +Was sagst du, Ssonjetschka?« + +Ssonja beeilte sich sofort, ihr die Entschuldigung von Peter Petrowitsch +mitzuteilen und versuchte so laut zu sprechen, daß es alle hören +konnten, gebrauchte gewählte und ehrerbietige Ausdrücke, die sie +absichtlich Peter Petrowitsch andichtete. Sie fügte hinzu, daß Peter +Petrowitsch sie besonders gebeten habe, mitzuteilen, daß er +unverzüglich, sobald es ihm nur möglich sei, herkommen würde, um in +_geschäftlichen Angelegenheiten_ allein mit Katerina Iwanowna zu +sprechen und zu verabreden, was man jetzt und künftig unternehmen könnte +und dergleichen mehr. + +Ssonja wußte, daß dies Katerina Iwanowna friedlicher stimmen und +beruhigen würde, sie würde sich dadurch geschmeichelt fühlen und ihr +Stolz würde befriedigt sein. Sie setzte sich neben Raskolnikoff, den sie +hastig begrüßte und flüchtig, doch voll Interesse anblickte. Während der +folgenden Zeit vermied sie aber ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen. +Sie war zerstreut, obwohl sie die ganze Zeit Katerina Iwanowna im Auge +behielt, um ihre Wünsche zu erraten. Weder sie, noch Katerina Iwanowna +waren in Trauer, da sie keine Kleider hatten; Ssonja hatte ein +dunkelbraunes Kleid an und Katerina Iwanowna ihr einziges, ein +dunkelgestreiftes Kattunkleid. Die Mitteilung über Peter Petrowitsch +verbreitete sich rasch. Als Katerina Iwanowna mit Würde Ssonja angehört +hatte, erkundigte sie sich ebenso würdevoll, wie es Peter Petrowitsch +gehe? Dann _flüsterte_ sie hörbar Raskolnikoff zu, daß es für einen +angesehenen und soliden Menschen, wie Peter Petrowitsch, unmöglich +gewesen wäre, in solch eine »ungewöhnliche Gesellschaft« zu kommen, +trotz der großen Anhänglichkeit an ihre Familie und der alten +Freundschaft mit ihrem Papa. + +»Sehen Sie, darum bin ich auch Ihnen, Rodion Romanowitsch, so sehr +dankbar, daß Sie trotz solcher Umgebung Salz und Brot von mir nicht +verschmäht haben,« fügte sie fast laut hinzu, ȟbrigens bin ich +überzeugt, daß nur die besondere Freundschaft zu meinem armen +Verstorbenen Sie veranlaßt hat, Ihr Wort zu halten.« + +Sie blickte noch einmal voll Stolz und Würde ihre Gäste an und +erkundigte sich plötzlich mit besonderer Fürsorge laut über den Tisch +hinüber bei dem tauben alten Manne, »ob er nicht mehr vom Braten nehmen +möchte und ob er Lissaboner bekommen habe?« Der Alte antwortete nicht +und konnte lange nicht begreifen, wonach man ihn frage, obwohl seine +Nachbarn aus Scherz ihn anzustoßen begannen. Er blickte nur mit offenem +Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch mehr +hervorrief. + +»Ist das ein Holzklotz! Sehen Sie doch nur! Wozu hat man den hierher +gebracht? Was Peter Petrowitsch anbetrifft, so war ich stets seiner +sicher,« fuhr Katerina Iwanowna fort, Raskolnikoff zu erzählen, »so +gleicht er selbstverständlich nicht ...« wandte sie sich laut und scharf +und mit äußerst strenger Miene zu Amalie Iwanowna, daß sie darüber +erschrak, »so gleicht er nicht jenen aufgedonnerten Madams mit ihren +Schleppen, die bei meinem Papa nicht mal als Köchinnen ihren Dienst +verrichten gedurft hätten, und denen mein verstorbener Mann nur deshalb +die Ehre erwiesen hatte, sie zu empfangen, weil er eine unerschöpfliche +Güte hatte.« + +»Ja, er liebte eins zu trinken, ja, er liebte es und trank auch!« rief +plötzlich der verabschiedete Proviantmeister und leerte das zwölfte Glas +Schnaps. + +»Mein verstorbener Mann hatte diese Schwäche, das wissen alle,« stürzte +sich Katerina Iwanowna plötzlich auf ihn, »aber er war ein guter und +edler Mensch, der seine Familie liebte und achtete; nur das eine war +schlimm, daß er in seiner Güte allerhand verdorbenen Leuten zu sehr +traute und weißgott mit wem trank, sogar mit solchen, die seine +Stiefelsohle nicht wert waren! Stellen Sie sich vor, Rodion +Romanowitsch, man fand in seiner Tasche einen Pfefferkuchenhahn, -- er +ging total betrunken heim, und dachte doch an seine Kinder.« + +»Einen Ha--hn? Sie belieben zu sagen -- ei--nen Hahn?« rief der +Proviantmeister. + +Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie dachte über etwas +nach und seufzte. + +»Sie meinen auch sicher, wie alle, daß ich zu streng zu ihm war,« fuhr +sie fort, sich an Raskolnikoff wendend. »Das ist nicht richtig! Er hat +mich geachtet, er hat mich sehr, sehr geachtet! Er war eine gute Seele. +Und zuweilen tat er mir so leid! Er saß manchmal in der Ecke und sah +mich an, da tat er mir so leid, ich wollte zu ihm freundlich sein, +dachte mir aber, wenn ich jetzt freundlich zu ihm bin, betrinkt er sich +wieder. Nur mit Strenge konnte man ihn einigermaßen davon zurückhalten.« + +»Ja, es ist vorgekommen, daß er an den Haaren gezerrt wurde, es ist +vorgekommen, öfters,« brüllte wieder der Proviantmeister und leerte noch +ein Glas. + +»Es wäre angebracht, manche Dummköpfe nicht nur an den Haaren zu zerren, +sondern mit einem Besenstiel zu verprügeln. Ich rede jetzt nicht von dem +Verstorbenen!« trumpfte Katerina Iwanowna den Proviantmeister ab. + +Die roten Flecken auf ihren Wangen traten immer stärker hervor und ihre +Brust hob sich. Nur wenig fehlte und ein Skandal begann. Viele +kicherten; das wäre ihnen offenbar sehr angenehm gewesen. Man begann den +Proviantmeister zu stoßen und ihm etwas zuzuflüstern. Man wollte beide +aufeinander hetzen. + +»Erlau--ben Sie mir zu fragen, wen Sie damit meinten,« begann der +Proviantmeister wieder, »wessen Ehre ... haben Sie soeben ... Übrigens, +es ist unnötig! Unsinn! Eine Witwe! Eine arme Witwe! Ich verzeihe ... +Ich passe!« und er goß sich wieder Schnaps ein. + +Raskolnikoff hörte schweigend, voll Widerwillen zu. Er nahm nur aus +Höflichkeit, rührte kaum die Stücke an, die ihm Katerina Iwanowna alle +Augenblicke auf den Teller legte und aß bloß, um sie nicht zu kränken. +Er blickte Ssonja aufmerksam an. Ssonja aber wurde immer unruhiger und +besorgter; sie ahnte, daß das Gedächtnismahl kein friedliches Ende +nehmen werde und beobachtete voll Angst die sich steigernde Gereiztheit +von Katerina Iwanowna. Sie wußte, daß sie der Hauptgrund war, warum die +beiden zugereisten Damen so verachtungsvoll mit der Einladung Katerina +Iwanownas umgegangen waren. Sie hatte von Amalie Iwanowna selbst gehört, +daß die Mutter allein schon durch die Einladung beleidigt worden war und +die Frage gestellt hatte, »wie sie es verantworten könne, ihre Tochter +neben _diese Person_ zu setzen?« Ssonja ahnte, daß Katerina Iwanowna +dies irgendwie erfahren habe, und eine Kränkung Ssonjas bedeutete für +Katerina Iwanowna mehr, als eine persönliche, mehr als eine Kränkung +ihrer Kinder, ihres Papas, mit einem Worte, es war für sie eine tödliche +Beleidigung, und Ssonja wußte, daß Katerina Iwanowna sich nicht eher +beruhigen werde, »bis sie diesen geputzten Krähen bewiesen hätte, daß +sie beide ...« und dergleichen mehr. Wie absichtlich, hatte in diesem +Augenblicke jemand vom anderen Ende des Tisches Ssonja einen Teller +zugesandt, worauf zwei Herzen, durchbohrt mit einem Pfeile, aus Brot +geknetet waren. Katerina Iwanowna flammte auf und bemerkte sofort laut +über den ganzen Tisch weg, daß der Absender sicher »ein betrunkener +Esel« sei. Amalie Iwanowna, die auch etwas Schlimmes ahnte, und +gleichzeitig durch den Hochmut Katerina Iwanownas im tiefsten Innern +gekränkt war, begann ohne jede Veranlassung, nur um die unangenehme +Stimmung der Gesellschaft abzulenken und gleichzeitig um ihr Ansehen in +aller Augen zu heben, zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr »Karl aus +der Apotheke« eines Nachts in einer Droschke nach Hause fuhr und der +Kutscher ihn ermorden wollte, daß Karl ihn sehr, sehr gebeten habe, ihn +nicht zu ermorden, »die Hände gefaltet und geweint hätte und so +erschrocken wäre und daß die Angst sein Herz durchbohrt hätte«. Katerina +Iwanowna bemerkte aber lächelnd, daß Amalie Iwanowna keine russischen +Anekdoten erzählen solle. Jene fühlte sich dadurch noch mehr gekränkt +und erwiderte, daß ihr Vater in Berlin ein sehr, sehr bedeutender Mann +gewesen sei und daß er »immer die Hände in die Taschen steckte«. Die +lachlustige Katerina Iwanowna konnte ein lautes Lachen nicht +unterdrücken, so daß Amalie Iwanowna die letzte Geduld verlor und kaum +mehr sich beherrschen konnte. + +»Das ist mal eine Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna Raskolnikoff zu und +wurde fast heiter gestimmt, »sie wollte sagen, daß er die Hände in den +Taschen hatte, sie brachte es aber so heraus, als ob er ein Langfinger +gewesen wäre, ha--ha! Haben Sie auch schon bemerkt, daß alle diese +Ausländer in Petersburg, hauptsächlich aber die Deutschen, die +irgendwoher zu uns kommen, dümmer sind, als wir? Sie müssen doch +zugeben, daß man nicht erzählen kann, daß >Karls Herz aus Angst +durchbohrt sei,< und daß er -- so eine Memme! -- anstatt den Kutscher zu +knebeln, die >Hände gefaltet, geweint und sehr gebeten hat<. Ach, so ein +Holzklotz! Und sie glaubt noch, daß dies sehr rührend sei und ahnt +nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist dieser betrunkene +Proviantmeister noch bei weitem klüger als sie; man sieht, daß er ein +Bruder Liederlich ist und das bißchen Verstand vertrunken hat, diese +andere aber tut so ordentlich, sitzt ernst da ... Sehen Sie nur, wie sie +nun die Augen aufreißt. Sie ist böse! Ärgert sich! Ha--ha--ha! +Kche--kche--kche!« + +Als Katerina Iwanowna so lustig geworden war, kam sie auf allerhand +Dinge und erzählte plötzlich, wie sie mit Hilfe der in Aussicht +gestellten Pension unbedingt in ihrer Heimatsstadt T... eine Anstalt für +junge Mädchen aus besseren Ständen errichten werde. Katerina Iwanowna +hatte dies Raskolnikoff noch nicht selbst mitgeteilt und sie ließ sich +auf sehr ausführliche, verlockende Einzelheiten ein. Auf rätselhafte +Weise tauchte plötzlich in ihren Händen dasselbe »Ehrendiplom« auf, von +dem der verstorbene Marmeladoff in der Schenke Raskolnikoff schon +erzählt und dabei erwähnt hatte, daß Katerina Iwanowna, seine Gattin, +bei der Entlassung aus dem Stift mit einem Shawl »vor dem Gouverneur und +den übrigen hohen Personen« getanzt habe. Dieses Ehrendiplom mußte +offenbar Katerina Iwanowna jetzt als Zeugnis dienen, daß sie auch ein +Recht dazu habe, eine Erziehungsanstalt zu gründen, es war hauptsächlich +mit der Absicht hervorgeholt und in der Nähe aufbewahrt worden, um +endgültig »den beiden aufgedonnerten Krähen,« wenn sie zu dem +Gedächtnismahle gekommen wären, den Hochmut zu nehmen, und um ihnen +deutlich zu beweisen, daß Katerina Iwanowna aus einem sehr feinen Hause +stamme, »man kann sogar sagen, aus einem aristokratischen Hause« und die +Tochter eines Obersten und sicher mehr sei, als manche Abenteurerin, die +in der letzten Zeit so überhand nahmen. Das Ehrendiplom ging sofort von +Hand zu Hand unter den betrunkenen Gästen, was Katerina Iwanowna nicht +hinderte, weil darin tatsächlich _en toutes lettres_{[10]} bemerkt war, +daß sie die Tochter eines Hofrats und Ritters pp. sei, folglich in der +Tat beinahe die Tochter eines Obersten. Katerina Iwanowna, einmal +entflammt, begann unverzüglich über alle Einzelheiten des künftigen +schönen und ruhigen Lebens in T... sich zu verbreiten, -- über die +Gymnasiallehrer, die sie auffordern würde, in ihrer Anstalt Unterricht +zu geben, über einen ehrenwerten, alten Herrn, einen Franzosen Mangot, +der Katerina Iwanowna noch im Stifte in französischer Sprache +unterwiesen hatte, und der jetzt in T... sein Leben beschloß und sicher +für einen angemessenen Preis zu ihr kommen werde. Endlich kam sie auch +auf Ssonja zu sprechen, »die zusammen mit Katerina Iwanowna nach T... +reisen und dort in allem ihr behilflich sein solle«. Aber hier prustete +jemand am andern Ende des Tisches vor Lachen. Katerina Iwanowna gab sich +sofort den Anschein, als beachte sie nicht das Lachen am anderen Ende +des Tisches, erhob absichtlich die Stimme und begann mit Begeisterung +über die unzweifelhaften Vorzüge von Ssofja Ssemenowna als ihrer Stütze +zu reden, ȟber ihre Sanftmut, Geduld, Selbstaufopferung, edlen Sinn und +ihre Bildung,« wobei sie Ssonja auf die Wange tätschelte, aufstand und +sie ein paarmal innig küßte. Ssonja errötete und Katerina Iwanowna brach +plötzlich in Weinen aus, nannte sich selbst »eine nervenschwache dumme +Person, die ziemlich angegriffen sei, und daß es Zeit sei, ein Ende zu +machen, da alle gegessen hätten und daß jetzt Tee kommen könne«. Da +riskierte Amalie Iwanowna, gänzlich verschnupft, daß sie an der ganzen +Unterhaltung nicht den geringsten Anteil genommen hatte, und daß man sie +gar nicht angehört hatte, den letzten Versuch und erlaubte sich mit +unterdrücktem Ärger, Katerina Iwanowna eine äußerst sachliche und +tiefsinnige Bemerkung zu machen, daß man nämlich in der künftigen +Pensionsanstalt besonders auf die reine Wäsche der jüngeren Mädchen +achthaben müsse, und daß unbedingt eine tüchtige Dame da sein müsse, um +darauf aufzupassen, und zweitens darauf, daß die jungen Mädchen heimlich +in der Nacht keine Romane lesen könnten. Katerina Iwanowna, wirklich +angegriffen und sehr müde, und des Gedächtnismahls überdrüssig, schnitt +Amalie Iwanowna schroff das Wort mit der Bemerkung ab, daß sie »Unsinn +quatsche« und nichts verstehe; daß die Sorge um die Wäsche Sache der +Kastellanin sei und nicht der Vorsteherin einer Anstalt für junge +Mädchen aus besseren Ständen, und was das Lesen von Romanen anbetrifft, +sei ihre Bemerkung einfach unanständig, und sie bitte sie endlich zu +schweigen. Amalie Iwanowna ward rot und antwortete geärgert, daß sie es +nur gut gemeint hätte, und daß sie für die Wohnung schon lange kein Geld +erhalten habe. Katerina Iwanowna zeigte ihr sofort den ihr zukommenden +Platz, indem sie sagte, daß Amalie Iwanowna lüge, wenn sie behaupte, es +nur gut gemeint zu haben, weil sie schon gestern, als der Verstorbene +noch auf der Bahre lag, sie wegen der Wohnungsmiete gequält habe. Darauf +erwiderte Amalie Iwanowna mit großartiger Konsequenz, daß sie jene Damen +eingeladen hätte, aber daß die Damen darum nicht gekommen seien, weil +sie feine Damen seien und zu unfeinen Damen nicht gehen könnten. +Katerina Iwanowna hielt ihr sofort unter die Nase, daß sie, solch ein +Schmutzfink, gar nicht beurteilen könne, was in Wahrheit fein sei. +Amalie Iwanowna konnte das nicht vertragen und erklärte sofort, daß »ihr +Vater aus Berlin ein sehr, sehr wichtiger Mann gewesen sei, beide Hände +in die Taschen gesteckt habe und immer nur -- puff! puff! gemacht habe«! +Und um ihren Vater augenscheinlicher vorzustellen, sprang Amalie +Iwanowna vom Stuhle auf, steckte ihre beiden Hände in die Taschen, blies +die Wangen auf und begann mit dem Munde unbestimmte Töne, die -- puff! +puff! ähnelten, hervorzubringen, unter lautem Lachen von allen Mietern, +die Amalie Iwanowna absichtlich durch ihren Beifall reizten, weil sie +eine Prügelei voraussahen. Jenes nun konnte wiederum Katerina Iwanowna +nicht vertragen und sie sagte unverzüglich und laut, daß Amalie Iwanowna +vielleicht nie einen Vater gehabt habe, daß Amalie Iwanowna einfach eine +betrunkene Estin aus Petersburg sei und sicher irgendwo früher als +Köchin gedient habe, vielleicht aber auch etwas schlimmeres gewesen sei. +Amalie Iwanowna wurde krebsrot und kreischte, daß Katerina Iwanowna +vielleicht keinen Vater gehabt habe, daß sie aber einen Vater aus Berlin +gehabt und er einen langen Rock getragen und immer -- puff! puff! -- +gemacht habe! Katerina Iwanowna bemerkte mit Verachtung, daß ihre +Herkunft allen bekannt sei, und daß in diesem Ehrendiplom gedruckt sei, +daß ihr Vater Oberst war, daß aber der Vater von Amalie Iwanowna -- wenn +sie überhaupt einen Vater gehabt habe -- sicher ein Este aus Petersburg +war und Milch verkauft habe; am wahrscheinlichsten aber sei, daß sie gar +keinen Vater gehabt habe, weil es bis jetzt noch nicht festzustellen +sei, wie der Vatername von Amalie Iwanowna laute, ob Iwanowna oder +Ludwigowna? Da geriet Amalie Iwanowna ganz außer sich, schlug mit der +Faust auf den Tisch, fing an zu kreischen, daß sie Amalie Iwanowna und +nicht Ludwigowna heiße, daß der Name ihres Vaters Johann sei und daß er +Dorfschulze gewesen war und daß der Vater von Katerina Iwanowna niemals +Dorfschulze gewesen sei. Katerina Iwanowna erhob sich von ihrem Stuhle +und bemerkte streng, scheinbar mit ruhiger Stimme, -- obwohl sie ganz +bleich war und ihre Brust schwer atmete, -- daß, wenn sie noch einmal +wagen werde, ihren dreckigen Vater mit ihrem Papa auf gleiche Stufe zu +stellen, sie ihr die Haube von ihrem Kopfe herunterreißen und mit den +Füßen zertreten werde. Als Amalie Iwanowna das hörte, begann sie im +Zimmer herumzulaufen und schrie aus allen Kräften, daß sie die Wirtin +sei und daß Katerina Iwanowna sofort das Zimmer räumen solle; dann +raffte sie die silbernen Löffel vom Tische zusammen. Es erhob sich ein +Lärm und Getöse; die Kinder weinten. Ssonja stürzte zu Katerina Iwanowna +hin, um sie zurückzuhalten, als aber Amalie Iwanowna etwas von +»Sittenkontrolle« schrie, stieß Katerina Iwanowna Ssonja von sich, eilte +auf Amalie Iwanowna zu, um ihre Drohung bezüglich der Haube sofort wahr +zu machen. In diesem Augenblicke öffnete sich die innere Tür und auf der +Schwelle erschien Peter Petrowitsch Luschin. Er blieb stehen und warf +einen strengen und aufmerksamen Blick auf die ganze Gesellschaft. +Katerina Iwanowna stürzte zu ihm hin. + + + III. + +»Peter Petrowitsch!« rief sie. »Schützen Sie mich! Sagen Sie dieser +dummen Kreatur, daß sie eine gebildete Dame im Unglück nicht in dieser +Weise behandeln dürfe, daß es ein Gericht gibt ... ich werde zu dem +Generalgouverneur gehen ... Sie wird zur Verantwortung gezogen werden +... Gedenken Sie der Gastfreundschaft bei meinem Vater, schützen Sie die +Waisen!« + +»Erlauben Sie, meine Dame ... Erlauben Sie, erlauben Sie,« wehrte Peter +Petrowitsch ab. »Ich hatte gar nicht die Ehre, Ihren Herrn Vater gekannt +zu haben, wie Sie wohl wissen werden ... erlauben Sie, meine Dame!« +Jemand lachte laut. »Und an Ihren ewigen Zänkereien mit Amalie Iwanowna +teilzunehmen, habe ich nicht die Absicht ... Ich bin in eigener +Angelegenheit hergekommen ... und möchte sofort mit Ihrer Stieftochter, +Ssofja ... Iwanowna ... nicht wahr, so heißt sie ... sprechen. Erlauben +Sie, daß ich zu ihr gehe ...« + +Und Peter Petrowitsch machte einen kleinen Bogen um Katerina Iwanowna +und ging in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Ssonja befand. + +Katerina Iwanowna blieb auf demselben Fleck stehen, wie vom Donner +gerührt. Sie konnte nicht begreifen, wie Peter Petrowitsch die +Gastfreundschaft ihres Papas leugnen konnte. Nachdem sie sich einmal +dies in den Kopf gesetzt hatte, glaubte sie auch schon selber heilig und +fest daran. Auch der geschäftliche, trockene Ton Peter Petrowitschs ... +in dem Verachtung, ja etwas Drohendes lag, machte sie bestürzt. Bei +seinem Erscheinen waren alle allmählich stiller geworden. Abgesehen +davon, daß dieser »nüchterne und ernste« Mensch von der ganzen +Versammlung scharf abstach, merkte man, daß er aus einem wichtigen +Anlasse hergekommen war, daß eine ungewöhnliche Ursache ihn solch eine +Gesellschaft aufzusuchen veranlaßt hatte, und daß es jetzt wohl etwas +geben werde. Raskolnikoff, der neben Ssonja stand, wich zur Seite, um +Peter Petrowitsch vorbei zu lassen; Luschin schien ihn gar nicht bemerkt +zu haben. Nach einem Augenblick erschien Lebesjätnikoff auf der +Schwelle; er trat nicht in das Zimmer herein, sondern blieb mit einem +besonderen Interesse dort stehen; er hörte zu, wie einer, der etwas +nicht begreift. + +»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber es ist eine wichtige +Angelegenheit,« bemerkte Peter Petrowitsch im allgemeinen, »ich freue +mich, ein größeres Publikum zu haben. Amalie Iwanowna, ich bitte Sie +sehr, als Wirtin dieser Wohnung, mein folgendes Gespräch mit Ssofja +Iwanowna aufmerksam anzuhören. Ssofja Iwanowna,« fuhr er fort, sich +direkt an die äußerst erstaunte und im voraus erschrockene Ssonja +wendend, »von meinem Tische, in dem Zimmer meines Freundes Andrei +Ssemenowitsch Lebesjätnikoff ist mit Ihrem Weggehen eine Reichsbanknote +im Werte von hundert Rubel, die mir gehörte, verschwunden. Wenn Sie auf +irgendeine Weise es wissen und uns zeigen, wo die Banknote sich jetzt +befindet, so versichere ich Ihnen mit meinem Ehrenworte und rufe alle +als Zeugen auf, daß die Sache damit erledigt sein wird. Im +entgegengesetzten Falle werde ich gezwungen sein, sehr ernste Maßregeln +zu ergreifen, und dann ... klagen Sie sich selbst an.« + +Ein peinliches Schweigen trat im Zimmer ein. Sogar die weinenden Kinder +verstummten. Ssonja stand totenblaß da, sah Luschin an und konnte nichts +antworten. Sie schien ihn immer noch nicht zu verstehen. Es vergingen +einige Sekunden. + +»Nun, wie ist's?« fragte Luschin und blickte sie scharf an. + +»Ich weiß nicht ... Ich weiß nichts ...« sagte endlich Ssonja mit +schwacher Stimme. + +»Nicht? Sie wissen nichts?« fragte Luschin sie noch einmal und schwieg +wieder. »Denken Sie nach, Mademoiselle,« begann er dann streng, aber als +rede er ihr immer noch im Guten zu, ȟberlegen Sie es sich, ich bin +bereit, Ihnen noch einige Zeit zum Überlegen zu geben. Sehen Sie, -- +wenn ich nicht so fest überzeugt wäre, so hätte ich selbstverständlich +bei meiner Erfahrenheit nicht riskiert, Sie in dieser direkten Weise zu +beschuldigen; denn für eine solche öffentliche und direkte, aber falsche +oder nur auch irrtümliche Beschuldigung kann ich selbst zur +Verantwortung gezogen werden. Ich weiß es. Heute Morgen wechselte ich, +zu meinen eigenen Zwecken, einige fünfprozentige Staatspapiere in der +nominellen Summe von dreitausend Rubel. Die Berechnung ist in meinem +Notizbuche eingetragen. Nach Hause gekommen, begann ich, -- mein Zeuge +ist Andrei Ssemenowitsch, -- das Geld zu zählen, und nachdem ich +zweitausend und dreihundert Rubel aufgezählt hatte, steckte ich sie in +meine Brieftasche und die Brieftasche in die Seitentasche meines Rockes. +Auf dem Tische blieben fünfhundert Rubel in Banknoten liegen und unter +ihnen drei Noten zu je hundert Rubel. In diesem Augenblick kamen Sie -- +auf meine Bitte hin -- und die ganze Zeit waren Sie äußerst verlegen, so +daß Sie dreimal mitten im Gespräch aufstanden und sich aus irgendeinem +Grunde beeilten, fortzugehen, obgleich unsere Unterredung noch nicht +beendet war. Andrei Ssemenowitsch kann dies alles bestätigen. +Wahrscheinlich werden Sie selbst, Mademoiselle, nicht ablehnen, +zuzugeben, daß ich Sie durch Andrei Ssemenowitsch nur aus dem einzigen +Grunde rufen ließ, um mit Ihnen über die schlimme und hilflose Lage +Ihrer Verwandten Katerina Iwanowna, zu der ich zum Gedächtnismahl nicht +kommen konnte, zu sprechen und Ihnen vorzuschlagen, wie es von Nutzen +wäre, zu ihren Gunsten irgend etwas, wie eine Sammlung, eine Verlosung +oder ähnliches, zu veranstalten. Sie haben mir gedankt und sogar Tränen +vergossen -- ich erzähle alles, wie es war, um Sie erstens an alles zu +erinnern, und zweitens, um Ihnen zu zeigen, daß meinem Gedächtnisse +nicht das Geringste entschwunden ist. Darauf nahm ich vom Tische einen +Zehnrubelschein und überreichte ihn Ihnen, als vorläufige Unterstützung +für Ihre Verwandten. Das alles hat Andrei Ssemenowitsch gesehen. Dann +begleitete ich Sie zur Türe, -- Sie waren immer noch sehr verlegen. Ich +blieb mit Andrei Ssemenowitsch allein, unterhielt mich mit ihm etwa zehn +Minuten, und Andrei Ssemenowitsch ging bald hinaus. Ich wandte mich von +neuem zu dem Tische, wo das Geld lag, mit der Absicht, es nachzuzählen +und es, wie ich vorher schon beschlossen hatte, gesondert aufzuheben. Zu +meiner Verwunderung fehlte von den übrigen eine Banknote von hundert +Rubel. Bitte, überlegen Sie es sich, -- Andrei Ssemenowitsch kann ich in +keinem Falle in Verdacht haben, ich würde mich selbst bei diesem +Gedanken schämen. Bei der Berechnung konnte ich mich auch nicht irren, +denn eine Minute vor Ihrem Kommen hatte ich alles nachgezählt und die +Summe richtig gefunden. Sie müssen selbst zugeben, daß, wenn ich Ihrer +Verlegenheit, Ihrer Eile wegzugehen und des Umstandes denke, daß Sie die +Hände eine Weile auf dem Tische hatten, und wenn ich schließlich Ihre +gesellschaftliche Lage und die mit ihr verknüpften Gewohnheiten in +Betracht zog, ich sozusagen zu meinem Entsetzen und gegen meinen Willen +_gezwungen_ war, bei diesem Verdachte stehen zu bleiben, -- der sicher +grausam, aber -- gerechtfertigt ist! Ich füge hinzu und wiederhole, -- +daß trotz meiner ganzen _klaren_ Überzeugung ich vollkommen verstehe, +daß dennoch in meiner jetzigen Beschuldigung ein gewisses Risiko für +mich liegt. Aber, ich habe es nicht unterlassen; ich bin gegen Sie +aufgetreten und will Ihnen auch sagen warum, -- einzig und allein, meine +Dame, auf Grund Ihres schwärzesten Undankes! Wie? Ich fordere Sie aus +Interesse für Ihre ärmste Verwandte auf, ich überlasse Ihnen eine meinen +Kräften entsprechende Gabe von zehn Rubel, und Sie danken mir gleich +darauf, auf der Stelle, für alles mit dieser Handlung! Nein, das ist +nicht mehr schön! Eine Lehre ist notwendig! Denken Sie nach; noch mehr, +ich bitte Sie, als Ihr aufrichtiger Freund, -- denn einen besseren +Freund können Sie in diesem Augenblicke nicht haben, -- besinnen Sie +sich! Sonst werde ich unbarmherzig sein! Nun, also!« + +»Ich habe nichts von Ihnen genommen,« -- flüsterte Ssonja entsetzt, -- +»Sie gaben mir zehn Rubel, bitte, nehmen Sie sie wieder, hier.« + +Ssonja zog ihr Taschentuch aus der Tasche hervor, suchte den Knoten, +löste ihn, nahm einen Zehnrubelschein heraus und streckte ihn Luschin +entgegen. + +»Und die übrigen hundert Rubel wollen Sie nicht gestehen?« -- sagte er +vorwurfsvoll und eindringlich, ohne den Schein zu nehmen. + +Ssonja blickte ringsum. Alle schauten sie mit schrecklichen, strengen, +spöttischen und haßerfüllten Gesichtern an. Sie blickte Raskolnikoff an +... er stand mit gekreuzten Armen an der Wand und sah sie mit einem +brennenden Blick an. + +»Oh, Gott!« -- entrang es Ssonja. + +»Amalie Iwanowna, man muß die Polizei benachrichtigen, und darum bitte +ich Sie sehr, vorläufig nach dem Hausknecht zu schicken,« -- sagte +Luschin leise und freundlich. + +»Gott der Barmherzige! Ich wußte, daß sie es gestohlen hat!« -- schlug +Amalie Iwanowna die Hände zusammen. + +»Sie wußten es?« -- fiel Luschin ein, -- »also hatten Sie auch früher +wenigstens gewisse Gründe, solches zu glauben. Ich bitte Sie, +verehrteste Amalie Iwanowna, sich an Ihre Worte zu erinnern, die +übrigens in Gegenwart von Zeugen ausgesprochen sind.« + +Von allen Seiten erhob sich plötzlich lautes Reden. Alle rührten sich. + +»Wie -- wie!« -- rief plötzlich Katerina Iwanowna, zu sich gekommen, und +stürzte zu Luschin, -- »wie! Sie beschuldigen sie des Diebstahls? +Ssonja? Ach, ihr Schufte, ihr Schufte!« + +Und sie eilte zu Ssonja und umarmte sie fest mit ihren hageren Armen. + +»Ssonja! Wie durftest du von ihm zehn Rubel nehmen! Oh, du Dumme! Gib +sie her! Gib mir sofort diese zehn Rubel -- da haben Sie sie!« + +Katerina Iwanowna entriß Ssonja das Papier, zerknüllte es und warf es +direkt Luschin ins Gesicht. Der Papierknäuel traf ihn ins Auge und fiel +auf die Diele nieder. Amalie Iwanowna beeilte sich, das Geld aufzuheben. +Peter Petrowitsch wurde böse. + +»Halten Sie diese Verrückte!« -- rief er. + +In diesem Augenblicke erschienen in der Türe neben Lebesjätnikoff noch +einige Gesichter, zwischen denen auch die der beiden zugereisten Damen +hervorguckten. + +»Wie! Verrückt? Ich soll verrückt sein? Dummkopf!« -- schrie Katerina +Iwanowna. -- »Du bist selbst ein Dummkopf, du Rechtsverdreher, +niederträchtiger Mensch! Ssonja, Ssonja soll von ihm Geld genommen +haben! Ssonja soll eine Diebin sein! Sie wird dir noch Geld geben, +Dummkopf!« -- Und Katerina Iwanowna lachte hysterisch. -- »Habt ihr +schon so einen dummen Kerl gesehen?« -- wandte sie sich nach allen +Seiten und zeigte auf Luschin. -- »Wie! Auch du!« -- sie erblickte die +Wirtin, -- »auch du, Wurstmacherin, bestätigst, daß sie gestohlen hat, +du gemeines preußisches Hühnerbein in Krinoline! Ach, ihr! Ach, ihr! Ja, +sie hat das Zimmer nicht verlassen, und als sie von dir, Schuft, +zurückkam, hatte sie sich hier neben Rodion Romanowitsch hingesetzt! ... +Untersucht sie doch! Wenn sie nirgendwo hingegangen war, muß doch das +Geld bei ihr sein! Suche, suche, suche doch! Wenn du aber nichts +findest, dann, lieber Freund, wirst du bestraft! Zu Seiner Majestät, zu +Seiner Majestät, zum Zaren selbst laufe ich hin, werfe mich dem +Barmherzigen zu Füßen, sofort, heute noch! Ich bin verwaist! Man wird +mich zulassen! Du denkst, man wird mich nicht zu ihm lassen? Du lügst, +ich komme hin! Ich komme zu ihm hin! Du hast darauf gerechnet, daß sie +schüchtern ist? Du hast darauf gehofft? Ich aber, Bruder, bin dafür +kühn! Du wirst dein Spiel verlieren! Suche doch! Suche, suche, nun suche +doch!« + +Und Katerina Iwanowna zerrte Luschin in Wut zu Ssonja. + +»Ich bin bereit und trage die Verantwortung ... aber nehmen Sie sich +zusammen, meine Dame, nehmen Sie sich zusammen. Ich sehe zu gut, daß Sie +kühn sind! ... Das ... das ... das geht nicht an!« -- murmelte Luschin, +-- »das muß in Gegenwart der Polizei ... obwohl, übrigens, auch jetzt +genügend Zeugen vorhanden sind ... Ich bin bereit ... Aber in jedem +Falle ist es für einen Mann peinlich ... des Geschlechtes wegen ... Wenn +Amalie Iwanowna helfen würde ... obwohl, übrigens, die Sache nicht so +gehandhabt wird ... Das geht nicht an!« + +»Wenn Sie wünschen! Mag wer da will sie untersuchen!« -- schrie Katerina +Iwanowna. -- »Ssonja, wende deine Taschen um! Da! da! Sieh, Scheusal, +diese Tasche ist leer, hier lag das Taschentuch, die Tasche ist leer, +siehst du! Da ist die andere Tasche, da, da! Siehst du! Siehst du!« + +Und Katerina Iwanowna wandte, nein besser gesagt, riß die beiden +Taschen, eine nach der anderen mit dem Futter hervor. Aber aus der +zweiten, rechten Tasche sprang plötzlich ein Stück Papier hervor, +beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel zu den Füßen Luschins hin. +Alle hatten es gesehen, manche schrien. Peter Petrowitsch bückte sich, +hob das Stück Papier mit zwei Fingern von der Diele auf, hielt es so, +daß alle sehen konnten und faltete es auseinander. Es war ein +Hundertrubelschein, dreimal zusammengefaltet. Peter Petrowitsch +umschrieb mit seiner Hand einen Bogen und zeigte allen den Schein. + +»Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!« -- heulte Amalie +Iwanowna, -- »Sie müssen nach Sibirien! Hinaus!« + +Von allen Seiten ertönten Ausrufe. Raskolnikoff schwieg, ohne die Augen +von Ssonja abzuwenden, nur selten und schnell blickte er Luschin an. +Ssonja stand auf derselben Stelle, wie bewußtlos, -- sie schien nicht +einmal verwundert zu sein. Plötzlich aber überzog eine Röte ihr ganzes +Gesicht; sie schrie auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen. + +»Nein, ich war es nicht! Ich habe nichts genommen! Ich weiß von nichts!« +-- rief sie mit einem herzzerreißenden Schrei und stürzte zu Katerina +Iwanowna. + +Jene umfaßte sie und preßte sie fest an sich, als wolle sie mit eigener +Brust sie vor allen schützen. + +»Ssonja! Ssonja! Ich glaube es nicht! Siehst du, ich glaube es nicht!« +-- rief Katerina Iwanowna, trotz des Augenscheins, und schüttelte sie in +ihren Armen, wie ein Kind, küßte sie unzählige Male, erfaßte ihre Hände +und küßte sie inbrünstig. -- »Du sollst es genommen haben? Ja, wie dumm +die Menschen sind! Oh, Gott! Ihr dummen, dummen Leute!« -- rief sie, +sich an alle wendend, -- »ja, ihr wißt noch gar nicht, ihr wißt nicht, +was das für ein Herz, was das für ein Mädchen ist! Sie soll es genommen +haben, sie! Ja, sie wird barfüßig gehen, sie wird ihr letztes Kleid +ausziehen und es verkaufen, und euch es abgeben, wenn ihr es braucht, -- +so ist sie! Sie hat den gelben Schein genommen, weil meine, meine Kinder +vor Hunger umkamen, sie hat sich unseretwegen verkauft! ... Ach, der +Verstorbene, der Verstorbene! Siehst du? Siehst du? Da hast du deine +Gedächtnisfeier! Oh, Gott! Ja, schützt sie doch, was steht ihr alle! +Rodion Romanowitsch! Warum treten Sie nicht für sie ein? Glauben Sie +auch etwa daran? Ihr seid ihres kleinen Fingers nicht wert, ihr alle, +alle, alle! Oh, Gott! Schütze du sie doch endlich!« + +Das Weinen der armen, schwindsüchtigen, verlassenen Katerina Iwanowna +schien einen starken Eindruck auf alle Anwesenden gemacht zu haben. Es +war so viel Klägliches, so viel Leidendes in diesem vor Schmerz +verzogenen, eingetrockneten, schwindsüchtigen Gesichte, in diesen +geborstenen, blutbedeckten Lippen, in dieser heiser schreienden Stimme, +in diesem Schluchzen und Weinen, das dem Weinen von Kindern glich, in +diesem vertrauensvollen, kindlichen und gleichzeitig verzweifelten +Flehen um Schutz, daß alle die Unglückliche zu bedauern schienen. Sogar +Peter Petrowitsch schien es sofort leid zu tun. + +»Meine Dame! Meine Dame!« -- rief er mit eindringlicher Stimme, -- »Sie +berührt diese Tatsache nicht! Niemand wird es wagen, Sie der Absicht +oder der Teilnahme zu beschuldigen, um so mehr, als Sie es selbst +entdeckt haben, indem Sie die Tasche umwandten, -- Sie haben dies nicht +vorausgesehen. Ich bin bereit, es sehr, sehr zu bedauern, sollte die +äußerste Armut Ssofja Ssemenowna dazu bewogen haben, aber warum wollten +Sie, Mademoiselle, es nicht eingestehen? Fürchten Sie die Schande? Der +erste Schritt? Sie sind wahrscheinlich bestürzt? Es ist begreiflich, +sehr begreiflich ... Aber warum läßt man sich auf solche Sachen ein! +Meine Herrschaften!« wandte er sich an alle Anwesenden, -- »meine +Herrschaften! Weil ich Bedauern und Mitleid habe, bin ich bereit, es +sogar jetzt, trotz der empfangenen persönlichen Beleidigungen, zu +verzeihen. Möge Ihnen, Mademoiselle, die jetzige Schande als eine Lehre +für die Zukunft dienen,« -- wandte er sich an Ssonja, -- »ich aber +unterlasse alle weiteren Schritte und erledige hiermit die Sache. +Genug!« + +Peter Petrowitsch blickte Raskolnikoff von der Seite an. Ihre Blicke +trafen sich. Der flammende Blick Raskolnikoffs wollte ihn zu Asche +verbrennen. Katerina Iwanowna schien nichts mehr gehört zu haben, sie +umarmte und küßte Ssonja wie wahnsinnig. Auch die Kinder hatten Ssonja +von allen Seiten mit ihren Händchen umfaßt und Poletschka, die nicht +ganz verstand, was vor sich ging, schien vollkommen in Tränen zu +ertrinken, sie krümmte sich vor lauter Schluchzen und verbarg ihr +hübsches, von Tränen geschwollenes Gesichtchen an Ssonjas Schulter. + +»Ist das gemein!« -- ertönte plötzlich eine laute Stimme in der Türe. + +Peter Petrowitsch blickte sich schnell um. + +»Welch eine Gemeinheit!« -- wiederholte Lebesjätnikoff und blickte ihm +unverwandt in die Augen. Peter Petrowitsch zuckte zusammen. Alle hatten +es bemerkt. Nachher erinnerten sie sich dessen. Lebesjätnikoff trat in +das Zimmer. + +»Und Sie haben es gewagt, mich als Zeugen anzurufen?« -- sagte er und +trat an Peter Petrowitsch heran. + +»Was bedeutet das, Andrei Ssemenowitsch? Worüber sprechen Sie?« -- +murmelte Luschin. + +»Das bedeutet, daß Sie ... ein Verleumder sind, das bedeuten meine +Worte!« -- sagte Lebesjätnikoff eifrig und blickte ihn streng mit seinen +kurzsichtigen, kleinen Augen an. + +Er war furchtbar böse. Raskolnikoff starrte ihn an, als fange er jedes +Wort auf. Wieder trat ein Schweigen ein. Peter Petrowitsch war bestürzt, +besonders im ersten Momente. + +»Wenn Sie mir ...« -- begann er stotternd, -- »ja, was ist mit Ihnen? +Sind Sie bei Verstand?« + +»Ich bin bei Verstand, Sie aber sind ... ein Gauner! Ach, wie ist das +gemein! Ich hörte die ganze Zeit zu, ich wartete immer absichtlich, um +alles zu verstehen, denn offen gestanden, alles ist mir bis jetzt noch +nicht ganz klar ... Aber warum haben Sie dies alles getan -- ich +verstehe es nicht!« + +»Ja, was habe ich denn getan? Hören Sie doch auf, in Ihren unsinnigen +Rätseln zu sprechen! Oder haben Sie vielleicht zu viel getrunken?« + +»Sie gemeiner Mensch, Sie trinken vielleicht, ich nicht. Ich trinke +nicht mal Schnaps, weil es gegen meine Überzeugungen ist. Denken Sie +sich, _er selbst_ hat mit eigenen Händen diesen Hundertrubelschein +Ssofja Ssemenowna gegeben, -- ich habe es gesehen, war Zeuge, ich kann +es beschwören! Er, er hat es getan!« -- wiederholte Lebesjätnikoff, sich +an alle und jeden einzelnen wendend. + +»Sind Sie verrückt geworden oder nicht, Sie Milchbart?« -- kreischte +Luschin, -- »sie hat doch selbst in Ihrer Gegenwart ... sie hat doch +selbst soeben in Gegenwart aller bestätigt, -- daß sie außer den zehn +Rubel nichts von mir erhalten hat. Wie konnte ich es denn ihr +überreichen?« + +»Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!« -- rief Lebesjätnikoff, -- +»und obwohl es gegen meine Überzeugungen ist, bin ich doch bereit, +gleich vor Gericht jeden beliebigen Eid zu leisten, denn ich habe es +gesehen, wie er ihn ihr heimlich zusteckte! Ich Dummkopf aber dachte, +daß Sie es ihr aus gutem Herzen zusteckten! Während Sie sich von ihr an +der Türe verabschiedeten, als sie sich umwandte und Sie ihr die eine +Hand reichten, steckten Sie mit der anderen, mit der linken Hand ihr +heimlich das Papier in die Tasche hinein. Ich habe es gesehen! Ich habe +es gesehen!« + +Luschin erbleichte. + +»Was lügen Sie da vor!« -- rief er ihm frech zu, -- »ja, und wie konnten +Sie vom Fenster aus das Papier bemerken! Sie haben es geträumt ... Sie, +mit Ihren kurzsichtigen Augen. Sie phantasieren!« + +»Nein, ich habe es nicht geträumt! Und obwohl ich weit stand, habe ich +alles, alles gesehen, und obgleich man vom Fenster aus tatsächlich +schwer ein Stück Papier unterscheiden kann, -- hier sagen Sie die +Wahrheit, -- wußte ich doch bestimmt, daß es ein Hundertrubelschein war, +denn als Sie Ssofja Ssemenowna den Zehnrubelschein gaben, -- ich habe es +selbst gesehen, -- nahmen Sie gleichzeitig vom Tische einen +Hundertrubelschein. Ich habe es gesehen, weil ich in diesem Augenblicke +in der Nähe war und weil mir sofort dabei ein Gedanke durch den Sinn +fuhr, weiß ich genau, daß Sie diesen Schein in der Hand hielten. Sie +haben ihn zusammengefaltet und hielten ihn die ganze Zeit in der Faust. +Ich vergaß es später, als Sie aber aufstanden, legten Sie den Schein aus +der rechten in die linke Hand und ließen ihn beinahe fallen; da besann +ich mich darauf, weil mir wieder derselbe Gedanke durch den Sinn fuhr, +und zwar, daß Sie heimlich ihr eine Wohltat erweisen wollen. Sie können +sich vorstellen, wie ich nun beobachtete, -- und da sah ich auch, wie es +Ihnen glückte, ihn in ihre Tasche zu stecken. Ich habe es gesehen, habe +es gesehen und werde schwören!« Lebesjätnikoff geriet fast außer Atem. +Von allen Seiten ertönten allerhand Ausrufe, die meistens Erstaunen +bedeuteten, aber in manchen brach auch ein drohender Ton durch. Alle +drängten sich um Peter Petrowitsch. Katerina Iwanowna stürzte zu +Lebesjätnikoff hin. + +»Andrei Ssemenowitsch! Ich habe mich in Ihnen geirrt! Schützen Sie sie! +Sie allein treten für sie ein! Sie ist eine Waise, Gott hat Sie gesandt! +Andrei Ssemenowitsch, mein Lieber, Väterchen!« + +Und Katerina Iwanowna, fast ganz außer sich, warf sich vor ihm auf die +Knie hin. + +»Blödes Zeug!« -- brüllte Luschin, rasend vor Wut, -- »Sie reden blödes +Zeug, mein Herr ... >Ich vergaß es, besann mich, vergaß< -- was soll das +heißen! Also, ich soll ihr den Schein absichtlich zugesteckt haben? +Wozu? Zu welchem Zwecke? Was habe ich gemein mit dieser ...« + +»Wozu? Das ist es ja, was ich selbst nicht begreife, das aber ist +sicher, daß ich die Wahrheit erzähle! Ich irre mich nicht, Sie +niederträchtiger Mensch, Sie Verbrecher; ich entsinne mich, daß mir +sofort damals die Frage in den Sinn kam, und zwar, als ich Ihnen dankte +und Ihnen die Hand drückte. Warum haben Sie es ihr heimlich in die +Tasche gesteckt? Das heißt warum heimlich? Vielleicht bloß aus dem +Grunde, weil Sie es vor mir verbergen wollten, da Sie wissen, daß ich +entgegengesetzter Ansicht bin und die Privatwohltätigkeit, als nicht +radikal heilend, verneine? Nun, und ich kam zu der Überzeugung, daß Sie +sich in der Tat vor mir schämen, solch einen Haufen Geld fortzugeben, +und außerdem meinte ich, daß Sie ihr vielleicht eine Überraschung +bereiten und sie in Staunen setzen wollten, wenn sie in ihrer Tasche +volle hundert Rubel finden wird. Denn manche Wohltäter lieben es sehr, +ihre Wohltaten so anzubringen, -- das weiß ich. Ich dachte auch, daß Sie +sie auf die Probe stellen wollen, das heißt, ob sie, wenn sie es +gefunden hat, kommen würde, um sich zu bedanken! Ich hatte auch den +Gedanken, daß Sie jeden Dank vermeiden möchten, damit ... nun, wie man +es sagt ... damit die rechte Hand nicht wüßte ... kurz, wie man es sagt +... Nun, mir kamen so viele Gedanken in den Sinn, daß ich beschloß, mir +alles nachher genauer zu überlegen, ich hielt es auch für unzart, Ihnen +zu zeigen, daß ich Ihr Geheimnis kenne. Mir kam aber der Gedanke, daß +Ssofja Ssemenowna möglicherweise das Geld verlieren könnte, ehe sie es +selbst bemerkt hat. Darum beschloß ich, hierher zu kommen, sie +herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß man ihr einen Hundertrubelschein +in ihre Tasche gesteckt hat. Auf dem Wege hierher ging ich zuerst in das +Zimmer der Damen Kobyljätnikoff hinein, um ihnen die >allgemeinen +Ergebnisse der positiven Methode< zu überbringen und ihnen besonders den +Artikel von Piderit -- übrigens auch von Wagner -- zu empfehlen. Ich kam +dann hierher, und hier ist diese schlimme Geschichte passiert. Sagen +Sie, konnte ich, konnte ich alle diese Gedanken und Erwägungen gehabt +haben, wenn ich tatsächlich nicht gesehen hätte, daß Sie ihr hundert +Rubel in die Tasche gesteckt haben?« + +Als Andrei Ssemenowitsch seine langatmige Rede mit so einem logischen +Abschluß beendet hatte, war er furchtbar ermüdet, und von seinem +Gesichte rann der Schweiß. Er konnte nicht einmal ordentlich russisch +sprechen, -- ohne jedoch eine andere Sprache zu kennen, -- so daß er mit +einem Male vollkommen erschöpft und nach seiner Advokatentat ganz bleich +war. Trotzdem hatte seine Rede eine außerordentliche Wirkung. Er hatte +mit solch einer Heftigkeit und solch einer Überzeugung gesprochen, daß +ihm alle offensichtlich glaubten. Peter Petrowitsch fühlte, daß seine +Sache schlecht stehe. + +»Was geht es mich an, daß Ihnen allerhand dumme Fragen in den Kopf +gekommen sind,« -- rief er aus. -- »Das ist kein Beweis! Sie konnten +dies alles im Schlafe geträumt haben, das ist das ganze! Und ich sage +Ihnen, daß Sie lügen, mein Herr! Sie lügen und verleumden mich aus Wut, +und zwar aus Ärger, weil ich nicht bereit war, auf Ihre freigeistigen +und gottlosen sozialen Ideen einzugehen, das ist es!« + +Aber diese Ausrede nützte Peter Petrowitsch nicht. Im Gegenteil, von +allen Seiten vernahm man mißbilligendes Gemurmel. + +»Ah, damit kommst du!« -- rief Lebesjätnikoff. -- »Du lügst! Laß die +Polizei holen, ich werde schwören! Eins kann ich bloß nicht begreifen, +-- warum hat er so eine gemeine Handlung riskiert! Oh, gemeiner, +niederträchtiger Mensch!« + +»Ich kann es erklären, warum er diese Handlung riskiert hat, und wenn es +nötig ist, werde auch ich einen Eid ablegen!« -- sagte endlich +Raskolnikoff mit fester Stimme und trat hervor. + +Er schien fest und ruhig. Allen wurde es klar bei seinem Anblicke, daß +er tatsächlich wußte, um was es sich handle, und daß es zu einer Lösung +gekommen war. + +»Jetzt ist mir alles vollkommen klar,« -- fuhr Raskolnikoff fort und +wandte sich an Lebesjätnikoff. -- »Gleich am Anfange der Geschichte +hatte ich den Verdacht, daß irgendein gemeiner Kniff dahinter stecke; +ich schöpfte ihn infolge gewisser besonderer Umstände, die nur mir +allein bekannt sind, und die ich sogleich allen erklären will, -- um sie +dreht sich auch die ganze Sache. Sie, Andrei Ssemenowitsch, haben durch +Ihr wertvolles Zeugnis mir alles endgültig erklärt. Ich bitte alle, alle +zuzuhören. Dieser Herr,« -- er zeigte auf Luschin, -- »freite vor kurzem +um ein junges Mädchen, und zwar um meine Schwester, Awdotja Romanowna +Raskolnikowa. Nach seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich vorgestern +bei unserem ersten Zusammentreffen mit mir überworfen, und ich habe ihn +hinausgejagt, ich habe zwei Zeugen dafür. Dieser Mensch ist sehr boshaft +... Vorgestern wußte ich noch gar nicht, daß er hier bei Ihnen, Andrei +Ssemenowitsch, lebt, und daß er an demselben Tage, wo wir uns überworfen +hatten, das heißt vorgestern, Zeuge war, wie ich, als Freund des +verstorbenen Herrn Marmeladoff, seiner Gattin Katerina Iwanowna etwas +Geld zur Beerdigung übergab. Er schrieb sofort an meine Mutter einen +Brief und teilte ihr mit, daß ich das Geld nicht Katerina Iwanowna, +sondern Ssofja Ssemenowna abgegeben hätte, wobei er in den +niederträchtigsten Ausdrücken über ... über den Charakter Ssofja +Ssemenownas sich äußerte, das heißt über die Art meiner Beziehungen zu +Ssofja Ssemenowna. Dies alles tat er, wie Sie verstehen, in der Absicht, +mich mit meiner Mutter und Schwester zu entzweien, indem er ihnen +glaubhaft zu machen suchte, daß ich zu unanständigen Zwecken ihr letztes +Geld, mit dem sie mich unterstützten, verprasse. Gestern abend stellte +ich, in Gegenwart meiner Mutter und Schwester und in seiner Anwesenheit, +die Wahrheit fest, ich bewies, daß ich das Geld Katerina Iwanowna zur +Beerdigung und nicht Ssofja Ssemenowna überreicht habe, und daß ich +vorgestern mit Ssofja Ssemenowna noch nicht bekannt war und sie sogar +zum erstenmal gesehen habe. Dabei fügte ich hinzu, daß er, Peter +Petrowitsch Luschin, mit allen seinen Vorzügen nicht mal des kleinen +Fingers von Ssofja Ssemenowna, über die er sich so schlecht geäußert +habe, wert sei. Auf seine Frage, ob ich Ssofja Ssemenowna neben meine +Schwester hinsetzen würde, -- antwortete ich, daß ich es bereits am +selben Tage getan hätte. Da er darüber böse wurde, daß meine Mutter und +Schwester auf seine Verleumdungen hin sich mit mir nicht überwerfen +wollten, begann er ihnen unverzeihliche Frechheiten zu sagen. Es kam zu +einem endgültigen Bruche und man jagte ihn aus dem Hause. Dies alles war +gestern abend vorgefallen. Ich bitte Sie jetzt um besondere +Aufmerksamkeit, -- stellen Sie sich vor, wäre es ihm jetzt gelungen, +Ssofja Ssemenowna des Diebstahls zu überführen, so hätte er doch damit +meiner Schwester und Mutter bewiesen, erstens, daß er recht hatte mit +seinen Verdächtigungen; zweitens, daß er mit vollkommenem Rechte darüber +böse wurde, weil ich meine Schwester und Ssofja Ssemenowna auf gleiche +Stufe gestellt habe, und drittens, daß er mit seinem Angriffe auf mich +die Ehre meiner Schwester und seiner Braut verteidigte und in Schutz +nahm. Mit einem Worte, er konnte mich durch dieses alles mit meinen +Verwandten entzweien, und hoffte sicher, dadurch wieder bei ihnen zu +Gnaden zu kommen. Ich rede schon gar nicht davon, daß er zugleich an mir +persönlich Rache nahm, weil er Gründe hat anzunehmen, daß die Ehre und +das Glück Ssofja Ssemenownas mir teuer sind. Das war seine ganze +Berechnung! In dieser Weise fasse ich die Sache auf. Das ist der ganze +Grund, und einen anderen kann es nicht geben!« + +So etwa schloß Raskolnikoff seine Rede, oft durch Ausrufe der Anwesenden +unterbrochen, die sehr aufmerksam zuhörten. Aber trotz der +Unterbrechungen sprach er scharf, ruhig, genau, klar und entschlossen. +Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein strenges Gesicht +machten auf alle einen ungewöhnlichen Eindruck. + +»Ja, so wird es gewesen sein, ja, so ist es!« -- pflichtete +Lebesjätnikoff entzückt bei. -- »Es muß richtig sein, denn er hat mich +gerade gefragt, als Ssofja Ssemenowna zu uns ins Zimmer eintrat, -- ob +Sie hier wären? Ob ich Sie unter den Gästen von Katerina Iwanowna nicht +gesehen hätte? Er rief mich aus diesem Grunde zum Fenster und fragte +mich dort leise. Also war es für ihn von Wichtigkeit, daß Sie da sind! +Das ist richtig, das stimmt!« + +Luschin schwieg und lächelte verächtlich. Er war aber sehr blaß +geworden. Es schien, als überlege er sich, wie er sich aus der Affäre +ziehen könne. Er hätte vielleicht gern alles mit Vergnügen im Stiche +gelassen und wäre fortgegangen, aber es war unmöglich; es wäre +gleichbedeutend gewesen mit einer Anerkennung der Wahrheit der +angeführten Beschuldigung, daß er Ssofja Ssemenowna verleumdet hatte. +Die Anwesenden waren zudem etwas angetrunken und zu erregt. Der +Proviantmeister, der zwar nicht alles verstanden hatte, schrie am +meisten und schlug einige für Luschin ziemlich peinliche Maßregeln vor. +Es waren aber auch nicht Angetrunkene darunter; aus allen Zimmern hatten +sich Menschen eingefunden. Die drei Polen waren furchtbar aufgebracht +und riefen in einem fort »Pane Strolch!« ihm zu, wobei sie noch einige +Drohungen in polnischer Sprache murmelten. Ssonja hörte mit Anstrengung +zu, aber sie schien nicht alles zu begreifen, es war, als erwache sie +aus einer Ohnmacht. Sie wendete ihre Augen nicht von Raskolnikoff ab, +sie fühlte, daß er ihr einziger Schutz war. Katerina Iwanowna atmete +schwer und heiser und schien schrecklich erschöpft zu sein. Am +allerdümmsten stand Amalie Iwanowna da mit offenem Munde und begriff gar +nichts. Sie begriff bloß, daß Peter Petrowitsch irgendwie ertappt sei. +Raskolnikoff bat wieder ums Wort, aber man ließ ihn nicht zu Ende reden, +-- alle schrien und drängten sich mit Geschimpfe und Drohungen um +Luschin. Ihm aber wurde nicht bange. Als er sah, daß die Sache mit der +Beschuldigung Ssonjas vollständig verspielt sei, ergriff er seine +Zuflucht zur Dreistigkeit. + +»Erlauben Sie, meine Herrschaften, erlauben Sie, drängen Sie nicht so, +lassen Sie mich durchgehen!« -- sagte er und zwängte sich durch die +Menge hindurch, -- »und tun Sie mir den Gefallen und drohen Sie nicht. +Ich versichere Sie, daß daraus nichts wird, daß Sie nichts tun werden, +ich bin nicht von den Ängstlichen, im Gegenteil, meine Herrschaften, Sie +werden noch zur Verantwortung gezogen dafür, daß Sie durch Gewalt eine +Kriminalsache vertuscht haben. Die Diebin ist mehr als überführt, und +ich werde sie gerichtlich belangen. Im Gerichte ist man nicht so blind +und ... nicht betrunken, und wird nicht gleich zwei abgefeimten +Gottesleugnern, Aufrührern und Freigeistern glauben, die mich aus +persönlicher Rache beschuldigen, was sie selbst in ihrer Dummheit +zugeben ... Erlauben Sie!« + +»Scheren Sie sich aus meinem Zimmer, ziehen Sie sofort aus. Zwischen uns +ist alles aus! Und wenn ich denke, wie ich mich angestrengt und bemüht +habe, ihm alles erklärt habe ... volle zwei Wochen ...« + +»Ich habe Ihnen, Andrei Ssemenowitsch, doch vorhin selbst gesagt, daß +ich ausziehe, als Sie mich noch baten zu bleiben. Jetzt will ich bloß +hinzufügen, daß Sie ein dummer Kerl sind. Ich wünsche Ihnen Ihren +Verstand und Ihre halbblinden Augen zu kurieren. Erlauben Sie, meine +Herrschaften!« + +Er drängte sich durch, aber der Proviantmeister wollte ihn nicht so +leichten Kaufes, bloß mit Schimpfwörtern, herauslassen, -- er ergriff +vom Tische ein Glas, holte aus und schleuderte es gegen Peter +Petrowitsch, doch das Glas traf Amalie Iwanowna. Sie kreischte auf, der +Proviantmeister verlor das Gleichgewicht und fiel schwer unter den +Tisch. Peter Petrowitsch ging in sein Zimmer, und nach einer halben +Stunde hatte er das Haus verlassen. Ssonja, schüchtern von Natur, wußte +es längst, daß man sie leichter als jeden anderen zugrunde richten +konnte, und daß jeder sie fast straflos beleidigen durfte. Trotzdem aber +glaubte sie bis zu diesem Augenblick, daß man einem Unglück irgendwie, +durch Vorsicht, Sanftmut, Nachgiebigkeit allen und jedem einzelnen +gegenüber entgehen konnte. Ihre Enttäuschung war zu schwer. Sie konnte +gewiß mit Geduld und ohne zu murren alles, -- auch dies letzte ertragen. +Aber im ersten Augenblicke war es ihr doch zu schwer gefallen. Trotz +ihres Triumphes und ihrer Rechtfertigung, -- als der erste Schreck und +die erste Erstarrung vorüber waren, als sie alles deutlich und klar +verstanden hatte, -- schnürte das Gefühl der Hilflosigkeit und Kränkung +ihr qualvoll das Herz zusammen. Sie bekam einen nervösen Anfall und +hielt es nicht länger aus, stürzte aus dem Zimmer und lief nach Hause. +Das geschah fast unmittelbar, nachdem Luschin fortgegangen war. Als +Amalie Iwanowna unter lautem Lachen der Anwesenden von dem Glase +getroffen wurde, -- hatte sie genug davon, nur für andere zu büßen. Mit +Gekreisch stürzte sie wie wahnsinnig auf Katerina Iwanowna zu und maß +ihr die Schuld an allem bei. + +»Hinaus aus der Wohnung! Sofort! Marsch!« -- und mit diesen Worten +begann sie alles, was ihr von den Sachen Katerina Iwanownas unter die +Hände kam, auf die Diele zu werfen. + +Katerina Iwanowna, ohnedem fast halbtot und einer Ohnmacht nahe, sprang +vom Bette, auf das sie in völliger Ermattung hingesunken war, +schweratmend und bleich auf und stürzte sich auf Amalie Iwanowna. Der +Kampf aber war zu ungleich; die letztere stieß sie, wie eine Feder, von +sich. + +»Wie! Nicht genug, daß man mich gottlos verleumdet hat, -- auch diese +Kreatur ist gegen mich! Wie! Am Tage der Beerdigung meines Mannes jagt +man mich, nach meinem Festmahl, mit den Waisen auf die Straße hinaus! +Ja, wohin soll ich denn!« -- sagte die arme Frau mit Schluchzen und +beinahe erstickend. -- »Oh, Gott!« -- rief sie plötzlich mit funkelnden +Augen, -- »gibt es denn keine Gerechtigkeit! Wen sollst Du denn +schützen, wenn nicht uns verlassene Waisen? Aber wir wollen mal sehen? +Es gibt noch in der Welt Recht und Wahrheit, es gibt sie noch, und ich +will sie finden! Warte, du gottlose Kreatur! Poletschka, bleibe bei den +Kindern, ich komme bald zurück. Wartet auf mich, meinetwegen auf der +Straße! Wir wollen sehen, ob es in der Welt Gerechtigkeit gibt!« + +Katerina Iwanowna warf dasselbe grüne große Umlegetuch über den Kopf, +das der verstorbene Marmeladoff in seiner Erzählung erwähnt hatte, +drängte sich durch die unordentliche und betrunkene Menge der Mieter, +die noch immer das Zimmer anfüllten, und lief mit Geheul und unter +Tränen auf die Straße hinaus, -- mit der unbedingten Absicht, irgendwo +sofort, unverzüglich und um jeden Preis Gerechtigkeit zu finden. +Poletschka verkroch sich voller Angst mit den Kindern in einer Ecke; sie +umschlang, am ganzen Körper zitternd, die beiden Kleinen und begann die +Rückkehr der Mutter zu erwarten. Amalie Iwanowna lief aufgeregt im +Zimmer herum, kreischte, klagte, schleuderte alles, was ihr in den Weg +kam, auf die Diele und lärmte. Die Mieter schrien durcheinander, -- +einige besprachen das Geschehene, wie sie es verstanden, andere zankten +sich und schimpften, einige wieder stimmten ein Lied an ... + +»Jetzt muß ich auch gehen!« -- dachte Raskolnikoff. -- »Nun, Ssofja +Ssemenowna, wir wollen sehen, was Sie jetzt sagen werden!« + +Und er ging nach Ssonjas Wohnung. + + + IV. + +Raskolnikoff war ein tüchtiger und mutiger Fürsprecher Ssonjas gegen +Luschin gewesen, trotzdem so viel eigener Schrecken und eigenes Leid auf +seiner Seele lasteten. Weil er aber am Morgen so stark gelitten hatte, +so war er gewissermaßen froh, seine Eindrücke, die ihm unerträglich +wurden, zu ändern, ganz abgesehen davon, wieviel Persönliches und +Herzliches in seinem Bestreben lag, für Ssonja einzutreten. Außerdem +ging ihm die bevorstehende Zusammenkunft mit Ssonja nicht aus dem Sinn +und beunruhigte ihn in manchen Augenblicken furchtbar, -- er _mußte_ ihr +sagen, wer Lisaweta ermordet hat, fühlte die schreckliche Qual im voraus +und suchte sich ihrer zu erwehren. Als er die Wohnung Katerina Iwanownas +verließ und ausrief: -- »Nun, was werden Sie jetzt sagen, Ssofja +Ssemenowna?« -- da befand er sich offenbar noch in einem äußerlich +erregten Zustande der Rüstigkeit und Kampflust, der Freude über den eben +errungenen Sieg. Aber das hielt nicht vor. Als er die Wohnung von +Kapernaumoff erreicht hatte, empfand er eine plötzliche Erschlaffung und +Furcht. Er blieb in Gedanken vor der Türe stehen und legte sich die +sonderbare Frage vor, -- »muß ich denn sagen, wer Lisaweta ermordet +hat?« Die Frage war sonderbar, denn er fühlte doch zugleich, daß es +gesagt werden müsse, und jetzt gleich ohne den geringsten Aufschub. Er +wußte selber nicht, warum; aber er _fühlte_ es, und dieses qualvolle +Bewußtsein seiner Schwäche der Notwendigkeit gegenüber erdrückte ihn +fast. Um nicht mehr zu überlegen und sich nicht mehr zu quälen, öffnete +er schnell die Türe und schaute Ssonja von der Schwelle aus an. Sie saß +auf den Tisch gestützt und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt; als +sie Raskolnikoff erblickte, stand sie schnell auf und ging ihm entgegen, +als hätte sie ihn erwartet. + +»Was wäre aus mir geworden ohne Sie!« -- sagte sie hastig, als sie in +der Mitte des Zimmers mit ihm zusammentraf. + +Offenbar hatte sie ihn erwartet, um ihm dies zu sagen. + +Raskolnikoff ging zu dem Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem +sie soeben aufgestanden war. Sie blieb zwei Schritte vor ihm stehen, +genau wie gestern. + +»Nicht wahr, Ssonja?« -- sagte er und fühlte plötzlich, daß seine Stimme +zittere, -- »die ganze Sache beruhte doch auf >der gesellschaftlichen +Lage und auf den damit zusammenhängenden Gewohnheiten<. Haben Sie es +vorhin verstanden?« + +Tiefes Leid zeigte sich auf ihrem Gesichte. + +»Sprechen Sie nicht mit mir, wie gestern!« -- unterbrach sie ihn. -- +»Bitte, fangen Sie nicht an. Es ist schon genug Qual ...« + +Sie lächelte schnell, aus Angst, daß ihm vielleicht der Vorwurf +mißfallen könnte. + +»Es war dumm von mir, von dort wegzugehen. Was mag jetzt dort geschehen? +Ich wollte soeben wieder hingehen, aber ich dachte, daß Sie vielleicht +... kommen werden.« + +Er erzählte ihr, daß Amalie Iwanowna sie aus der Wohnung jage, und daß +Katerina Iwanowna fortgelaufen sei, »Gerechtigkeit zu suchen«. + +»Ach, mein Gott!« -- erschrak Ssonja, -- »gehen wir schnell hin ...« + +Und sie ergriff ihre Mantille. + +»Ewig ein und dasselbe!« -- rief Raskolnikoff gereizt, -- »Sie denken +bloß immer an die! Bleiben Sie bei mir.« + +»Und ... Katerina Iwanowna?« + +»Katerina Iwanowna wird Ihnen sicher nicht entgehen, sie wird selbst zu +Ihnen kommen, wenn sie schon einmal das Haus verlassen hat,« -- fügte er +mürrisch hinzu. -- »Wenn sie Sie nicht zu Hause antrifft, werden Sie +doch wieder daran schuld sein ...« + +Ssonja setzte sich in qualvoller Unentschlossenheit auf einen Stuhl. +Raskolnikoff schwieg, blickte zu Boden und überlegte. + +»Angenommen, Luschin habe es jetzt nicht gewollt,« -- begann er, ohne +Ssonja anzublicken. -- »Wie, wenn er es gewollt hätte oder wenn es +irgendwie in seinen Absichten gelegen wäre, -- so hätte er Sie ins +Gefängnis gebracht, wenn nicht ich und Lebesjätnikoff zufällig dagewesen +wären! Nicht?« + +»Ja,« -- antwortete sie mit schwacher Stimme, -- »ja!« -- wiederholte +sie zerstreut und voll Unruhe. + +»Ich konnte doch wirklich verhindert sein! Und Lebesjätnikoff kam ganz +zufällig hinzu.« + +Ssonja schwieg. + +»Nun, und wenn Sie ins Gefängnis gekommen wären, was dann? Erinnern Sie +sich, was ich gestern sagte?« + +Sie antwortete wieder nicht. Raskolnikoff wartete eine Weile. + +»Ich dachte, Sie würden wieder schreien, -- >ach, sprechen Sie nicht, +hören Sie auf!<« -- lachte Raskolnikoff, scheinbar gezwungen. -- »Was, +Sie schweigen wieder?« -- fragte er nach einem Augenblick. -- »Man muß +doch über etwas reden! Mir wäre es interessant zu erfahren, wie Sie +jetzt eine >Frage<, wie Lebesjätnikoff sagt, lösen würden.« -- Er schien +den Faden zu verlieren. -- »Nein, ich spreche in allem Ernst. Stellen +Sie sich vor, Ssonja, daß Sie alle Absichten Luschins im voraus gewußt +hätten, Sie hätten gewußt, daß dadurch Katerina Iwanowna und auch die +Kinder völlig zugrunde gehen würden, auch Sie, als Dreingabe, -- Sie +selber rechnen sich ja nicht, drum sage ich als _Dreingabe_ zu jenen. +Poletschka ebenfalls ... denn ihr steht derselbe Weg bevor. Nun, also, +-- wenn man Ihnen plötzlich dies alles zur Entscheidung übergeben hätte, +-- soll er oder sollen jene am Leben bleiben, das heißt, soll Luschin am +Leben bleiben und Scheußlichkeiten vollziehen oder soll Katerina +Iwanowna sterben? Wie würden Sie entscheiden, wer von den beiden sollte +sterben? Ich frage Sie!« + +Ssonja blickte ihn unruhig an, -- sie ahnte etwas besonderes in dieser +unsicheren, weit ausgeholten Rede. + +»Ich hatte ein Vorgefühl, daß Sie so etwas fragen werden,« -- sagte sie +und sah ihn forschend an. + +»Gut; mag sein, aber, wie soll es entschieden werden?« + +»Warum fragen Sie, was unmöglich zu beantworten ist?« -- sagte Ssonja +mit Widerwillen. + +»Also, es ist besser, daß Luschin weiterlebt und Scheußlichkeiten +verübt! Auch dieses haben Sie nicht gewagt zu entscheiden?« + +»Ja, ich kenne doch die Vorsehung Gottes nicht ... Und warum fragen Sie, +was man nicht fragen darf? Wozu solche leere Fragen? Wie kann es +vorkommen, daß dieses von meiner Entscheidung abhängen soll? Und wer hat +mich hier zum Richter bestellt, wer leben soll und wer nicht leben +soll?« + +»Wenn Gottes Vorsehung schon mitredet, da ist freilich nichts zu +machen,« -- brummte Raskolnikoff finster. + +»Sagen Sie besser offen, was Sie wollen!« -- rief Ssonja gramvoll aus. +-- »Sie haben wieder etwas im Sinn ... Sind Sie etwa nur gekommen, um +mich zu quälen?« + +Sie hielt es nicht aus und weinte plötzlich bitter. Er sah sie mit +düsterer Schwermut an. Es verging eine geraume Weile. + +»Du hast recht, Ssonja,« -- sagte er endlich leise. + +Er war plötzlich verändert; der gemachte dreiste und kraftlos +herausfordernde Ton war verschwunden. Selbst seine Stimme war schwächer +geworden. »Ich habe dir selbst gestern gesagt, daß ich kommen werde, +nicht um Verzeihung zu bitten, habe aber beinahe schon damit begonnen +... Von Luschin und Gottes Vorsehung habe ich meinetwegen gesprochen ... +Ich habe damit um Verzeihung bitten wollen, Ssonja ...« + +Er wollte lächeln, aber er brachte es nur zu einem kraftlosen und wehen +Versuch. Er ließ den Kopf sinken und bedeckte das Gesicht mit den +Händen. + +Da zog in sein Herz ein eigentümliches Gefühl, wie das eines brennenden +Hasses gegen Ssonja. Selber betroffen und erschrocken über dieses +Gefühl, erhob er plötzlich den Kopf und blickte sie aufmerksam an, aber +er begegnete ihrem unruhigen und qualvoll besorgten Blicke; und vor der +Liebe in diesem Blick verschwand sein Haß wie ein Gespenst. Es war nicht +also das; er hatte das eine Gefühl für das andere gehalten. Das +bedeutete bloß, daß _der_ Augenblick gekommen war. + +Wieder bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und senkte den Kopf. +Plötzlich erbleichte er, stand vom Stuhle auf, sah Ssonja an und setzte +sich, ohne ein Wort gesagt zu haben, mechanisch auf ihr Bett hin. + +Dieser Moment war in seiner Empfindung jenem schrecklich ähnlich, als er +hinter der Alten stand, das Beil aus der Schlinge schon hervorgezogen +hatte und fühlte, daß »kein Augenblick mehr zu verlieren sei«. + +»Was ist Ihnen?« -- fragte Ssonja erschreckt. + +Er brachte kein Wort hervor. So hatte er sich das Geständnis nicht +vorgestellt und begriff selbst nicht, was mit ihm jetzt vorging. Sie +ging leise zu ihm hin, setzte sich neben ihn auf das Bett hin und +wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Ihr Herz klopfte und +stockte. Es wurde unerträglich; er wandte sein totenblasses Gesicht zu +ihr; seine Lippen verzogen sich kraftlos in der Bemühung, etwas +auszusprechen. Und Entsetzen drang in Ssonjas Herz. + +»Was ist Ihnen?« -- sagte sie und wich ein wenig von ihm zurück. + +»Nichts, Ssonja. Ängstige dich nicht ... Unsinn! Wirklich, wenn man es +sich überlegt, -- ist es Unsinn,« -- murmelte er mit dem Aussehen eines +besinnungslosen Fieberkranken. -- »Warum bin ich bloß gekommen, um dich +zu quälen?« -- fügte er plötzlich hinzu, sie anblickend. -- »Wirklich. +Wozu? Ich lege mir immer diese Frage vor, Ssonja ...« + +Er hatte sich vielleicht diese Frage vor einer Viertelstunde vorgelegt, +jetzt aber sagte er es in völliger Kraftlosigkeit, kaum sich selber +bewußt, und fühlte ein ständiges Frösteln im ganzen Körper. + +»Ach, wie Sie sich quälen!« -- sagte sie mit ihm leidend und betrachtete +ihn. + +»Alles ist Unsinn! ... Höre, Ssonja,« -- er lächelte plötzlich, aber +bleich und schwach, einen kurzen Moment -- »erinnerst du dich, was ich +dir gestern sagen wollte?« + +Ssonja wartete voll Unruhe. -- + +»Ich sagte, als ich fortging, daß ich vielleicht für immer von dir +Abschied nehme, aber wenn ich heute käme, so wollte ich dir sagen ... +wer Lisaweta ermordet hat.« + +Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper. + +»Nun, ich bin jetzt gekommen, es dir zu sagen.« + +»Haben Sie gestern tatsächlich es ...,« -- flüsterte Ssonja mit Mühe, -- +»woher wissen Sie es denn?« -- fragte sie ihn schnell, als wäre sie +plötzlich zur Besinnung gekommen. + +Ssonja begann schwer zu atmen. Ihr Gesicht wurde immer bleicher und +bleicher. + +»Ich weiß es.« + +Sie schwieg einen Augenblick. + +»Hat man _ihn_ gefunden?« -- fragte sie zaghaft. + +»Nein, man hat ihn nicht gefunden.« + +»Wie wissen Sie _es_ denn?« -- fragte sie wieder kaum hörbar und nach +einem fast minutenlangen Schweigen. + +Er wandte sich zu ihr um und blickte sie scharf und unverwandt an. + +»Errate es,« -- sagte er mit dem früheren wehen und kraftlosen Lächeln. + +Ihren ganzen Körper schienen Krämpfe zu durchziehen. »Ja, Sie ... mich +... warum ... ängstigen Sie mich so?« -- fragte sie, lächelnd, wie ein +Kind. + +»Ich war doch wohl mit _ihm_ sehr gut bekannt ... wenn ich es weiß,« -- +fuhr Raskolnikoff fort und blickte ihr in einem fort ins Gesicht, als +wäre er nicht imstande, die Augen abzuwenden, -- »er wollte diese +Lisaweta ... nicht ermorden ... Er hat sie ... zufällig ermordet ... Er +wollte die Alte ermorden ... wenn sie allein war ... und kam hin ... Da +trat aber Lisaweta ein ... Er hat sie dann ... auch ermordet.« + +Wieder eine furchtbare Pause. Beide blickten die ganze Zeit einander an. + +»Also, du kannst es nicht erraten?« -- sagte er plötzlich mit einem +Gefühle, als stürze er sich von einem Turme hinab. + +»N--nein,« flüsterte Ssonja kaum hörbar. + +»Sieh mal ordentlich her.« + +Und kaum hatte er es gesagt, als eine schon einmal gehabte Empfindung +seine Seele erstarren ließ, -- er sah sie an und ihm war plötzlich, als +erblickte er in ihrem Gesichte Lisawetas Ausdruck. So hatte sie +ausgesehen, als er sich damals ihr mit dem Beile näherte und sie vor ihm +mit vorgestreckter Hand, eine völlig kindliche Angst im Gesichte, +zurückwich, genau, wie wenn kleine Kinder vor irgend etwas Angst +bekommen, und unbeweglich und unruhig den sie ängstigenden Gegenstand +anblicken, zurückweichen, die Händchen nach vorne strecken und sich +anschicken, zu weinen. Fast dasselbe geschah jetzt auch mit Ssonja, -- +ebenso kraftlos, mit derselben Angst sah sie eine Weile ihn an, +plötzlich streckte sie die linke Hand vor, stieß ihn ganz leicht mit den +Fingern an die Brust, begann langsam vom Bette aufzustehen, wich immer +mehr und mehr vor ihm zurück und ihr auf ihn gerichteter Blick wurde +immer unbeweglicher. Ihr Entsetzen teilte sich plötzlich auch ihm mit, +-- dieselbe Angst erschien auch in seinem Gesichte, -- er begann sie +ebenso anzusehen und sogar fast mit demselben Lächeln eines geängsteten +Kindes. + +»Hast du es erraten?« -- flüsterte er endlich. + +»Oh, Gott!« -- entrang sich ein furchtbarer Schrei ihrer Brust. + +Sie fiel kraftlos auf das Bett mit dem Gesichte auf das Kopfkissen hin. +Aber nach einem Augenblicke erhob sie sich schnell, rückte zu ihm hin, +erfaßte seine beiden Hände, drückte sie stark mit ihren dünnen Fingern +und begann von neuem ihm unbeweglich, wie fest gebannt, ins Gesicht zu +blicken. Mit diesem letzten verzweifelten Blick wollte sie die winzigste +letzte Hoffnung für sich herauslesen und erspähen. Aber es war keine +Hoffnung; kein Zweifel blieb nach, alles war _so_! Nachher sogar, wenn +sie sich an diesen Augenblick entsann, war es ihr seltsam und +merkwürdig, -- woraus hatte sie damals _sofort_ gesehen, daß es keinen +Zweifel mehr gab? Es war doch keine Rede davon, daß sie z. B. ein +Vorgefühl von etwas derartigem gehabt hatte? Nun aber schien es ihr, +nachdem er es ihr kaum gesagt hatte, als habe sie wirklich _das_ alles +geahnt. + +»Genug, Ssonja, genug! Quäle mich nicht!« -- bat er mit einem Ausdrucke +schweren Leidens. + +Er hatte gar nicht, ganz und gar nicht gedacht, ihr in dieser Weise es +zu sagen, aber es war so gekommen. + +Sie sprang, wie außer sich, auf, rang die Hände und ging bis zur Mitte +des Zimmers, aber sie wandte sich schnell um, setzte sich wieder neben +ihn hin, so daß ihre Schultern sich fast berührten. Plötzlich fuhr sie, +wie durchbohrt, zusammen, schrie auf und stürzte, ohne zu wissen, was +sie tat, vor ihm auf die Knie hin. + +»Was haben Sie, was haben Sie sich angetan!« -- sagte sie voll +Verzweiflung, sprang von den Knien auf, warf sich ihm um den Hals, +umarmte ihn und preßte ihn stark an sich. + +Raskolnikoff wich zurück und blickte sie mit einem traurigen Lächeln an. + +»Wie du sonderbar bist, Ssonja, -- du umarmst und küßt mich, nachdem ich +dir _dieses_ gesagt habe. Du bist deiner selbst nicht bewußt.« + +»Nein, es gibt jetzt niemand in der ganzen Welt, der unglücklicher ist, +als du!« -- rief sie, wie in Verzückung, ohne seine Bemerkung gehört zu +haben, und dann weinte sie laut und krankhaft. + +Ein ihm seit langem unbekanntes Gefühl überflutete seine Seele und +machte sie erweichen. Er sträubte sich nicht dagegen, -- zwei Tränen +rollten aus seinen Augen und blieben an den Wimpern hängen. + +»Du wirst mich also nicht verlassen, Ssonja?« -- sagte er und blickte +sie fast mit Hoffnung an. + +»Nein, nein. Nie und nimmer!« -- rief Ssonja aus, -- »ich werde dir +folgen, ich werde dir überall hin folgen! Oh, Gott! ... Ach, ich +Unglückliche! ... Und warum, warum habe ich dich nicht früher gekannt! +Warum bist du nicht früher gekommen? Oh, Gott!« + +»Ich _bin_ doch gekommen.« + +»Jetzt! Oh, was ist jetzt zu tun! ... Zusammen, zusammen!« -- +wiederholte sie, wie bewußtlos, und umarmte ihn von neuem, -- »ich werde +mit dir in die Zwangsarbeit nach Sibirien gehen!« + +Er zuckte zusammen, das frühere haßerfüllte und fast hochmütige Lächeln +zeigte sich auf seinen Lippen. + +»Ich will vielleicht nicht einmal in die Zwangsarbeit gehen, Ssonja,« -- +sagte er. + +Ssonja blickte ihn schnell an. + +Nach dem ersten leidenschaftlichen und qualvollen Ausbruche des +Mitgefühles für den Unglücklichen erschütterte sie wieder der +schreckliche Gedanke an den Mord. In dem veränderten Tone seiner Worte +spürte sie den Mörder. Sie blickte ihn erstaunt an. Sie wußte noch gar +nichts, weder warum, noch wie, noch zu welchem Zwecke es geschehen war. +Jetzt tauchten alle diese Fragen mit einem Male in ihrem Bewußtsein auf. +Und wieder glaubte sie nicht, -- »er, er ein Mörder! Ja, ist es denn +möglich?« + +»Was ist denn? Wo stehe ich denn?« -- sagte sie in tiefem Zweifel, als +wäre sie noch nicht zu sich gekommen, -- »wie konnten, wie konnten Sie, +_solch ein Mensch_ ... sich dazu entschließen ... Was war es denn!« + +»Doch wohl, um zu rauben. Höre auf, Ssonja!« -- antwortete er müde und +fast ärgerlich. + +Ssonja stand wie betäubt, plötzlich aber rief sie aus: »Du warst +hungrig! Du ... um der Mutter zu helfen? Ja?« + +»Nein, Ssonja, nein,« -- murmelte er, sich abwendend und ließ den Kopf +sinken, -- »ich war nicht so hungrig ... ich wollte wohl der Mutter +helfen, aber ... auch das ist nicht ganz richtig ... quäl mich nicht, +Ssonja!« + +Ssonja schlug die Hände zusammen. + +»Ist es wirklich, ist es wirklich wahr! Oh, Gott, was ist das für eine +Wahrheit? Wer kann denn daran glauben? ... Und wie, gaben Sie nicht +selbst das Letzte fort, und haben ermordet, um zu rauben! Ah! ...« -- +rief sie plötzlich, -- »das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben +haben ... dieses Geld ... oh, Gott, ist auch dieses Geld ...« + +»Nein, Ssonja,« -- unterbrach er sie hastig, -- »dieses Geld war nicht +von dort, beruhige dich! Dieses Geld hat mir meine Mutter durch einen +Kaufmann geschickt, und ich habe es erhalten, als ich krank war, am +selben Tage, als ich es fortgegeben habe ... Rasumichin hat es gesehen +... er hat es für mich empfangen ... dieses Geld war mein eigenes, +gehörte wirklich mir.« + +Ssonja hörte ihm unentschlossen zu und versuchte mit allen Kräften etwas +zu begreifen. + +»Und _jenes_ Geld ... ich weiß übrigens nicht mal, ob auch Geld da war,« +-- fügte er leise und wie sinnend hinzu, -- »ich habe ihr damals einen +Beutel aus Sämischleder vom Halse genommen ... einen dicken, +vollgestopften Beutel ... ich habe aber nicht hineingeblickt; +wahrscheinlich hatte ich keine Zeit ... Nun, und die Sachen, allerhand +Manschettenknöpfe und Ketten, -- alle diese Sachen und den Beutel habe +ich auf einem fremden Hofe, am W--schen Prospekt, unter einem Steine +versteckt ... am andern Morgen noch ... Alles liegt jetzt noch dort ...« + +Ssonja hörte angestrengt zu. + +»Warum denn ... wenn Sie selbst sagten, um zu rauben, haben Sie doch +nichts genommen?« -- fragte sie ihn schnell, nach einem letzten +Strohhalme greifend. + +»Ich weiß es nicht ... ich habe mich noch nicht entschlossen, -- ob ich +dieses Geld nehmen soll oder nicht,« -- sagte er wieder, wie sinnend, +und plötzlich lächelte er schnell und kurz, -- »ach, welch eine Dummheit +habe ich soeben gesagt!« + +Ssonja durchfuhr ein Gedanke, -- »ist er etwa verrückt?« Aber sie ließ +ihn sofort fallen, -- »nein, hier ist etwas anderes«. Aber sie begriff +gar nichts, rein gar nichts! + +»Weißt du, Ssonja,« -- sagte er plötzlich, wie in einer Eingebung, -- +»weißt du, was ich dir sagen will, -- wenn ich bloß darum ermordet +hätte, weil ich hungrig war,« -- fuhr er fort, betonte jedes Wort und +blickte sie rätselhaft, aber aufrichtig an, -- »so würde ich jetzt ... +_glücklich_ sein! Das sollst du wissen!« + +»Und was läge, was läge dir daran,« -- rief er nach einem Augenblicke +verzweifelt, -- »nun, was läge dir daran, wenn ich sofort zugeben würde, +daß ich schlecht gehandelt habe! Nun, was liegt dir an diesem dummen +Triumphe über mich? Ach, Ssonja, bin ich etwa deswegen jetzt zu dir +gekommen?« + +Ssonja wollte etwas sagen, aber schwieg. + +»Darum bat ich dich auch gestern mit mir zu gehen, weil ich jetzt dich +nur allein habe.« + +»Wohin gehen?« -- fragte Ssonja schüchtern. + +»Nicht um zu stehlen und um zu morden, gewiß, nicht dazu,« -- lächelte +er mit Spott, -- »wir sind zu verschieden ... Und weißt du, Ssonja, ich +habe erst jetzt, erst soeben begriffen, -- _wohin_ ich dich gestern rief +mitzugehen! Gestern aber, als ich dich bat, wußte ich selbst nicht, +wohin. Nur deshalb habe ich dich gebeten, nur deshalb bin ich gekommen, +-- daß du mich nicht verlassest. Wirst du mich verlassen, Ssonja?« + +Sie drückte ihm fest die Hand. + +»Und warum, warum habe ich es ihr gesagt, warum habe ich es ihr +mitgeteilt,« -- rief er nach einem Augenblick voll Verzweiflung aus und +sah sie mit grenzenloser Qual an, -- »nun, erwartest du Erklärungen von +mir, Ssonja, du sitzest und wartest, ich sehe es, -- und was soll ich +dir sagen? Du wirst doch nichts davon verstehen und bloß ganz vor Leid +vergehen ... meinetwegen! Nun weinst du und umarmst mich wieder, -- +warum umarmst du mich? Weil ich es selbst nicht ertrug und gekommen bin, +es auf einen andern abzuwälzen, -- >leide auch du, mir wird es leichter +sein!< Und kannst du solch einen Schuft lieben?« + +»Quälst du dich nicht auch?« -- rief Ssonja aus. + +Wieder überkam seine Seele das Gefühl von vorhin und machte sie auf +einen Augenblick weich. + +»Ssonja, ich habe ein böses Herz, merk es dir, -- dadurch kann man +vieles erklären. Ich bin auch darum hergekommen, weil ich böse bin. Es +gibt solche, die nicht hergekommen wären. Ich aber bin ein Feigling und +... ein Schuft! Aber ... mag sein! Dies alles ist nicht das ... Jetzt +gilt es zu reden, ich weiß aber nicht, wo anfangen ...« + +Er hielt inne und sann nach. + +»Ach, wir sind beide zu verschiedene Leute!« -- rief er wieder aus, -- +»passen nicht zueinander. Und warum, warum bin ich hergekommen! Ich +werde es mir nie verzeihen.« + +»Nein, nein, es ist gut, daß du gekommen bist!« -- rief Ssonja, -- »es +ist besser, daß ich es weiß! Viel besser!« + +Er sah sie voll Schmerz an. + +»So war es tatsächlich!« -- sagte er, als hätte er überlegt. -- »Es war +doch so! Siehst du, -- ich wollte ein Napoleon werden, und darum habe +ich ermordet ... begreifst du es jetzt?« + +»N--nein,« -- flüsterte Ssonja naiv und schüchtern, -- »sprich nur ... +sprich! Ich werde es verstehen, ich werde _für mich_ alles verstehen!« +-- bat sie ihn. + +»Du wirst verstehen? Nun, gut, wir wollen sehen!« + +Er schwieg und überlegte lange. + +»Siehst du, -- ich habe mir einmal folgende Frage vorgelegt, -- wenn zum +Beispiel an meiner Stelle Napoleon gewesen wäre, und wenn er, um seine +Karriere zu beginnen, weder Toulon, noch Ägypten, noch den Übergang über +den Montblanc gehabt hätte, wenn aber statt aller schönen und +monumentalen Dinge eine lächerliche Alte, die Witwe eines kleinen +Beamten gewesen wäre, die man zudem noch ermorden mußte, um aus ihrem +Koffer Geld zu stehlen -- der Karriere wegen, verstehst du? -- hätte er +sich dazu entschlossen, wenn es keinen anderen Ausweg gegeben hätte? +Wäre er nicht schokiert gewesen, weil es zu wenig monumental und ... +weil es sündhaft war? Ich sage dir, daß ich mich über diese >Frage< +schrecklich lange abgequält habe, so daß ich mich furchtbar schämte, als +ich endlich auf den Gedanken kam -- ganz plötzlich kam ich darauf --, +daß es ihn nicht bloß nicht schokiert hätte, sondern ihm nicht einmal in +den Sinn gekommen wäre, daß dies nicht monumental sei ... _er_ hätte gar +nicht begriffen, warum man dabei schokiert sein sollte? Und wenn er +keinen anderen Ausweg gehabt hätte, so würde er, aber ohne daß sie +gemuckst hätte, gemordet haben, ohne langes Nachdenken! Nun, und da ließ +ich ... das Beil fallen ... mordete ... nach diesem Beispiel ... Genau +so ist es vor sich gegangen! Dir erscheint es lächerlich? Ja, Ssonja, +das Lächerlichste ist dabei, daß es vielleicht genau so vorgefallen war +...« + +Ssonja war es nicht lächerlich. + +»Sagen Sie es mir lieber ... ohne Beispiele,« -- bat sie noch +schüchterner und leiser. + +Er wandte sich zu ihr um, blickte sie traurig an und ergriff ihre Hände. + +»Du hast wieder recht, Ssonja. Das ist alles Unsinn, ist leeres +Geschwätz! Siehst du, -- du weißt doch, daß meine Mutter fast nichts +hat. Meine Schwester hat zufällig eine Erziehung erhalten und ist +verurteilt, sich als Gouvernante ihr Leben lang durchzuschlagen. All +ihre Hoffnung war ich allein. Ich studierte, fand aber nicht genügenden +Unterhalt und war gezwungen, zeitweilig die Universität zu verlassen. +Und selbst wenn es sich weiter hingezogen hätte, konnte ich etwa in zehn +oder zwölf Jahren -- und vorausgesetzt, daß meine Verhältnisse sich +verbesserten, -- hoffen, Lehrer oder Beamter mit tausend Rubel Gehalt zu +werden ...« -- Er sprach, als hätte er es auswendig gelernt. -- »Bis +dahin wäre meine Mutter vor Sorgen und Kummer verkommen, und mir wäre es +nicht gelungen, ihr ein ruhiges Leben zu schaffen, und meine Schwester +... nun, mit der Schwester konnte noch Schlimmeres passiert sein! ... +Ja, und was für ein Vergnügen ist es, das ganze Leben an allem +vorbeigehen und von allem sich abwenden zu müssen, die Mutter zu +vergessen und die Beleidigung der Schwester zum Beispiel, demütig zu +ertragen? Wozu? Um sich andere anzuschaffen, nachdem man sie beerdigt +hat, -- Frau und Kinder, um auch sie nachher ohne einen Groschen und +ohne ein Stück Brot zu hinterlassen? So ... nun, da beschloß ich, mich +des Geldes der Alten zu bemächtigen, es zu meinem Unterhalte an der +Universität, ohne die Mutter mehr quälen zu müssen, und zu meinen ersten +Schritten nach Beendigung des Studiums zu benutzen, -- und dies alles +gleich groß und radikal auszuführen, um eine vollkommen neue Laufbahn +beginnen und einen neuen unabhängigen Weg betreten zu können ... das ist +alles ... selbstverständlich, schlecht war, daß ich die Alte ermordet +habe ... und jetzt genug davon!« + +Völlig erschöpft schloß er seinen Bericht und ließ den Kopf sinken. + +»Ach, es war nicht das, nicht das,« -- rief Ssonja gramvoll aus, -- +»kann man denn so ... nein, es ist nicht richtig, es ist nicht so!« + +»Jetzt siehst du selbst, daß es nicht so war! ... Und ich habe doch +aufrichtig berichtet, habe die Wahrheit gesagt!« + +»Was ist denn das für eine Wahrheit! Oh, Gott!« + +»Ich habe doch, Ssonja, bloß eine unnütze, häßliche, bösartige Laus +ermordet.« + +»Wie, ein Mensch ist eine Laus?« + +»Ich weiß es auch selbst, daß es keine Laus ist,« -- antwortete er und +blickte sie eigentümlich an. -- »Aber ich lüge, Ssonja,« -- fügte er +hinzu, »es ist alles gelogen ... Es war nicht das; du sagst die +Wahrheit. Es waren ganz andere, vollkommen andere Gründe! ... Ich habe +seit langem mit niemand gesprochen, Ssonja ... Der Kopf tut mir jetzt so +weh.« + +Seine Augen brannten in fieberhaftem Glanze. Er begann fast zu +phantasieren; ein unruhiges Lächeln irrte um seine Lippen. Die ungeheure +Erregung verbarg kaum die äußerste Schwäche. Ssonja begriff seine +Selbstqual. Auch ihr begann der Kopf zu schwindeln. Und wie sonderbar er +sprach, als sei alles selbstverständlich ... »aber wie denn ... Wie war +es nur möglich? Oh, Gott!« Und sie rang in Verzweiflung die Hände. + +»Nein, Ssonja, es war nicht das!« -- begann er wieder, erhob plötzlich +den Kopf, als hätte ihn eine andere Wendung der Gedanken überrascht und +von neuem angeregt, -- »es war nicht das! Besser ... du stellst dir vor +... ja! es ist wirklich besser! ... stell dir vor, daß ich ehrgeizig, +neidisch, böse, niederträchtig, rachsüchtig bin ... nun ... und +meinetwegen zum Irrsinn neige ... Mag alles gleich mitgerechnet werden! +Davon, daß ich verrückt sei, sprach man schon früher, ich habe es wohl +gemerkt! Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich auf der Universität selber +meinen Unterhalt nicht finden konnte. Weißt du aber, daß ich es +vielleicht doch hätte ermöglichen können? Meine Mutter hätte mir das +Nötige fürs Studium geschickt, und Stiefel, Kleider und Essen hätte ich +selbst verdient, sicher sogar! Es fanden sich Unterrichtsstunden für +mich; man bot fünfzig Kopeken. Rasumichin arbeitet doch auch! Aber ich +wurde böse und wollte es nicht. _Ich wurde böse_ -- das ist ein guter +Ausdruck! Ich verkroch mich dann, wie eine Spinne, in meine Ecke. Du +warst doch in meinem elenden Loche, hast es gesehen ... Aber weißt du +auch, Ssonja, daß niedrige Decken und enge Zimmer die Seele und den +Verstand bedrücken? Oh, wie ich dieses elende Loch haßte! Dennoch wollte +ich nicht heraus! Ich wollte es absichtlich nicht! Tagelang ging ich +nicht aus und wollte nicht arbeiten, wollte nicht mal essen und lag die +ganze Zeit. Wenn mir Nastasja etwas brachte, -- aß ich, wenn sie nichts +brachte, -- verging auch so der Tag; absichtlich, aus Bosheit, bat ich +um nichts! Wenn ich nachts kein Licht hatte, lag ich im Dunkel, wollte +aber nicht arbeiten, um ein Licht kaufen zu können. Ich mußte studieren, +-- habe aber die Bücher verkauft; auf dem Tische bei mir, auf den +Kollegheften und Notizen liegt jetzt fingerdick der Staub. Ich zog es +vor, zu liegen und zu grübeln. Und ich dachte die ganze Zeit ... immer +hatte ich solche Träume, allerhand seltsame Träume, es lohnt sich nicht, +von ihnen zu sprechen! Dann aber begann es mir vorzuschweben, daß ... +Nein, es ist nicht richtig! Ich erzähle wieder nicht in der richtigen +Weise! Siehst du, -- ich fragte mich damals immer, warum bin ich so +dumm, daß, wenn andere dumm sind, und wenn ich es sicher weiß, daß sie +dumm sind, ich selbst nicht klüger sein will? Ich erkannte später, +Ssonja, daß es zu lange dauern wird, wollte man warten, bis alle klug +werden ... Ich erkannte auch, daß es niemals der Fall sein wird, daß die +Menschen sich nicht verändern, daß niemand sie ändern kann, und daß es +sich der Mühe nicht lohnt! Ja, es ist so! Das ist ihr Gesetz ... Das +Gesetz, Ssonja! Es ist so! ... Und ich weiß jetzt, Ssonja, daß wer an +Verstand und Geist stark und kräftig ist, der auch der Herrscher über +sie ist! Wer viel wagt, der ist bei ihnen im Rechte! Wer auf das größere +pfeifen kann, der ist bei ihnen auch Gesetzgeber, wer aber am meisten +von allen wagen kann, der ist mehr im Rechte, als alle! In dieser Weise +ist es bis jetzt vor sich gegangen und so wird es immer bleiben! Nur ein +Blinder merkt es nicht!« + +Während Raskolnikoff dies sagte, sah er wohl Ssonja an, aber er kümmerte +sich nicht mehr darum, ob sie ihn verstehen würde oder nicht. Das Fieber +hatte ihn völlig gepackt. Er war in einem finstern Enthusiasmus. Er +hatte in der Tat zu lange mit niemand gesprochen. Und Ssonja verstand, +daß dieser finstere Katechismus sein Glaube und sein Gesetz geworden +war. + +»Ich kam damals darauf, Ssonja,« -- fuhr er immer noch enthusiastisch +fort, -- »daß die Macht bloß demjenigen gegeben wird, der es wagt, sich +zu bücken und sie zu nehmen. Das ist das einzige, nur das allein, -- man +muß wagen! Mir kam damals ein Gedanke, zum erstenmal im Leben, den +niemand je vor mir gedacht hat. Niemand! Klar wie die Sonne erschien mir +plötzlich der Gedanke: Warum hat bis jetzt kein einziger gewagt und wagt +es nicht, wenn er an diesem ganzen Unsinn vorbeigeht, alles einfach am +Schwanze zu packen und es zum Teufel zu werfen! Ich ... ich wollte _es +wagen_ und tötete ... ich wollte bloß wagen, Ssonja, das ist der ganze +Grund!« + +»Oh, schweigen Sie, schweigen Sie!« -- rief Ssonja und schlug die Hände +zusammen. -- »Sie haben Gott verlassen und Gott hat Sie gestraft, hat +Sie dem Teufel überliefert! ...« + +»Ja, Ssonja, -- als ich damals in der Dunkelheit lag und mir all das +vorschwebte, da hat mich der Teufel versucht? Nicht wahr?« + +»Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslästerer; nichts, nichts +begreifen Sie! Oh, Gott! Er wird nichts, nichts verstehen!« + +»Schweig, Ssonja, ich lache gar nicht, ich weiß es auch selbst, daß mich +der Teufel zog. Schweig, Ssonja, schweig!« -- wiederholte er düster und +beharrlich. -- »Ich weiß alles. Ich habe mir dies alles überlegt und +zugeflüstert, als ich damals im Dunkeln lag ... Ich habe über dies alles +mit mir selbst bis zum kleinsten Punkt gestritten und weiß alles, alles! +Und mir war dies ganze Geschwätz damals so zum Überdruß, so zum +Überdruß! Ich wollte alles vergessen und von neuem anfangen, Ssonja, und +aufhören zu schwatzen! Und denkst du etwa, daß ich, wie ein Dummkopf, +blindlings hingegangen bin? Ich bin, wie ein Kluger, hingegangen, und +das hat mich auch zugrunde gerichtet! Und meinst du etwa, ich hätte zum +Beispiel nicht gewußt, daß, _wenn_ ich überhaupt damit anfing, mich zu +fragen und auszuhorchen, -- ob ich ein Recht auf Macht habe, -- ich +schon deswegen dies Recht auf Macht _nicht_ hatte. Oder wenn ich mir die +Frage vorlegte, -- ist der Mensch eine Laus? -- da war schon der Mensch +_für mich_ keine Laus mehr, sondern war es eben für denjenigen, dem +diese Frage _nicht_ in den Sinn kam, und der ohne Fragen auf sein Ziel +losgeht ... Als ich mich soviel Tage abquälte, ob Napoleon es getan +hätte oder nicht, -- da fühlte ich es doch deutlich, daß ich kein +Napoleon war ... Ich habe die ganze Qual dieses ganzen Geschwätzes +ertragen, Ssonja, und wollte sie ganz und gar von mir abschütteln, -- +ich wollte, Ssonja, ohne Kasuistik töten, meinetwegen, für mich allein +töten! Ich wollte es nicht mal mir selbst vorlügen! Ich habe nicht darum +getötet, um meiner Mutter zu helfen, -- das ist Unsinn! Ich habe nicht +darum getötet, um Mittel und Macht zu erhalten, und dann ein Wohltäter +der Menschheit zu werden. Unsinn! Ich habe einfach getötet; für mich, +für mich ganz allein habe ich getötet; ob ich aber irgend wessen +Wohltäter geworden wäre, oder ob ich mein ganzes Leben, wie eine Spinne, +alle in mein Gewebe eingefangen und aus allen die Lebenssäfte ausgesaugt +hätte, -- mußte mir in jenem Augenblicke vollkommen gleichgültig sein! +... Und nicht um das Geld war es mir in erster Linie zu tun, Ssonja, als +ich tötete; nicht das Geld war mir so wichtig, es war etwas ganz anderes +... Ich weiß jetzt alles ... Verstehe mich, -- wenn ich vielleicht +denselben Weg weitergegangen wäre, würde ich niemals mehr einen Mord +begangen haben. Ich mußte etwas anderes erfahren, etwas anderes trieb +mich dazu, -- ich mußte damals und schleunigst erfahren, ob ich eine +Laus bin, wie alle, oder ein Mann? Bin ich imstande, hinwegzuschreiten +oder nicht? Werde ich es wagen, mich zu bücken und die Macht aufzuheben +oder nicht? Bin ich eine zitternde Kreatur oder habe ich _ein Recht_ +...« + +»Zu töten? Ein Recht zu töten?« -- schlug Ssonja die Hände zusammen. + +»Ach, Ssonja!« -- rief er gereizt aus, wollte ihr etwas erwidern, +schwieg aber verächtlich. -- »Unterbrich mich nicht, Ssonja! Ich wollte +mir bloß beweisen, -- daß der Teufel mich damals hinschleppte, mir aber +nachher erklärte, daß ich kein Recht hatte, dort hinzugehen, weil ich +eben so eine Laus bin, wie alle! Er hat seinen Spott mit mir getrieben, +nun bin ich zu dir gekommen! Nimm den Gast auf! Wenn ich nicht eine Laus +wäre, würde ich dann zu dir gekommen sein? Höre, -- als ich damals zu +der Alten hinging, ging ich bloß, es _zu versuchen_ ... Nun weißt du +es!« + +»Und haben getötet! Haben getötet!« + +»Wie habe ich getötet? Ermordet man denn in dieser Weise? Geht man denn +so hin zu töten, wie ich damals ging! Ich will dir einmal erzählen, wie +ich hinging ... Habe ich denn die Alte getötet? Ich habe mich getötet, +und nicht die Alte! Da habe ich mich mit einem Schlage auf ewig +getroffen! ... Und diese Alte hat der Teufel getötet, aber nicht ich ... +Genug, genug, Ssonja, genug! Laß mich,« -- rief er plötzlich in +krankhaftem Grame, -- »laß mich!« + +Er stützte sich auf seine Knie und umklammerte mit beiden Händen den +Kopf. + +»Wie Sie leiden!« -- entrang sich Ssonja ein qualvoller Schrei. + +»Was soll ich jetzt tun, sprich!« -- fragte er, erhob plötzlich den Kopf +und blickte sie mit einem vor Verzweiflung schrecklich verzerrten +Gesichte an. + +»Was tun!« -- rief sie aus, sprang von ihrem Platze auf, und ihre Augen, +die bis jetzt voll Tränen waren, funkelten plötzlich. -- »Steh auf!« -- +Sie packte ihn an den Schultern; er erhob sich und sah sie fast +verwundert an. -- »Geh sofort, gleich, stell dich auf einen Kreuzweg +hin, beuge dich, küß zuerst die Erde, die du besudelt hast, dann beuge +dich vor der ganzen Welt, in allen vier Richtungen und sage allen laut: +-- >ich habe getötet!< Dann wird dir Gott wieder Leben senden. Willst du +gehen? Willst du gehen?« -- fragte sie ihn, am ganzen Körper zitternd, +wie in einem Anfall, und faßte dabei seine beiden Hände und drückte sie +stark und sah ihn mit feurigen Blicken an. + +Er war erstaunt, ja, durch ihre plötzliche Begeisterung bestürzt. + +»Du meinst die Zwangsarbeit, Sibirien, Ssonja? Daß ich mich selbst +anzeigen soll?« -- fragte er finster. + +»Das Leiden auf sich nehmen und dadurch Erlösung finden, das sollst du.« + +»Nein! Ich gehe nicht zu ihnen, Ssonja.« + +»Wie wirst du aber leben, leben? Wie wirst du weiterleben?« -- rief +Ssonja. -- »Ist es denn jetzt möglich? Und wie wirst du mit deiner +Mutter sprechen? Oh, was wird, was wird jetzt mit ihnen geschehen! Ja, +was sage ich! Du hast ja schon deine Mutter und Schwester verlassen. Du +hast sie doch verlassen, sie verlassen. Oh, Gott!« -- rief sie, -- »er +weiß ja alles selbst! Nun, wie kann man denn ohne einen Menschen +weiterleben! Was wird jetzt mit dir werden!« + +»Sei kein Kind, Ssonja,« -- sagte er leise. -- »Welche Schuld habe ich +vor ihnen? Wozu soll ich hingehen? Was soll ich ihnen sagen? Das sind +alles bloß Gespenster ... Sie vertilgen selbst Millionen von Menschen +und halten es noch für eine Tugend. Sie sind Gauner und Schufte, Ssonja! +... Ich gehe nicht. Und was soll ich sagen, -- daß ich getötet und nicht +gewagt habe, das Geld zu nehmen, daß ich es unter einem Stein versteckt +habe?« -- fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. -- »Sie werden doch +selbst über mich lachen, werden sagen, -- er ist ein Dummkopf, daß er es +nicht genommen hat. Ein Feigling und ein Dummkopf! Sie werden nichts, +gar nichts verstehen, Ssonja, und sie sind nicht wert, es zu verstehen. +Wozu soll ich hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Ssonja ...« + +»Du wirst dich zu Tode quälen, zu Tode quälen,« -- wiederholte sie und +streckte ihm in verzweifeltem Flehen die Hände entgegen. + +»Ich habe mich vielleicht _bloß_ verleumdet,« -- bemerkte er finster, +wie sinnend, -- »vielleicht bin ich _doch_ ein Mensch und keine Laus, +vielleicht habe ich mich übereilt verurteilt ... Ich will _noch_ +kämpfen.« + +Ein hochmütiges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. + +»Solche Qual zu tragen! Und das ganze, ganze Leben hindurch! ...« + +»Ich werde mich gewöhnen ...,« -- sagte er düster und nachdenklich. -- +»Höre,« -- begann er nach einer Weile, -- »es ist genug geweint, jetzt +ist Zeit, die Sache zu bedenken, -- ich bin gekommen, dir zu sagen, daß +man mich jetzt sucht, mir nachstellt ...« + +»Ach!« -- rief Ssonja erschrocken aus. + +»Nun, warum schreist du? Du willst doch selbst, daß ich nach Sibirien +gehe, jetzt aber erschrakst du? Eins aber will ich sagen, -- ich ergebe +mich ihnen nicht. Ich will mit ihnen noch kämpfen, und sie werden mir +nichts tun können. Sie haben keine wirklichen Beweise. Gestern war ich +in großer Gefahr und dachte, daß ich schon verloren sei; heute hat es +sich verbessert. Alle ihre Beweise haben zwei Seiten, das will sagen, -- +ich kann ihre Beschuldigungen zu meinen Gunsten verwenden, verstehst du? +Und ich werde sie zu meinen Gunsten verwenden, denn ich habe es jetzt +gelernt ... Ins Gefängnis aber wird man mich sicher sperren. Wenn nicht +ein Zufall hinzugekommen wäre, hätte man mich vielleicht schon heute +geholt; vielleicht geschieht es heute _noch_ ... Aber das tut nichts, +Ssonja, -- ich werde eine Zeitlang sitzen und man wird mich freilassen +... denn sie haben keinen einzigen wirklichen Beweis und werden ihn auch +nicht bekommen, ich gebe mein Wort darauf. Mit dem aber, was sie +besitzen, kann man einen Menschen nicht verurteilen. Nun, genug ... Ich +sagte es bloß, damit du es weißt ... Mit meiner Mutter und Schwester +will ich es so einzurichten versuchen, daß sie nicht daran glauben, +damit sie nicht erschrecken ... Meine Schwester ist jetzt übrigens, wie +es scheint, versorgt ... also auch meine Mutter ... Nun, das ist alles. +Sei übrigens vorsichtig. Willst du zu mir ins Gefängnis kommen, wenn ich +dort sein werde?« + +»Oh, ich werde, werde kommen!« + +Sie saßen nebeneinander, traurig und niedergeschlagen, als wären sie +nach einem Sturme allein an einen einsamen Strand geschleudert worden. +Er sah Ssonja an und fühlte ihre große Liebe, und seltsam, es fiel ihm +plötzlich schwer und schmerzlich aufs Herz, daß er so geliebt wurde. Es +war ein seltsames und furchtbares Gefühl! Als er zu Ssonja ging, empfand +er, daß in ihr seine ganze Hoffnung und sein letzter Ausweg liege; er +glaubte wenigstens einen Teil seiner Qualen abzuwälzen und jetzt, wo ihr +ganzes Herz sich ihm zugewandt hatte, fühlte und erkannte er, daß er um +vieles unglücklicher geworden war. + +»Ssonja,« -- sagte er, -- »komm lieber nicht zu mir, wenn ich im +Gefängnis sein werde.« + +Ssonja antwortete nicht, sie weinte. Es vergingen ein paar Minuten. + +»Hast du ein Kreuz?« -- fragte sie plötzlich unerwartet, als sei es ihr +eben eingefallen. + +Er verstand zuerst die Frage nicht. + +»Nein, du hast keins? -- Hier, nimm dieses Kreuz aus Zypressenholz. Ich +habe ein anderes, kupfernes von Lisaweta. Ich habe mit Lisaweta +getauscht, -- sie hat mir ihr Kreuz gegeben und ich ihr mein +Heiligenbildchen. Ich will jetzt das Kreuz von Lisaweta tragen, dieses +aber gebe ich dir. Nimm ... es gehört doch mir! Es ist doch mein Kreuz!« +-- bat sie ihn, -- »wir werden doch zusammen gehen und leiden, also +wollen wir auch zusammen das Kreuz tragen! ...« + +»Gib her!« sagte Raskolnikoff. + +Er wollte sie nicht betrüben, zog aber gleich wieder die Hand zurück, +die er nach dem Kreuze ausgestreckt hatte. + +»Nicht jetzt, Ssonja. Lieber später,« -- fügte er hinzu, um sie zu +beruhigen. + +»Ja, ja, es ist besser, es ist besser,« -- pflichtete sie ihm mit +Begeisterung bei, -- »wenn du gehst, um das Leiden auf dich zu nehmen, +dann legst du es um. Du kommst dann zu mir, ich werde es dir umhängen, +wir wollen dann beten und beide gehen.« + +In diesem Augenblicke klopfte jemand dreimal an die Türe. + +»Ssofja Ssemenowna, kann ich hereinkommen?« -- ertönte eine sehr +bekannte höfliche Stimme. + +Ssonja stürzte erschrocken zur Türe. Herr Lebesjätnikoff blickte in das +Zimmer hinein. + + + V. + +Lebesjätnikoff sah aufgeregt aus. + +»Ich komme zu Ihnen, Ssofja Ssemenowna. Entschuldigen Sie ... Ich dachte +mir, daß ich auch Sie treffen werde,« -- wandte er sich schnell an +Raskolnikoff, -- »das heißt, ich dachte nichts ... in dieser Hinsicht +... aber ich dachte ... Dort bei uns ist Katerina Iwanowna verrückt +geworden,« -- schloß er plötzlich, zu Ssonja gewandt. + +Ssonja schrie auf. + +»Das heißt, es scheint wenigstens so ... Wir wissen nicht, was wir tun +sollen, das ist es! Sie kam zurück ... man scheint sie irgendwo +hinausgejagt, vielleicht auch geschlagen zu haben ... es scheint +wenigstens so ... Sie war zu dem Vorgesetzten des verstorbenen Ssemjon +Sacharytsch gelaufen, hatte ihn nicht zu Hause getroffen; er war bei +einem anderen General zu Mittag geladen ... Und stellen Sie sich vor, +sie lief dann dorthin, ... zu diesem anderen General, stellen Sie sich +vor, -- sie bestand auf ihrem Verlangen, den Vorgesetzten von Ssemjon +Sacharytsch zu sehen, und sie hat, wie es scheint, ihn von der Tafel +rufen lassen. Sie können sich denken, was passiert ist. Man jagte sie +selbstverständlich hinaus; sie erzählte, daß sie den General beschimpft +und ihm sogar etwas ins Gesicht geschleudert habe. Das kann man ihr +schon glauben ..., daß man sie nicht zur Polizei gebracht hat, -- +verstehe ich nicht! Jetzt erzählt sie es allen, auch Amalie Iwanowna, +doch es ist schwer zu verstehen, was sie meint, denn sie schreit und +wirft sich dabei mit dem Kopfe an die Wand ... Ach ja -- sie sagt und +schreit, da sie jetzt von allen verlassen sei, jetzt wolle sie mit den +Kindern auf die Straße gehen, die einen Leierkasten tragen sollen, die +Kinder müßten singen und tanzen, auch sie würde singen und Geld +einsammeln, und Tag für Tag wolle sie vor den Fenstern des Generals +stehen ... >Mögen alle sehen,< sagt sie, >wie die edlen Kinder eines +angesehenen Beamten als Bettler in den Straßen herumgehen müssen!< Sie +schlägt die weinenden Kinder, Lene lehrt sie ein Lied singen, den Knaben +tanzen und Poletschka ebenfalls; reißt alle Kleider entzwei; macht ihnen +Mützen, wie die Gaukler sie haben; sie selbst will ein Becken tragen, +darauf schlagen, an Stelle der Musik ... Uns will sie gar nicht anhören +... Stellen Sie sich vor, wie soll das werden? Das geht doch nicht an!« + +Lebesjätnikoff hätte noch weiter gesprochen, aber Ssonja, die ihm mit +angehaltenem Atem zugehört hatte, griff rasch nach ihrer Mantille und +ihrem Hut, lief aus dem Zimmer und kleidete sich im Gehen an. +Raskolnikoff ging ihr nach und Lebesjätnikoff folgte ihm. + +»Sie ist ganz gewiß verrückt geworden!« -- sagte er zu Raskolnikoff und +trat mit ihm auf die Straße, -- »ich wollte nur Ssofja Ssemenowna nicht +so erschrecken und sagte deshalb -- >es scheint<, aber es kann keinen +Zweifel darüber geben. Man hört oft, daß bei Schwindsucht im Gehirn +solche Knollen entstehen; schade, daß ich nicht Medizin studiert habe. +Ich versuchte übrigens, sie zu überzeugen, aber sie will nichts hören.« + +»Haben Sie ihr von diesen Knollen gesprochen?« + +»Das heißt, eigentlich nicht von den Knollen. Sie würde es doch nicht +verstanden haben. Ich sage aber, -- wenn man einen Menschen logisch +überzeugen kann, daß er eigentlich keinen Grund hat, zu weinen, so hört +er auch auf zu weinen. Das ist klar. Oder meinen Sie, daß er nicht +aufhören wird?« + +»Dann wäre das Leben leicht,« -- antwortete Raskolnikoff. + +»Erlauben Sie, erlauben Sie bitte; gewiß, bei Katerina Iwanowna würde es +ziemlich schwer fallen, sie verstände es nicht. Aber ist Ihnen nicht +bekannt, daß in Paris schon ernste Versuche gemacht worden sind über die +Möglichkeit, durch Anwendung von logischer Überredung Wahnsinnige zu +heilen? Ein Professor dort, der vor kurzem gestorben ist, ein großer +Gelehrter, hat sich ausgedacht, daß man sie in dieser Weise heilen kann. +Sein Grundgedanke ist, daß bei den Wahnsinnigen eine besondere Störung +im Organismus nicht vorgeht, und daß der Wahnsinn sozusagen ein +logischer Fehler, ein Fehler der Urteilsfähigkeit, eine falsche Ansicht +von Dingen ist. Er widerlegte allmählich den Kranken, und denken Sie +sich, er soll Erfolge erzielt haben. Da er außerdem auch Duschen +anwandte, so wurden die Erfolge dieser Behandlung bezweifelt ... Es +scheint wenigstens so ...« + +Raskolnikoff hörte ihm längst nicht mehr zu. Als er an seinem Hause +ankam, nickte er mit dem Kopfe Lebesjätnikoff zu und bog in den Torweg +ein. Lebesjätnikoff kam zu sich, blickte sich um und lief weiter. + +Raskolnikoff trat in seine Kammer und blieb mitten darin stehen. Warum +war er hierher zurückgekehrt? Er sah diese gelblichen, abgerissenen +Tapeten, diesen Staub, sein Sofa an ... Vom Hofe drang ein hartes +ununterbrochenes Klopfen; man schien Nägel einzuschlagen ... Er trat an +das Fenster, hob sich auf den Zehen und blickte lange mit +außerordentlicher Aufmerksamkeit im Hofe umher. Der Hof aber war leer +und man sah die Klopfenden nicht. Links, im Seitengebäude war hie und da +ein geöffnetes Fenster; auf den Fensterbrettern standen kleine Töpfe mit +schwächlichen Geranien. Vor den Fenstern hing Wäsche ... Das ganze Bild +kannte er auswendig. Er wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa. +Noch nie, nie hatte er sich so furchtbar einsam gefühlt! + +Ja, er fühlte es noch einmal, daß er vielleicht Ssonja hassen werde, und +zwar jetzt, wo er sie unglücklicher gemacht hatte. + +Warum war er zu ihr hingegangen? Um um ihre Tränen zu bitten? Warum +mußte er so unbedingt ihr Leben verkümmern? Oh, welche Gemeinheit. + +»Ich bleibe allein!« -- sagte er plötzlich entschlossen, -- »und sie +soll nicht ins Gefängnis zu mir kommen!« + +Nach etwa fünf Minuten erhob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Es +war ein merkwürdiger Gedanke: -- »Vielleicht ist es in Sibirien +tatsächlich besser.« + +Er erinnerte sich nicht, wie lange er in seinem Zimmer sich mit den +einstürmenden unklaren Gedanken abgegeben hatte. Da öffnete sich +plötzlich die Türe und Awdotja Romanowna trat herein. Sie blieb zuerst +stehen und blickte ihn von der Schwelle an, so wie er gestern Ssonja +angeblickt hatte; kam dann herein und setzte sich auf einen Stuhl, auf +ihren gestrigen Platz, ihm gegenüber. Er sah sie schweigend und +augenscheinlich gedankenlos an. + +»Sei mir nicht böse, Bruder, ich komme nur auf einen Augenblick,« -- +sagte Dunja. + +Der Ausdruck ihres Gesichtes war nachdenklich, aber nicht streng. Der +Blick war klar und still. Er sah, daß auch sie mit Liebe zu ihm gekommen +war. + +»Bruder, ich weiß jetzt alles, _alles_. Mir hat Dmitri Prokofjitsch +alles erklärt und erzählt. Man verfolgt und quält dich mit einem dummen +und schändlichen Verdacht! ... Dmitri Prokofjitsch hat mir gesagt, daß +für dich keine Gefahr vorhanden sei, daß du dich unnütz mit solch einem +Schrecken befassest. Ich denke nicht, wie er, ich _verstehe vollkommen_, +wie alles in dir empört sein muß, und daß diese Empörung in dir für +immer Spuren hinterlassen kann. Davor habe ich Angst. Ich verurteile +dich nicht und darf dich nicht verurteilen, daß du uns verlassen hast, +verzeih mir, daß ich dir dies vorgeworfen habe. Ich weiß selbst, daß +auch ich von allen fortgehen würde, wenn ich solch einen großen Kummer +hätte. Ich werde der Mutter _davon_ nichts sagen, will aber mit ihr +immer über dich sprechen, und will in deinem Namen sagen, daß du sehr +bald kommen wirst. Quäle dich nicht ihretwegen; _ich_ werde sie +beruhigen; aber quäle auch sie nicht zu sehr, -- komm wenigstens noch +einmal zu ihr; erinnere dich, daß sie unsere Mutter ist! Ich bin nur +gekommen, um zu sagen,« -- Dunja stand auf, -- »daß, falls du irgendwie +mich brauchen solltest und wenn es ... mein Leben gälte ... so rufe +mich, ich werde kommen. Leb wohl!« + +Sie wandte sich schnell um und ging zur Türe. + +»Dunja!« -- rief Raskolnikoff, stand auf und ging zu ihr, -- »dieser +Dmitri Prokofjitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.« + +Dunja errötete ein wenig. + +»Nun!« -- fragte sie nach einer Weile. + +»Er ist ein tüchtiger, fleißiger, ehrlicher Mensch und ist starker Liebe +fähig ... Leb wohl, Dunja.« + +Dunja errötete, dann wurde sie unruhig. + +»Was ist dir, Bruder, trennen wir uns denn wirklich für immer, daß du +mir ... solch ein Vermächtnis machst?« + +»Wie dem auch sei ... leb wohl ...« + +Er kehrte sich um und ging zum Fenster. Sie blieb eine Weile stehen, sah +ihn sorgenvoll an und ging mit dem Gefühle der Angst hinaus. + +Er war ihr gegenüber nicht kälter! Es hatte einen Augenblick, in letzter +Minute, gegeben, wo er die größte Lust verspürte, sie innig zu umarmen, +von ihr _Abschied zu nehmen_ und ihr alles zu _sagen_, aber er wagte ihr +nicht einmal die Hand zu reichen. + +»Sie würde vielleicht später noch erschauern bei dem Gedanken, daß ich +sie umarmt habe, und würde sagen, daß ich ihr einen Kuß gestohlen +hätte!« + +»Würde sie dies ertragen können oder nicht?« -- fügte er nach einigen +Minuten hinzu. -- »Nein, sie würde es nicht ertragen können; eine +_solche Natur_ nicht ...« + +Er dachte an Ssonja. + +Vom Fenster kam eine kühle Luft. Draußen war es nicht mehr hell. Er nahm +seine Mütze und ging hinaus. + +Er konnte und wollte nicht auf seinen krankhaften Zustand achten. Aber +diese ununterbrochenen Aufregungen und diese seelischen Erschütterungen +konnten nicht ohne Folgen bleiben. Und wenn er noch nicht an einem +heftigen Fieber daniederlag, so war es vielleicht darum, weil diese +inneren ununterbrochenen Aufregungen ihn vorläufig noch aufrecht und bei +Bewußtsein hielten. + +Er irrte ziellos herum. Die Sonne ging unter. Eine eigenartige Angst +begann in der letzten Zeit seiner Seele sich zu bemächtigen. Es war kein +bohrender oder brennender Schmerz; etwas Beständiges oder Bleibendes +aber ging von ihm aus; die Ahnung einer Reihe endloser kalter, toter +Jahre lag darinnen, einer Ewigkeit auf dem »ellenbreiten Raume«. In den +Abendstunden war dieses Gefühl stärker und peinvoller. + +»Und mit diesen dummen, rein physischen Schwächen, die vom +Sonnenuntergang abhängen konnten, soll man sich vor Dummheiten hüten! Da +läuft man dann nicht bloß zu Ssonja hin, auch zu Dunja!« -- murmelte er +haßerfüllt vor sich hin. Man rief ihn beim Namen. Er blickte sich um; +Lebesjätnikoff eilte auf ihn zu. + +»Denken Sie, ich war bei Ihnen, ich suchte Sie. Stellen Sie sich vor, +sie hat wirklich ihre Absicht ausgeführt und die Kinder mitgenommen. Ich +habe sie mit Ssofja Ssemenowna nur mit Mühe gefunden. Sie selbst schlägt +auf eine Pfanne, und läßt die Kinder tanzen. Die Kinder weinen. Sie +bleiben an Straßenecken und vor Läden stehen. Das dumme Volk läuft ihnen +nach. Wir wollen hingehen!« + +»Und Ssonja?« -- fragte Raskolnikoff unruhig und eilte Lebesjätnikoff +nach. + +»Sie ist ganz außer sich. Nicht Ssofja Ssemenowna, sondern Katerina +Iwanowna ist außer sich; aber auch Ssofja Ssemenowna ist außer sich. +Katerina Iwanowna ist aber ganz und gar aufgelöst. Ich sage Ihnen, sie +ist vollkommen verrückt. Man wird sie noch zur Polizei bringen. Sie +können sich vorstellen, wie das erst auf sie wirken wird ... Jetzt sind +sie am Kanal bei der N.schen Brücke, gar nicht weit von Ssofja +Ssemenownas Wohnung.« + +Am Kanal, nicht weit von der Brücke und zwei Häuser von der Wohnung +Ssonjas entfernt, hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt. +Besonders Knaben und Mädchen liefen hin. Von der Brücke aus konnte man +die heisere, überanstrengte Stimme von Katerina Iwanowna hören. Es war +ein merkwürdiges Schauspiel, fähig, das Straßenpublikum zu fesseln. +Katerina Iwanowna hatte ihr altes, abgetragenes Kleid an, einen Schal +umgelegt und einen zerrissenen Strohhut auf; sie war tatsächlich ganz +außer sich. Dabei war sie müde und rang nach Atem. Ihr abgehärmtes +schwindsüchtiges Gesicht sah noch leidender aus; außerdem sieht ein +Schwindsüchtiger draußen im Sonnenlicht stets kränklicher und mehr +entstellt aus als zu Hause, -- ihr aufgeregter Zustand nahm kein Ende, +sie wurde mit jedem Augenblicke gereizter. Bald stürzte sie sich auf die +Kinder, schrie sie an, redete ihnen zu, lehrte sie auf der Straße in +Gegenwart aller, wie sie tanzen und was sie singen sollten, begann ihnen +zu erklären, warum dies nötig sei, geriet in Verzweiflung, daß sie nicht +begreifen wollten, und schlug sie ... Dann stürzte sie wieder ins +Publikum, -- wenn sie einen einigermaßen besser gekleideten Menschen +entdeckte, der stehen blieb, um sich die Sache anzusehen, beeilte sie +sich sofort, ihm zu erklären, daß es so weit, -- mit -- den Kindern »aus +einem feinen, man kann sogar sagen aristokratischen Hause,« gekommen +war. Wenn sie unter den Zuschauern Lachen oder ein freches Wort hörte, +wandte sie sich sofort an die Dreisten und begann sie zu schelten. +Einige lachten darüber, andere wieder schüttelten die Köpfe; aber allen +war es interessant, die Wahnsinnige mit ihren erschrockenen Kindern +anzusehen. Die Pfanne, die Lebesjätnikoff erwähnt hatte, war nicht da; +Raskolnikoff sah sie wenigstens nicht. Katerina Iwanowna schlug den Takt +nicht auf einer Pfanne, sondern mit ihren mageren Händen, wenn sie +Poletschka zum singen und Lene und Kolja zum tanzen veranlaßte. Sie fing +selbst an mitzusingen, wurde jedoch jedesmal beim zweiten Tone von einem +quälenden Husten unterbrochen; dann wurde sie von neuem verzweifelt, +fluchte ihrem Husten und weinte sogar. Am meisten brachte sie das Weinen +und die Angst Koljas und Lenes auseinander. Sie hatte wirklich den +Versuch gemacht, die Kinder aufzuputzen, wie Straßentänzer und Gaukler. +Der Knabe hatte einen Turban aus rotem und weißem Stoff, damit er einem +Türken ähnle. Für Lene reichte es zu einem Kostüm nicht aus; sie hatte +nur ein rotes, gestricktes Käppchen des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch +auf dem Kopfe und an dieses Käppchen war eine abgebrochene Straußfeder +befestigt worden, die noch der Großmutter von Katerina Iwanowna gehört +hatte und die bis jetzt, als ein altes Familienstück, im Koffer +aufbewahrt wurde. Poletschka war in ihrem gewöhnlichen Kleidchen. Sie +blickte schüchtern und weltvergessen die Mutter an, wich nicht von ihrer +Seite, verbarg die Tränen, ahnend, daß die Mutter wahnsinnig geworden +sei, und sah unruhig um sich. Die Straße und die Menschenmenge hatten +sie äußerst erschreckt. Ssonja wich keinen Schritt von Katerina +Iwanowna, weinte und flehte sie an, nach Hause zurückzukehren. Katerina +Iwanowna aber blieb unerbittlich. + +»Höre auf, Ssonja, höre auf!« -- schrie sie hastig, außer Atem und +hustend. -- »Du weißt selbst nicht, was du bittest, du bist wie ein +Kind! Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich zu dieser vertrunkenen +Deutschen nicht zurückkehren will. Mögen alle, ganz Petersburg sehen, +wie die Kinder eines edlen Vaters, der sein ganzes Leben treu und +redlich gedient hat, und man kann sagen, im Dienste gestorben ist, +betteln gehen müssen.« -- Katerina Iwanowna hing schon an dieser +Erfindung eigener Phantasie mit blindem Glauben. -- »Mag es nur dieser +schändliche Kerl von einem General sehen. Ja, du bist dumm, Ssonja, -- +was sollen wir denn essen, sage mir? Wir haben dich genug gepeinigt, ich +will es nicht mehr! Ach, Rodion Romanowitsch, Sie sind es!« -- rief sie +aus, als sie Raskolnikoff erblickte, und stürzte zu ihm hin, -- +»erklären Sie bitte dieser dummen kleinen Person, daß wir nichts +klügeres tun konnten! Sogar Leierkastenmänner verdienen, bei uns aber +werden alle bemerken und erfahren, daß wir eine arme feine Familie und +Waisen sind, die an den Bettelstab gebracht wurden, und dieser Kerl von +einem General wird seine Stelle verlieren. Sie werden es sehen! Wir +werden jeden Tag vor seinen Fenstern stehen, und wenn der Kaiser +vorbeifahren wird, will ich mich auf die Knie werfen und auf die Kinder +will ich zeigen und sagen: -- >Schütze sie, Vater!< Er ist der Vater +aller Waisen, er ist barmherzig, er wird sie schützen, Sie werden es +sehen, und diesen Kerl von einem General ... Lene! _Tenez vous +droite!_{[11]} Du, Kolja, wirst sofort wieder tanzen. Was heulst du? Er +heult wieder! Nun, warum fürchtest du dich, Dummköpfchen! Oh, Gott! Was +soll ich mit ihnen tun, Rodion Romanowitsch! Wenn Sie wüßten, wie +unvernünftig sie sind! Was soll man mit ihnen tun! ...« + +Und sie zeigte, fast weinend, was sie jedoch nicht hinderte, +ununterbrochen und unaufhörlich zu reden, -- auf die schluchzenden +Kinder. Raskolnikoff versuchte sie zu überreden, nach Hause zu gehen und +sagte ihr sogar, in der Meinung auf ihre Eigenliebe zu wirken, daß es +für sie unpassend sei, wie Leierkastenleute in den Straßen +umherzuziehen, weil sie doch beabsichtigte, die Vorsteherin einer +Pension für junge Mädchen aus besseren Ständen ... + +»Einer Pension für junge Mädchen, ha! ha! ha! Was weit herkommt, hat gut +lügen -- sagt das Sprichwort!« -- rief Katerina Iwanowna aus; nach dem +Lachen überfiel sie ein starker Husten, -- »nein, Rodion Romanowitsch, +der Traum ist vorüber! Alle haben uns verlassen! ... Und dieser Kerl von +einem General ... Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, ich habe ihm ein +Tintenfaß an den Kopf geworfen, -- es stand gerade eins da, im +Vorzimmer, neben dem Buche, wo alle ihre Namen eintragen, auch ich habe +mich eingetragen, ich warf ihm das Tintenfaß an den Kopf und lief davon. +Oh, gemeine, niederträchtige Menschen! Ich pfeife auf sie alle, ich will +selbst die da füttern, will niemanden mehr anbetteln! Wir haben sie +genug gequält!« -- und sie wies auf Ssonja. -- »Poletschka, wieviel +haben wir eingesammelt, zeige mir mal! Wie? Bloß zwei Kopeken? Oh, +schändliche Menschen! Sie geben nichts, laufen uns bloß mit +ausgestreckter Zunge nach! Nun, was lacht dieser Holzklotz?« -- sie +zeigte auf einen in der Menge. -- »Das kommt alles daher, weil Kolja so +einfältig ist, man hat nur Schererei mit ihm! Was willst du, Poletschka? +Sprich mit mir französisch, _parlez moi français_{[12]}. Ich habe dich +doch gelehrt, du kennst doch einige Sätze! ... Wie kann man denn +erkennen, daß ihr aus feiner Familie, wohlerzogene Kinder seid und keine +Leierkastenleute. Wir machen doch kein Kasperletheater auf den Straßen, +wir wollen eine schöne feine Romanze singen ... Ach ja! Was sollen wir +denn singen? Ihr unterbrecht mich in einem fort, wir sind ... sehen Sie, +Rodion Romanowitsch, wir sind hier stehen geblieben, um auszusuchen, was +wir singen sollen, -- etwas, was auch Kolja vortanzen kann ... denn +alles machen wir, Sie können es sich vorstellen, ohne Vorbereitungen. +Wir wollen uns besprechen, um alles ordentlich durchzunehmen, dann gehen +wir auf den Newski Prospekt, wo es bedeutend mehr Menschen aus der +höchsten Gesellschaft gibt, die uns sofort bemerken werden. Lene kennt +das Lied >Die Troika< ... Aber das kann man doch nicht immerwährend +singen, die ganze Welt singt es ja! Wir müssen etwas viel Besseres +singen ... Nun, was meinst du, Poletschka, du könntest doch der Mutter +helfen! Ich erinnere mich an nichts mehr, ich habe alles vergessen! Ach, +wollen wir doch französisch >_Cinq sous_<{[13]} singen! Ich habe es euch +doch gelehrt! Und da es französisch ist, werden alle sofort sehen, daß +ihr adlige Kinder seid, und das ist bedeutend rührender ... Wir könnten +sogar >_Malbrough s'en va-t-en guerre!_{[14]}< singen, da es ein +ausgesprochenes Kinderlied ist und in allen aristokratischen Häusern +gesungen wird, wenn die Kinder zum Schlafen gebracht werden.« + + _Malbrough s'en va-t-en guerre_ + _Ne sait quand reviendra ..._{[14]} + +begann sie zu singen ... »Nein, es ist besser >_Cinq sous!_{[13]}< Nun, +Kolja, stemme die Händchen in die Seiten, aber schneller, und du Lene, +drehe dich in entgegengesetzter Richtung, ich werde mit Poletschka +singen und in die Hände klatschen! + + _Cinq sous, cinq sous_ + _Pour monter notre ménage ..._{[15]} + +Kche--kche--kche!« (Und sie krümmte sich vor Husten.) »Bring dein Kleid +in Ordnung, Poletschka, die Schultern sind entblößt,« bemerkte sie, +zwischen dem Husten atemholend. -- »Ihr müßt euch jetzt besonders +anständig und in feinem Tone benehmen, damit es alle sehen, daß ihr +adlige Kinder seid. Ich habe damals gesagt, daß man die Taille länger +und in doppelter Breite zuschneiden soll. Du kamst aber mit deinen +Ratschlägen, Ssonja, -- es kürzer und kürzer zu machen, nun jetzt siehst +du, ist das Kind völlig verunstaltet ... Ihr weint wieder! Ja, warum +weint ihr Dummen! Kolja, fang schneller an, schneller, -- ach, wie dies +Kind unerträglich ist! ... + + _Cinq sous, cinq sous --_{[13]} + +Wieder ein Schutzmann! Nun, was willst du?« + +Es drängte sich ein Schutzmann durch die Menge. Gleichzeitig näherte +sich ihr ein Herr im Dienstrocke und Mantel, ein höherer Beamter, mit +einem Orden am Halsbande -- dieser Umstand war Katerina Iwanowna sehr +erwünscht und hatte selbst Einfluß auf den Schutzmann, -- und +überreichte ihr schweigend einen grünen Dreirubelschein. Sein Gesicht +drückte aufrichtiges Mitleid aus. Katerina Iwanowna nahm das Geld und +verbeugte sich höflich, fast förmlich. + +»Ich danke Ihnen, mein Herr,« begann sie von oben herab, »die Gründe, +die uns gezwungen haben ... nimm das Geld, Poletschka. Du siehst, es +gibt noch edle und großmütige Menschen, die sofort bereit sind, einer +armen adligen Dame im Unglücke zu helfen. Sie sehen adlige Waisen vor +sich, mein Herr, man kann sogar sagen, mit aristokratischsten +Verbindungen ... Und dieser Kerl von einem General saß am Tische und aß +Haselhühner ... stampfte mit den Füßen, weil ich ihn gestört habe ... +>Eure Exzellenz,< sagte ich, >schützen Sie die Waisen, da Sie den +verstorbenen Ssemjon Sacharytsch gut kannten,< sagte ich, >und weil der +gemeinste aller Schufte seine leibliche Tochter an seinem Todestage +verleumdet hat ...< Wieder kommt dieser Schutzmann! Schützen Sie mich!« +rief sie dem Beamten zu, -- »was will dieser Schutzmann von mir? Wir +sind schon vor einem weggelaufen ... Nun, was geht es dich an, +Dummkopf!« + +»Es ist in den Straßen verboten. Machen Sie keinen Skandal!« + +»Du bist selbst ein Skandalmacher! Ich gehe herum, wie jeder +Leierkastenmann, was geht es dich an?« + +»Zu einem Leierkasten muß man eine Erlaubnis haben. Sie sammeln aber in +dieser Weise das Volk an. Wo wohnen Sie?« + +»Wie, Erlaubnis,« schrie Katerina Iwanowna. -- »Ich habe heute meinen +Mann beerdigt, was ist da für eine Erlaubnis nötig!« + +»Bitte, beruhigen Sie sich, Madame,« begann der vornehme Beamte, »kommen +Sie, ich will Sie begleiten ... Hier unter den Leuten ist es unpassend +... Sie sind krank ...« + +»Mein Herr, mein Herr, Sie wissen gar nicht!« schrie Katerina Iwanowna, +»wir wollen auf den Newski Prospekt gehen ... Ssonja, Ssonja! Wo ist sie +denn? Sie weint auch! Was ist denn mit euch allen! ... Kolja, Lene, +wohin geht ihr denn?« rief sie plötzlich im Schreck, »oh, die dummen +Kinder! Kolja, Lene, ja, wohin laufen sie denn? ...« + +Als Kolja und Lene, bis aufs äußerste von der Menschenmenge und von der +wahnsinnigen Mutter erschreckt, den Schutzmann erblickten, der sie +nehmen und irgendwohin führen wollte, faßten sie einander wie auf +Verabredung an den Händchen und liefen davon. Mit Geschrei und Weinen +stürzte die arme Katerina Iwanowna ihnen nach, um sie einzuholen. Es war +widerwärtig und traurig zu sehen, wie sie weinend und keuchend lief. +Ssonja und Poletschka eilten ihr nach. + +»Bring sie zurück, bring sie zurück, Ssonja! Oh, die dummen, undankbaren +Kinder! ... Polja! Fange sie ein ... Ich habe es doch für euch ...« + +Sie stolperte im vollen Laufe und fiel hin. + +»Sie hat sich blutig geschlagen! Oh, Gott!« rief Ssonja aus, sich über +sie beugend. + +Alle liefen hin und drängten sich um sie. Raskolnikoff und +Lebesjätnikoff waren als die ersten zur Stelle, der Beamte eilte auch +hinzu und ihm folgte der Schutzmann, der etwas wie »Ach ja!« brummte und +den Kopf schüttelte, in der Vorahnung, daß die Sache ihm viel zu +schaffen machen würde. + +»Geht weiter, geht!« er jagte die Menschen, die umherstanden, +auseinander. + +»Sie stirbt!« rief jemand. + +»Sie hat den Verstand verloren!« sagte ein anderer. + +»Gott schütze sie!« bemerkte eine Frau und schlug ein Kreuz. -- »Hat man +den Jungen und das Mädel gekriegt? Ja, da bringt man sie, die älteste +hat sie eingeholt ... Was ihnen nur einfiel!« + +Als man aber Katerina Iwanowna näher betrachtet hatte, sah man, daß sie +sich gar nicht an den Steinen blutig geschlagen hatte, wie Ssonja +angenommen, sondern daß das Blut, das den Fahrdamm besudelte, aus Brust +und Mund kam. + +»Das kenne ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte leise zu Raskolnikoff +und Lebesjätnikoff, »das ist Schwindsucht; das Blut stürzt hervor und +man erstickt. Einer Verwandten von mir ist es jüngst ähnlich gegangen, +ich habe es selbst gesehen, ein halbes Glas kam ... und so plötzlich ... +Was soll man tun, sie wird gleich sterben.« + +»Bringt sie zu mir, hier in der Nähe!« flehte Ssonja, »ich wohne hier +... in dem Hause, das zweite von hier ... Schnell, schnell! ...« wandte +sie sich aufgeregt an alle. »Holt einen Arzt ... Oh Gott!« + +Dank der Bemühungen des Beamten ging die Sache glatt vor sich, sogar der +Schutzmann half Katerina Iwanowna hinübertragen. Man brachte sie fast +tot in Ssonjas Zimmer und legte sie auf das Bett. Das Blut hörte noch +nicht auf zu fließen, aber Katerina Iwanowna kam langsam zu sich. In das +Zimmer traten gleichzeitig außer Ssonja, Raskolnikoff und +Lebesjätnikoff, der Beamte und der Schutzmann, nachdem er vorher die +Menge auseinandergejagt hatte, von der einige bis zur Türe gefolgt +waren. Poletschka kam auch mit Kolja und Lene, die zitterten und +weinten; sie hielt sie an den Händen. Auch von Kapernaumoff kamen Leute, +er selbst, lahm und krumm, von seltsamem Aussehen mit borstigen Haaren +und Backenbart; seine Frau, die immer ein erschrockenes Aussehen hatte +und einige ihrer Kinder mit offenem Munde und immer erstauntem, +hölzernem Gesichtsausdruck. Unter diesem Publikum befand sich auch +Sswidrigailoff. Raskolnikoff blickte ihn verwundert an, ohne zu +begreifen, wie er hierher gekommen sei, da er sich seiner unter der +Menge nicht entsann. Man sprach davon, einen Arzt und einen Priester +holen zu lassen. Obwohl der Beamte Raskolnikoff auch zugeflüstert hatte, +daß ein Arzt, wie es ihm schien, jetzt wohl überflüssig sei, sandte man +doch nach ihm. Kapernaumoff lief selbst fort. + +Unterdessen war Katerina Iwanowna zu sich gekommen und das Blut hörte +für eine Weile auf zu fließen. Sie sah unverwandt mit einem +schmerzlichen und durchdringenden Blick auf die bleiche und bebende +Ssonja, die ihr mit einem Taschentuche die Schweißtropfen auf der Stirn +abtrocknete; schließlich bat sie, man möge sie aufrichten. Man setzte +sie auf und stützte sie von beiden Seiten. + +»Wo sind die Kinder?« fragte sie mit schwacher Stimme. -- »Hast du sie +gebracht, Polja? Oh, ihr dummen ... Warum lieft ihr fort ... Ach!« + +Blut bedeckte noch ihre trockenen Lippen. Sie blickte sich um. + +»Also, hier lebst du, Ssonja! Ich war nie bei dir gewesen ... jetzt erst +bin ich dazu gekommen ...« + +Sie blickte sie unendlich traurig an. + +»Wir haben dich ausgesaugt, Ssonja ... Polja, Lene, Kolja, kommt her ... +Da sind sie alle, Ssonja, nimm sie ... aus meiner Hand ... ich bin +fertig! ... Das Fest ist aus! H--a ... Legt mich nieder und laßt mich +wenigstens ruhig sterben ...« + +Man legte sie wieder auf die Kissen zurück. + +»Was? Einen Priester? ... Ist nicht nötig. Habt ihr einen überflüssigen +Rubel? ... Ich habe keine Sünden! ... Gott muß mir auch ohnedem vergeben +... Er weiß, wie ich gelitten habe! ... Und wenn er nicht vergibt, so +ist es auch gut! ...« + +Ein unruhiges Phantasieren bemächtigte sich ihrer mehr und mehr. +Zuweilen fuhr sie auf, blickte um sich, erkannte alle auf einen +Augenblick, und das Bewußtsein schwand wieder. Sie atmete schwer und +röchelnd. + +»Ich sagte ihm: >Ew. Exzellenz!< ...!« rief sie und holte nach jedem +Worte Atem, »diese Amalie Ludwigowna ... ach! Lene, Kolja! Die Händchen +in die Hüften, schneller, schneller, _glissez, glissez, pas de +basque_!{[16]} Stampf mit den Füßchen ... Sei ein graziöses Kind. + + Du hast Diamanten und Perlen ... + +Wie geht es weiter? Das sollten wir singen ... + + Du hast die schönsten Augen + Mädchen, was willst du noch mehr? ... + +Das ist nicht ganz richtig! Was willst du noch mehr -- was sich dieser +Holzklotz dabei gedacht hat? ... -- Ach ja, oder ein anderes Lied + + In mittäglicher Glut ... + +Ach, wie ich es liebte ... Ich habe dieses Lied sehr geliebt, +Poletschka! ... + + In mittäglicher Glut im Tale Daghestans ... + +Weißt du, dein Vater sang es ... als Bräutigam noch ... Oh, die Tage! +... Das sollten wir singen! Nun, wie heißt es denn ... ich habe es +vergessen ... helft mir doch dabei ... wie heißt es denn?« -- Sie war in +furchtbarer Erregung und versuchte aufzustehen. Mit schrecklicher, +heiserer und überschnappender Stimme, bei jedem Worte außer Atem, +schreiend und mit einer sich steigernden Angst begann sie zu singen: + + »In mittäglicher Glut ... im Tale ... Daghestans ... + Mit Blei in der Brust ... + +Ew. Exzellenz!« schrie sie plötzlich herzzerreißend und in Tränen +ausbrechend, »schützen Sie die Waisen! Eingedenk der Gastfreundschaft +des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch! ... Man kann sogar sagen, aus +einem aristokratischen ... Ha--a!« fuhr sie auf, zur Besinnung kommend +und betrachtete alle mit Entsetzen, erkannte aber sofort Ssonja. -- +»Ssonja, Ssonja!« sagte sie sanft und freundlich, als wäre sie erstaunt, +sie vor sich zu sehen, »Ssonja, liebe Ssonja, du bist auch hier?« + +Man richtete sie wieder auf. + +»Genug! ... Es ist Zeit! ... Lebwohl, Armselige! ... Die Stute ist +abgehetzt! ... Zu Tode gehetzt!« rief sie verzweifelt und haßerfüllt aus +und fiel mit dem Kopfe auf das Kissen zurück. + +Sie verlor von neuem das Bewußtsein, und ohne es wieder erlangt zu +haben, fiel ihr blaßgelbes abgemagertes Gesicht nach hinten, der Mund +öffnete sich, die Füße streckten sich krampfhaft aus. Sie stöhnte tief +auf und starb. + +Ssonja warf sich auf die Leiche, faßte sie mit den Händen, lehnte den +Kopf an die magere Brust der Verstorbenen und verharrte so lange. +Poletschka fiel zu den Füßen der Mutter nieder und küßte sie laut +schluchzend. Kolja und Lene, die noch nicht verstanden hatten, was +geschehen war, aber etwas Schreckliches ahnten, faßten einander mit +beiden Händen an den Schultern, starrten einander in die Augen und +begannen zu schreien. Beide waren noch aufgeputzt, -- er im Turban, sie +in dem Käppchen mit der Straußenfeder. + +Und wie kam das Ehrendiplom auf das Bett neben Katerina Iwanowna hin? Es +lag neben dem Kissen, Raskolnikoff hatte es gesehen. + +Er ging zum Fenster. Lebesjätnikoff kam eilig zu ihm. + +»Sie ist gestorben!« sagte Lebesjätnikoff. + +»Rodion Romanowitsch, ich muß Ihnen ein paar wichtige Worte sagen,« trat +Sswidrigailoff heran. + +Lebesjätnikoff trat ihm sofort seinen Platz ab und verschwand +zartfühlend. Sswidrigailoff führte den erstaunten Raskolnikoff in eine +abgelegene Ecke hin. + +»Diese ganze Schererei, das heißt die Beerdigung und alles übrige nehme +ich auf mich. Wissen Sie, es kommt doch bloß auf das Geld an, und ich +habe Ihnen doch gesagt, daß ich überflüssiges habe. Diese zwei +Sprößlinge und diese Poletschka will ich in einer besseren Anstalt für +Waisenkinder unterbringen und will für jeden bis zur Volljährigkeit +fünfzehnhundert Rubel in eine Bank einzahlen, so daß Ssofja Ssemenowna +vollkommen unbesorgt sein kann. Auch sie will ich aus dem Pfuhle +herausziehen, denn sie ist ein gutes Mädchen, nicht wahr? Und so teilen +Sie Awdotja Romanowna mit, daß ich ihre zehntausend in dieser Weise +verbraucht habe.« + +»Welche Absichten verfolgen Sie bei diesen übergroßen Guttaten?« fragte +Raskolnikoff. + +»Ach! Sie mißtrauischer Mensch!« lachte Sswidrigailoff. -- »Ich habe +doch gesagt, daß dieses Geld bei mir überflüssig liegt. Einfach aus +Menschlichkeit, das lassen Sie bei mir nicht gelten? Sie war doch keine +>Laus< gewesen -- (er zeigte mit dem Finger auf die Ecke, wo die +Verstorbene lag) -- wie irgendeine alte Wucherin. Gestehen Sie doch +selbst, -- >soll Luschin tatsächlich weiterleben und Scheußlichkeiten +verüben, oder sie sterben?< Und wenn ich nicht helfe, so muß doch +Poletschka den nämlichen Weg gehen ...« + +Er sagte es spöttisch mit zugekniffenen Augen und ohne den Blick von +Raskolnikoff abzuwenden. Raskolnikoff erbleichte, es durchzog ihn ein +Schauer, als er seine eigenen Worte wieder hörte, die er zu Ssonja +gesprochen hatte. Er fuhr zurück und blickte Sswidrigailoff fassungslos +an. + +»Wo--woher ... wissen Sie?« flüsterte er, kaum atmend. + +»Ich wohne ja hier, hinter der Wand bei Madame Rößlich. Hier wohnt +Kapernaumoff und dort Madame Rößlich, eine alte und sehr ergebene +Bekannte von mir. Ich bin ihr Nachbar.« + +»Sie?« + +»Ja, ich,« fuhr Sswidrigailoff fort, sich vor Lachen schüttelnd, »und +ich kann Sie auf Ehre versichern, lieber Rodion Romanowitsch, daß Sie +mich kolossal interessiert haben. Ich habe doch gesagt, daß wir einander +näher kommen werden, ich habe es Ihnen vorausgesagt, -- nun sind wir +auch einander näher gekommen. Und Sie werden sehen, wie verträglich ich +bin. Sie werden sehen, daß es sich mit mir noch leben läßt ...« + + + + + Sechster Teil + + + I. + +Für Raskolnikoff war eine merkwürdige Zeit angebrochen. -- Es war, als +wäre plötzlich ein schwerer Nebel auf ihn herabgesunken und hätte für +ihn eine undurchdringliche und tiefe Einsamkeit beschlossen. Als er +später, lange nachher, sich dieser Zeit entsann, dachte er es sich so, +daß sein Bewußtsein zeitweise sich verdunkelte und daß dies mit wenigen +Unterbrechungen bis zur endgültigen Katastrophe gedauert hatte. Er war +vollkommen überzeugt, daß er sich damals öfters geirrt haben müsse, zum +Beispiel in der Zeit und der Dauer verschiedener Ereignisse. Wenigstens, +als er sich späterhin auf dies oder jenes besinnen wollte und sich das +Erinnerte zu erklären versuchte, erfuhr er vieles über sich selbst, +indem er sich nach den Mitteilungen richtete, die er von anderen +erhalten. So verwechselte er ein Ereignis z. B. mit einem anderen; ein +anderes hielt er für die Folge eines Vorfalls, der nur in seiner +Einbildung existierte. Zuweilen erfaßte ihn eine qualvolle Unruhe, die +sich zu einem panischen Schrecken steigern konnte. Er entsann sich auch, +daß es Minuten, Stunden, vielleicht sogar ganze Tage gab, die er im +Gegensatz zu der Angst, in völliger Apathie verbrachte, -- eine Apathie, +die dem schmerzhaft gleichgültigen Zustand Sterbender ähnlich war. +Überhaupt trieb es ihn in diesen letzten Tagen, einem klaren und vollen +Verständnis seiner Lage aus dem Wege zu gehen; alltägliche Dinge, die +eine unverzügliche Erledigung verlangten, lasteten auf ihm; wie froh +wäre er dagegen gewesen, von manchen Sorgen sich befreien und loslösen +zu können, die im Falle ihrer Vernachlässigung ihm den völligen, +unvermeidlichen Untergang bringen mußten. + +Am meisten beunruhigte ihn Sswidrigailoff, -- ja, man konnte sagen, daß +Sswidrigailoff seine einzige Sorge war. Seit der Zeit, als er von +Sswidrigailoff in Ssonjas Zimmer, in Katerina Iwanownas Todesstunde die +drohenden und unzweideutigen Worte gehört hatte, schien der gewöhnliche +Fluß seiner Gedanken gestört zu sein. Und obgleich ihn diese neue +Tatsache äußerst beunruhigte, beeilte sich Raskolnikoff nicht, die Sache +aufzuklären. Zuweilen, wenn er sich irgendwo in einem abgelegenen und +menschenleeren Stadtteile, in einem kläglichen Restaurant an einem +Tische allein in Gedanken versunken vorfand und sich kaum entsann, wie +er hierher gekommen war, fiel ihm mit einem Male Sswidrigailoff ein, -- +er sah nur zu deutlich ein, daß er sich möglichst schnell mit diesem +Menschen verständigen und zu einem Ende mit ihm kommen müsse. Einmal, +als er vor die Stadt geraten war, bildete er sich sogar ein, daß er hier +Sswidrigailoff erwarte, daß sie hier eine Zusammenkunft verabredet +hätten. Ein anderes Mal erwachte er vor Tagesanbruch irgendwo auf der +Erde im Gebüsch und begriff nicht, wie er hierhergekommen war. In den +zwei, drei auf Katerina Iwanownas Tode folgenden Tagen hatte er ein +paarmal Sswidrigailoff getroffen, fast immer in der Wohnung Ssonjas, +wohin er ziellos, stets aber nur einen kurzen Augenblick gegangen war. +Sie wechselten stets einige kurze Worte und berührten kein einziges Mal +den Hauptpunkt, als wäre es zwischen ihnen so verabredet worden, +vorläufig darüber zu schweigen. Die Leiche von Katerina Iwanowna lag +noch im offenen Sarge. Sswidrigailoff gab die Anordnungen für die +Beerdigung und sorgte für alles. Ssonja war auch sehr in Anspruch +genommen. Bei der letzten Begegnung hatte Sswidrigailoff ihm mitgeteilt, +daß er die Frage bezüglich der Kinder Katerina Iwanownas gelöst habe und +sehr glücklich sei, daß dank einiger Verbindungen alle drei Waisen +sofort in sehr anständige Anstalten untergebracht werden könnten und daß +das für sie deponierte Geld viel dazu beigetragen habe, weil wohlhabende +Waisen leichter als arme unterzubringen seien. Er redete auch über +Ssonja, versprach Raskolnikoff in den nächsten Tagen selbst aufzusuchen, +um sich mit ihm zu beraten, da in dieser Angelegenheit Notwendiges zu +besprechen sei. + +Das Gespräch fand im Korridor, an der Treppe statt. Sswidrigailoff sah +unverwandt Raskolnikoff in die Augen und fragte ihn nach einigem +Schweigen mit gesenkter Stimme. + +»Was ist mit Ihnen, Rodion Romanowitsch, Sie sind so vollkommen +verändert? Wirklich! Sie hören zu und schauen einen dabei an, scheinen +aber nichts zu verstehen. Geben Sie acht auf sich. Wir wollen einmal +miteinander sprechen; schade nur, daß ich jetzt so viel für andere und +für mich selbst zu tun habe ... Ach, Rodion Romanowitsch,« fügte er +unmittelbar hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft ... Vor +allen Dingen!« + +Er trat zur Seite, um den eben heraufkommenden Priester und den Küster +vorbeizulassen. Sie kamen, die Totenmesse zu halten. Sswidrigailoff +hatte angeordnet, daß pünktlich zweimal am Tage Totenmessen abgehalten +würden. Sswidrigailoff ging seinen Angelegenheiten nach und Raskolnikoff +blieb eine Weile stehen, dachte nach und folgte dann dem Priester in +Ssonjas Wohnung. + +Er blieb an der Türe stehen. Der Gottesdienst begann leise, andächtig, +traurig. In dem Bewußtsein, sterben zu müssen und in der Empfindung der +Gegenwart des Todes lag für ihn stets, von früher Kindheit an, etwas +Schweres, Drückendes und Mystisches, und er hatte seit langem keiner +Totenmesse mehr beigewohnt. Außerdem peinigte ihn noch ein anderes +Gefühl. Er sah auf die Kinder, -- sie lagen alle vor dem Sarge auf den +Knien und Poletschka weinte. Hinter ihnen stand Ssonja, still und +schüchtern weinend und betete. + +»Sie hat mich in diesen Tagen kein einziges Mal angeblickt und mir noch +kein Wort gesagt,« dachte Raskolnikoff. Die Sonne beleuchtete hell das +Zimmer; der Weihrauch stieg in feinen Wolken empor; der Priester las +»Gott schenke dir Ruhe ...« Raskolnikoff blieb während des ganzen +Gottesdienstes. Als der Priester den Segen erteilte und sich +verabschiedete, blickte er sich eigentümlich um. Nach Beendigung der +Messe trat Raskolnikoff an Ssonja heran. Sie nahm plötzlich seine beiden +Hände und lehnte den Kopf an seine Schulter. Diese kurze Bewegung +überraschte ihn. Wie? war es möglich? -- Nicht der geringste Widerwille, +nicht der geringste Ekel ihm gegenüber, nicht das leiseste Beben ihrer +Hand. War das nicht eine grenzenlose Demütigung seines eigenen Ichs. In +dieser Weise faßte er es auf. Ssonja sagte nichts und Raskolnikoff +drückte ihr nur die Hand und ging fort. Ihm war schwer zumute. Hätte er +in diesem Augenblicke irgendwohin gehen können, um völlig allein zu +bleiben, und selbst fürs ganze Leben, er würde sich glücklich gepriesen +haben. Trotzdem er in der letzten Zeit fast immer allein war, war er +nicht imstande, ein Fürsichsein zu empfinden. Er ging öfters außerhalb +der Stadt auf Landwegen herum, einmal sogar war er in einen Wald +geraten, aber je einsamer der Ort war, desto stärker empfand er die +beunruhigende Nähe von irgend etwas, das wohl nichts furchterweckendes, +wohl aber etwas belästigendes war, so daß er jedesmal schneller in die +Stadt zurückkehrte, sich unter die Menschen mischte, in Restaurants oder +Schenken ging, den Trödelmarkt oder den Heumarkt aufsuchte. Hier ward es +ihm leichter und hier fühlte er sich allein. Eines Tages war er in einer +Schenke, wo man kurz vor Abend zu singen begann; er blieb eine ganze +Stunde sitzen, hörte zu und erinnerte sich, daß ihm dies wohlgetan +hatte. Zum Schluß aber wurde er wieder unruhig, als ob sein Gewissen +wach würde. »Ich sitze hier und höre zu, wie gesungen wird, habe ich +denn nichts anderes zu tun!« dachte er mit einemmale. Es wurde ihm bald +klar, daß nicht dieser Umstand ihn allein beunruhige; es gab etwas +anderes, das eine unverzügliche Lösung verlangte, was er aber sich weder +klar vorstellen, noch durch Worte wiedergeben konnte. Alles verwickelte +sich zu einem Knäuel. »Nein, es ist doch besser, einen Kampf zu führen! +Mag Porphyri Petrowitsch wieder auftreten ... oder Sswidrigailoff ... +Mag nun wieder eine Herausforderung, ein Angriff erfolgen ... Ja! Ja!« +-- Er verließ die Schenke und lief fast nach Hause. Der Gedanke an Dunja +und die Mutter jagte ihm plötzlich eine panische Angst ein. + +Es war in der Nacht, aber der Morgen graute schon, als er auf der +Krestowski-Insel im Gebüsch fröstelnd vor Fieber erwachte; er ging nach +Hause. Nach einigen Stunden Schlaf war das Fieber vorüber, er erwachte +sehr spät, -- es war zwei Uhr nachmittags. + +Es kam ihm wieder in Erinnerung, daß Katerina Iwanowna heute beerdigt +werden sollte, und er war froh, daß er nicht zugegen sein mußte. +Nastasja brachte ihm etwas zu essen; er aß und trank mit großem Appetit, +fast mit einem Heißhunger. Sein Kopf wurde frischer, er selbst ruhiger, +als in diesen letzten drei Tagen. Er wunderte sich sogar flüchtig über +die früheren Anfälle seiner panischen Angst. Da öffnete sich die Türe +und Rasumichin trat herein. + +»Ah! Du ißt, so bist du auch nicht krank!« sagte Rasumichin, nahm einen +Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikoff gegenüber. Er war +aufgeregt und versuchte nicht, es zu verbergen und sprach mit sichtbarem +Ärger, aber ohne sich zu überhasten und ohne die Stimme besonders zu +erheben. Man konnte denken, daß ihn eine ganz bestimmte Absicht +herführe. »Höre,« begann er entschlossen, »ich kehre mich den Teufel um +euch alle und zwar, weil ich jetzt sehe, deutlich sehe, daß ich nichts +davon verstehen kann; bitte, glaube nicht, daß ich gekommen bin, dich +auszufragen. Ich pfeife darauf! Ich will es gar nicht wissen! Und wenn +du mir jetzt selbst alles anvertrauen, alle eure Geheimnisse entdecken +wolltest, ich würde sie vielleicht nicht mal anhören, ich pfeife auf +alles und gehe fort. Ich bin nur gekommen, um persönlich und endgültig +zu erfahren, ob es wahr ist, daß du verrückt bist? Siehst du, es besteht +die Meinung über dich, -- irgendwo, das ist ja einerlei -- daß du +möglicherweise verrückt bist, jedenfalls aber starke Anlagen dazu +habest. Ich muß dir gestehen, ich selbst war stark geneigt, diese +Meinung zu teilen, erstens wegen deiner dummen und zum Teil schmählichen +Handlungen, die durch nichts erklärt werden können, und zweitens wegen +deines kürzlichen Benehmens deiner Mutter und Schwester gegenüber. Nur +ein Scheusal und ein Schuft, oder ein Wahnsinniger konnte sie in dieser +Weise behandeln, wie du sie behandelt hast; folglich bist du wahnsinnig +...« + +»Hast du sie lange nicht gesehen?« + +»Ich war soeben bei ihnen. Und du hast sie seit dieser Zeit nicht mehr +gesehen? Sage mir bitte, wo treibst du dich herum, ich bin schon dreimal +bei dir gewesen. Deine Mutter ist seit gestern ernstlich erkrankt. Sie +wollte zu dir gehen; Awdotja Romanowna hielt sie davon ab; doch sie +wollte auf nichts hören. >Wenn er krank ist,< sagte sie, >wenn sein +Geist gestört ist, wer soll ihm denn helfen, wenn nicht die eigene +Mutter?< So kamen wir alle hierher, denn wir konnten sie doch nicht +allein gehen lassen. Bis zu deiner Tür haben wir sie gebeten, sich zu +beruhigen. Wir traten in dein Zimmer, da warst du nicht da; hier, auf +diesem Platz, hat sie gesessen. Sie saß über zehn Minuten da, wir +standen schweigend in ihrer Nähe. Sie stand dann auf und sagte, -- >wenn +er ausgeht, ist er gesund und hat die Mutter vergessen; es ist unpassend +und eine Schande für eine Mutter, weiter noch an der Schwelle zu stehen +und um Liebkosung, wie um ein Almosen zu betteln<. Sie kehrte nach Hause +zurück, mußte sich zu Bett legen und liegt jetzt im Fieber. >Ich sehe,< +sagte sie, >für die _Seine_ hat er Zeit.< Sie meinte mit der _Seinen_ +Ssofja Ssemenowna, deine Braut oder deine Geliebte, ich weiß es nicht. +Ich ging sofort zu Ssofja Ssemenowna, denn ich wollte alles erfahren, +Bruder; ich komme hin und sehe, -- ein Sarg steht dort, die Kinder +weinen, Ssofja Ssemenowna probiert ihnen Trauerkleider an, du bist aber +nicht da. Ich sah das alles an, entschuldigte mich und ging fort und +habe Awdotja Romanowna alles erzählt. Alles ist Unsinn und es gibt gar +keine >_Seine_,< also ist es ganz Wahnsinn. Doch jetzt sitzest du hier +und frißt gekochtes Fleisch, als hättest du drei Tage nichts gegessen. +Es ist wahr, Wahnsinnige essen auch und du hast kein Wort mit mir +gesprochen, du bist aber ... nicht verrückt. Das kann ich beschwören. +Unter keinen Umständen verrückt. Also, hol euch alle der Teufel, es +steckt etwas dahinter, es gibt irgendein Geheimnis, und ich habe keine +Lust, über eure Geheimnisse mir den Kopf zu zerbrechen. Ich bin bloß +gekommen, zu schimpfen,« schloß er und stand auf, »mir Luft zu machen +und nun weiß ich, was ich zu tun habe!« + +»Was willst du jetzt tun?« + +»Was geht es dich an, was ich jetzt tun will?« + +»Gib acht, du fängst zu trinken an!« + +»Woher ... woher weißt du das?« + +»Das ist leicht zu erraten!« + +Rasumichin schwieg eine Weile. + +»Du warst immer ein sehr vernünftiger Mensch und nie, niemals warst du +verrückt,« bemerkte er plötzlich voll Eifer. »Das stimmt, -- ich werde +anfangen zu trinken! Lebwohl!« + +Und er schickte sich an zu gehen. + +»Vorgestern, glaube ich, habe ich von dir mit der Schwester gesprochen, +Rasumichin.« + +»Von mir! Ja ... wo konntest du sie denn vorgestern gesehen haben?« +Rasumichin blieb stehen und wurde ein wenig blaß. + +Man konnte bemerken, wie sein Herzschlag langsamer und schwerer ging. + +»Sie war hierhergekommen, allein, saß hier und sprach mit mir.« + +»Sie!« + +»Ja, sie!« + +»Was hast du denn gesprochen ... ich will sagen, -- von mir?« + +»Ich sagte ihr, daß du ein sehr guter, ehrlicher und arbeitsamer Mensch +seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, denn das weiß sie +selbst.« + +»Sie weiß es selbst?« + +»Nun, und ob! Wohin ich auch reisen mag, was mit mir auch geschehen mag, +-- du würdest bei ihnen, als ihre Vorsehung, bleiben. Ich übergab sie +beide deiner Obhut, Rasumichin. Ich sage es, weil ich sehr gut weiß, wie +du sie liebst und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt +bin. Ich weiß auch, daß auch sie dich lieben kann und vielleicht sogar +schon liebt. Jetzt beschließe selbst, wie es dir am besten erscheint, -- +ob du trinken willst oder nicht?« + +»Rodja ... Siehst du ... Nun ... Ach, Teufel! Wohin willst du aber +gehen? Siehst du, wenn es ein Geheimnis ist, laß es! Aber ich ... ich +werde das Geheimnis erfahren ... Und bin überzeugt, daß es sicher +irgendein Unsinn und eine lächerliche Kleinigkeit ist, und daß du allein +dir alles andere eingebrockt hast. Im übrigen aber bist du ein +ausgezeichneter Mensch! Ein ausgezeichneter Mensch! ...« + +»Und ich wollte gerade hinzufügen, da hast du mich aber unterbrochen, +daß du vorhin sehr gut und richtig geäußert hast, diese Geheimnisse +nicht erfahren zu wollen. Laß es vorläufig sein, rege dich nicht auf. Du +wirst alles rechtzeitig zu wissen bekommen und dann, wenn es nötig sein +wird. Gestern hat ein Mann zu mir gesagt, daß die Menschen Luft +brauchen, Luft, Luft! Ich will gleich zu ihm hingehen und erfahren, was +er darunter versteht.« + +Rasumichin stand in Gedanken versunken, aufgeregt schien er über etwas +nachzudenken. + +»Er ist ein politischer Verschwörer! Sicher! Und er steht vor einem +entscheidenden Schritt, -- das ist auch sicher! Anders kann es nicht +sein und ... Dunja weiß es ...« dachte er. + +»Also zu dir kommt Awdotja Romanowna,« sagte er und betonte jedes Wort, +»und du selbst willst einen Menschen treffen, der da sagt, daß mehr Luft +nötig sei, mehr Luft und ... und, also hängt auch dieser Brief ... +irgendwie damit zusammen.« + +»Was für ein Brief?« + +»Sie hat einen Brief erhalten, heute; der hat sie sehr aufgeregt. Sehr. +Fast zu sehr ... Als ich von dir zu sprechen anfing, -- bat sie mich zu +schweigen. Dann ... dann sagte sie, daß wir uns vielleicht sehr bald +trennen müßten, und begann mir für etwas heiß zu danken; ging darauf in +ihr Zimmer und schloß sich ein.« + +»Sie hat einen Brief erhalten?« wiederholte Raskolnikoff nachdenklich. + +»Ja, einen Brief, und du weißt nichts davon? Hm!« Beide schwiegen eine +Weile. + +»Lebwohl, Rodion. Ich, Bruder ... es gab eine Zeit ... übrigens aber, +lebwohl; siehst du, es gab eine Zeit ... Nun, lebwohl! Ich muß auch +gehen. Ich werde nicht trinken. Jetzt ist es nicht mehr nötig ... wird +nicht gemacht!« + +Er hatte Eile, aber als er schon draußen war und die Türe fast +geschlossen hatte, öffnete er sie plötzlich wieder und sagte, indem er +zur Seite blickte: + +»Apropos! Erinnerst du dich dieses Mordes, der Sache, die Porphyri +Petrowitsch führt, -- der Ermordung der Alten? Nun, du sollst wissen, +daß der Mörder gefunden ist, er hat alles eingestanden und alle Beweise +geliefert. Stell dir vor, es ist einer von denselben Arbeitern, den +Anstreichern, die ich -- erinnerst du dich -- noch bei dir im Zimmer +verteidigte. Kannst du es glauben, er hat diese ganze Szene mit der +Schlägerei und dem Lachanfall auf der Treppe mit seinem Kameraden, als +der Hausknecht und die zwei Zeugen hinaufgingen, -- absichtlich +vorgeführt und zwar um jeden Verdacht von sich abzulenken. Welch eine +Schlauheit, welch eine Geistesgegenwart in so einem jungen Hunde steckt! +Es ist schwer zu glauben; er hat aber selbst die Sache aufgeklärt, alles +selbst eingestanden! Und wie ich hereingefallen bin! Nun, meiner Ansicht +nach ist er bloß ein Genie der Verstellung und Geschicklichkeit, ein +Genie gegenüber juristischer Verhörskunst, -- folglich ist hier nichts +staunenswertes! Kann es denn nicht auch solche Genies geben? Und weil er +es nicht bis zu Ende durchgeführt, sondern eingestanden hat, aus dem +Grunde glaube ich ihm noch mehr. Es ist überzeugender! ... Aber wie ich +damals hereingefallen bin! Ich kletterte ja um ihretwillen an die Wände +hinauf!« + +»Sage mir bitte, woher hast du es erfahren, und warum interessiert es +dich so sehr?« fragte ihn Raskolnikoff sichtbar erregt. + +»Nun, was frägst du bloß! Warum sollte es mich nicht interessieren! Das +ist auch eine Frage! ... Ich habe es unter anderem von Porphyri +Petrowitsch erfahren. Übrigens, ich habe fast alles durch ihn erfahren.« + +»Von Porphyri Petrowitsch?« + +»Ja, von Porphyri Petrowitsch.« + +»Was ... was meint er?« fragte Raskolnikoff angstvoll. + +»Er hat es mir ausgezeichnet erklärt. Psychologisch erklärt, auf seine +Weise.« + +»Er hat es dir erklärt? Er hat es dir selbst erklärt?« + +»Ja, selbst, selbst; lebwohl! Ich will dir später noch mehr erzählen, +jetzt aber habe ich zu tun. Ja ... es gab eine Zeit, wo ich glaubte ... +Nun, was ist da zu reden ... später davon ... Warum soll ich jetzt +anfangen zu trinken. Du hast mich auch ohne Wein betrunken gemacht. Ich +bin ja betrunken, Rodja! Ohne Wein bin ich betrunken; nun, aber lebwohl! +Ich komme zu dir. Sehr bald.« + +Er ging hinaus. + +»Er ist, er ist ein politischer Verschwörer, das ist sicher, das steht +fest!« sagte sich Rasumichin endgültig, indem er langsam die Treppe +hinabstieg. »Und die Schwester hat er auch hineingezogen; das ist sehr, +sehr begreiflich bei dem Charakter von Awdotja Romanowna. Sie haben +Zusammenkünfte ... Und sie hat es mir auch angedeutet. Aus vielen ihrer +Worte ... und Andeutungen ... und Anspielungen ergibt sich dies alles! +Ja, wie kann man denn sonst diesen ganzen Wirrwarr erklären? Hm! Und ich +dachte ... Oh, Gott, was ich gemeint habe. Ja, das war eine Verblendung +und ich habe gefehlt vor ihm! Damals bei der Lampe im Korridor hat er +mich verwirrt und verblendet! Pfui! Welch ein häßlicher, roher, gemeiner +Gedanke von mir! Nikolai ist ein braver Bursche, daß er es eingestanden +hat ... Und wie sich jetzt alles Vorhergegangene leicht erklären läßt! +Seine Krankheit damals, alle seine sonderbaren Handlungen, auch früher +schon, in der Universität noch, als er immer so düster und verschlossen +war ... Aber was bedeutet jetzt dieser Brief? Hier steckt vielleicht +auch etwas dahinter. Von wem ist dieser Brief? Ich habe einen Verdacht +... Hm! Nein, ich will alles erfahren.« + +Da erinnerte er sich an Dunetschka, und sein Herz blieb ihm fast +stillstehen. Er riß sich von seinen Gedanken los und lief weiter. + + * * * * * + +Kaum war Rasumichin fortgegangen, so stand Raskolnikoff auf, wandte sich +zum Fenster, ging von einer Ecke in die andere, als hätte er die Enge +seiner Kammer vergessen, und ... setzte sich wieder auf das Sofa hin. Er +schien ganz wie ausgewechselt zu sein; wieder -- hatte sich ein Ausweg +gefunden! + +Ja, es hat sich ein Ausweg gefunden! sagte er sich. Alles war schon zu +vollgestopft, es hatte angefangen, ihn qualvoll zu drücken, ein +förmlicher Taumel hatte ihn überfallen. Seit dem Auftritte mit Nikolai +bei Porphyri Petrowitsch vermeinte er, ohne einen Ausweg ersticken zu +müssen. Nach Nikolai folgte am selben Tage der Auftritt bei Ssonja; er +hatte ihn nicht so, wie er's sich vorgenommen, begonnen und durchgeführt +... also hatte ihn die Schwäche plötzlich und vollständig übermannt! Mit +einemmale! Er war ja doch damals mit Ssonja einverstanden, aus vollem +Herzen einverstanden, daß er mit solch einer Sache auf der Seele allein +nicht leben könne! Und Sswidrigailoff? Sswidrigailoff ist ein Rätsel ... +Sswidrigailoff beunruhigt ihn, das ist wahr, aber nicht nach dieser +Richtung hin. Mit Sswidrigailoff steht vielleicht auch ein Kampf bevor. +Mit Sswidrigailoff gibt es vielleicht auch einen Ausweg, mit Porphyri +Petrowitsch -- das ist freilich eine andere Sache. + +Aber Porphyri Petrowitsch hat selbst Rasumichin alles erklärt, +_psychologisch_ ihm erklärt! Wieder fängt er mit seiner verfluchten +Psychologie an! Porphyri Petrowitsch? Was, Porphyri Petrowitsch soll +auch nur einen Augenblick geglaubt haben, daß Nikolai schuldig sei, -- +nach allem, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war, vor Nikolais +Erscheinen, nach jenem Auftritt, Auge in Auge, für den man keine andere +Erklärung finden konnte, außer _einer einzigen_? -- (Raskolnikoff war +einigemal in diesen Tagen dieser Auftritt mit Porphyri Petrowitsch in +der Erinnerung stückweise vorgeschwebt; sich des Auftritts in seiner +ganzen Bedeutung zu erinnern, hätte er nicht ertragen können.) -- +Während dieser Szene hatten sie beide Worte gewechselt, waren Bewegungen +und Gesten vorgekommen, Blicke getauscht, war einiges in einem Tone +gesagt worden, und die ganze Szene hatte einen Charakter angenommen, daß +auf keinen Fall ein Nikolai, -- den Porphyri Petrowitsch doch sofort +beim ersten Worte und bei der ersten Bewegung richtig erkannt hatte, -- +die Grundlage seiner Überzeugung erschüttern konnte. + +Wie weit war es aber auch schon gekommen! Sogar Rasumichin hatte +begonnen, Verdacht zu schöpfen! Die Szene im Korridor bei der Lampe ist +an ihm nicht spurlos vorübergeglitten. Er ist doch zu Porphyri +Petrowitsch hingelaufen ... Aber aus welchem Grunde will jener ihn +irreführen? Was hat er für einen Zweck, Rasumichin auf Nikolai zu +bringen? Er hat unbedingt etwas vor; er verfolgt damit bestimmte Zwecke, +aber welcher Art sind sie? Es ist wahr, seit diesem Morgen ist viel Zeit +vergangen, -- viel zu viel Zeit und von Porphyri Petrowitsch habe ich +weder etwas gehört, noch gesehen. Das ist sicher kein gutes Zeichen ... + +Raskolnikoff nahm seine Mütze, versank in Gedanken und schickte sich an, +das Zimmer zu verlassen. Es war der erste Tag, während dieser ganzen +Zeit, daß er sich wenigstens bei gesundem Bewußtsein fühlte. »Ich muß +dieser Sache mit Sswidrigailoff ein Ende machen,« -- dachte er, -- »um +jeden Preis und möglichst schnell; er scheint zu erwarten, daß ich +selbst zu ihm komme.« -- In diesem Augenblicke entstand in seinem +bedrückten Herzen ein wilder Haß, daß er einen von beiden, -- +Sswidrigailoff oder Porphyri Petrowitsch hätte ermorden können. Er +fühlte wenigstens, daß er, wenn nicht jetzt, so später, imstande sei, es +zu tun. -- »Wir wollen sehen, wir wollen sehen,« wiederholte er vor +sich. -- + +Als er aber gerade die Türe zur Treppe öffnete, stieß er mit Porphyri +Petrowitsch zusammen. Der kam zu ihm. Raskolnikoff war im ersten +Augenblick erstarrt. Aber sonderbar, sein Staunen über Porphyris +Erscheinen und sein Schrecken waren gering. Er zuckte bloß zusammen, +sammelte sich aber sofort augenblicklich. »Vielleicht ist es die Lösung! +Aber wie leise er gekommen war, wie eine Katze, ich habe ihn nicht +gehört! Hat er etwa gelauscht?« + +»Sie haben diesen Besuch nicht erwartet, Rodion Romanowitsch,« rief +Porphyri Petrowitsch lachend. »Wollte schon lange Sie aufsuchen; ging +nun vorbei und dachte mir, -- warum soll ich nicht auf fünf Minuten +hinaufgehen. Sie wollen ausgehen? Ich will Sie nicht aufhalten. Bloß auf +eine Zigarette, wenn Sie gestatten.« + +»Ja, nehmen Sie Platz, Porphyri Petrowitsch, nehmen Sie bitte Platz,« +Raskolnikoff bot seinem Besuche mit solch einer sichtlich zufriedenen +und freundschaftlichen Miene einen Platz an, daß er über sich selbst +verwundert gewesen wäre, wenn er sich hätte sehen können. + +Es war auch der letzte Rest seiner Kraft. So hegt ein Mensch eine halbe +Stunde lang tödliche Angst vor dem Räuber, wenn aber das Messer ihm +endgiltig an die Kehle gesetzt wird, schwindet die Angst. Er setzte sich +Porphyri Petrowitsch gegenüber und blickte ihn, ohne die Augen für einen +Moment abzuwenden, an. Porphyri Petrowitsch kniff die Augen zusammen und +steckte sich eine Zigarette an. + +»Nun, sprich, sprich doch,« schien es aus dem Herzen Raskolnikoffs +herauszurufen. -- »Nun, warum redest, warum redest du nicht?« + + + II. + +»Nehmen wir einmal die Zigaretten!« sagte endlich Porphyri Petrowitsch, +nachdem er die Zigarette angesteckt und Atem geholt hatte, »sie sind +schädlich, ganz und gar schädlich, ich kann sie aber nicht lassen! Ich +huste, im Halse beginnt es zu kratzen und ich leide an Atemnot. Wissen +Sie, ich bin ängstlich, war vor ein paar Tagen bei B. gewesen, -- er +untersucht jeden Kranken, minimum, eine halbe Stunde; er lachte, als er +mich sah, -- dann hat er mich beklopft und ausgehorcht und sagte unter +anderem, daß Tabak für mich nicht gut sei, meine Lungen seien erweitert. +Und, wie kann ich das Rauchen lassen? Wodurch soll ich es ersetzen? Ich +trinke nicht, das ist das ganze Unglück, he--he--he, es ist ein Unglück, +daß ich nicht trinke! Alles ist doch wie man's nimmt, Rodion +Romanowitsch, wie man's nimmt!« + +»Was fängt er wieder mit seinem alten Kram an?« dachte Raskolnikoff voll +Widerwillen. Die ganze letzte Szene stieg vor ihm auf und dasselbe +Gefühl wie damals überflutete wie eine Welle sein Herz. + +»Ich war schon einmal bei Ihnen, vorgestern abend. Sie wissen es nicht?« +fuhr Porphyri Petrowitsch fort und blickte sich im Zimmer um, »ich war +in demselben Zimmer gewesen. Ich ging ebenso, wie heute, vorbei und +dachte, -- ich will ihm mal eine Gegenvisite machen. Komme hierher, das +Zimmer steht weit offen; ich sah mich um, wartete eine Weile, habe mich +nicht mal Ihrem Dienstmädchen gemeldet -- und ging wieder fort. Sie +schließen das Zimmer nicht ab?« + +Raskolnikoffs Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Porphyri Petrowitsch +schien seine Gedanken zu erraten. »Ich bin gekommen, lieber Rodion +Romanowitsch, Ihnen eine Erklärung zu geben. Ich bin Ihnen eine solche +schuldig,« fuhr er mit einem Lächeln fort und schlug ihm mit der Hand +leicht auf das Knie, aber zu gleicher Zeit nahm sein Gesicht einen +ernsten und besorgten Ausdruck an, es schien, zu Raskolnikoffs +Erstaunen, wie mit Trauer umflort. Er hatte noch nie bei Porphyri +Petrowitsch solch einen Ausdruck gesehen und ihn auch nicht bei ihm +vermutet. -- »Eine merkwürdige Szene hat sich das letzte Mal zwischen +uns abgespielt, Rodion Romanowitsch. Ich gestehe, daß es vielleicht auch +bei unserer ersten Zusammenkunft sonderbar hergegangen ist, aber damals +... Nun, jetzt kommt es auf dasselbe hinaus! Hören Sie, ich habe eine +große Schuld Ihnen gegenüber, ich fühle es. Erinnern Sie sich, wie wir +uns trennten, -- bei Ihnen vibrierten die Nerven und zitterten die Knie, +auch bei mir vibrierten die Nerven und zitterten die Knie. Und wissen +Sie, es war auch zwischen uns damals nicht ganz anständig, nicht +gentlemanlike zugegangen. Wir sind aber doch Gentlemen, das heißt in +jedem Falle und vor allen Dingen Gentlemen; das ist im Auge zu behalten. +Sie erinnern sich doch, wie weit es kam ... geradezu unanständig.« + +»Was ist mit ihm, für wen hält er mich denn?« fragte sich Raskolnikoff +verwundert, indem er den Kopf erhob und Porphyri Petrowitsch aufmerksam +anblickte. + +»Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß es besser für uns ist, jetzt in +aller Offenheit zu verhandeln,« fuhr Porphyri Petrowitsch fort, seinen +Kopf ein wenig zurückwerfend und die Augen senkend, als wünsche er nicht +mehr durch seinen Blick sein früheres Opfer zu verwirren, und als +verschmähe er seine frühere Methode und seine Kniffe; -- »ja, solche +Verdächtigungen und solche Szenen dürfen nicht andauern. Uns hat damals +Nikolai erlöst, sonst wüßte ich nicht, was alles zwischen uns passiert +wäre. Dieser verfluchte Kleinbürger saß damals die ganze Zeit bei mir +hinter der Scheidewand, -- können Sie es sich vorstellen? Sie wissen es +sicher schon; es ist mir bekannt, daß er später bei Ihnen gewesen ist; +das aber, was Sie damals annahmen, war nicht der Fall, -- ich hatte nach +keinem Menschen geschickt und hatte damals auch keine Anordnungen +getroffen! Sie werden mich fragen, warum ich keine Anordnungen getroffen +hatte? Ja, wie soll ich es sagen, -- mich selbst hat dieses alles damals +überfallen. Ich hatte kaum Zeit gefunden, die Hausknechte holen zu +lassen, -- Sie haben die Hausknechte wahrscheinlich bemerkt, als Sie +durch das Vorzimmer gingen. -- Ein Gedanke durchfuhr mich damals, wie +ein Blitz, -- ich war, sehen Sie, Rodion Romanowitsch, damals so gut wie +überzeugt. Warte, dachte ich mir, -- wenn ich auch vorläufig das eine +versäume, so packe ich dafür das andere am Schwanz, -- will jedenfalls +das meinige nicht versäumen. Sie sind von Natur aus sehr reizbar, Rodion +Romanowitsch, sogar übermäßig reizbar bei allen anderen Grundzügen Ihres +Charakters und Herzens, die ich mir schmeichle teilweise erkannt zu +haben. Selbstverständlich konnte ich mir auch damals schon sagen, daß es +nicht oft der Fall sei, daß ein Mensch plötzlich aufsteht und sein +ganzes Geheimnis ausplaudert. Das kommt wohl vor, besonders, wenn einem +Menschen die letzte Geduld reißt, aber jedenfalls immerhin selten. Ja, +das konnte ich mir sagen. Ich dachte, wenn ich bloß ein Zipfelchen +erwische! Meinetwegen ein ganz winziges Endchen, nur ein einziges, aber +ein derartiges, daß man es fassen kann, daß es ein Ding ist und nicht +immer bloß diese Psychologie. Dann dachte ich mir, wenn ein Mensch +schuldig ist, so kann man jedenfalls etwas wesentliches von ihm +erwarten; es ist selbst statthaft, auch auf ein ganz unerwartetes +Resultat zu rechnen. Ich habe damals mit Ihrem Charakter gerechnet, +Rodion Romanowitsch, am meisten mit Ihrem Charakter! Ich hoffte damals +zu stark auf Sie selbst.« + +»Aber ... aber warum sprechen Sie jetzt in dieser Weise,« murmelte +Raskolnikoff endlich, ohne seine eigene Frage sich zu überlegen. -- +»Worüber spricht er,« verlor er sich in Mutmaßungen, »hält er mich +tatsächlich für unschuldig?« + +»Warum ich in dieser Weise spreche? Ich bin gekommen, Ihnen Erklärungen +zu geben, halte es für meine heilige Pflicht. Ich will Ihnen alles bis +aufs haarkleinste erzählen, wie alles war, diese ganze Geschichte der +damaligen Verblendung. Ich habe Ihnen viel Leid zugefügt, habe Sie stark +leiden lassen, Rodion Romanowitsch. Ich bin kein so großes Scheusal. Ich +begreife auch, was es für einen niedergedrückten, aber stolzen, +eigenartigen und ungeduldigen, besonders ungeduldigen Menschen heißt, +dies alles ertragen zu müssen. Ich halte Sie in jedem Falle für einen +edlen Menschen, mit großmütiger Veranlagung, obgleich ich nicht mit +allen Ihren Überzeugungen einverstanden bin und ich halte es für meine +Pflicht im voraus, offen und aufrichtig Ihnen das zu sagen, ich will Sie +nicht betrügen. Nachdem ich Sie erkannt hatte, fühlte ich eine Neigung +zu Ihnen. Sie werden wohl über meine Worte lachen? Und Sie haben ein +Recht dazu. Ich weiß, daß Sie mich auf den ersten Blick schon nicht +leiden konnten, und im Grunde genommen ist auch nichts an mir, warum man +mich gern haben könnte. Fassen Sie es jedoch auf, wie Sie wollen, ich +wünsche meinerseits mit allen Mitteln, diesen Eindruck von mir zu +verwischen und Ihnen zu beweisen, daß auch ich ein Mensch mit einem +Herzen und einem Gewissen bin. Und dies sage ich aufrichtig.« + +Porphyri Petrowitsch hielt würdevoll inne. Raskolnikoff fühlte den +Andrang eines neuen Schreckens. Der Gedanke, daß Porphyri Petrowitsch +ihn für unschuldig hielt, begann ihn zu peinigen. + +»Ich denke, es ist unnötig und überflüssig, alles der Reihenfolge nach +zu erzählen, wie es damals begonnen hatte,« fuhr Porphyri Petrowitsch +fort. »Ja, und es ist fraglich, ob ich imstande bin, es zu tun. Denn, +wie soll man es genau erklären? Im Anfange tauchten Gerüchte auf. +Darüber, was es für Gerüchte waren, und von wem sie stammten, und wann +... und aus welchem Anlaß eigentlich Sie hineingezogen wurden, -- ist +auch, denke ich, überflüssig zu erwähnen. Bei mir persönlich fing es mit +einer Zufälligkeit, mit einer völlig unvorgesehenen Zufälligkeit an, die +ebenso gut sein wie nicht sein konnte, -- was es aber war? Hm, ich +denke, dies ist auch nicht zu erwähnen. Dies alles, wie die Gerüchte, so +auch die Zufälligkeiten, schmolzen sich bei mir zu einem Gedanken +zusammen. Ich muß offen gestehen, denn, wenn man schon einmal +eingesteht, soll es auch alles sein, -- ich war der erste, der auf Sie +damals kam. Die Vermerke der Alten auf den versetzten Sachen und +dergleichen mehr sind, ich gebe es zu, alles Unsinn. In dieser Weise +kann man hundert solche Dinge aufzählen. Ich hatte auch damals die +Gelegenheit, die Szene auf dem Polizeibureau in allen ihren Einzelheiten +zu erfahren, ebenfalls zufällig und nicht sozusagen im Vorbeigehen, +sondern von einem besonders zuverlässigen Erzähler, der ohne es selbst +zu ahnen, diese Szene vortrefflich aufgefaßt hatte. So reihte sich alles +eins ans andere, gesellte sich eins zu dem andern, lieber Rodion +Romanowitsch! Und wie sollte man da sich nicht nach einer bestimmten +Richtung wenden? Aus hundert Kaninchen wird nie ein Pferd, aus hundert +Verdachtsgründen kommt nie ein Beweis heraus, -- so lautet ein +englisches Sprichwort, aber da rechnet man bloß mit dem Intellekte, man +soll jedoch auch mit den Leidenschaften rechnen, denn ein +Untersuchungsrichter ist doch auch nur ein Mensch. Ich erinnerte mich +auch Ihrer Abhandlung in der Zeitschrift, über die ich mit Ihnen -- +erinnern Sie sich -- bei Ihrem ersten Besuch eingehend sprach. Ich habe +damals gespottet, aber nur um von Ihnen mehr herauszulocken. Ich +wiederhole, Sie sind ungeduldig und sehr krank, Rodion Romanowitsch. Daß +Sie kühn, herausfordernd, ernst sind und ... vieles durchgedacht, vieles +durchgedacht haben, das alles wußte ich längst. Alle diese Empfindungen +kenne ich, und Ihre kleine Abhandlung habe ich wie etwas Wohlvertrautes +gelesen. In schlaflosen Nächten und in Aufregungen mit wogendem und +klopfendem Herzen, mit unterdrücktem Enthusiasmus ist diese Arbeit +entstanden. Aber dieser unterdrückte, stolze Enthusiasmus in jungen +Jahren ist gefährlich! Ich habe damals gespottet, will Ihnen aber jetzt +sagen, daß ich überhaupt solche ersten, jugendlichen, hitzigen Versuche +mit der Feder über alles das gewissermaßen als Amateur liebe. Ein Rauch, +ein Nebel ist es, und im Nebel klingt eine Saite. Ihr Artikel ist +unsinnig und phantastisch, aber darin schimmert solch eine +Aufrichtigkeit, darin steckt ein jugendlicher und unbestechlicher Stolz, +eine Kühnheit der Verzweiflung; es ist ein finsterer Artikel, und das +ist seine Stärke. Ich las Ihren Artikel und legte ihn beiseite, und ... +als ich ihn beiseite gelegt hatte, dachte ich schon damals, >nun, mit +diesem Menschen geht es nicht so weiter!< Nun, sagen Sie mir jetzt, wie +sollte man sich da nach all dem Vorangegangenen von dem Darauffolgenden +nicht hinreißen lassen! Ach, mein Gott! Was sage ich denn jetzt? +Behaupte ich denn jetzt etwas? Ich habe es mir damals bloß gemerkt. Was +ist denn alles dabei, -- dachte ich? Es ist ja nichts, rein gar nichts, +und vielleicht im höchsten Grade ein Nichts. Ja, und es ziemt sich ganz +und garnicht für mich, den Untersuchungsrichter, mich so hinreißen zu +lassen, -- ich habe doch Nikolai in den Händen, und mit Beweisen, -- es +ist gleichgiltig, wie man darüber denkt, Beweise sind es in jedem Fall. +Und er hat auch seine Psychologie; ich muß mich mit ihm beschäftigen, +denn es handelt sich hier um Tod und Leben. Wozu erkläre ich Ihnen jetzt +dies alles? Damit Sie es wissen und mich mit Ihrem Verstande und Herzen +wegen meines damaligen bösen Benehmens nicht anklagen sollen. Es war +nicht böse gemeint, ich sage es aufrichtig, he--he--he! Meinen Sie etwa, +daß ich keine Haussuchung bei Ihnen vorgenommen hätte? Ich habe es +getan, habe es getan, he--he--he, habe sie vorgenommen, als Sie krank im +Bett lagen. Es war nicht offiziell und nicht von mir persönlich, aber in +jedem Fall, sie wurde vorgenommen. Bis aufs letzte Haar wurde bei Ihnen +in der Wohnung alles, sogar nach frischen Spuren, besehen, -- aber +umsonst. Da dachte ich, -- jetzt kommt dieser Mensch zu mir, kommt +selbst und sehr bald zu mir; wenn er schuldig ist, wird er unbedingt +kommen. Ein anderer würde nicht kommen, dieser aber unbedingt. Und +erinnern Sie sich, wie Herr Rasumichin sich Ihnen gegenüber zu +versprechen begann? Das haben wir arrangiert, um Sie aufzuregen, darum +haben wir absichtlich auch das Gerücht verbreitet, damit er sich Ihnen +gegenüber verspreche, Herr Rasumichin aber ist so ein Mensch, der keine +Entrüstung bei sich behalten kann. Herrn Sametoff fiel zuerst Ihr Zorn +und Ihre offene Kühnheit auf; wie kann einer in einem Restaurant +plötzlich herausplatzen, -- >ich habe ermordet!< Es ist zu kühn, es ist +zu frech und wenn er schuldig ist, -- dachte ich, -- so ist er ein +furchtbarer Gegner! In dieser Weise habe ich damals gedacht. Ich wartete +auf Sie! Wartete mit größter Ungeduld, Sametoff haben Sie damals einfach +niedergeschmettert und ... das ist ja das Fatale, daß diese ganze +Psychologie zwei Seiten hat! Nun, ich erwarte also Sie und siehe, Gott +schickt Sie selbst, -- Sie kommen! Mein Herz klopfte stark! Ach! Nun, +warum mußten Sie damals kommen? Ihr Lachen, Ihr Lachen damals, als Sie +hereinkamen, -- erinnern Sie sich -- ich erriet sofort alles, als sähe +ich durch ein Glas; hätte ich aber auf Sie in dieser besonderen Art +nicht gewartet, würde ich auch in Ihrem Lachen nichts gemerkt haben. +Sehen Sie, was es heißt, in Stimmung zu sein. Und Herr Rasumichin +damals, -- ach! und der Stein, der Stein, -- erinnern Sie sich -- der +Stein, unter dem noch die Sachen versteckt sind? Mir war es, als sähe +ich ihn irgendwo in einem Gemüsegarten. -- Sie hatten doch Sametoff +schon davon erzählt und erwähnten ihn dann bei mir zum zweiten Male! Als +Sie aber damals begannen, Ihren Artikel bis aufs einzelne durchzunehmen, +als Sie sich näher darüber ausließen, -- da faßte ich jedes Ihrer Worte +doppelt auf, als stecke noch ein anderes darunter! Nun, sehen Sie, +Rodion Romanowitsch, in dieser Weise kam ich auch bis zu den letzten +Schranken, und erst als ich mit der Stirn dagegen rannte, kam ich zur +Besinnung. Nein, -- sagte ich mir -- was ist mit dir? Wenn man will, -- +sagte ich mir -- kann man dies alles bis zum letzten Punkte auf andere +Weise erklären, und es wird immer noch natürlicher erscheinen. Es war +eine Qual! Nein, -- dachte ich, -- wenn ich doch nur ein Zipfelchen +erwischen könnte! ... Und als ich gar von diesem Klingelzeichen hörte, +erstarrte ich, ein Frösteln packte mich. -- Jetzt ist das Zipfelchen da! +dachte ich. Ich habe es! Da überlegte ich nicht mehr, wollte es einfach +nicht mehr tun. Tausend Rubel hätte ich in diesem Augenblicke aus meiner +eigenen Tasche hingegeben, um nur Sie _mit meinen eigenen Augen_ gesehen +zu haben, -- wie Sie damals hundert Schritte neben dem Kleinbürger +hingingen, nachdem er Ihnen ins Gesicht >Mörder!< gesagt hatte, und Sie +nicht gewagt hatten, ihn irgend etwas, ganze hundert Schritte lang, zu +fragen! ... Nun, und dieses Gefühl von Kälte im Rückenmark? War dieses +Klingelzeichen auch im kranken Zustande, im halbbewußten Fieberwahne? +Und da müssen Sie sich, Rodion Romanowitsch, nach alldem auch nicht +wundern, daß ich damals mit Ihnen solche Scherze getrieben habe. Und +warum kamen Sie selbst im selben Augenblicke? Es war, als hätte Sie +jemand gestoßen, zu kommen, bei Gott, und wenn uns Nikolai nicht +auseinander gebracht hätte, so ... erinnern Sie sich an Nikolai damals? +Erinnern Sie sich seiner gut? Er kam, wie ein Blitz aus heiterm Himmel. +Nun, und wie empfing ich ihn? Dem Blitze glaubte ich nicht das +geringste, Sie geruhten es selbst zu sehen! Und noch mehr! Als Sie schon +fortgegangen waren, und als er begann, sehr, sehr vernünftig manche +Punkte zu beantworten, so daß ich selbst verwundert war, auch dann +glaubte ich ihm noch nicht das geringste! Sehen Sie, was es heißt, +felsenfest überzeugt zu sein. Nein -- dachte ich -- daran ist nichts zu +machen! Nikolai ändert daran garnichts!« + +»Mir erzählte soeben Rasumichin, daß Sie auch jetzt Nikolai +beschuldigen, und daß Sie Rasumichin selbst davon überzeugt hätten ...« + +Der Atem stockte ihm, und er beendete den Satz nicht. Er hörte mit +unbeschreiblicher Erregung zu, wie ein Mensch, der ihn vollkommen +durchschaut hatte, sich vor sich selbst verleugnete. -- Er fürchtete +daran zu glauben und glaubte nicht. In den zweideutigen Worten suchte er +gierig und haschte nach etwas Bestimmterem und Genauerem. + +»Herr Rasumichin!« rief Porphyri Petrowitsch wie erfreut über die Frage +Raskolnikoffs, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. -- »He--he--he! Ja, +Herrn Rasumichin mußte man auch abschieben, -- zu zweit ist es ein +Vergnügen, der dritte soll wegbleiben. Herr Rasumichin soll aus dem +Spiele bleiben, und ist außerdem ein fremder Mensch; er kam zu mir ganz +blaß gelaufen ... Nun, Gott sei mit ihm, wozu sollen wir ihn in die +Sache hereinbringen! ... Und was Nikolai betrifft, -- so sollen Sie +wissen, was das für ein Subjekt ist, das heißt, wie ich ihn auffasse. +Vor allen Dingen ist er noch das reine Kind, und nicht etwa eine +ängstliche Natur, sondern er ist eine Art Künstler. Sie sollen sich +nicht darüber lustig machen, daß ich ihn so darstelle. Er ist ein +unschuldiger, reiner und für alles empfänglicher Mensch. Hat ein Herz, +ist ein Phantast. Man sagt, daß er singen und tanzen kann und Märchen so +zu erzählen versteht, daß Leute aus anderen Orten sich versammeln, um +ihn zu hören. Auch zur Schule, zu den Abendkursen geht er, kann sich +krank lachen, wenn man ihm den Finger zeigt, kann sich bewußtlos +betrinken, nicht etwa aus Verdorbenheit, sondern gelegentlich, wenn man +ihm zu trinken gibt, alles in kindlicher Weise. Er hat damals gestohlen, +weiß es aber selbst nicht, denn nach seiner Ansicht -- >ist es doch kein +Diebstahl, wenn er etwas auf der Erde gefunden hat?< Wissen Sie aber, +daß er zu den Altgläubigen gehört, nein, eigentlich ist er kein +Altgläubiger, sondern ein Sektierer; aus seiner Familie gehörten einige +der Sekte >Bewegung< an, auch er selbst hat vor kurzem noch zwei Jahre +auf dem Lande bei einem gottesfürchtigen Greis gelebt, um sich in den +Grundsätzen der Religion zu festigen. Das alles habe ich von Nikolai und +seinen Nachbarn aus dem Dorfe erfahren. Noch mehr! Er wollte Einsiedler +werden! Er hatte die feste Absicht, betete nächtelang zu Gott, las in +den alten >echten, wahren<[12] Büchern und hat vor lauter Lesen den +Verstand verloren. Petersburg hat auf ihn einen starken Eindruck +gemacht, besonders das weibliche Geschlecht, nun, und auch der Wein. Er +ist empfänglich, hat den gottesfürchtigen Greis und alles vergessen. Ich +habe erfahren, daß ihn hier ein Künstler lieb gewonnen hat, er ging zu +ihm zu Besuch, da kam aber diese Geschichte dazwischen. Nun, er bekam +Angst, -- und wollte sich erhängen! Wollte davonlaufen! Was soll man da +tun bei dem Begriffe, den das Volk nun einmal von unserer Rechtspflege +besitzt! Manchen erschrickt schon das Wort >vors Gericht gestellt zu +werden<. Wer ist daran schuld! Wir wollen sehen, wie die Gerichtsreform +wirken wird. Ach, möge es Gott bald geben! Nun, also, -- im Gefängnisse +erinnerte er sich offenbar wieder des gottesfürchtigen Greises; auch die +Bibel erschien wieder. Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, was es bei +manchen von diesen Leuten bedeutet, >das Leiden auf sich zu nehmen<? Das +bedeutet nicht etwa, für jemand anderen zu leiden, sondern einfach man +soll >Leiden auf sich nehmen< und besonders gilt das, wenn die Behörden +im Spiele sind. Zu meiner Dienstzeit noch saß im Gefängnisse ein ganzes +Jahr ein äußerst stiller, ruhiger Arrestant, er las nächtelang auf dem +Ofen liegend die Bibel, und verlor vor lauter Lesen den Verstand, wissen +Sie, verlor ihn ganz und gar, so daß er eines schönen Tages ohne jede +Veranlassung, ohne jeden Grund einen Ziegelstein packte und ihn auf den +Vorgesetzten schleuderte. Ja, und wie tat er es, -- absichtlich +schleuderte er den Stein eine Elle vorbei, um dem Vorgesetzten bloß +keinen Schaden anzufügen! Nun, es ist ja bekannt, was mit einem +Arrestanten geschieht, der bewaffneten Widerstand gegen seinen +Vorgesetzten leistet, -- und da hatte er also >das Leiden auf sich +genommen<! Ich habe nun den Verdacht, daß Nikolai auch >das Leiden auf +sich nehmen< oder etwas derartiges tun will. Das weiß ich sicher, aus +Tatsachen. Er weiß bloß selbst nicht, daß ich es weiß. Was -- geben Sie +es etwa nicht zu, daß aus solch einem Volke phantastische Menschen +hervortreten? Aber sicher auf Schritt und Tritt. Der gottesfürchtige +Greis hat jetzt wieder bei ihm zu wirken begonnen, ist ihm besonders +nach dem Selbstmordversuch in Erinnerung gekommen. Übrigens aber, er +wird mir selbst alles erzählen, er wird zu mir kommen. Sie glauben, er +wird es bis zu Ende aushalten können? Warten Sie nur, er wird seine +Aussage noch zurücknehmen! Ich warte stündlich, daß er kommen wird, um +seine Aussage zurückzunehmen. Ich habe diesen Nikolai liebgewonnen und +will ihn genau ergründen. Und können Sie sich denken! He--he--he! Manche +Punkte hat er mir ziemlich vernünftig beantwortet, hat offenbar die +nötigen Mitteilungen erhalten und sich gut vorbereitet; nun, und bei +anderen Punkten blamierte er sich mordsmäßig, wußte rein gar nichts, +hatte keine Ahnung, und weiß selbst nicht mal, daß er nichts ahnt! Nein, +Väterchen, Rodion Romanowitsch, mit dieser Sache hat Nikolai nichts zu +tun! Es ist eine phantastische, finstere Sache, eine moderne Sache, ein +Fall unserer Zeit, wo das menschliche Herz sich getrübt hat -- wo die +Phrase zitiert wird, daß Blutvergießen >erfrischt<, wo von einem Leben +in Komfort gepredigt wird. Hier -- sind Ideen aus Büchern, hier spricht +ein durch Theorien gereiztes Herz, hier sieht man eine Entschlossenheit +zum ersten Schritt, aber eine Entschlossenheit besonderer Art, -- er hat +sich dazu entschlossen, wie man sich entschließt, von einem Felsen oder +von einem Turme sich herabzustürzen, und ist zu dem Verbrechen nicht wie +auf eigenen Füßen geschritten. Er hatte vergessen, die Türe hinter sich +zu schließen und hat getötet, zwei Menschen getötet, nach der Theorie. +Er hat getötet, aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen, was er aber +zusammengerafft hat, steckte er unter einen Stein. Es genügte ihm nicht, +daß er eine Qual durchgemacht hatte, als er hinter der Tür stand und an +der Tür gerüttelt und an der Klingel gerissen wurde, -- nein, er geht +noch einmal nachher in die leere Wohnung in halbbewußtem Zustande, um +sich dieses Läuten in Erinnerung zu bringen, es verlangt ihn wieder, +diese Kälte im Rücken zu spüren ... Nun ja, dies ist im kranken Zustande +geschehen, aber noch eins, -- er hat ermordet, hält sich aber für einen +ehrlichen Menschen, verachtet alle Leute, wandert als bleicher Engel +herum, -- nein, was hat Nikolai damit zu tun, lieber Rodion +Romanowitsch, nein, Nikolai ist es nicht!« + +Diese letzten Worte waren nach allem vorher Gesagten, das einem Aufgeben +des früher Angenommenen so ähnlich war, zu unerwartet gekommen. +Raskolnikoff erzitterte am ganzen Körper, wie vom Blitze getroffen. + +»Wer hat sie denn ... getötet ...« fragte er mit erstickender Stimme, +ohne doch die Frage zurückhalten zu können. Porphyri Petrowitsch warf +sich gegen die Stuhllehne zurück, wie aufs äußerste überrascht und +erstaunt über diese Frage. + +»Wie, wer sie getötet hat? ...« wiederholte er, als traue er seinen +Ohren nicht. -- »Ja, _Sie_ haben getötet, Rodion Romanowitsch! Sie haben +getötet ...« fügte er fast im Flüstertone, aber bestimmt hinzu. + +Raskolnikoff sprang vom Sofa auf, stand einige Sekunden und setzte sich +wieder, ohne ein Wort zu sagen. Über sein Gesicht ging ein krampfhaftes +Zucken. + +»Die Lippe bebt wieder bei Ihnen, wie damals,« murmelte scheinbar voll +Teilnahme Porphyri Petrowitsch. -- »Sie haben, Rodion Romanowitsch, mich +nicht richtig verstanden,« fügte er nach einigem Schweigen hinzu, »darum +sind Sie auch so überrascht. Ich bin gerade darum gekommen, um Ihnen +alles zu sagen und die Sache offen mit Ihnen zu behandeln.« + +»Ich habe nicht getötet,« flüsterte Raskolnikoff, genau wie ein Kind im +Schreck, wenn es auf frischer Tat ertappt wurde. + +»Nein, Sie haben es getan, Rodion Romanowitsch, Sie und niemand anders,« +flüsterte Porphyri Petrowitsch streng und fest. + +Sie schwiegen beide und das Schweigen dauerte merkwürdig lange, etwa +zehn Minuten. Raskolnikoff hatte sich auf den Tisch gestützt und fuhr +schweigend mit den Fingern durch die Haare. Porphyri Petrowitsch saß +still und wartete. Plötzlich blickte Raskolnikoff Porphyri Petrowitsch +verächtlich an. + +»Sie kommen wieder mit der alten Weise, Porphyri Petrowitsch! Immer Ihre +alte Taktik, -- wird es Ihnen in der Tat nicht langweilig?« + +»Ach, lassen Sie doch, was soll es denn für eine Taktik sein! Ja, wenn +Zeugen zur Stelle wären; wir sprechen aber doch Auge in Auge. Sie sehen +selbst, ich bin nicht dazu hergekommen, um Sie zu hetzen und zu +umgarnen, wie ein flüchtiges Wild. Ob Sie gestehen oder nicht, -- in +diesem Augenblicke ist es mir einerlei. Für meine Person bin ich auch +ohne das überzeugt.« + +»Wenn die Sache so steht, warum sind Sie denn gekommen?« fragte +Raskolnikoff gereizt. -- »Ich stelle Ihnen die frühere Frage, -- wenn +Sie mich für den Schuldigen halten, warum sperren Sie mich nicht ins +Gefängnis?« + +»Das ist doch einmal ein Wort! Darum will ich Ihnen diese Frage genau +beantworten, -- erstens, Sie einfach ins Gefängnis zu sperren, ist für +mich unvorteilhaft.« + +»Wieso unvorteilhaft? Wenn Sie überzeugt sind, so müssen Sie sogar ...« + +»Ach, was hat es denn zu sagen, daß ich überzeugt bin? Alles ist doch +vorläufig ein Gedanke von mir, eine Einbildung. Ja und warum soll ich +Sie dort _zur Ruhe_ setzen? Sie wissen das selbst, wenn Sie darauf +drängen. Ich bringe zum Beispiel den Kleinbürger hin, um Sie zu +überführen, Sie werden ihm aber sagen, -- bist du betrunken oder nicht? +Wer hat dich mit mir zusammen gesehen? Ich habe dich einfach für einen +Betrunkenen gehalten, und du warst es auch, -- was soll ich Ihnen darauf +erwidern, umsomehr, als Ihre Worte überzeugender sind als seine, denn in +seiner Aussage steckt nur eine psychologische Mutmaßung, -- das paßt +aber zu seiner Fratze nicht mal, -- Sie aber treffen den Kernpunkt, denn +der gemeine Kerl trinkt sehr stark und ist dafür bekannt. Und ich habe +selbst Ihnen offen schon einigemal gesagt, daß diese Psychologie zwei +Seiten hat, und daß die zweite Seite die größere Wahrscheinlichkeit für +sich hat, und habe hinzugefügt, daß ich außer diesem vorläufig gar +nichts gegen Sie in den Händen habe. Und obwohl ich Sie einsperren +werde, und sogar selbst gekommen bin -- (was doch sicher nicht gang und +gäbe ist) -- Ihnen im voraus alles mitzuteilen, trotzdem sage ich Ihnen +offen -- (was wieder nicht gang und gäbe ist) -- daß dies für mich +unvorteilhaft sein wird. Und zweitens, bin ich darum zu Ihnen gekommen +...« + +»Und zweitens?« Raskolnikoff rang immer noch nach Atem. + +»Weil ich mich, wie ich Ihnen schon vorhin erklärte, für verpflichtet +halte, Ihnen eine Erklärung abzugeben. Ich will nicht, daß Sie mich für +ein Scheusal ansehen sollen, umsomehr, als ich zu Ihnen eine aufrichtige +Neigung gefaßt habe, ob Sie mir glauben oder nicht. Und deswegen bin +ich, drittens, gekommen, Ihnen den offenen und direkten Vorschlag zu +machen -- sich selbst anzuzeigen und ein Geständnis abzulegen. Das ist +für Sie das Gescheiteste, und auch für mich am vorteilhaftesten, -- dann +bin ich die Sache los. Nun, war ich meinerseits offen oder nicht?« + +Raskolnikoff dachte einen Augenblick nach. + +»Hören Sie, Porphyri Petrowitsch, Sie sagen doch selbst, -- es ist nur +auf Psychologie begründet, indessen aber ziehen Sie die Mathematik +herein. Nun wie, wenn Sie sich selbst irren?« + +»Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe ein Endchen in +der Hand. Das Endchen hatte ich auch damals erwischt; Gott hat es mir +geschenkt!« + +»Was für ein Endchen?« + +»Das sage ich nicht, Rodion Romanowitsch. In jedem Falle aber habe ich +jetzt nicht mehr das Recht, es hinauszuschieben; ich werde Sie +verhaften. Also ziehen Sie dies in Betracht, -- für mich ist _es jetzt_ +gleichgültig, folglich tue ich es bloß um Ihretwillen. Bei Gott, es wird +für Sie besser sein, Rodion Romanowitsch!« + +Raskolnikoff lächelte boshaft. + +»Es ist doch nicht bloß lächerlich, es ist unverschämt. Und mag ich +schuldig sein, -- was ich noch gar nicht sage, -- nun, warum soll ich +denn zu Ihnen mit einem freiwilligen Geständnis kommen, wenn Sie schon +selbst sagen, daß ich dort bei Ihnen mich _zur Ruhe_ setzen werde?« + +»Ach, Rodion Romanowitsch, trauen Sie nicht ganz den Worten; vielleicht +wird es auch nicht ganz >_zur Ruhe_< sein! Es ist doch bloß eine Theorie +und zudem noch meine eigene, was für eine Autorität aber bin ich für +Sie? Vielleicht verheimliche ich auch jetzt noch irgend etwas vor Ihnen. +Ich kann Ihnen doch nicht alles offenbaren und zeigen. He--he! Außerdem, +Sie fragen, welchen Vorteil Sie haben werden? Ja, wissen Sie auch, welch +eine Strafermäßigung Sie erhalten werden? Wann werden Sie kommen, in +welchem Augenblick? Überlegen Sie es sich doch bloß! In dem Momente, wo +schon ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze +Angelegenheit verwirrt hat! Und ich will, -- so wahr ein Gott ist -- +alles >dort< so einrichten und arrangieren, daß Ihr Geständnis wie +vollkommen unerwartet erscheinen wird. Diese ganze Psychologie wollen +wir ganz vernichten, allen Verdacht will ich in nichts verwandeln, so +daß Ihr Verbrechen, wie eine Art Verblendung erscheinen wird, denn -- +offen gestanden, -- es war auch eine Verblendung. Ich bin ein ehrlicher +Mensch, Rodion Romanowitsch, und werde mein Wort halten.« + +Raskolnikoff schwieg traurig und ließ den Kopf sinken; er dachte lange +nach, plötzlich lächelte er wieder, aber sein Lächeln war diesmal schon +sanft und traurig. + +»Ach, es ist nicht nötig!« sagte er, als ob er sich gar nicht mehr vor +Porphyri Petrowitsch verberge. -- »Es lohnt sich nicht! Ich brauche gar +nicht Ihre Strafermäßigung!« + +»Das fürchtete ich gerade!« rief Porphyri Petrowitsch innig und +unwillkürlich, -- »das fürchtete ich gerade, daß Sie unsere Ermäßigung +nicht brauchen.« + +Raskolnikoff blickte ihn traurig und eindringlich an. + +»Hören Sie, verschmähen Sie das Leben nicht!« fuhr Porphyri Petrowitsch +fort. -- »Sie haben noch viel von ihm zu erwarten. Warum ist eine +Strafermäßigung nicht nötig, warum nicht? Sie ungeduldiger Mensch!« + +»Was habe ich denn noch viel vor?« + +»Zu leben! Was sind Sie für ein Prophet, wissen Sie denn wie viel? +Suchet und ihr werdet finden. Vielleicht hat Sie Gott hier geprüft. Ja, +und nicht ewig wird doch die Kette angelegt ...« + +»Eine Ermäßigung wird sein ...« lachte Raskolnikoff. + +»Haben Sie etwa Furcht vor der Bourgeoisschande? Das ist wohl möglich, +daß Sie dieses schreckt, und Sie wissen es vielleicht selbst nicht, -- +denn Sie sind noch jung! Aber Sie sollten sich wenigstens doch nicht +fürchten oder etwa schämen, ein Geständnis abzulegen.« + +»Ach, ich pfeife darauf!« flüsterte Raskolnikoff verächtlich und mit +Widerwillen, als ob er darüber auch nicht mehr reden wolle. Er war +wieder aufgestanden, als ob er irgendwohin gehen wollte, setzte sich +aber von neuem in sichtlicher Verzweiflung. + +»Da haben wir es -- ich pfeife darauf! Sie haben den Glauben verloren, +und meinen auch, daß ich Ihnen grob schmeichle; haben Sie denn so lange +gelebt? Verstehen Sie denn so viel davon? Haben sich eine Theorie +ausgedacht, und schämen sich nun, daß nichts daraus wurde, und daß es zu +wenig originell herauskam. Es nahm ein gemeines Ende, das ist wahr, aber +Sie sind doch kein hoffnungsloser Schuft! Sie haben sich wenigstens +nicht lange Sand in die Augen gestreut, Sie sind mit einem bis zu den +äußersten Grenzen gegangen. Für wen halte ich Sie denn? Ich halte Sie +für einen von der Sorte Menschen, denen man den Leib aufschlitzen kann, +die aber ruhig dastehen und mit einem Lächeln auf ihre Peiniger blicken, +-- wenn sie nur einen Glauben oder einen Gott gefunden haben. Nun, gehen +Sie und finden Sie es und Sie werden leben. Außerdem müssen Sie schon +längst eine Luftveränderung haben. Was, das Leiden ist auch eine gute +Sache. Leiden Sie eine Zeit. Nikolai hat vielleicht auch recht, daß er +Leiden sucht. Ich weiß, daß Sie noch nicht glauben können, -- grübeln +Sie aber nicht zu viel; geben Sie sich einfach, ohne viel zu überlegen, +dem Leben hin; seien Sie sicher, -- es bringt Sie an das Ufer und stellt +Sie auf die Beine. An was für ein Ufer weiß ich nicht. Woher soll ich es +auch wissen? Ich glaube nur daran, daß Sie noch viel zu leben haben. Ich +weiß auch, daß Sie meine Worte jetzt wie eine auswendig gelernte Predigt +auffassen; aber vielleicht werden Sie sich ihrer einmal später erinnern +und sie werden Ihnen von Nutzen sein können. Aus diesem Grunde spreche +ich auch. Es ist gut, daß Sie nur diese Alte ermordet haben. Wenn Sie +aber sich eine andere Theorie ausgedacht hätten, so würden Sie +vielleicht eine um hundert Millionen schlimmere Sache vollbracht haben! +Man muß vielleicht noch Gott danken; woher wissen Sie es? Vielleicht +behütet Sie Gott aus irgend einem Grunde. Sie sollten aber ein großes +Herz haben und sich weniger fürchten. Ihnen ist bange vor der Größe +dessen, was jetzt zu geschehen hat? Nein, in diesem Falle muß man sich +schämen, bange zu sein. Wenn Sie einen solchen Schritt getan haben, so +nehmen Sie sich auch jetzt zusammen. Darin liegt die ausgleichende +Gerechtigkeit. Erfüllen Sie nun mal, was die Gerechtigkeit verlangt. Ich +weiß, daß Sie nicht glauben, aber -- bei Gott -- das Leben wird Ihnen zu +weiterem verhelfen. Nachher werden Sie es selbst gern haben. Sie +brauchen jetzt bloß Luft, Luft und Luft!« + +Raskolnikoff zuckte zusammen. + +»Ja, wer sind Sie denn?« rief er aus. -- »Sind Sie etwa ein Prophet? +Woher haben Sie diese hohe majestätische Ruhe, um mir superkluge +Prophezeiungen vorzuorakeln?« + +»Wer ich bin? Ich bin ein abgetaner Mensch, mehr nicht. Ein Mensch, der +vielleicht empfindet und Mitgefühl besitzt, vielleicht auch etwas weiß, +aber schon vollkommen abgetan ist. Sie aber -- mit Ihnen steht es +anders; Ihnen hat Gott das Leben vorbehalten; wer weiß, vielleicht geht +bei Ihnen alles wie ein Dunst vorüber, nichts wird zurückbleiben. Nun, +was ist denn dabei, daß Sie in eine andere Gattung von Menschen +übergehen werden? Sie mit Ihrem Herzen sollten doch nicht den Komfort +bedauern? Was ist denn dabei, daß man Sie vielleicht lange nicht mehr +sehen wird? Hier handelt es sich nicht um die Zeit, sondern um Sie +selbst. Werden Sie eine Sonne, und alle werden Sie sehen. Eine Sonne muß +vor allen Dingen eine Sonne sein. Warum lächeln Sie wieder, -- daß ich +solch ein Schiller bin? Und ich gehe eine Wette ein, Sie meinen, daß ich +mich an Sie heranschmeichle! Nun, vielleicht schmeichle ich mich auch +tatsächlich heran, he--he--he! Sie brauchen mir, Rodion Romanowitsch, +meinetwegen kein Wort zu glauben, meinetwegen, glauben Sie auch niemals, +-- ich habe schon so eine Art, gebe es zu; aber eins füge ich hinzu, -- +ob ich ein gemeiner und wie weit ich ein ehrlicher Mensch bin, können +Sie, glaube ich, selbst beurteilen!« + +»Wann denken Sie mich zu verhaften?« + +»Nun, anderthalb oder zwei Tage kann ich Sie noch frei herumgehen +lassen. Denken Sie nach, mein Lieber, beten Sie zu Gott. Ja, es ist +vorteilhafter, -- bei Gott -- vorteilhafter.« + +»Wenn ich aber fliehen werde?« fragte Raskolnikoff mit einem sonderbaren +Lächeln. + +»Nein, Sie werden nicht fliehen. Ein Bauer wird davonlaufen, ein +moderner Sektierer wird fliehen -- ein Lakai, der von fremden Gedanken +zehrt, dem man bloß eine Fingerspitze zu zeigen braucht und der an +alles, was Sie wollen, sein Lebelang glauben wird. Sie aber glauben doch +nicht mehr an Ihre Theorie, -- warum wollen Sie fliehen? Ja, und was +wollen Sie in einem freiwilligen Exil? Im Exil ist es häßlich und +schwer, Sie aber brauchen vor allen Dingen Leben und eine bestimmte +Lage, eine entsprechende Luft, und gibt es für Sie im Exil die nötige +Luft? Wenn Sie fliehen werden, kehren Sie selbst zurück. _Ohne uns +können Sie nicht auskommen._ Und wenn ich Sie ins Gefängnis setze, -- +nun, Sie werden einen Monat sitzen, meinetwegen auch zwei oder drei, und +dann werden Sie plötzlich, -- denken Sie an meine Worte, -- selbst zu +mir kommen und gestehen, und möglicherweise für Sie selbst unerwartet. +Sie werden selbst noch eine Stunde vorher nicht wissen, daß Sie ein +Geständnis ablegen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie auf den +Gedanken kommen werden, das Leiden auf sich zu nehmen. Sie glauben mir +jetzt nicht auf mein bloßes Wort hin, Sie werden selbst aber darauf +verfallen. Denn das Leiden, Rodion Romanowitsch, ist ein großes Ding; +lassen Sie außer acht, daß ich fett und dick geworden bin, das tut +nichts, ich weiß es dennoch; lachen Sie nicht darüber, -- im Leiden +liegt eine tiefe Idee. Nikolai hat recht. Nein, Sie werden nicht +davonlaufen, Rodion Romanowitsch.« + +Raskolnikoff stand von seinem Platz auf und nahm seine Mütze. Porphyri +Petrowitsch erhob sich auch. + +»Sie wollen spazieren gehen? Der Abend wird schön werden, es möge nur +kein Gewitter kommen. Es wäre zwar besser, wenn es frischer würde ...« + +Er nahm auch seine Mütze. + +»Porphyri Petrowitsch,« sagte Raskolnikoff mit strenger +Eindringlichkeit, »bitte, setzen Sie sich nicht in den Kopf, daß ich +Ihnen heute gestanden habe. Sie sind ein sonderbarer Mensch und ich habe +Ihnen aus bloßer Neugier zugehört. Ich habe Ihnen aber nichts +eingestanden ... Vergessen Sie es nicht.« + +»Nun gut, ich werde es nicht vergessen, -- sehen Sie nur, wie Sie +zittern. Seien Sie ruhig, mein Lieber; Ihren Willen sollen Sie haben. +Gehen Sie ein wenig spazieren; zu viel aber sollen Sie nicht gehen. Ich +habe an Sie für jeden Fall noch eine kleine Bitte,« fügte er mit +gesenkter Stimme hinzu, -- »eine peinliche, aber wichtige Bitte, -- wenn +Sie, das heißt, für jeden Fall ... woran ich übrigens nicht glaube und +Sie zu ähnlichem für ganz und gar nicht fähig halte, ... falls -- ich +sage es bloß für jeden Fall -- Sie in diesen vierzig oder fünfzig +Stunden Lust verspüren sollten, die Sache irgendwie anders, in einer +phantastischen Weise aus der Welt zu schaffen, -- sagen wir, Hand an +sich legen zu wollen ... es ist ja eine unsinnige Annahme, entschuldigen +Sie bitte, -- hinterlassen Sie dann eine kurze aber genaue Mitteilung. +Es brauchen bloß zwei Zeilen, zwei kurze Zeilen zu sein und erwähnen Sie +auch den Stein; das wird anständiger sein. Nun, auf Wiedersehen ... Ich +wünsche Ihnen gute Gedanken und die rechten Vorsätze!« + +Porphyri Petrowitsch ging gebückt hinaus, und vermied es, Raskolnikoff +anzublicken. -- Raskolnikoff trat an das Fenster und wartete gereizt und +ungeduldig, bis jener auf der Straße sein konnte und weitergegangen war. +Dann verließ auch er selbst schnell das Zimmer. + + + III. + +Er eilte zu Sswidrigailoff. Was er von diesem Menschen erwartete, -- +wußte er selbst nicht. Er wußte nur das eine, daß der eine Macht über +ihn hatte. Nachdem er dies einmal eingesehen hatte, konnte er sich nicht +länger mehr beunruhigen und außerdem war jetzt die richtige Zeit +gekommen. -- Auf dem Wege quälte ihn besonders die eine Frage, -- war +Sswidrigailoff bei Porphyri Petrowitsch gewesen? + +Soweit er beurteilen konnte, und er hätte darauf schwören mögen, -- war +er nicht dort gewesen! Er dachte wiederholt nach, rief den ganzen Besuch +Porphyri Petrowitschs in seine Erinnerung zurück und überlegte: -- nein, +er war nicht bei ihm gewesen, ganz gewiß nicht! + +Aber wenn er noch nicht dort gewesen war, würde er oder würde er nicht +zu Porphyri Petrowitsch hingehen? + +Vorläufig schien es Raskolnikoff, als ob er nicht hingehen würde. Warum? +Er konnte sich selber dies nicht erklären, aber wenn er es auch gekonnt +hätte, so wollte er sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dies +alles quälte ihn, und doch hatte er zugleich für etwas anderes +Interesse. Es war erstaunlich und niemand würde es vielleicht geglaubt +haben, -- um sein jetziges unumgängliches Schicksal war er wenig +besorgt, er dachte nur zerstreut daran. Ihn quälte etwas anderes, +anscheinend Wichtigeres, etwas Außergewöhnliches, -- das nur ihn selbst +und niemand anderen betraf. Außerdem empfand er eine grenzenlose +seelische Erschlaffung, obgleich sein Verstand an diesem Morgen besser +arbeitete, als in allen diesen letzten Tagen. + +Und war es der Mühe wert, nach alledem, was vorgefallen war, diese neuen +winzigen Bedrängnisse zu überwinden? War es der Mühe wert, zum Beispiel, +zu intrigieren, damit Sswidrigailoff nicht zu Porphyri Petrowitsch +hingehe; ihn zu studieren, auszukundschaften und Zeit zu verlieren für +einen Sswidrigailoff? + +Oh, wie ihm dies alles langweilig war! + +Indessen eilte er aber doch zu Sswidrigailoff; erwartete er etwa von ihm +etwas _neues_, oder Fingerzeige oder einen Ausweg? Man greift in der Not +auch nach einem Strohhalm! Führte sie etwa jetzt das Schicksal oder ein +Instinkt zusammen? Vielleicht war es bloß Müdigkeit, Verzweiflung, +vielleicht brauchte er gar nicht Sswidrigailoff, sondern jemand anderen, +und Sswidrigailoff war ihm nur in den Weg gelaufen. Ssonja? Ja, wozu +sollte er jetzt zu Ssonja gehen? Wieder um ihre Tränen betteln? Ssonja +war ihm jetzt schrecklich. In Ssonja stellte er sich ein unerbittliches +Urteil, einen unwandelbaren Entschluß vor. Hier aber handelte es sich +darum, entweder ihr oder sein Weg. Besonders im gegenwärtigen +Augenblicke war er außerstande, sie zu sehen. Nein, es wäre besser, +Sswidrigailoff auszuforschen, -- was wäre dabei? Er konnte sich nicht +innerlich eingestehen, daß er tatsächlich jenen schon längst zu irgend +etwas gebrauchte. + +Aber was konnte es zwischen ihnen beiden gemeinsames geben? Selbst eine +Freveltat konnte sie beide nicht auf gleiche Stufe bringen. Dieser +Mensch war ihm sehr unangenehm, offenbar äußerst verdorben, sicher aber +schlau und unzuverlässig, und vielleicht auch bösartig. Von ihm wurde +allerhand erzählt. Es war ja richtig, er hat sich der Kinder Katerina +Iwanownas angenommen; aber wer weiß, zu welchem Zwecke und was es noch +auf sich hatte? Dieser Mensch hatte stets seine Absichten und Pläne. + +In all diesen Tagen schwebte ständig Raskolnikoff noch ein Gedanke vor +und beunruhigte ihn sehr, obwohl er ihn stets von sich zu weisen suchte; +so schwer lastete dieser Gedanke auf ihm! Er dachte -- Sswidrigailoff +hat die ganze Zeit sich mit ihm beschäftigt; Sswidrigailoff hat sein +Geheimnis erfahren und hatte schon böse Absichten gegenüber Dunja. Man +könnte doch fast mit Bestimmtheit sagen, daß _er sie noch haben_ werde. +Und wenn er jetzt, nachdem er sein Geheimnis erfahren und so über ihn +eine Macht erhalten hätte, sie als eine Waffe gegen Dunja benutzen +wollte? + +Dieser Gedanke quälte ihn sogar im Traume, aber noch nie war er ihm so +deutlich gekommen, wie jetzt. Und dieser Gedanke allein versetzte ihn in +die äußerste Wut. Dann würde sich alles verändern, sogar seine eigene +Lage, -- er muß dann sofort sein Geheimnis Dunetschka mitteilen. Er +mußte sich vielleicht selbst verraten, um Dunetschka von einem +unvorsichtigen Schritt abzuhalten. Und der Brief? Heute früh hatte +Dunetschka einen Brief erhalten! Von wem in Petersburg kann sie Briefe +empfangen? Etwa von Luschin? Es ist ja wahr, dort paßt Rasumichin auf, +aber Rasumichin weiß doch nichts von alldem. Vielleicht muß er sich auch +Rasumichin anvertrauen. Raskolnikoff dachte mit Widerwillen an diese +Möglichkeit. + +Er beschloß endgültig, Sswidrigailoff in jedem Falle möglichst bald +aufzusuchen. Gott sei Dank, hier handelt es sich nicht so sehr um die +Einzelheiten, als um den Kernpunkt der Sache, -- aber wenn er, wenn er +schon fähig war ... wenn Sswidrigailoff irgend etwas gegen Dunja +vorhatte, -- so ... + +Raskolnikoff war während dieser ganzen Zeit, während dieses ganzen +Monats so abgespannt geworden, daß er jetzt ähnliche Fragen nicht anders +mehr lösen konnte, als bloß durch das eine, -- »dann töte ich ihn!« Das +dachte er auch in diesem Augenblicke mit kalter Verzweiflung. Schwer +bedrückte es sein Herz; er blieb mitten auf der Straße stehen und begann +sich umzusehen, -- welchen Weg er ging und wohin er gekommen war? Er +befand sich auf dem N.schen Prospekt, dreißig oder vierzig Schritte vom +Heumarkt entfernt, den er passiert hatte. Der ganze zweite Stock eines +Hauses linker Hand war von einem Restaurant eingenommen. Alle Fenster +waren weit geöffnet; das Restaurant war, nach den vielen an den Fenstern +sich bewegenden Gestalten zu urteilen, stark besetzt. Im Saale sang ein +Chor, Lieder, Klarinetten und Geigen tönten und eine türkische Trommel +lärmte. Man hörte auch das Gekreische einiger Weiber. Er wollte umkehren +und begriff gar nicht, wie er auf den N.schen Prospekt gekommen war, als +er plötzlich in einem der letzten offenen Fenster des Restaurants +Sswidrigailoff erblickte, der dort hinter einem Teetisch mit einer +Pfeife im Munde saß. Er erschrak, und sein Schrecken ward zum Entsetzen. +Sswidrigailoff blickte ihn an und beobachtete ihn schweigend und wollte +-- was Raskolnikoff ebenfalls betroffen machte, wie es schien, +aufstehen, um leise und unbemerkt fortzugehen. Raskolnikoff gab sich +sofort den Anschein, als hätte auch er ihn nicht bemerkt, und blickte in +Gedanken versunken zur Seite, ohne aber ihn ganz aus dem Auge zu lassen. +Sein Herz klopfte unruhig. Es war richtig, -- Sswidrigailoff wollte +offenbar nicht gesehen werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und +wollte sich verbergen; als er aber aufstand und den Stuhl zur Seite +schob, hatte er wahrscheinlich gemerkt, daß Raskolnikoff auch ihn +gesehen und beobachtet hatte. Es war etwas, was der Szene ihres ersten +Zusammentreffens bei Raskolnikoff, während seines Schlafes, glich. Ein +spöttisches Lächeln zeigte sich auf dem Gesichte Sswidrigailoffs. Beide +wußten, daß sie einander gesehen und beobachtet hatten. Zuletzt lachte +Sswidrigailoff laut auf. + +»Nun! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie wollen; ich bin hier!« rief er +ihm aus dem Fenster zu. + +Raskolnikoff ging in das Restaurant hinauf. Er fand ihn in einem sehr +kleinen Hinterzimmer mit einem Fenster, das an den großen Saal anstieß, +in dem an etwa zwanzig kleinen Tischen beim greulichen Gebrüll eines +Sängerchores Kaufleute, Beamte und andere Leute Tee tranken. Aus einer +anderen Ecke vernahm man das Anprallen von Billardkugeln. Auf dem Tische +vor Sswidrigailoff stand eine angebrochene Flasche Champagner und ein +Glas, zur Hälfte mit Wein gefüllt. In dem kleinen Zimmer befanden sich +außerdem ein Knabe, der eine kleine Drehorgel hatte, und ein kräftiges +rotwangiges Mädchen, in einem gestreiften aufgebauschten Rocke und einem +Tiroler Hütchen mit Bändern. Es war eine Sängerin, etwa achtzehn Jahre +alt, die, trotz des Chorgesanges in dem anderen Zimmer, unter Begleitung +der Drehorgel einen Gassenhauer mit ziemlich heiserer Kontrealtstimme +sang ... + +»Nun, genug!« unterbrach Sswidrigailoff sie beim Eintritt Raskolnikoffs. + +Das Mädchen brach sofort ab und blieb in ehrerbietiger Erwartung stehen. +Auch ihren Gassenhauer hatte sie mit einem ehrerbietigen und ernsten +Ausdrucke im Gesichte gesungen. + +»He, Philipp, ein Glas!« rief Sswidrigailoff. + +»Ich werde keinen Wein trinken,« sagte Raskolnikoff. + +»Wie Sie wollen, aber ich habe das Glas nicht Ihretwegen bestellt. +Trink, Katja! Heute brauche ich euch nicht mehr, geht!« -- Er goß ihr +ein volles Glas Wein ein und legte einen Rubelschein für sie auf den +Tisch. + +Katja leerte das Glas mit einem Male, wie die Frauen Wein trinken, das +heißt, ohne das Glas abzusetzen und zwanzigmal schluckend, sie nahm dann +den Schein, küßte Sswidrigailoff die Hand, was er sehr ernst zuließ und +verließ das Zimmer, ihr folgte der Knabe mit der Drehorgel. Man hatte +beide von der Straße heraufgeholt. Sswidrigailoff wohnte noch nicht +einmal eine Woche in Petersburg und alles verkehrte schon mit ihm auf +recht patriarchalischem Fuße. Auch der Kellner Philipp kannte ihn schon +und bediente ihn unterwürfigst. Die Tür zum Saale wurde geschlossen, +Sswidrigailoff war in diesem Zimmer wie bei sich zu Hause und verbrachte +hier jedenfalls ganze Tage. Das Restaurant war schmutzig, schlecht und +nicht einmal von mittlerer Sorte. + +»Ich wollte zu Ihnen gehen und suchte Sie,« begann Raskolnikoff, »bog +aber unversehens vom Heumarkte zu dem N.schen Prospekt ab! Ich gehe nie +diesen Weg und komme nie hierher. Ich nehme vom Heumarkte immer den Weg +zur rechten Hand. Auch der Weg zu Ihnen führt hier nicht vorbei. Doch +kaum als ich einbog, erblickte ich Sie sofort. Das ist seltsam!« + +»Warum sagen Sie nicht offen heraus, -- das ist ein Wunder!« + +»Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.« + +»Wie sonderbar all diese Leute beschaffen sind!« lachte Sswidrigailoff, +»Sie wollen es nicht eingestehen, wenn Sie auch innerlich selbst an +Wunder glauben! Sie sagen doch selbst, daß es -- >vielleicht< -- bloß +ein Zufall ist. Und wie sie alle hier feig sind, eine eigene Meinung zu +haben, können Sie sich gar nicht vorstellen, Rodion Romanowitsch. Ich +meine nicht Sie. Sie haben eine eigene Meinung und fürchten sich nicht, +sie zu haben. Darum haben Sie auch mein Interesse gefesselt.« + +»Sonst durch nichts?« + +»Aber das genügt doch.« + +Sswidrigailoff war offenbar in erregtem Zustande, doch nur ein klein +wenig; von dem Wein hatte er nur ein halbes Glas getrunken. + +»Mir scheint es, Sie kamen schon zu mir, ehe Sie erfuhren, daß ich fähig +bin, das zu haben, was Sie eine eigene Meinung nennen,« bemerkte +Raskolnikoff. + +»Nun, damals war es eine andere Sache. Jeder hat seine eigenen Wege. Was +aber das Wunder anbetrifft, muß ich Ihnen sagen, daß Sie anscheinend +diese letzten zwei oder drei Tage verschlafen haben. Ich habe Ihnen +selbst dieses Restaurant angegeben, und es war gar kein Wunder, daß Sie +hierher kamen; ich habe Ihnen selbst den ganzen Weg beschrieben und +Ihnen den Ort und die Stunden gesagt, wann man mich hier treffen kann. +Erinnern Sie sich?« + +»Ich habe es vergessen,« antwortete Raskolnikoff verwundert. + +»Es scheint so. Zweimal habe ich es Ihnen gesagt. Die Adresse hat sich +Ihrem Gedächtnisse mechanisch eingeprägt. Sie schlugen auch diesen Weg +mechanisch ein, indessen streng der Adresse folgend, ohne es selbst zu +wissen. Als ich es Ihnen damals sagte, glaubte ich nicht, daß Sie mich +verstanden hatten. Sie verraten sich zu sehr, Rodion Romanowitsch. Noch +eins: -- ich bin überzeugt, daß es in Petersburg viele Leute gibt, die +im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist eine Stadt von Halbverrückten. +Wenn wir die Wissenschaften mehr pflegten, so könnten Mediziner, +Juristen und Philosophen, jeder auf seinem Spezialgebiete die +wertvollsten Untersuchungen über Petersburg anstellen. Selten findet man +so viel finstere, tiefeinschneidende und eigentümliche Einflüsse auf die +Seele eines Menschen vor, wie in Petersburg. Was allein sind die +klimatischen Einflüsse wert! Indessen ist es das administrative Zentrum +von ganz Rußland, und sein Charakter muß sich in allem geltend machen. +Aber es handelt sich jetzt nicht darum, sondern, daß ich Sie ein paarmal +schon heimlich beobachtet habe. Sie verlassen Ihre Wohnung -- halten den +Kopf nach oben. Nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn schon sinken und +die Hände legen Sie auf den Rücken. Sie blicken vor sich und sehen +offenbar weder vor sich etwas, noch neben sich. Schließlich beginnen Sie +die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie +zuweilen die eine Hand frei machen und deklamieren, endlich bleiben Sie +mitten auf dem Wege lange stehen. Das ist nicht gut. Vielleicht +beobachtet jemand Sie außer mir, und das ist nicht vorteilhaft. Mir ist +es im Grunde genommen gleichgültig, und ich werde Sie nicht heilen, aber +Sie verstehen mich sicher.« + +»Wissen Sie es, daß man mich beobachtet?« fragte Raskolnikoff und +blickte ihn forschend an. + +»Nein, ich weiß nichts davon,« antwortete Sswidrigailoff, wie +verwundert. + +»Nun, lassen wir meine Person aus dem Spiel,« murmelte Raskolnikoff mit +verdüstertem Gesichte. + +»Gut, lassen wir Sie aus dem Spiel.« + +»Sagen Sie mir lieber, -- wenn Sie hierher gehen zu trinken und mir +selbst diesen Ort zweimal genannt haben, damit ich hierher zu Ihnen +kommen soll, warum versteckten Sie sich denn und wollten weggehen, als +ich Sie von der Straße aus am Fenster sah? Ich habe es sehr gut +gemerkt.« + +»He--he! Warum lagen Sie auf Ihrem Sofa mit geschlossenen Augen und +stellten sich schlafend, während Sie doch gar nicht schliefen, als ich +damals bei Ihnen auf der Schwelle stand? Ich habe es sehr gut bemerkt.« + +»Ich konnte ... Gründe haben ... Sie wissen es selbst.« + +»Auch ich konnte meine Gründe haben, obwohl Sie sie nicht erfahren +werden.« + +Raskolnikoff setzte den rechten Ellenbogen auf den Tisch, stützte mit +den Fingern der rechten Hand sein Kinn und starrte unverwandt +Sswidrigailoff an. Er betrachtete eine Weile sein Gesicht, das auch +früher ihn stets in Staunen gesetzt hatte. Es war ein auffallendes +Gesicht, das einer Maske zu gleichen schien, -- weiß, rotwangig, mit +roten, purpurroten Lippen, mit einem hellblonden Barte und noch ziemlich +dichten hellblonden Haaren. Die Augen waren zu blau und ihr Blick zu +schwer und unbeweglich. Es lag etwas äußerst Unangenehmes in diesem +hübschen und für sein Alter viel zu jugendlichen Gesichte. +Sswidrigailoffs Kleidung war elegant, leicht, sommerlich; besonders +elegant war seine Wäsche. An einem Finger hatte er einen großen Ring mit +einem kostbaren Stein. + +»Ja, soll ich mich denn auch mit Ihnen abgeben,« sagte Raskolnikoff +plötzlich, indem er mit krampfhafter Ungeduld auf sein Ziel losging, +»obgleich Sie vielleicht der gefährlichste Mensch sind, wenn Sie Lust +bekommen sollten, mir zu schaden, aber ich will mich nicht mehr +verstellen und Komödie spielen. Ich will Ihnen gleich zeigen, daß ich +gar keinen großen Wert auf meine Person lege, wie Sie wahrscheinlich +annehmen. Wissen Sie, ich bin gekommen, Ihnen offen zu erklären, wenn +Sie noch Ihre frühere Absicht gegenüber meiner Schwester hegen, und wenn +Sie zu diesem Zwecke irgend etwas von dem, was Ihnen in der letzten Zeit +bekannt geworden ist, zu benutzen gedenken, -- ich Sie eher töten werde, +bevor Sie mich ins Gefängnis bringen. Mein Wort ist sicher, -- Sie +wissen, daß ich es zu halten imstande bin. Zweitens, wenn Sie mir irgend +etwas zu sagen haben, -- denn es schien mir die ganze Zeit, als wollten +Sie mir etwas mitteilen, -- tun Sie es schnell, denn die Zeit ist +kostbar, und vielleicht ist es sehr bald zu spät.« + +»Was haben Sie denn für eine Eile?« fragte Sswidrigailoff und blickte +ihn neugierig an. + +»Jeder hat seine eigenen Wege,« sagte Raskolnikoff finster und +ungeduldig. + +»Sie haben mich selbst soeben gebeten, offen zu sein, und die erste +Frage lehnen Sie schon ab, zu beantworten,« bemerkte Sswidrigailoff mit +einem Lächeln. + +»Ihnen scheint es immer, daß ich irgend welche Zwecke verfolgen muß und +darum betrachten Sie mich argwöhnisch. Nun, das ist in Ihrer Lage +vollkommen begreiflich. Aber wie sehr ich auch wünsche, mit Ihnen in +nähere Beziehungen zu kommen, werde ich mir doch nicht die Mühe machen, +Sie vom Gegenteile zu überzeugen. Bei Gott, es ist nicht der Mühe wert, +und ich hatte gar nicht die Absicht, mit Ihnen über irgend etwas +besonderes zu sprechen.« + +»Wozu brauchten Sie mich dann? Sie scharwenzelten doch um mich herum?« + +»Ganz einfach, als ein interessantes Beobachtungsobjekt. Mir gefielen +Sie durch das Phantastische Ihrer Lage, -- das ist der Grund. Außerdem +sind Sie der Bruder einer Persönlichkeit, die mich sehr interessierte, +und schließlich habe ich seinerzeit von derselben Persönlichkeit sehr +viel und oft über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie einen großen +Einfluß auf die Dame haben; ist denn das nicht genügend Grund? +He--he--he! Ich muß übrigens gestehen, Ihre Frage ist für mich sehr +kompliziert, und es fällt mir etwas schwer, Ihnen darauf zu antworten. +Nun, zum Beispiel jetzt, -- Sie sind zu mir nicht bloß wegen der einen +Angelegenheit gekommen, sondern auch wegen etwas ganz neuem? Es stimmt +doch? Nicht wahr?« sagte Sswidrigailoff mit einem spöttischen Lächeln. +-- »Nun, stellen Sie sich vor, daß ich selbst, noch auf der Reise +hierher im Eisenbahnwagen, auf Sie rechnete, daß Sie mir auch etwas +_neues_ sagen würden, und daß es mir gelingen würde, etwas von Ihnen zu +entlehnen! Sehen Sie, wie reich wir sind!« + +»Was denn entlehnen?« + +»Ja, was soll ich Ihnen sagen? Weiß ich etwa, -- was es ist? Sehen Sie, +in was für einem Restaurant ich die ganze Zeit hocke, und das ist mir +höchst unangenehm, das heißt, eigentlich nicht, aber ich muß mich doch +irgendwo hinhocken. Nun, und diese arme Katja -- haben Sie sie gesehen? +... Wäre ich wenigstens ein Vielfresser oder ein Feinschmecker, Sie +sehen aber selbst, was ich esse. -- (Er zeigte mit dem Finger in eine +Ecke, wo auf einem Tischchen das Überbleibsel von einem entsetzlichen +Beefsteak mit Kartoffeln stand.) -- Apropos, haben Sie zu Mittag +gegessen? Ich habe etwas zu mir genommen und möchte nichts mehr. Wein, +z. B., trinke ich gar nicht. Außer Champagner gar keinen Wein, und davon +trinke ich auch den ganzen Abend ein einziges Glas, davon tut mir schon +der Kopf weh. Ich habe ihn bloß bestellt, um mir auf die Beine zu +helfen, denn ich will irgendwohin gehen, Sie sehen mich in einer +besonderen Stimmung. Ich habe mich darum auch vorhin wie ein Schulbube +versteckt, weil ich meinte, daß Sie mich stören werden; aber ich glaube +-- (er zog seine Uhr hervor) -- ich kann mit Ihnen noch eine Stunde +zusammen sein; es ist jetzt halb fünf. Glauben Sie mir, wenn ich +wenigstens etwas wäre, sagen wir, Gutsbesitzer, Landwirt, oder Vater, +ein Ulan, Photograph oder Journalist ... Aber nichts, ich habe gar keine +Spezialität! Zuweilen ist mir das langweilig. Wirklich, ich glaubte, von +Ihnen etwas neues zu hören.« + +»Ja, wer sind Sie denn eigentlich und warum sind Sie hierher gereist?« + +»Wer ich bin? Sie wissen doch, -- bin vom Adel, habe zwei Jahre in der +Kavallerie gedient, mich dann hier in Petersburg herumgetrieben, habe +Marfa Petrowna geheiratet und auf dem Lande gelebt. Da haben Sie meine +Lebensbeschreibung!« + +»Sie sind wohl ein Spieler?« + +»Nein, ich bin kein Spieler. Ein Falschspieler ist kein Spieler.« + +»Waren Sie denn Falschspieler?« + +»Ja, ich war Falschspieler.« + +»Hat man Sie auch gefaßt?« + +»Es ist auch vorgekommen. Was ist dabei?« + +»Nun, Sie konnten doch gefordert werden ... Das bringt doch auch mehr +Leben ins Dasein.« + +»Ich widerspreche Ihnen nicht und bin außerdem kein Meister im +Philosophieren. Ich will Ihnen gestehen, daß ich mehr der Weiber wegen +hierher gekommen bin.« + +»Nachdem Sie kaum Marfa Petrowna beerdigt hatten?« + +»Nun ja,« lächelte Sswidrigailoff mit einer frappanten Offenheit. -- +»Was ist dabei? Mir scheint, Sie finden etwas schlechtes darin, daß ich +über die Weiber so rede.« + +»Das will wohl sagen, ob ich etwas schlechtes in der Unsittlichkeit +finde oder nicht?« + +»In der Unsittlichkeit! Nun, Sie gehen zu weit! Übrigens aber will ich +Ihnen zuerst im allgemeinen über die Frauen antworten. Wissen Sie, ich +liebe gerade jetzt zu plaudern. Sagen Sie mir, wozu soll ich mich +enthalten? Warum soll ich die Frauen lassen, wenn ich ein großer Freund +davon bin? Sie sind doch wenigstens eine Beschäftigung.« + +»Also Sie rechnen hier bloß auf die Unsittlichkeit?« + +»Was ist dabei, ja, meinetwegen auf Unsittlichkeit. Wie Sie sich darauf +versessen haben. Ich liebe aber wenigstens eine offene Frage. In dieser +Unsittlichkeit ist etwas beständiges, in der Natur begründetes und der +Phantasie nicht unterworfenes, etwas, das stets wie eine feurige Glut im +Blute steckt, ewig anfeuert und das man lange nicht, auch mit den Jahren +vielleicht nicht, so schnell auslöschen kann. Geben Sie doch selbst zu, +ist das nicht eine Art von Beschäftigung?« + +»Wie soll man sich dabei freuen? Es ist eine Krankheit, und eine +gefährliche.« + +»Ah, Sie kommen _damit_! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, wie +auch alles, was über das Maß hinausgeht, -- und hier wird man unbedingt +das Maß überschreiten, -- aber das ist doch, erstens, bei dem einen so, +bei dem anderen anders, und zweitens, muß man eben wie in allem Maß +einhalten; es ist Berechnung und eine gemeine dazu, aber was soll man +tun? Wenn es dies nicht gäbe, müßte man sich möglicherweise erschießen. +Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch verpflichtet ist, sich lieber zu +langweilen, aber dennoch ...« + +»Könnten Sie sich erschießen?« + +»Aber, hören Sie!« erwiderte Sswidrigailoff mit Widerwillen. »Tun Sie +mir den Gefallen und sprechen Sie nicht davon,« fügte er hastig hinzu +und ohne jegliche Großtuerei, die sich in allen seinen früheren Worten +ausprägte. Sogar sein Gesicht schien sich verändert zu haben. -- »Ich +gestehe diese unverzeihliche Schwäche ein, aber was soll ich tun, -- ich +fürchte den Tod und liebe nicht, daß man darüber spricht. Wissen Sie, +ich bin teilweise Mystiker?« + +»Ah! Die Erscheinungen von Marfa Petrowna! Wie, kommt sie noch immer?« + +»Ach, erinnern Sie mich nicht daran; in Petersburg ist es noch nicht +vorgekommen; und hol der Teufel die Erscheinungen!« rief er mit +gereizter Miene aus. -- »Nein, wir wollen lieber über ... ja übrigens +... Hm! Ach, ich habe zu wenig Zeit, kann nicht lange bei Ihnen bleiben, +es ist schade! Ich hätte Ihnen etwas mitzuteilen.« + +»Was, ist es eine Frau, die Sie erwartet?« + +»Ja, eine Frau, ein ganz unerwarteter Zufall ... nein, ich meine nicht +das.« + +»Nun, und die Schändlichkeit dieser ganzen Umgebung wirkt schon nicht +mehr auf Sie? Sie haben schon die Kraft verloren, zu stoppen?« + +»Sie machen auch Ansprüche an Kraft? He--he! Sie haben mich soeben +überrascht, Rodion Romanowitsch, obwohl ich im voraus wußte, daß es so +kommen werde. Sie reden mit mir über Unsittlichkeit und über Ästhetik! +Sie -- ein Schiller, Sie -- ein Idealist! Dies alles muß natürlich so +sein, und man müßte erstaunt sein, wenn es anders wäre, aber trotzdem +ist etwas merkwürdiges vor der Wirklichkeit ... Ach, schade, daß ich so +wenig Zeit habe, Sie sind ein äußerst interessantes Subjekt! Ja, +nebenbei gefragt, lieben Sie Schiller? Ich liebe ihn außerordentlich.« + +»Was Sie aber für ein Großtuer sind!« sagte Raskolnikoff mit einem +gewissen Abscheu. + +»Ich bin es nicht, bei Gott!« antwortete Sswidrigailoff mit lautem +Lachen, »aber ich will es nicht bestreiten, mag ich ein Großtuer sein; +doch warum soll man auch nicht wichtigtun, wenn es harmlos ist. Ich habe +sieben Jahre auf dem Lande bei Marfa Petrowna gelebt, schon darum freue +ich mich zu plaudern, nachdem ich jetzt auf einen klugen Menschen wie +Sie, -- auf einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen +gestoßen bin, und außerdem habe ich dieses halbe Glas Wein getrunken und +es ist mir ein bißchen zu Kopfe gestiegen. Die Hauptsache aber ist, daß +es einen Umstand gibt, der mich sehr aufgerüttelt hat, den ich aber ... +verschweigen werde. Wohin gehen Sie denn?« fragte Sswidrigailoff +plötzlich erschrocken. + +Raskolnikoff machte Miene, sich zu erheben. Ihm wurde es schwer, +beengend und peinlich, daß er hierher gekommen war. Von Sswidrigailoff +hatte er die feste Meinung gewonnen, daß er der unbedeutendste und +inhaltloseste Bösewicht der Welt sei. + +»Ach! Setzen Sie sich, bleiben Sie noch,« bat Sswidrigailoff, »und +bestellen Sie sich doch wenigstens Tee. Bleiben Sie sitzen, ich will +keinen Unsinn mehr, das heißt, über mich schwatzen. Ich will Ihnen etwas +erzählen. Wollen Sie? Ich werde Ihnen erzählen, wie mich eine Frau, um +in Ihrem Stile zu reden, >retten wollte<? Das wird sogar eine Antwort +auf Ihre erste Frage sein, weil diese Dame -- Ihre Schwester ist. Darf +ich erzählen? Wir schlagen auch die Zeit damit tot.« + +»Erzählen Sie, aber ich hoffe, Sie ...« + +»Oh, seien Sie ruhig! Außerdem kann Awdotja Romanowna sogar bei solch +einem schlimmen und oberflächlichen Menschen, wie ich, bloß die höchste +Achtung hervorrufen.« + + + IV. + +»Sie wissen vielleicht, -- ich habe es Ihnen übrigens selbst erzählt,« +begann Sswidrigailoff, »daß ich hier im Schuldgefängnis wegen ungeheurer +Schulden saß, ohne die geringste Aussicht, sie zu tilgen. Es lohnt sich +nicht, die Einzelheiten zu erwähnen, wie mich damals Marfa Petrowna +loskaufte; wissen Sie, bis zu welcher Bewußtlosigkeit eine Frau sich +zuweilen verlieben kann? Sie war eine ehrliche, ziemlich kluge, obwohl +vollkommen ungebildete Frau. Stellen Sie sich vor, daß diese +eifersüchtige und ehrliche Frau nach vielen schrecklichen Wutausbrüchen +und Vorwürfen sich entschlossen hatte, mit mir sozusagen einen Vertrag +abzumachen, den sie während unserer Verheiratung erfüllte. Die Sache war +die, daß sie bedeutend älter war als ich, und außerdem ständig eine +Gewürznelke im Munde hatte. Ich hatte in meiner Seele trotz aller +Gemeinheit so viel Ehrlichkeit, ihr offen zu erklären, daß ich ihr +vollkommene Treue nicht halten könne. Dieses Geständnis versetzte sie in +Wut, aber meine grobe Offenheit schien ihr in gewisser Weise gefallen zu +haben. >Er will also selbst nicht betrügen,< dachte sie, >wenn er im +voraus es in dieser Weise erklärt,< -- nun, und für eine eifersüchtige +Frau ist es das wichtigste. Nach vielen Tränen kam zwischen uns +folgender mündlicher Vertrag zustande, -- erster Punkt, ich werde Marfa +Petrowna nie verlassen und stets ihr Mann bleiben; zweitens, ohne ihre +Erlaubnis werde ich nirgendwohin verreisen; drittens, eine ständige +Geliebte werde ich mir nie anschaffen; viertens, dagegen gestattet mir +Marfa Petrowna, mir zuweilen eine von den Stubenmädchen auszusuchen, +jedoch nicht anders, als mit ihrem geheimen Wissen; fünftens, Gott soll +mich behüten, daß ich mich in eine Frau aus unserem Stande verliebe; +sechstens, falls aber, was Gott verhüte, mich irgend eine große und +ernste Leidenschaft heimsuchen sollte, muß ich mich Marfa Petrowna +anvertrauen. In Bezug auf den letzten Punkt war Marfa Petrowna übrigens +die ganze Zeit ziemlich ruhig; sie war eine kluge Frau, und folglich +konnte sie mich nicht anders, als für einen liederlichen und +lasterhaften Menschen, betrachten, der nicht imstande ist, sich +ernstlich zu verlieben. Aber eine kluge Frau und eine eifersüchtige Frau +sind zwei verschiedene Dinge, und das ist ein Unglück. Übrigens, um +unparteiisch über einige Menschen urteilen zu können, muß man sich +vorher von manchen voreingenommenen Ansichten und von der alltäglichen +Gewöhnung an die uns umgebenden Menschen und Gegenstände lossagen. Ich +habe ein Recht, auf Ihr Urteil mehr, als von jemanden anderen, zu +hoffen. Vielleicht haben Sie schon sehr viel lächerliches und unsinniges +über Marfa Petrowna gehört. In der Tat, sie hatte manche lächerliche +Angewohnheit, aber ich will Ihnen offen sagen, daß ich die zahllosen +Bekümmernisse, die ich ihr verursacht habe, aufrichtig bedauere. Das +scheint für einen sehr anständigen _Oraison funèbre_{[17]} der +zärtlichsten Frau von dem zärtlichsten Manne zu genügen. Bei unseren +Streitigkeiten schwieg ich meistenteils und war nicht gereizt, und +dieses gentlemanlike Benehmen erreichte fast stets das Ziel; es wirkte +auf sie und gefiel ihr sogar; es gab auch Fälle, wo sie sogar auf mich +stolz war. Aber Ihr Fräulein Schwester hat sie trotzdem nicht ertragen. +Und wie war es möglich, daß sie riskiert hatte, solch eine Schönheit in +ihr Haus als Gouvernante zu nehmen! Ich erkläre es mir dadurch, daß +Marfa Petrowna eine feurige und empfängliche Frau war, und daß sie sich +ganz einfach selbst in Ihre Schwester verliebt, -- buchstäblich verliebt +hatte. Nun, und Awdotja Romanowna hat selbst den ersten Schritt getan, +-- ob Sie mir glauben oder nicht? Können Sie sich denken, daß Marfa +Petrowna sogar zuerst auf mich wegen meines ständigen Schweigens über +Ihre Schwester böse wurde, weil ich mich gegen ihre ewigen und +verliebten Lobsprüche auf Awdotja Romanowna gleichgültig verhielt? Ich +begreife selbst nicht, was sie eigentlich wollte! Und selbstverständlich +erzählte Marfa Petrowna alles, meine ganze Vergangenheit Awdotja +Romanowna. Sie hatte die unglückliche Eigenschaft, allen unsere ganzen +Familiengeheimnisse zu erzählen und vor allen ständig über mich zu +klagen; wie sollte sie da solch eine neue und schöne Freundin damit +verschonen? Ich nehme selbst an, daß zwischen ihnen kein anderes +Gespräch geführt wurde, als über mich, und zweifellos bekam Awdotja +Romanowna alle diese finsteren geheimnisvollen Märchen zu hören, die +über mich im Umlauf sind ... Ich wette, daß Sie auch irgend etwas +derartiges schon gehört haben.« + +»Ich habe etwas gehört. Luschin beschuldigte Sie, daß Sie sogar die +Ursache des Todes eines Kindes waren. Ist es wahr?« + +»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich mit allen diesen +Abgeschmacktheiten in Ruhe,« sagte Sswidrigailoff mit Abscheu und Ekel, +»wenn Sie unbedingt wünschen, über diesen ganzen Unsinn näheres zu +erfahren, will ich es Ihnen einmal erzählen, jetzt aber ...« + +»Man sprach auch von einem Diener auf Ihrem Gute und daß Sie angeblich +auch die Ursache ...« + +»Tun Sie mir den Gefallen, genug davon!« unterbrach ihn Sswidrigailoff +von neuem mit sichtbarer Ungeduld. + +»Ist das nicht derselbe Diener, der Ihnen nach seinem Tode die Pfeife +stopfen wollte ... Sie haben mir noch selbst davon erzählt?« fuhr +Raskolnikoff immer gereizter fort. + +Sswidrigailoff blickte Raskolnikoff aufmerksam an, und jenem schien es, +daß in diesem Blicke, gleich einem Blitze, ein boshaftes Lächeln +aufzuckte, Sswidrigailoff aber bemeisterte sich und antwortete sehr +höflich: + +»Es ist derselbe. Ich sehe, daß auch dies alles Sie außerordentlich +interessiert, und werde es für meine Pflicht halten, bei der ersten +besten Gelegenheit Ihre Neugier in allen Punkten zu befriedigen. Zum +Teufel! Ich sehe, daß ich tatsächlich jemand als eine romantische Person +erscheinen kann. Beurteilen Sie selbst, wie dankbar ich der verstorbenen +Marfa Petrowna sein muß, daß sie Ihrem Fräulein Schwester so viel +Geheimnisvolles und Interessantes über mich erzählt hatte. Ich nehme mir +nicht die Freiheit, über den Eindruck zu urteilen, aber in jedem Falle +war es für mich vorteilhaft. Bei dem ganzen natürlichen Widerwillen +Awdotja Romanownas gegen mich und trotz meines ständigen finsteren und +abstoßenden Aussehens -- tat ich ihr endlich leid, tat ihr der verlorene +Mensch leid. Wenn aber dem Herzen eines jungen Mädchens etwas _leid +tut_, ist dies selbstverständlich für sie am gefährlichsten. Da bekommt +man unbedingt Lust >zu retten<, aufzurütteln, zu überzeugen, zu edleren +Zielen zu rufen und zu neuem Leben und neuer Tätigkeit zu erwecken, -- +nun, es ist bekannt, was man in dieser Art zusammenträumen kann. Ich +habe sofort gemerkt, daß das Vögelchen selbst ins Netz fliegt, und habe +mich meinerseits vorbereitet. Sie scheinen mir das Gesicht zu verziehen, +Rodion Romanowitsch? Hat nichts auf sich, die Sache hat, wie Sie wissen, +mit Kleinigkeiten geendet. -- Zum Teufel, wie viel Wein ich heute +trinke! -- Wissen Sie, ich bedauerte immer von Anfang an, daß es Ihrer +Schwester nicht vergönnt war, im zweiten oder dritten Jahrhundert +unserer Zeitrechnung irgendwo als Tochter eines kleinen regierenden +Fürsten oder eines Regenten oder eines Prokonsuls in Kleinasien zur Welt +zu kommen. Sie würde zweifellos eine von jenen gewesen sein, die das +Martyrium erduldet haben, und sie hätte sicher gelächelt, wenn man ihr +die Brust mit glühenden Zangen gebrannt hätte. Sie hätte dies +absichtlich auf sich genommen, im vierten oder fünften Jahrhundert aber +würde sie in eine Wüste von Ägypten gegangen sein, hätte dort dreißig +Jahre gelebt und sich von Wurzeln, Verzückung und Erscheinungen genährt. +Sie dürstet bloß und verlangt darnach, irgend eine Marter für jemand auf +sich zu nehmen, wenn man ihr aber diese Marter nicht geben wird, so +springt sie möglicherweise zum Fenster hinaus. Ich habe etwas von einem +Herrn Rasumichin gehört. Man sagt, er sei ein vernünftiger Bursche, +worauf auch sein Familienname deutet, wahrscheinlich aus dem geistlichen +Stande, nun mag er Ihre Schwester hüten. Mit einem Worte, mir scheint +es, ich habe sie verstanden, was ich auch mir als eine Ehre anrechne. +Damals aber, das heißt am Anfang der Bekanntschaft, wie Sie selbst +wissen, ist man immer leichtsinniger und dümmer, sieht vieles im +falschen Lichte, sieht nicht das richtige. Zum Teufel, warum ist sie +auch so schön? Ich habe keine Schuld! Mit einem Worte, es begann bei mir +mit einer sehr starken wollüstigen Neigung. Awdotja Romanowna ist +unbeschreiblich und unerhört keusch. Merken Sie sich, ich teile Ihnen +dieses als eine Tatsache über Ihre Schwester mit. Sie ist vielleicht bis +zur Krankhaftigkeit keusch, trotz ihres ganzen großen Verstandes, und +das wird ihr schaden. Bei uns tauchte ein Mädchen Parascha, die +schwarzäugige Parascha auf, die man soeben von einem anderen Gute zu uns +gebracht hatte, als Stubenmädchen, und die ich vorher nie gesehen hatte, +-- sie war sehr hübsch, aber unglaublich dumm, -- sie weinte, erhob über +den ganzen Hof ein Geheul und es passierte ein Skandal. Eines Tages +suchte Awdotja Romanowna nach dem Essen mich absichtlich allein in einer +Allee im Garten auf und _verlangte_ von mir mit blitzenden Augen, daß +ich die arme Parascha in Ruhe lassen sollte. Das war beinahe unser +erstes Gespräch zu zweien. Ich hielt es selbstverständlich für eine +Ehre, ihrem Wunsche nachzukommen, versuchte mich überrascht, beschämt zu +stellen, nun, mit einem Worte, ich spielte meine Rolle nicht übel. Es +begannen Beziehungen, geheimnisvolle Gespräche, Moralpredigten, Bitten, +Flehen, sogar Tränen, -- können Sie es glauben, sogar Tränen! Sehen Sie, +wie stark und weit bei manchen jungen Mädchen die Leidenschaft +Propaganda machen geht! Ich schob selbstverständlich alles auf mein +Schicksal, stellte mich hin als einen nach Erleuchtung Hungernden und +Dürstenden, und schließlich machte ich von dem größten und +unerschütterlichen Mittel, Frauenherzen zu erobern, Gebrauch, von dem +Mittel, das nie und nimmer trügt und das entschieden auf alle, ohne jede +Ausnahme, wirkt. Es ist ein bekanntes Mittel -- die Schmeichelei. Es +gibt nichts schwereres in der Welt, als offener Freimut, und nichts +leichteres, als Schmeichelei. Wenn im Freimut bloß ein hundertster Teil +des Tones falsch ist, so tritt sofort eine Dissonanz und nach ihr -- ein +Skandal ein. Wenn aber in der Schmeichelei alles, bis zum geringsten +Tone falsch ist, auch dann ist sie angenehm und wird mit Vergnügen +angehört, und wenn auch mit grobem Vergnügen, so doch mit Vergnügen. Und +mag die Schmeichelei noch so derb sein, so wird doch unbedingt +wenigstens die Hälfte als Wahrheit geglaubt. Und das gilt für alle +Entwicklungsstufen und Schichten der Gesellschaft. Sogar eine Vestalin +kann man durch Schmeichelei verführen. Von gewöhnlichen Menschen lohnt +sich nicht mal zu reden. Ich kann mich nicht ohne Lachen daran erinnern, +wie ich einmal eine Dame, die ihrem Manne, ihren Kindern und ihren +Tugenden ergeben war, verführt habe. Wie amüsant es war und wie wenig +Arbeit es mir machte! Die Dame war tatsächlich tugendhaft, wenigstens in +ihrer Art. Meine ganze Taktik bestand darin, daß ich jeden Augenblick +von ihrer Keuschheit einfach erdrückt war und mich davor in den Staub +warf. Ich schmeichelte ihr gottlos und kaum, wenn ich von ihr einen +Händedruck, selbst einen Blick erhaschte, machte ich mir Vorwürfe, daß +ich dies ihr mit Gewalt abgenötigt habe, daß sie sich dem widersetzt, +sich dem so widersetzt habe, daß ich sicher nie etwas von ihr erlangt +hätte, wenn ich selbst nicht so verdorben wäre, daß sie in ihrer +Unschuld meine Arglist nicht vorgesehen habe und unabsichtlich, ohne es +selbst zu wissen und zu ahnen, mir entgegengekommen wäre, und +dergleichen mehr. Mit einem Worte, ich erreichte alles, meine Dame aber +blieb im höchsten Grade davon überzeugt, daß sie unschuldig und keusch +wäre und alle Pflichten und Schuldigkeiten erfüllt habe, daß sie aber +zufällig gefallen war. Und wie böse wurde sie auf mich, als ich ihr zu +guter Letzt erklärte, daß meiner aufrichtigen Überzeugung nach, sie +ebenso, wie ich, einen Genuß gesucht habe. Die arme Marfa Petrowna war +auch schrecklich empfänglich für Schmeichelei, wenn ich nur gewollt +hätte, so hätte sie sicher ihr ganzes Vermögen auf meinen Namen noch bei +ihren Lebzeiten umgeschrieben. -- Jedoch, ich trinke viel Wein und +schwatze. -- Ich hoffe, Sie werden nicht böse werden, wenn ich jetzt +erwähne, daß sich auch bei Awdotja Romanowna dasselbe Resultat zu zeigen +begann. Ich war aber selbst dumm und ungeduldig und habe die ganze Sache +verdorben. Awdotja Romanowna mißfiel furchtbar der Ausdruck meiner +Augen, schon einige Male vorher, -- das eine Mal aber ganz besonders, -- +glauben Sie es? Mit einem Worte, in meinen Augen leuchtete immer stärker +und unvorsichtiger ein gewisses Feuer, das sie bange machte und ihr +schließlich verhaßt wurde. Die Einzelheiten lohnen sich nicht zu +erzählen, aber wir kamen auseinander. Da machte ich wieder eine +Dummheit. Ich begann in der gröbsten Weise alle diese Propaganda und +Bekehrungen zu verhöhnen; Parascha erschien wieder auf der Bildfläche, +und nicht allein sie, -- mit einem Worte, es begann ein Sodom. Ach, +Rodion Romanowitsch, wenn Sie nur ein einziges Mal im Leben die Augen +Ihrer Schwester gesehen hätten, wie sie zuweilen zu blitzen verstehen! +Es tut nichts, daß ich jetzt betrunken bin und schon ein ganzes Glas +Wein getrunken habe, ich sage die Wahrheit; ich versichere Sie, daß ich +von diesem Blicke träumte; ich konnte schließlich nicht mehr das +Rauschen ihres Kleides ertragen. Ich dachte in der Tat, daß ich die +Fallsucht bekomme, nie habe ich es mir träumen lassen, daß ich so außer +mir geraten könne. Mit einem Worte, es war notwendig Frieden zu +schließen, aber es war schon unmöglich. Und stellen Sie sich vor, was +ich dann tat? Bis zu welchem Stumpfsinn die rasende Wut einen Menschen +bringen kann! Unternehmen Sie niemals etwas in rasender Wut, Rodion +Romanowitsch. In der Annahme, daß Awdotja Romanowna im Grunde genommen +bettelarm ist -- (ach, entschuldigen Sie, ich wollte nicht das sagen ... +ist es aber nicht einerlei, wenn es nur einen Begriff wiedergibt?) -- +mit einem Worte, daß sie von ihrer Hände Arbeit lebt, -- daß sie ihre +Mutter und Sie unterhalten muß -- (ach, zum Teufel, Sie verziehen wieder +Ihr Gesicht ...) -- beschloß ich ihr mein ganzes Geld anzubieten, -- ich +konnte damals etwa dreißigtausend realisieren, -- damit sie mit mir -- +nun, meinetwegen, -- hierher nach Petersburg fliehen solle. Es versteht +sich, daß ich ihr dabei ewige Liebe, Seligkeit und dergleichen mehr +geschworen habe. Können Sie mir glauben, daß ich damals so von ihr +benommen war, daß, hätte sie zu mir gesagt, -- ermorde oder vergifte +Marfa Petrowna und heirate mich, -- ich es sofort getan hätte! Alles +aber endete mit der Ihnen schon bekannten Katastrophe, und Sie können +sich selbst ausmalen, in was für eine Wut ich geriet, als ich erfuhr, +daß Marfa Petrowna damals diese gemeine Schreiberseele Luschin +aufgegabelt und beinahe die Heirat zustande gebracht hatte, -- was im +Grunde genommen dasselbe gewesen wäre, was auch ich anbot. Ist es etwa +nicht so? Ist es nicht dasselbe? Nicht wahr, es ist dasselbe? Ich merke, +daß Sie mir zu aufmerksam zuhören ... interessierter junger Mann ...« + +Sswidrigailoff schlug voll Ungeduld mit der Faust auf den Tisch. Er war +rot geworden. Raskolnikoff sah deutlich, daß das eine oder die +anderthalb Glas Champagner, den er unmerklich in kleinen Schlucken +getrunken hatte, krankhaft auf ihn gewirkt hatten, -- und beschloß diese +Gelegenheit wahrzunehmen. Sswidrigailoff erschien ihm sehr verdächtig. + +»Nach all dem Gesagten bin ich völlig überzeugt, daß Sie auch hierher +gereist sind, weil Sie meine Schwester im Auge haben,« sagte er zu +Sswidrigailoff offen und ohne sich zu verstellen, um ihn nur noch mehr +zu reizen. + +»Ach, lassen Sie es,« Sswidrigailoff schien sich plötzlich +zusammenzunehmen, »ich habe Ihnen schon gesagt ... und außerdem kann +Ihre Schwester mich gar nicht leiden.« + +»Ja, davon bin ich auch überzeugt, daß sie es nicht kann, aber es +handelt sich jetzt nicht darum.« + +»Sind Sie wirklich überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?« +Sswidrigailoff kniff die Augen zusammen und lächelte spöttisch. -- »Sie +haben recht, sie liebt mich nicht, aber übernehmen Sie nie eine +Gewährleistung in Dingen, die zwischen einem Manne und einer Frau oder +zwischen einem Liebhaber und seiner Geliebten vorgefallen sind. Es gibt +hier stets einen Winkel, der immer der ganzen Welt verborgen bleibt, und +der nur den beiden bekannt ist. Übernehmen Sie die Gewährleistung, daß +Awdotja Romanowna mich stets mit Widerwillen angeschaut hat?« + +»Ich merke aus einigen Ihrer Worte und Andeutungen während Ihrer +Erzählung, daß Sie auch jetzt noch unbedingt Absichten gegen Dunja +haben, und selbstverständlich gemeiner Natur.« + +»Wie! Mir sollten solche Worte und Andeutungen entschlüpft sein?« sagte +erschreckt Sswidrigailoff und in der naivsten Weise, ohne dem Epitheton, +der seinen Absichten beigelegt worden war, die geringste Beachtung zu +schenken. + +»Auch jetzt entschlüpften sie Ihnen. Warum fürchten Sie sich so? Worüber +erschraken Sie jetzt plötzlich?« + +»Ich soll mich fürchten und erschrocken sein? Soll ich etwa vor Ihnen +erschrocken sein? Eher haben Sie Grund, mich zu fürchten, _cher +ami_{[18]}. Ach, was für Unsinn ... Ich bin berauscht, ich sehe es; +beinahe hätte ich mich wieder versprochen. Der Teufel soll den Wein +holen! Heda, Wasser!« + +Er packte die Flasche und schleuderte sie ohne viel Federlesens zum +Fenster hinaus. Philipp brachte ihm Wasser. + +»Dies alles ist Unsinn,« sagte Sswidrigailoff, indem er ein Handtuch +anfeuchtete und es an den Kopf hielt, -- »ich kann Sie aber mit einem +einzigen Worte zurückweisen und Ihren ganzen Verdacht zunichte machen. +Wissen Sie zum Beispiel, daß ich heirate?« + +»Sie haben es mir schon erzählt!« + +»Habe ich es? Das hatte ich vergessen. Damals aber konnte ich es noch +nicht mit Bestimmtheit sagen, denn ich hatte die Braut gar nicht +gesehen; ich hatte bloß die Absicht. Jetzt aber habe ich schon eine +Braut und die Sache ist beschlossen, und wenn ich bloß nicht etwas +Unaufschiebbares zu tun hätte, würde ich Sie unbedingt und sofort zu +einem Besuche dort mitnehmen, -- denn ich möchte Sie um Rat fragen. Ach, +zum Teufel! Ich habe bloß zehn Minuten übrig. Sie sehen selbst nach der +Uhr; ich will es Ihnen übrigens erzählen, denn meine Heirat ist auch +eine interessante Sache, in ihrer Art, versteht sich, -- wohin wollen +Sie? Wollen Sie wieder fortgehen?« + +»Nein, jetzt gehe ich schon nicht mehr fort.« + +»Sie wollen gar nicht fortgehen? Nun, wir wollen es sehen! Ich werde Sie +mitnehmen und Ihnen die Braut zeigen, das ist wahr, aber bloß nicht +jetzt; es ist bald Zeit für Sie zu gehen. Sie gehen nach rechts und ich +nach links. Kennen Sie diese Rößlich? Ich meine, dieselbe Rößlich, bei +der ich jetzt wohne, -- ah? Hören Sie? Nein, denken Sie sich, ich meine +dieselbe, von der man erzählt, daß das kleine Mädchen damals im Winter +... Nun, hören Sie! Hören Sie? Sie ist es auch, die mir diese Geschichte +arrangiert hat; du langweilst dich, -- sagte sie, -- zerstreue dich ein +wenig. Ich bin aber ein finsterer, langweiliger Mensch. Sie meinen, ich +sei fröhlich? Nein, ich bin finster, -- ich füge niemandem Schaden zu, +sitze in der Ecke, und zuweilen kann man mich drei Tage nicht zum Reden +bringen. Die Rößlich ist eine Spitzbübin, sage ich Ihnen; sie hat dabei +folgendes im Sinn, -- mir wird es überdrüssig werden, ich werde meine +Frau verlassen und fortreisen, meine Frau wird dann ihr zufallen, und +sie wird sie in unseren Kreisen und höher hinauf in Umsatz bringen. Sie +sagte mir, -- es gibt solch einen gelähmten Vater, einen verabschiedeten +Beamten, der im Sessel sitzt und das dritte Jahr die Beine nicht rühren +kann; auch eine Mutter ist da, eine sehr vernünftige Dame; der Sohn +dient irgendwo in der Provinz, hilft ihr aber nicht; die eine Tochter +ist verheiratet, sucht aber die Eltern nicht mehr auf; die Eltern haben +für zwei kleine Neffen zu sorgen -- da sie an ihren eigenen Sorgen nicht +genug hatten, -- und haben ihre letzte Tochter, ohne daß sie den Kursus +absolviert hat, aus der Schule genommen; sie werde nach einem Monat erst +sechzehn Jahre alt, also könnte man sie auch nach einem Monat +verheiraten. Ich sollte sie also heiraten. Wir fuhren hin; wie bei ihnen +alles lächerlich zuging; ich stellte mich vor, -- Gutsbesitzer, Witwer, +aus bekannter Familie, mit den und den Verbindungen, vermögend, -- nun, +was ist dabei, daß ich fünfzig Jahre alt bin und jene nicht mal +sechzehn? Wer achtet darauf? Nun, es ist doch verlockend, ah? Nicht +wahr, es ist verlockend, ha! ha! ha! Sie sollten mich gesehen haben, wie +ich mich mit dem Papa und der Mama unterhalten habe! Man müßte etwas +dafür bezahlen, um mich nur damals gesehen zu haben. Sie kommt endlich, +macht einen Knicks, nun, können Sie sich vorstellen, sie war noch in +kurzem Kleidchen, eine noch unaufgebrochene Knospe, sie errötete, +flammte wie die Morgenröte auf -- man hat ihr selbstverständlich alles +mitgeteilt. Ich weiß nicht, wie Sie sich zu Frauengesichtern stellen, +aber meiner Ansicht nach sind diese sechzehn Jahre, diese noch +kindlichen Augen, diese Verlegenheit und Tränen der Beschämtheit -- +besser als jede Schönheit, und sie ist außerdem wie ein Bild. Hellblonde +Haare, in kleinen Locken gekräuselt, volle, rote kleine Lippen, Füßchen +-- mit einem Worte reizend! ... Nun, ich wurde also dort bekannt, +erklärte, daß ich es infolge häuslicher Angelegenheiten eilig habe, und +am anderen Tage, also vorgestern, erhielten wir den Segen. Seit dem +Tage, wenn ich bloß hinkomme, nehme ich sie sofort auf meinen Schoß und +lasse sie nicht herunter ... Nun, sie errötet, ich aber küsse sie alle +Augenblicke; die Mama sagt ihr selbstverständlich, daß ich ihr Mann sei +und daß es sich so gehöre, mit einem Worte, ich habe es dort +ausgezeichnet. Und meine jetzige Lage als Bräutigam ist vielleicht auch +besser, als die eines verheirateten Mannes. Hier ist, was man _la nature +et la vérité_{[19]} nennt! Ha! Ha! Ich habe mich mit ihr ein paarmal +unterhalten, -- das Mädel ist gar nicht dumm; zuweilen blickt sie mich +so verstohlen an, -- daß es mich einfach durchschauert. Wissen Sie, sie +hat ein Gesicht wie die Madonna von Raphael. Die Sixtinische Madonna hat +doch ein phantastisches Gesicht, das Gesicht einer leidenden, im +heiligen Wahne befangenen, ist Ihnen das nicht aufgefallen? Nun, sie hat +ein Gesicht von dieser Art. Kaum hatte man uns den Segen erteilt, als +ich am anderen Tage ihr für anderthalb Tausend Geschenke mitbrachte, -- +einen Brillantenschmuck, ein Perlenhalsband und einen silbernen +Toilettenkasten für Damen -- von dieser Größe, mit allerhand Dingen +darin, so daß ihr Gesichtchen, das Madonnengesichtchen, errötete. Ich +setzte sie gestern auf meinen Schoß hin, habe es aber wahrscheinlich zu +ungeniert getan, -- sie errötete ganz und gar und Tränen kamen zum +Vorschein, sie wollte sich aber nicht verraten und brannte wie im +Fieber. Alle gingen auf einen Augenblick, ich blieb mit ihr ganz allein +zurück, plötzlich fiel sie mir -- zum ersten Male von selbst -- um den +Hals, umarmte mich mit ihren Händchen, küßte mich und schwur, daß sie +mir eine folgsame, treue und gute Frau sein werde, daß sie mich +glücklich machen wolle, daß sie ihr ganzes Leben, jeden Augenblick ihres +Lebens dazu verwenden und alles, alles opfern werde, dafür wünscht sie +bloß _meine Achtung allein_ zu besitzen und weiter, -- sagte sie +>brauche ich nichts, gar nichts, keine Geschenke.< Geben Sie selbst zu, +daß ein derartiges Geständnis unter vier Augen von solch einem +sechzehnjährigen Engel mit jungfräulicher Schamröte und enthusiastischen +Tränen in den Augen anzuhören, -- ziemlich verlockend ist? Nicht wahr, +es ist verlockend? Es ist doch etwas wert, ah? Nicht wahr? Nun ... nun +hören Sie ... fahren wir zu meiner Braut hin ... aber nicht sofort!« + +»Mit einem Worte, dieser unerhörte Unterschied im Alter und in der +Entwicklung erregt gerade in Ihnen die Wollust! Und Sie wollen sie +tatsächlich heiraten?« + +»Wieso? Ich heirate sie unbedingt. Jeder sorgt für sich selbst, und am +lustigsten von allen lebt der, welcher es am besten von allen versteht, +sich selbst zu betrügen. Ha! ha! Haben Sie sich in die Tugend denn ganz +vernarrt? Erbarmen Sie sich meiner, Väterchen, ich bin ein sündhafter +Mensch. He! he! he!« + +»Sie haben doch die Kinder von Katerina Iwanowna untergebracht und +versorgt. Übrigens ... übrigens Sie hatten dazu Ihre Gründe ... ich +begreife jetzt alles.« + +»Kinder habe ich überhaupt gern, ich liebe Kinder sehr,« lachte +Sswidrigailoff. -- »In dieser Hinsicht kann ich Ihnen sogar ein sehr +interessantes Erlebnis erzählen, das auch jetzt noch nicht zu Ende ist. +Am ersten Tage nach meiner Ankunft ging ich in all diesen Kloaken herum, +nun -- nach sieben Jahren stürzte ich mich hinein. Sie haben +wahrscheinlich gemerkt, daß ich keine Eile habe, den Verkehr mit den +früheren Freunden und Bekannten aufzunehmen. Und ich will noch möglichst +lange ohne sie auskommen. Wissen Sie, -- bei Marfa Petrowna auf dem +Lande haben mich die Erinnerungen an alle diese geheimnisvollen Orte und +Winkel, in denen einer vieles finden kann, der es kennt, bis zu Tode +gequält. Hol der Teufel! Das Volk säuft, die gebildete Jugend geht vor +Nichtstun in unmöglichen Träumen und Phantasien auf, wird vor lauter +Theorien zum Krüppel; irgendwoher sind Juden herbeigeströmt und sammeln +Geld, alles übrige aber ergibt sich der Unzucht. Von den ersten Stunden +an wehte mich auch von dieser Stadt ein bekannter Geruch an. Ich geriet +zu einem sogenannten Tanzabend, -- in einer entsetzlichen Kloake -- ich +liebe aber gerade die Kloaken mit etwas Schmutz, -- und +selbstverständlich wurde kankaniert, wie man eigentlich nirgends +kankaniert, und wie man es zu meiner Zeit noch nicht tat. Ja, darin ist +Fortschritt. Plötzlich sehe ich ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren, +sehr nett angezogen, wie sie mit einem Subjekt tanzt; ein anderer, als +ihr vis-a-vis. An der Wand auf einem Stuhle sitzt ihre Mutter. Sie +können sich vorstellen, wie kankaniert wurde! Das Mädchen wurde +beschämt, verlegen, errötete, schließlich faßte sie es als Kränkung auf +und begann zu weinen. Das Subjekt erfaßt sie, fängt an sie +herumzuschwenken und vor ihr zu tanzen, ringsum lachen alle und -- ich +habe das Publikum in solchen Augenblicken gern, mag es auch ein +kankanierendes Publikum sein, -- schreien, -- >Geschieht mit Recht! Man +soll keine Kinder hierherbringen!< Nun, ich pfiff darauf und mich ging +es auch nichts an, ob sie sich logisch oder unlogisch, diese Menschen +da, trösteten! Ich hatte mir meinen Plan sofort zurechtgelegt, setzte +mich neben die Mutter hin und begann damit, daß ich auch fremd wäre, daß +hier alle so unerzogen wären, daß sie nicht verstünden, wahre Vorzüge zu +unterscheiden und die gebührende Achtung zu bewahren. Ich gab zu +verstehen, daß ich viel Geld hätte, schlug vor, in meinem Wagen sie nach +Hause zu bringen. Ich geleitete sie nach Hause und wurde mit ihnen +bekannt, sie sind soeben angekommen und leben in einem kleinen +möblierten Zimmer. Man teilte mir mit, daß sie meine Bekanntschaft, wie +sie, so auch die Tochter bloß als eine große Ehre auffassen könnten; ich +erfuhr, daß sie weder Haus noch Hof haben, und daß sie gekommen sind, um +in irgend einer Behörde eine Sache durchzuführen; ich bot ihnen meine +Dienste und Geld an; ich erfuhr auch, daß sie irrtümlicherweise zu +diesem Tanzabend hingefahren sind, in der Annahme, daß man dort +tatsächlich tanzen lehre. Ich bot meinerseits an, zu der Erziehung des +jungen Mädchens beizutragen, sie französischen Unterricht und +Tanzstunden nehmen zu lassen. Man nimmt es mit Begeisterung auf, hält es +für eine Ehre, und ich verkehre bei ihnen noch immer. -- Wollen Sie mit +mir zu ihnen hinfahren? -- Aber nicht gleich.« + +»Lassen Sie, lassen Sie Ihre niederträchtigen, gemeinen Anekdoten, Sie +verdorbener, gemeiner, wollüstiger Mensch!« + +»Sehen Sie mal den Schiller, unsern Schiller! _Où va-t-elle la vertu se +nicher?_{[20]} Wissen Sie, ich will Ihnen absichtlich solche Dinge +erzählen, um Sie aufschreien zu hören. Es ist ein Genuß!« + +»Und ob, bin ich mir denn jetzt nicht selbst lächerlich?« murmelte +Raskolnikoff voll Wut. + +Sswidrigailoff lachte aus vollem Halse; schließlich rief er Philipp, +bezahlte seine Rechnung und begann sich fertig zu machen. + +»Ich bin jetzt betrunken, _assez causé_!« sagte er, »es ist ein Genuß!« + +»Das glaube ich,« rief Raskolnikoff aus, sich auch erhebend, »ist es +denn für einen abgebrühten Wüstling kein Genuß, von solchen Erlebnissen +zu erzählen, -- wobei er sich schon wieder mit unerhörten Absichten von +derselben Art trägt, -- außerdem unter diesen Umständen und vor solch +einem Menschen, wie ich es bin, ... das muß ein Genuß sein ... Es muß +ihn förmlich heiß machen.« + +»Und wenn die Sache so ist,« antwortete Sswidrigailoff ein wenig +verwundert und betrachtete Raskolnikoff, »wenn dem so ist, so sind Sie +auch selbst ein großer Zyniker. Sie enthalten wenigstens in sich ein +ungeheures Material dazu. Sie können vieles verstehen, vieles ... und, +Sie können auch vieles tun. Jedoch, genug darüber. Ich bedauere +aufrichtig, daß ich mich nicht länger mit Ihnen unterhalten kann, aber +Sie entgehen mir nicht ... Warten Sie nur ...« + +Sswidrigailoff verließ das Restaurant. Raskolnikoff folgte ihm. +Sswidrigailoff war nicht sehr stark berauscht; der Wein war ihm bloß auf +einen Augenblick zu Kopf gestiegen und der Rausch verschwand mit jedem +Augenblick mehr. Er hatte etwas äußerst wichtiges vor und sein Gesicht +verfinsterte sich. Eine Erwartung regte ihn augenscheinlich auf und +beunruhigte ihn. In den letzten Minuten ihres Zusammenseins wurde er +plötzlich gegen Raskolnikoff gröber und spöttischer. Raskolnikoff hatte +alles gemerkt und war auch in Unruhe geraten. Sswidrigailoff schien ihm +sehr verdächtig; er beschloß ihm nachzugehen. + +Sie gelangten auf das Trottoir. + +»Sie müssen nach rechts, ich aber nach links, oder vielleicht auch +umgekehrt, also -- _adieu bon plaisir_{[21]}, auf freudiges +Wiedersehen!« + +Und er ging nach rechts dem Heumarkte zu. + + + V. + +Raskolnikoff folgte ihm. + +»Was ist das!« rief Sswidrigailoff, »ich habe Ihnen doch gesagt ...« + +»Das bedeutet, daß ich Ihnen jetzt folgen werde.« + +»Wa--as?« + +Beide blieben stehen und blickten einander eine Minute lang an, als ob +sie sich messen wollten. + +»Aus allen Ihren halbbetrunkenen Erzählungen,« sagte Raskolnikoff +scharf, »habe ich eins _positiv_ entnommen, daß Sie nicht bloß Ihre +niederträchtigen Pläne gegen meine Schwester nicht aufgegeben haben, +sondern daß Sie sich mehr als je damit abgeben. Ich weiß, daß meine +Schwester heute früh einen Brief empfangen hat. Sie konnten die ganze +Zeit nicht ruhig sitzen ... Sie konnten gewiß irgend eine Frau auf der +Straße aufgegabelt haben, aber das hat nichts zu sagen. Ich will mich +persönlich überzeugen ...« + +Raskolnikoff hätte schwerlich sagen können, was er jetzt wünschte, und +wovon er sich persönlich überzeugen wollte. + +»So! Wollen Sie, ich werde sofort die Polizei rufen?« + +»Rufen Sie die Polizei!« + +Wieder standen sie eine Minute lang einander gegenüber. Schließlich +veränderte sich das Gesicht Sswidrigailoffs. Nachdem er sich überzeugt +hatte, daß Raskolnikoff seine Drohung nicht fürchtete, nahm er plötzlich +eine sehr lustige und freundliche Miene an. + +»Wie sonderbar Sie sind! Ich habe absichtlich mit Ihnen kein Wort über +Ihre Sache gesprochen, obwohl mich selbstverständlich die Neugier plagt. +Es ist eine phantastische Geschichte. Ich hätte es bis auf ein andermal +verschoben, aber wirklich, Sie sind fähig, einen Toten zu reizen ... +Nun, gehen wir, ich sage Ihnen aber im voraus, -- ich gehe jetzt bloß +auf einen Augenblick nach Hause, um Geld zu holen; dann schließe ich die +Wohnung ab, nehme eine Droschke und fahre für den ganzen Abend auf die +Insel. Wollen Sie mir da folgen?« + +»Ich gehe vorläufig in die Wohnung mit, und auch nicht zu Ihnen, sondern +zu Ssofja Ssemenowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht beim +Begräbnis war.« + +»Tun Sie, wie Sie wünschen, aber Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause. +Sie ist mit allen Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer sehr +vornehmen alten Dame, zu einer alten Bekannten von mir aus früheren +Zeiten, die Vorstandsmitglied von einigen Waisenanstalten ist. Ich habe +diese Dame bezaubert, indem ich für alle drei Sprößlinge von Katerina +Iwanowna Geld deponierte und außerdem den Anstalten eine Schenkung +machte; schließlich erzählte ich ihr die Geschichte von Ssofja +Ssemenowna, mit all ihren Einzelheiten, ohne etwas zu verheimlichen. Das +machte einen unbeschreiblichen Eindruck. Darum wurde auch Ssofja +Ssemenowna für heute noch in das --sche Hotel bestellt, wo, aus der +Sommerfrische kommend, meine Dame einstweilen abgestiegen ist.« + +»Tut nichts, ich werde doch zu ihr gehen.« + +»Wie Sie wollen, ich bin Ihnen bloß kein Weggenosse; mir ist's einerlei. +Wir sind gleich da. Sagen Sie mir, ich bin überzeugt, daß Sie mich aus +dem Grunde so argwöhnisch betrachten, weil ich selbst so zartfühlend war +und Sie bis jetzt mit Fragen nicht belästigt habe ... Sie verstehen +mich? Ihnen erschien dies ungewöhnlich; ich gehe eine Wette ein, daß es +so ist! Nun, da soll man noch zartfühlend sein.« + +»Und an der Türe horchen!« + +»Ah, Sie meinen damals!« lachte Sswidrigailoff, »ja, ich würde erstaunt +sein, wenn Sie nach all dem vorher Gesagten dieses nicht erwähnt hätten. +Ha! ha! Ich habe wohl einiges davon verstanden, was Sie damals ... dort +... losgelassen und Ssofja Ssemenowna selbst erzählt haben, aber was ist +es denn eigentlich? Ich bin vielleicht ein vollkommen zurückgebliebener +Mensch und kann schon nichts mehr begreifen. Erklären Sie es mir um +Gotteswillen, mein Lieber! Erleuchten Sie mich mit den allerneuesten +Ideen!« + +»Sie konnten nichts gehört haben, Sie lügen!« + +»Ja, ich meine gar nicht dies, -- obwohl ich übrigens einiges auch +gehört habe, -- nein, ich meine, daß Sie immer ächzen und stöhnen! Der +Schiller in Ihnen wird alle Augenblicke rebellisch. Jetzt sagen Sie +auch, man soll nicht an fremden Türen lauschen. Wenn das Ihre Meinung +ist, so gehen Sie doch und sagen den Behörden, daß mit Ihnen solch ein +Kasus geschehen ist, -- in der Theorie nur ist ein kleiner Irrtum +unterlaufen. Wenn Sie aber überzeugt sind, daß man bei fremden Türen +nicht lauschen darf, aber alte Weiber zu seinem Vergnügen umbringen +kann, so fahren Sie schnell irgendwohin nach Amerika! Fliehen Sie, +junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit dazu. Ich sage es Ihnen +aufrichtig. Haben Sie etwa kein Geld? Ich will Ihnen zur Reise geben.« + +»Ich denke gar nicht daran,« unterbrach ihn Raskolnikoff mit +Widerwillen. + +»Ich verstehe Sie; Sie brauchen sich übrigens keine Mühe zu geben, -- +wenn Sie nicht wollen, sprechen Sie doch nicht. Ich verstehe, was für +Fragen in Ihnen auftauchen, -- etwa moralische? Die Bedenken eines +Staatsbürgers und Menschen? Lassen Sie sie lieber fallen; wozu brauchen +Sie jetzt diese Fragen und Bedenken? He--he--he! Darum, weil Sie immer +noch Staatsbürger und Mensch sind? Wenn das der Fall ist, so sollten Sie +sich auch nicht hineingemischt haben; Sie sollten dann auch so etwas +nicht unternommen haben. Nun, erschießen Sie sich; was, oder Sie haben +keine Lust dazu?« + +»Sie wollen mich, wie es mir scheint, absichtlich reizen, damit Sie mich +jetzt loswerden ...« + +»Sie sind ein komischer Kauz, wir sind ja schon da, bitte steigen Sie +die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Ssofja Ssemenowna, +Sie sehen, es ist niemand da! Sie glauben nicht? Fragen Sie +Kapernaumoff, sie gibt ihnen den Schlüssel ab. Da ist auch Madame de +Kapernaumoff selbst. Was? Sie ist ein wenig taub. Ist fortgegangen? +Wohin? Nun, Sie haben es jetzt gehört! Sie wird erst vielleicht spät am +Abend zurückkehren. Nun, kommen Sie jetzt zu mir. Sie wollen doch auch +zu mir kommen? Wir sind da. Madame Rößlich ist nicht zu Hause. Diese +Frau hat ewig etwas vor, aber sie ist eine gute Frau, ich versichere Sie +... sie würde Ihnen vielleicht von Nutzen sein, wenn Sie ein wenig +vernünftig sein würden. Nun, Sie sehen, -- ich nehme aus dem +Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier, -- sehen Sie, wie viel +ich noch übrig habe! -- und dieses wandert heute noch zu einem Bankier. +Haben Sie gesehen? Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Der +Schreibtisch wird abgeschlossen, die Wohnung ebenfalls, und wir sind +wieder auf der Treppe. Wollen wir eine Droschke nehmen? Ich fahre doch +hinaus auf die Insel. Wollen Sie nicht ein Stück spazieren fahren? Ich +nehme diese Droschke zur Jelagin-Insel, was? Sie wollen nicht? Haben +doch nicht bis zu Ende ausgehalten? Fahren Sie mit, tut nichts. Es +scheint, ein Regen zieht auf, tut nichts, wir lassen das Verdeck herab +...« + +Sswidrigailoff saß schon im Wagen. Raskolnikoff kam zu der Überzeugung, +daß sein Verdacht wenigstens in diesem Augenblicke ungerecht sei. Ohne +ein Wort zu sagen, drehte er sich um und ging in der Richtung zum +Heumarkte zurück. Hätte er sich wenigstens ein einziges Mal umgedreht, +so würde er gesehen haben, wie Sswidrigailoff nach etwa hundert +Schritten die Droschke fortschickte und sich auf dem Trottoir befand. +Aber er konnte schon nichts mehr sehen und war um die Ecke eingebogen. +Ein tiefer Abscheu zog ihn von Sswidrigailoff fort. »Und ich konnte nur +einen Augenblick irgend etwas von diesem rohen Bösewicht, von diesem +ekelhaften Wüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich aus. +Freilich, Raskolnikoffs Urteil war übereilt und leichtsinnig. Es war +etwas in der ganzen Art Sswidrigailoffs, was ihm wenigstens eine gewisse +Originalität, wenn nicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine +Schwester betraf, war Raskolnikoff dennoch fest überzeugt, daß +Sswidrigailoff sie nicht in Ruhe lassen würde. Aber es wurde ihm jetzt +zu schwer und unerträglich, an dies alles zu denken und es sich zu +überlegen! + +Nach seiner Gewohnheit war er, als er allein geblieben war, schon nach +den ersten zwanzig Schritten in tiefes Nachdenken versunken. Als er die +Brücke betrat, blieb er plötzlich an dem Geländer stehen und begann in +das Wasser zu blicken. Plötzlich stand Awdotja Romanowna hinter ihm. + +Er war ihr am Brückeneingange begegnet, war aber vorbeigegangen, ohne +sie zu sehen. Dunetschka hatte ihn noch nie in dieser Weise auf der +Straße gesehen und war sehr überrascht. Sie blieb stehen und wußte +nicht, ob sie ihn anrufen solle oder nicht? Da bemerkte sie +Sswidrigailoff, der eilig aus der Richtung des Heumarktes kam. + +Er schien sich ihr geheimnisvoll und vorsichtig zu nähern. Er betrat +nicht die Brücke, sondern blieb seitwärts auf dem Fußsteig stehen und +gab sich alle Mühe, daß Raskolnikoff ihn nicht bemerke. Dunja hatte er +schon lange bemerkt und begann ihr Zeichen zu geben. Ihr schien es, als +bäte er sie mit seinen Zeichen, den Bruder nicht anzurufen und ihn in +Ruhe zu lassen. + +Dunja tat auch so. Sie ging still um den Bruder herum und näherte sich +Sswidrigailoff. + +»Gehen wir schneller,« flüsterte ihr Sswidrigailoff zu. »Ich möchte +nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft wisse. Ich sage +Ihnen im voraus, daß ich mit ihm unweit von hier in einem Restaurant +gesessen habe, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und ich wurde ihn mit +Mühe los. Er weiß aus irgend einem Grunde von meinem Briefe an Sie und +argwöhnt etwas. Sie haben ihm sicher nichts gesagt? Wenn Sie es aber +nicht gesagt haben, wer dann?« + +»Jetzt sind wir schon um die Ecke,« unterbrach ihn Dunja, »jetzt kann +mein Bruder uns nicht sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich mit Ihnen nicht +weiter gehen werde. Sagen Sie mir alles gleich hier; man kann das alles +auch auf der Straße sagen.« + +»Erstens kann man dies auf keinen Fall auf der Straße sagen; zweitens, +müssen Sie auch Ssofja Ssemenowna anhören; drittens, will ich Ihnen +einige Dokumente zeigen ... Nun und schließlich, wenn Sie nicht +einverstanden sind, zu mir zu kommen, so weigere ich mich, irgend welche +Erklärungen zu geben und gehe sofort weg. Dabei bitte ich Sie, nicht zu +vergessen, daß das sehr interessante Geheimnis Ihres geliebten Bruders +sich vollkommen in meinen Händen befindet.« + +Dunja blieb unentschlossen stehen und sah Sswidrigailoff mit einem +durchbohrenden Blicke an. + +»Was fürchten Sie,« bemerkte er ruhig, »eine Stadt ist kein Dorf. Und im +Dorfe schon haben Sie mir mehr Schaden, als ich Ihnen, zugefügt, hier +aber ...« + +»Ist Ssofja Ssemenowna benachrichtigt?« + +»Nein, ich habe ihr kein Wort darüber gesagt und bin auch nicht ganz +sicher, ob sie jetzt zu Hause ist. Sie ist aber wahrscheinlich zu Hause. +Sie hat heute ihre Stiefmutter beerdigt, -- das ist kein Tag, an dem man +Besuche macht. Vorläufig will ich mit niemanden über diese Sache reden +und bereue sogar teilweise, daß ich Ihnen davon mitgeteilt habe. Die +geringste Unvorsichtigkeit ist in diesem Falle einer Denunzierung +gleich. Ich wohne hier in diesem Hause da, wir nähern uns schon meiner +Wohnung. Das ist der Hausknecht von unserem Hause; der Hausknecht kennt +mich sehr gut; da grüßt er auch; er sieht, daß ich mit einer Dame komme +und hat sicher sich schon Ihr Gesicht gemerkt, das aber kann Ihnen von +Nutzen sein, falls Sie sich sehr fürchten und mir mißtrauen. +Entschuldigen Sie, daß ich so derb rede. Ich habe mir ein paar möblierte +Zimmer gemietet. Ssofja Ssemenowna wohnt Wand an Wand neben mir, auch in +einem möblierten Zimmer. Der ganze Stock ist bewohnt. Warum sollen Sie +sich denn fürchten, wie ein Kind? Oder bin ich so furchterregend?« + +Sswidrigailoffs Gesicht verzog sich zu einem herablassenden Lächeln, +aber es war ihm nicht lächerlich zumute. Sein Herz klopfte und der Atem +stockte ihm in der Brust. Er sprach absichtlich lauter, um seine +steigende Erregung zu verbergen, Dunja hatte gar nicht diese besondere +Erregung bemerkt; sie war zu sehr durch seine Bemerkung gereizt, daß sie +ihn fürchte wie ein Kind und daß er ihr so furchtbar sei. + +»Obwohl ich weiß, daß Sie ein Mensch ... ohne Ehre sind, fürchte ich +mich doch gar nicht vor Ihnen. Gehen Sie voran,« sagte sie scheinbar +ruhig, aber mit bleichem Gesichte. + +Sswidrigailoff blieb an Ssonjas Wohnung stehen. + +»Erlauben Sie mir, mich zu erkundigen, ob sie zu Hause ist ... Sie ist +nicht da. Das ist ein Mißgeschick. Aber ich weiß, daß sie sehr bald +zurückkehren wird. Wenn sie ausgegangen ist, so ist sie höchstens zu +einer Dame wegen der Waisen. Ihre Mutter ist gestorben. Ich habe mich +hier hineingemischt und Anordnungen getroffen. Wenn Ssofja Ssemenowna +nach zehn Minuten nicht zurückkehren sollte, so schicke ich sie selbst +zu Ihnen hin, wenn Sie wünschen, noch heute; und nun, das ist meine +Wohnung. Das sind meine zwei Zimmer. Hinter der Türe wohnt meine Wirtin, +Frau Rößlich. Jetzt blicken Sie bitte hierher, ich will Ihnen meine +Hauptdokumente zeigen, -- aus meinem Schlafzimmer führt diese Tür in +zwei vollkommen leere Zimmer, die zu vermieten sind. Das sind sie ... +dieses müssen Sie etwas aufmerksam betrachten ...« + +Sswidrigailoff bewohnte zwei möblierte ziemlich geräumige Zimmer. +Dunetschka sah mißtrauisch um sich, aber bemerkte nichts besonderes, +weder in der Ausstattung noch in der Lage der Zimmer, obgleich man schon +etwas bemerken konnte, zum Beispiel, daß Sswidrigailoffs Wohnung +zwischen zwei anderen fast unbewohnten Wohnungen lag. Der Eingang zu ihm +war nicht direkt vom Korridor aus, sondern durch zwei fast leere Zimmer +der Wirtin. Vom Schlafzimmer aus zeigte Sswidrigailoff Dunetschka, +nachdem er eine verschlossene Türe geöffnet hatte, eine andere leere +Wohnung, die zu vermieten war. Dunetschka blieb auf der Schwelle stehen, +ohne zu verstehen, warum man sie aufforderte, das anzusehen, aber +Sswidrigailoff beeilte sich, eine Erklärung abzugeben. + +»Sehen Sie dieses zweite große Zimmer. Merken Sie sich diese Türe, sie +ist verschlossen. Neben der Türe steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in +beiden Zimmern. Ich habe ihn aus meiner Wohnung hierher gebracht, um +bequemer zuzuhören. Gleich hinter dieser Tür steht der Tisch von Ssofja +Ssemenowna; dort saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Ich aber +lauschte hier, auf dem Stuhl sitzend, zwei Abende nacheinander und beide +Male gegen zwei Stunden, -- und selbstverständlich konnte ich einiges +erfahren, was meinen Sie?« + +»Sie haben gelauscht?« + +»Ja, ich habe gelauscht, jetzt wollen wir zu mir gehen; hier kann ich +Ihnen keinen Platz anbieten.« + +Er führte Awdotja Romanowna in das erste Zimmer zurück, das ihm als +Salon diente, und bat sie, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich ans +andere Ende des Tisches hin, wenigstens zwei Meter von ihr entfernt, +doch in seinen Augen leuchtete schon dasselbe Feuer, das einst +Dunetschka so erschreckt hatte. Sie zuckte zusammen und blickte sich +noch einmal mißtrauisch um. Ihre Bewegung war unwillkürlich; sie wollte +offenbar ihr Mißtrauen nicht zeigen. Aber die Lage von Sswidrigailoffs +Wohnung hatte sie schließlich überrascht. Sie wollte ihn fragen, ob +wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, aber sie frug ... aus Stolz nicht. +Außerdem war in ihrem Herzen ein anderer unermeßlich größerer Kummer, +als die Angst für sich. Sie litt unerträglich. + +»Hier haben Sie Ihren Brief,« begann sie und legte den Brief auf den +Tisch. -- »Ist es denn möglich, was Sie schreiben? Sie deuten ein +Verbrechen an, das angeblich mein Bruder verübt hat. Sie deuten es zu +klar an, Sie dürfen jetzt keine Ausreden gebrauchen. Sie sollen auch +wissen, daß ich vor Ihnen schon von diesem dummen Märchen gehört habe, +und keinem einzigen Worte davon glaube. Es ist ein niederträchtiger und +lächerlicher Verdacht. Ich kenne die Geschichte, und wie und warum sie +entstanden ist. Sie können keine Beweise haben. Sie haben versprochen, +es mir zu beweisen, -- reden Sie doch! Aber Sie sollen im voraus wissen, +daß ich Ihnen nicht glaube! Ich glaube nicht!« + +Dunetschka sagte dies sehr schnell, und auf einen Augenblick stieg ihr +das Blut ins Gesicht. + +»Wenn Sie nicht glauben würden, könnte es denn passiert sein, daß Sie es +riskiert hätten, allein zu mir herzukommen? Warum sind Sie denn +gekommen? Aus bloßer Neugier?« + +»Quälen Sie mich nicht, sprechen Sie, sprechen Sie!« + +»Es ist nicht zu leugnen, daß Sie ein tapferes Mädchen sind. Bei Gott, +ich dachte, daß Sie Herrn Rasumichin bitten werden, Sie hierher zu +begleiten. Aber er war weder mit Ihnen noch in Ihrer Nähe, ich habe mich +umgesehen, -- das ist kühn; Sie wollten also Rodion Romanowitsch +schonen. Ach, alles ist an Ihnen göttlich ... Was Ihren Bruder +anbetrifft, was soll ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn soeben selbst +gesehen. Wie er aussieht?« + +»Ihre Gründe ruhen doch nicht darauf allein?« + +»Nein, nicht darauf, sondern auf seinen eigenen Worten. Er war zweimal +nacheinander hierher zu Ssofja Ssemenowna gekommen. Ich habe Ihnen +gezeigt, wo sie gesessen haben. Er hat ihr eine volle Beichte abgelegt. +Er ist ein Mörder. Er hat eine alte Beamtenwitwe, eine Wucherin +ermordet, bei der er auch selbst Sachen versetzt hatte; er hat auch ihre +Schwester, eine Händlerin, dem Namen nach Lisaweta, ermordet, die +zufällig während der Ermordung der Schwester eingetreten war. Er hat sie +beide mit einem Beile, das er mitgebracht hatte, erschlagen. Er hatte +sie getötet, um sie zu berauben, und hat auch geraubt, -- er hat Geld +und einige Sachen genommen ... Er hat das alles selbst Wort für Wort +Ssofja Ssemenowna mitgeteilt, die allein auch sein Geheimnis kennt, die +aber an dem Morde weder durch Tat noch Wort teilgenommen hat und die im +Gegenteil ebenso sich entsetzte, wie auch Sie jetzt. Seien Sie ruhig, +sie wird ihn nicht verraten.« + +»Das kann nicht sein!« murmelte Dunetschka mit blassen trockenen Lippen; +sie rang nach Atem, »es kann nicht sein, es gibt keinen, nicht den +geringsten Grund, keinen Anlaß ... Das ist Lüge! Eine Lüge!« + +»Er hat geraubt, das ist der ganze Grund. Er hat Geld und Sachen +genommen. Es ist wahr, er hat nach seinem eigenen Geständnis weder vom +Gelde, noch von den Sachen einen Gebrauch gemacht, sondern sie irgendwo +unter einem Stein versteckt, wo sie auch jetzt noch liegen. Aber +deshalb, weil er nicht wagte, davon Gebrauch zu machen.« + +»Ja, ist es denn zu glauben, daß er stehlen, rauben konnte. Daß er bloß +daran denken konnte?« rief Dunja und sprang von ihrem Stuhle auf. -- +»Sie kennen ihn doch, haben ihn gesehen? Kann er denn ein Dieb sein?« + +Es war, als flehe sie Sswidrigailoff an; sie hatte ihre ganze Furcht +vergessen. + +»Hier gibt es, Awdotja Romanowna, tausende und Millionen von +Kombinationen und Arten. Ein Dieb stiehlt, er weiß dafür auch selbst, +daß er ein Schuft ist; ich hörte aber zum Beispiel von einem sehr +anständigen Herrn, der die Post beraubt hatte; wer weiß, vielleicht +glaubte er auch tatsächlich, daß er eine anständige Sache getan hat. +Selbstverständlich hätte ich es auch selbst nicht geglaubt, ebenso wenig +wie Sie, wenn es mir andere gesagt hätten. Meinen eigenen Ohren aber +habe ich geglaubt. Er hat Ssofja Ssemenowna auch alle Gründe erklärt; +aber auch sie hatte zuerst ihren Ohren nicht getraut, jedoch den Augen, +ihren eigenen Augen hatte sie schließlich glauben müssen. Er hat ihr es +doch persönlich mitgeteilt.« + +»Was waren es für ... Gründe?« + +»Es ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es spielt hierbei, wie +soll ich es Ihnen erklären, eine Art Theorie mit, es ist dasselbe, warum +ich zum Beispiel finde, daß eine einzelne Freveltat erlaubt ist, wenn +der Hauptzweck gut ist. Ein einziges böses und hundert gute Werke! Es +ist auch sicher für einen jungen Mann mit Vorzügen und unermeßlichem +Ehrgeiz kränkend, zu wissen, daß seine ganze Karriere, die ganze +Zukunft, seine Lebensziele sich anders gestalten würden, wenn er bloß +dreitausend hätte; aber er hat sie eben nicht. Fügen Sie dazu, was ihn +reizen mußte: der Hunger, die enge Wohnung, seine Lumpen, das starke +Bewußtsein seiner großen sozialen Not und gleichzeitig die Lage seiner +Schwester und Mutter. Am meisten aber Eitelkeit und Stolz, übrigens aber +Gott weiß, vielleicht auch gute Eigenschaften ... Ich klage ihn nicht +an, glauben Sie; ja und mich geht es auch nichts an. Er hatte auch +hierbei eine eigene Theorie, -- eine annehmbare Theorie, -- nach der die +Menschen in Material und besondere Menschen eingeteilt werden, d. h. +solche Menschen, für die das Gesetz, dank ihrer hohen Veranlagung, nicht +geschrieben ist, die vielmehr selbst Gesetze für die übrigen Menschen, +für das Material, für den Kehricht geben. Es ist nicht übel, eine +passable Theorie, -- _une théorie comme une autre_{[22]}. Vor allem hat +ihn Napoleon begeistert, d. h., eigentlich noch mehr der Umstand, daß es +genialen Menschen auf eine einzelne böse Tat nicht ankam, sondern daß +sie ohne groß nachzudenken, darüber hinwegkamen. Es scheint mir, er hat +sich eingebildet, auch ein genialer Mensch zu sein, -- das will sagen, +er war davon eine Zeitlang überzeugt. Er hat sehr viel gelitten und +leidet jetzt unter dem Gedanken, daß er verstanden hatte, sich eine +Theorie auszudenken, aber nicht imstande war, ohne Nachdenken darüber +hinwegzukommen und somit kein genialer Mensch sei. Und das ist für einen +jungen Mann voll Ehrgeiz erniedrigend genug, in unserem Zeitalter +besonders ...« + +»Und Gewissensbisse? Sie sprechen ihm also jedes sittliche Gefühl ab? +Ja, ist es denn so?« + +»Ach, Awdotja Romanowna, jetzt hat sich bei ihm alles getrübt, d. h., er +war übrigens wohl nie in völliger Ordnung. Die Russen sind überhaupt +großangelegte Naturen, Awdotja Romanowna, sie sind ebenso großangelegt, +wie ihr Land und haben eine äußerst starke Neigung zum Phantastischen, +Extravaganten; es ist aber ein Unglück, großangelegt zu sein, ohne +wirklich genial zu sein. Erinnern Sie sich, wie viel wir in dieser Art +und über dieses Thema gesprochen haben, wenn wir Abends auf der Terrasse +im Garten jedesmal nach dem Essen saßen. Sie haben mir auch dieses +Großangelegtsein vorgeworfen. Wer weiß, vielleicht sprachen wir gerade +in der Zeit darüber, als er hier lag und über dasselbe grübelte. Bei uns +in der gebildeten Gesellschaft gibt es doch keine besonders heiligen +Überlieferungen, Awdotja Romanowna, -- kommt wohl vor, daß sich jemand +irgendwie es aus den Büchern zusammenstellt ... oder etwas aus alten +Chroniken hervorholt. Aber das sind doch meistenteils Gelehrte und, +wissen Sie, in ihrer Art alle Schlafmützen, so daß es sogar für einen +Mann aus der Gesellschaft unpassend ist. Übrigens, meine Ansichten +kennen Sie im allgemeinen, ich klage entschieden niemand an. Ich bin +selbst Nichtstuer und halte mich daran. Wir haben ja mehr als einmal +darüber gesprochen. Ich hatte sogar das Glück, Sie für meine Meinungen +zu interessieren ... Sie sind sehr blaß, Awdotja Romanowna!« + +»Ich kenne seine Theorie. Ich habe seinen Artikel in der Zeitschrift +über Menschen, denen alles erlaubt ist, gelesen ... Rasumichin hat ihn +mir gebracht ...« + +»Herr Rasumichin? Den Artikel Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Gibt +es solch einen Artikel? Ich wußte es nicht. Das ist interessant! Aber +wohin wollen Sie denn, Awdotja Romanowna!« + +»Ich will Ssofja Ssemenowna sehen,« sagte Dunetschka mit schwacher +Stimme. -- »Wie kann ich zu ihr kommen? Sie ist vielleicht +zurückgekommen; ich will sie unbedingt sofort sehen. Mag sie ...« + +Awdotja Romanowna konnte nicht zu Ende sprechen; der Atem verging ihr +buchstäblich. + +»Ssofja Ssemenowna wird vor Anbruch der Nacht nicht zurückkehren. Ich +nehme es an. Sie mußte gleich zurückkommen, sonst kommt sie sehr spät +...« + +»Ah, also du lügst! Ich sehe ... du hast gelogen ... du hast alles +gelogen! ... Ich glaube dir nicht! Ich glaube nicht! Ich glaube nicht!« +schrie Dunetschka in wahrer Wut und verlor vollkommen den Kopf. + +Sie fiel fast ohnmächtig auf einen Stuhl hin, den Sswidrigailoff sich +beeilte, ihr unterzuschieben. + +»Awdotja Romanowna, was ist mit Ihnen, kommen Sie zu sich! Hier ist +Wasser! Trinken Sie einen Schluck ...« + +Er bespritzte sie mit Wasser. Dunetschka fuhr zusammen und kam zu sich. + +»Es hat stark gewirkt!« murmelte Sswidrigailoff vor sich hin und sein +Gesicht verdüsterte sich. -- »Awdotja Romanowna, beruhigen Sie sich! +Vergessen Sie nicht, daß er Freunde hat. Wir werden ihn retten, +herausreißen. Wenn Sie es wollen, bringe ich ihn ins Ausland? Ich habe +Geld; in drei Tagen verschaffe ich einen Reisepaß. Und was das +anbetrifft, daß er getötet hat, so wird er noch so viel Gutes tun, so +daß dies alles sich ausgleichen wird; beruhigen Sie sich. Er kann noch +ein großer Mann werden. Wie geht's mit Ihnen? Wie fühlen Sie sich?« + +»Sie böser Mensch! Er verspottet es noch. Lassen Sie mich ...« + +»Wohin? Wohin wollen Sie?« + +»Zu ihm. Wo ist er? Sie wissen es? Warum ist diese Tür verschlossen? Wir +sind durch diese Tür hereingekommen und jetzt ist sie verschlossen. Wann +haben Sie sie abschließen können?« + +»Man konnte doch nicht durch alle Zimmer schreien, was wir hier +sprachen. Ich spotte gar nicht; ich bin bloß überdrüssig, diese Sprache +zu führen. Nun, wohin wollen Sie in diesem Zustande gehen? Oder wollen +Sie ihn verraten? Sie bringen ihn in Wut und er wird sich selbst +anzeigen. Sie sollen wissen, daß man ihn schon verfolgt, daß man auf +seine Spur gekommen ist. Sie werden ihn bloß verraten. Warten Sie, -- +ich habe ihn gesehen und mit ihm soeben gesprochen; man kann ihn noch +retten. Warten Sie, setzen Sie sich, überlegen wir es zusammen. Ich habe +Sie auch darum gerufen, um mit Ihnen allein darüber zu sprechen und +alles gut zu überlegen. Ja, setzen Sie sich doch!« + +»Wie können Sie ihn retten? Kann man ihn denn retten?« + +Dunja setzte sich. Sswidrigailoff setzte sich neben sie. + +»Das alles hängt von Ihnen ab, von Ihnen, von Ihnen allein,« begann er +mit funkelnden Augen, fast im Flüstertone, verwirrt und manche Worte vor +Erregung nicht aussprechend. + +Dunja wich erschrocken vor ihm zurück. Er zitterte auch am ganzen +Körper. + +»Sie ... ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet! Ich ... ich +werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich werde ihn sofort ins +Ausland senden, ich selbst nehme den Reisepaß, zwei Reisepässe. Den +einen für ihn, den anderen für mich. Ich habe Freunde; ich habe +Geschäftsleute an der Hand ... Wollen Sie? Ich will auch für Sie einen +Reisepaß nehmen ... für Ihre Mutter ... wozu brauchen Sie Rasumichin? +Ich liebe Sie auch ... Ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den +Saum Ihres Kleides küssen, lassen Sie mich! Lassen Sie mich! Ich kann +nicht hören, wie es rauscht. Sagen Sie zu mir, -- tue das, und ich will +es tun! Ich will alles tun! Ich will das Unmöglichste tun! Woran Sie +glauben, will ich auch glauben! Ich will alles, alles tun! Sehen Sie +mich, sehen Sie mich nicht so an! Wissen Sie es auch, daß Sie mich töten +...« + +Er fing selbst an zu phantasieren. Mit ihm war plötzlich etwas +geschehen, als wäre es ihm zu Kopfe gestiegen. Dunja sprang auf und +stürzte zur Türe. + +»Öffnen Sie! Öffnen Sie!« schrie sie durch die Türe, als riefe sie +jemand zu Hilfe und rüttelte an der Türe. -- »Öffnen Sie doch! Ist denn +niemand da!« + +Sswidrigailoff war aufgestanden und zur Besinnung gekommen. Ein +boshaftes und spöttisches Lächeln zeigte sich langsam auf seinen noch +bebenden Lippen. + +»Niemand ist dort zu Hause,« sagte er leise und mit Nachdruck, »die +Wirtin ist fortgegangen, und es ist unnütze Mühe, so zu schreien, -- Sie +regen sich bloß unnütz auf.« + +»Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Türe, sofort, du gemeiner +Mensch!« + +»Ich habe den Schlüssel verloren und kann ihn nicht finden.« + +»Ah! Also das ist Gewalt!« rief Dunja aus, erblaßte wie der Tod und +stürzte in eine Ecke, wo sie sich schleunigst mit einem Tischchen +schützte, das ihr in die Hand fiel. Sie schrie nicht, aber sie bohrte +sich mit den Blicken an ihren Peiniger fest und verfolgte scharf jede +seiner Bewegungen. Sswidrigailoff rührte sich auch nicht vom Fleck und +stand ihr gegenüber am anderen Ende des Zimmers. Er hatte sich gefaßt, +wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war, wie früher, bleich. Ein +spöttisches Lächeln verließ es nicht. + +»Sie sagten soeben >Gewalt<, Awdotja Romanowna. Wenn es Gewalt ist, so +können Sie selbst begreifen, daß ich die nötigen Maßregeln getroffen +habe. Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause; bis zu Kapernaumoffs ist es +sehr weit, fünf leere Zimmer liegen dazwischen. Schließlich bin ich +wenigstens doppelt so stark, als Sie, und außerdem brauche ich nichts zu +befürchten, denn Sie können auch nachher sich nicht beklagen, -- Sie +werden doch nicht Ihren Bruder verraten wollen? Ja, und Ihnen wird auch +niemand glauben, -- warum ist denn ein junges Mädchen allein zu einem +alleinstehenden Herrn gegangen? Wenn Sie also auch Ihren Bruder opfern, +so beweisen Sie noch lange nichts, -- eine Gewalttat ist schwer zu +beweisen, Awdotja Romanowna.« + +»Schuft!« flüsterte Dunja empört. + +»Wie Sie wünschen, merken Sie sich, ich habe es bloß als eine Mutmaßung +ausgesprochen. Meiner persönlichen Überzeugung nach aber haben Sie +vollkommen recht, -- eine Gewalttat ist eine Schändlichkeit. Ich sagte +es bloß, um zu beweisen, daß Ihr Gewissen nichts verliert, wenn Sie ... +wenn Sie sich sogar entschließen sollten, Ihren Bruder freiwillig zu +retten, wie ich es Ihnen angeboten habe. Sie haben sich bloß den +Umständen gefügt, meinetwegen auch der Gewalt nachgegeben, wenn es sich +ohne dieses Wort nicht auskommen läßt. Denken Sie darüber nach; das +Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter liegt in Ihren Händen. Ich will +aber Ihr Sklave sein ... mein ganzes Leben ... ich will hier Ihre +Entscheidung erwarten ...« + +Sswidrigailoff setzte sich auf das Sofa hin, etwa acht Schritte von +Dunja entfernt. Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel an seinem +unerschütterlichen Entschlusse. Außerdem kannte sie ihn ... + +Plötzlich holte sie aus ihrer Tasche einen Revolver hervor, spannte den +Hahn und ließ die Hand mit dem Revolver auf den Tisch sinken. +Sswidrigailoff sprang von seinem Platz auf. + +»Aha! So ist die Geschichte!« rief er verwundert aus und lächelte +hämisch. »Nun, das ändert vollkommen die Sache! Sie erleichtern mir +wesentlich die Sache, Awdotja Romanowna! Ja, woher haben Sie sich diesen +Revolver verschafft? Etwa von Herrn Rasumichin? Bah! Der Revolver gehört +ja mir! Ein alter Bekannter von mir! Und ich habe ihn damals so gesucht! +... Unser Schießunterricht auf dem Lande, den ich die Ehre hatte, zu +erteilen, ist nicht unnütz gewesen.« + +»Es ist nicht dein Revolver, sondern Marfa Petrownas, die du ermordet +hast, du Bösewicht! Du hattest nichts eigenes in ihrem Hause. Ich nahm +ihn, als ich zu ahnen begann, wozu du fähig bist. Wage bloß einen +Schritt zu machen und ich schwöre dir, -- ich erschieße dich!« + +Dunja war außer sich. Den Revolver hielt sie bereit. + +»Nun, und Ihr Bruder? Ich frage aus Neugier?« sagte Sswidrigailoff und +stand immer noch auf derselben Stelle. + +»Zeige ihn an, wenn du willst! Nicht vom Platze! Rühr dich nicht! Ich +werde schießen! Du hast deine Frau vergiftet, ich weiß es, du bist +selbst ein Mörder!« + +»Sind Sie fest davon überzeugt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?« + +»Du hast! Du hast mir es selbst angedeutet; du hast mir von Gift +gesprochen ... ich weiß, du hast dir Gift verschafft ... Du hattest +alles vorbereitet ... Du hast es unbedingt getan ... Schuft!« + +»Wenn es auch wahr wäre, so habe ich es doch deinetwegen ... du warst +doch die Ursache!« + +»Du lügst! Ich habe dich stets, stets gehaßt ...« + +»Na, Awdotja Romanowna! Sie scheinen vergessen zu haben, wie Sie in der +Hitze der Propaganda geneigter wurden und dahinschmolzen ... Ich habe es +an den Augen gemerkt, erinnern Sie sich eines Abends, der Mond schien +und eine Nachtigall trillerte?« + +»Du lügst!« in Dunjas Augen funkelte Wut, »du lügst, Verleumder!« + +»Ich lüge? Nun, meinetwegen, ich lüge. Ich habe gelogen. Frauen soll man +an diese Dinge nicht erinnern.« -- Er lächelte halb. -- »Ich weiß, daß +du schießen wirst, du schönes, wildes Tier! Nun, schieße doch!« + +Dunja erhob den Revolver und sah ihn totenblaß, mit kreidebleichen +bebenden Lippen, mit großen schwarzen, feurig funkelnden Augen +entschlossen an und wartete die erste Bewegung von ihm ab. Noch niemals +hatte er sie so schön gesehen. Das Feuer, das in ihren Augen in dem +Augenblick aufleuchtete, als sie den Revolver erhob, schien ihn +verbrannt zu haben, und sein Herz zog sich schmerzlicher zusammen. Er +tat einen Schritt und ein Schuß knallte. Die Kugel streifte seine Haare +und traf die Wand hinter ihm. Er blieb stehen und lachte leise. + +»Eine Wespe hat gestochen! Sie zielt auf den Kopf ... Was ist das? +Blut!« -- Er zog ein Taschentuch hervor, um das Blut abzuwischen, das +ganz fein an seiner rechten Schläfe herunterrann; wahrscheinlich hatte +die Kugel die Haut seines Schädels geritzt. Dunja ließ den Revolver +sinken und sah Sswidrigailoff nicht etwa erschreckt, sondern stutzig an. +Es war, als begreife sie selbst nicht, was sie getan hatte und was +vorgegangen war! + +»Nun, das ging vorbei! Schießen Sie noch einmal, ich warte,« sagte +Sswidrigailoff leise, finster lächelnd. »So kann ich Sie packen, ehe Sie +den Hahn noch einmal aufspannen!« + +Dunetschka fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und erhob wieder den +Revolver. + +»Lassen Sie mich!« sagte sie voll Verzweiflung. »Ich schwöre es Ihnen, +ich werde von neuem schießen ... Ich ... werde Sie erschießen! ...« + +»Nun was ... auf drei Schritte muß man auch treffen können. Nun, wenn +Sie aber mich nicht erschießen ... dann ...« -- Seine Augen funkelten +und er trat noch zwei Schritte näher. + +Dunetschka drückte ab, -- die Waffe versagte! + +»Sie haben nicht gut geladen. Tut nichts! Sie haben noch eine Patrone +drin. Bringen Sie es in Ordnung, ich will warten.« + +Er stand zwei Schritte vor ihr, wartete und sah sie voll wilder +Entschlossenheit mit einem leidenschaftlichen und schweren Blicke an. +Dunja begriff, daß er eher sterben würde, als daß er sie losließ. »Und +sie ... wird ihn jetzt sicher auf zwei Schritte Entfernung töten! ...« + +Plötzlich schleuderte sie den Revolver fort. + +»Hat ihn fortgeworfen!« sagte Sswidrigailoff und holte tief Atem. Etwas +schien mit einem Male sich von seinem Herzen losgelöst zu haben, und es +war vielleicht nicht bloß die Last der Todesangst, -- es war auch +fraglich, ob er sie in diesem Augenblicke empfunden hatte. Es war eine +Erlösung von einem anderen, mehr kummervollen und düsteren Gefühle, das +er selbst nicht in seiner ganzen Macht definieren konnte. + +Er trat an Dunja heran und legte still seinen Arm um ihre Taille. Sie +widersetzte sich ihm nicht, aber sie blickte ihn, am ganzen Körper wie +ein Blatt bebend, mit flehenden Augen an. Er wollte etwas sagen, seine +Lippen aber verzogen sich bloß und er konnte nichts sprechen. + +»Laß mich!« sagte Dunja flehend. + +Sswidrigailoff zuckte zusammen, -- dieses _du_ war in einer anderen +Weise, als vorhin, gesagt. + +»Also du liebst mich nicht?« fragte er leise. + +Dunja schüttelte verneinend den Kopf. + +»Und ... kannst auch nicht? ... Niemals?« flüsterte er verzweifelt. + +»Niemals!« antwortete Dunja im Flüstertone. + +Es war der Moment eines schrecklichen stummen Kampfes in Sswidrigailoffs +Seele. Mit einem unaussprechlichen Blicke sah er sie an. Plötzlich zog +er seine Hand zurück, wandte sich ab, ging schnell zum Fenster und +stellte sich dort hin. + +Noch ein Augenblick verging. + +»Hier ist der Schlüssel zur Türe!« er nahm ihn aus der linken Tasche +seines Mantels hervor und legte ihn auf den Tisch hinter sich, ohne +Dunja anzublicken und ohne sich umzudrehen. -- »Nehmen Sie ihn; gehen +Sie schnell fort! ...« + +Er sah starr zum Fenster hinaus. + +Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen. + +»Schneller! Schneller!« wiederholte Sswidrigailoff, ohne sich zu rühren +und umzudrehen. Aber in diesem »schneller« klang deutlich ein +schrecklicher Ton hindurch. + +Dunja begriff, erfaßte den Schlüssel, stürzte zur Türe, schloß sie eilig +auf und sprang aus dem Zimmer. Nach einer Minute lief sie schon, wie +wahnsinnig, ganz außer sich den Kanal entlang in der Richtung zu der +X-schen Brücke. + +Sswidrigailoff blieb am Fenster noch etwa drei Minuten stehen, wandte +sich endlich langsam um, warf einen Blick ins Zimmer und fuhr sich leise +mit der Hand über die Stirn. Ein merkwürdiges Lächeln verzog sein +Gesicht; es war ein klägliches, trauriges, schwaches Lächeln, ein +Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das schon einzutrocknen begann, +hatte seine Hand beschmutzt; er blickte das Blut zornig an; dann machte +er ein Handtuch naß und wusch sich die Schläfe ab. Der Revolver, den +Dunja von sich geworfen hatte und der zur Türe geflogen war, fiel ihm +plötzlich in die Augen. Er hob ihn auf und besah ihn. Es war ein kleiner +dreiläufiger Taschenrevolver alten Systems; es steckten noch zwei +Patronen darin und eine Kapsel. Einmal konnte man noch daraus schießen. +Er sann eine Weile nach, steckte den Revolver in die Tasche, nahm seinen +Hut und ging hinaus. + + + VI. + +Diesen ganzen Abend bis zehn Uhr zog er in allerhand Wirtshäusern und +Spelunken umher. Irgendwo traf er auch Katja, die einen anderen +Gassenhauer sang, von einem »Schuft und Tyrannen,« der + + »Fing Katja an zu küssen«. + +Sswidrigailoff gab Katja und dem Leiermann, den Chorsängern, den +Kellnern und zwei Schreibern zu trinken. Diese Schreiber hatte er +eigentlich bloß aufgefordert, weil sie beide schiefe Nasen besaßen, -- +die Nase des einen stand nach rechts, die des anderen nach links. Das +hatte Sswidrigailoffs Aufmerksamkeit erregt. Zuletzt schleppten sie ihn +in eine Gartenwirtschaft mit, wo er für sie das Eintrittsgeld bezahlen +mußte. Dieser Garten bestand aus einer dünnen dreijährigen Tanne und +drei Sträuchern. Das Restaurant war im Grunde genommen nur ein +Ausschank, man konnte aber auch Tee erhalten und es standen einige grüne +Tische und Stühle dort. Ein Chor minderwertiger Sänger und ein +betrunkener Deutscher aus München, eine Art Clown, mit roter Nase, der +aber aus irgend einem Grunde sehr niedergeschlagen war, amüsierten das +Publikum. Die Schreiber fingen mit einigen anderen Schreibern einen +Streit an und schickten sich schon an, handgreiflich zu werden. +Sswidrigailoff wurde von ihnen zum Schiedsrichter gewählt. Er waltete +über eine Viertelstunde seines Amtes, aber sie schrien derartig, daß es +nicht die geringste Möglichkeit gab, irgend etwas zu verstehen. Am +wahrscheinlichsten war die Sache so -- einer von ihnen hatte etwas +gestohlen und hatte Zeit gefunden, es sofort an Ort und Stelle einem +Juden zu verkaufen, der sich zufällig eingefunden hatte, aber er wollte +das Geld mit seinem Kameraden nicht teilen; es ergab sich schließlich, +daß der verkaufte Gegenstand ein Teelöffel war, der dem Restaurant +gehörte; man vermißte dort den Löffel und die Sache begann eine +unangenehme Wendung zu nehmen. Sswidrigailoff bezahlte den Löffel, erhob +sich und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte +während der ganzen Zeit keinen einzigen Tropfen Wein getrunken und hatte +in der Gartenwirtschaft sich nur Tee bestellt, und das nur, um überhaupt +etwas zu nehmen. Der Abend war schwül und düster. Gegen zehn Uhr hatte +sich der Himmel mit dunklen Wolken überzogen; es fing an zu donnern und +der Regen strömte nieder. Das Wasser fiel nicht in Tropfen, sondern +peitschte in ganzen Strömen die Erde. Es folgte Blitz auf Blitz. Ganz +durchnäßt kam Sswidrigailoff nach Hause, schloß sich ein, öffnete seinen +Schreibtisch, nahm sein ganzes Geld an sich und zerriß einige Papiere. +Er steckte darauf das Geld in die Tasche, wollte seine Kleider wechseln, +aber nachdem er zum Fenster hinausgeblickt und dem Gewitter und dem +Regen gelauscht hatte, tat er es doch nicht, ergriff seinen Hut und ohne +seine Wohnung abzuschließen, ging er hinaus und direkt zu Ssonja. Sie +war zu Hause. + +Sie war nicht allein; sie hatte die vier Kinder von Kapernaumoff um +sich. Ssofja Ssemenowna gab ihnen Tee zu trinken. Sie begrüßte +Sswidrigailoff schweigend und ehrerbietig, warf einen erstaunten Blick +auf seine durchnäßten Kleider, sagte aber kein Wort. Die Kinder liefen +sofort in unbeschreiblicher Furcht davon. + +Sswidrigailoff setzte sich an den Tisch und bat Ssonja, neben ihm Platz +zu nehmen. Sie schickte sich schüchtern an, ihm zuzuhören. + +»Ssofja Ssemenowna, ich reise vielleicht nach Amerika,« sagte +Sswidrigailoff, »und da wir uns wahrscheinlich zum letzten Male sehen, +bin ich gekommen, einige Anordnungen zu treffen. Haben Sie heute diese +Dame gesehen? Ich weiß, was sie Ihnen gesagt hat, Sie brauchen es mir +nicht zu erzählen,« -- (Ssonja machte eine Bewegung und errötete.) -- +»Diese Leute haben eine bestimmte Manier. Was Ihre Schwestern und Ihren +Bruder anbetrifft, so sind sie untergebracht und das ihnen zukommende +Geld habe ich für jeden gegen Quittung in sicherer Hand deponiert. +Nehmen Sie übrigens diese Quittungen für jeden Fall an sich. Nehmen Sie +sie! Das ist also erledigt. Hier sind drei fünfprozentige Obligationen, +im ganzen dreitausend Rubel. Nehmen Sie das für sich, für sich ganz +allein, und mag es unter uns bleiben, damit niemand etwas davon erfährt. +Das Geld wird Ihnen von Nutzen sein, denn, Ssofja Ssemenowna, ein Leben, +wie Sie es bisher lebten, ist schlimm und Sie haben es nicht nötig.« + +»Sie haben mich mit so vielen Wohltaten überschüttet; auch die Waisen +und die Verstorbene,« stammelte Ssonja, »wenn ich Ihnen bis jetzt so +wenig gedankt habe, so ... halten Sie es nicht ...« + +»Aber bitte, es ist nicht der Rede wert.« + +»Und für dieses Geld danke ich Ihnen sehr, Arkadi Iwanowitsch, aber ich +brauche es jetzt wirklich nicht. Ich kann immer für mich allein sorgen, +halten Sie es nicht für Undank, -- wenn Sie schon gütig sind, so soll +dieses Geld ...« + +»Ihnen, Ssofja Ssemenowna, Ihnen soll es gehören, und bitte ohne viele +Worte, denn ich habe auch keine Zeit dazu. Es wird Ihnen sehr von Nutzen +sein. Rodion Romanowitsch hat zwei Auswege, -- entweder eine Kugel durch +den Kopf oder Sibirien.« -- (Ssonja blickte ihn wild an und erbebte.) -- +»Seien Sie ruhig, ich weiß alles von ihm selbst und bin kein Schwätzer; +werde es niemand sagen. Sie haben gut daran getan, indem Sie ihm +vorschlugen, -- er möge hingehen und sich selbst anzeigen. Das wird ihm +bedeutend nützlicher sein. Nun, wenn der Ausweg Sibirien sein wird, +werden Sie ihm doch folgen? Nicht wahr? Nicht wahr? Und dann wird Ihnen +auch das Geld von Nutzen sein. Für ihn selbst werden Sie es brauchen, +verstehen Sie? Indem ich es Ihnen überreiche, gebe ich es damit doch +ihm. Außerdem haben Sie versprochen, auch die frühere Wirtin Amalie +Iwanowna zu bezahlen; ich habe es gehört. Warum übernehmen Sie immer, +Ssofja Ssemenowna, unüberlegt solche Verpflichtungen? Katerina Iwanowna +war es doch dieser Deutschen schuldig geblieben, und nicht Sie, also +sollten Sie auf die Deutsche pfeifen. In dieser Weise kann man auf der +Welt nicht weiterkommen. Und wenn jemand morgen oder übermorgen nach mir +fragen sollte, -- und man wird sich an Sie wenden, -- so erwähnen Sie +nicht, daß ich jetzt bei Ihnen gewesen bin, und zeigen Sie in keinem +Falle das Geld und sagen Sie niemandem, daß ich es Ihnen gegeben habe. +Und jetzt auf Wiedersehen.« -- Er stand auf. -- »Grüßen Sie Rodion +Romanowitsch. Nebenbei gesagt, -- übergeben Sie vorläufig das Geld +meinetwegen Herrn Rasumichin zur Aufbewahrung. Kennen Sie Herrn +Rasumichin? Sie kennen ihn sicher. Das ist ein kluger Bursche. Bringen +Sie das Geld ihm morgen oder ... wenn Sie Zeit haben, hin. Vorläufig +verstecken Sie es gut.« Er erhob sich. + +Ssonja sprang ebenfalls vom Stuhle auf und blickte ihn erschrocken an. +Sie wollte etwas sagen, etwas fragen, aber sie wagte es nicht gleich und +wußte auch nicht, wie sie es anfangen sollte. + +»... Wie, wollen Sie denn jetzt in solchem Regen ausgehen?« + +»Nun, ich will nach Amerika reisen und soll mich vor einem Regen +fürchten, he! he! Leben Sie wohl, liebe Ssofja Ssemenowna! Leben Sie und +leben Sie lange, Sie werden anderen von Nutzen sein. Ja ... sagen Sie +bitte Herrn Rasumichin, daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie ihm, -- +Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff läßt Sie grüßen, -- mit diesen Worten +sagen Sie es ihm. Sagen Sie es unbedingt.« + +Er ging fort und hinterließ Ssonja erstaunt und erschrocken in einer +unklaren und drückenden Ahnung zurück. + +Man erfuhr später, daß er am selben Abend, in der zwölften Stunde, noch +einen sehr exzentrischen und unerwarteten Besuch gemacht hatte. Der +Regen hatte noch immer nicht aufgehört. Ganz durchnäßt, trat er zwanzig +Minuten nach elf in die kleine Wohnung der Eltern seiner Braut ein. Mit +großer Mühe hatte er sich Einlaß verschafft und zuerst alle in große +Aufregung versetzt; aber Arkadi Iwanowitsch konnte, wenn er wollte, ein +Mann von bezauberndem Benehmen sein, so daß die ursprüngliche, übrigens +sehr naheliegende Annahme der Eltern der Braut, daß Arkadi Iwanowitsch +wahrscheinlich sich irgendwo stark berauscht habe und seiner selbst +nicht mächtig sei, -- von selbst zunichte wurde. Den gelähmten Vater +rollte in einem Sessel die mitleidige Mutter der Braut selbst zu Arkadi +Iwanowitsch herein und begann nach ihrer Gewohnheit mit weitausholenden +Fragen. Diese Frau stellte nie direkte Fragen, sondern lächelte und rieb +sich die Hände zuerst, dann aber, wenn sie etwas unbedingt erfahren +wollte, wie z. B., -- wann Arkadi Iwanowitsch den Wunsch habe, die +Hochzeit zu bestimmen, so begann sie mit den neugierigsten Fragen über +Paris und das dortige Hofleben, um schließlich langsam bis zu ihrer +Wohnung in Petersburg zu gelangen. Zu anderer Stunde wurde dies alles +ruhig hingenommen, aber jetzt war Arkadi Iwanowitsch zu ungeduldig und +wünschte kategorisch seine Braut zu sehen, obgleich man ihm schon bei +seinem Eintritt erklärt hatte, daß sie schon schlafe. Die Braut erschien +selbstverständlich, und Arkadi Iwanowitsch teilte ihr sofort mit, daß er +wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit auf eine Zeit lang Petersburg +verlassen müsse, und aus diesem Grunde ihr fünfzehntausend Rubel in +allerhand Papieren mitgebracht habe; er bat sie, dies als ein Geschenk +von ihm anzunehmen, da er schon längst die Absicht gehabt habe, ihr +diese Kleinigkeit schon vor der Hochzeit zu überreichen. Ein besonderer +logischer Zusammenhang zwischen dem Geschenk und der unverzüglichen +Abreise und der Notwendigkeit, deswegen in der Nacht bei Regen +herzukommen, zeigte sich in keiner Weise bei seinen Erklärungen, jedoch +es verlief alles sehr gut. Sogar die unvermeidlichen Ausrufe von »ach« +und »wie,« das Fragen und Staunen wurden rasch gemäßigt und +zurückgehalten; dafür aber wurde eine überströmende Dankbarkeit an den +Tag gelegt und sogar von den Tränen der vernünftigsten aller Mütter +unterstützt. Arkadi Iwanowitsch stand auf, lachte, küßte die Braut, +streichelte ihre Wangen, wiederholte noch einmal, daß er bald +zurückkommen werde, und als er in ihren Augen eine zwar kindliche +Neugier, aber zugleich eine sehr ernste stumme Frage bemerkte, sann er +eine Weile nach, küßte sie zum zweitenmal und ärgerte sich darüber, daß +das Geschenk unverzüglich zur Aufbewahrung der vernünftigsten aller +Mütter übergeben werden würde. Er ging fort und hinterließ alle in einer +ungewöhnlichen Aufregung. Aber die gutherzige Mama löste sofort im +Flüstertone einige sehr wichtige Bedenken, und zwar, daß Arkadi +Iwanowitsch ein Mann der großen Welt, ein Mann mit Unternehmungen und +großen Verbindungen, ein reicher Mann sei; weiß Gott, was in seinem +Kopfe vorgehe, er habe plötzlich den Entschluß gefaßt, abzureisen, habe +eben plötzlich den Gedanken bekommen, das Geld gegeben, man soll sich +nicht darüber wundern. Gewiß sei es merkwürdig, daß er ganz durchnäßt +war, aber die Engländer seien z. B. noch exzentrischer, überhaupt alle +Menschen aus der höchsten Gesellschaft achteten nicht darauf, was man +von ihnen sagen werde, und genierten sich nicht. Vielleicht gehe er +absichtlich in dieser Weise herum, um zu zeigen, daß er nichts fürchte. +Die Hauptsache aber sei, niemand ein Wort davon zu sagen, denn Gott +weiß, was dabei noch herauskommen könne, das Geld müsse sofort +eingeschlossen werden, und sicher sei es das beste, daß das Mädchen in +der Küche war und nichts gesehen habe, noch wichtiger sei es aber, +nichts, gar nichts dieser Spitzbübin, dieser Rößlich davon zu sagen, und +so ging es in gleicher Weise fort. Sie blieben bis zwei Uhr sitzen und +flüsterten die ganze Zeit. Nur die Braut ging etwas früher schlafen, +über die ganze Sache verwundert und ein wenig traurig. + +Sswidrigailoff wanderte indessen punkt zwölf Uhr über die K.sche Brücke +in der Richtung nach dem --schen Stadtteil. Es hatte zu regnen +aufgehört, jedoch der Wind wehte noch stark. Sswidrigailoff begann zu +zittern, und einen Augenblick sah er mit einer auffallenden Neugier und +fragend das schwarze Wasser der Kleinen Newa an. Als er so über das +Wasser geneigt dastand, fühlte er auf einmal ein unangenehmes +Kältegefühl, er drehte sich um und ging den X.schen Prospekt entlang. Er +wanderte lange, fast eine halbe Stunde, durch diesen endlosen Prospekt, +stolperte ein paarmal in der Dunkelheit auf dem hölzernen Trottoir und +hörte nicht auf, etwas auf der rechten Seite der Straße aufmerksam zu +suchen. Er hatte hier, fast am Ende des Prospekts kürzlich im +Vorbeifahren ein hölzernes, aber geräumiges Gasthaus bemerkt, und sein +Name, soweit er sich erinnern konnte, hatte etwas mit »Adrianopel« zu +tun. Er hatte sich nicht getäuscht, -- dieses Gasthaus in dieser +abgelegenen Gegend war so auffallend, daß es selbst in der Dunkelheit +unmöglich übersehen werden konnte. Es war ein langes hölzernes, +schwarzgewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunde noch Lichter +brannten und ein gewisses Leben zu bemerken war. Er trat ein und fragte +einen im Korridor stehenden, zerlumpten Kerl nach einem Zimmer. Der warf +einen Blick auf Sswidrigailoff, nahm sich zusammen und führte ihn in ein +dumpfes, enges Zimmer, das am Ende des Korridors an einer Ecke unter der +Treppe lag. »Es ist kein anderes da, alle Zimmer sind besetzt.« Der Kerl +blickte ihn fragend an. + +»Gibt es Tee?« fragte Sswidrigailoff. + +»Kann besorgt werden.« + +»Was gibt es noch?« + +»Kalbfleisch, Schnaps, Aufschnitt.« + +»Bring mir Kalbfleisch und Tee.« + +»Sonst keine Wünsche?« fragte der Kerl erstaunt. + +»Nichts mehr.« + +Der Kerl verschwand, ganz verwundert. + +»Das muß ein guter Ort sein,« dachte Sswidrigailoff, »wie kam mir das +nicht in den Sinn. Ich habe wahrscheinlich auch das Aussehen eines +Menschen, der irgendwo aus einem Café chantant kommt und auf dem Wege +schon etwas erlebt hat. Es wäre interessant, zu erfahren, wer hier alles +absteigt und übernachtet.« + +Er zündete ein Licht an und besah sich das Zimmer genauer. Es war eine +ganz kleine Kammer, so niedrig, daß Sswidrigailoff beinahe an die Decke +stieß, mit einem Fenster; ein sehr schmutziges Bett, ein einfacher, +gestrichener Tisch und ein Stuhl nahmen fast den ganzen Raum ein. Die +Wände hatten das Aussehen, als wären sie aus Brettern zusammengeschlagen +und mit alten abgerissenen Tapeten beklebt worden, die so staubig und +beschmutzt waren, daß man ihre Farbe, ursprünglich gelb, erraten mußte, +das Muster aber nicht mehr unterscheiden konnte. Der eine Teil der Wand +und der Decke war schräg abgeschnitten, wie man es gewöhnlich in +Mansarden sieht, hier aber war es wegen der Treppe. Sswidrigailoff +stellte das Licht auf den Tisch, setzte sich auf das Bett und versank in +Gedanken. Aber ein eigentümliches und ununterbrochenes Flüstern im +Nebenzimmer, das zuweilen fast in ein Schreien überging, lenkte seine +Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Flüstern hatte seit dem Augenblicke, als +er im Zimmer eingetreten war, nicht aufgehört. Er begann zu lauschen, -- +jemand schimpfte und machte einem anderen fast weinend Vorwürfe, man +hörte nur eine Stimme; Sswidrigailoff stand auf, verdeckte mit der einen +Hand das Licht und an der Wand zeigte sich sofort eine Ritze; er trat +drauf zu und begann hindurchzusehen. In dem Zimmer, das ein wenig größer +war, als das seine, befanden sich zwei Menschen. Einer von ihnen ohne +Rock, mit einem lockigen Kopfe und rotem erregten Gesichte, stand in +Rednerpose; er hatte die Beine auseinandergespreizt, um das +Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich vor die Brust und warf dem +anderen pathetisch vor, daß er ein Bettler sei und daß er nicht mal +einen Rang habe, daß er ihn aus dem Schmutz herausgezogen habe, und daß +er ihn, wenn er wolle, fortjagen könne und dies alles sehe der Finger +Gottes allein. Der angeschnauzte Genosse saß auf einem Stuhl und hatte +das Aussehen eines Menschen, der sehr gern niesen möchte, aber es +absolut nicht fertig brachte. Er sah zuweilen mit einem trüben +Schafsblicke den Redenden an, aber augenscheinlich hatte er keinen +Begriff davon, worüber jener sprach und höchstwahrscheinlich hörte er es +nicht einmal. Auf dem Tische brannte der Rest eines Lichtes, und eine +fast leere Karaffe Branntwein mit Gläsern, Brot, Gurken und ein +Teegeschirr standen darauf. Nachdem Sswidrigailoff dieses Bild +aufmerksam betrachtet hatte, verließ er teilnahmslos die Ritze in der +Wand und setzte sich wieder auf das Bett hin. + +Der Kerl, der mit Kalbfleisch und Tee gekommen war, konnte sich nicht +enthalten, noch einmal zu fragen, ob nichts weiter gewünscht würde, und +nachdem er wieder eine verneinende Antwort erhalten hatte, ging er +endgültig aus dem Zimmer. Sswidrigailoff stürzte sich über den Tee, um +sich zu erwärmen, und leerte ein Glas, essen konnte er nichts, da er den +Appetit völlig verloren hatte. Er begann sichtlich zu fiebern. Er nahm +seinen Mantel und Jacke ab, hüllte sich in die Decke ein und legte sich +auf das Bett. Er ärgerte sich, -- »es wäre diesmal doch besser, gesund +zu sein,« dachte er und lächelte bitter. Es war im Zimmer dumpf, das +Licht brannte trübe, draußen heulte der Wind, irgendwo in einer Ecke +nagte eine Maus, im ganzen Zimmer überhaupt roch es nach Mäusen und nach +Leder. Er lag und träumte, -- ein Gedanke löste den anderen ab. Es +schien, als wolle er seiner Phantasie eine bestimmte Richtung geben. +»Hinter dem Fenster muß ein Garten sein,« -- dachte er, -- »Bäume +rauschen; was ich in der Nacht nicht liebe, im Sturme und in der +Dunkelheit bringt das Rauschen der Bäume ein unangenehmes Gefühl +hervor!« Und er erinnerte sich, wie er vorhin im Vorbeigehen mit +Widerwillen an den Petrowski-Park gedacht hatte. Dann tauchte in seiner +Erinnerung auch die K.sche Brücke und die Kleine Newa auf, und wieder +überrieselte es ihn kalt, wie vorhin, als er über das Wasser geneigt +stand. + +»Ich habe niemals im Leben das Wasser, nicht mal auf Bildern, geliebt,« +dachte er und lächelte über einen sonderbaren Gedanken. »Jetzt müßte mir +doch diese ganze Ästhetik und der Komfort gleichgültig sein, aber nein, +jetzt gerade werde ich wählerisch, wie ein Tier, das sich seine Stelle +... in ähnlichem Falle aussucht. Ich sollte vorhin in den Petrowski-Park +einbiegen! Ist mir aber zu dunkel, zu kalt erschienen, he! he! Als +suchte ich angenehme Gefühle dabei! ... Ja, warum lösche ich das Licht +nicht aus?« Und er löschte das Licht. »Meine Nachbarn haben sich auch +schlafen gelegt,« dachte er, als er keinen Schein mehr durch die Ritze +sah. -- »Nun, Marfa Petrowna, jetzt wäre es Zeit für Sie, zu erscheinen, +-- es ist dunkel, der Ort sehr passend und ein origineller Augenblick. +Jetzt werden Sie sicher nicht kommen ...« + +Es kam ihm auch in den Sinn, daß er vorhin, eine Stunde bevor Dunja in +seiner Wohnung war, Raskolnikoff empfohlen hatte, sie der Obhut +Rasumichins anzuvertrauen. »Ich habe es damals wirklich mehr gesagt, um +mich selbst zu reizen, was Raskolnikoff auch erraten hat. Dieser +Raskolnikoff ist ein feiner Kopf. Er hat vieles durchgemacht und kann +mit der Zeit etwas Großes werden, wenn der Unsinn in ihm vergangen sein +wird, jetzt aber hat er noch ein _zu großes_ Verlangen zu leben. In +diesem Punkte sind alle diese Leute -- Feiglinge. Nun, mag ihn der +Teufel holen, mag er tun, was er will, was geht es mich an.« + +Er konnte immer noch nicht einschlafen. Allmählich begann vor ihm das +Bild von Dunetschka aufzutauchen, wie sie vorhin aussah, und ein Zittern +fuhr durch seinen Körper. -- »Nein, das muß man jetzt schon lassen,« +dachte er zu sich kommend, »ich muß an etwas anderes denken. Es ist +sonderbar und lächerlich, -- ich habe niemals jemand stark gehaßt, habe +auch niemals besonders gewünscht, an jemand Rache zu nehmen, das ist +doch ein schlimmes Zeichen, ein schlimmes Zeichen! Habe auch nicht +geliebt, mich herumzustreiten und war nie heftig gewesen, -- ist auch +ein schlechtes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin versprochen, -- +pfui, Teufel! Sie hätte aus mir doch etwas machen können! ...« + +Er verstummte wieder und preßte die Zähne aufeinander, -- wieder +erschien ihm Dunetschkas Bild, wie sie nach dem ersten Schuß erschrocken +war, den Revolver sinken ließ und leichenblaß ihn ansah, so daß er sie +zweimal hätte greifen können, ohne daß sie die Hand zur Gegenwehr hätte +erheben können, wenn er selbst sie nicht daran erinnert hätte. Er +erinnerte sich, wie sie ihm in diesem Augenblicke so leid tat, und wie +sich sein Herz zusammengeschnürt hatte ... »Ah! Zum Teufel! Wieder diese +Gedanken, man muß sie alle fallen lassen, ja, fallen lassen!« + +Er verfiel wieder in Schlaf, -- das fieberhafte Zittern ließ nach; da +schien etwas unter der Decke über seine Hand und seinen Fuß zu laufen. +Er zuckte zusammen, -- »pfui, Teufel, das ist ja eine Maus!« dachte er, +»ich habe das Fleisch auf dem Tische stehen gelassen ...« Er wollte +nicht die Decke abwerfen, aufstehen und frieren, da stach ihn schon +wieder etwas am Fuße; er riß die Decke von sich und zündete das Licht +an. Zitternd vor fieberhafter Kälte, bückte er sich, um im Bette +nachzusuchen, -- es war nichts da; er schüttelte die Decke und plötzlich +sprang eine Maus auf das Bettlaken. Er wollte sie fangen; die Maus aber +sprang vom Bette nicht herunter, sondern lief im Zickzack nach allen +Seiten hin, glitt ihm durch die Finger, lief über seine Hand und +verschwand plötzlich unter dem Kissen; er warf das Kissen herunter und +fühlte sogleich, wie sie ihm unter das Hemd sprang und auf seinem Rücken +herumkrabbelte. Er erbebte nervös und erwachte. Im Zimmer war es dunkel, +er lag wie vorhin in der Decke eingewickelt auf dem Bette, hinter dem +Fenster heulte der Wind. »Wie schaurig!« dachte er ärgerlich. Er stand +auf und setzte sich mit dem Rücken gegen das Fenster auf das Bett. +»Lieber schlafe ich gar nicht,« beschloß er. Vom Fenster kam Kälte und +Feuchtigkeit herein; ohne aufzustehen zog er die Decke über sich und +hüllte sich ein. Das Licht steckte er nicht an. Er dachte an nichts und +wollte auch an nichts denken; doch ein Phantasiegebilde nach dem andern +stand vor ihm auf, abgerissene Gedanken ohne Anfang und Ende und ohne +Zusammenhang schwebten ihm vor. Er verfiel in einen Halbschlummer. War +es die Kälte oder die Dunkelheit, war es die Feuchtigkeit oder der Wind, +der hinter dem Fenster heulte und die Bäume rüttelte, -- die in ihm eine +hartnäckige phantastische Neigung und den Wunsch nach Blumen +hervorriefen, -- mit Blumen beschäftigte sich seine Phantasie +ausschließlich. Ihm schwebte ein reizendes Bild vor, -- ein lichter, +warmer, beinahe heißer Tag, ein Festtag, ein Pfingsttag; ein reiches +prachtvolles Landhaus, im englischen Geschmack, bewachsen mit duftenden +Blumen, und umgeben von Blumenbeeten, die um das Haus sich herumzogen, +eine Treppe, umrankt von Schlingpflanzen und umringt von Rosenbüschen; +eine lichte kühle Treppe, bedeckt mit einem prächtigen Teppich und +ringsum geziert mit seltenen Blumen in chinesischen Vasen. Er hatte auf +den Fenstern Sträuße von weißen und zarten Narzissen in Glasvasen, +gefüllt mit Wasser, bemerkt, die auf ihren hellgrünen, dicken und langen +Stengeln starken aromatischen Duft verbreiteten. Er wollte sich gar +nicht mehr von ihnen trennen, endlich stieg er aber doch die Treppe +hinauf und trat in einen großen hohen Saal, und wieder standen hier +überall auf den Fenstern, an der geöffneten Türe nach der Terrasse, auf +der Terrasse selbst, Blumen über Blumen. Die Diele war mit frisch +gemähtem, duftendem Heu bestreut, die Fenster waren geöffnet, eine +frische leichte kühle Luft drang in das Zimmer, Vögel zwitscherten unter +den Fenstern, und mitten im Saale auf einem mit weißem Atlas bezogenen +Tische stand ein Sarg. Dieser Sarg war mit weißem Taft ausgeschlagen und +mit weißen dichten Rüschen benäht. Girlanden aus Blumen umrankten ihn +auf allen Seiten. Ganz in Blumen gebettet lag ein kleines Mädchen in +weißem Tüllkleide; ihre wie aus Marmor gemeißelten Hände waren gefaltet +und an die Brust gepreßt. Ihr aufgelöstes Haar, ein helles Blondhaar, +war naß; ein Kranz aus Rosen umgab ihren Kopf. Das strenge und schon +erstarrte Profil ihres Gesichts war auch wie aus Marmor gemeißelt, in +dem Lächeln auf ihren blassen Lippen lag ein nicht kindliches +grenzenloses Weh, eine stille, herzzerreißende Klage. Sswidrigailoff +kannte dieses Mädchen; weder ein Gottesbild noch brennende Kerzen +standen an diesem Sarge und man vernahm keine Gebete. Das kleine Mädchen +war eine Selbstmörderin, -- sie hatte sich ertränkt. Sie war erst +vierzehn Jahre alt und hatte schon ein gebrochenes Herz, sie war +zugrunde gerichtet durch eine schändliche Tat, die dieses junge +kindliche Bewußtsein mit Entsetzen erfüllt und überfallen, die ihre +engelreine Seele mit unverdienter Schmach bedeckt hatte, und die ihr +einen letzten Schrei der Verzweiflung entriß, der nicht erhört, sondern +mit kaltem Herzen und harter Hand in einer dunklen Nacht, in tiefer +Finsternis, in Kälte, in feuchtem Tauwetter unterdrückt wurde, als der +Wind heulte. + +Sswidrigailoff kam zu sich, stand auf und trat an das Fenster. Er fand +tastend den Riegel und öffnete es. Der Wind stürmte mit aller Kraft in +sein enges Zimmer hinein und bedeckte mit einem Frosthauch sein Gesicht +und die nur mit dem Hemde bedeckte Brust. Hinter dem Fenster war +wirklich ein Garten und zwar ein Vergnügungsetablissement; am Tage +traten wohl hier Sänger auf und es wurde an Tischen Tee serviert. Jetzt +flogen Regentropfen von den Bäumen und Sträuchern zum Fenster herein, +und es war eine Dunkelheit wie in einem Keller, so daß man kaum einige +dunkle Flecken, die Gegenstände vorstellten, unterscheiden konnte. +Sswidrigailoff hatte die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt und +sich hinausgebeugt, und blickte nun schon fünf Minuten, ohne sich +losreißen zu können, in diese Finsternis. Da ertönte in die Nacht hinein +ein Kanonenschuß, ihm folgte ein zweiter. »Ah, das Signal! Das Wasser +steigt!« dachte er. -- »Gegen Morgen wird das Wasser die Straßen +überfluten und die Kellerwohnungen und die Gewölbe überschwemmen, die +Kellerratten werden aus ihren Schlupfwinkeln hervorschwimmen und die +Menschen werden in Wind und Regen, durchnäßt und schimpfend, ihren Kram +in die oberen Stockwerke schleppen ... Um welche Zeit ist es nun?« -- +Und kaum hatte er so gedacht, als aus der Nähe, tickend und wie sich +mächtig beeilend, eine Wanduhr drei Uhr schlug. -- »Aha, nach einer +Stunde wird es schon hell werden! Warum soll ich länger warten? Ich will +lieber sofort hier fort und direkt in den Petrowski-Park gehen; dort +will ich mir ein großes Gebüsch aussuchen, mit Regentropfen so benetzt, +daß, wenn man nur mit einer Schulter drankommt, Millionen von Tropfen +den ganzen Kopf mir überströmen werden ...« Er trat vom Fenster zurück, +schloß es, zündete das Licht an, zog seine Weste und den Mantel an, +setzte den Hut auf und ging mit dem Lichte auf den Korridor hinaus, um +in einer Kammer zwischen allerhand Kram und Lichtstumpfen den +schlafenden Kerl aufzusuchen, ihm das Zimmer zu bezahlen und dann das +Gasthaus zu verlassen. -- »Es ist der beste Augenblick, man könnte ihn +nicht besser wählen!« + +Er ging lange in dem schmalen und langen Korridor herum, ohne jemand zu +finden und wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen +Ecke, zwischen einem alten Schrank und einer Türe, einen sonderbaren +Gegenstand, anscheinend etwas Lebendes, erblickte. Er beugte sich mit +dem Lichte darüber und sah ein Kind, -- ein kleines Kind, -- ein kleines +Mädchen, nicht älter als fünf Jahre, in einem völlig durchnäßten +Kleidchen, zitternd und weinend, daliegen. Sie schien vor Sswidrigailoff +keine Furcht zu haben, blickte ihn mit ihren großen schwarzen Äuglein +voll stillen Staunens an und schluchzte ab und zu, wie Kinder, die lange +geweint, doch aufhören und sich getröstet haben. Das kleine Gesicht des +Mädchens war bleich und abgemagert; sie war vor Kälte fast erstarrt, +aber -- »wie war sie hierher gekommen? Sie mußte sich hier versteckt und +die ganze Nacht nicht geschlafen haben?« Er begann sie auszufragen. Das +Kind wurde plötzlich lebhaft und stammelte etwas sehr schnell in seiner +kindlichen Sprache. Es kam darin etwas von »Mamachen« und das »Mama +Ruten geben wird,« von einer Tasse, die sie zerschlagen habe, vor. Das +Mädchen sprach ununterbrochen; einiges konnte man aus ihrer ganzen +Erzählung herausfinden, -- daß sie nicht geliebt werde, daß ihre Mutter, +eine ewig betrunkene Köchin, wahrscheinlich im Gartenhause selbst, sie +zumeist prügele und ihr Schrecken eingejagt habe; daß das Mädchen der +Mutter eine Tasse zerschlagen habe und so erschrocken wäre, daß sie seit +gestern Abend weggelaufen sei; wahrscheinlich hatte sie sich lange auf +dem Hofe im Regen versteckt, endlich sich ins Haus hineingeschlichen, +sich hinter dem Schrank verkrochen und hatte hier in der Ecke, weinend +und in Nässe, Dunkelheit und Angst davor zitternd, daß man sie tüchtig +verprügeln würde, die ganze Nacht gesessen. Sswidrigailoff nahm sie auf +die Arme, ging in sein Zimmer, setzte sie auf das Bett hin und begann +sie auszukleiden. Ihre zerlöcherten Stiefel auf die nackten Füße +angezogen, waren so feucht, als hätten sie die ganze Nacht in einer +Pfütze gelegen. Nachdem er sie entkleidet hatte, legte er sie ins Bett, +bedeckte und hüllte sie ganz bis zum Kopfe in die Decke. Sie schlief +sofort ein. Nachdem er damit fertig war, versank er wieder in sein +düsteres Nachdenken. + +»Was fällt mir auch ein, mich damit abzugeben!« dachte er plötzlich mit +einem schweren und bitteren Gefühl. -- »Was für ein Unsinn!« Voll Ärger +nahm er das Licht, um hinauszugehen und um jeden Preis den Kerl zu +finden und schneller von hier wegzukommen. -- »Ach, so ein Mädel!« +dachte er fluchend und öffnete schon die Türe, als er sich umkehrte, um +noch einmal zu sehen, ob das Mädchen schlafe und wie sie schlafe? Er hob +vorsichtig die Decke auf. Das Mädchen lag im festen und seligen Schlafe. +Sie war unter der Decke warm geworden, und das Blut war wieder in ihre +blassen Wangen gestiegen. Aber sonderbar, -- diese Röte war greller und +auffallender, als sonst bei Kindern. »Das ist eine fieberhafte Röte,« +dachte Sswidrigailoff, »das ist die Röte nach Weingenuß, es ist, als +hätte man ihr ein ganzes Glas zu trinken gegeben. Ihre roten Lippen +brennen, scheinen zu flammen, aber was ist das?« Ihm schien es +plötzlich, als ob ihre langen schwarzen Wimpern zuckten und blinzelten, +als ob sie sich erhöben, als ob unter ihnen ein schelmisches, scharfes, +nicht in kindlicher Weise zwinkerndes Auge hervorblickte, als ob das +Mädchen nicht schliefe, sich nur so anstelle. Ja, es war auch so, -- +ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, die Mundwinkel zucken, es +ist, als ob sie das Lächeln noch zurückhalten wollte. Nun aber hört sie +auf, sich zurückzuhalten, sie lacht schon, sie lacht deutlich; etwas +Freches und Herausforderndes leuchtet in diesem gar nicht kindlichen +Gesichte; das ist das Laster; das ist das Gesicht einer Kokotte, das +freche Gesicht einer verkäuflichen französischen Kokotte. Jetzt öffnen +sich, ohne jede Verstellung, die beiden Augen, -- sie ruhen auf ihm mit +einem feurigen und schamlosen Blick, sie locken ihn, sie lachen ... +Etwas unendlich Widerliches und Beleidigendes lag in diesem Lachen, in +diesen Augen, in diesem ganzen schamlosen Gesichte des Kindes. »Wie! +Eine fünfjährige!« flüsterte Sswidrigailoff mit wahrem Entsetzen. -- +»Was ... was ist denn das?« -- Nun wendet sie sich ihm mit dem +brennenden Gesichtchen ganz zu, streckt die Arme aus ... »Ah, +Verfluchte!« rief Sswidrigailoff voll Entsetzen und holte seine Hand zum +Schlage aus ... Aber im selben Augenblick erwachte er. + +Er lag im Bette, eingehüllt in die Decke; das Licht war nicht angezündet +und durch das Fenster leuchtete der volle Tag hinein. + +»Ein Albdrücken die ganze Nacht!« Er erhob sich zornig und fühlte, daß +er ganz zerschlagen war; seine Knochen schmerzten ihn. Draußen war ein +dichter Nebel und man konnte nichts unterscheiden. Die Uhr ging auf +fünf; er hatte sich verschlafen! Er stand auf und zog seine Jacke und +den Mantel an, die beide noch feucht waren. Er fühlte in der Tasche nach +dem Revolver, zog ihn heraus und setzte die Kapsel zurecht; dann setzte +er sich hin, nahm aus der Tasche ein Notizbuch hervor und schrieb auf +der ersten Seite mit großer Schrift ein paar Zeilen. Er las sie nochmals +durch, stützte sich auf den Tisch und sann nach. Der Revolver und das +Notizbuch lagen neben seinem Ellbogen. Die erwachten Fliegen krochen auf +den Kalbfleischstücken herum, die er nicht angerührt hatte und die auf +dem Tische standen. Er schaute den Fliegen lange zu und versuchte mit +der freien rechten Hand eine zu fangen. Er bemühte sich lange, konnte +sie aber nicht kriegen. Als er sich zuletzt bei dieser interessanten +Beschäftigung ertappte, kam er zu sich, fuhr zusammen, stand auf und +ging entschlossen aus dem Zimmer. Nach einer Minute war er schon auf der +Straße. + +Ein weißer dichter Nebel lag über der Stadt. Sswidrigailoff ging die +klebrige schmutzige Straße in der Richtung der Kleinen Newa zu. Ihm +schwebten das über Nacht stark gestiegene Wasser der Kleinen Newa, der +Petrowski-Park, nasse Wege, feuchtes Gras, feuchte Bäume und Sträucher, +und schließlich _jenes_ Gebüsch vor ... Voll Ärger begann er die Häuser +zu betrachten, um an etwas anderes zu denken. Weder einen Menschen, noch +eine Droschke traf er auf dem Wege. Trostlos und schmutzig sahen ihn die +grellgelben hölzernen Häuschen mit den geschlossenen Fensterläden an. +Kälte und Feuchtigkeit durchzogen seinen ganzen Körper und ihn begann zu +frösteln. Zuweilen fiel sein Blick auf die Schilder der Kaufläden und +Gemüsekeller, er las jedes aufmerksam. Der hölzerne Fußsteg war schon zu +Ende. Er ging an einem großen steinernen Hause vorbei. Ein schmutziger +durchfrorener Hund mit eingezogenem Schwanze lief ihm über den Weg. Ein +total betrunkener Mann in einem Uniformmantel lag mit dem Gesichte nach +unten quer über den Fußweg. Er betrachtete ihn und ging weiter. Ein +hoher Feuerwehrturm zeigte sich linker Hand. -- »Bah!« dachte er, »das +ist die beste Stelle, wozu der Petrowski-Park? Es geschieht wenigstens +in Gegenwart eines offiziellen Zeugen ...« Er lächelte bei diesem neuen +Gedanken und bog in die N.sche Straße ein. Hier stand ein großes Haus +mit dem Turm. An dem mächtigen verschlossenen Tore des Hauses stand mit +der Schulter daran gelehnt ein kleines Menschenkind in einen grauen +Soldatenmantel eingehüllt und mit einem glänzenden Helm. Es schielte mit +schlaftrunkenem Blick den herantretenden Sswidrigailoff an. Auf seinem +Gesichte sah man den ewigen verdrießlichen Kummer, der sich ausnahmslos +auf allen Gesichtern des jüdischen Volkes eingeprägt hat. Beide, +Sswidrigailoff und der Soldat, betrachteten einander schweigend eine +Weile. Dem Soldaten erschien es schließlich nicht in der Ordnung zu +sein, daß ein Mann nicht betrunken drei Schritte vor ihm stehen blieb, +ihn unverwandt anblickte und nichts sagte. + +»Was wollen Sie denn hier?« sagte er, ohne sich zu rühren und seine +Stellung zu verändern. + +»Ja, nichts, Bruder, guten Tag!« antwortete Sswidrigailoff. + +»Hier ist kein Platz, stehen zu bleiben.« + +»Ich reise, Bruder, ins Ausland.« + +»Ins Ausland?« + +»Nach Amerika.« + +»Nach Amerika?« + +Sswidrigailoff zog den Revolver heraus und spannte den Hahn. Der Soldat +zog die Augenbrauen nach oben. + +»Was, solche Scherze sind hier nicht am Platze!« + +»Warum denn nicht?« + +»Weil das kein Ort dazu ist.« + +»Nun, Bruder, das ist einerlei. Der Ort ist gut; wenn man dich fragen +wird, antworte bloß, daß ich nach Amerika gereist bin.« + +Er legte den Revolver an seine rechte Schläfe an. + +»Man darf das nicht, hier ist nicht der Ort!« sagte der Soldat, und +seine Augen erweiterten sich immer mehr. + +Sswidrigailoff drückte den Hahn ab. + + + VII. + +Am selben Tage um sieben Uhr näherte sich Raskolnikoff der Wohnung +seiner Mutter und Schwester, -- jener Wohnung im Hause von Bakalejeff, +wo sie Rasumichin untergebracht hatte. Der Treppeneingang war von der +Straße aus. Je näher Raskolnikoff kam, desto mehr verlangsamte er seine +Schritte, wie unschlüssig, ob er hineingehen solle oder nicht. Er wäre +jedoch um keinen Preis umgekehrt; sein Entschluß war gefaßt. -- +»Außerdem ist es einerlei, sie wissen ja noch nichts,« dachte er, »und +haben sich schon gewöhnt, mich als einen närrischen Kauz anzusehen ...« +Seine Kleidung war schrecklich, -- ganz beschmutzt, zerrissen und +zerknittert, weil er die ganze Nacht im Regen verbracht hatte. Sein +Gesicht war vor Müdigkeit, durch das schlechte Wetter, aus physischer +Ermattung und infolge eines beinahe vierundzwanzigstündigen Kampfes mit +sich selbst ganz entstellt. Wo er diese ganze Nacht verbracht hatte, +wußte Gott allein; aber sie hatte wenigstens seinen Entschluß +herbeigeführt. + +Er klopfte an die Türe; die Mutter öffnete ihm. Dunetschka war nicht zu +Hause. Auch das Dienstmädchen war um diese Zeit nicht da. Pulcheria +Alexandrowna war zuerst ganz stumm vor freudigem Erstaunen, dann ergriff +sie seine Hand und zog ihn ins Zimmer. + +»Nun, da bist du!« begann sie, und stockte vor Freude. -- »Sei nicht +böse auf mich, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße, -- mit Tränen; ich +lache ja und weine nicht. Du denkst, ich weine? Nein, ich freue mich, +habe aber bloß so eine dumme Angewohnheit, daß mir dann die Tränen +fließen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters, ich weine bei jeder +Gelegenheit. Setz dich doch, mein Lieber, du bist wahrscheinlich müde, +ich sehe es. Ach, wie du beschmutzt bist.« + +»Ich war gestern im Regen fort, Mama ...« begann Raskolnikoff. + +»Aber nein, nein!« unterbrach ihn Pulcheria Alexandrowna eifrig, »du +meinst, ich will dich sofort ausfragen, nach meiner früheren +weiberhaften Gepflogenheit, sei darüber beruhigt. Ich begreife doch, ich +begreife alles, habe mich jetzt an die hiesigen Gebräuche gewöhnt, und +sehe wirklich selbst ein, daß man hier gescheiter ist. Ich habe mir ein +für allemal gesagt, wie kann ich deine Entschlüsse verstehen und von dir +Rechenschaft verlangen? Du hast vielleicht Gott weiß was für Dinge und +Pläne im Kopfe und dir kommen allerhand Gedanken; soll ich dich da immer +anstoßen und fragen, worüber denkst du nach? Ich habe ... Ach, mein +Gott, Ja, was laufe ich denn herum wie eine Besessene ... Just lese ich +deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum dritten Male, Rodja; mir hat +ihn Dmitri Prokofjitsch gebracht. Ich war sehr überrascht, als ich ihn +las; so dumm bin ich, dachte ich, damit gibt er sich also ab, das ist +die Lösung der Dinge. Er hat vielleicht neue Gedanken im Kopfe, er +überlegt sie sich, ich aber quäle ihn und störe ihn. Ich lese den +Artikel, mein Freund, und verstehe selbstverständlich nicht viel; es muß +auch übrigens so sein, -- wie kann ich es auch verstehen.« + +»Zeigen Sie ihn mir, Mama.« + +Raskolnikoff nahm den Artikel in die Hand und blickte ihn flüchtig an. +Wie sehr es auch seiner Lage und seinem Zustande widersprach, empfand er +doch jenes eigentümliche und prickelnde süße Gefühl, das ein Verfasser, +der sich zum ersten Male gedruckt sieht, empfindet, dazu sprachen auch +seine dreiundzwanzig Jahre mit. Es dauerte einen Augenblick. Nachdem er +einige Zeilen gelesen hatte, verdüsterte sich sein Gesicht und ein +furchtbarer Gram preßte sein Herz zusammen. Sein ganzer seelischer Kampf +in den letzten Monaten kam ihm mit einem Male ins Gedächtnis. Er warf +mit Widerwillen und voll Ärger die Zeitung auf den Tisch. + +»Aber Rodja, wie dumm ich auch sein mag, ich kann doch verstehen, daß du +sehr bald einer von den Ersten, wenn nicht der Erste unter unseren +Gelehrten, sein wirst. Und man wagte zu denken, daß du den Verstand +verloren hättest. Ha! ha! ha! Du weißt es nicht, aber man meinte es +wirklich! Ach, dieses niedrige Gewürm, woher sollen sie auch begreifen, +was Verstand haben heißt! Und Dunetschka glaubte auch fast daran -- was +sagst du dazu! Dein verstorbener Vater hat ein paarmal etliches in +Zeitschriften eingeschickt, -- zuerst Gedichte (ich habe noch das Heft +der Gedichte, ich will es dir einmal zeigen) -- und nachher eine ganze +Novelle, -- (ich hatte ihn gebeten, sie ins Reine schreiben zu dürfen) +-- und trotzdem wir beide beteten, daß es angenommen würde, -- nahmen +sie es doch nicht an! Rodja, vor sechs oder sieben Tagen, als ich deine +Kleidung sah, wie du wohnst, was du ißt und wie du herumgehst, war ich +ganz niedergeschlagen. Jetzt sehe ich, daß ich wieder einmal dumm war, +denn wenn du Lust hast, kannst du dir alles auf einmal durch deinen +Verstand und dein Talent verschaffen. Du willst es bloß vorläufig nicht +und bist mit bedeutend wichtigeren Dingen beschäftigt ...« + +»Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?« + +»Nein, Rodja. Sie ist jetzt sehr oft nicht zu Hause, läßt mich viel +allein. Dmitri Prokofjitsch kommt öfters zu mir, um zu plaudern und +spricht immer von dir, ich bin ihm sehr dankbar dafür. Er liebt dich +sehr und schätzt dich, mein Freund. Ich kann von deiner Schwester nicht +gerade sagen, daß sie zu mir unehrerbietig wäre. Ich klage nicht. Sie +hat ihren Charakter, wie ich den meinen; sie hat allerhand Geheimnisse +vor mir; und ich habe vor euch keine Geheimnisse. Gewiß, ich bin fest +überzeugt, daß Dunja klug ist und außerdem auch mich und dich liebt ... +aber ich weiß wirklich nicht, wohin dies alles führen wird. Du hast mich +glücklich gemacht, Rodja, weil du mich jetzt besucht hast, sie aber hat +das versäumt; wenn sie zurückkommt, will ich auch ihr sagen, -- dein +Bruder war hier, wo hast aber du die Zeit verbracht? Du sollst mich, +Rodja, nicht verwöhnen; wenn du kannst, komm zu mir, wenn nicht, -- dann +läßt sich eben nichts tun als warten. Ich werde trotzdem wissen, daß du +mich liebst, und das genügt mir. Ich werde deine Schriften lesen, werde +von allen über dich hören, und dann wirst du schon wieder einmal zu mir +kommen und was kann ich mir besseres wünschen? Du bist doch jetzt auch +gekommen, um die Mutter zu erfreuen, ich sehe es ...« + +Hier weinte plötzlich Pulcheria Alexandrowna. + +»Schon wieder weine ich! Achte nicht auf mich dumme Person! Ach, mein +Gott, was sitze ich hier,« rief sie aus und fuhr von ihrem Platze auf, +»ich habe doch Kaffee und biete dir nichts an! Siehst du, wie groß der +Egoismus einer alten Frau ist. Sofort, sofort!« + +»Mama, lassen Sie es, ich will gleich wieder fortgehen. Ich bin nicht +deswegen gekommen. Bitte, hören Sie mich an.« + +Pulcheria Alexandrowna trat schüchtern zu ihm. + +»Mama, was auch geschehen sollte, was Sie auch über mich hören sollten, +was man Ihnen auch über mich sagen sollte, -- werden Sie mich dennoch +ebenso lieben, wie jetzt?« fragte er sie aus vollem Herzen, als bedenke +er seine Worte nicht und erwäge sie nicht. + +»Rodja, Rodja, was ist mit dir? Ja, wie kannst du nur so etwas fragen? +Ja, wer wird mir denn etwas über dich sagen? Ich werde auch niemand +glauben, mag kommen, wer da will, ich werde ihn hinausjagen.« + +»Ich bin gekommen, Ihnen zu sagen, daß ich Sie geliebt habe, und ich bin +jetzt froh, daß wir allein sind, bin sogar froh, daß Dunetschka nicht zu +Hause ist,« fuhr er in derselben Aufwallung fort, -- »ich bin gekommen, +Ihnen offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich sein werden, Sie +doch wissen sollen, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr liebt, als sich selbst, +und daß alles, was Sie über mich gedacht haben, daß ich grausam sei und +Sie nicht mehr liebe, alles nicht richtig ist. Ich werde nie aufhören, +Sie zu lieben ... Nun, und genug; mir schien es, daß ich das sagen und +damit beginnen müßte ...« + +Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn schweigend, preßte ihn an ihre Brust +und weinte still. + +»Was mit dir ist, Rodja, weiß ich nicht,« sagte sie schließlich, »ich +dachte die ganze Zeit, wir langweilen dich, jetzt aber sehe ich in +meiner Weise, daß dir ein großer Kummer bevorsteht, worüber du dich +grämst. Ich habe es schon lange gesehen, Rodja. Verzeih mir, daß ich +darüber spreche; ich denke immer daran und schlafe des Nachts nicht. +Diese Nacht hat auch deine Schwester die ganze Nacht in unruhigem +Phantasieren verbracht und immer dich genannt. Ich habe einiges gehört, +aber nichts verstanden. Den ganzen Morgen ging sie wie ein zu Tode +Verurteilter herum, erwartete immer etwas, hatte Vorahnungen und nun ist +es gekommen! Rodja, Rodja, wohin gehst du? Verreisest du etwa und +wohin?« + +»Ich verreise.« + +»Ich dachte es mir! Ich kann doch mit dir reisen, wenn es nötig ist. +Auch Dunja, sie liebt dich, sie liebt dich sehr, auch Ssofja Ssemenowna +soll meinetwegen mit uns gehen, wenn es nötig ist; ich will sie gern an +Tochterstatt aufnehmen, siehst du. Dmitri Prokofjitsch wird uns bei der +Abreise helfen ... aber ... wohin ... reisest du?« + +»Leben Sie wohl, Mama.« + +»Wie! Heute schon!« rief sie in einem Ton aus, als verliere sie ihn auf +ewig. + +»Ich kann nicht anders, es ist Zeit für mich, ich muß ...« + +»Und ich darf nicht mit dir gehen?« + +»Nein, knien Sie aber nieder und beten Sie für mich. Ihr Gebet wird +vielleicht erhört.« + +»Laß mich dich bekreuzen, dich segnen! So, so! Oh, Gott, was tun wir!« + +Ja, er war froh, er war sehr froh, daß niemand da war, daß er mit der +Mutter allein war. Es war, als wäre seit dieser ganzen schrecklichen +Zeit sein Herz mit einem Male weich geworden. Er sank vor ihr hin, küßte +ihre Füße und beide weinten, einander umarmend. Und sie wunderte sich +nicht und fragte ihn nichts. Sie hatte schon lange begriffen, daß mit +ihrem Sohne etwas Furchtbares vorgehe, und daß jetzt der schreckliche +Augenblick für ihn gekommen war. + +»Rodja, mein Lieber, mein Erstgeborener,« sagte sie schluchzend, »du +bist jetzt ebenso zu mir gekommen, wie du es als kleiner Junge tatest; +hast mich umarmt und geküßt; als wir noch mit Vater lebten und uns +kümmerlich durchschlugen, war es schon ein Trost für uns, daß du bei uns +warst, als ich aber deinen Vater beerdigt hatte, -- wie oft haben wir +uns da umarmt, genau so wie jetzt, und haben an seinem Grabe geweint. +Daß ich aber lange schon weine, kommt davon, weil das Mutterherz dein +Unglück ahnte. Als ich das erste Mal dich damals am Abend sah, -- +erinnerst du dich, -- als wir hier ankamen, habe ich alles an deinem +Blicke allein erraten und mein Herz zuckte zusammen, heute aber, als ich +dir öffnete und dich anblickte, dachte ich mir sofort, -- nun ist die +Schicksalsstunde gekommen. Rodja, Rodja, du reisest doch nicht sofort +ab?« + +»Nein.« + +»Du wirst noch einmal herkommen?« + +»Ja ... ich werde herkommen.« + +»Rodja, sei mir nicht böse, ich darf dich nicht ausfragen. Ich weiß, daß +ich es nicht darf, aber sag mir bloß, nur zwei kleine Worte sage mir: +Ist es weit, wohin du reist?« + +»Sehr weit.« + +»Was, hast du eine Anstellung dort oder ist es für deine Karriere +wichtig?« + +»Was Gott gibt ... beten Sie nur für mich ...« + +Raskolnikoff ging zur Türe, aber sie hielt sich an ihm fest und sah ihm +mit einem verzweifelten Blick in die Augen. Ihr Gesicht war vor +Entsetzen entstellt. + +»Genug, Mama,« sagte Raskolnikoff und bereute tief, daß er auf den +Gedanken gekommen war, herzukommen. + +»Es ist doch nicht für immer? Nicht für ewig? Du wirst doch noch +herkommen, wirst du morgen kommen?« + +»Ich werde kommen, werde kommen, leben Sie wohl!« + +Er riß sich endlich los. + +Der Abend war frisch, warm und klar; das Wetter war seit dem Morgen +schön geworden. Raskolnikoff ging eilig nach Hause. Er wollte allem bis +zu Sonnenuntergang ein Ende machen. Bis dahin sollte ihn niemand sehen. +Als er zu seiner Wohnung hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja sich vom +Samowar abwandte, ihn unverwandt beobachtete und mit den Augen +verfolgte. »Sollte etwa jemand bei mir sein?« dachte er. Voll +Widerwillen dachte er an Porphyri Petrowitsch. Als er aber sein Zimmer +erreicht und die Türe geöffnet hatte, erblickte er Dunetschka. Sie saß +mutterseelenallein in tiefem Nachdenken und schien schon lange auf ihn +zu warten. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschreckt +vom Sofa und blieb aufgerichtet vor ihm stehen. Ihr Blick, unverwandt an +ihm haftend, drückte Entsetzen und einen untilgbaren Kummer aus. Und an +diesem Blicke merkte er sofort, daß sie alles wußte. + +»Soll ich zu dir hineinkommen oder fortgehen?« fragte er mißtrauisch. + +»Ich habe den ganzen Tag bei Ssofja Ssemenowna gesessen; wir haben dich +beide erwartet. Wir dachten, daß du unbedingt dorthin kommen würdest.« + +Raskolnikoff trat in das Zimmer und setzte sich ermattet auf einen +Stuhl. + +»Ich bin etwas schwach, Dunja; ich bin zu müde; ich möchte aber +wenigstens in diesem Augenblicke mich völlig beherrschen.« + +Er warf ihr einen schnellen mißtrauischen Blick zu. + +»Wo warst du denn die ganze Nacht?« + +»Ich erinnere mich dessen nicht gut; siehst du, Schwester, ich wollte zu +einem endgültigen Entschluß kommen und bin mehrere Male an der Newa hin- +und hergegangen; dessen erinnere ich mich. Ich wollte dort ein Ende +machen, aber ... konnte mich nicht entschließen ...« flüsterte er und +blickte Dunja wieder mißtrauisch an. + +»Gott sei Dank! Und wie wir das fürchteten, -- ich und Ssofja +Ssemenowna! Also, du glaubst noch ans Leben, -- Gott sei Dank, Gott sei +Dank!« + +Raskolnikoff lächelte bitter. + +»Ich glaubte nicht daran, soeben aber habe ich die Mutter umarmt und mit +ihr zusammen geweint; ich glaube nicht daran, aber ich habe sie gebeten, +für mich zu Gott zu beten. Gott weiß, wie das alles vor sich geht, +Dunetschka und ich begreife nichts.« + +»Du warst bei der Mutter? Du hast ihr es selbst gesagt?« rief Dunja +entsetzt aus. -- »Hast du es gewagt, ihr zu sagen?« + +»Nein, ich habe ihr nichts ... mit Worten gesagt, aber sie hat vieles +begriffen. Sie hat in der Nacht gehört, wie du phantasiert hast. Ich bin +überzeugt, daß sie die Hälfte schon versteht. Ich habe vielleicht +schlecht daran getan, daß ich zu ihr ging. Ich weiß auch nicht mal, +warum ich zu ihr hingegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.« + +»Du ein gemeiner Mensch und bist doch bereit, das Leiden auf dich zu +nehmen! Du gehst doch um zu leiden?« + +»Ich gehe. Sofort. Ja, um dieser Schande zu entgehen, wollte ich mich +auch ins Wasser stürzen, Dunja, aber ich dachte, als ich schon über dem +Wasser stand, wenn ich mich bisher für stark gehalten habe, so soll ich +mich jetzt auch nicht vor der Schande fürchten,« sagte er. »Das ist der +Stolz, Dunja?« + +»Ja, das ist der Stolz, Rodja.« + +Wie ein Feuer leuchtete es in seinen trüben Augen auf; ihm schien es +eine Freude zu sein, daß er noch stolz sein konnte. + +»Meinst du aber nicht, Schwester, daß mir einfach vor dem Wasser bange +war,« fragte er mit einem bitteren Lächeln und blickte ihr ins Gesicht. + +»Oh, Rodja, höre damit auf!« rief Dunja bitter aus. + +Etwa zwei Minuten dauerte das Schweigen. Er saß mit gesenktem Kopfe und +sah zu Boden; Dunetschka stand am anderen Ende des Tisches und blickte +ihn voll innerer Qual an. + +Plötzlich stand er auf. + +»Es ist spät, es ist Zeit. Ich gehe jetzt, mich anzuzeigen. Aber ich +weiß nicht, warum ich gehe, mich anzuzeigen.« + +Große Tränen rollten über ihre Wangen. + +»Du weinst, Schwester, kannst du mir noch die Hand reichen?« + +»Und du hast daran zweifeln können?« + +Sie umarmte ihn innig. + +»Büßest du nicht schon zur Hälfte dein Verbrechen mit deinem Leid?« rief +sie aus, drückte ihn fest an sich und küßte ihn. + +»Verbrechen? Was für ein Verbrechen?« rief er plötzlich in einem Anfalle +von Wut, »etwa, weil ich eine scheußliche, bösartige Laus, eine alte +Wucherin ermordet habe, die niemand braucht, für deren Ermordung einem +vierzig Sünden vergeben werden müssen, die den Armen den letzten +Blutstropfen aussaugte, -- und das soll ein Verbrechen sein? Ich denke +gar nicht daran und denke nicht daran, es tilgen zu wollen. Und was +kommen sie mir alle mit diesem Wort >Verbrechen, Verbrechen!< Jetzt erst +sehe ich den ganzen Unsinn meiner Kleinmütigkeit klar, jetzt erst, wo +ich mich schon entschlossen habe, diese unnötige Schande auf mich zu +nehmen! Bloß aus Gemeinheit und aus Untauglichkeit habe ich mich dazu +entschlossen, ja vielleicht auch aus Berechnung, wie dieser ... Porphyri +Petrowitsch mir vorgeschlagen hat! ...« + +»Bruder, Bruder, was sagst du! Du hast aber doch Blut vergossen!« rief +Dunja verzweifelt aus. + +»Das alle vergießen,« fiel er fast rasend ein, »das in der Welt wie ein +Wasserfall fließt und immer geflossen ist, das wie Champagner vergossen +wird, und für das man im Kapitol gekrönt und nachher Wohltäter der +Menschheit genannt wird. Schau doch bloß näher zu und sieh es! Ich +selbst wollte den Menschen Gutes und hätte hunderte, tausende gute Werke +vollbracht, anstatt dieser einzigen Dummheit, die sogar keine Dummheit, +sondern bloß eine Ungeschicktheit war, weil der gesamte Gedanke gar +nicht so dumm war, wie er jetzt nach dem Mißlingen erscheint ... Beim +Mißlingen erscheint alles dumm! ... Mit dieser Dummheit wollte ich mich +bloß in eine unabhängige Stellung bringen, den ersten Schritt tun, die +Mittel erhalten, und nachher würde alles durch einen verhältnismäßig +unermeßlichen Nutzen ausgeglichen worden sein ... Aber ich, ich habe +auch nicht mal den ersten Schritt ausgehalten, weil ich -- ein Schuft +bin! Siehst du, so steht die Sache! Und dennoch kann ich eure Ansicht +nicht teilen, -- wäre es mir gelungen, so würde man mich gekrönt haben, +jetzt aber muß ich in die Falle!« + +»Aber das ist es doch nicht, ganz und gar nicht! Bruder, was sagst du +nur!« + +»Ah! Nicht die richtige Form, die Form ist nicht ästhetisch genug! Nun, +ich begreife entschieden nicht, -- warum es eine angesehenere Form sein +soll auf die Menschen Bomben zu werfen, eine regelrechte Belagerung zu +führen? Die Furcht vor dem Unästhetischen ist das erste Zeichen von +Schwäche! ... Niemals, niemals habe ich es klarer als jetzt empfunden, +und mehr als je begreife ich jetzt mein Verbrechen! Niemals, niemals war +ich stärker und überzeugter, als jetzt!« + +Das Blut war in sein blasses, abgehärmtes Gesicht gestiegen. Als er die +letzten Worte aussprach, begegnete zufällig sein Blick den Augen Dunjas +und er sah darin soviel, soviel Qual seinetwegen, daß er unwillkürlich +zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er trotz alledem diese zwei armen +Frauen unglücklich gemacht hatte. Er war trotz alledem noch die Ursache +dazu ... + +»Dunja, liebe Dunja! Wenn ich Schuld habe, vergib mir, obwohl man mir +nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe. Lebwohl! Wir wollen uns nicht +streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe +dich an, ich muß noch zu jemandem hingehen ... Gehe sofort zur Mutter +und setze dich zu ihr hin. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte +größte Bitte an dich. Verlaß sie in dieser Zeit nicht; ich habe sie in +Unruhe hinterlassen, die sie kaum überstehen wird, -- entweder stirbt +sie oder sie verliert den Verstand. Bleib bei ihr! Rasumichin wird euch +zur Seite stehen; ich habe es ihm gesagt ... Weine nicht um mich, -- ich +werde versuchen, mutig und ehrlich das ganze Leben zu sein, obwohl ich +ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde +euch keine Schande machen, du wirst sehen; ich will noch beweisen ... +jetzt, vorläufig auf Wiedersehen,« beeilte er sich zu sagen, als er in +den Augen Dunjas wieder einen sonderbaren Ausdruck bei seinen letzten +Worten und Versprechungen bemerkte. -- »Warum weinst du denn so? Weine +nicht, weine nicht; wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach, ja! +Warte, ich habe etwas vergessen! ...« + +Er trat an den Tisch, nahm ein dickes verstaubtes Buch, öffnete es und +nahm ein kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der +Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben +war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das in ein Kloster gehen +wollte. Eine Weile blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte +Gesicht an, küßte das Bild und überreichte es Dunetschka. + +»Mit ihr habe ich viel _darüber_ gesprochen, mit ihr allein,« sagte er +sinnend, »ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was nachher +sich in so häßlicher Weise erfüllt hatte. Sei ruhig,« wandte er sich an +Dunetschka, »sie war mit mir nicht einverstanden, so wenig wie du, und +ich bin froh, daß sie nicht mehr lebt. Die Hauptsache, die Hauptsache +ist, daß alles jetzt neu anhebt, daß alles entzwei brechen wird,« rief +er plötzlich aus, wieder in seinen Gram zurückfallend, »alles, alles, +bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es auch selbst? Man sagt, es sei +nötig zu meiner Prüfung! Wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen? +Wozu sind sie, werde ich etwa dann erdrückt von Qual und Stumpfheit in +greisenhafter Schwäche nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit es besser +empfinden, als ich es jetzt tue, und wozu soll ich dann noch leben? +Warum gehe ich jetzt darauf ein, so zu leben? Oh, ich wußte, daß ich ein +Schuft bin, als ich heute bei Tagesanbruch an der Newa stand!« + +Beide gingen schließlich hinaus. Es war Dunja schwül, aber sie liebte +ihn! Sie ging von ihm, aber als sie etwa fünfzig Schritte gegangen war, +wandte sie sich noch einmal um, um ihm nachzuschauen. Man konnte ihn +noch sehen. Als er an die Ecke kam, wandte er sich ebenfalls um; zum +letzten Male trafen sich ihre Blicke; als er aber bemerkte, daß sie ihm +nachblickte, winkte er ihr ungeduldig und ärgerlich mit der Hand, daß +sie weitergehen solle, und bog selbst schnell um die Ecke. + +»Ich bin böse, ich merke es,« dachte er und schämte sich seiner +ärgerlichen Handbewegung. -- »Aber warum lieben sie mich so, wenn ich +ihrer Liebe nicht wert bin! Oh, wäre ich allein und hätte mich niemand +lieb, und hätte ich selbst niemals jemand geliebt! _Alles dieses wäre +nicht gewesen!_ Ich gäbe viel darum, wenn ich wüßte, ob nach diesen +kommenden fünfzehn, zwanzig Jahren meine Seele so gedemütigt sein wird, +daß ich voll Ehrfurcht vor Menschen ächzen und klagen und mich bei jedem +Worte Räuber nennen werde? Ja, es wird so kommen, wird kommen! Darum +schicken sie mich auch jetzt nach Sibirien, sie wollen es haben ... Da +laufen sie nun alle in den Straßen herum, und jeder unter ihnen ist +schon seiner Natur nach ein Schuft und Räuber; schlimmer noch -- ein +Idiot! Sollte man aber mich mit Sibirien verschonen, so würden sie alle +vor edler Empörung überschäumen! Oh, wie ich sie alle hasse!« + +Er sann darüber nach, -- »auf welche Weise es kommen müsse, damit er +zuletzt, ohne mit sich in Widerspruch zu geraten, demütiger würde! Warum +denn auch nicht? Sicher wird es so werden. Werden ihn die zwanzig Jahre +ununterbrochener Unterdrückung nicht endgültig brechen? Steter Tropfen +höhlt den Stein. Und warum, wozu nach alledem noch leben, wozu gehe ich +jetzt hin, wenn ich selbst weiß, daß alles genau so kommen wird, und +nicht anders?« + +Er legte sich diese Frage vielleicht schon zum hundertsten Male seit +gestern Abend vor, aber dennoch ging er hin. + + + VIII. + +Als er zu Ssonja eintrat, begann es schon zu dämmern. Ssonja hatte den +ganzen Tag in schrecklicher Aufregung auf ihn gewartet; schon mit Dunja +zusammen. Dunja war am frühen Morgen zu ihr gekommen, als sie sich der +Worte von Sswidrigailoff erinnerte, daß Ssonja »darüber alles weiß«. -- +Wir wollen der Einzelheiten der Unterhaltung zwischen den beiden Frauen, +ihrer Tränen und dessen, wie weit sie einander näher gekommen waren, +nicht gedenken. Dunja hatte bei dieser Zusammenkunft wenigstens den +Trost gefunden, daß ihr Bruder nicht allein sein werde -- zu ihr, zu +Ssonja, war er zuerst mit seiner Beichte gegangen; in ihr hatte er einen +Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; sie würde ihm auch +überall folgen, wohin das Schicksal ihn führen sollte. Sie fragte auch +nicht, aber sie wußte, daß es so kommen werde. Sie begegnete Ssonja +sogar mit Ehrfurcht und machte sie zuerst dadurch ganz verwirrt. Ssonja +war anfangs nahe daran, zu weinen; sie hielt sich für unwürdig, Dunja +nur anzublicken. Das Bild Dunjas, als sie sich so aufmerksam und +achtungsvoll bei ihrem ersten Zusammentreffen in Raskolnikoffs Wohnung +von ihr verabschiedet, hatte sich seitdem für immer in ihrer Seele +eingegraben, als einer der schönsten und höchsten Augenblicke in ihrem +Leben. + +Dunetschka hatte es schließlich nicht mehr ausgehalten, sie war von +Ssonja gegangen, um den Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie +glaubte, daß er dorthin schließlich zuerst gehen würde. Als Ssonja +allein geblieben war, begann sie sich mit dem Gedanken, daß er wirklich +ein Leid sich antun würde, zu quälen. Dasselbe fürchtete auch Dunja. +Aber beide übertrafen sich den ganzen Tag in dem Bestreben, einander zu +überzeugen, daß es nicht der Fall sein könne, und waren ruhiger, solange +sie beisammen waren. Jetzt aber, wo sie getrennt waren, dachte die eine +wie die andere nur noch daran. Ssonja erinnerte sich, daß Sswidrigailoff +ihr gestern gesagt hatte, Raskolnikoff habe nur zwei Wege, -- entweder +Sibirien, oder ... Sie kannte zudem seinen Ehrgeiz, seinen Stolz, seine +Eigenliebe und seinen Unglauben. + +»Kann nur der Kleinmut und die Furcht vor dem Tode ihn zwingen, zu +leben?« dachte sie schließlich in Verzweiflung. Und die Sonne ging schon +unter. Sie stand traurig vor dem Fenster und blickte unverwandt hinaus, +-- aber man sah hier bloß die ungeweißte Grundmauer des Nachbarhauses. +Als sie schon von dem Tode des Unglücklichen völlig überzeugt war, -- +trat er in ihr Zimmer. + +Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Aber als sie aufmerksam +sein Gesicht ansah, erbleichte sie sofort. + +»Nun, ja!« sagte Raskolnikoff mit bitterem Lächeln, »ich komme, mir dein +Kreuz zu holen, Ssonja. Du hast mich doch selbst auf den Kreuzweg +geschickt; was, bist du etwa bange geworden, da es zur Ausführung +kommt?« + +Ssonja blickte ihn fassungslos an. Dieser Ton erschien ihr merkwürdig, +-- ein kaltes Frösteln durchzog ihren Körper, nach einer Minute aber +erriet sie, daß der Ton, wie auch die Worte nur angenommen waren. Er +sprach auch mit ihr so sonderbar, indem er zur Seite blickte und +vermied, ihr ins Gesicht zu sehen. + +»Ich habe, -- siehst du, Ssonja, -- eingesehen, daß es in dieser Weise +auch vielleicht vorteilhafter sein wird. Es gibt hier einen Umstand ... +Es ist lange zu erzählen und lohnt sich auch nicht. Weißt du, was mich +bloß ärgert? Mir ist es ärgerlich, daß alle diese dummen tierischen +Fratzen mich gleich umringen, mich anglotzen, mir ihre dumme Frage +vorlegen werden, die man beantworten muß, -- und daß man auf mich mit +Fingern zeigen wird ... Pfui! Weißt du, ich will nicht zu Porphyri +Petrowitsch gehen; er langweilt mich. Ich gehe lieber zu meinem Freunde +Pulver, der wird erstaunen, da werde ich einen Effekt in seiner Art +erringen. Man müßte kaltblütiger sein; ich bin in der letzten Zeit zu +erbittert geworden. Glaubst du mir, -- ich habe soeben meiner Schwester +fast mit der Faust gedroht und bloß aus dem Grunde, weil sie sich +umwandte, um mich zum letzten Male zu sehen. So ein Zustand ist eine +Schweinerei! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Nun, wo ist das +Kreuz?« + +Er war wie ausgewechselt. Er konnte nicht mal einen Augenblick auf einem +Flecke ruhig stehen, konnte seine Aufmerksamkeit auf keinen Gegenstand +konzentrieren, seine Gedanken übersprangen einander, er redete wirr; +seine Hände zitterten leicht. + +Ssonja nahm schweigend aus einem Kasten zwei Kreuze -- eins aus +Zypressenholz und das andere aus Kupfer; sie bekreuzte sich selbst, +bekreuzte ihn und legte um seinen Hals das Kreuzlein aus Zypressenholz. + +»Das ist also ein Symbol, daß ich das Kreuz auf mich nehme, he! he! Als +hätte ich bis jetzt wenig gelitten! Aus Zypressenholz, also wie das Volk +es trägt; das kupferne, das von Lisaweta, nimmst du, zeige mir. Also sie +hatte es ... in dem Augenblicke um? Ich kenne auch zwei ähnliche Kreuze, +ein silbernes und ein Heiligenbildchen. Ich warf sie damals der Alten +auf die Brust. -- Die würden jetzt passen, wirklich, die sollte ich auch +umlegen ... übrigens, ich lüge die ganze Zeit, vergesse immer die +Angelegenheit, die mich herführte, ich bin ein wenig zerstreut ... +Siehst du, Ssonja, -- ich bin eigentlich gekommen, um dir es vorher zu +sagen, damit du es weißt ... Das ist auch alles ... Ich bin bloß +deswegen gekommen. Hm! ich dachte übrigens, daß ich dir mehr sagen werde +... Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun, jetzt werde ich im +Gefängnis sitzen und dein Wunsch wird erfüllt sein. Warum weinst du +denn? Auch du weinst? Höre auf, laß es, ach, wie schwer mir alles ist!« + +Eine weichere Empfindung überkam ihn doch; sein Herz schnürte sich bei +ihrem Anblicke zusammen. -- »Warum weint sie denn?« dachte er, »was bin +ich ihr? Warum weint sie, warum nimmt sie von mir Abschied, wie meine +Mutter oder Dunja? Sie wird mein Kindermädchen sein!« + +»Bekreuze dich, bete wenigstens einmal,« bat ihn Ssonja mit zitternder, +schüchterner Stimme. + +»Oh, bitte, soviel du wünschst! Und ich tue es mit aufrichtigem Herzen, +Ssonja, mit aufrichtigem Herzen ...« + +Er wollte etwas ganz anderes sagen. + +Er bekreuzte sich einige Male. Ssonja nahm ein Tuch und warf es um die +Schulter. Es war ein großes grünes Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von +dem Marmeladoff damals gesprochen hatte. Raskolnikoff kam der Gedanke, +aber er fragte nicht danach. Er begann in der Tat selbst zu fühlen, daß +er schrecklich zerstreut und eigentümlich beunruhigt war. Er erschrak +darüber. Es setzte ihn auch plötzlich in Erstaunen, daß Ssonja mit ihm +gehen wolle. + +»Was ist? Wohin willst du? Bleibe, bleibe zu Hause! Ich gehe allein,« +rief er in kleinmütigem Ärger und ging beinahe erzürnt zu der Türe. -- +»Und wozu ein ganzes Gefolge!« murmelte er hinaustretend. + +Ssonja blieb mitten im Zimmer stehen. Er hatte nicht mal Abschied von +ihr genommen, er hatte sie schon vergessen; ein brennender und sich +empörender Zweifel wogte in seiner Seele. + +»Ist es auch das Richtige, ist auch alles richtig?« dachte er wieder, +als er die Treppe hinunterging, »kann man denn nicht stehen bleiben und +alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen?« + +Er ging aber doch den Weg. Er sagte sich endgültig, daß es sich nicht +lohne, weitere Fragen an sich zu stellen. Auf der Straße fiel es ihm +ein, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im +Zimmer in ihrem grünen Tuche stehen geblieben war, ohne zu wagen, sich +zu rühren, als er sie angeschrien hatte, -- und er blieb eine Weile +stehen. Im selben Augenblick durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke, -- +als hätte er nur gewartet, um ihn vollständig verwirrt zu machen. + +»Wozu, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr, -- in einer +Angelegenheit; was war es für eine Angelegenheit? Es war absolut nichts! +Um ihr mitzuteilen, daß ich _hingehe_; was ist denn dabei? War es +notwendig, das ihr zu sagen? Liebe ich sie etwa? Nein, doch gar nicht? +Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich +etwa ihre Kreuze? Oh, wie tief ich gesunken bin! Nein, -- ich brauchte +ihre Tränen, ich mußte ihr Erschrecken sehen, ich mußte sehen, wie ihr +das Herz schmerzt und sie sich quält! Ich mußte mich an irgend etwas +anklammern, es in die Länge ziehen, einen Menschen sehen! Und ich habe +es gewagt, so auf mich zu hoffen, so von mir zu träumen, ich Bettler, +ich unbedeutender Schuft, Schuft!« + +Er ging am Kanale entlang und hatte nicht mehr weit. Als er aber bis zur +Brücke kam, blieb er einen Augenblick stehen, bog dann zur Seite ab und +ging über die Brücke zum Heumarkte. + +Er blickte neugierig rechts und links um sich, betrachtete aufmerksam +jeden Gegenstand und konnte auf nichts die Aufmerksamkeit konzentrieren; +alles entglitt ihm. -- »Nach einer Woche, nach einem Monat wird man mich +in einem Gefängniswagen irgendwohin über diese Brücke führen, wie werde +ich dann diesen Kanal ansehen, -- ich müßte es mir merken,« durchfuhr es +ihn. »Dieses Aushängeschild dort, -- wie werde ich dann diese Buchstaben +lesen? Da steht geschrieben -- _Genossenschaft_, -- nun, ich sollte mir +dieses >o<, diesen Buchstaben o merken, und nach einem Monat dieses o +ansehen, -- wie werde ich es dann ansehen? Was werde ich dann empfinden +und denken? ... Mein Gott, wie dies alles gemein sein muß, alle meine +jetzigen ... Sorgen! Gewiß, dies alles muß interessant ... in seiner Art +sein ... ha! ha! ha! ... worüber ich bloß denke! Ich werde wie ein Kind, +ich spiele mit mir selbst; nun, warum halte ich mir dieses vor? Pfui, +wie sie stoßen! Dieser Dicke da, -- wahrscheinlich ein Deutscher, -- der +mich soeben gestoßen hat; nun, weiß er, wen er gestoßen hat? Eine Frau +mit einem Kinde bettelt, es ist amüsant, daß sie mich für glücklicher +als sich selbst hält. Was, sollte ich der Kuriosität wegen ihr auch ein +Almosen geben? Bah, ich habe ja volle fünf Kopeken in der Tasche, woher +bloß? Na ... nimm es, Mütterchen!« + +»Gott schütze dich!« ertönte die weinerliche Stimme der Bettlerin. + +Er trat auf den Heumarkt. Ihm war es unangenehm, sehr unangenehm sogar, +mit Leuten zusammenzukommen, er ging aber gerade dorthin, wo man am +meisten Menschen sah. Er hätte alles in der Welt hingegeben, um allein +zu bleiben, aber er fühlte selbst, daß er keinen einzigen Augenblick +allein sein konnte. In einer Menge trieb ein Betrunkener sein Wesen, er +wollte die ganze Zeit tanzen, fiel aber immer hin. Man hatte ihn +umringt. Raskolnikoff drängte sich durch die Menge hindurch, blickte +einige Augenblicke den Betrunkenen an und lachte plötzlich kurz und +abgerissen auf. Nach einer Minute hatte er ihn schon vergessen, bemerkte +ihn nicht mehr, obwohl er ihn noch anblickte. Er ging schließlich +zurück, ohne sich zu erinnern, wo er sich befand; als er aber bis zur +Mitte des Platzes gekommen war, vollzog sich mit ihm plötzlich eine +Veränderung, eine Empfindung packte ihn mit einem Male, nahm ihn +vollständig körperlich und seelisch -- gefangen. + +Er erinnerte sich plötzlich der Worte von Ssonja, »geh zu einem +Kreuzweg, verneige dich vor den Menschen, küsse die Erde, weil du vor +ihr gesündigt hast, und sage laut der ganzen Welt: -- Ich bin ein +Mörder!« + +Er zitterte am ganzen Körper, als er sich daran erinnerte. Und so stark +hatte ihn schon der aussichtslose Gram und die Unruhe der ganzen Zeit, +besonders aber der letzten Stunden erdrückt, daß er sich dieser neuen +Empfindung vollkommen und ungeteilt hingab. Wie ein Anfall war es +plötzlich über ihn gekommen; durch einen Funken entzündete es sich in +seiner Seele und erfaßte ihn mit einem Male, wie ein Feuer, ganz und +gar. Alles wurde in ihm weich und Tränen stürzten hervor. Wie er stand, +so fiel er auch zu Boden ... + +Er kniete mitten auf dem Platze nieder, verneigte sich bis zur Erde und +küßte diese schmutzige Erde voll Genuß und Glück. Er stand auf und +verneigte sich zum zweiten Male ... + +»Sieh, wie der sich vollgesoffen hat!« bemerkte ein Bursche in seiner +Nähe. + +Lachen ertönte. + +»Er geht nach Jerusalem, nimmt Abschied von seinen Kindern, seiner +Heimat, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt +Sankt Petersburg und seinen Boden,« fügte ein betrunkener Kleinbürger +hinzu. + +»Er ist noch jung, der Bursche!« bemerkte ein dritter. + +»Einer von den Adeligen!« sagte jemand mit gesetzter Stimme. + +»Heutzutage erkennt man nicht mehr, wer von Adel ist, und wer nicht.« + +Alle diese Zurufe und Bemerkungen hielten Raskolnikoff zurück, und das +Bekenntnis »ich habe getötet!,« das er abzulegen bereit war, unterblieb. +Die Zurufe nahm er in Ruhe hin, ging ohne sich umzusehen, durch eine +Gasse zum Polizeibureau. Unterwegs bemerkte er, daß ihm jemand folgte, +aber er war darüber nicht erstaunt; er hatte es geahnt. Als er auf dem +Heumarkte sich zum zweiten Male bis zur Erde verneigte und sich links +wandte, erblickte er fünfzig Schritte entfernt Ssonja. Sie verbarg sich +vor ihm hinter einer der hölzernen Buden, die auf dem Markte standen, +also hatte sie ihn auf seinem ganzen Leidensweg begleitet. Raskolnikoff +fühlte und begriff in diesem Augenblicke ein für allemal, daß Ssonja +ewig bei ihm sein und ihm bis ans Ende der Welt folgen werde, was ihm +das Schicksal auch senden würde. Und sein Herz wandte sich ... aber, -- +er war schon an der verhängnisvollen Stelle angelangt ... + +Ziemlich sicher trat er in den Hof. Er mußte in den dritten Stock. -- +»Es dauert noch eine Weile, bis ich hinaufkomme,« dachte er. Überhaupt +schien es ihm, als wäre es noch weit bis zu dem entscheidenden +Augenblicke, als hätte er noch viel Zeit und könne sich vieles noch +überlegen. + +Wieder derselbe Schmutz, dieselben Schalen auf der sich windenden +Treppe, wieder waren die Türen zu den Wohnungen weit offen, wieder +dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank herausdrang. Raskolnikoff +war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine erstarben und +knickten zusammen, aber sie trugen ihn vorwärts. Er blieb einen +Augenblick stehen, um Atem zu holen, um sich in Ordnung zu bringen, um +als _Mensch_ einzutreten. + +»Wozu aber? Warum?« dachte er plötzlich, als er seiner Bewegung gewahr +wurde. -- »Wenn man schon diesen Kelch leeren muß, ist dann nicht alles +gleichgültig? Je häßlicher, um so besser!« + +In seiner Erinnerung tauchte in diesem Momente die Gestalt von Ilja +Petrowitsch Pulver auf. »Soll ich tatsächlich zu ihm gehen? Kann ich +nicht zu einem anderen? Nicht zu Nikodim Fomitsch? Oder sofort umkehren +und zum Kommissar selbst in seine Wohnung gehen? Alles wird wenigstens +dann in angenehmerer Weise ... Nein, nein! Zu Pulver, zu Pulver! Wenn +ich ihn schon leeren soll, so alles auf einmal ...« + +Erstarrt vor Kälte und kaum seiner mächtig, öffnete er die Türe zum +Polizeibureau. Diesmal waren sehr wenig Leute da, ein Hausknecht und +noch ein Mann. Der Wächter schaute nicht einmal aus seiner Kammer +heraus. Raskolnikoff ging in das andere Zimmer. -- »Vielleicht läßt es +sich noch vermeiden,« schwirrte es ihm durch den Kopf. In diesem Zimmer +begann gerade irgend ein Schreiber in Zivilkleidung etwas auf seinem +Pulte zu schreiben. In einer Ecke setzte sich ein anderer Schreiber hin. +Sametoff war nicht da. Nikodim Fomitsch selbstverständlich auch nicht. + +»Ist niemand da?« fragte Raskolnikoff, sich an den Schreiber am Pulte +wendend. + +»Wen wünschen Sie?« + +»Ah -- ah! Man hört nichts, man sieht nichts, bloß der russische Geist +... wie heißt es doch in jenem Märchen ... habe es vergessen! M--m--mein +Kompliment!« rief plötzlich eine bekannte Stimme. + +Raskolnikoff erbebte. Vor ihm stand Pulver; er war unbemerkt aus dem +dritten Zimmer eingetreten. + +»Das ist das Schicksal,« dachte Raskolnikoff, »warum ist er hier?« + +»Zu uns? In welcher Angelegenheit?« rief Ilja Petrowitsch aus. (Er war +offenbar in ausgezeichneter und sogar ein wenig erregter Stimmung.) +»Wenn Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit kommen, so ist es dazu +noch zu früh. Ich selbst bin nur zufälligerweise hier ... Übrigens stehe +ich zu Ihren Diensten. Ich muß gestehen ... Wie? Wie? Entschuldigen Sie +...« + +»Raskolnikoff.« + +»Aha, Raskolnikoff? Konnten Sie glauben, daß ich Ihren Namen vergessen +habe! Bitte, halten Sie mich nicht für so einen ... Rodion Ro... Ro... +Rodionytsch, nicht wahr, es ist doch richtig?« + +»Rodion Romanowitsch.« + +»Ja, ja, ja! Rodion Romanowitsch, Rodion Romanowitsch! Das wollte ich +gerade wissen. Habe mich sogar mehrere Male nach Ihnen erkundigt. Ich +muß Ihnen gestehen, seit der Zeit war ich aufrichtig betrübt, als wir +damals mit Ihnen so ... man hat mir nachher alles erklärt, ich erfuhr, +daß Sie ein junger Literat und sogar Gelehrter ... und sozusagen, die +ersten Schritte ... oh, mein Gott! Ja, wer von den Literaten und +Gelehrten hat im Anfange nicht originelle Schritte getan! Ich und meine +Frau, -- wir beide schätzen die Literatur, meine Frau sogar +leidenschaftlich! ... Literatur und Kunst! Wenn einer nur anständig ist, +alles übrige aber kann er durch Talent, Wissen, Verstand, Genie +erwerben! Ein Hut -- nun, was bedeutet z. B. ein Hut? Ein Hut ist ein +Deckel, ich kann ihn im besten Laden kaufen; was aber unter dem Hute +steckt und mit dem Hute verdeckt wird, das kann ich nicht kaufen! ... +Ich muß gestehen, wollte sogar zu Ihnen kommen, Ihnen eine Erklärung +abgeben, aber ich dachte, daß Sie vielleicht ... Jedoch ich vergesse +ganz, Sie zu fragen, -- brauchen Sie tatsächlich etwas von uns? Man +sagte mir, Sie haben Besuch von Ihren Verwandten?« + +»Ja, meine Mutter und Schwester.« + +»Ich hatte sogar die Ehre und das Glück, Ihre Schwester zu treffen, -- +eine gebildete und reizende Dame. Ich muß gestehen, ich bedauerte sehr, +daß wir damals beide so hitzig wurden. Ein Zufall! Und daß ich Sie +damals infolge Ihrer Ohnmacht, mit einem gewissen Blicke ansah, -- das +hat sich doch sofort in glänzendster Weise aufgeklärt! Grausamkeit und +Fanatismus! Ich begreife Ihre Entrüstung. Sie werden wohl infolge der +Ankunft Ihrer Familie in eine andere Wohnung ziehen und wollen uns wohl +das anmelden?« + +»N--nein, ich bin bloß ... Ich bin gekommen, zu fragen ... ich dachte, +daß ich Herrn Sametoff hier antreffen werde.« + +»Ach, ja! Sie sind ja Freunde geworden; ich habe davon gehört. Nein, +Sametoff ist nicht bei uns, -- den haben Sie verfehlt. Wir haben Herrn +Sametoff verloren! Seit gestern ist er nicht mehr bei uns; er ist in +einen anderen Dienst übergetreten ... und hat sich zum Abschied mit +allen gezankt ... er war zuletzt noch sehr unhöflich ... Er war ein +leichtsinniger Junge, mehr nichts; er berechtigte wohl zu Hoffnungen; +ja, aber so geht es mit unserer glänzenden Jugend! Er will ein Examen +ablegen, wir kennen das, -- sind bloß Redensarten, Wichtigtuerei und das +wird das ganze Examen sein. Es ist doch nicht, wie bei Ihnen z. B. der +Fall oder bei Herrn Rasumichin, Ihrem Freunde! Ihre Karriere ist die +eines Gelehrten, und Mißerfolge werden Sie nicht verstimmen. Für Sie +sind dies alles Reize des Lebens -- nihil. Sie sind ein Asket, ein +Mönch, ein Einsiedler! ... für Sie hat nur ein Buch Bedeutung, die +Feder, die Gelehrten und Untersuchungen, -- darin schwelgt Ihr Geist! +Ich bin teilweise selbst so ... Haben Sie das Buch von Livingstone +gelesen?« + +»Nein.« + +»Ich habe es gelesen. Heutzutage gibt es übrigens viel zu viel +Nihilisten; es ist auch begreiflich; die Zeiten sind auch danach, nicht +wahr? Übrigens ich ... Sie sind doch selbstverständlich kein Nihilist! +Sagen Sie es mir aufrichtig, ganz offen.« + +»N--nein ...« + +»Nein, ach, seien Sie doch mir gegenüber ganz offen, genieren Sie sich +nicht, tun Sie, als wären Sie allein mit sich! Der Dienst ist ein Ding +für sich, ein anderes Ding ... Sie meinten, ich wollte _Freundschaft_ +sagen, nein, Sie haben es nicht erraten! Nicht Freundschaft, sondern das +Gefühl eines Mitbürgers und Mitmenschen, das Gefühl der Humanität und +der Liebe zum Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Stellung und ein +Amt einnehmen, aber ich bin dennoch verpflichtet, den Bürger und +Menschen in mir stets zu fühlen, und muß mir darüber Rechenschaft +abgeben ... Sie beliebten Sametoff zu erwähnen. Sametoff ist imstande, +auf französische Art, in einem unanständigen Lokale beim Glas Champagner +oder moussierendem Wein loszulegen, -- sehen Sie, das ist Ihr Sametoff! +Ich aber bin sozusagen in Ergebenheit und hohen Gefühlen ganz +aufgegangen, habe außerdem einen Rang, eine Position, bekleide ein Amt! +Bin verheiratet und habe Kinder. Ich erfülle meine Pflichten als Bürger +und Mensch, wer aber ist er, gestatten Sie mir die Frage? Ich wende mich +an Sie, als einen durch Bildung geadelten Menschen. Sehen Sie, auch sehr +viel gelehrte Hebammen haben wir in letzter Zeit.« + +Raskolnikoff zog fragend die Augenbrauen empor. Die Worte von Ilja +Petrowitsch, der anscheinend vor kurzem erst vom Mittagstische +aufgestanden war, schwirrten an seinem Ohre vorbei! Einen kleinen Teil +davon hatte er wohl aufgefangen. Er blickte ihn fragend an und wußte +nicht, wo er hinaus wollte. + +»Ich spreche von diesen kurzgeschorenen Mädchen,« fuhr der redselige +Ilja Petrowitsch fort, »ich habe sie selbst gelehrte Hebammen benannt +und finde, daß diese Benennung sehr treffend ist. He! he! Sie kriechen +in die medizinische Akademie, lernen Anatomie; und, sagen Sie mir, +glauben Sie, wenn ich krank werde, daß ich mir etwa ein solches Mädchen +hole ließe, daß sie mich behandele? He! he!« + +Ilja Petrowitsch lachte, sehr zufrieden mit seinen eigenen Witzen. + +»Es ist wohl wahr, der Durst nach Bildung ist grenzenlos; aber nachdem +einer sich gebildet hat, muß es für ihn genug sein. Warum denn es +mißbrauchen? Warum denn ehrenhafte Personen beleidigen, wie es dieser +Schurke Sametoff tut? Warum hat er mich beleidigt, frage ich Sie? Und +wie die Selbstmorde jetzt zunehmen, -- Sie können es sich gar nicht +vorstellen. Alle verprassen ihr letztes Geld und töten sich dann. Kleine +Mädchen, Jungen, Greise ... Heute früh noch erhielten wir Mitteilung +über einen vor kurzem zugereisten Herrn Nil Pawlytsch, ah, Nil +Pawlytsch! Wie hieß doch dieser Gentleman, der sich erschossen hat, über +den wir die Mitteilung vorhin erhielten?« + +»Sswidrigailoff,« antwortete jemand aus dem anderen Zimmer laut und +teilnahmslos. + +Raskolnikoff zuckte zusammen. + +»Sswidrigailoff! Sswidrigailoff hat sich erschossen?« rief er aus. + +»Wie! Sie kannten Sswidrigailoff?« + +»Ja ... ich kannte ihn ... Er war vor kurzem hierher gekommen ...« + +»Nun, ja, er ist vor kurzem zugereist, hat seine Frau verloren, führte +ein ausschweifendes Leben, und hat sich plötzlich erschossen, und so +skandalös, daß man es sich nicht vorstellen kann ... hat in seinem +Notizbuche ein paar Worte hingeschrieben, daß er bei vollem Verstande +sterbe, und bittet, niemanden wegen seines Todes zu beschuldigen. Er +hatte Geld, sagt man. Wie haben Sie ihn denn kennengelernt?« + +»Ich ... kannte ihn ... meine Schwester war in seinem Hause als +Gouvernante ...« + +»Ah ... Sie können uns also über ihn einiges mitteilen. Sie ahnten gar +nichts davon?« + +»Ich habe ihn gestern gesehen ... er ... trank Wein ... ich ahnte +nichts.« + +Raskolnikoff fühlte sich so niedergeschmettert, als wäre etwas auf ihn +heruntergefallen und drücke ihn zu Boden. + +»Sie sind blaß geworden. Bei uns ist die Luft sehr stickig ...« + +»Ja, es ist für mich Zeit zu gehen,« murmelte Raskolnikoff, -- +»entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe ...« + +»Oh, bitte sehr! Es war mir ein Vergnügen und ich bin froh, Ihnen zu +sagen ...« + +Ilja Petrowitsch reichte ihm die Hand. + +»Ich wollte bloß ... zu Sametoff ...« + +»Ich begreife, begreife. Es war mir ein Vergnügen.« + +»Ich ... freue mich sehr ... auf Wiedersehen ...« lächelte Raskolnikoff. + +Er ging hinaus; schwankend. Der Kopf schwindelte ihm. Er fühlte seine +Füße nicht mehr. Langsam begann er die Treppe hinabzusteigen und stützte +sich dabei mit der rechten Hand an der Wand. Es schien ihm, daß ein +Hausknecht mit einem Buche in der Hand ihn gestoßen habe, daß ein Hund +im unteren Stockwerke ununterbrochen belle und daß ein Weib ein +Holzscheit nach dem Hunde werfe und ihn anschreie. Er ging die Treppe +hinunter und trat in den Hof. Hier auf dem Hofe, unweit vom Ausgange, +stand Ssonja, totenbleich, starr, und sah ihn fassungslos an. Er blieb +vor ihr stehen. Ihr Gesicht zeigte einen schmerzlichen, abgequälten, +verzweifelten Ausdruck. Sie schlug die Hände zusammen. Ein bitteres, +verlorenes Lächeln erschien für einen Moment auf seinen Lippen. Eine +Weile blieb er stehen, betrachtete sie und ging dann wieder hinauf in +das Polizeibureau. + +Ilja Petrowitsch hatte sich gesetzt und wühlte in allerhand Papieren. +Vor ihm stand derselbe Mann, der vorhin Raskolnikoff gestoßen hatte. + +»Ah! Sie sind es wieder! Haben Sie etwas vergessen? ... Aber was ist mit +Ihnen?« + +Raskolnikoff näherte sich ihm mit blassen Lippen, mit verglasten Augen, +langsam trat er an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand darauf, +wollte etwas sagen, aber konnte nicht; man hörte bloß unzusammenhängende +Töne. + +»Ihnen ist schlecht, ein Stuhl! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl, +setzen Sie sich! Wasser!« + +Raskolnikoff ließ sich auf den Stuhl nieder, wandte aber die Augen von +dem Gesichte des äußerst unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch nicht +ab. Beide blickten eine Minute lang einander an und warteten. Das Wasser +wurde gebracht. + +»Ich habe ...« begann Raskolnikoff. + +»Trinken Sie Wasser.« + +Raskolnikoff wehrte mit der Hand das Wasser ab und sagte leise mit +Pausen, aber deutlich: + +»_Ich habe damals die alte Beamtenwitwe ... und ihre Schwester Lisaweta +... mit dem Beile erschlagen ... und beraubt._« + +Ilja Petrowitsch öffnete den Mund vor Staunen. Von allen Seiten kamen +die Menschen gelaufen. + +Raskolnikoff wiederholte sein Geständnis. + + + + + Epilog + + + I. + +Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Flusses steht eine Stadt, eine von +den administrativen Zentren Rußlands; in der Stadt befindet sich eine +Festung, in der Festung ein Gefängnis. Im Gefängnisse sitzt schon neun +Monate der Zwangsarbeiter der zweiten Kategorie Rodion Raskolnikoff. +Seit dem Tage seiner Tat sind fast anderthalb Jahre vergangen. + +Das Verfahren gegen ihn verlief ohne besondere Schwierigkeiten. Der +Verbrecher hielt sein Geständnis aufrecht, bestimmt und klar, ohne die +Sache zu verwirren, ohne etwas zu beschönigen, ohne die Tatsachen zu +verzerren und ohne die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er hatte +bis zum letzten Punkt den ganzen Vorgang der Ermordung erzählt, hatte +das Geheimnis _des Versatzobjekts_ (des Stückes Holzes mit einem +Streifen aus Metall), das man in den Händen der ermordeten Alten +gefunden hatte, erklärt; er hatte umständlich erzählt, wie er die +Schlüssel von der Getöteten genommen hatte, beschrieb die Schlüssel, die +Truhe und womit sie angefüllt war; er hatte sogar einige von den +einzelnen Gegenständen, die darin lagen, aufgezählt; hatte das Rätsel +der Ermordung von Lisaweta erklärt; hatte erzählt, wie Koch gekommen war +und geklopft hatte, wie der Student nach ihm gekommen war, und hatte +alles, was sie untereinander gesprochen hatten, wiedergegeben; hatte +auch erzählt, wie er, der Verbrecher, nachher die Treppe +hinuntergelaufen war und das Kreischen von Nikolai und Dmitri gehört +hatte, wie er sich in der leerstehenden Wohnung versteckt hatte, nach +Hause gekommen war, und zum Schluß gab er den Stein auf dem Hofe am +Wosnesensky-Prospekt hinter dem Tore an, unter dem man auch die Sachen +und den Beutel fand. Mit einem Worte, die Sache war klar. Die +Untersuchungsrichter und die Richter waren unter anderem darüber sehr +erstaunt, daß er den Beutel und die Sachen, ohne sie zu verwenden, unter +einem Steine versteckt hatte, mehr aber darüber, daß er sich aller +Gegenstände, die er eigentlich geraubt hatte, nicht im einzelnen +erinnerte, sondern sich sogar in ihrer Zahl geirrt hatte. Der Umstand +schon, daß er kein einziges Mal den Beutel geöffnet und nicht mal wußte, +wie viel an Geld darin lag, erschien unglaublich; im Beutel waren, +wie sich herausstellte, dreihundertsiebzehn Rubel und drei +Zwanzig-Kopekenstücke; von dem langen Liegen unter dem Steine waren +einige größere Scheine, die zu oberst lagen, stark verdorben. Man mühte +sich lange ab, zu erforschen, warum der Angeklagte gerade in diesem +einzigen Punkte log, wo er doch in allem übrigen ein freiwilliges und +aufrichtiges Geständnis ablegte? Schließlich kamen einige, besonders die +Psychologen, zu der möglichen Annahme, daß er in der Tat keinen Blick in +den Beutel geworfen habe, daher auch nicht gewußt habe, was er enthielt, +und ohne es zu wissen, den Beutel einfach unter den Stein gelegt habe; +sie zogen aber auch sofort daraus die Folgerung, daß das Verbrechen +selbst nicht anders ausgeführt sein könnte, als bei gewisser +zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit, unter einer krankhaften Manie, zu +morden und zu rauben, ohne weitere Zwecke und Berechnungen. Hierzu +gesellte sich noch die neueste moderne Theorie von zeitweiliger +Geistesgestörtheit, die man in unserer Zeit so oft versucht, bei manchen +Verbrechern anzuwenden. Außerdem wurde der hypochondrische Zustand +Raskolnikoffs seit langer Zeit genau von vielen Zeugen, dem Arzte +Sossimoff, seinen früheren Kameraden, seiner Wirtin und deren +Dienstboten bestätigt. Dies alles half sehr zu der Annahme, daß +Raskolnikoff einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe nicht +gleichzusetzen sei, daß etwas ganz anderes vorliege. Zum größten Verdruß +derer, die diese Ansicht vertraten, versuchte der Verbrecher selbst sich +fast gar nicht zu verteidigen; auf die endgültigen Fragen, -- was ihn +zum Morde bewogen haben konnte, und was ihn den Raub zu vollziehen +angetrieben habe, -- antwortete er sehr klar, mit der gröbsten +Offenheit, daß die ganze Ursache seine schlechte Lage, seine Armut und +Hilflosigkeit und der Wunsch gewesen war, -- die ersten Schritte seiner +Laufbahn mit Hilfe von wenigstens dreitausend Rubel zu sichern, die er +bei der Ermordeten zu finden gehofft habe. Er habe sich zum Morde +infolge seines leichtsinnigen und kleinmütigen Charakters entschlossen, +der außerdem durch Entbehrungen und Mißerfolge gereizt war. Auf die +Frage aber, was ihn veranlaßt habe, ein Geständnis abzulegen, antwortete +er offen, daß es aufrichtige Reue gewesen sei. -- Dies alles war schon +fast grob ... + +Das Urteil fiel milder aus, als man erwarten konnte, vielleicht auch +deshalb, weil man bei der Straffestsetzung auch den Umstand in Betracht +zog, daß der Verbrecher nicht bloß auf alle Selbstverteidigung +verzichtete, sondern offenbar den Wunsch zeigte, sich selbst noch mehr +zu belasten. Alle eigentümlichen und besonderen Umstände der +Angelegenheit wurden in Erwägung gezogen. Der krankhafte und notleidende +Zustand des Verbrechers vor Ausführung der Tat wurde nicht dem +geringsten Zweifel unterzogen. Der Umstand, daß er von dem Geraubten +keinen Nutzen gezogen hatte, wurde teilweise der erwachten Reue, +teilweise dem nicht ganz gesunden Zustande seiner Geistesfähigkeiten +während der Ausführung der Tat zugeschrieben. Die zufällige Ermordung +von Lisaweta diente sogar als Umstand, der die letzte Annahme +bestätigte, -- ein Mensch vollzieht zwei Morde und vergißt gleichzeitig, +daß die Türe nicht verschlossen war! Schließlich, das freiwillige +Geständnis gerade in dem Momente, wo die Sache ungewöhnlich verwickelt +wurde, infolge der falschen Selbstanklage eines niedergeschlagenen +Phantasten (Nikolai), und außerdem, wo nicht nur keine klaren Beweise, +sondern fast kein Verdacht gegen den tatsächlichen Verbrecher vorgelegen +hatte, -- (Porphyri Petrowitsch hatte sein Wort vollkommen gehalten) -- +dies alles zusammen verhalf dem Angeklagten zu einer milderen +Bestrafung. + +Außerdem erschienen völlig unerwartet auch andere Umstände, die stark zu +seinen Gunsten ins Gewicht fielen. Der frühere Student Rasumichin hatte +irgendwo Mitteilungen erhalten und sie durch Beweise erhärtet, daß der +Verbrecher Raskolnikoff, als er noch auf der Universität war, aus seinen +letzten Mitteln einem armen und schwindsüchtigen Kameraden geholfen und +ihn ein halbes Jahr hindurch fast gänzlich unterhalten hatte. Als der +Kamerad gestorben war, übernahm er die Sorge um dessen alten und +gelähmten Vater, den sein Kamerad durch seiner Hände Arbeit fast seit +seinem dreizehnten Lebensjahre ernährt und unterstützt hatte, +schließlich hatte Raskolnikoff den alten Vater in einem Krankenhaus +untergebracht und, als auch er starb, ihn beerdigen lassen. Alle diese +Mitteilungen hatten einen gewissen Einfluß auf das Schicksal von +Raskolnikoff. Seine frühere Wirtin, die Mutter seiner verstorbenen +Braut, die Witwe Sarnitzin, legte auch ein Zeugnis ab, daß Raskolnikoff, +als sie noch in einem anderen Hause wohnten, während einer Feuersbrunst +in der Nacht aus einer Wohnung, die schon brannte, zwei kleine Kinder +gerettet habe und dabei selbst Brandwunden davontrug. Diese Tatsache +wurde genau untersucht und auch durch andere Zeugen bestätigt. Mit einem +Worte, es endete damit, daß der Verbrecher zur Zwangsarbeit der zweiten +Kategorie, im ganzen nur zu acht Jahren verurteilt wurde, infolge seines +freiwilligen Geständnisses und mehrerer mildernder Umstände. + +Noch beim Beginn des Prozesses wurde Raskolnikoffs Mutter krank. Dunja +und Rasumichin fanden es für ratsam, sie während der ganzen +Gerichtsverhandlung aus Petersburg fortzuschaffen. Rasumichin wählte +eine Stadt an der Eisenbahn und in der Nähe von Petersburg, um die +Möglichkeit zu haben, allen Phasen des Prozesses genau zu folgen und +gleichzeitig möglichst oft Awdotja Romanowna zu sehen. Pulcheria +Alexandrownas Leiden war eine eigentümliche Nervenerkrankung und wurde +durch eine, wenn auch nicht völlige, so doch zeitweilige Geistesstörung +kompliziert. Dunja fand ihre Mutter, als sie von ihrer letzten +Zusammenkunft mit dem Bruder zurückkehrte, vollständig krank, in Fieber +und Wahnvorstellungen. Am selben Abend noch kam sie mit Rasumichin +darüber überein, was man der Mutter auf ihre Fragen nach dem Sohne +antworten solle, und hatte sogar mit ihm zusammen für die Mutter eine +ganze Geschichte erdichtet, daß Raskolnikoff sehr weit an die Grenze +Rußlands in einem privaten Auftrage gereist sei, der ihm endlich Geld +und Berühmtheit eintragen werde. Sie waren aber überrascht, daß +Pulcheria Alexandrowna selbst weder damals, noch späterhin sie irgend +etwas frug. Im Gegenteil, es zeigte sich, daß sie selbst eine ganze +Geschichte über die plötzliche Abreise des Sohnes wußte; sie erzählte +mit Tränen, wie er zu ihr gekommen war, um von ihr Abschied zu nehmen; +deutete dabei an, daß nur sie allein viele, sehr wichtige und +geheimnisvolle Umstände kenne, und daß Rodja sehr viele einflußreiche +Feinde habe, so daß er sich verbergen müsse. Was seine künftige Karriere +anbetraf, schien sie ihr auch unzweifelhaft und glänzend zu sein, -- +wenn gewisse unbequeme Umstände beseitigt wären; sie versicherte +Rasumichin, daß ihr Sohn mit der Zeit sogar ein bedeutender Staatsmann +würde, wofür sein Artikel und sein glänzendes literarisches Talent +zeugten. Immer las sie seinen Artikel, las ihn zuweilen laut vor und +legte sich fast mit ihm zu Bett, trotzdem aber fragte sie fast nie, wo +sich jetzt Rodja befinde, ungeachtet dessen, daß man augenscheinlich +vermied, mit ihr darüber zu sprechen, -- was doch allein schon Argwohn +bei ihr hätte erwecken müssen. Man begann endlich, sich über dieses +merkwürdige Schweigen von Pulcheria Alexandrowna in Bezug auf manche +Punkte zu ängstigen. Sie klagte z. B. nicht einmal darüber, daß sie von +ihm keine Briefe erhalte, wogegen sie früher, als sie noch in ihrem +Heimatsstädtchen wohnte, bloß von der Hoffnung und in der Erwartung +lebte, bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu erhalten. Der +letzte Umstand war zu unerklärlich und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam +der Gedanke, daß die Mutter möglicherweise etwas Schreckliches im Leben +ihres Sohnes ahne und sich fürchtete, zu fragen, um nicht etwas noch +entsetzlicheres zu erfahren. In jedem Falle aber sah Dunja klar, daß +Pulcheria Alexandrowna nicht bei gesundem Verstande war. + +Ein paarmal war es vorgekommen, daß sie selbst das Gespräch so führte, +daß es unmöglich war, bei Beantwortung ihrer Fragen nicht zu erwähnen, +wo sich Rodja jetzt aufhielt; als aber die Antworten natürlich +ungenügend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich traurig, düster +und schweigsam, und das dauerte eine ziemlich lange Zeit an. Dunja sah +schließlich ein, daß es schwer war, ihr etwas vorzulügen und zu +erdichten, und kam zu dem endgültigen Entschlusse, besser über bestimmte +Punkte vollkommen zu schweigen; aber es wurde immer deutlicher und +klarer, daß die arme Mutter etwas Schreckliches ahnte. Dunja entsann +sich unter anderem auch der Worte ihres Bruders, daß die Mutter ihre +Reden im Traume in der Nacht vor dem letzten schicksalsschweren Tage, +nach der Szene mit Sswidrigailoff vernommen habe. -- Sollte sie damals +etwas gehört und verstanden haben? Oft wurde die Kranke, zuweilen nach +Tagen und Wochen eines düsteren, finsteren Schweigens und wortloser +Tränen, von aufgeregter Lebhaftigkeit ergriffen und begann plötzlich +laut und unaufhörlich von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen, von der +Zukunft zu sprechen ... ihre Phantasien waren manchmal sehr sonderbar. +Man tröstete sie, man stimmte ihr bei; sie merkte vielleicht selbst, daß +man ihr beistimmte, sie bloß tröstete, aber dennoch redete sie ... + +Fünf Monate, nachdem sich der Verbrecher selbst gestellt hatte, erfolgte +das Urteil. Rasumichin besuchte ihn so oft im Gefängnis, als es nur +möglich war. Auch Ssonja kam zu ihm. Schließlich kam die Trennung; Dunja +schwur dem Bruder, daß diese Trennung nicht ewig währen würde; +Rasumichin tat dasselbe. In Rasumichins jungem und feurigem Kopfe war +unerschütterlich der Plan entstanden, -- in den nächsten drei, vier +Jahren möglichst den Grundstock zu einem Vermögen zu legen, wenigstens +etwas Geld zu ersparen und nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in +jeder Hinsicht reich war, aber wenig tatkräftige Menschen mit Kapital +existierten; dort in derselben Stadt, wo Rodja sein werde, sich +anzusiedeln und ... für alle zusammen ein neues Leben zu beginnen ... +Als der Abschied kam, weinten alle. Raskolnikoff war in den allerletzten +Tagen sehr nachdenklich, fragte viel nach der Mutter und war ihretwegen +in ständiger Unruhe. Er quälte sich sehr um sie, was Dunja wiederum +beunruhigte. Als er die Einzelheiten über den krankhaften Zustand der +Mutter erfahren hatte, wurde er sehr finster. Zu Ssonja war er in der +ganzen Zeit aus irgendeinem Grunde auffallend wortkarg. Ssonja hatte +sich schon längst mit Hilfe des Geldes, das ihr Sswidrigailoff gegeben +hatte, zur Reise vorbereitet und machte sich bereit, der Abteilung von +Sträflingen, mit denen er verschickt werden sollte, zu folgen. Darüber +war zwischen ihr und Raskolnikoff niemals ein Wort gewechselt worden, +doch beide wußten, daß es so sein werde. Beim letzten Abschiede lächelte +er eigen bei den heißen Beteuerungen der Schwester und Rasumichins über +ihrer aller glückliche Zukunft, sobald er die Zwangsarbeit abgebüßt +habe, und sagte im voraus, daß der krankhafte Zustand der Mutter bald +mit einem Unglücke enden würde. Er und Ssonja traten den Weg nach +Sibirien an. + +Zwei Monate nachher heiratete Dunetschka Rasumichin. Die Hochzeit war +traurig und still. Unter den Gästen waren auch Porphyri Petrowitsch und +Sossimoff. In der letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines fest +entschlossenen Menschen gewonnen. Dunja glaubte bestimmt, daß er alle +seine Pläne verwirklichen werde und mußte daran glauben, -- in diesem +Menschen steckte ein eiserner Wille. Unter anderem begann er wieder die +Vorlesungen in der Universität zu besuchen, um sein Studium +abzuschließen. Beide bauten immer Pläne für die Zukunft; beide rechneten +fest darauf, nach fünf Jahren nach Sibirien übersiedeln zu können. Bis +dahin hofften sie auf Ssonja ... + +Pulcheria Alexandrowna gab mit Freude der Tochter ihren Segen zur +Hochzeit mit Rasumichin; nach der Hochzeit aber wurde sie scheinbar noch +trauriger und sorgenvoller. Um ihr eine Freude zu machen, teilte ihr +Rasumichin unter anderem auch die Geschichte von dem Studenten und +seinem greisen Vater mit und auch, daß Rodja sich verbrannt habe und +sogar krank war, als er im vorigen Jahre zwei Kinder vor dem Flammentode +gerettet hatte. Beide Mitteilungen versetzten die verstörte Pulcheria +Alexandrowna fast in einen verzückten Zustand. Sie redete ununterbrochen +darüber, knüpfte Gespräche auf der Straße an, obwohl Dunja sie ständig +begleitete. In Omnibussen und in Läden, wenn sie bloß einen Zuhörer +fand, brachte sie das Gespräch auf ihren Sohn, auf seinen Artikel und +darauf, wie er einem Studenten geholfen habe, wie er bei der +Feuersbrunst Brandwunden erhalten habe und dergleichen mehr. Dunetschka +wußte nicht mehr, wie sie sie davon abhalten konnte. Abgesehen von der +Gefahr solch eines verrückten krankhaften Zustandes, drohte auch das +Unglück, daß jemand sich auf den Namen Raskolnikoff aus der +Gerichtsverhandlung besinnen und darüber etwas sagen konnte. Pulcheria +Alexandrowna hatte sogar die Adresse der Mutter von den zwei bei der +Feuersbrunst geretteten Kindern erfahren und wollte sie unbedingt +aufsuchen. Schließlich stieg ihre Unruhe bis aufs äußerste. Sie fing +zuweilen plötzlich an zu weinen, wurde oft bettlägerig und phantasierte +im Fieber. Eines Morgens erklärte sie, daß nach ihrer Berechnung Rodja +bald zurückkehren müsse, daß sie sich erinnere, wie er beim Abschiede +selbst erwähnt habe, daß man ihn nach neun Monaten erwarten solle. Sie +begann alles in der Wohnung in Ordnung zu bringen und Vorbereitungen zu +seinem Empfange zu machen, begann das für ihn bestimmte Zimmer, -- ihr +eigenes, -- zu schmücken, die Möbel zu putzen, Vorhänge zu waschen und +aufzuhängen und dergleichen mehr. Dunja wurde sehr unruhig, schwieg aber +und half ihr sogar, das Zimmer für den Bruder instand zu setzen. Nach +einem unruhigen Tage, der in ständigen Phantasien, in freudigen Träumen +und Tränen verging, erkrankte sie in der Nacht und lag am anderen Morgen +in Fieber und Fieberphantasien. Eine Nervenkrisis war ausgebrochen. Nach +zwei Wochen starb sie. In Fieberphantasien entrangen sich ihr Worte, aus +denen man annehmen mußte, daß sie bedeutend mehr über das schreckliche +Schicksal ihres Sohnes ahnte, als man geglaubt hatte. + +Raskolnikoff erfuhr lange nicht den Tod seiner Mutter, obwohl er mit +Petersburg schon seit dem Anfang seiner Übersiedlung nach Sibirien in +Briefwechsel stand. Ssonja vermittelte die Briefe und empfing auch +pünktlich jeden Monat eine Antwort aus Petersburg. Ssonjas Briefe +erschienen Dunja und Rasumichin zuerst etwas trocken und unbefriedigend; +aber beide fanden bald, daß man nicht besser schreiben konnte, denn aus +diesen Briefen empfing man doch zu guter Letzt eine ganz genaue und +klare Vorstellung von dem Schicksal ihres unglücklichen Bruders. Ssonjas +Briefe waren mit der alltäglichsten Wirklichkeit, mit der einfachsten +und klarsten Darstellung der ganzen Umgebung Raskolnikoffs in der +Zwangsarbeit angefüllt. Es gab dabei weder eine Darstellung ihrer +eigenen Hoffnungen, noch Träume um die Zukunft, noch Beschreibungen +ihrer Gefühle. Anstatt zu versuchen, seinen seelischen Zustand und +überhaupt sein ganzes Seelenleben zu erklären, beschränkte sie sich auf +Tatsachen, d. h. auf seine eigenen Worte, genaue Mitteilungen über +seinen Gesundheitszustand, seine Wünsche bei ihren Besuchen, seine +Aufträge und dergleichen mehr. Alle diese Nachrichten wurden mit der +äußersten Genauigkeit wiedergegeben. Das Bild des unglücklichen Bruders +trat schließlich hervor, zeichnete sich deutlich und klar ab; hier +konnte es keine Irrtümer geben, denn alles waren sichere Tatsachen. + +Aber wenig erfreuliches konnten Dunja und ihr Mann aus diesen +Nachrichten, besonders im Anfang, schöpfen. Ssonja teilte immer nur mit, +daß er ständig düster, wenig gesprächig sei und sich fast gar nicht für +die Nachrichten interessiere, die sie ihm jedesmal aus den von ihr +empfangenen Briefen überbrachte; daß er zuweilen nach der Mutter frage, +und als sie ihm schließlich ihren Tod mitteilte, nachdem sie gemerkt +hatte, daß er die Wahrheit ahne, da schien -- zu ihrer Verwunderung -- +auch die Nachricht von dem Tode der Mutter auf ihn keinen starken +Eindruck gemacht zu haben, wenigstens es schien ihr so nach seinem +Äußeren. Sie teilte auch unter anderem mit, daß er bei aller +Selbstversunkenheit und Verschlossenheit -- sich zu seinem neuen Leben +offen und schlicht verhalte; er begreife klar seine Lage, erwarte in der +nächsten Zeit nichts besseres, habe keine leichtsinnigen Hoffnungen, was +doch so verständlich in seiner Lage wäre, und wundere sich fast über +nichts in seiner neuen Umgebung, die so wenig Ähnlichkeit mit seinem +früheren Leben habe; seine Gesundheit sei befriedigend. Er gehe zur +Arbeit, der er nicht ausweiche und um die er nicht bitte. Dem Essen +gegenüber sei er fast gleichgültig, aber das Essen sei, außer an Sonn- +und Feiertagen, so schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Ssonja, +etwas Geld genommen habe, um seinen eigenen Tee sich zu halten; wegen +des übrigen habe er sie gebeten, sich nicht zu beunruhigen, und sie +versicherte, daß alle diese Sorgen um seine Person ihn bloß verdrießlich +machten. Weiterhin teilte Ssonja mit, daß er im Gefängnis in einem Raume +mit den anderen untergebracht sei; die inneren Räume und Kasernen habe +sie nicht gesehen, aber nehme an, daß sie eng, häßlich und ungesund +seien; er schlafe auf einer Pritsche, brauche, als Unterlage, Filz und +wolle nichts anderes haben. Er lebe aber so schlecht und ärmlich, nicht +aus einem bestimmten Plane oder absichtlich, sondern aus Unachtsamkeit +und äußerster Gleichgültigkeit gegen sein Schicksal. Ssonja machte kein +Hehl daraus, daß er, besonders im Anfang, sich nicht bloß für ihre +Besuche nicht interessierte, sondern über sie fast ungehalten war, wenig +mit ihr sprach, ja grob zu ihr war, daß aber schließlich diese +Zusammenkünfte ihm zur Gewohnheit und fast zum Bedürfnis geworden waren, +so daß er sich sogar grämte, wenn sie einige Tage krank war und ihn +nicht besuchen konnte. Sie sehe ihn an Sonntagen am Gefängnistore oder +im Wachthause, wohin man ihn auf einige Minuten zu ihr rufe; an +Werktagen sehe sie ihn bei der Arbeit, entweder in den Werkstätten oder +in der Ziegelei oder in den Scheunen am Ufer des Irtysch. Über sich +selbst teilte Ssonja mit, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt einige +Bekanntschaften anzuknüpfen und Protektion zu finden, daß sie sich mit +Nähen beschäftige, und da in der Stadt es fast keine Schneiderin gebe, +so sei sie in vielen Häusern ganz unentbehrlich geworden; aber sie +erwähnte nicht, daß durch sie auch Raskolnikoff Protektion bei seinen +Behörden gefunden habe, daß ihm leichtere Arbeiten zugeteilt wurden und +dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht -- (Dunja hatte in den +letzten Briefen eine besondere Aufregung und Unruhe herausgefühlt) --, +daß er alle meide, daß die Sträflinge ihn nicht gern hätten, daß er +tagelang schweige und sehr blaß werde. Plötzlich schrieb Ssonja in ihrem +letzten Briefe, daß er ernstlich erkrankt sei und im Hospital in der +Arrestantenabteilung liege ... + + + II. + +Er war schon lange vorher krank, aber nicht die Schrecken der +Zwangsarbeit, nicht die physische Arbeit, nicht die Nahrung, noch der +abrasierte Kopf, noch die gezeichnete Kleidung hatten ihn gebrochen, -- +oh! was gingen ihn alle diese Qualen und Martern an! Im Gegenteil, er +war über die Arbeit sogar froh, -- wenn er sich körperlich geplagt +hatte, erwarb er sich wenigstens dadurch einige Stunden ruhigen +Schlafes. Und was bedeutete ihm das Essen, -- diese fleischlose +Kohlsuppe mit Schwaben? Als er noch Student war, im früheren Leben, +hatte er oft auch das nicht mal gehabt. Seine Kleidung war warm und für +seine Lebensweise berechnet. Ketten fühlte er fast gar nicht. Sollte er +sich etwa seines rasierten Kopfes und der markierten Joppe schämen? Aber +vor wem denn? Etwa vor Ssonja? Ssonja fürchtete ihn, und sollte er sich +etwa vor ihr schämen? Was denn sonst? Er schämte sich freilich vor +Ssonja, die er durch seine verächtliche und grobe Behandlung quälte. +Aber er schämte sich nicht des rasierten Kopfes und der Ketten, -- sein +Stolz war verletzt; und er erkrankte an verwundetem Stolze. Oh, wie +glücklich wäre er, wenn er sich selbst anklagen könnte! Er würde dann +alles, sogar die Schande und die Schmach ertragen! Er saß aber streng +mit sich zu Gerichte, und sein erbittertes Gewissen hatte in seiner +Vergangenheit keine besondere Schuld gefunden, außer einem einfachen +_Irrtum_, der jedem passieren kann. Er schämte sich hauptsächlich +deswegen, daß er, Raskolnikoff, so blind, hoffnungslos, still und dumm, +infolge eines Spruches des blinden Schicksals, zugrunde gegangen war, +und daß er sich vor der »Sinnlosigkeit« eines Urteils beugen und +unterwerfen mußte, um einigermaßen zur Ruhe zu kommen. + +Eine gegenstandslose und zwecklose Unruhe in der Gegenwart und ein +ununterbrochenes Opfer in der Zukunft, durch das man nichts gewann, -- +das stand ihm in der Welt bevor. Und was lag daran, daß er nach acht +Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt war und von neuem zu leben beginnen +konnte? Wozu soll er leben? Was soll er in Aussicht haben? Wozu streben? +Zu leben, um zu existieren? Aber er war auch früher tausendmal bereit, +sein Leben für eine Idee, für eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie +hinzugeben. Das Leben allein war ihm stets wenig gewesen; er wollte +immer Größeres haben. Vielleicht hatte er sich auch damals, bloß nach +der Kraft seiner Wünsche, für einen Menschen, dem mehr, als einem +anderen erlaubt sei, gehalten. + +Wenn doch das Schicksal ihm Reue senden würde, -- eine brennende Reue, +die das Herz bricht, die den Schlaf verjagt, solch eine Reue, bei deren +schrecklichen Qualen einem die Schlinge und Wasser, wo es am tiefsten +ist, vorschwebt! Oh, er würde sich darüber freuen! Qualen und Tränen -- +das ist doch Leben. Aber er bereute nicht sein Verbrechen. + +Könnte er sich wenigstens über seine Dummheit ärgern, wie er sich früher +über die abscheulichen und dummen Handlungen geärgert hatte, die ihn +nach Sibirien gebracht hatten. Jetzt aber, im Gefängnisse, _in +Freiheit_, überlegte er und dachte über alle seine früheren Handlungen +nach und fand sie gar nicht so dumm und abscheulich, wie sie ihm früher +in der verhängnisvollen Zeit vorgekommen waren. + +»Wodurch, wodurch,« dachte er, »ist meine Idee dümmer, als die anderen +Ideen und Theorien, die in der Welt, solange diese Welt besteht, +herumschwirren und aneinanderprallen? Man braucht bloß die Sache von +einem völlig unabhängigen, weiten und von den alltäglichen Einflüssen +losgelösten Standpunkte zu betrachten, und da erscheint, sicher, mein +Gedanke gar nicht so ... sonderbar. Oh, ihr Verneiner und Weisen, von +einem Groschen Werte, warum bleibt ihr auf dem halben Wege stehen!« + +»Warum erscheint ihnen meine Handlung so abscheulich?« sagte er sich. +»Weil es eine böse Tat ist? Was bedeutet das Wort >böse Tat<? Mein +Gewissen ist ruhig. Gewiß, es ist ein Kriminalverbrechen geschehen; +gewiß, der Buchstabe des Gesetzes ist übertreten und Blut ist vergossen, +nun, nehmt da, für den Buchstaben des Gesetzes, meinen Kopf ... und +genug! Gewiß, in diesem Falle müßten viele Wohltäter der Menschheit, die +die Macht nicht geerbt, sondern selbst an sich gerissen haben, bei ihren +allerersten Schritten hingerichtet worden sein. Jene Menschen aber +ertrugen ihre Schritte und darum _sind sie im Rechte_, ich aber habe es +nicht ertragen, und also hatte ich nicht das Recht, mir diesen Schritt +zu gestatten.« + +Nur in diesem Punkte erkannte er sein Verbrechen, -- nur darin allein, +daß er es nicht ertragen und sich freiwillig gestellt hatte. + +Er litt auch unter dem Gedanken, daß er sich damals nicht das Leben +genommen hatte. Warum hatte er damals am Flusse gestanden und das +Geständnis vorgezogen? Steckt denn tatsächlich so eine Macht in diesem +Wunsche zu leben, und ist sie so schwer zu überwinden? Sswidrigailoff, +der sich vor dem Tode fürchtete, hatte es doch überwunden? + +Er stellte sich voller Qual diese Frage und konnte nicht verstehen, daß +er vielleicht schon damals, als er am Wasser stand, in sich selbst und +seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge geahnt hatte. Er verstand nicht, +daß diese Vorahnung eine künftige Umwälzung in seinem Leben, seine +einstige Auferstehung, eine neue Anschauung vom Leben bedeutete. + +Er ließ hierbei bloß den stumpfen Instinkt gelten, den er nicht imstande +war, zu brechen, und über den er wiederum nicht imstande war -- aus +Schwäche und Unbedeutendheit -- hinwegzuschreiten. Er betrachtete seine +Kameraden im Gefängnis und wunderte sich, -- wie auch sie alle das Leben +liebten und wie sie daran hingen! Ihm schien es sogar, daß man im +Gefängnisse noch mehr das Leben liebte und schätzte und mehr daran hing, +als in der Freiheit. Welche schrecklichen Qualen und Martern haben +manche von ihnen, wie zum Beispiel die Landstreicher, ertragen! Bedeutet +für diese Menschen wirklich soviel ein Sonnenstrahl, ein düsterer Wald, +oder eine kühle Quelle irgendwo im unbekannten Dickicht, die einer vor +ein paar Jahren gefunden und sich gemerkt hat, nach der er sich wie nach +einer Geliebten sehnt, und von der er träumt, die er im Traume, umgeben +von grünem Grase, sieht und hört, wie ein Vogel im Gebüsch singt? Indem +er seine Mitgefangenen betrachtete, fand er noch mehr unerklärliche +Beispiele dafür. -- Im Gefängnis, in seiner nächsten Umgebung, bemerkte +er selbstverständlich vieles nicht, und wollte auch nichts bemerken. Er +lebte wie mit geschlossenen Augen; es war ihm widerlich und unerträglich +zu sehen. Aber schließlich machte ihn doch vieles staunen und er begann +fast gegen seinen Willen einiges zu bemerken, was er früher nicht mal +geahnt hatte. Überhaupt und am meisten begann ihn jener furchtbare, +jener unüberbrückbare Abgrund zu verwundern, der zwischen ihm und allen +diesen Menschen lag. Es schien, als gehörten er und sie zu verschiedenen +Nationen. Er und sie betrachteten einander mißtrauisch und feindselig. +Er kannte und verstand die allgemeinen Ursachen solch eines +Getrenntseins; aber niemals hätte er früher zugegeben, daß diese +Ursachen in der Tat so tief und stark waren. Im Gefängnisse waren auch +verbannte Polen, politische Verbrecher. Jene betrachteten alle diese +Menschen als Ungebildete und Sklaven, und verachteten sie; Raskolnikoff +aber konnte sie in dieser Weise nicht betrachten, -- er sah deutlich, +daß diese Ungebildeten in vielen Dingen bedeutend klüger als diese Polen +waren. Es waren auch Russen da, die diese Leute ebenfalls zu stark +verachteten, -- da waren ein früherer Offizier und zwei Seminaristen. +Raskolnikoff sah auch klar ihren Irrtum. Ihn selbst aber liebten alle +nicht und gingen ihm aus dem Wege. Man begann sogar ihn schließlich zu +hassen. -- Warum? Er wußte es nicht. Man verachtete ihn, lachte über +ihn, und über sein Verbrechen machten sich jene lustig, die bedeutend +größere Verbrecher als er waren. + +»Du bist ein Herr!« sagte man ihm. »Schickte es sich für dich, mit einem +Beile zu gehen; das ist gar keine Arbeit für Herren!« + +In der zweiten Woche der großen Fastenzeit war seine Kaserne an der +Reihe, sich zum Abendmahle vorzubereiten. Er ging in die Kirche mit den +anderen. Eines Tages kam es zu einem Streit, -- er wußte selbst nicht, +aus welchem Grunde; alle stürzten sich plötzlich wütend über ihn. + +»Du bist ein Gottloser! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie. »Man +müßte dich umbringen.« + +Er hatte niemals mit ihnen über Gott und über Glauben gesprochen, aber +sie wollten ihn, als einen Gottlosen, töten; er schwieg und erwiderte +ihnen nichts. Ein Sträfling stürzte sich auf ihn in rasender Wut; +Raskolnikoff erwartete ihn ruhig und schweigend; seine Augenbraue zuckte +nicht mal, kein Zug seines Gesichtes rührte sich. Der Wachtsoldat +stellte sich noch rechtzeitig zwischen ihn und den Angreifer, -- sonst +wäre Blut geflossen. + +Für ihn war noch eins unerklärlich, -- warum hatten sie alle Ssonja so +lieb? Sie hatte sich bei ihnen nicht eingeschmeichelt; sie trafen sie +selten, bloß zuweilen bei den Arbeiten, wenn sie zu ihm auf einen +Augenblick kam, um ihn zu sprechen. Indessen aber kannten sie Ssonja +alle schon, wußten auch, daß sie _ihm_ gefolgt sei, wußten, wie sie +lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht, erwies ihnen auch +keine besonderen Dienste. Einmal bloß zu Weihnachten brachte sie für das +ganze Gefängnis eingesammelte Geschenke, -- Pasteten und Brezeln. Aber +allmählich hatte sich zwischen ihnen und Ssonja ein näheres Verhältnis +entwickelt, -- sie schrieb für sie Briefe an ihre Verwandten und sandte +sie mit der Post ab. Ihre Verwandten, die zur Stadt kamen, hinterließen +Ssonja auf deren Geheiß Sachen für sie und sogar Geld. Ihre Frauen und +Geliebten kannten Ssonja und besuchten sie. Und wenn sie zu Raskolnikoff +zur Arbeit kam oder einer Partie Sträflinge, die zur Arbeit gingen, +begegnete, -- nahmen alle die Mützen ab, alle grüßten sie, -- +»Mütterchen Ssofja Ssemenowna, du unsere zärtliche, liebe Mutter!« +sagten diese groben gebrandmarkten Zwangsarbeiter zu diesem kleinen und +mageren Geschöpfe. Sie lächelte ihnen zu. Sie liebten sogar ihren Gang, +sie wandten sich um, um ihr nachzusehen, wie sie ging, und lobten sie; +sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten nicht mehr, +wofür sie sie bloß loben sollten. Zu ihr kamen sogar Leute, sich von ihr +kurieren zu lassen. + +Raskolnikoff verbrachte die Fastenzeit und Ostern im Krankenhause. +Während er schon genas, erinnerte er sich seiner Träume, als er noch im +Fieber gelegen hatte. Er träumte in der Krankheit, daß die ganze Welt +einer schrecklichen, unerhörten und nie dagewesenen Pest, die aus den +Tiefen Asiens über Europa kam, zum Opfer fallen sollte. Alle sollten +zugrunde gehen, außer einigen sehr wenigen Auserwählten. Es waren neue +Trichinen erschienen, mikroskopische Wesen, die sich in die Körper von +Menschen einnisteten. Aber diese Wesen waren Geister, ausgerüstet mit +Verstand und Willen. Die Menschen, in denen sie sich eingenistet hatten, +wurden sofort wie Besessene und wahnsinnig. Aber noch niemals hielten +sich die Menschen für so klug und unerschütterlich in ihrer Weisheit, +als es die Angesteckten taten. Niemals hielten sie ihre Urteile, ihre +wissenschaftlichen Ergebnisse, ihre sittlichen Überzeugungen und ihren +Glauben für unerschütterlicher, als jetzt. Ganze Dörfer, ganze Städte +und Völker wurden angesteckt und gebärdeten sich wie wahnsinnig. Alle +waren in Unruhe und verstanden einander nicht, jeder meinte, daß er +allein bloß die Weisheit kenne, und verging vor Qual beim Anblick der +anderen, schlug sich an die Brust, weinte und rang die Hände. Man wußte +nicht, wen und wie man richten sollte, man konnte nicht übereinkommen, +was als Böses und was als Gutes anzusehen war. Man wußte nicht, wen man +anklagen, wen man freisprechen solle. Die Menschen töteten einander in +einer sinnlosen Wut. Ganze Armeen sammelten sie gegeneinander, aber die +Armeen begannen schon auf dem Marsche plötzlich sich selbst zu +bekriegen, die Reihen zerstörten sich, die Soldaten stürzten sich +aufeinander, stachen und töteten, bissen und fraßen einander auf. In den +Städten läutete den ganzen Tag die Sturmglocke, -- man rief alle +zusammen, aber wer und warum er rief, wußte niemand, alle aber waren in +größter Unruhe. Man ließ das gewöhnliche Handwerk fallen, denn jeder kam +mit seinen Gedanken, mit seinen Verbesserungen, und man konnte sich +nicht einigen; der Ackerbau stockte. Hie und da liefen Menschen +zusammen, einigten sich über etwas, schwuren einander nicht zu +verlassen, -- aber sofort begannen sie etwas ganz anderes zu tun als +das, was sie soeben beschlossen hatten, fingen an einander zu +beschuldigen, prügelten sich und mordeten sich. Feuersbrünste +entstanden, Hungersnot trat ein. Alle und alles ging zugrunde. Die Pest +schwoll an und verbreitete sich immer weiter und weiter. In der ganzen +Welt konnten sich bloß einige Menschen retten; das waren Unschuldige und +Auserwählte, die bestimmt waren, ein neues Menschengeschlecht und ein +neues Leben zu begründen, die Erde zu erneuern und zu säubern, aber +niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte +und Stimme gehört. + +Raskolnikoff quälte es, daß dieser sinnlose Traum so traurig und +schmerzlich sein Gedächtnis belastete, daß der Eindruck dieses +Fiebertraumes so lange nicht verschwinde. Die zweite Woche nach Ostern +hatte schon begonnen; es waren warme, klare Frühlingstage; in der +Arrestantenabteilung des Hospitals hatte man die vergitterten Fenster, +unter denen ein Wachposten auf- und abging, geöffnet. Ssonja konnte ihn +während seiner ganzen Krankheit bloß zweimal besuchen; man mußte +jedesmal eine Erlaubnis auswirken, und das war sehr schwer. Aber sie war +oft auf den Hof des Hospitals, besonders gegen Abend, unter sein Fenster +gekommen, zuweilen aber auch bloß, um einen Augenblick auf dem Hofe +stehen zu bleiben und wenigstens von weitem die Fenster seiner Abteilung +zu sehen. Eines Tages war Raskolnikoff, der fast genesen war, gegen +Abend eingeschlafen; als er erwachte, trat er zufällig an das Fenster +und erblickte plötzlich fern am Tore Ssonja. Sie stand dort und schien +auf etwas zu warten. In diesem Augenblicke war es ihm, als würde sein +Herz durchbohrt; er zuckte zusammen und ging schnell vom Fenster weg. Am +anderen Tage erschien Ssonja nicht, ebenfalls nicht am nächstfolgenden +Tage; er merkte, daß er sie voll Unruhe erwarte. Endlich entließ man ihn +aus dem Hospital. Als er ins Gefängnis kam, erfuhr er von den +Sträflingen, daß Ssonja Ssemenowna krank sei, zu Hause liege und nicht +ausgehe. + +Er war sehr beunruhigt und ließ sich nach ihr erkundigen. Er erfuhr +bald, daß ihre Krankheit nicht gefährlich sei. Als Ssonja ihrerseits +hörte, daß er sich so um sie grämte und sorgte, schickte sie ihm ein mit +Bleistift geschriebenes Zettelchen und teilte ihm mit, daß es ihr besser +gehe, daß sie eine leichte Erkältung habe und daß sie bald, sehr bald zu +ihm kommen werde. Als er diesen Zettel las, schlug sein Herz stark und +schmerzhaft. + +Es war wieder ein klarer und warmer Tag. Am frühen Morgen, um sechs Uhr, +ging er zur Arbeit an den Fluß, wo am Ufer in einer Scheune ein Ofen zum +Alabasterbrennen eingerichtet war, und wo der Alabaster gestoßen wurde. +Dorthin gingen bloß drei Arbeiter. Der eine Sträfling war mit dem +Wachtposten in die Festung nach einem Instrument gegangen; der andere +holte Holz und legte es in den Ofen. Raskolnikoff trat aus der Scheune, +ging an das Ufer, setzte sich auf aufgestapelte Balken hin und blickte +lange auf den breiten und öden Fluß. Von dem hohen Ufer aus zeigte sich +die weite Umgebung. Von dem anderen entlegenen Ufer klang kaum hörbar +ein Lied herüber. Dort in der unübersehbaren Steppe, übergossen von der +Sonne, zeigten sich in kaum merklichen dunklen Punkten die Zelte eines +Wandervolkes. Dort lag Freiheit, dort lebten andere Menschen, die den +hiesigen gar nicht ähnelten, dort schien die Zeit stehen geblieben zu +sein, als wäre das Jahrhundert Abrahams und seiner Herden noch nicht +vorüber. Raskolnikoff saß und blickte unverwandt hinüber, ohne sich +losreißen zu können; sein Gedanke verwandelte sich in einen Traum; er +dachte an nichts, aber eine tiefe Schwermut lag auf ihm und quälte ihn. + +Plötzlich trat Ssonja neben ihn. Sie war leise herangekommen und setzte +sich zu ihm. Es war noch sehr früh, die Morgenkälte war noch nicht +verschwunden. Sie hatte ihren alten ärmlichen kleinen Pelz an und das +grüne Tuch. Ihr Gesicht trug noch die Spuren von Krankheit, war magerer, +blasser und eingefallen. Sie lächelte ihm freudig und freundlich zu, +aber reichte ihm schüchtern, wie immer, ihre Hand. + +Sie reichte ihm stets die Hand so schüchtern, zuweilen gar nicht, als +fürchte sie, daß er sie von sich stoßen würde. Er nahm auch stets ihre +Hand wie mit Widerwillen, begrüßte sie stets wie verdrießlich, zuweilen +schwieg er hartnäckig die ganze Zeit während ihres Besuches. Es kam vor, +daß sie zitternd und in tiefem Kummer fortging. Jetzt aber lösten sich +ihre Hände nicht; er blickte sie schnell und flüchtig an, sagte nichts +und schlug seine Augen nieder. Sie waren allein, niemand sah sie. Der +Wachtposten hatte sich gerade umgedreht. + +Wie es gekommen war, wußte er selbst nicht, aber plötzlich schien ihn +etwas zu packen und zu ihren Füßen zu ziehen. Er weinte und umfaßte ihre +Knie. Im ersten Augenblicke erschrak sie heftig und ihr Gesicht war +totenblaß. Sie sprang zitternd auf und sah ihn an. Aber sie begriff im +Nu alles. In ihren Augen leuchtete ein grenzenloses Glück; sie hatte +verstanden und es gab für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebte, +grenzenlos liebte, und daß endlich dieser Augenblick gekommen war ... + +Sie wollten sprechen, aber konnten nicht. Tränen standen in ihrer beider +Augen. Beide waren sie bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und +bleichen Gesichtern leuchtete schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, +der völligen Auferstehung zu neuem Leben. Die Liebe hatte sie erweckt, +das Herz des einen enthielt eine unerschöpfliche Lebensquelle für das +Herz des anderen. + +Sie beschlossen zu warten und zu dulden. Sieben Jahre hatten sie noch zu +warten; bis dahin soviel unerträgliche Qual und soviel grenzenloses +Glück! Aber er war aufgestanden und er wußte es, fühlte es ganz und gar +mit seinem neuen Wesen, sie aber -- sie lebte ja doch bloß in ihm! + +Am Abend desselben Tages, als die Kasernen schon geschlossen waren, lag +Raskolnikoff auf seiner Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage +schien es ihm, als ob alle Sträflinge, seine früheren Feinde, ihn mit +anderen Augen ansahen. Er fing selbst mit ihnen zu sprechen an und man +antwortete ihm freundlich. Er erinnerte sich an all dies jetzt, aber es +mußte doch wohl so kommen, -- _mußte_ sich denn nicht jetzt alles +ändern? + +Er dachte an sie. Er erinnerte sich, wie er sie immer gequält und ihr +Herz gepeinigt hatte; erinnerte sich ihres blassen, mageren +Gesichtchens, aber sie quälten ihn jetzt nicht, diese Erinnerungen, -- +er wußte, mit welcher unendlichen Liebe er jetzt alle ihre Leiden sühnen +würde. + +Und was waren alle diese Qualen der Vergangenheit! Alles, sogar sein +Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung erschienen ihm jetzt in +der ersten Aufwallung als etwas äußerliches, fremdes, als etwas, das +nicht ihm passiert sei. Er konnte an diesem Abend gar nicht lange und +ständig an etwas denken, seine Gedanken auf etwas konzentrieren; er +hätte jetzt nichts bewußt beschließen können; er _fühlte_ bloß. An +Stelle der Dialektik war das Leben getreten, und in seinem Bewußtsein +begann sich etwas ganz anderes herauszuarbeiten. + +Unter seinem Kopfkissen lag das Neue Testament. Er nahm es mechanisch +hervor. Dieses Buch gehörte ihr, es war dasselbe, aus dem sie ihm über +die Erweckung des Lazarus vorgelesen hatte. Im Anfang seiner Verbannung +fürchtete er, daß sie mit der Religion ihn zu Tode quälen würde, daß sie +über das Evangelium sprechen und ihm Bücher verschaffen würde. Aber zu +seinem größten Staunen hatte sie nie darüber gesprochen, ihm nie das +Evangelium angeboten. Er hatte sie selbst kurz vor seiner Krankheit +darum gebeten, und sie brachte ihm schweigend das Buch. Bis jetzt hatte +er es noch nicht aufgeschlagen. + +Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke kam ihm, -- »müssen +denn ihre Überzeugungen jetzt nicht auch meine Überzeugungen sein? Ihre +Gefühle, ihr Streben, wenigstens ...« + +Sie war auch diesen ganzen Tag in großer Erregung, und in der Nacht +wurde sie sogar wieder krank. Aber sie war so glücklich, daß sie fast +erschrak vor ihrem Glücke. Sieben Jahre, _bloß_ sieben Jahre! Im Anfange +ihres Glückes, in manchen Augenblicken, waren sie beide bereit, diese +sieben Jahre als sieben Tage zu betrachten. Er dachte nicht einmal +daran, daß ein neues Leben sich ihm nicht umsonst biete, daß er es noch +teurer erkaufen müsse, dafür mit einer großen künftigen Tat bezahlen +müsse ... + +Aber hier fängt schon eine neue Geschichte an, die Geschichte der +allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner +allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus einer Welt in +die andere, der Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig +unbekannt gewesenen Wirklichkeit. Das könnte das Thema zu einer neuen +Geschichte abgeben, -- unsere jetzige aber ist zu Ende. + + + + + Fußnoten + + +[1] Die drei ersten Helden Puschkinscher Werke, die zwei letzten +Lermontoffscher. E. K. R. + +[2] Herrman, der Held in Puschkins »Pique Dame«. E. K. R. + +[3] Anspielung auf das Petersburger Denkmal Peters des Großen. E. K. R. + +[4] Ein Platz im Kreml zu Moskau, auf dem früher die Hinrichtungen +stattfanden. E. K. R. + +[5] Die sogen. Raskolniki, von denen es seit der Kirchenspaltung (1666) +mehrere Sekten gibt. E. K. R. + +[6] Dieser Schein wird von der Polizei den Prostituierten ausgestellt. + +[7] Ein Reisgericht, das zur Seelenmesse für die Toten in die Kirche +mitgenommen wird, vom Priester geweiht und dann mit Andacht verzehrt +wird. + +[8] Ein kleines gitarrenähnliches Instrument. + +[9] Radischtscheff hat zu Katherinas II. Zeiten ein Buch »Die Reise nach +Moskau« veröffentlicht; er beschrieb den traurigen Zustand des Landes, +geißelte die Leibeigenschaft; sein Buch wurde von der Freundin Voltaires +verbrannt, war lange Zeit nachher noch verboten; der Verfasser wurde +nach Sibirien verbannt. + +[10] Dobroljuboff war ein führender Kritiker und Publizist in den +sechziger Jahren. + +[11] Der größte Kritiker und Publizist der vierziger Jahre. + +[12] Echte, wahre Bücher werden bei den Altgläubigen und einigen +Sektierern das Alte und Neue Testament, die Lebensbeschreibungen der +Heiligen und der Märtyrer, benannt, wenn sie nach den Originalen vor der +Zeit des Patriarchen Oikon (1652) gedruckt sind; um diese Zeit wurden +die Texte revidiert und seit dieser Zeit existiert die sogenannte +»altgläubige Kirche«. + + + + + Übersetzung französischer Textstellen + + +{[1]} es lebe der ewige Krieg + +{[2]} Genug geredet! + +{[3]} friß oder stirb (wörtlich: Ihr Hunde sollt sterben, wenn es euch +nicht paßt) + +{[4]} nur legitim + +{[5]} vom Wein bekomme ich schlechte Laune + +{[6]} Ihnen zuliebe + +{[7]} ganz einfach + +{[8]} das ist unerläßlich + +{[9]} differenziert + +{[10]} wörtlich + +{[11]} Steh gerade! + +{[12]} sprich französisch mit mir + +{[13]} Fünf Sous + +{[14]} Marlborough zog in den Krieg / Keiner wusste wie lang + +{[15]} Fünf Sous, fünf Sous / Zur Gründung unseres Heims + +{[16]} gleiten, gleiten, im Baskenschritt! + +{[17]} Grabrede + +{[18]} lieber Freund + +{[19]} Natur und Wahrheit + +{[20]} Wo hat sie diese Tugenden versteckt? + +{[21]} viel Glück + +{[22]} eine Theorie unter vielen + + + Anmerkungen zur Transkription + +Die »Sämtlichen Werke« erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen +Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und +Ausgaben 1906--1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert +nach: + + F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. + Erste Abteilung: Erster Band. + Erste Abteilung: Zweiter Band. + Rodion Raskolnikow (Schuld und Sühne). + R. Piper & Co. Verlag, München, 1922. + 23.--35. Tausend. + +Für diese ebook-Ausgabe wurden der erste und der zweite Band vereinigt. + +Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der »Sämtlichen +Werke« vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den +ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, +Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt +nach der Titelseite eingefügt. + +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. + +Die Bearbeiter haben diesem Text Übersetzungen der französischen +Textstellen in Form von Fußnoten hinzugefügt und der _public domain_ zur +Verfügung gestellt. + +Diese zusätzlichen Fußnoten sind mit { } markiert. + +Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen +(»«) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von +Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (><) eingeschlossen. + +Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der +Buchstabe »ä« (oder aouh "jä") steht für den kyrillischen Buchstaben +»ja«. Die Schreibweise häufig vorkommender russischer Namen wurde +vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): + + Afanassi (Afanasi, Afanassji) + Aljona (Aljena, Alena) + Bakalejeff (Bakaljeff) + Lebesjätnikoff (Lebesjatnikoff) + Louisa (Luisa, Louise) + Poletschka (Poljetschka) + Polja (Polje) + Porphyri (Porfirij, Porphiri) + Ssemjon (Ssemen) + Ssofja (Ssofje) + Ssonja (Ssonje) + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere +Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des +russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 207]: + ... »Sicher ich es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch ... + ... »Sicher ist es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch ... + + [S. 237]: + ... volle Minute gedauert hatte und daß sie sich solange einander ... + ... volle Minute gedauert hatte und daß sie solange einander ... + + [S. 247]: + ... »Hast du ihn gesehen.« ... + ... »Hast du ihn gesehen?« ... + + [S. 307]: + ... seiner schämte, und er schleunigst anderen, alltäglichen + Sorgen ... + ... seiner schämte, und er sich schleunigst anderen, alltäglichen + Sorgen ... + + [S. 313]: + ... eingeladen, mit ihnen die Tee zu trinken, -- sie hatten in ... + ... eingeladen, mit ihnen den Tee zu trinken, -- sie hatten in ... + + [S. 320]: + ... Bitte aussprechen, daß bei unserer gemeinsamen ... + ... Bitte auszusprechen, daß bei unserer gemeinsamen ... + + [S. 367]: + ... Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß geschienen, ... + ... Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß so geschienen, ... + + [S. 426]: + ... »Erscheinen bei Ihnen etwa?« ... + ... »Erscheinen sie bei Ihnen etwa?« ... + + [S. 475]: + ... Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Mal ihr + aufgetaucht ... + ... Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Male ihr + aufgetaucht ... + + [S. 505]: + ... irgendein mathematisches Exempel, wie Zwiemalzwei, bringen, ... + ... irgendein mathematisches Exempel, wie Zweimalzwei, bringen, ... + + [S. 526]: + ... Mörder, du bist Mörder ...<, und jetzt, wo er es eingestanden ... + ... Mörder, du bist der Mörder ...<, und jetzt, wo er es + eingestanden ... + + [S. 537]: + ... war, kehrte er noch wütender und gereizter nach Hause, ... + ... war, kehrte er noch wütender und gereizter nach Hause zurück, ... + + [S. 541]: + ... aufrichtigsten Weise ihm dienen. ... + ... aufrichtigsten Weise ihr dienen. ... + + [S. 569]: + ... -- Paß, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen ... + ... -- Pan, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen ... + + [S. 572]: + ... so war ich stets von ihm sicher,« fuhr Katerina ... + ... so war ich stets seiner sicher,« fuhr Katerina ... + + [S. 633]: + ... »Sie würden vielleicht später noch erschauern bei dem + Gedanken, ... + ... »Sie würde vielleicht später noch erschauern bei dem + Gedanken, ... + + [S. 642]: + ... »Das kenne ich, ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte ... + ... »Das kenne ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte ... + + [S. 670]: + ... Reihenfolge noch zu erzählen, wie es damals begonnen ... + ... Reihenfolge nach zu erzählen, wie es damals begonnen ... + + [S. 701]: + ... Sagen Sie mir, wozu soll ich mit enthalten? Warum ... + ... Sagen Sie mir, wozu soll ich mich enthalten? Warum ... + + [S. 722]: + ... da folgen.« ... + ... da folgen?« ... + + [S. 725]: + ... Wüstling und Schuften erwarten!« rief er unwillkürlich ... + ... Wüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich ... + + [S. 765]: + ... Just lese deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum dritten ... + ... Just lese ich deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum + dritten ... + + [S. 772]: + ... begreifen nichts.« ... + ... begreife nichts.« ... + + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 1-2: Rodion +Raskolnikoff (Schuld und Sühne), by Fjodor Michailowitsch Dostojewski + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58238 *** diff --git a/58238-8.txt b/58238-8.txt deleted file mode 100644 index 6889840..0000000 --- a/58238-8.txt +++ /dev/null @@ -1,26402 +0,0 @@ -The Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 1-2: Rodion Raskolnikoff -(Schuld und Sühne), by Fjodor Michailowitsch Dostojewski - -This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most -other parts of the world at no cost and with almost no restrictions -whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of -the Project Gutenberg License included with this eBook or online at -www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have -to check the laws of the country where you are located before using this ebook. - -Title: Sämtliche Werke 1-2: Rodion Raskolnikoff (Schuld und Sühne) - -Author: Fjodor Michailowitsch Dostojewski - -Contributor: Dmitri Mereschkowski - -Editor: Arthur Moeller van den Bruck - -Translator: E. K. Rahsin - -Release Date: November 5, 2018 [EBook #58238] -Last updated: September 5, 2019 - -Language: German - - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SAMTLICHE WERKE 1-2: RODION RASKOLNIKOFF *** - - - - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -http://www.pgdp.net. This book was produced from images -made available by the HathiTrust Digital Library. - - - - - - - F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke - - Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski - herausgegeben von Moeller van den Bruck - - Übertragen von E. K. Rahsin - - - Erste Abteilung: Erster und zweiter Band - - - F. M. Dostojewski - - - - - Rodion Raskolnikoff - - - (Schuld und Sühne) - - Roman - - - R. Piper & Co. Verlag, München - - - R. Piper & Co. Verlag, München, 1922 - 23.--35. Tausend - Druck: Otto Regel, G. m. b. H., Leipzig. - Buchausstattung von Paul Renner. - - - Copyright 1922 by R. Piper & Co., - Verlag in München. - - - - - Zur Einführung in die Ausgabe - - -Wir brauchen in Deutschland die voraussetzungslose russische -Geistigkeit. Wir brauchen sie als ein Gegengewicht gegen ein Westlertum, -dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren, wie Rußland ihnen -ausgesetzt gewesen ist, und das auch uns dahin gebracht hat, wohin wir -heute gebracht sind. Nachdem wir solange zum Westen hinübergesehen -haben, bis wir in Abhängigkeit von ihm gerieten, sehen wir jetzt nach -dem Osten hinüber -- und suchen die Unabhängigkeit. Aber wir werden sie -nicht im Osten, wir werden sie immer nur bei uns selbst finden. - -Der Blick nach dem Osten erweitert unsern Blick um die Hälfte der Welt. -Die Fragen des Ostens sind für uns zunächst eine Frage der geistigen -Universalität. Und wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, dann handeln wir -nur im Geiste unserer besten Überlieferung. Aber diese Fragen sind noch -mehr. Sie sind zugleich eine Frage der geistigen Souveränität. Nachdem -wir sie im neunzehnten Jahrhundert an den Westen verloren haben, wollen -wir sie im zwanzigsten Jahrhundert für Deutschland zurückerringen. - -Es wird immer zu unseren Unbegreiflichkeiten gehören, daß wir es dahin -kommen ließen, daß wir uns dem Westen bis zu dieser völligen -Selbstvergessenheit hingaben. Es ist um so unbegreiflicher, als wir im -Gegensatze zu Rußland, das sich seine geistigen Werte erst erringen -mußte, die unseren im festen Besitze hielten, und als unter ihnen nicht -wenige waren, die wir noch nicht einmal vor der eigenen Nation -aufgeschlossen und ihr mitgeteilt hatten. Doch wir bevorzugten die -fremden Werte. Heute sehen wir die Wirkung. Und wir leben unter den -Folgen. - -Wir haben im Verlaufe unserer langen Bildungsgeschichte schon manches -fremde und ferne Bildungsgebiet einbezogen, ob es das griechische war, -oder das italienische. Aber noch nie wurde eines so gefährlich, wie das -westliche geworden ist. Wir werden uns hüten müssen, daß nicht auch der -Osten zu einer Gefahr wird. - -Es ist kein anderes Verhältnis zu ihm möglich als das des völligen -Vertrautseins, aber auch des sicheren Abstandes. Wenn wir unsere -geistige Souveränität, und aus ihr folgend unsere politische -Souveränität, wiedergewonnen haben, dann wird auch Rußland nicht mehr -und nicht weniger für uns sein, als eines jener großen Bildungsgebiete, -die uns reicher machten, aber auch selbständiger. - -Bis dahin teilen wir mit Rußland, aus verschiedenen Gründen, das gleiche -Schicksal. - - M. v. d. B. - - - - - Rodion Raskolnikoff - - -Die beiden gleichzeitigen und doch so verschiedenen Auseinandersetzungen -des russischen Geistes mit Napoleon als der Verkörperung des -westeuropäischen Geistes -- gleichsam zwei Wiederholungen des Jahres -1812 -- sind in der russischen Literatur: »Krieg und Frieden« und -»Rodion Raskolnikoff«. - -Die erste Auseinandersetzung hat nicht mit einem Siege, sondern nur mit -einer Religionsverdrehung geendet. Ob der russische Geist auch in der -zweiten eine Niederlage erlitten hat oder nicht, das bleibe -dahingestellt. Jedenfalls hat er hier gezeigt, daß er würdig ist, seine -Kräfte mit einem solchen Gegner wie Napoleon zu messen, hier ist er dem -Feinde entgegengetreten -- ... Auge in Auge, wie es dem Kämpfer im -Kampfe gebührt. - -Dostojewski hat vor uns die Kraftlosigkeit der napoleonischen Idee -aufgedeckt, nicht die politische und nicht einmal die sittliche -Kraftlosigkeit, sondern die religiöse: bevor man in Europa die Idee der -altrömischen Monarchie, die Idee des universalen Caesar-Vereinigers, des -Menschengottes auferweckte, mußte man zuerst die entgegengesetzte Idee -der christlichen universalen Vereinigung, die Idee des Gottmenschen -überwinden. Doch der historische Napoleon hat diese Idee in seinen Taten -ganz ebensowenig bewältigt, wie Napoleon-Raskolnikoff es in der -Anschauung tat, ja, sie sind nicht einmal an sie herangetreten, sie -haben sie überhaupt nicht gesehen. Wenn dieser Napoleon Raskolnikoff -tatsächlich ein »Prophet zu Pferde mit dem Schwert in der Hand« -erscheint, so ist er doch immerhin -- ohne einen »neuen Koran«, ein -Prophet nicht von Gott und nicht gegen Gott, sondern nur ohne Gott; und -in diesem Sinne ist er natürlich -- _Pseudoantichrist_. »Wenn es Gott -nicht gibt, so bin ich Gott!« folgert der irrsinnige und furchtlose -Kiriloff -- nicht etwa deswegen furchtlos, weil irrsinnig? »Wenn ich es -mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben, so würde man mich -in allen Jahrmarktsbuden verspotten!« meinte der nicht gar zu -vorsichtige und vernünftige Napoleon. Versteht sich, hier ist vom -Erhabenen, vom Furchtbaren zum Lächerlichen -- »nur ein Schritt«. Ist -aber die Furcht vor dem Lächerlichen bei Napoleon nicht zu gleicher Zeit -eine ebenso lächerliche Furcht, wie die Furcht des Usurpators vor der -Krone des legitimen Nachfolgers? »Gott hat sie mir gegeben. Wehe dem, -der an sie rührt.« -- Hat sie wirklich Gott selbst gegeben? -- Noch -niemand hat ihn mit einem so höhnischen Lächeln danach gefragt, niemand -hat mit einer solchen Vermessenheit an seine Krone gerührt wie -Dostojewski. - - * * * * * - -»Ich wollte ein Napoleon werden, darum erschlug ich. Ich stellte mir -einmal die Frage: wie, wenn zum Beispiel an meiner Stelle Napoleon -gewesen wäre und er weder Toulon noch Ägypten, noch einen Übergang über -den Montblanc gehabt hätte, um seine Laufbahn zu beginnen, sondern -anstatt all dieser schönen und großartigen Dinge nur irgendein -lächerliches Weib, eine alte Registratorenwitwe, die er noch dazu hätte -erschlagen müssen, um aus ihrem Kleiderkasten Geld stehlen zu können -(für den Anfang seiner Laufbahn -- du verstehst doch?). Nun also, würde -er sich denn dazu entschlossen haben, wenn ein anderer Ausweg für ihn -nicht möglich gewesen wäre? Hätte ihn das nicht abgestoßen, weil es doch -gar zu wenig >großartig< war und ... Sünde wäre? Nun sieh, ich sage dir, -über dieser >Frage< habe ich mich entsetzlich lange abgequält, so daß -ich mich fürchterlich schämte, als ich endlich erriet (ganz plötzlich, -irgendwie), daß es ihn nicht nur niemals abgestoßen haben würde, sondern -ihm sogar überhaupt nicht in den Sinn gekommen wäre, daß so etwas gar -nicht >großartig< sei ... Er hätte sogar überhaupt nicht begriffen, was -ihn dabei abstoßen könnte, und sobald das nur sein einziger Ausweg -gewesen wäre, würde er sie in einer Weise erwürgt haben, daß ihr nicht -einmal Zeit zum Mucksen geblieben wäre, -- ohne das geringste Bedenken! -Nun, und ich ... befreite mich von den Bedenken, erwürgte -- nach dem -Beispiel seiner Autorität ... Und so war es auch buchstäblich.« - -Raskolnikoff begreift nur zu gut den Unterschied zwischen Napoleons -»geglücktem« und seinem eigenen »mißglückten« Verbrechen, aber nur den -_ästhetischen_, den Unterschied in der »Form« und in der Eigenart der -geistigen Kraft. Er vergleicht sein Verbrechen mit den blutigen -Heldentaten berühmter, gekrönter, historischer Verbrecher, doch Dunja, -seine Schwester, protestiert gegen einen solchen Vergleich: »Aber das -ist doch etwas ganz anderes, Bruder, das ist doch nie und nimmer -dasselbe!« -- Da ruft er wie rasend aus: »Ah! Es ist nicht dieselbe -_Form_! Es hat kein so ästhetisch schönes Äußere! Ich aber verstehe -wirklich nicht, warum eine regelrechte Schlacht, mit Kanonenkugeln auf -die Menschen feuern -- eine ehrenwertere Form sein soll? Die Furcht vor -dem Unästhetischen ist das erste Anzeichen der Kraftlosigkeit!« -- -»Napoleon, die Pyramiden, Waterloo -- und eine hagere, häßliche -Registratorenwitwe, eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem -Bett, -- nun, wie soll das selbst ein Porphyri Petrowitsch (der -Untersuchungsrichter) verdauen! ... Wie sollen die an ein solches -Problem heranreichen! ... Die Ästhetik stört: >wird denn<, heißt es, ->Napoleon unter das Bett eines alten Weibes kriechen?<« - -Ja, gerade die konventionelle Ästhetik, die Rhetorik der Lehrbücher, -jene historische Lüge, die wir mit der Milch unserer erziehenden Mutter, -der Schule, einsaugen, entstellt und verunstaltet unsere sittliche -Wertung der universalhistorischen Erscheinungen. Von dieser -»ästhetischen« Schale wird nun Raskolnikoff durch die Frage nach den -Verbrechen der Helden befreit, wird von ihr, wie Sokrates sagt, »vom -Himmel auf die Erde herabgeführt«, d. h. von jener abstrakten Höhe, wo -die akademische Vergötterung der Großen stattfindet, auf die Ebene des -lebendigen Lebens: und er stellt uns Angesicht gegen Angesicht dieser -Frage in ihrer ganzen grauenvollen Einfachheit und Verschlungenheit -gegenüber. Hat doch ein jeder von uns, uns Nichthelden, wenigstens -einmal im Leben mehr oder weniger bewußt für sich entscheiden müssen, so -wie Raskolnikoff es tut: »Bin ich zitternde Kreatur oder habe ich das -Recht,« bin ich ein »Fressender« oder ein »Gefressener«? Und diese -Frage, dem Anscheine nach die der umfassendsten und allgemeinsten -universalhistorischen Anschauung, ist hier mit der ersten und -wichtigsten sittlichen Frage jedes einzelnen Menschenlebens, jeder -einzelnen menschlichen Persönlichkeit untrennbar eng verbunden. Ohne -diese Frage mit dem Verstande und dem Herzen gelöst zu haben -- oder hat -man sie nur mit dem Verstande oder nur mit dem Herzen gelöst, -- kann -man nicht leben, kann man keinen Schritt im Leben tun. - -Wenn wir uns nun von der »Furcht vor der Ästhetik« befreien, werden wir -dann nicht zugeben, daß der erste, sagen wir mathematische Ausgangspunkt -der sittlichen Bewegung Napoleons und Raskolnikoffs -- ein und derselbe -ist? Beide sind sie aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen: der kleine -Korsikaner, der auf die Straßen von Paris hinausgeworfen war, der -Fremdling ohne Titel, ohne Herkunft, dieser Bonaparte -- ist ganz ebenso -ein unbekannter Vorübergehender, ein junger Mann, »der einmal in der -Dämmerstunde aus seiner Dachkammer heraustrat,« wie der Student der -Petersburger Universität Rodion Raskolnikoff. »Er war auffallend schön, -er hatte dunkle Augen und dunkelblondes Haar, war schlank und -wohlgestaltet« -- das ist alles, was wir zu Anfang der Tragödie von -Raskolnikoff wissen, und nur ein wenig mehr wissen wir von -- Napoleon. -Das »Menschenrecht« und die »Freiheit«, die die »Große Revolution« -erobert hatten, sind für beide in erster Linie das Recht und die -Freiheit, vor Hunger zu sterben; »Gleichheit und Brüderlichkeit« sind -für sie Gleichheit und Brüderlichkeit mit denen, die von ihnen verachtet -oder gehaßt werden. Beim Anblick dieser »Nächsten« und »Gleichen« -- -sagt Dostojewski von Raskolnikoff -- »drückte sich die Empfindung des -tiefsten Ekels in den feinen Zügen des jungen Mannes aus«, und wir -können dabei ebensogut an Napoleon denken. Brüderlichkeit und Gleichheit --- tiefster Ekel; Freiheit -- tiefste Verschmähung, Einsamkeit. Weder -Vergangenheit noch Zukunft. Weder Hoffnungen, noch Überlieferungen. »Ein -einziger gegen alle, sterbe ich morgen, bleibt nichts von mir übrig« -- -das ist die erste Empfindung beider. Und der Einfall dieser »zitternden -Kreatur«, ein »Herrscher« zu werden, wäre ein ebenso verrückter Einfall --- oder Größenwahnsinn -- bei Napoleon wie bei Raskolnikoff: zuerst ins -Krankenhaus, dann in die Zwangsjacke und -- aus ist es. Raskolnikoff hat -vor Napoleon sogar einen gewissen Vorzug: er sieht nicht nur die -äußeren, sondern auch die inneren Schranken und Hindernisse, die er -»übertreten« muß, um »das Recht zu haben«. Napoleon sieht sie überhaupt -nicht. Übrigens war vielleicht gerade diese Blindheit teilweise die -Quelle seiner Kraft -- allerdings nur bis zu einer gewissen Zeit: zu -guter Letzt wird der Mangel an Erkenntnis jeglicher Kraft doch nicht -verziehen; und auch Napoleon wurde dieser Mangel nicht verziehen. -Raskolnikoff erkühnt sich zu Größerem, weil er mehr, weil er Größeres -sieht. Hätte er gesiegt, so wäre sein Sieg endgültiger, unumstößlicher -gewesen, als der Sieg Napoleons. In jedem Fall aber ist infolge der -Gleichheit oder Einheit des Ausgangspunktes, trotz des ganzen -unermeßlichen Unterschiedes der zurückgelegten Wege, das sittliche -Gericht über Raskolnikoff zu gleicher Zeit auch Gericht über Napoleon. -Die Frage, die in »Rodion Raskolnikoff« erhoben wird, ist dieselbe -Frage, die Tolstoj in »Krieg und Frieden« erhebt; der ganze Unterschied -besteht nur darin, daß Tolstoj sie umfängt, während Dostojewski sich in -sie vertieft; der eine tritt von außen an sie heran, der andere von -innen; bei dem einen ist es Beobachtung, beim anderen Experiment. - -Die Revolution war ein ungeheurer politischer, schon in viel geringerem -Maße sozialer, die Stände betreffender, und überhaupt kein moralischer -Umsturz. »Du sollst nicht töten«, »du sollst nicht stehlen«, »du sollst -nicht ehebrechen« -- alles ist geblieben, wie es war, wie es die Tafeln -Moses vorschreiben; alles hat, ganz abgesehen von den äußeren -kirchlichen und monarchischen Überlieferungen, seine innere sittliche -Notwendigkeit vor dem Henker (Robespierre), ebenso wie vor dem Opfer -(Louis XVI.) aufrecht erhalten. Trotz der »Göttin der Vernunft« war -Robespierre ein ebensolcher »Deïst« wie Voltaire, und trotz der -Guillotine ein ebensolcher »Menschenfreund« wie Jean Jacques Rousseau. -Man muß seinen Nächsten lieben, man muß sich für seine Nächsten opfern --- dem widersprach kein einziger, weder die Henker, noch die Opfer. -Hierbei vollzog sich keinerlei Umwertung der sittlichen Werte. Die -Persönlichkeit war der Allgemeinheit in der neuen Regierungsform nicht -etwa weniger untergeordnet, sondern mehr. Bei der mittelalterlichen -Verfassung war diese Unterordnung ganz natürlich, innerlich bedingt, -nicht willkürlich gewesen, war die Unterordnung des einen Gliedes im -lebendigen Volkskörper unter ein anderes durch eine vielleicht sogar -falsch aufgefaßte, aber immerhin religiöse, uneigennützige Idee. Jetzt -wird die Politik zur Mechanik; die Persönlichkeit ordnet sich dem -äußeren Zwang des »Gesellschaftsvertrages« unter -- der Stimmenmehrheit; -sie wird zum Hebel inmitten aller Hebel der vernünftig und richtig -gebauten Maschine, zur Eins unter Einern, zur mathematisch berechenbaren -Ziffernhöhe dieser Mehrheit. Der Druck der neuen anmaßenden Freiheit -war, wie es sich erwies, furchtbarer als der Druck der alten -unverhohlenen Knechtschaft. - -Und die Persönlichkeit hielt es nicht aus und empörte sich in der -letzten, in der Welt noch nie dagewesenen Empörung. - -Versteht sich: am allerwenigsten dachte an die Rechte der -Menschenpersönlichkeit, an die Umwertung aller sittlichen Werte -- -Napoleon, als er die Läufe der Touloner Kanonen auf den revolutionären -Volkshaufen richten ließ, um, nach dem Ausdruck Raskolnikoffs, »mit -Kanonenkugeln auf Schuldige und Unschuldige zu feuern, ohne sie auch nur -eines Wortes der Erklärung zu würdigen«. Und darauf folgt eine ganze -Reihe ganz ebenso geglückter Verbrechen. -- »Ich erriet damals,« sagt -Raskolnikoff »daß Macht nur dem gegeben wird, der es wagt, sich zu -bücken und sie zu nehmen. Hierbei ist ja nur eines, nur eines -erforderlich: man muß nur wagen, nur erkühnen muß man sich! ... Es stand -plötzlich sonnenklar vor mir, wie denn noch kein einziger bis jetzt -gewagt hat und nicht wagt, wenn er an diesem ganzen Blödsinn -vorübergeht, einfach alles am Schwanz zu nehmen und zum Teufel zu -schleudern! Ich wollte mich dazu erkühnen!« Dem Bewußtsein Napoleons -zeigte sich dasselbe natürlich nicht »sonnenklar«: nur aus dem dunklen, -uranfänglichen Instinkt der sich empörenden Persönlichkeit heraus -»wollte _er_ sich erkühnen«. - -Napoleon ging aus der Revolution hervor und nahm sogar ihre -Offenbarungen an, nur veränderte er sie für seine Zwecke. »Alle sind -gleich« -- damit stimmte er überein, nur fügte er hinzu: »Alle sind -gleich _für mich_, alle sind gleich _unter mir_.« »Alle sind frei« -- -und er will Freiheit, will freien Willen, aber »_nur für sich allein_« -will er freien Willen. - -Vom Gesichtspunkte der alten, mosaischen, und der scheinbar neuen, in -Wirklichkeit aber ebenso alten menschenfreundlichen Sittlichkeit aus, -die Jean Jacques Rousseau mit der Feder und Robespierre mit dem -Henkerbeil verkündet haben, ist Napoleon ein Dieb und Mörder, »ein -Räuber außerhalb des Gesetzes«. Uns erdrückt das Pathos der historischen -Ferne, wir sind geblendet von der Sonne von Austerlitz. »Napoleon, die -Pyramiden, Waterloo -- und eine hagere, häßliche Registratorenwitwe, -eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem Bett -- wie sollen -sie denn das verdauen! Wird denn, heißt es, Napoleon unter das Bett -eines alten Weibes kriechen?« Und doch, in der Tat, geben wir zu, wenn -nur die »Ästhetik uns nicht störte«, daß für die Kritik der reinen -Sittlichkeit die Zerstörung Toulons und das unter das Bett des alten -Weibes nach dem roten Koffer Kriechen -- ein und dasselbe ist. Furchtbar -und gemein ist es, scheußlich und widerlich! Er kroch unter das Bett und -verkroch sein ganzes Leben. Warum ist das nun in dem einen Falle -»Übertretung (Schuld) und Sühne«, und im anderen -- Übertretung -(Verbrechen) und Krönung mit dem in der Geschichte einzig dastehenden -universalhistorischen Lorbeerkranz? »Gott hat sie mir gegeben« (die -Krone der römischen Cäsaren); »wehe dem, der an sie rührt.« Was Wunder, -wenn der verschüchterte und ruhmberauschte Pöbel dem glaubte! Wie aber -konnten die freien, rebellischen Byron und Lermontoff daran glauben? Wie -konnten sie diesen »Tyrann«, der den größten Versuch der -Menschenbefreiung, die Revolution, enthauptete, als ihren Helden -anerkennen? Wie, endlich, konnten so ruhige und nüchterne Leute wie -Puschkin und Goethe von ihm betrogen werden? Und doch ist es so. Als -hätte er ihren geheimsten, für sie selbst noch furchtbaren Traum erraten -und verkörpert! Und geradezu dankbar dichten sie die letzte wundervolle -»Sage« Europas von ihm, dem Märtyrer-Imperator auf Sankt Helena, von dem -neuen Prometheus, der an den einsamen Fels inmitten des Ozeans -angeschmiedet ist. Dem Märtyrer welchen Gottes? -- Das wissen sie nicht, -das sehen sie nicht, nur dunkel ahnt ihr Instinkt, daß gerade hier, bei -Napoleon, ein anderer Geist umgeht, einer, der ihnen wie näher und -verwandter, der wie neuer und sogar freier, befreiender und -schöpferischer ist, als der Geist der Revolution. Erwachte nicht in dem -alten, bereits zur Ruhe gekommenen und ein wenig sogar schon -verknöcherten Goethe, als er sich an Napoleon wie an einer -übernatürlichen, »dämonischen« Erscheinung der Natur und der Menschheit -begeisterte, -- erwachte da nicht in ihm etwas Jünglinghaftes, -grenzenlos Rebellisches, Unterirdisches, jenes selbe, aus dem auch sein -Prometheusruf geboren scheint: - - Ihr Wille gegen meinen! - Eins gegen Eins ... - -- -- -- -- -- -- - Götter? Ich bin kein Gott, - Und bilde mir so viel ein als einer. - Unendlich? -- Allmächtig? -- - Was könnt ihr? ...... - Vermögt ihr, zu scheiden - Mich von mir selbst? - -Auch bei Byron nimmt die Erscheinung Napoleons nicht umsonst die Gestalt -Prometheus, Kains, Lucifers an -- aller Verstoßenen, Verfolgten, die -sich gegen Gott erhoben und vom Baume der Erkenntnis gegessen haben. -Dieser Geist, der weder hell noch dunkel ist, wie das fahle Dämmerlicht -der ersten Morgenstunden, dieser neue Dämon Europas mit seinem frommen, -leidenschaftslosen Lächeln -- um wieviel ist er aufrührerischer als -Robespierre oder Saint Just, um wieviel will er mehr, als Rousseau oder -Voltaire! Es scheint, daß hier auch des Rätsels Lösung ist. Aber -vielleicht ist niemand entfernter von diesem Erraten, als -- Napoleon -selbst. Vielleicht würde sich niemand so sehr darüber wundern, niemand -so entrüstet sein wie er, wenn er begreifen könnte, welch eine Folgerung -aus seinen Sätzen gezogen, welch eine Bedeutung seiner Persönlichkeit -beigelegt werden wird. Schien es doch nicht nur anderen, sondern auch -ihm selbst, daß er das gestörte Gleichgewicht der Welt wieder -herstellte, daß er unerschütterliche Ordnung einführte, das -auseinanderfallende Gebäude des europäischen Staatskörpers stützte und -der Revolution ein Ende machte. Wenn nur er selbst und die anderen den -»ersten Schritt«, seinen Ausgangspunkt, vergessen könnten -- diesen -bleichen jungen Menschen mit den blutigen Händen, der nach dem roten -Koffer unter das Bett der alten Wucherin -- der Revolutionsgöttin -»Vernunft« -- kriecht! »_Dio mi la dona._ Gott hat _sie_ mir gegeben,« --- die Krone oder die rote Truhe? Und ist es wirklich Gott? Wirklich der -christliche Gott oder der Gott des fünften Buches Moses? Immerhin hat er -doch getötet und gestohlen! Er aber ist ein einzelner; für die anderen -heißt es nach wie vor: »Du sollst nicht töten«, »Du sollst nicht stehlen -...« Wenn _er_ -- warum dann schließlich nicht auch _ich_? Ist er denn -nicht aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen wie ich, nicht aus einem -ebenso abstrakten mathematischen Nichtigkeitspunkt wie ich? Er ist -- -Gott; ich bin -- »zitternde Kreatur«. Aber auch in meinem Herzen erhebt -sich der Schrei des Titanen: - - Götter? Ich bin kein Gott, - Und bilde mir soviel ein als einer. - -Wenn er »beim Vorübergehen einfach alles am Schwanz nahm und -fortschleuderte zum Teufel,« warum soll dann nicht auch ich einmal -dasselbe versuchen, und wäre es auch nur, sagen wir -- aus Neugier? -»Denn hier ist ja nur eines, nur eines erforderlich: man muß sich nur -dazu entschließen.« - -Nein, Napoleon hat den Brand der großen Revolution nicht gelöscht, er -hat nur den Feuerfunken derselben aus dem äußeren, politischen, weniger -gefährlichen Gebiet in das innere, sittliche, um wieviel mehr -explosionsfähige geworfen. Er wußte selbst nicht, was er tat, ahnte -selbst nicht, »wes Geistes er war«; aber mit seinem ganzen Leben, durch -sein Beispiel, durch die Größe seines Glücks und die Größe seines -Unterganges hat er die tiefsten Grundfesten der ganzen christlichen und -vorchristlichen Sittlichkeit erschüttert: ohne seinen Willen, gegen -seinen Willen hat er die »Umwertung aller Werte« begonnen, hat er noch -nie dagewesene Zweifel an die Uroffenbarungen des Menschengewissens -erweckt, hat er -- wenn auch mit halbverschlafenen Augen -- in das -»Jenseits von Gut und Böse« geblickt, und hat er auch anderen erlaubt -und auch andere gezwungen, dorthin zu blicken. Das aber, was der Mensch -dort erblickt hat, das kann er nie mehr vergessen. Die alte politische -»Große« Revolution erscheint uns trotz all ihrer äußeren blutigen Greuel -vollkommen unverletzend und ungefährlich, fast gutmütig und klein wie -ein Kinderspiel, fast wie Schülerunart -- im Vergleich zu diesem kaum -sehbaren, kaum hörbaren innerlichen Umsturz, der sich noch bis auf den -heutigen Tag nicht vollzogen hat und dessen Folgen wir unmöglich -voraussehen können. - -Eines ganzen Jahrhunderts angestrengten philosophischen und religiösen -Denkens Europas hat es bedurft -- von Goethes »Prometheus« bis zu -Nietzsches »Antichrist« --, um den ewigen Sinn der napoleonischen -Tragödie als universalhistorischer Erscheinung zu erfassen: die -antichristliche und doch dabei heilige Liebe zu sich selbst, zu seinem -»fernen« Selbst, die der Liebe zu anderen, zum »Nächsten« -entgegengesetzt ist; der titanische unterirdische Anfang der -Persönlichkeit: »ich allein gegen alle« -- - - »Ihr Wille gegen meinen« -- - -der Wille der Selbstbejahung, der »Wille zur Macht«, der dem Willen zur -Selbstverleugnung, zur Selbstvernichtung entgegengesetzt ist; die -Empörung gegen die alte, gegen die neue, gegen jede gesellschaftliche -Einrichtung, jeden »gesellschaftlichen Verband«, gegen alle »beengenden -Fesseln der Zivilisation«, nach dem Ausdruck Napoleons, den er gleichsam -von dem Urahn der Anarchisten, Jean Jacques Rousseau, entlehnt hat; die -Empörung gegen die Menschheit (Kain), gegen Gott (Lucifer), gegen -Christus (der Antichrist-Nietzsche) -- das sind die emporführenden -Stufen dieser neuen sittlichen Revolution. Unbegrenzte Freiheit, -unbegrenztes Ich, vergöttertes Ich, Ich-Gott, -- das ist das letzte, -kaum zu Ende gesprochene Wort dieser Religion, die Napoleon mit so -genialem Instinkt vorausgesehen hat -- »ich habe eine Religion -geschaffen« --, und über die er mit so unverzeihlichem Leichtsinn -scherzen konnte: »In allen Jahrmarktsbuden würde man mich verspotten, -wenn ich es mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben.« - -Und von diesem selben unterirdischen vulkanischen Stoß, der scheinbar -aus dem Westen kam (wie wir späterhin sehen werden, _nicht nur_ aus dem -Westen), von diesem selben unklaren, bald mitfühlenden, bald -spöttischen, aber immer aufregenden und tiefen Gedanken, an die -napoleonische Persönlichkeit, an die Raubvögel und aufrührerischen -Helden, die »Menschen des Fatums« -- angefangen von dem kaukasischen -Gefangenen, Onjégin, Aleko, Petschorin und dem Dämon[1], begann auch die -Wiedergeburt der russischen Literatur. Dieser Gedanke, der sich wohl -zeitweilig verbarg, sich gleichsam unter die Erde versenkte, niemals -aber endgültig versiegte, da er immer wieder mit neuer und neuer -Kraft hervorbrach, dieser Gedanke begleitet die ganze große -universalhistorische Entwicklung des russischen Geistes in der -russischen Literatur, von den »Moskowitern im Child Harold-Mantel«, an -deren Händen »Blut klebt«, von Aleko-Petschorin, der »nur für sich -allein Willen haben will« -- bis zum Nihilisten Kiriloff, der sich für -»verpflichtet« hält, »Eigenwille zu zeigen«, bis Stawrogin, der »in -beiden entgegengesetzten Polen (in der Freveltat und in der Heiligkeit) -den gleichen Genuß findet« -- bis zu »Iwan Karamasoff«, der es endlich -begreift, daß »alles erlaubt ist« und somit Friedrich Nietzsches »alles -ist erlaubt« voraussagt. - -Ein junger Mann[2], mit dem bleichen Gesicht, »mit wundervollen Augen -und ebensolchem Äußeren« (und nicht nur Äußeren), der an Bonaparte vor -Toulon erinnert, stiehlt sich nachts in das Schlafzimmer der alten -Gräfin, um ihr mittels Gewalt das Kartengeheimnis zu erpressen. Die -Pistole, die er mitgenommen hat, um die Alte zu erschrecken, ist nicht -geladen. Dennoch fühlt er sich als Mörder. Hier handelt es sich übrigens -nicht um die Alte: »Die Alte ist Unsinn,« vielleicht auch ein Irrtum, -»nicht die Alte, sondern das Prinzip« erschlug er, er bedurfte nur des -»ersten Schrittes«: »ich wollte nur den ersten Schritt tun -- mich in -eine unabhängige Stellung bringen, Mittel erlangen, und dann, später, -hätte sich alles durch verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen -ausgeglichen. _Ich wollte das Gute den Menschen._« Und für das Gute -erschlug er. Das sagt Raskolnikoff, aber dasselbe könnte auch von -Puschkins Herrman in der »Pique Dame« gesagt sein. Wie Raskolnikoff, so -ist auch Herrman ein Nachahmer Napoleons. Wie flüchtig auch sein innerer -Mensch von Puschkin gezeichnet ist, es ist trotzdem klar, daß er kein -gewöhnlicher Verbrecher ist, daß hier noch etwas Komplizierteres, -Rätselhafteres dahintersteckt. Puschkin selbst berührt natürlich, wie -das so seine Art ist, kaum, kaum diese Rätsel, um dann sofort an ihnen -vorüberzugehen und sich mit seinem unerhaschbar gleitenden, lächelnden -Spott von ihnen loszumachen. Aber aus der wie zufällig von Puschkin -hingeworfenen Skizze »Die Pique Dame« sind _nicht zufällig_ Gogols »Tote -Seelen« und Dostojewskis »Rodion Raskolnikoff« hervorgegangen. So gehen -auch hier die Wurzeln der russischen Literatur auf Puschkin zurück: -gleichsam, als hätte er im Vorübergehen auf die Türe des Labyrinths -gewiesen. Nachdem Dostojewski einmal in dieses Labyrinth eingetreten -war, konnte er sich später sein Leben lang nicht mehr herausfinden: -immer tiefer und tiefer drang er in dasselbe hinein, forschte, prüfte, -versuchte, suchte und fand doch keinen Ausgang. - -Die Verwandtschaft Raskolnikoffs mit Herrman hat Dostojewski, wie es -scheint, nicht nur gefühlt, sondern auch klar erkannt. »Der Puschkinsche -Herrman in der >Pique Dame< ist eine kolossale Gestalt, ein -ungewöhnlicher, durch und durch Petersburger Typ -- ein Typ aus der -Petersburger Zeit!« läßt Dostojewski seinen Helden in der »Jugend« -sagen, der gleichfalls einer von Raskolnikoffs geistigen -Zwillingsbrüdern ist. Er sagt es bei der Beschreibung des Eindrucks, den -der Petersburger Morgen auf ihn macht -- »der scheinbar prosaischste auf -der ganzen Welt«, den er aber für den »allerphantastischsten der Welt« -hält. »An einem solchen modernden, feuchten, nebligen Petersburger -Morgen mußte der wilde Einfall eines Puschkinschen Herrman, wie mir -scheint, noch mehr Wurzel fassen. Wohl hundertmal ist mir inmitten -dieses Nebels der sonderbare, doch um so aufdringlichere Gedanke -gekommen: Wie, wenn nun dieser Nebel verfliegt und sich emporhebt, wird -dann nicht auch diese ganze modernde, sumpfig schlüpfrige Stadt zusammen -mit dem Nebel emporschweben und verschwinden, wie Rauch verfliegen und -nur den früheren finnischen Sumpf zurücklassen, inmitten desselben -meinetwegen wie zum Schmuck der _Eherne Reiter_[3] auf dem heiß -atmenden, überjagten Tiere?« - -Ebenso wie von Puschkins Herrman kann man auch von Raskolnikoff sagen, -daß er ein »durch und durch Petersburger Typ« ist, »ein Typ aus der -Petersburger Zeit«. In keiner einzigen anderen, weder russischen noch -europäischen Stadt -- außer in Petersburg -- in keinem einzigen anderen -Zeitabschnitt der russischen oder europäischen Geschichte hätte dieser -Herrman sich entwickeln und auswachsen können zu einem -- Raskolnikoff. -Und hinter diesen zwei »kolossalen«, »außergewöhnlichen« Gestalten hebt -sich eine dritte Gestalt ab -- tritt die noch kolossalere und -außergewöhnlichere Gestalt des Ehernen Reiters auf dem Granitfels -hervor. Was zuerst fremd, aus dem »angefaulten Westen« importiert, -romantisch, byronisch, napoleonisch erschien, wird verwandt, volklich, -russisch, wird zum Geiste Puschkins, Peters; was aus den Tiefen Europas -kam, trifft mit aus den Tiefen Rußlands Kommendem zusammen. Ist der -Traum unseres sagenhaften Recken der Steppe, unseres Ilja von Murom, -nicht der Traum vom »Wundertäter«, dem »Riesen«? Ja, in diesem Nebel der -finnischen Sümpfe und in dem Granit der aus ihnen emporgewachsenen Stadt -fühlt man deutlich die Verbindung aller kleinen und großen Helden der -aufständischen oder nur andrängenden russischen Persönlichkeit von -Onjégin bis Herrman, von Herrman bis Raskolnikoff, bis Iwan Karamasoff --- mit demjenigen, - - -- durch dessen Fatumswille - Die Stadt sich aus dem Meer erhob -- - -diese »absichtlichste aller Städte der Erdkugel«, die Stadt der -abstraktesten Erscheinungen, der größten Vergewaltigung der Menschen und -der Natur, des historischen »lebendigen Lebens«, die Stadt der -anscheinend geometrischen Ordnung, des mechanischen Gleichgewichts, in -Wirklichkeit aber -- der gefahrvollsten Aufhebung der Lebensordnung und -des Lebensgleichgewichts. Nirgendwo in der Welt sind so -unerschütterliche Massen auf so schwankendem Grunde aufgetürmt: Granit, -der sich in Nebel auflöst, Nebel, der sich zu Granit verdichtet. Der -»Geist der Knechtschaft« -- der »stumme und taube« Geist, von dem es zu -Raskolnikoff hinüberweht, während er auf der Brücke steht und auf das -»großartige Panorama« der Petersburger Kais schaut; der Geist der -Unfreiheit und des »Verhängnisses«, des widernatürlichen und -übernatürlichen »Willens«. Der »wilde Einfall« Raskolnikoffs »hätte noch -mehr Wurzel fassen müssen« -- gerade hier in dieser phantastischen Stadt -»mit der allerphantastischsten Entstehungsgeschichte der Welt«, durch -die Berührung dieser Wirklichkeit, die selbst einem wilden Einfall, -einem Fieberwahn gleicht. »Vielleicht ist das alles nur irgend jemandes -Traum? ... Irgend jemand, dem alles das träumt, wird plötzlich erwachen --- und alles wird dann plötzlich verschwinden.« - -Bereits Puschkin hat die Ähnlichkeit Peters mit Robespierre bemerkt. Und -in der Tat sind die sogenannten »Reformen« Peters die größte Revolution, -der größte Umsturz, die Empörung, der Aufstand von oben, »der weiße -Terror«. Peter ist Tyrann und Rebell zu gleicher Zeit, Rebell im -Verhältnis zum Vergangenen, Tyrann im Verhältnis zum Zukünftigen, -Napoleon und Robespierre in einer Person. Und sein Umsturz ist nicht nur -politisch, sozial, sondern in noch viel größerem Maße sittlich, er ist -ein unerbittlicher, unbarmherziger, wenn auch unbewußter Bruch aller -kategorischen Imperative des Volksgewissens, ist die zügellose Umwertung -aller sittlichen Werte. Ich glaube, daß, wenn in den Annalen alle -menschlichen Verbrechen aufgezeichnet wären, man keines finden würde, -das das Gewissen, wenn nicht mehr empören, so doch mehr befangen machen -könnte, als die Ermordung des Zarewitsch Alexei. Ist sie doch nicht -wegen des fraglos Verbrecherischen furchtbar, sondern wegen der immerhin -möglichen _Gerechtigkeit_ und _Schuldlosigkeit_ des Sohnmörders; dieses -Verbrechen ist furchtbar dadurch, daß man sich darüber auf keine Weise -beruhigen kann, nachdem man zugegeben hat, daß er doch kein gewöhnlicher -Missetäter ist, ein »Verbrecher außerhalb des Gesetzes«. Eine so -rätselhafte Tragödie finden wir in Napoleons Leben nicht. Doch am -fruchtbarsten ist hierbei die Frage: wie aber, wenn Peter so handeln -_mußte_? wie, wenn er durch die Unterlassung dieser Tat das größte und -wahre Heiligtum seines Zarengewissens zerstört hätte? Tötete er denn den -Sohn um seinetwillen -- für sich selbst? Aber Peter konnte doch -tatsächlich nicht -- er verstand es einfach nicht -- sich von Rußland -unterscheiden, sich und Rußland nicht als eins fühlen: er empfand sich -als Rußland, liebte Rußland wie sich selbst, liebte es mehr als sich -selbst. Wer wagt zu sagen, daß er nicht tausendmal für Rußland gestorben -wäre? Er wollte Rußlands Bestes, »wollte das Gute den Menschen bringen«, -darum tötete er denn auch, darum »übertrat« er das Gesetz, trat er über -das Blut, da er glaubte, daß dieser Schritt »später durch -verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen wieder gut gemacht werden wird«. Er -»lud sich das Blutvergießen -- auf sein Gewissen«. - -Und da steht Peter -- wie Puschkin sagt -- »bis zum Knie im Blute«, -eigenhändig foltert und enthauptet er. Der Sohn des »Stillsten Zaren« -ist -- Henker auf dem Roten Felde[4]. Und in dem Augenblick ahmt er -niemandem nach, in dem Augenblick ordnet er sich keinerlei fremden -Einflüssen des Westens unter, in dem Augenblick ist er im höchsten Grade -russischer Zar, Nachfolger Iwans des Grausamem. Der Moskauer Zar-Henker -ist ebenso autochthon, wie der Zaardamer Zimmermann, der einfache -Arbeiter. Selbst seine ärgsten Feinde, die Abtrünnigen[5], fühlen doch, -wenn sie ihn auch den »Fremden«, den »Untergeschobenen« nennen, daß er -mit ihnen blutsverwandt ist. Und auch die Slawophilen hassen ihn als -Blutsverwandten, hassen ihn mit dem größten Bluthaß, denn sie fühlen, -daß er ihr eigen Fleisch und Blut ist, und was ihren Haß erzeugt, ist -dasselbe Blut, das in Puschkin seine ebenso starke Liebe zu Peter -erzeugt hat. Nein, nie noch hat es in der Weltgeschichte eine solche -Verirrung, eine solche Erschütterung des Menschengewissens gegeben, wie -sie Rußland in der Zeit der »Reformen Peters« erfahren hat. Wahrlich, -nicht nur bei den Raskolniken allein konnte darob der Gedanke an den -Antichrist entstehen! Es scheint, daß diese Erschütterung sich noch bis -auf den heutigen Tag nicht nur im russischen _Volke_, sondern auch in -unserer kultivierten Gesellschaft bemerkbar macht. Es scheint, daß der -sumpfige Grund des finnischen Moores immer noch unter dem Ehernen Reiter -schwankt. Wenn nicht heute, dann kommt morgen ein -- neuer Umsturz in -dieser »phantastischen Geschichte«, eine neue Überschwemmung, wie sie -Puschkin in seinem »Ehernen Reiter« geschildert ... - -Die Kraft der Wirkung ist gleich der Kraft der Gegenwirkung, dem Aufruhr -von oben antwortet der Aufruhr von unten, dem weißen Terror der rote. -Der russische Sozialismus oder der russische Terrorismus -- gleichfalls -eine »durch und durch Petersburger« Erscheinung, eine Erscheinung des -»Petersburger«, peterschen Zeitabschnitts -- ist einer der ewigen und -prophetischen Träume des »Giganten auf dem ehernen Pferde«, ist einer -der steilen Abhänge jenes »Abgrunds«, über dem er mit seinem Zügelruck -»Rußland sich aufbäumen macht«. Hier muß der »wilde Gedanke« des -Terrorismus durch die Berührung mit der »wilden« und phantastischen -Wirklichkeit noch fester Fuß fassen. Und das ist jener gespenstische -Nebel, der Nebel des Petersburger Tauwetters, der Nebel der Winde aus -dem »faulenden Westen«, mit dem zusammen die bereiften Granitblöcke sich -sofort erheben und wie Nebel verflattern und sich in nichts auflösen -werden ... - -»Es begann mit der Anschauung der Sozialisten,« sagt der Student -Rasumichin über die Lehre Raskolnikoffs vom Verbrechen -- diese Lehre, -aus der die ganze Tragödie entstanden ist. - -In Europa war der Sozialismus abstrakte, wissenschaftliche Anschauung, -oder private Anwendung dieser allgemeinen Anschauung, die durch die -geschichtlichen Lebensbedingungen der Kultur hervorgerufen worden -war. Erst in Rußland wurde der Sozialismus zur allgemeinen, -allesverschlingenden, philosophischen, metaphysischen (denn der äußerste -Materialismus ist bereits Metaphysik), teilweise sogar zur mystischen -Lehre vom Sinn des Lebens, dem Ziel und Zweck der Weltentwicklung -- -mystisch natürlich ohne Wollen und Wissen ihrer Verkündiger. Und -wiederum nur hier, in Rußland, in dem Rußland Petersburgs und Peters, -kommt der Sozialismus bis zu seinen letzten (seinen ersten Lehrsätzen in -bedeutendem Maße widersprechenden, mitunter dieselben unmittelbar -verneinenden) -- _anarchistischen_ Folgerungen. Anarchismus ist ein -furchtbares russisches Wort, ist die russische Antwort auf die Frage der -westeuropäischen Kultur. Das haben wir nicht von Europa entlehnt, das -haben wir Europa gegeben. Rußland hat hier zuerst, zum ersten Male das -ausgesprochen, was Europa nicht zu sagen wagte. Hierin hat sich jene -besondere Neigung, die mit religiöser Verblendung viel Gemeinsames hat, -die Neigung zu allem dialektisch Äußersten, Zügellosen, -Überschreitenden, selbst über den letzten »Strich« gehenden, die dem -russischen Geiste eigen ist, wieder einmal ausgesprochen. Und so ist es -selbstverständlich auch kein gewöhnlicher Zufall, daß diese unerhörte -Entwicklung dieser beiden anscheinend so entgegengesetzten und -unvereinbaren äußersten Pole -- die Idee der Selbstherrschaft und die -Idee der Herrschaftslosigkeit, der Monarchie und der Anarchie -- sich -gerade in dem Rußland Peters vollzogen hat. Sind sie doch beide aus -»einem Geiste« hervorgegangen, aus dem »stummen und tauben« Geiste, aus -dem Geiste des größten Selbstherrschers und des größten Rebellen der -Neuen Geschichte: sie sind die zwei steilen Abhänge, die zwei Ränder -immer derselben Kluft, desselben »Abgrundes«, über dem sich das Pferd -des Ehernen Reiters bäumt. In der Politik -- Anarchismus, in der -Sittlichkeit -- Nihilismus. Und auch hier, im Nihilismus, ist der -»letzte Punkt« erreicht; auch hier ist der »ganze historische Weg -zurückgelegt, es gibt nichts mehr, wohin man weitergehen könnte«. -Wiederum das russische Extrem, die äußerste, dialektisch-zügellose, -nichtwissenschaftliche Folgerung aus der westeuropäischen -wissenschaftlichen »Kritik der reinen Sittlichkeit«, die sich als -unerfüllbarer erwies, als die »Kritik der reinen Vernunft«, -die Folgerung aus den westeuropäischen, unvergleichlich -zaghafteren und gemäßigteren, weil mehr lebenskulturellen, mehr -geschichtlich-realistischen »Versuchen, sich auf der Erde ohne Gott -einzurichten« -- ohne himmlische wie auch ohne irdische Macht, -- die -Folgerung aus der, wie man meint, ausschließlich materialistischen und -mechanistischen Weltauffassung. - -Wenn Rasumichin recht hat, daß die Lehre Raskolnikoffs mit der -Anschauung der Sozialisten begonnen habe, so ist das natürlich nicht im -Sinne des westeuropäischen Sozialismus zu verstehen, sondern in einem -besonderen, russischen Sinne, im Sinne des Anarchismus und Nihilismus. - -»Nun, die Auffassung der Sozialisten ist ja bekannt,« fährt Rasumichin -fort, »das Verbrechen sei ein Protest gegen die Anormalitäten der -sozialen Einrichtung -- und nichts weiter, irgend welche anderen -Ursachen werden überhaupt nicht zugelassen -- und das sei alles!« -Raskolnikoff aber geht bereits hier in seinem Ausgangspunkte viel weiter -als die Sozialisten. Die Sozialisten sagen: der Protest -- die -Verneinung des Vorhandenen -- muß zusammen mit dem, gegen was er -gerichtet ist, verschwinden, die Verbrechen müssen in demselben -Verhältnis, wie die »ungerechte Einrichtung oder Einteilung der -Gesellschaft sich durch eine gerechte ersetzt«, seltener werden oder gar -gänzlich aufhören. Raskolnikoff aber faßt es anders auf: das Verbrechen -ist für ihn nicht nur Verneinung, Zerstörung des Alten, sondern auch -Bejahung, Schaffung von Neuem, die nicht mit zeitlichen, veränderlichen -Bedingungen der menschlichen Gesellschaft verbunden ist, sondern mit den -ewigen, unveränderlichen Gesetzen der Natur. »_Nach dem Naturgesetz_,« -sagt er zu Porphyri Petrowitsch, dem Untersuchungsrichter, indem er -seine Lehre auseinandersetzt, »zerfallen die Menschen im allgemeinen in -zwei Arten: in eine niedrigere Art, das sind die Gewöhnlichen, oder -sagen wir einfach das Material, das einzig zur Erzeugung von -Seinesgleichen dient, und in die eigentlichen Menschen, d. h. solche, -die die Gabe oder das Talent besitzen, in ihrer Mitte ein _neues Wort_ -zu sagen ... Die zur zweiten Abteilung gehörenden übertreten alle das -Gesetz, das sind die Umstürzler ... Und wenn ein solcher für seine Idee -selbst über Leichen, über Blut schreiten muß, so darf er -- meiner -Meinung nach -- innerlich, vor seinem Gewissen, sich die Erlaubnis -geben, meinetwegen auch Blut zu vergießen -- übrigens, je nach der Idee -und ihrem Umfange, das nicht zu vergessen.« -- »Wenn die Entdeckungen -eines Kepler oder Newton, sagen wir, infolge irgendwelcher Kombinationen -auf keine andere Weise den Menschen bekannt werden könnten, als durch -das Opfer von einem, zehn, hundert oder noch mehr Menschen, die der -Bekanntmachung der Entdeckung hinderlich wären oder sich als -unüberwindliches Hindernis auf ihren Weg gestellt hätten, so hätte -Newton das Recht und wäre sogar verpflichtet, diese zehn oder hundert -Menschen zu ... _beseitigen_, um seine Entdeckungen der ganzen Welt -kundtun zu können.« -- »Ferner ... alle Gesetzgeber oder Ordner der -Menschheit, angefangen von den ältesten, fortgefahren mit Lykurg, Solon, -Mahomet, Napoleon und so weiter (wie interessant, daß in dieser -Aufzählung nicht auch Peter genannt wird, wen aber, sollte man meinen, -müßte wohl Raskolnikoff der >durch und durch Petersburger< petrische -Typ, wohl nennen, wenn nicht Peter?) -- alle sind sie bis auf den -letzten Verbrecher, Übertreter schon allein durch den einen Umstand, daß -sie, indem sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft -heilig gehaltene und von den Vätern überkommene zerstörten, und weil sie -selbstverständlich auch vor dem Blutvergießen für ihr neues Wort nicht -zurückgeschreckt sind, wenn dieses Blut (das mitunter vollkommen -unschuldig war und heldenmütig für das alte Gesetz hingegeben wurde) -ihnen nur helfen konnte. Es ist wirklich auffallend, daß die meisten von -diesen Ordnern und Wohltätern der Menschheit vor allem furchtbare -Blutvergießer gewesen sind. Mit einem Wort, ich folgere daraus, daß -alle, nicht nur die ganz Großen, sondern die auch nur etwas aus dem -alten Geleise Heraustretenden, ich meine, wenn sie auch nur etwas Neues --- mag es noch so klein sein -- zu sagen vermögen, ihrer Natur gemäß -unbedingt Verbrecher oder >Übertreter< sein müssen, versteht sich, mehr -oder weniger. Anders, d. h. ohne Übertretung, würde es ihnen nicht gut -möglich sein, aus dem alten Geleise herauszukommen, in ihm aber zu -bleiben, das können sie natürlich nicht, und zwar wiederum _ihrer Natur -gemäß_ nicht, und meiner Meinung nach sind sie sogar unmittelbar -verpflichtet, nicht sich darein zu fügen, nicht den anderen zu folgen.« - -Am auffallendsten ist hierbei die aufrichtige oder vorgetäuschte Ruhe, -die Selbstbeherrschung, mit der er seine Lehre wie irgend ein -abstraktes, mathematisches Axiom auseinandersetzt. Ein Mensch spricht -von Menschlichem, als wäre er selbst kein Mensch, sondern ein Wesen aus -einer anderen Welt, oder wie ein Naturforscher von einem Ameisenhaufen -oder Bienenstock spricht. Er untersucht nicht das, was sein sollte, -sondern das, was ist, nicht Gewünschtes, sondern Vorhandenes. Als gäbe -es zwischen der sittlichen und der religiösen Welt überhaupt keine -Verbindung, als gäbe es zwischen dem Gedanken an das Wohl der Menschen -und dem Gedanken an Gott keinerlei Beziehung, als hätte es diesen -Gedanken an Gott überhaupt nie im Menschengewissen gegeben! Aber man muß -Raskolnikoff Gerechtigkeit widerfahren lassen: seit Machiavelli hat kein -einziger von sittlichen und politischen Fragen, die doch die größten -Leidenschaften erregen, mit einer solchen Leidenschaftslosigkeit -gesprochen. Und selbst die Sprache des Petersburger Nihilisten erinnert -durch ihre schneidende Schärfe, Kälte und Klarheit der Dialektik, die -»scharf wie ein Rasiermesser« ist, an die Sprache des Sekretärs der -florentinischen Republik. - -Nur ein einziges Wort zum Schluß des Gespräches fällt aus dieser -zynischen Leidenschaftslosigkeit heraus und enthüllt zu gleicher Zeit -unter den abstrakten Gedanken eine noch viel größere Tiefe, als selbst -Raskolnikoff ahnt. - -»Nun, aber die wahrhaft Genialen,« unterbricht Rasumichin halb -ärgerlich, »diese, denen das Recht zu morden gegeben ist -- die müssen -dann also überhaupt nicht leiden, auch nicht einmal für vergossenes -Blut?« - -»Wozu hier das Wort >müssen<?« entgegnet Raskolnikoff. »Hier gibt es -weder Erlaubnis noch Verbot. Mögen sie doch leiden, wenn ihnen das Opfer -leid tut ... Leiden und Schmerz sind stets mit umfassender Erkenntnis -und einem tiefen Herzen verbunden. Ich glaube, die wahrhaft großen -Menschen müssen in der Welt eine _tiefe Schwermut_ empfinden,« fügte er -plötzlich wie in Gedanken versunken hinzu, _so daß es sogar aus dem Ton -der Unterhaltung herausfiel_. -- - -Auch auf dem Gesichte desjenigen, dem Raskolnikoff nachahmt, dem er auch -äußerlich ganz ebenso wie Puschkins Herrman ähnelt, -- auch auf dem -sonderbar unbeweglichen Gesichte Napoleons, in seinen Augen, die -scheinbar »in die Ferne, oder auf einen einzigen fernliegenden Punkt -gerichtet sind«, finden wir den Stempel dieser tiefen Schwermut, dieser -großen Trauer, -- kein Anzeichen von Reue oder Gewissensbissen, oder -Leiden, sondern gerade nur von schwermütiger Trauer: als hätte er das -erblickt, was Menschenaugen nicht sehen sollten, irgendein letztes -Geheimnis der Welt vielleicht, und seit der Zeit verläßt dieser Schatten -sein Antlitz nicht mehr, selbst nicht im blendendsten Lichte des Ruhmes -und Glückes. - -Ja, dieses sonderbare Wort fällt »aus dem Ton der Unterhaltung heraus«: -es mag ihm gleichsam im Versehen entschlüpft sein. Es ist ein -jenseitiges, fast religiöses Wort. Denn, wenn in den Fragen von Gut und -Böse alles so mathematisch klar und einfach ist, wenn das sittliche -Gesetz nur das Gesetz der »Natur«, der natürlichen Notwendigkeit, der -inneren Mechanik ist -- worüber trauert er dann, woher kommt dann dieser -Schatten, vielleicht nicht aus der göttlichen, aber jedenfalls auch -nicht der menschlichen Welt? Hat Raskolnikoff sich nicht versprochen, -verraten? Verrät uns nicht dieses eine Wort, daß seine ganze -wissenschaftliche Leidenschaftslosigkeit nur Äußerlichkeit, nur Membrane -ist -- übrigens ganz so wie auch die Leidenschaftslosigkeit -Machiavellis, der das Geheimnis seines »tiefen Herzens« ahnungslos -aufdeckt, sobald er nur auf die Zukunft Italiens zu sprechen kommt? Es -scheint, daß bei beiden unter der Leidenschaftslosigkeit eine -- große -Leidenschaft loht ... wie ein »Feuertrank in einem Becher von -Eiskristall«. - -Der Vorwurf, den Rasumichin den Sozialisten und teilweise auch seinem -Freunde Raskolnikoff macht -- hatte doch nach Rasumichins Meinung auch -bei ihm alles mit der »Anschauung der Sozialisten angefangen« -- dürfte -von diesem wohl kaum verdient sein: »Die Natur wird überhaupt nicht in -Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die wird als gar nicht -vorhanden angenommen! -- Darum lieben sie ja auch so instinktiv die -Geschichte nicht ... sie lieben die _lebendige_ Entwicklung des Lebens -nicht: wozu _lebendige Seele_! Die lebendige Seele verlangt Leben, die -lebendige Seele gehorcht nicht der Mechanik, die lebendige Seele ist -mißtrauisch, die lebendige Seele ist konservativ. Hier aber, wenn's auch -nach Aas riecht -- aus Kautschuk kann man's schon machen.« - -Der unerbittliche Aristokratismus, den Raskolnikoff zur Grundlage seiner -Theorie gemacht hat -- die Einteilung der Menschen in Herde und Helden, -in tatloses »Material«, in Sache, und in schöpferische Genies, die wie -Bildhauer aus diesem Material eine neue Form meißeln, ein neues -Angesicht der Geschichte -- ist vielleicht eine zu einseitige -Auffassung, sie ist vielleicht zu übertrieben und darum ertötend, -jedenfalls aber nicht tot, ist außerhalb des Lebens, aber darum nicht -etwa leblos. Wenn diese Lehre auch der »Mechanik« ähnelt, so ist sie -doch immerhin nicht »aus Kautschuk« gemacht, sondern aus dem härtesten -Stahl und, wie eben eine schneidende Klinge, tötet sie wohl, aber sie -prüft, erprobt, sie durchbohrt das lebendige Fleisch, den lebendigen -Geist der Geschichte. Es geht schwer an, einen solchen Beobachter der -menschlichen Natur, wie Machiavelli, zu verdächtigen, daß er die »Natur -überspringe, die Geschichte, die lebendige Entwicklung des Lebens nicht -liebe«. Der Sekretär der Republik Florenz am Hofe Cesare Borgias befand -sich im Mittelpunkt dieser »lebendigen Entwicklung«, im Strudel der -größten historischen Ereignisse, im Herzen der Renaissance. Machiavelli -spricht nur davon, was er tatsächlich von diesem im grenzenlosen Leben -und unbegrenzten Leidenschaften schlagenden Herzen erlauscht hat, nur -davon, was er der »Natur« insgeheim abgesehen, dieser Natur, die sich -gerade damals in ihrer furchtbaren Nacktheit nicht nur in den Schöpfern, -sondern auch in den Kritikern der Geschichte offenbarte. Und jedenfalls -kann man von dieser verführerischen Schimäre nicht sagen, daß es von ihr -wie »Aasgeruch« herüberwehe, eher aber schon »wie von frischvergossenem -Blute«, und wohl aus nichts weniger als »Kautschuk« dürfte sie gemacht -sein. Aus dem Leben ist sie hervorgegangen und ins Leben hineingegangen --- und wenn auch wiederum wie schneidender Stahl. Indessen liegt der -sittlichen wie auch politischen Lehre Machiavellis vielleicht derselbe -oder gar ein noch schonungsloserer Aristokratismus zugrunde, als bei -Raskolnikoff. Ist es bei ihm nicht dieselbe Einteilung der Menschen in -»Material«, »Pöbel«, »ekelhaftes Gewürm« (wie Nietzsche es nennt) -- in -_vulgus_, das durch das Naturgesetz zum Gehorchen bestimmt ist, -- und -in Gebieter, in Herrscher, in Pfleglinge des Halbtiers, des Halbgotts, -des Zentauren Chiron, die gleich ihrem Lehrer die übermenschliche, -göttliche Natur mit der des »Tieres«, der _bestia_ in sich vereinen -müssen? -- ist es nicht dieselbe »Entbindung von der Blutschuld auf ihr -Gewissen«, die Erlaubnis, den »Wohltätern, den Ordnern der Menschheit« -gegeben, Blut zu vergießen? -- ist nicht die vermeintlich unvermeidliche -Vereinung von »Tugend« (_virtù_) und »Grausamkeit« (_ferocità_) in -ihnen? Nicht umsonst hat Nietzsche, der seine Einsamkeit in der -Weltliteratur fast krankhaft empfand und ihr solchen Wert beilegte, -Nietzsche, der so anspruchsvoll war im Anerkennen von Verwandten oder -Bundesgenossen, nicht umsonst hat er unter seinen wenigen Vorgängern -Machiavelli und Dostojewski (»diesen tiefen Menschen, den einzigen -Psychologen, bei dem ich etwas zu lernen hatte«) nebeneinandergestellt --- letzteren natürlich nicht als bewußtes Dogma, sondern nur für die -künstlerische Darstellung solcher Helden des persönlichen Prinzips, wie -Iwan Karamasoff und Rodion Raskolnikoff. Nietzsche ist ja gleichfalls -- -und das wissen wir bereits aus der Erfahrung unseres eigenen Herzens und -Verstandes -- aus dem Leben hervorgegangen und so geht er auch wieder in -das Leben hinein. Was nun auch der Wert seiner Lehre sei, jedenfalls -sehen wir nur zu gut, daß man mit ihm nicht wie mit einer toten -Abstraktion, sondern wie mit einer tief lebendigen historischen Kraft, -gleichviel ob mit einer positiven oder negativen, in jedem Fall aber -lebendigen Erscheinung der »lebendigen Entwicklung« rechnen muß. - -Machiavellis »Principe«, Raskolnikoffs »Herrscher«, Nietzsches -»Übermensch« -- das sind wieder die emporführenden Stufen, die Stufen -eines besonderen, nicht ins Vergangene, sondern ins Zukünftige -gerichteten, zerstörend schöpferischen, zügellos aufrührerischen -Aristokratismus, der aufrührerischer als jegliche Demokratie ist, -- -eines Aristokratismus, der in der Politik wie in der Sittlichkeit allen -Wiedergeburten, die sich bis jetzt vollzogen haben, eigen ist. - -Wenn nun Raskolnikoff auch tatsächlich von der »Anschauung der -Sozialisten« ausgegangen ist, so ist er doch zu einem Schluß gekommen, -der ihrer Auffassung am entgegengesetztesten ist: Ungleichheit als -unwandelbares, in jeder menschlichen Gesellschaft verwirklichtes -»Naturgesetz«. Und diese Ungleichheit in ihrer Natur glättet sich nicht -etwa aus, im Gegenteil, sie vertieft sich noch proportional der -universalgeschichtlichen Entwicklung: die Menschheit hat sich gleichsam -in zwei Hälften zerspalten und schon gibt es keine Vereinigung für sie, -kein Zusammenwachsen mehr. »Der Mensch ist dem Menschen ein -- Tier« -- -oder Gott, in jedem Falle aber nicht Bruder, nicht Nächster, nicht -Gleicher ... nach dem furchtbaren Worte Nietzsches, daß zwischen dem -Menschen und dem Menschen eine größere Entfernung liegt, als zwischen -Mensch und Tier. - -Zu gleicher Zeit ersieht man daraus, wie die Idee der Anarchie in ihren -extremsten Folgeschlüssen sich unvermeidlich der Idee der Monarchie -nähert und sogar unmittelbar mit ihr in eins zusammenfließt: die letzte -Freiheit »jenseits von Gut und Böse«, die letzte Herrschaftslosigkeit -führt zur Einherrschaft, zur Selbstherrschaft des Genies -- zum Gebot -Platons: »es möge das Genie herrschen«. - -Übrigens macht Raskolnikoff in der ersten theoretischen Darlegung seiner -Gedanken dem Sozialismus eine Konzession; er sagte »Diese (die Menschen -der Masse) erhalten die Welt und vermehren sich; jene (die Helden) -bewegen die Welt und führen sie ihrem Ziele zu. Diese wie jene haben -also _vollständig dasselbe Recht zur Existenz_. Mit einem Wort, in -meinen Augen haben _alle das gleiche Recht_, und -- _vive la guerre -éternelle_{[1]} ... bis zum neuen Jerusalem, versteht sich!« - -»So glauben Sie immerhin doch an ein neues Jerusalem?« fragt Porphyri -Petrowitsch. - -»Ja, ich glaube daran.« - -Hätte diese Konzession für seine ganze Lehre in der Tat die Bedeutung, -die er selbst annimmt, so müßte die Teilung der Menschen in erhaltende, -fortsetzende, und in die Welt bewegende, nicht die Vorstellung von -Höheren und Niedrigeren, von Verächtlichen und Edlen hervorrufen. Beide -Teile würden dann auf gleicher Stufe stehen. Dann hätte sich -Raskolnikoff in diesen »Geringen hienieden« ein zwar anderer, aber doch -nicht geringerer Adel offenbart, als in den Großen -- ein anderer, aber -nicht geringerer Wert. Die Vorstellung von der »zitternden Kreatur« -(Nietzsches »ekelhaftem Gewürm«), vom Pöbel, würde durch die Vorstellung -des Volkes oder der »universalen Vereinigung der Menschen« ersetzt -werden. Beide Fähigkeiten -- wie die Erhaltung des Gleichgewichts, so -auch die Bewegung nach vorn, das Fleisch und der Geist der Menschheit -- -wären in seinen Augen in gleichem Maße heilig. Nicht Masse, wohl aber -echtes Volk zu sein, würde ihm nicht verächtlicher und nicht rühmlicher -erscheinen, als Held zu sein. Und so könnte man noch viele andere -frappierende, von ihm sicherlich nicht erwartete Folgerungen aus dieser -einen Konzession ziehen, die er ja doch nicht nur dem Sozialismus, -sondern auch der Lehre Christi macht. Z. B.: würde sich daraus nicht -ergeben, daß es folglich zwei Tafeln sittlicher Werte gibt, zwei -Gewissen, zwei Wahrheiten, die tatsächlich »gleichstark«, -»gleichberechtigt« sind? Hätte er dann nicht auch an den letzten Grenzen -dieser Zerspaltung die Möglichkeit der _Vereinigung_ erblickt, -- hätte -sich dann nicht auch der Vorhang vor dem wirklich »neuen«, längst nicht -mehr sozialistischen »Jerusalem« vor ihm erhoben? - -Aber das ist es ja: Raskolnikoff erkennt das »gleiche Recht beider -Hälften auf Existenz« nur mit dem Verstande an. Sein Herz verneint -dieses Recht mit einer Kraft, wie es bis jetzt noch niemals jemand -verneint hat, und er setzt zwischen ihnen eine größere Entfernung -voraus, als der alte Grieche zwischen dem Sklaven und dem Freien, als -der Inder zwischen Tschandala und Brahmane. Ja es scheint, daß es -überhaupt keine größere Entfernung, keine größere Kluft in der Welt -gibt, als es diese ist, die Raskolnikoff zwischen den zwei -Menschenklassen annimmt. Er kann keine genügend grausamen, hochmütigen, -zynischen Worte finden, um seine ganze Verachtung für die Nichthelden -auszudrücken. -- »Oh, wie verstehe ich den Propheten zu Pferde und mit -dem Schwert in der Hand: wenn Allah befiehlt, so hast du zu gehorchen, -zitternde Kreatur! Recht, wahrlich Recht hat der >Prophet<, wenn er -irgendwo mitten auf der Straße eine _gu--ute_ Batterie aufstellt und auf -Gerechte und Ungerechte feuern läßt, ohne sie auch nur eines Wortes der -Erklärung zu würdigen! Gehorche, zitternde Kreatur, und -- _laß dich -nicht gelüsten_, denn -- das kommt dir nicht zu!!!« -- Von welch einem -Rechte der Masse auf Existenz kann danach noch die Rede sein? Es sei -denn -- von dem Recht auf ewiges Zittern, ewiges Nichtsein vor dem -»Propheten«. Gibt es doch für Raskolnikoff kein größeres Entsetzen und -keinen größeren Ekel, als sich als Menschen, wie alle, zu fühlen. Er hat -ja auch nur deshalb den Mord begangen, um den Strich, der den Helden von -dem Nichthelden scheidet, zu überschreiten, um sich selbst zu beweisen, -daß er ein -- Mensch ist und nicht ein Ungeziefer, nicht eine »Laus«. -- -»Ich mußte damals unbedingt erfahren, ich mußte mich sobald als möglich -überzeugen, _ob ich ein Ungeziefer bin, wie alle, oder ein Mensch_? ... -Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder _habe ich das Recht_?« -- »Da -hasten sie alle hin und her durch die Straßen und ist doch ein jeder von -ihnen ein Schuft und Spitzbube allein schon seiner Natur gemäß, sogar -schlimmer als das -- ein Idiot! ... O, wie ich sie alle hasse!« In -seinem Herzen ist kein Körnchen von jener Liebe und Achtung vorhanden, -ja nicht einmal von jener Gerechtigkeit zu den »Fortsetzern«, den -»Erhaltern« der Menschheit, die er mit dem Verstande anerkennt. -Augenscheinlich besteht hier zwischen dem Lebensgefühl und dem -abstrakten Gedanken Raskolnikoffs irgendein klaffender Widerspruch. - -Die zweite Konzession, die er dem Sozialismus macht, ist die Anerkennung -des »Wohles der Menschheit« als höchstes bewußtes Ziel der Helden. Die -Helden sind, wie er sagt, »Ordner und Wohltäter der Menschheit«. Sie -übertreten das Gebot nicht nur _aus dem Grunde_, weil ihre Natur derart -beschaffen ist, sondern auch _zu dem Zweck_, nur das höhere Gebot zu -erfüllen. Sie zerstören das Bestehende im Namen eines besseren -Zukünftigen, im Namen des »neuen Jerusalem«. Sie opfern wenige für das -Glück vieler, die Minderheit der Mehrheit. Ihre Verbrechen sind nicht -nur natürlich, sondern auch vernünftig, denn verderblich sind sie nur -für einzelne, vorteilhaft aber für Millionen, und somit können sie sogar -durch die mathematische Berechnung gerechtfertigt werden: »läßt sich -denn nicht ein einziges kleines Verbrechen durch Tausende von guten -Taten wieder gut machen? Für ein Leben tausend Leben. Ein Tod und zum -Ersatz dafür hundert Leben -- das ist doch Arithmetik!« - -Aber auch der zweiten Konzession kann man keine größere Bedeutung -beilegen als der ersten; übrigens sieht er das zum Schluß auch selbst -ein und zerreißt dann endgültig die letzte Verbindung mit der -»Anschauung der Sozialisten«: -- »Weswegen schimpfte doch Rasumichin -vorhin über die Sozialisten? Das sind doch arbeitsame, handeltreibende -Leutchen, bemühen sich um das >allgemeine Glück< ... Nein, mir wird das -Leben nur einmal gegeben, und niemals werde ich es wieder haben! -- Ich -will nicht das >allgemeine Glück< abwarten. _Ich will auch selbst leben_ --- oder sonst lieber überhaupt kein Leben! Nun was? Ich wollte nur nicht -an einer hungrigen Mutter vorübergehen und, in der Erwartung des ->allgemeinen Glücks<, in der Tasche meinen Rubel festhalten.« -- »Ich -bringe, wie man sagt, >einen Stein zum Bau des allgemeinen Glücks und so -kann mein Herz ruhig sein<. Haha! Warum habt ihr mich denn -durchgelassen? Ich lebe doch im ganzen nur einmal, ich will doch auch -...« Und er lacht, -- »zähneknirschend« -- über die mathematische -Berechnung des Vorteils, des menschlichen Wohles: »Unternehme es, -sozusagen, nicht im Interesse meines eigenen Fleisches, und der eigenen -Lust, sondern habe ein ungeheures, erhabenes Ziel im Auge, -- haha! ... -Beschloß jede nur mögliche Gerechtigkeit zu beobachten, Maß und Gewicht, -und Arithmetik. Von allen Läusen wählte ich die allerüberflüssigste aus, -und indem ich sie tötete, beschloß ich, genau nur soviel zu nehmen, -wieviel ich für den ersten Schritt brauchte, nicht mehr und nicht -weniger (und das übrige wäre dann nach dem Testament sowieso einem -Kloster zugefallen, -- haha! ...). O Erbärmlichkeit! ... O Gemeinheit! -...« Und bereits kurz vor der »Beichte« gesteht er Ssonja Marmeladoff: -»Die ganze Qual dieser _Schwätzerei_ habe ich ertragen, Ssonja, und da -wollte ich sie denn endlich von den Schultern wälzen: ich wollte ohne -Kasuistik erschlagen, versteh mich recht, Ssonja, _für mich wollte ich -erschlagen, für mich allein_! Darin wollte ich niemanden belügen, selbst -mich nicht! Nicht um meiner Mutter helfen zu können, habe ich erschlagen --- Unsinn! Ich habe auch nicht erschlagen, um nach der Erlangung von -Mitteln und Macht ein Wohltäter der Menschheit zu werden -- Unsinn! Ich -habe einfach erschlagen, _für mich selbst habe ich erschlagen, nur für -mich allein_!« ... - -Hier geht in der Seele Raskolnikoffs etwas Furchtbares und Rätselhaftes -vor sich. Man sollte meinen, wenn er für andere, zum Wohle der Menschen -erschlagen hätte, dann wäre eine Rechtfertigung noch möglich: zwar ist -es, würde man sagen, ein schlechtes Mittel, aber dafür hat er ein edles -Ziel gehabt. Hat er es aber »für sich allein« getan, »für sein eigen -Fleisch und zur eigenen Lust«, dann gibt es hierfür keine Rechtfertigung -mehr, dann ist er ein gewöhnlicher Dieb und Mörder, ein einfacher -Missetäter, ein »Verbrecher außerhalb des Gesetzes«. Indessen ahnt -Raskolnikoff dunkel, daß es in diesem Falle doch nicht so ist: ja, er -hat für sich erschlagen, _für sich allein_, aber doch nicht für sein -Fleisch und seine Lust allein, sondern noch für etwas Höheres in sich, -für etwas Unzweifelhafteres und zu gleicher Zeit Uneigennützigeres, -_Ferneres_, als das Wohl des Nächsten, als das »allgemeine Glück«. -Natürlich ist auch »Egoismus« dabei, aber dieser Egoismus ist wiederum -von einer besonderen Art. Das Verbrechen wird vielleicht noch -furchtbarer, jedenfalls aber nicht einfacher, nicht roher, -- im -Gegenteil, hier erst beginnt seine Kompliziertheit, Verfeinerung und das -Verführerische an ihm. Raskolnikoffs von Qual und Leidenschaft -geschärfter Blick sieht bereits die ganze hoffnungslose Flachheit und -Erbärmlichkeit der sozialistischen »handelsmäßigen« Abwägungen, -Abmessungen des allgemeinen Nutzens. In diesem »für sich, für sich -allein« aber dämmert es weit, weit wie eine Ahnung von irgendeiner -unbekannten Tiefe der Berührung mit der Ordnung unermeßlich höherer, -allerschwerster, edelster Werte, als es alle sozialistischen Vorteile -und der ganze allgemeine Nutzen sind; er ist sich dessen noch nicht -bewußt, aber dunkel fühlt er schon, daß hierin -- wenn auch nicht die -Rechtfertigung, so doch immerhin irgendeine letzte Wahrheit ist, die -Befreiung, Reinigung von der ganzen »Kasuistik«, dem »Geschwätz und der -Lüge« vom neuen sozialistischen »Jerusalem«. Das also ist der Grund, -warum er sich mit einer so verzweifelten Hartnäckigkeit und Anspannung -aller Kräfte an dieses »für mich, für mich allein« klammert, als wolle -er seine Gedanken zu Ende führen, und dennoch, als könne, als wage er es -nicht. Hier ist alles noch -- gar zu dunkel, gar zu tief; grauenvoll ist -es für ihn, -- gerade durch die unerwartet sich aufdeckende Tiefe ist es -furchtbar. Vielleicht ist hier selbst die Rechtfertigung furchtbarer als -jede Verurteilung. Die lecke Barke des Sozialismus begann unter ihm zu -sinken, und da sieht er, wie ein Ertrinkender, als einzigen festen -Punkt, als einzigen unerschütterlichen Fels in den Wellen -- dieses »für -mich allein«, aber noch weiß er nicht, ob er an jenem nackten scharfen -Felsen endgültig zerschellen oder ob er sich auf ihn retten wird. Rodion -Raskolnikoff erfährt denn auch nicht, begreift noch nicht, daß er sich -nicht anders retten kann, als wenn er die Rechtfertigung durch die Liebe -zu sich selbst nicht nur zu einer sozialen, moralischen, philosophischen -Rechtfertigung macht, sondern auch zu einer _religiösen_. - - _Dmitri Mereschkowski._ - - - - - Vorbemerkung - - -»Rodion Raskolnikoff« ist als das erste der fünf großen Roman-Epen, die -Dostojewski geschrieben hat, im Jahre 1866 vollendet worden. Das Werk -hat im Russischen einen Titel, dessen Übertragung sich der Begriffswelt -»Schuld und Sühne« nähert. Dieser Titel ist von Dostojewski aus -nachweisbar ein Nottitel. Die Lösung des Problemes, die der Titel -andeutet, bringt das Werk gar nicht. Der geplante zweite Teil, auf den -sich der Titel bereits bezieht, ist nie geschrieben worden. Daher ist -das Werk hier mit demjenigen Namen genannt, den sein Inhalt verlangt und -an den sich das allgemeine und natürliche Empfinden längst gewöhnt hat: -mit dem Namen seines Helden, in dem die Gestalt des jungen russischen -Studenten und Ideologen ein für allemal Typ und beinahe Symbol geworden -ist. - - E. K. R. - - - - - Erster Teil - - - I. - -Anfangs Juli, es war eine außerordentlich heiße Zeit, trat ein junger -Mann gegen Abend aus seiner Kammer, die er in einem Hause der S.schen -Gasse bewohnte, auf die Straße hinaus und ging langsam, wie -unentschlossen, in der Richtung auf die K.sche Brücke. - -Er hatte glücklich eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe -vermieden. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dache des hohen -fünfstöckigen Hauses und glich eher einem Schrank, als einer Wohnung. -Seine Wirtin aber, von der er diese Kammer mit Mittagessen und Bedienung -gemietet hatte, wohnte eine Treppe tiefer in einer separaten Wohnung und -jedesmal, wenn er auf die Straße hinausging, mußte er unbedingt an der -Küche der Wirtin vorbeigehen, deren Tür fast immer sperrweit offen -stand. Und jedesmal fühlte der junge Mann beim Vorbeigehen eine -krankhafte und feige Empfindung, deren er sich schämte und bei der er -das Gesicht verzog. Er war bei der Wirtin stark verschuldet und -fürchtete sich, ihr zu begegnen. - -Nicht weil er so feige und scheu war, ganz im Gegenteil, aber seit -einiger Zeit war er in einem gereizten und überanstrengten Zustand, der -der Hypochondrie ähnelte. Er hatte sich so ganz und gar in sich selbst -vertieft und hatte sich so vollständig von allen abgeschlossen, daß er -sich sogar vor der gleichgültigsten Begegnung fürchtete, nicht bloß vor -der mit der Wirtin. Er war von Armut erdrückt; aber selbst diese -bedrängte Lage hatte in der letzten Zeit aufgehört auf ihm zu lasten. Er -hatte es ganz und gar aufgegeben, mit seiner Tagesarbeit sich zu -befassen, und hatte auch keine Lust dazu. Im Grunde genommen fürchtete -er sich freilich nicht vor tausend Wirtinnen, was die auch gegen ihn im -Schilde führen mochten. Aber auf der Treppe stehenbleiben, jeden Unsinn -über alltäglichen Kram, der ihn gar nicht interessierte, anhören, all -diese ewigen Mahnungen, seine Schulden zu bezahlen, die Drohungen, die -Klagen anhören und sich dann den Kopf nach Ausreden zerquälen, sich -entschuldigen und lügen zu müssen, -- nein, da war es schon besser, wie -eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und sich davonzumachen, ohne -von irgendeinem Menschen sich sehen zu lassen. - -Übrigens, dieses Mal setzte die Furcht vor einer Begegnung mit seiner -Gläubigerin ihn selbst in Erstaunen, als er auf die Straße hinaustrat. - -»Solch eine Sache will ich wagen ... und fürchte mich vor solchen -Kleinigkeiten!« dachte er über sich lächelnd. -- »Hm ... ja ... alles -liegt in den Händen eines Menschen und er läßt alles vorbeigehen, einzig -und allein aus Feigheit ... das ist ein Axiom ... Ich möchte wissen, was -die Menschen am meisten fürchten? Sie fürchten sich am meisten vor einem -neuen Schritt, vor einem neuen, eigenen Worte ... Ich schwatze übrigens -viel zu viel. Darum handle ich nicht, weil ich schwatze. Vielleicht ist -es aber auch so: ich schwatze darum, weil ich nicht handle. Und das -Schwatzen habe ich in diesem letzten Monat gelernt, indem ich ganze Tage -und Nächte in der Ecke lag und ... unnütz träumte. Warum gehe ich jetzt -fort? Bin ich denn dazu fähig? Soll _es_ denn Ernst werden? Natürlich -nicht. Bloß des Einfalls wegen spiegle ich mir selbst was vor. -Spielerei! Ja, natürlich ist es Spielerei.« - -Die Hitze auf der Straße war beängstigend; dazu die schwüle Luft, das -Gedränge, überall lagen Kalk, Ziegelsteine, standen Baugerüste, überall -war Staub und jener besondere Sommergestank, der jedem Petersburger -wohlbekannt ist, der nicht ein Landhäuschen mieten kann, -- dies alles -erschütterte die ohnedies schon angegriffenen Nerven des jungen Mannes -auf das unangenehmste. Der unerträgliche Geruch aus den Schenken, die in -diesem Stadtteile besonders zahlreich sind, und der Anblick Betrunkener, -denen man alle Augenblicke begegnete, -- trotz des Werktages, -- -vollendeten die widerwärtige und traurige Stimmung des Bildes. Ein -Ausdruck des tiefsten Abscheus huschte einen Augenblick über die feinen -Züge des jungen Mannes. Beiläufig gesagt, er war außergewöhnlich hübsch, -hatte schöne dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war fein und schlank und -von mehr als mittlerem guten Wuchse. Bald aber versank er in sein tiefes -Sinnen, oder richtiger gesagt, in Selbstvergessenheit, und ging weiter, -ohne seine Umgebung zu beachten, ohne den Wunsch, sie zu bemerken. Hin -und wieder murmelte er etwas vor sich hin, nach seiner Gewohnheit -Selbstgespräche zu halten, wie er es soeben sich selbst eingestanden -hatte. Dabei wurde er es sich bewußt, daß seine Gedanken sich zuweilen -verwirrten und daß er sehr schwach war -- es war ja der zweite Tag, daß -er fast nichts gegessen hatte. - -Er war so schlecht angezogen, daß mancher, auch der es gewöhnt war, sich -geschämt hätte, in solchen Lumpen am Tage auf die Straße zu gehen. -Freilich war dieses Viertel derart, daß man hier schwerlich jemand durch -seine Kleidung in Erstaunen setzen konnte. Die Nähe des Heumarktes, die -Überzahl gewisser Häuser und die Bevölkerung, die ausschließlich aus -Handarbeitern besteht und in diesen Straßen und Gassen zusammengepfercht -haust, belebten genugsam das allgemeine Bild mit solchen Gestalten, daß -es sonderbar gewesen wäre, wenn eine solche Figur aufgefallen wäre. Und -in der Seele des jungen Mannes hatte sich soviel böse Verachtung -angesammelt, daß er trotz seines zuweilen sehr jugendlichen -Selbstgefühls sich fast nicht mehr seiner Lumpen schämte. Anders -freilich war es, wenn er zufällig Bekannten oder früheren Kameraden -begegnete, denen er naturgemäß gern aus dem Wege ging. Indessen, als ein -Betrunkener, den man von ungefähr in diesem Augenblicke in einem großen -Wagen, mit einem großen Lastpferd davor, durch die Straße fuhr, -plötzlich im Vorbeifahren ihm zurief: »He, du da mit dem deutschen -Hute!« -- und mit der Hand auf ihn wies, -- blieb der junge Mann stehen -und faßte krampfhaft nach seinem Hute. Der Hut war hoch und rund, in -einem guten Laden gekauft, aber völlig abgetragen und verschossen, -voller Löcher und Flecken, ohne Rand und auf der einen Seite häßlich -eingedrückt. Nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, das eher -Schrecken war, hatte ihn erfaßt. - -»Ich wußte es!« murmelte er verlegen. »Ich dachte es mir! Das ist das -allerschlimmste! So eine Dummheit, irgendeine sinnlose Kleinigkeit kann -das ganze Vorhaben vernichten! Ja, der Hut fällt zu sehr auf ... Er ist -lächerlich, darum fällt er auf ... Zu meinen Lumpen brauche ich -unbedingt eine Mütze und wenn es auch eine alte Kappe ist, aber nicht -dies Ungetüm. Niemand trägt solch einen Hut, von ferne schon sieht man -ihn, kann sich ihn merken ... und die Hauptsache, man wird ihn sich für -später merken, und ein Indizium ist da. Unauffällig muß man sein ... Die -Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten sind die Hauptsache! ... Diese -Kleinigkeiten verderben stets alles ...« - -Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von -seiner Haustür waren -- genau, siebenhundertunddreißig. Er hatte sie -einmal gezählt, als er stark ins Träumen gekommen war. Damals glaubte er -diesen Träumen selbst noch nicht, und sie reizten ihn bloß durch ihre -abscheuliche, aber verführerische Verwegenheit. Jetzt, nach einem Monat, -schaute er es anders an und hatte sich unwillkürlich daran gewöhnt, den -»abscheulichen« Traum -- ungeachtet aller stets wachen Selbstvorwürfe -über seine eigene Kraftlosigkeit und Unentschlossenheit, -- als ein -Vorhaben anzusehen, obwohl er sich immer noch nicht recht traute. Jetzt -ging er _eine Probe_ seines Vorhabens zu machen, und mit jedem Schritt -wuchs stärker und stärker seine Aufregung. - -Mit erstarrendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich einem -riesigen Hause, das mit der einen Seite auf den Kanal hinausging, mit -der anderen an der R.schen Straße lag. Dieses Haus hatte lauter kleine -Wohnungen und war von allerhand Handarbeitern bewohnt, -- von -Schneidern, Schlossern, Köchinnen, von Deutschen, von Mädchen, die ihre -eigene Wohnung besaßen, kleinen Beamten und dergleichen. Durch die -beiden Tore und die beiden Höfe des Hauses huschten in einem fort aus- -und eingehende Menschen. Hier waren drei oder vier Hausknechte -angestellt. Der junge Mann war sehr zufrieden, als er keinem von ihnen -begegnete, und schlüpfte unbemerkt rechts vom Tore die Treppe hinauf. -Die Treppe war dunkel und schmal, -- es war eine Hintertreppe, -- er -kannte das alles schon, hatte es genau studiert, und die ganze Umgebung -gefiel ihm; in solcher Dunkelheit ist ein neugieriger Blick -ungefährlich. - -»Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie wird es dann sein, wenn ich -wirklich an _die Tat_ selbst gehe?« dachte er unwillkürlich, während er -zum vierten Stockwerk hinaufstieg. Hier versperrten ihm Packträger, -verabschiedete Soldaten, die aus einer Wohnung Möbel hinaustrugen, den -Weg. Er wußte von früher, daß in dieser Wohnung ein Deutscher, ein -Beamter, mit seiner Familie lebte. - -»Dieser Deutsche zieht jetzt also aus, also bleibt im vierten Stock für -einige Zeit nur die Wohnung der Alten bewohnt. Das ist gut ... auf jeden -Fall ...« dachte er und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke -schlug schwach an, als wäre sie aus Blech. In solchen kleinen Wohnungen -findet man immer solche Glocken. Er hatte den Ton dieser Glocke -vergessen, und jetzt schien ihn dieser eigenartige Klang plötzlich an -etwas zu erinnern und eine klare Vorstellung von etwas zu geben ... Er -zuckte zusammen, seine Nerven waren sehr herunter. Kurz darauf öffnete -sich die Türe zu einem winzigen Spalt -- die Bewohnerin blickte hindurch -mit sichtbarem Mißtrauen, und man sah bloß ihre kleinen, dunkel -leuchtenden Augen. Als sie aber auf dem Flure viele Menschen erblickte, -faßte sie sich ein Herz und öffnete die Tür ganz. Der junge Mann trat -über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Wand in zwei -Teile geteilt war, dahinter befand sich eine kleine Küche. Die Alte -stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war eine kleine -vertrocknete alte Frau, etwa sechzig Jahre alt, mit stechenden und -bösen, kleinen Augen, einer kleinen, spitzen Nase und ohne -Kopfbedeckung. Ihr hellblondes, leicht ergrautes Haar war mit Öl -eingefettet. Um den dünnen und langen Hals, der dem Beine eines Huhnes -glich, war ein Flanellappen gewickelt und über die Schultern hing, trotz -der Hitze, eine abgetragene und gelbgewordene Pelzjacke. Die Alte -hustete und räusperte sich fortwährend. Wahrscheinlich hatte der junge -Mann ihr einen sonderbaren Blick zugeworfen, denn plötzlich tauchte in -ihren Augen wieder das frühere Mißtrauen auf. - -»Ich heiße Raskolnikoff, bin Student, war bei Ihnen vor einem Monat,« -beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen, sich -erinnernd, daß man hier freundlich sein müsse. - -»Ich erinnere mich, Väterchen, ich erinnere mich gut, daß Sie da waren,« -sagte die Alte, ohne ihre fragenden Augen von seinem Gesichte -abzuwenden. - -»Also ... ich komme wieder in einer ähnlichen Angelegenheit ...« fuhr -Raskolnikoff fort, ein wenig verwirrt und erstaunt über das Mißtrauen -der Alten. - -»Vielleicht ist sie immer so, ich habe es damals bloß nicht gemerkt,« -dachte er mit unangenehmer Empfindung. - -Die Alte schwieg eine Weile, wie in Gedanken vertieft, trat dann zur -Seite, zeigte auf die Tür zu der Stube und sagte, indem sie den Besucher -vorbei ließ: - -»Treten Sie näher, Väterchen!« - -Das kleine Zimmer, in das der junge Mann eintrat, hatte eine gelbe -Tapete, Geranien standen dort und die Fenster umrahmten -Mousselingardinen. In diesem Augenblick wurde es von der untergehenden -Sonne hell erleuchtet. - -»Die Sonne wird auch _dann_ ebenso leuchten! ...« durchfuhr es plötzlich -Raskolnikoff, und mit einem schnellen Blick überflog er alles in dem -Zimmer, um nach Möglichkeit die Lage zu studieren und sie sich zu -merken. In dem Zimmer aber gab es nichts Besonderes. Die Möbel aus -gelbem Holze, alle sehr alt, bestanden aus einem Sofa mit -ungeheuerlicher, gebogener hölzerner Rückenlehne, einem runden Tisch vor -dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem kleinen Spiegel an der Wand -zwischen den Fenstern, aus Stühlen an den Wänden und einigen billigen -Bildern in gelben Rahmen, die deutsche Damen mit Vögeln in den Händen -darstellten, -- das war die ganze Ausstattung. In der Ecke brannte vor -einem kleinen Heiligenbilde ein Lämpchen. Alles war sehr sauber, -- die -Möbel und die Diele waren blank poliert; alles glänzte. »Das ist -Lisawetas Arbeit,« dachte der junge Mann. Kein Stäubchen konnte man in -der ganzen Wohnung finden. »Bei bösen und alten Witwen findet man so -eine Sauberkeit,« dachte Raskolnikoff weiter und warf einen neugierigen -Seitenblick auf den Vorhang aus Kattun vor der Tür zu dem zweiten -kleinen Zimmer, in dem das Bett und die Kommode der Alten standen, -dahinein hatte er noch nicht geschaut. Die ganze Wohnung bestand aus -diesen zwei Zimmern. - -»Was wünschen Sie?« fragte die kleine Alte scharf, als sie ihm in das -Zimmer gefolgt war, und stellte sich wieder gerade vor ihm hin, um ihm -ins Gesicht sehen zu können. - -»Ich habe etwas zu verpfänden,« und er zog eine alte, flache, silberne -Uhr aus der Tasche. Auf der Rückseite war ein Globus eingraviert. Die -Kette war aus Stahl. - -»Die Frist für das früher Versetzte ist schon um. Vorgestern ist der -Monat abgelaufen.« - -»Ich will Ihnen die Zinsen noch für einen Monat bezahlen; warten Sie -noch ein wenig.« - -»Das ist mein guter Wille, Väterchen, zu warten oder Ihr Ding sofort zu -verkaufen.« - -»Wieviel geben Sie für die Uhr, Aljona Iwanowna?« - -»Immer kommen Sie mit Kleinigkeiten, Väterchen, sie ist ja fast nichts -wert. Für den Ring habe ich Ihnen voriges Mal zwei Rubel gegeben, und -man kann ihn bei jedem Juwelier neu für anderthalb Rubel kaufen.« - -»Geben Sie mir für die Uhr vier Rubel, ich werde sie einlösen. Sie hat -meinem Vater gehört. Ich erhalte bald Geld.« - -»Ich will Ihnen anderthalb Rubel dafür geben und die Zinsen abziehen, -wenn Sie damit einverstanden sind.« - -»Anderthalb Rubel!« rief der junge Mann aus. - -»Wie Sie wünschen.« - -Und die Alte reichte ihm die Uhr. Der junge Mann nahm sie; er war so -böse, daß er schon fortlaufen wollte, aber er besann sich, daß er sonst -nirgends hingeben konnte, und daß er noch aus einem anderen Grunde -gekommen war. - -»Geben Sie das Geld!« sagte er grob. - -Die Alte fuhr in die Tasche nach den Schlüsseln und ging hinter den -Vorhang in das andere Zimmer. Als der junge Mann allein zurückblieb, -lauschte er voll Neugier und überlegte. Man hörte, wie die Alte die -Kommode aufschloß. »Wahrscheinlich ist es die obere Schublade,« dachte -er. »Die Schlüssel trägt sie in der rechten Tasche ... Alle sind sie an -einem Stahlring ... Und da ist ein Schlüssel, größer als die anderen, -dreimal so groß, mit zackigem Barte; er ist selbstverständlich nicht von -der Kommode ... Also, muß es noch eine Schatulle geben oder eine kleine -Truhe ... Das ist zu beachten. Truhen haben immer solche Schlüssel ... -Aber, wie gemein ist dies alles ...« Da kam die Alte zurück. - -»Hier haben Sie das Geld, Väterchen. Den Zins zu zehn Kopeken pro Rubel -und Monat gerechnet, bekomme ich von Ihnen für anderthalb Rubel und für -einen Monat im voraus fünfzehn Kopeken. Außerdem erhalte ich von Ihnen -für die zwei früheren Rubel nach derselben Berechnung weitere zwanzig -Kopeken im voraus. Zusammen also fünfunddreißig Kopeken. Sie erhalten -für Ihre Uhr einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Da haben Sie's.« - -»Wie? Jetzt macht es bloß einen Rubel und fünfzehn Kopeken?« - -»Ganz richtig.« - -Der junge Mann stritt nicht weiter und nahm das Geld. Er blickte die -Alte an und zögerte zu gehen, als wolle er noch irgend etwas sagen oder -tun, ohne selber zu wissen, was er wolle ... - -»Ich werde Ihnen, Aljona Iwanowna, in diesen Tagen vielleicht noch eine -Sache bringen ... ein silbernes ... gutes ... Zigarettenetui ... sobald -ich es von einem Freunde zurückerhalte ...« - -»Nun, dann wollen wir darüber reden, Väterchen.« - -»Leben Sie wohl ... Sie sitzen immer allein zu Hause. Ihre Schwester ist -nicht da?« fragte er möglichst ungezwungen, während er in das Vorzimmer -ging. - -»Was geht Sie die an, Väterchen?« - -»Nichts Besonderes. Ich fragte bloß so. Sie denken gleich ... Leben Sie -wohl, Aljona Iwanowna!« - -Raskolnikoff schritt völlig verwirrt hinaus. Und seine Verwirrung -verstärkte sich immer mehr und mehr. Während er die Treppe hinabstieg, -blieb er sogar einige Mal stehen, als hätte ihn plötzlich etwas -übermannt. Schließlich, schon auf der Straße, rief er aus: - -»Oh, Gott! ... Wie abscheulich ist dies alles! Und werde ich es -tatsächlich, tatsächlich ... nein, das ist ja Unsinn, ein unmöglicher -Gedanke!« fügte er entschlossen hinzu. »Wie konnte mir bloß so etwas -fürchterliches in den Sinn kommen! Und doch, zu welchem Schmutz ist mein -Herz fähig! Die Hauptsache bleibt, -- es ist schmutzig, niederträchtig, -gemein, abscheulich ... Und ich habe einen ganzen Monat ...« - -Er konnte weder durch Worte noch durch Ausrufe seine Erregung -ausdrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Abscheus, das sein Herz schon -bedrückte und verwirrte, als er zu der Alten ging, erreichte nun solch -einen Umfang und äußerte sich in einer Stärke, daß er nicht wußte, wohin -er vor seiner Qual sollte. Er ging auf der Straße wie ein Betrunkener, -ohne die Vorübergehenden zu bemerken, stieß mit ihnen zusammen und kam -erst in der nächsten Straße zu einiger Besinnung. Er schaute um sich und -ward gewahr, daß er neben einer Schenke stand, zu der von der Straße aus -eine Treppe in das Kellergeschoß führte. Soeben kamen zwei Betrunkene -heraus, stützten sich gegenseitig und stiegen schimpfend die Treppe -hinauf. Ohne lange nachzudenken, sprang Raskolnikoff eilig hinab. Er war -noch nie in einer Schenke gewesen, jetzt aber schwindelte ihn und ein -brennender Durst quälte ihn. Er wollte kaltes Bier trinken, um so mehr, -als er seine plötzliche Schwäche dem Umstande zuschrieb, daß er nichts -im Magen hatte. Er ließ sich in einer dunkeln und schmutzigen Ecke an -einem schmierigen Tische nieder, verlangte Bier und trank gierig das -erste Glas aus. Sofort wurde es ihm leichter, und seine Gedanken wurden -klarer. »Das alles ist Unsinn,« sagte er voll Hoffnung. »Nichts braucht -mich aus der Fassung zu bringen. Es ist bloß physische Zerrüttung. Ein -Glas Bier, ein Stück Zwieback, -- und im Nu ist der Verstand da, die -Gedanken klar und die Absichten im Lot! Pfui, wie ist dies alles -erbärmlich! ...« - -Aber trotz des verächtlichen Ausspeiens sah er schon heiter aus, als -hätte er sich plötzlich einer schrecklichen Last entledigt, und blickte -die Anwesenden freundlich an. Aber selbst in diesem Augenblicke überkam -ihn die leise Ahnung, daß diese Empfänglichkeit für das Bessere auch -krankhaft sei. - -In der Schenke waren um diese Stunde wenige Menschen. Außer den zwei -Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte gleich darauf -eine ganze Gesellschaft, etwa fünf Männer und ein Mädchen, mit einer -Ziehharmonika die Schenke verlassen. Darauf war es still und freier -geworden. Es waren übrig geblieben: ein Angetrunkener, der aber nicht zu -stark berauscht war; er saß hinter einer Flasche Bier, dem Aussehen nach -ein Kleinbürger; sein Kamerad, ein dicker übergroßer Mann, in einem -dicken Mantel, mit grauem Bart, stark berauscht, duselte auf einer Bank; -ab und zu begann er plötzlich, wie im Schlafe, mit den Fingern zu -schnippen, wobei er die Arme ausbreitete, hin und wieder hüpfte er mit -dem Oberkörper, ohne sich von der Bank zu erheben, sang dazu irgendeinen -Unsinn und versuchte sich auf Verse wie folgende zu besinnen: - - »Ein ganzes Jahr hab' ich mein Weib geliebt, gehätschelt, - Ein gan--zes Jahr hab' ich mein Weib ge--liebt, ge--hät--schelt ...« - -Oder er erwachte plötzlich und sang: - - »Längs der Podjatscheskoi bin ich gegangen, - Hab' mein früheres Weib gefunden ...« - -Aber niemand nahm Anteil an seinem Glück; sein schweigender Kamerad sah -diese Ausbrüche sogar feindselig und mißtrauisch an. Es war noch ein -Mann da, dem Aussehen nach ein verabschiedeter Beamter. Er saß allein -vor seiner Flasche, trank hin und wieder einen Schluck und blickte um -sich. Auch er schien in einer gewissen Aufregung zu sein. - - - II. - -Raskolnikoff war an Menschenmengen nicht gewöhnt und wie gesagt, mied er -besondere in der letzten Zeit jegliche Gesellschaft. Jetzt aber zog ihn -plötzlich etwas zu den Menschen hin. Es ging in ihm etwas vor, -anscheinend etwas Neues, und gleichzeitig machte sich ein starker Drang -nach Menschen bemerkbar. Er war so müde von dieser einen Monat schon -währenden bohrenden Qual und düsteren Aufregung, daß er wenigstens für -einen Augenblick in einer anderen Welt, ganz gleichgültig in welcher, -- -aufatmen wollte, und so blieb er jetzt trotz des Schmutzes dieser -Umgebung mit Vergnügen in der Schenke ... - -Der Besitzer des Lokals hielt sich in einem anderen Zimmer auf, kam aber -öfters in das Schenkzimmer; er mußte dabei ein paar Stufen hinabsteigen, -und es zeigten sich zuerst seine eleganten Schmierstiefel mit breitem -roten Rande an den Schäften. Er stak in einem faltigen Mantel und in -einer fürchterlich verschmierten schwarzen Atlasweste, war ohne Halstuch -und sein ganzes Gesicht schien, gleich einem eisernen Schlosse, mit Öl -eingefettet zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein Junge von vierzehn -Jahren; es war noch ein anderer, ein jüngerer, da, der die Gäste -bediente, wenn etwas verlangt wurde. Auf dem Tische lagen Gurken, in -Scheiben geschnitten, schwarze Zwiebacke und in kleine Stücke zerteilter -Fisch; dies alles roch sehr schlecht. In dem Raume war es so dumpf, daß -es unerträglich war, darinnen zu sitzen und alles war von -Branntweingeruch so durchdrungen, daß man von dieser Luft allein in fünf -Minuten berauscht werden konnte. -- Es kommt vor, daß wir sogar völlig -unbekannten Menschen begegnen, für die wir uns vom ersten Augenblick an, -ehe wir noch ein Wort mit ihnen getauscht haben, zu interessieren -beginnen. Einen ähnlichen Eindruck hatte auf Raskolnikoff der Gast -gemacht, der einem verabschiedeten Beamten glich und abseits an einem -Tische saß. Raskolnikoff erinnerte sich später mehrmals dieses ersten -Eindruckes und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er blickte -ununterbrochen den »Beamten« an, sicher auch darum, weil der ebenso -hartnäckig zu ihm herüberschaute; man merkte, daß er sehr gern ein -Gespräch angeknüpft hätte. Die übrigen Gäste, den Besitzer nicht -ausgenommen, übersah der »Beamte« gewohnheitsmäßig und voll Langeweile, -und zugleich mit einem Ausdrucke von hochmütiger Geringschätzung, wie -Menschen von niedriger Stellung und Bildung, mit denen er nichts gemein -habe. Es war ein Mann, über fünfzig Jahre, von mittlerem Wuchse und -kräftigem Bau, mit ergrautem Haar und einer großen Glatze, mit einer vom -Trinken gedunsenen, gelben oder vielmehr grünlichen Gesicht und -geschwollenen Augenlidern, unter denen winzige aber lebhafte, gerötete -Augen hervorstachen. Etwas Sonderbares war jedoch an ihm; in seinen -Augen leuchtete eine gewisse Begeisterung, vielleicht lag auch Verstand -und Klugheit in ihnen, -- aber gleichzeitig schimmerte es drinnen wie -Irrsinn. Er war mit einem alten völlig heruntergerissenen schwarzen -Frack mit losen Knöpfen bekleidet. Ein einziger Knopf saß noch -einigermaßen fest, und mit ihm knöpfte er ihn zu, da er offenbar die -gesellschaftlichen Formen nicht vernachlässigen wollte. Unter der -Nankingweste zeigte sich ein ganz zerknülltes, beschmutztes und -vertropftes Vorhemd. Das Gesicht war nach Beamtenart rasiert, aber vor -längerer Zeit schon, so daß bläuliche Stoppeln hervorstanden. Selbst in -seinen Bewegungen lag etwas Solides, Beamtenartiges. Aber er war in -ständiger Unruhe, fuhr sich durch die Haare, stemmte die zerrissenen -Ellenbogen zuweilen auf den begossenen und klebrigen Tisch und stützte, -wie in schwerem Gram, mit beiden Händen den Kopf. Zuletzt faßte er -Raskolnikoff fest ins Auge und sagte laut und energisch: - -»Darf ich es wagen, mein verehrter Herr, mich mit einem anständigen -Gespräch an Sie zu wenden? Denn obgleich Ihr Äußeres nicht viel vermuten -läßt, unterscheidet meine Erfahrung in Ihnen doch einen gebildeten und -ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe stets Bildung geachtet, -die mit Herz und Gefühl verbunden ist, und außerdem bin ich im Range -eines Titularrates. Marmeladoff -- so ist mein Name, Titularrat. Darf -ich erfahren, ob Sie im Staatsdienste gewesen sind?« - -»Nein, ich studiere ...« antwortete der junge Mann, erstaunt über den -sonderbaren, verschnörkelten Ton der Anrede und auch darüber, daß man -sich so direkt an ihn wandte. Trotz des Wunsches vor kurzem noch, in -irgendeine Fühlung mit Menschen zu kommen, empfand er plötzlich bei dem -ersten tatsächlich an ihn gerichteten Worte, seine gewöhnliche, -peinliche und gereizte Abscheu vor jedem fremden Menschen, der sich ihm -zu nähern versuchte. - -»Sie sind ein Student oder gewesener Student!« fuhr der Beamte fort. -»Ich dachte es mir gleich. Das macht die Erfahrung, mein Herr, die lange -Erfahrung!« und selbstgefällig berührte er die Stirn mit dem Finger. -- -»Sie waren Student, haben gelehrten Studien obgelegen! Gestatten Sie -aber ...« - -Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Gläschen und -setzte sich dem jungen Manne schräg gegenüber. Er war berauscht, sprach -aber rasch und geläufig, hin und wieder blieb er ein wenig stecken und -zog die Sätze in die Länge. Mit einer gewissen Gier hatte er sich auf -Raskolnikoff gestürzt, als hätte auch er einen ganzen Monat mit niemand -gesprochen. - -»Verehrter Herr!« begann er fast feierlich, »Armut ist kein Laster, das -ist wahr. Ich weiß, daß der Trunk auch keine Tugend ist, und das ist -noch wahrer. Aber Bettelarmut, mein Herr, bettelarm zu sein ist ein -Laster, ja. In der Armut bewahrt man noch die Anständigkeit der -angeborenen Gefühle, wenn man aber bettelarm ist -- nie und nimmer. Wenn -man bettelarm ist, so wird man nicht mal mit einem Stocke herausgejagt, -sondern mit einem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt, -damit es beleidigender sein soll; und das ist gerecht, denn wenn ich -bettelarm bin, so bin ich selbst, als erster, bereit, mich zu -beleidigen. Daher auch das Trinken! Mein Herr, vor einem Monat hat Herr -Lebesjätnikoff meine Gattin verprügelt, und meine Gattin ist etwas -Besseres als ich! Verstehen Sie? Gestatten Sie mir eine Frage, so, aus -reiner Neugier, -- haben Sie schon auf der Newa, in den Heubarken -geschlafen?« - -»Nein, das habe ich noch nicht,« antwortete Raskolnikoff. »Was ist das?« - -»Nun, ich komme von dort, schlafe schon die fünfte Nacht in den Barken -...« - -Er goß sich ein Glas ein, trank es leer und versank in Gedanken. Man sah -tatsächlich an seinen Kleidern und in den Haaren hie und da Heuhalme. Es -war leicht möglich, daß er sich fünf Tage weder ausgekleidet noch -gewaschen hatte. Am schmutzigsten waren seine fetten, roten Hände mit -schwarzen Fingernägeln. - -Sein Gespräch schien allgemeine, wenn auch etwas flaue Aufmerksamkeit -erregt zu haben. Die Knaben hinter dem Schenktische begannen zu kichern. -Der Wirt war, wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um den -»Kauz« zu hören; er setzte sich abseits und gähnte faul, aber würdevoll. -Marmeladoff war offenbar hier längst bekannt. Auch die Neigung für -gesuchte Ausdrücke hatte er wahrscheinlich durch die Gewohnheit, -Wirtschaftsunterhaltungen mit allerhand Unbekannten anzuknüpfen, -ausgebildet. Diese Gewohnheit wird bei manchen Trinkern zum Bedürfnis -und besonders bei denen, die zu Hause streng behandelt werden. Darum -versuchen sie in Gesellschaft von Trinkern sich stets eine -Rechtfertigung und wenn möglich sogar Achtung der anderen zu -verschaffen. - -»Komischer Kauz!« sagte laut der Wirt. »Warum arbeitest du nicht, warum -bist du nicht im Dienst, wenn du Beamter bist?« - -»Warum ich nicht im Dienste bin, mein Herr?« sagte Marmeladoff, sich -ausschließlich an Raskolnikoff wendend, als hätte der ihm die Frage -vorgelegt. -- »Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn das Herz -nicht weh, daß ich unnütz herumlungere? Als Herr Lebesjätnikoff vor -einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte und ich berauscht -dalag, habe ich da nicht gelitten? Erlauben Sie, junger Mann, ist es -Ihnen passiert, ... hm ... nun, daß Sie aussichtslos jemanden baten, -Ihnen Geld zu leihen?« - -»Das ist mir passiert ... das heißt, wie meinen Sie -- aussichtslos?« - -»Das heißt völlig aussichtslos, wenn man schon im voraus weiß, daß -nichts daraus wird. Sagen wir, Sie wissen zum Beispiel vorher und -zweifellos, daß dieser Mann, dieser wohlgesinnte und äußerst nützliche -Bürger Ihnen um keinen Preis Geld geben wird, denn -- ich frage Sie -- -warum soll er es tun? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde. -Etwa aus Mitleid? Herr Lebesjätnikoff aber, der neue Gedanken und Ideen -mit Interesse verfolgt, hat vor kurzem erklärt, daß in unserer Zeit -Mitleid sogar von der Wissenschaft verboten sei, und daß man in England, -woher die politische Ökonomie kommt, schon danach handle. Warum also -- -frage ich Sie -- sollte er geben? Und sehen Sie, obwohl Sie im voraus -wissen, daß er nicht geben wird, machen Sie sich doch auf den Weg und -...« - -»Warum geht man denn hin?« sagte Raskolnikoff. - -»Wenn es aber niemanden mehr gibt, wenn man nirgendwo anders hingehen -kann! Es müßte doch so sein, daß jeder Mensch irgendwo hingehen könnte. -Denn es kommen Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß! Als meine -einzige Tochter zum erstenmal mit dem gelben Schein[6] ging, ging ich -auch ... (meine Tochter lebt nämlich auf den gelben Schein) ...« fügte -er hinzu und blickte mit einiger Unruhe den jungen Mann an. »Hat nichts -zu sagen, mein Herr, hat nichts zu sagen!« beeilte er sich, sofort und -scheinbar ruhig zu erklären, als die beiden Knaben hinter dem -Schenktische in Lachen ausbrachen und auch der Wirt lächelte. »Hat -nichts zu sagen! Durch dieses Tuscheln laß ich mich nicht stören, denn -es ist längst bekannt, und alles Verborgene wird offenbar, und nicht mit -Verachtung, sondern mit Demut ertrage ich es. Mögen sie! Mögen sie! ->_Ecce homo!_< Erlauben Sie, junger Mann, können Sie vielleicht ... Aber -nein, man muß sich stärken und deutlicher ausdrücken: nicht _können_ -Sie, sondern _wagen Sie_, indem Sie mich dabei ansehen, zu behaupten, -daß ich kein Schwein bin?« - -Der junge Mann antwortete nicht. - -»Nun,« fuhr der Redner gesetzter und sogar noch würdevoller fort, -nachdem er gewartet hatte, bis das Kichern in dem Zimmer aufhörte, »nun -gut, ich mag ein Schwein sein, sie aber ist eine Dame. Ich sehe aus wie -ein Vieh, Katerina Iwanowna, meine Gattin, aber ist eine gebildete -Person und die Tochter eines Stabsoffiziers. Mag ich, mag ich ein Schuft -sein, sie aber ist hochherzig und ist durch Erziehung voll edler -Gefühle. Indessen aber ... oh, wenn sie mit mir Mitleid hätte! Mein -Herr, verehrter Herr, es müßte doch so sein, daß jeder Mensch wenigstens -eine Stelle habe, wo er Mitleid fände! Katerina Iwanowna ist wohl eine -großmütige Dame, aber ungerecht ... Und obwohl ich verstehe, daß sie -mich an den Haaren zerrt, aus keinem anderen Grunde als aus Mitleid des -Herzens -- denn ich wiederhole es, ohne mich zu schämen, sie zerrt mich -an den Haaren, junger Mann,« bestätigte er mit verstärkter Würde, als er -wieder Kichern vernahm. »Aber mein Gott, was würde geschehen, wenn sie -wenigstens ein einziges Mal ... Aber nein! Nein! Das alles ist umsonst, -und es lohnt sich nicht, davon zu sprechen! Lohnt sich nicht zu -sprechen! ... Denn mehr als einmal war das Gewünschte dagewesen, und -mehr als einmal hatte man mit mir Mitleid gehabt, aber ... meine Natur -ist schon so, ich bin ein geborenes Vieh!« - -»Und ob!« bemerkte der Wirt gähnend. - -Marmeladoff schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch. - -»So ist meine Natur! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, ich habe sogar -ihre Strümpfe vertrunken! Nicht die Stiefel, denn das würde noch in der -Ordnung der Dinge liegen, sondern die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich -vertrunken! Ihr Tuch aus Ziegenwolle habe ich vertrunken, man hat es ihr -einst geschenkt, es gehörte ihr, nicht mir; wir leben in einem kalten -Zimmer und sie hat sich in diesem Winter erkältet und begann zu husten, -sogar Blut kam. Wir haben noch drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna -ist vom frühen Morgen bis in die Nacht bei der Arbeit; sie scheuert und -wäscht, auch die Kinder wäscht sie, denn sie ist von Kindheit auf an -Reinlichkeit gewöhnt, aber sie hat eine schwache Brust und neigt zur -Schwindsucht, und ich fühle es! Fühle ich es denn nicht? Und je mehr ich -trinke, um so stärker fühle ich. Darum trinke ich auch, weil ich in -diesem Tranke Mitleid und Gefühl suche ... Ich trinke, weil ich doppelt -leiden will!« - -Und er neigte wie in Verzweiflung seinen Kopf auf den Tisch. - -»Junger Mann,« fuhr er fort und hob wieder den Kopf, »in Ihrem Gesichte -lese ich etwas wie Kummer. Als Sie hereintraten, habe ich es gesehen, -und darum habe ich mich auch sofort an Sie gewandt. Denn, indem ich -Ihnen die Geschichte meines Lebens erzählte, will ich mich nicht an den -Schandpfahl vor diesen Tagdieben stellen, die übrigens alles wissen, -sondern ich suche einen fühlenden und gebildeten Menschen. Sie sollen -wissen, -- meine Gattin ist in einem adligen Gouvernementspensionat -erzogen und hat bei der Schlußprüfung vor dem Gouverneur und anderen -Persönlichkeiten mit dem Schal getanzt, wofür sie eine goldene Medaille -und ein Ehrenzeugnis erhielt. Die Medaille ... nun die Medaille haben -wir verkauft ... schon lange ... hm ... das Ehrenzeugnis liegt noch in -ihrem Kasten, und sie hat es vor kurzem unserer Wirtin gezeigt. Obwohl -sie mit der Wirtin ständig, ununterbrochen Streitigkeiten hat, wollte -sie doch vor jemand sich rühmen und von vergangenen glücklichen Tagen -erzählen. Und ich verurteile sie nicht, ich verurteile nicht, denn das -allein ist nur in ihrer Erinnerung geblieben, alles übrige ist zu Staub -geworden. Ja, ja, sie ist eine hitzige, stolze und unbeugsame Dame. Sie -wäscht selbst den Fußboden, ißt Schwarzbrot, aber Mißachtung duldet sie -nicht. Darum wollte sie auch nicht die Grobheit des Herrn Lebesjätnikoff -dulden, und als Herr Lebesjätnikoff sie verprügelte, da legte sie sich -zu Bett -- weniger der Schläge, als des Schimpfes wegen. Ich habe sie -als Witwe geheiratet, mit drei ganz kleinen Kindern. Ihren ersten Mann, -einen Infanterieoffizier, heiratete sie aus Liebe und war aus dem -Elternhause mit ihm geflohen. Sie liebte ihren Mann grenzenlos, er fing -aber an Karten zu spielen, kam vors Gericht und starb. Er hat sie oft -geschlagen in den letzten Jahren, und obwohl sie sich nichts von ihm -gefallen ließ, wie ich es bestimmt und aus Schriftstücken weiß, -- -erinnert sie sich doch seiner heute noch mit Tränen und hält ihn mir als -Muster vor, und ich freue mich, ich freue mich, weil sie sich wenigstens -in der Phantasie als einstmals glücklich fühlt ... Nach seinem Tode -blieb sie mit drei kleinen Kindern in einem abgelegenen und -weltvergessenen Kreise, wo ich mich auch damals befand, und in solch -hoffnungsloser Armut, daß ich sie nicht beschreiben kann, obwohl ich -vieles und allerhand gesehen habe. Ihre Verwandten hatten sich alle von -ihr losgesagt. Ja und sie war so stolz, zu stolz ... Und da bot ich, -mein Herr, auch ein Witwer mit einer vierzehnjährigen Tochter von meiner -ersten Frau, ihr meine Hand an, denn ich konnte solch eine Qual nicht -mit ansehen. Sie können danach beurteilen, wie stark ihre Not war, daß -sie, gebildet, gut erzogen und aus angesehener Familie, bereit war, mich -zu heiraten. Sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend --- heiratete sie mich doch! Denn sie konnte ja nirgendwo hin. Verstehen -Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man nirgendwo mehr hin -kann? Nein! Das können Sie noch nicht verstehen ... Ein ganzes Jahr -erfüllte ich meine Pflicht treu und redlich und rührte das da nicht an -(er wies auf die Branntweinflasche), denn ich habe Gefühl. Aber auch -damit konnte ich sie nicht zufrieden stellen; ich verlor meine Stelle -und nicht eines Vergehens, sondern einer Änderung im Etat wegen, und nun -wandte ich mich dem zu! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir -nach langen Irrfahrten und vielfach großer Not endlich in dieser -prächtigen und mit unzähligen Denkmälern geschmückten Residenz -eintrafen. Ich fand hier eine Stelle ... Ich fand und verlor sie wieder. -Verstehn Sie? Diesmal verlor ich die Stelle aus eigener Schuld, denn -meine Neigung brach durch ... Jetzt wohnen wir in einem Winkel bei der -Wirtin Amalie Fedorowna Lippewechsel, wovon wir aber leben und womit wir -bezahlen -- das weiß ich nicht. Außer uns leben noch viele dort ... Ein -entsetzliches Drunter und Drüber ... hm ... ja ... Indessen wurde mein -Töchterchen aus der ersten Ehe erwachsen, und was sie, mein Töchterchen, -von ihrer Stiefmutter zu erdulden hatte, als sie heranwuchs, darüber -schweige ich. Obwohl Katerina Iwanowna von großmütigen Gefühlen -durchdrungen ist, so ist sie doch eine hitzige und gereizte Dame und -schneidet einem schnell das Wort ab ... Ja! Nun, es lohnt sich nicht, -dessen zu gedenken! Eine Erziehung hat Ssonja, wie Sie sich denken -können, nicht erhalten. Ich habe versucht, etwa vor vier Jahren, -Geographie und Weltgeschichte mit ihr durchzunehmen, aber da ich selbst -nicht ganz sattelfest war und keine anständigen Bücher besaß, denn die -Bücher, die wir hatten ... hm ... na, diese Bücher sind nicht mehr da -... So endigte auch damit der ganze Unterricht. Wir blieben bei Cyrus -von Persien stehen. Später, als sie reifer und älter wurde, las sie -einige Bücher romanhaften Inhalts, ja und vor kurzem erhielt sie von -Herrn Lebesjätnikoff ein Buch -- Physiologie von Lewis -- kennen Sie es? -Sie las es mit großem Interesse und teilte uns auch einige Abschnitte -daraus mit, -- das ist ihr ganzes Wissen. Jetzt wende ich mich an Sie, -mein Herr, mit einer persönlichen Frage, so von mir aus, -- wieviel -kann, nach Ihrer Meinung, ein armes, ehrliches, junges Mädchen durch -ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie wird kaum fünfzehn Kopeken pro Tag -verdienen, mein Herr, wenn sie ehrlich ist und keine besonderen Talente -hat, und da muß sie, ohne einen Augenblick zu ruhen, ununterbrochen -arbeiten! Und dabei hat der Staatsrat Iwan Iwanowitsch Klopstock, -- -haben Sie von ihm gehört? -- bis heute nicht bloß das Geld für Nähen -eines halben Dutzend Hemden aus holländischem Leinen nicht bezahlt, -sondern hat sie sogar unter Kränkungen hinausgejagt, hat mit den Füßen -getrampelt und sie in unanständiger Weise beschimpft, unter dem -Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und dazu schief genäht sei. -Und die Kinder sitzen hungrig zu Hause ... Katerina Iwanowna geht -händeringend im Zimmer herum und auf ihren Wangen zeigen sich rote -Flecke, -- was bei dieser Krankheit stets vorkommt. Du lebst bei uns, -Müßiggängerin, sagte sie, -- ißt, trinkst und genießt die Wärme, -- was -gibt es aber denn zu essen und zu trinken, wenn die Kinder nicht mal -eine Brotrinde drei Tage lang zu sehen bekommen! Ich lag damals -berauscht da ... nun, was ist da viel zu sagen, ich lag berauscht da und -hörte, wie meine Ssonja sagt -- sie ist so still und ihr Stimmchen so -sanft ... hellblond ist sie, das Gesichtchen ist immer bleich und mager --- also, sie sagt: >Wie, Katerina Iwanowna, soll ich denn auf so was -eingehen?< Darja Franzowna, ein böses und der Polizei gut bekanntes -Weib, hatte sich schon dreimal durch unsere Wirtin erkundigt. >Was -sonst,< antwortet Katerina Iwanowna spöttisch. >Wozu es hüten? So ein -Kleinod!< Klagen Sie sie aber nicht an, mein Herr, klagen Sie nicht an, -verurteilen Sie nicht! Es war gesagt nicht bei gesundem Verstande, -sondern in erregter Stimmung, in Krankheit und beim Anblick der -weinenden Kinder, die nichts gegessen hatten, und es war eher um zu -kränken, als im genauen Sinne des Wortes gesagt ... Denn Katerina -Iwanowna hat nun einmal so einen Charakter, und wenn die Kinder anfangen -zu weinen, und sei es aus Hunger, schlägt sie sie sofort. Und da sah ich --- es war gegen sechs Uhr -- wie Ssonjetschka aufstand, das Tüchlein -umnahm, ihr Pelzchen anzog und die Wohnung verließ, in der neunten -Stunde aber kam sie zurück. Sie kam, ging direkt zu Katerina Iwanowna -und legte schweigend auf den Tisch dreißig Rubel hin. Kein einziges -Wörtchen hat sie gesagt, nicht mal hingeblickt; sie nahm unser großes -grünes Umlegetuch -- wir besitzen so ein gemeinsames Umlegetuch -- -bedeckte damit den Kopf und das Gesicht ganz und gar und legte sich auf -das Bett mit dem Gesichte zur Wand; bloß die schmalen Schultern und der -ganze Körper bebten ... Ich aber lag, wie vorher, in demselben Zustande -... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, ohne -ein Wort zu sagen, an das Bettchen von Ssonjetschka herantrat und den -ganzen Abend auf den Knien zu ihren Füßen lag, ihr die Füße küßte, nicht -aufstehen wollte, und wie sie beide schließlich umschlungen einschliefen -... beide ... beide zusammen ... ja ... und ich lag berauscht da.« - -Marmeladoff schwieg, als versage ihm die Stimme. Dann schenkte er sich -plötzlich ein, trank schnell aus und krächzte. - -»Seit der Zeit, mein Herr,« -- fuhr er nach kurzem Schweigen fort, -- -»seit der Zeit ist meine Tochter Ssofja Ssemenowna gezwungen worden -- -dank einem ungünstigen Zufalle und dank der Denunziation -schlechtgesinnter Menschen, wobei Darja Franzowna sich besonders -hervorgetan hat, weil man ihr angeblich die ihr gebührende Achtung -versagt habe, -- den gelben Schein zu nehmen und hat infolgedessen bei -uns nicht länger bleiben können. Denn unsere Wirtin, Amalie Fedorowna -wollte es nicht zulassen, -- vorher aber hat sie Darja Franzowna, dazu -verholfen -- und auch Herr Lebesjätnikoff ... hm ... Ja, sehen Sie, die -Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna passierte ja wegen Ssonja. -Zuerst stellte er Ssonjetschka selbst nach, mit einem Mal aber wurde er -empfindlich. >Wie kann ich, als ein gebildeter Mann -- sagte er -- mit -so einer in derselben Wohnung leben?< Katerina Iwanowna nahm es nicht -stillschweigend hin, trat für Ssonja ein ... nun, und da passierte es -... Ssonjetschka besucht uns nun meist in der Dämmerung, hilft Katerina -Iwanowna und gibt nach Möglichkeit Geld ... Wohnen aber tut sie bei dem -Schneider Kapernaumoff; sie hat bei ihm eine Stube gemietet. -Kapernaumoff ist lahm und stottert, und seine sehr zahlreiche Familie -stottert auch. Auch seine Frau stottert ... Sie leben alle in einem -Zimmer. Ssonja aber hat ihr eigenes mit einer Scherwand ... Hm ... ja -... Es sind furchtbar arme Leute und dazu stottern sie noch ... ja ... -Ich stand also am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob die Hände gen -Himmel und ging zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie -Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? ... Nun, dann -kennen Sie nicht einen Gottesmenschen! Er ist wie Wachs ... Wachs vor -dem Angesichte Gottes; er schmilzt wie Wachs ... Er vergoß sogar Tränen, -nachdem er geruht hat alles anzuhören. >Nun, -- sagte er -- einmal hast -du meine Erwartung getäuscht, Marmeladoff ... Ich gebe dir noch einmal -eine Stelle, -- auf meine persönliche Verantwortung hin,< -- so sprach -er -- >denk daran -- sagte er -- und geh jetzt!< Ich küßte den Staub zu -seinen Füßen -- in Gedanken nur, denn in Wirklichkeit hätte er es nicht -gestattet, als Würdenträger und als ein Mann der neuen Staatsideen und -Bildung. Ich kehrte nach Hause zurück, und als ich mitteilte, daß ich in -den Staatsdienst aufgenommen wäre und Gehalt erhalten würde, -- -Herrgott, was geschah da ...« - -Marmeladoff hielt von neuem in großer Erregung inne. In diesem -Augenblick drang von der Straße eine Schar von Trunkenbolden herein, die -schon bezecht waren, und am Eingange ertönten die Klänge eines -Leierkastens und die gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das -ein Gassenlied sang. Es wurde lärmend. Der Wirt und die Knaben bedienten -die Neuangekommenen. Marmeladoff setzte seine Erzählung fort, ohne die -Eingetretenen zu beachten. Er schien sehr schwach geworden zu sein, aber -je stärker der Branntwein auf ihn wirkte, um so redseliger wurde er. Die -Erinnerung an den kürzlichen Erfolg und die Aufnahme in den Dienst -schien ihn zu beleben und spiegelte sich sogar auf seinem Gesichte -gleich einem frohen Schimmer wieder. Raskolnikoff hörte ihm aufmerksam -zu. - -»Das geschah, mein Herr, vor fünf Wochen. Ja ... Kaum hatten sie beide, -Katerina Iwanowna und Ssonjetschka es erfahren, da schien ich -- oh -Gott! -- ins Himmelreich geraten zu sein. Früher lag ich da wie ein Vieh -und hörte bloß Schimpfen! Nun aber gingen sie auf den Fußspitzen, die -Kinder wurden angehalten ruhig zu sein. >Ssemjon Sacharytsch ist müde -vom Dienste, ruht sich aus ... pst!< Ehe ich in den Dienst mußte, bekam -ich Kaffee; Sahne wurde gekocht. Sie verschafften wirkliche Sahne, hören -Sie! Und woher sie elf Rubel und fünfzig Kopeken zu einer anständigen -Equipierung zusammengekratzt haben, begreife ich bis jetzt noch nicht. -Stiefel, ein prachtvolles Kalikohemd, einen Uniformrock -- alles haben -sie in ausgezeichnetem Zustande für elf Rubel und fünfzig Kopeken -aufgebracht. Den ersten Tag kam ich früh aus dem Dienste und was sehe -ich, -- Katerina Iwanowna wartet mit zwei Speisen auf -- Suppe und -Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir vorher nicht mal einen Begriff -hatten. Sie hat eigentlich keine Kleider ... wirklich gar keine, aber -nun war sie angezogen, als wollte sie einen Besuch machen; sie hatte -sich geschmückt, und im Grunde genommen war nichts Besonderes da, aber -sie hatte es verstanden, aus nichts alles zu schaffen, -- hatte ihr Haar -geordnet, einen reinen Kragen, Manschetten angelegt und hatte aus sich -einen ganz anderen Menschen gemacht, sah jünger und hübscher aus. -Ssonjetschka, mein Täubchen, hatte nur mit Geld geholfen, denn es gehe -jetzt nicht an, sagte sie, daß sie uns oft besuchte, höchstens in der -Dämmerung, damit niemand es sehe. Hören Sie, hören Sie? Nach dem Essen -legte ich mich ein wenig hin -- wie meinen Sie, was geschah da, -- -Katerina Iwanowna konnte es doch nicht über sich bringen, und lud unsere -Wirtin, Amalie Fedorowna, trotzdem sie sich vor einer Woche mit ihr -gehörig gezankt hatte, nun zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden saßen -sie und flüsterten fortwährend. >Ssemjon Sacharytsch -- erzählte -Katerina Iwanowna -- ist jetzt im Staatsdienste und erhält Gehalt; er -erschien bei Seiner Exzellenz, und Seine Exzellenz kam selbst heraus, -ließ alle anderen warten, nahm Ssemjon Sacharytsch an der Hand und -führte ihn in sein Zimmer!< -- Hören Sie, hören Sie! -- >Ich erinnere -mich selbstverständlich Ihrer Verdienste, Ssemjon Sacharytsch -- sagte -er -- und obwohl Sie diese leichtsinnige Schwäche haben, -- da Sie es -mir aber versprechen und es bei uns außerdem ohne Sie nicht gut gegangen -ist< -- (Hören Sie, hören Sie!) -- >So verlasse ich mich jetzt auf Ihr -Ehrenwort< -- sagte er -- das heißt, ich muß Ihnen sagen, sie hatte sich -das alles ausgedacht, nicht aus Geschwätzigkeit und auch nicht um damit -zu prahlen. Nein, sie glaubt selbst daran, ergötzt sich an ihrer eigenen -Phantasie, bei Gott! Und ich verurteile es nicht, nein, ich verurteile -es nicht, nein, ich verurteile es nicht! ... Als ich nun, vor sechs -Tagen, mein erstes Gehalt -- dreiundzwanzig Rubel vierzig Kopeken ihr -vollzählig abgab, nannte sie mich ihr Püppchen. >So ein Püppchen bist -du!< -- sagte sie. Und unter vier Augen hat sie es gesagt, verstehen -Sie? Nun, bin ich denn etwa schön, und was bin ich für ein Gatte? Sie -hat mich in die Wange gekniffen und >so ein Püppchen< gesagt.« - -Marmeladoff hielt inne, wollte lächeln, plötzlich aber zitterte sein -Kinn. Er beherrschte sich. Diese Schenke, das verkommene Aussehen, die -fünf Nächte auf den Heubarken, die Branntweinflasche und dazu nun diese -krankhafte Liebe zu Frau und Familie verwirrten den Erzähler. -Raskolnikoff hörte ihm gespannt zu, jedoch mit einem peinvollen -Empfinden. Er ärgerte sich, daß er hierher gekommen war. - -»Mein Herr, verehrter Herr!« -- rief Marmeladoff aus, nachdem er sich -völlig beherrscht hatte -- »Oh, mein Herr, vielleicht erscheint Ihnen -das alles lächerlich, wie den anderen, und ich belästige Sie bloß mit -dem Kram und all diesen kleinlichen Einzelheiten meines häuslichen -Lebens, -- nun, für mich aber ist es nicht lächerlich! Denn ich kann -dies alles fühlen ... Und diesen himmlischen Tag meines Lebens, wie auch -den Abend verbrachte ich in flüchtigen Träumereien, -- wie ich alles -einrichten, den Kindern Kleidung verschaffen, ihr die Ruhe geben und -meine einzige Tochter aus der Schande in den Schoß der Familie -zurückbringen werde ... Und viel mehr, viel anderes noch ... Es war ja -verzeihlich, mein Herr. Nun, mein Herr -- (Marmeladoff fuhr plötzlich -auf, erhob den Kopf und blickte seinem Zuhörer ins Gesicht) -- nun, am -andern Tage nach all diesen Träumen, heute sind es genau fünf Tage her, --- entwandt ich gegen Abend durch einen listigen Betrug, wie ein Dieb in -der Nacht, Katerina Iwanowna den Schlüssel zu ihrem Kasten, nahm den -Rest von dem heimgebrachten Gehalt, -- wieviel es war, weiß ich nicht -mehr, -- und nun sehen Sie mich an, seht Ihr alle mich an. Den fünften -Tag bin ich von Hause weg, man sucht mich, und der Dienst ist aus, der -Uniformrock liegt in einer Schenke bei der Ägyptischen Brücke und an -seiner Stelle habe ich diese Kleidung erhalten ... und alles ist nun -aus!« - -Marmeladoff schlug sich mit der Faust an die Stirn, preßte die Zähne -zusammen, schloß die Augen und stützte sich schwer mit den Ellbogen auf -den Tisch. Nach einem Moment aber veränderte sich plötzlich sein -Gesicht, er blickte mit geheuchelter Verschmitztheit und gespielter -Frechheit Raskolnikoff an, lachte und sagte: »Und heute war ich bei -Ssonja, habe sie gebeten mir Geld für einen Schnaps zu geben! -He--he--he!« ... »Hat sie dir wirklich gegeben?« -- rief jemand von den -Neuangekommenen, rief es und lachte aus vollem Halse. - -»Diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft,« -- sagte Marmeladoff, -sich ausschließlich an Raskolnikoff wendend. -- »Dreißig Kopeken gab sie -mir, mit ihren eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, ... -ich habe es selbst gesehen ... Sie hat nichts, nichts gesagt, hat mich -bloß schweigend angesehen ... So grämt und weint man nicht auf Erden -über Menschen ... sondern dort oben ... und keinen Vorwurf, keinen -einzigen Vorwurf ... Und es tut einem mehr weh, wenn man keinen Vorwurf -hört! ... Dreißig Kopeken, ja. Und sie braucht sie selbst jetzt, ah? Wie -meinen Sie, mein lieber Herr! Sie muß ja doch jetzt auf Sauberkeit -achten. Diese Sauberkeit, diese besondere Sauberkeit kostet Geld, -verstehen Sie? Verstehen Sie es? Nun, und dann muß sie hin und wieder -Pomade oder so was kaufen, es geht ja nicht ohne dem; steife Unterröcke -muß sie haben. Stiefel, hübsche Stiefel müssen da sein, um das Füßchen -zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen muß. Verstehen Sie, verstehen -Sie, mein Herr, was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Nun, und ich, der -leibliche Vater, nahm ihr diese dreißig Kopeken zu einem Schnaps! Und -ich trinke hier! Habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer soll denn mit -so einem, wie ich, Mitleid haben? Ah? Tue ich Ihnen jetzt leid oder -nicht, mein Herr? Sagen Sie, mein Herr, tue ich Ihnen leid oder nicht? -He--he--he--he!« - -Er wollte sich einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war -leer. - -»Warum soll man auch mit dir Mitleid haben?« -- rief der Wirt, der sich -in ihrer Nähe befand. - -Starkes Lachen erscholl und Schimpfworte wurden laut. Alle lachten, die -Marmeladoff zugehört und auch die, welche nicht zugehört hatten, und -schimpften ohne Grund, allein schon beim Anblick der Person des -verabschiedeten Beamten. - -»Mit mir Mitleid haben! Mitleid haben!« -- rief Marmeladoff plötzlich -laut und erhob sich mit ausgestreckter Hand, sich gebärdend, als hätte -er bloß auf diese Worte gewartet. -- »Warum Mitleid mit mir haben, sagst -du? Ja! Es gibt nichts, weswegen man mich bemitleiden kann. Man muß mich -kreuzigen, mich ans Kreuz nageln und nicht Mitleid haben! Kreuzige, -kreuzige, Richter und nachdem du gekreuzigt hast, habe Mitleid. Und da -will ich selbst zur Kreuzigung zu dir kommen, denn ich suche nicht -Fröhlichkeit, sondern Kummer und Tränen! ... Meinst du, du Krämer, daß -diese Flasche mir zur Freude war? Kummer, Kummer suchte ich auf ihrem -Boden, Kummer und Tränen, und ich habe sie gefunden und habe von ihnen -gekostet. Mitleid aber mit uns wird der haben, der mit allen Mitleid -hat, und der alles und alle verstanden hat, Er, der einzige; er ist auch -der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: >Wo ist die -Tochter, die sich der bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und den -fremden kleinen Kindern geopfert hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem -irdischen Vater, dem lasterhaften Trunkenbold, Mitleid hatte, ohne sich -vor seiner Tierheit zu erschrecken?< Und er wird sagen, -- >komm! Ich -habe dir schon einmal vergeben ... Habe dir einmal vergeben ... Vergeben -sind dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebt hast ...< -Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben; ich weiß es, daß -er ihr vergeben wird ... Ich habe es, als ich jetzt bei ihr war, im -Herzen gefühlt! ... Und er wird allen gerecht sein und wird vergeben, -wie den guten, so auch den bösen, wie den weisen, so auch den -einfältigen ... Und wenn er mit allen schon zu Ende sein wird, da wird -er auch zu uns sprechen -- >kommet auch ihr< -- wird er sagen >kommt ihr -Betrunkenen, kommt ihr Schwächlinge, kommt ihr Sündigen!< Und wir alle -werden hervortreten, ohne uns zu schämen, und werden dastehn. Er aber -wird sagen: >Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres, ihr viehischen -Gesichter, ihr -- kommt auch ihr!< Und die Weisen und die Klugen werden -ausrufen: >Herr! Warum nimmst du sie auf?< Und er wird sagen -- >Ich -nehme sie auf, ihr Weisen. Ich nehme sie auf, ihr Klugen, weil sich kein -einziger von ihnen für dessen würdig hielt ...< Und er wird seine Hände -gegen uns ausstrecken, und wir werden niedersinken ... und werden weinen -... und alles verstehn! Dann werden wir alles verstehen! ... Und alle -werden verstehn ... auch Katerina Iwanowna ... auch sie wird verstehn -... Herr, dein Reich komme.« - -Er ließ sich auf die Bank nieder, erschöpft und geschwächt, ohne jemand -anzusehen, als hätte er die Umgebung vergessen, und versank in tiefes -Sinnen. Seine Worte hatten einen gewissen Eindruck hervorgerufen; für -einen Augenblick trat Schweigen ein, bald darauf aber ertönte von neuem -Lachen und Schelten. - -»Er hat gerichtet!« - -»Hat sich vergaloppiert!« - -»Ist auch Beamter!« - -und solcherlei mehr hörte man. - -»Wollen wir gehen, mein Herr!« -- sagte Marmeladoff plötzlich, hob den -Kopf und wandte sich an Raskolnikoff. -- »Begleiten Sie mich ... Haus -Kosel ... im Hofe. Es ist Zeit ... für mich ... zu Katerina Iwanowna -...« - -Raskolnikoff hatte längst schon weggehen wollen, und auch selbst -gedacht, ihm behilflich zu sein. Marmeladoff zeigte sich viel schwächer -in den Beinen, als in seinen Reden, und stützte sich stark auf den -jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. -Verwirrung und Angst packten immer stärker und stärker den Säufer, je -mehr sie sich dem Hause näherten. - -»Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna,« -- murmelte er -erregt, -- »auch nicht davor, daß sie mich an den Haaren raufen wird. -Was sind Haare! ... Dummes Zeug sind die Haare! Das sage ich! Es ist -sogar besser, daß sie mich raufen wird, aber ich fürchte mich nicht -davor ... ich ... ich ... fürchte mich vor ihren Augen ... ja ... vor -ihren Augen ... Auch vor den roten Flecken auf den Wangen fürchte ich -mich ... und ich fürchte mich -- vor ihrem Atem ... Hast du gesehen, wie -die Menschen bei dieser Krankheit atmen ... wenn sie erregt sind? Auch -vor den weinenden Kindern fürchte ich mich ... Wenn Ssonja ihnen nichts -zu essen gegeben hat, dann ... weiß ich nicht, wie ... Ich weiß nicht! -Vor Schlägen fürchte ich mich nicht ... Du sollst wissen, mein Herr, daß -solche Schläge mir keinen Schmerz, sondern Genuß bereiten ... Denn ohne -die kann ich selbst nicht auskommen. Es ist besser. Mag sie mich -schlagen, mag sie ihrem Herzen Luft machen ... es ist besser ... Da ist -ja das Haus. Es gehört Kosel, einem Schlosser, einem reichen Deutschen -... führe mich!« - -Sie traten in den Hof und stiegen in das vierte Stockwerk. Je höher sie -die Treppe hinaufstiegen, um so dunkler wurde es. Es war fast elf Uhr, -und obwohl es um diese Jahreszeit in Petersburg keine Nacht gibt, war es -doch sehr dunkel oben auf der Treppe. - -Eine kleine verräucherte Tür am Ende der Treppe war geöffnet. Ein -Lichtstumpf beleuchtete ein sehr ärmliches, etwa zehn Schritte langes -Zimmer; vom Flur aus konnte man es vollständig übersehen. Alles lag -verstreut und in Unordnung umher, besonders zerlumpte Kinderkleider. Vor -den hintersten Winkel war ein verlöchertes Bettlaken gezogen. Dort stand -wahrscheinlich das Bett. Im Zimmer waren im ganzen zwei Stühle und ein -sehr abgerissenes mit Wachstuch bezogenes Sofa, vor dem ein alter -ungestrichener Küchentisch ohne Decke, aus Fichtenholz, stand. Auf einer -Ecke des Tisches brannte in einem eisernen Leuchter der Lichtstumpf. Es -erwies sich, daß Marmeladoff nicht in dem Winkel schlief, sondern in -einem Zimmer für sich war, das aber ein Durchgangszimmer war. Die Tür zu -den andern Räumen oder vielmehr Käfigen, in die die Wohnung von Amalie -Lippewechsel eingeteilt war, stand offen. Dort ging es geräuschvoll und -laut zu. Man hörte Lachen. Wie es schien, spielte man dort Karten und -trank Tee. Hin und wieder ertönten höchst ungesellschaftliche Reden. - -Raskolnikoff erkannte Katerina Iwanowna sofort. Sie war eine furchtbar -abgemagerte Frau, von ziemlich hohem Wuchse, und schlank, mit noch -schönem, dunkelblondem Haar; auf den Wangen waren die roten Flecke zu -sehen. Sie wanderte in dem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände an die -Brust gepreßt, mit vertrockneten Lippen, und atmete stoßweise und -unregelmäßig. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, der Blick aber war -scharf und unbeweglich, und dieses schwindsüchtige und erregte Gesicht -machte einen schmerzlichen Eindruck bei der Beleuchtung des sterbenden -Lichtes, das auf dem Gesichte zitterte. Sie schien Raskolnikoff etwa -dreißig Jahre alt zu sein und in der Tat zu Marmeladoff nicht zu passen -... Die Eintretenden hatte sie nicht gehört und nicht bemerkt; ihre -Gedanken schienen abwesend zu sein, sie hörte und sah nichts. Im Zimmer -war es dumpf, das Fenster war verschlossen; von der Treppe her kam ein -mörderlicher Gestank, und die Tür zur Treppe war offen, aus den inneren -Räumen drangen durch die geöffnete Tür Wolken von Tabakrauch, -- sie -hustete, schloß aber die Tür nicht zu. Das kleinste Mädchen im Alter von -sechs Jahren etwa, saß zusammengekauert auf der Diele und schlief mit -dem Gesicht ans Sofa gelehnt. Der Knabe, ein Jahr älter, stand in einem -Winkel, am ganzen Körper zitternd, und weinte. Er hatte wahrscheinlich -soeben Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, von neun Jahren, hoch und -dünn, wie ein Streichholz, stand in einem schlechten und völlig -zerrissenen Hemdchen und in einem alten wattierten Mantel, der um die -nackten Schultern geworfen und wahrscheinlich vor zwei Jahren gemacht -war, da er ihr jetzt kaum bis zu den Knien reichte, in dem Winkel neben -dem kleinen Bruder und hielt seinen Hals mit ihrem langen, dünnen Arm -umschlungen. Sie schien ihn zu trösten, flüsterte ihm etwas zu und hielt -ihn in jeder Weise zurück, damit er ja nicht weine, und gleichzeitig -beobachtete sie voll Angst die Mutter mit ihren übergroßen, dunklen -Augen, die in dem abgemagerten und erschrockenen Gesichtchen noch größer -erschienen. Marmeladoff kniete, ohne das Zimmer zu betreten, an der Tür -nieder und schob Raskolnikoff vor sich her. Als die Frau einen Fremden -erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen, kam auf einen Augenblick -zu sich und schien nachzudenken, warum er eingetreten sei. Aber sie -meinte wohl, daß er in die andern Räume wollte, da der ihrige nur ein -Durchgangszimmer war. Nachdem sie sich's so überlegt hatte, ging sie, -ohne ihn weiter zu beachten, zu der Flurtür, um sie zu schließen. Da -schrie sie plötzlich auf, als sie auf der Schwelle ihren knienden Mann -erblickte. - -»Oh!« -- rief sie in blinder Wut. -- »Du bist zurückgekehrt! Du -Zuchthäusler! Du Unmensch! ... Wo ist das Geld? Was hast du in der -Tasche, zeige mir's! Und die Kleider sind nicht dieselben! Wo ist deine -Uniform? Wo ist das Geld? Sprich! ...« - -Und sie stürzte sich auf ihn, um ihn zu durchsuchen. Marmeladoff -streckte gehorsam und unterwürfig die Arme nach beiden Seiten aus, um -ihr die Durchsuchung der Taschen zu erleichtern. Vom Gelde war keine -Kopeke mehr da. - -»Wo ist das Geld?« -- schrie sie. -- »Oh, Gott, er wird doch nicht alles -vertrunken haben! Es waren doch zwölf Rubel in dem Kasten! ...« - -Plötzlich packte sie ihn in rasender Wut an den Haaren und zerrte ihn in -das Zimmer hinein. Marmeladoff erleichterte ihr die Mühe, indem er auf -den Knien demütig hinter ihr herkroch. - -»Das ist mir ein Genuß! Das ist für mich kein Schmerz, sondern ein -Ge--nuß, mein Herr!« -- rief er aus, während er an den Haaren gezerrt -wurde und sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden schlug. - -Das Kind, das auf der Diele schlief, wachte auf und begann zu weinen. -Der Knabe im Winkel fuhr zusammen, erschauerte, schrie auf und stürzte -in furchtbarem Schreck, wie in einem Anfalle, zu der Schwester hin. Das -älteste Mädchen bebte an allen Gliedern, wie ein Blatt unter einem -Windstoß. - -»Du hast das Geld vertrunken! Hast alles, alles vertrunken!« -- schrie -die arme Frau in Verzweiflung. -- »Und die Kleider sind nicht dieselben. -Die da sind hungrig, hungrig!« -- (und händeringend zeigte sie auf die -Kinder) -- »Oh, verfluchtes Leben! Und Sie ... schämen Sie sich nicht« --- mit diesen Worten stürzte sie sich unversehens auf Raskolnikoff. -- -»Sie da aus der Schenke! Du hast mit ihm getrunken? Hast mit ihm -getrunken! Hinaus!« Der junge Mann schritt eilends hinaus, ohne ein Wort -zu sagen. Die Türe zu den anderen Zimmern wurde sperrweit geöffnet, und -einige Neugierige schauten herein. Dreiste, lachende Gesichter mit -Zigaretten und Pfeifen im Munde, mit Mützen auf dem Kopfe zeigten sich. -Man sah Gestalten in Schlafröcken und mit völlig nackter Brust, in -leichter Bekleidung, die an Unanständigkeit grenzte, manche mit Karten -in den Händen. Sie amüsierten sich vortrefflich und lachten, als -Marmeladoff an den Haaren gezerrt ausrief, daß dies ihm ein Genuß sei. --- Man drängte sich sogar in das Zimmer; plötzlich erscholl ein wütendes -Gekreische, -- Amalie Lippewechsel war herbeigeeilt, um selbst auf ihre -Weise Ordnung zu schaffen und zum hundertsten Mal die arme Frau durch -den zornigen Befehl, morgen schon die Wohnung zu räumen, zu erschrecken. -Beim Fortgehen gelang es Raskolnikoff die Hand in die Tasche zu stecken, -soviel von dem Kupfergelde, das man ihm in der Schenke auf den Rubel -herausgegeben hatte, hervorzuholen, als er erfassen konnte, und es -unbemerkt auf das Fensterbrett zu legen. Auf der Treppe besann er sich -und wollte umkehren. »Was habe ich für eine Dummheit gemacht?« dachte -er. »Sie haben ja Ssonja und ich brauche es doch selbst.« - -Nachdem er aber eingesehen hatte, daß es unmöglich war, das Geld -zurückzunehmen, und daß er es sowieso nicht zurückgenommen hätte, machte -er eine Bewegung mit der Hand und ging nach Hause. - -»Ssonja braucht Pomade,« fuhr er fort, während er auf der Straße ging, -und lächelte bitter. »Diese Sauberkeit kostet Geld ... Hm! Ssonjetschka -kann vielleicht heute Fiasko machen, denn es ist immer ein Risiko -- die -Jagd auf dieses Wild ... wie das Graben nach Gold ... da würden sie dann -alle ohne mein Geld morgen auf dem Trockenen sitzen ... Ja, die Ssonja! -Welch einen Brunnen haben sie zu finden verstanden! Und sie benutzen -ihn! Sie benutzen ihn trotz allem! Und haben sich daran gewöhnt! Sie -haben geweint und haben sich daran gewöhnt. An alles gewöhnt sich der -Schuft -- der Mensch!« - -Er verfiel in Nachdenken. - -»Wenn ich aber gelogen habe,« rief er plötzlich unwillkürlich aus. »Wenn -der Mensch tatsächlich _kein Schuft_ ist, das ganze Geschlecht -überhaupt, das heißt das menschliche Geschlecht es nicht ist, so -bedeutet das, daß alles Vorurteil ist, bloß eingebildeter Schrecken, und -es gibt also keine Hindernisse und so muß es auch sein! ...« - - - III. - -Er erwachte am anderen Tage spät nach einem unruhigen Schlafe; der -Schlaf hatte ihn nicht gestärkt. Er erwachte griesgrämig, gereizt und -böse, und blickte voll Haß seine Kammer an. Es war ein winziger Raum, -sechs Schritt lang, und machte mit seiner gelblichen, staubigen und -überall an den Wänden losgelösten Tapete einen kläglichen Eindruck; das -Zimmer war so niedrig, daß es einem einigermaßen großen Manne bange -wurde, und immer schien es, als könnte man jeden Augenblick mit dem Kopf -an die Decke stoßen. Die Möbel entsprachen dem Raume, -- es waren drei -alte Stühle da, in nicht ganz brauchbarem Zustande, in einer Ecke stand -ein gestrichener Tisch, auf dem ein paar Hefte und Bücher lagen; schon -aus dem Umstande, wie verstaubt sie waren, konnte man schließen, daß sie -lange nicht berührt worden waren. Außerdem stand in dem Zimmer noch ein -plumpes, großes Sofa, das fast die ganze Wand und die Hälfte des Zimmers -einnahm, einst war es mit Kattun bezogen, jetzt war es zerfetzt; es -diente Raskolnikoff als Bett. Er schlief darauf oftmals so, wie er ging -und stand, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, bedeckt mit einem alten, -abgerissenen Studentenmantel, unter dem Kopfe ein kleines Kissen, -worunter er alles, was er an Wäsche, reiner und getragener, besaß, -stopfte, um die Kopfstelle höher zu machen. Vor dem Sofa stand ein -kleines Tischchen. Es hielt schwer, noch verkommener und zerlumpter zu -sein, Raskolnikoff aber war das in seiner jetzigen Gemütsverfassung -gerade angenehm. Er hatte sich, wie eine Schildkröte in ihrer Behausung, -von allen völlig zurückgezogen; und das Gesicht des Mädchens, das -verpflichtet war, ihn zu bedienen und das zuweilen in sein Zimmer einen -Blick warf, reizte schon seine Galle und verursachte ihm Krämpfe. Das -kommt bei manchen Leuten vor, die von einer Manie befallen sind, und die -sich auf etwas besonders stark konzentriert haben. Seine Wirtin hatte -seit zwei Wochen schon aufgehört, ihm Essen zu geben und er hatte noch -nicht gedacht, zu ihr zu gehen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen, -obwohl er ohne Mittag saß. Nastasja, die Köchin und das einzige Mädchen -der Wirtin, war über die Stimmung des Mieters zum Teil froh und hatte -aufgehört, sein Zimmer aufzuräumen und auszukehren; ab und zu jedoch, -vielleicht einmal in der Woche, ergriff sie, wie zufällig, den Besen. -Sie hatte ihn jetzt geweckt. - -»Steh auf, was schläfst du!« rief sie ihm zu. »Es ist schon zehn Uhr. -Ich habe dir Tee gebracht. Willst du Tee? Bist wahrscheinlich schon ganz -abgemagert?« - -Der junge Mann öffnete die Augen, zuckte zusammen und erkannte Nastasja. - -»Ist der Tee von der Wirtin?« fragte er und erhob sich langsam und mit -schmerzlicher Miene vom Sofa. - -»Was dir einfällt, -- von der Wirtin!« - -Sie stellte ihre eigene gesprungene Teekanne mit altem aufgebrühtem Tee -vor ihm hin und legte zwei Stück gelben Zucker daneben. - -»Nimm das, bitte, Nastasja,« sagte er, indem er in der Tasche suchte -- -(er hatte angekleidet geschlafen) -- und eine Handvoll Kupfermünzen -hervorholte. »Gehe und kaufe mir Weißbrot. Hole auch ein wenig Wurst aus -dem Laden, aber billige ...« - -»Weißbrot will ich dir sofort bringen, willst du aber nicht anstatt -Wurst etwas Kohlsuppe haben? Die Kohlsuppe ist gut, sie ist von gestern. -Ich hatte gestern für dich etwas aufbewahrt, aber du kamst erst so spät. -Es ist eine gute Kohlsuppe.« - -Nachdem sie die Kohlsuppe gebracht hatte, setzte sich Nastasja neben ihm -auf dem Sofa hin und begann, während er aß, zu plaudern. Sie war vom -Lande und ein sehr geschwätziges Frauenzimmer. - -»Praskovja Pawlowna will dich bei der Polizei verklagen,« sagte sie. - -Er verzog das Gesicht. - -»Bei der Polizei? Was will sie denn?« - -»Du zahlst nicht und räumst das Zimmer nicht. Es ist begreiflich, was -sie will.« - -»Zum Teufel, das fehlte noch,« murmelte er und knirschte mit den Zähnen. -»Nein, das kommt mir jetzt ... sehr ungelegen ... Sie ist dumm,« fügte -er laut hinzu. »Ich will heute noch zu ihr gehen und mit ihr sprechen.« - -»Sie ist dumm, ebenso wie ich; aber du, Kluger, was liegst du da, wie -ein Sack, nichts hat man von dir. Früher, sagst du, hast du Kinder -unterrichtet, warum machst du aber jetzt nichts?« - -»Ich mache ...« antwortete Raskolnikoff unwillig und finster. - -»Was machst du denn?« - -»Ich arbeite ...« - -»Was arbeitest du denn?« - -»Ich denke,« antwortete er nach einem Schweigen finster. - -Nastasja schüttelte sich vor Lachen. Sie war von den Lachlustigen, und -wenn man sie zum Lachen reizte, lachte sie lautlos, aber am ganzen -Körper bebend und sich schüttelnd, bis sie nicht mehr konnte. - -»Hast du viel Geld mit dem Denken verdient?« brachte sie endlich hervor. - -»Ohne Stiefel kann man doch nicht unterrichten. Und übrigens pfeife ich -auf alles.« - -»Sei nicht zu stolz.« - -»Den Unterricht bezahlt man in Kupfer. Was soll man mit ein paar Kopeken -anfangen?« fuhr er unwillig fort, als antworte er den eigenen Gedanken. - -»Du möchtest wohl ein ganzes Kapital auf einmal haben?« - -Er blickte sie sonderbar an. - -»Ja, ein ganzes Kapital,« antwortete er nach einem Schweigen -entschlossen. - -»Fang mit kleinem an; du erschreckst einen ja. Soll ich dir jetzt -Weißbrot holen oder nicht?« - -»Wie du willst!« - -»Ach, ich vergaß; gestern ist für dich ein Brief angekommen.« - -»Ein Brief! Für mich! Von wem?« - -»Von wem er ist -- das weiß ich nicht. Ich habe dem Briefträger drei -Kopeken aus meiner eigenen Tasche gegeben. Gibst du sie mir wieder?« - -»Bring doch den Brief, um Gottes Willen, bring ihn gleich!« rief -Raskolnikoff ganz erregt. »Oh, Gott!« - -Nach einer Minute kam der Brief. »Wirklich! Er ist von der Mutter, aus -dem R.schen Gouvernement.« Er erbleichte sogar, als er ihn nahm. Lange -schon hatte er keine Briefe erhalten, und jetzt bedrückte noch etwas -anderes sein Herz. - -»Nastasja, geh fort, um Gotteswillen. Da hast du deine drei Kopeken, geh -nur schnell fort, um Gotteswillen.« - -Der Brief zitterte in seinen Händen; er wollte ihn nicht in ihrer -Anwesenheit öffnen, er wollte mit dem Briefe _allein_ sein. Als Nastasja -gegangen war, führte er schnell den Brief an seine Lippen und küßte ihn; -dann blickte er lange die Schrift auf dem Kuvert an, die bekannte und -liebe, feine und schräge Schrift seiner Mutter, die ihn einst lesen und -schreiben gelehrt hatte. Er zögerte, den Brief zu öffnen, schien sich -sogar vor etwas zu fürchten. Endlich öffnete er den Brief, einen langen, -gewichtigen Brief; zwei große Briefbogen waren dicht beschrieben. - -»Mein lieber Rodja,« schrieb die Mutter, »es ist über zwei Monate her, -seit ich mit dir brieflich gesprochen habe; darunter habe ich selbst -gelitten, und manche Nacht haben mich die Gedanken nicht schlafen -lassen. Aber du wirst mich sicher nicht verurteilen wegen meines -ungewollten Schweigens. Du weißt, wie ich dich liebe; du bist unser -Einziges, mir und Dunja, du bist unser alles, unsere ganze Hoffnung, -unser Trost. Ach, wenn du wüßtest, wie mir war, als ich erfuhr, daß du -die Universität schon einige Monate verlassen hast, weil es dir an -Mitteln mangelte, und daß das Stundengeben und deine anderen Arbeiten -ein Ende genommen haben. Und wie hätte ich dir mit meiner Pension von -hundertzwanzig Rubel jährlich helfen können? Die fünfzehn Rubel, die ich -vor vier Monaten schickte, hatte ich, wie du auch weißt, von unserem -hiesigen Kaufmann Wassilij Iwanowitsch Wachruschin auf die Pension hin -geliehen. Er ist ein guter Mensch und war ein Freund deines Vaters. Aber -da ich ihm das Recht, die Pension für mich zu empfangen, gegeben hatte, -mußte ich warten, bis die Schuld abgetragen war, und das ist soeben erst -geschehen, so daß ich die ganze Zeit dir nichts schicken konnte. Jetzt -aber, Gott sei Dank, denke ich, dir wieder etwas schicken zu können, und -überhaupt wir können jetzt sogar von einem Glück sprechen, und das -beeile ich mich, dir mitzuteilen. Zuerst also kannst du es dir -vorstellen, lieber Rodja, daß deine Schwester bereits anderthalb Monate -bei mir lebt, und daß wir uns nie mehr, in aller Zukunft nicht, trennen -werden. Gott sei Dank, ihre Qualen haben ein Ende gefunden, aber ich -will dir alles der Reihe nach erzählen, damit du erfährst, wie alles war -und was wir bis jetzt vor dir verheimlichten. Als du mir vor zwei -Monaten schriebst, du hättest von irgend jemand gehört, daß Dunja stark -unter der Grobheit im Hause der Herrschaften Sswidrigailoff zu leiden -habe, und von mir genaue Aufklärung verlangtest, -- was hätte ich dir -damals antworten können? Wenn ich dir die ganze Wahrheit mitgeteilt -hätte, so hättest du wahrscheinlich alles liegen lassen, wärest, und sei -es zu Fuß, zu uns gekommen, denn ich kenne deinen Charakter und deine -Gefühle, du hättest nicht geduldet, daß deine Schwester beleidigt wird. -Ich war ganz verzweifelt, aber was sollte ich tun? Und wußte damals -selber nicht die ganze Wahrheit. Das Haupthindernis bestand darin, daß -Dunetschka, bei ihrem Eintritt in das Haus als Gouvernante im vorigen -Jahre volle hundert Rubel voraus erhalten hatte, unter der Bedingung, -die Summe monatlich von ihrem Gehalte abzuzahlen, und so konnte sie die -Stelle nicht eher aufgeben, als die Schuld getilgt war. Diese Summe aber -(jetzt kann ich dir alles erklären, teurer Rodja) hatte sie eigentlich -deshalb genommen, um dir die sechzig Rubel zu schicken, die du damals -nötig brauchtest, und die du auch im vorigen Jahre von uns erhalten -hast. Wir haben dich damals getäuscht; wir schrieben dir, es sei von dem -Gelde, das Dunetschka sich früher erspart habe, aber es verhielt sich -nicht so, jetzt erst teile ich dir die volle Wahrheit mit, weil sich -alles jetzt plötzlich nach Gottes Willen zum besten gewendet hat, und -damit du weißt, wie Dunja dich liebt und welch unschätzbares Herz sie -hat. Herr Sswidrigailoff behandelte sie zuerst sehr grob und erlaubte -sich ihr gegenüber allerhand Unhöflichkeiten und Spöttereien bei Tisch -... Aber ich will all diese trüben Einzelheiten nicht aufzählen, und -dich nicht unnütz aufregen, da alles nun ein Ende hat. Kurz, trotz der -guten und anständigen Behandlung seitens Marfa Petrownas, der Gemahlin -des Herrn Sswidrigailoff, und aller Hausgenossen, hatte es Dunetschka -sehr schwer, besonders wenn Herr Sswidrigailoff nach alter -Regimentsgewohnheit unter dem Einflusse des Bacchus stand. Aber was -geschah später? Stelle dir vor, dieser Wahnwitzige hatte schon seit -langem eine Leidenschaft für Dunja gefaßt, aber er verbarg sie immer -unter dem Scheine eines groben und hochfahrenden Wesens ihr gegenüber. -Vielleicht schämte er sich auch und war unmutig auf sich selbst, daß er, -als älterer Mann und Familienvater, sich solchen leichtfertigen Wünschen -hingab und war darum auf Dunja unwillkürlich böse. Vielleicht wollte er -auch durch seine Grobheit und durch seinen Spott die Wahrheit vor -anderen verbergen. Schließlich aber hielt er es nicht mehr aus und wagte -Dunja offen einen gemeinen Antrag zu machen und versprach ihr hohe -Belohnung. Alles wollte er sogar im Stiche lassen und mit ihr auf ein -anderes Gut oder ins Ausland reisen. Du kannst dir ihre Leiden -vorstellen! Sofort ihre Stellung aufgeben, konnte sie nicht, -- nicht -bloß wegen der Schuld, sondern auch um Marfa Petrowna zu schonen, die -dadurch Verdacht fassen mußte; damit wäre der Zwist in die Ehe gekommen. -Ja, auch für Dunetschka hätte es einen großen Skandal gegeben; so ganz -ohne Aufsehen wäre die Sache nicht vorübergegangen. Es gab noch manche -andere Gründe, so daß Dunja, noch vor sechs Wochen, in keinem Falle -rechnen konnte, aus diesem schrecklichen Hause fortzukommen. Du kennst -ja Dunja, weißt, wie klug sie ist, und welch festen Charakter sie -besitzt. Dunetschka kann vieles ertragen, und im alleräußersten Falle -findet sie immer noch so viel Stärke in sich, daß sie ihre Festigkeit -bewahrt. Sie hat nicht mal mir über alles berichtet, um mich nicht -aufzuregen, wir haben aber sonst einander oft geschrieben. Es kam jedoch -eine unerwartete Lösung. Marfa Petrowna hörte zufällig, wie ihr Mann -Dunetschka im Garten anflehte, und da sie alles falsch aufgefaßt hatte, -gab sie Dunetschka die Schuld, in der Meinung, sie habe es eingefädelt. -Es spielte sich im Garten zwischen ihnen eine fürchterliche Szene ab, -- -Marfa Petrowna hat sogar Dunetschka geschlagen, wollte nichts hören, -schrie aber selbst stundenlang fort und befahl schließlich, Dunja sofort -zu mir in die Stadt zu bringen, -- auf einem gewöhnlichen Bauernwagen, -in den man alle ihre Sachen, -- Wäsche, Kleider, alles, wie man es -vorfand, ohne es zusammenzulegen und ohne einzupacken, hineinwarf. Bei -strömendem Regen mit Schande und Schmach bedeckt, mußte Dunja siebzehn -Werst weit im offenen Bauernwagen fahren. Nun überlege, was hätte ich -dir, als Antwort auf deinen Brief vor zwei Monaten schreiben sollen? Ich -war verzweifelt; die Wahrheit durfte ich dir nicht mitteilen, denn du -wärest unglücklich, zornig und empört geworden, ja und was hättest du -tun können? Vielleicht hättest du dich ins Verderben gestürzt. Und -Dunetschka hatte es mir verboten. Den Brief aber mit Lappalien -ausfüllen, während im Herzen solcher Kummer gräbt, habe ich nicht -gekonnt. Einen Monat lang gingen in der ganzen Stadt allerhand -Klatschereien über diese Geschichte herum, und es war so weit gekommen, -daß ich mit Dunja vor verächtlichen Blicken und hämischem Flüstern nicht -mal in die Kirche gehen konnte, selbst in unserer Gegenwart wurde laut -darüber gesprochen. Alle Bekannten hatten sich von uns abgewandt, alle -hatten aufgehört, uns zu grüßen, und ich erfuhr mit Bestimmtheit, daß -die Kommis und einige Schreiber die Absicht hatten, uns eine -niederträchtige Beleidigung anzutun, indem sie das Tor unseres Hauses -mit Teer beschmieren wollten, so daß unsere Wirtsleute verlangten, wir -möchten die Wohnung räumen. Das alles war das Werk von Marfa Petrowna; -es war ihr gelungen, Dunja in allen Häusern zu beschuldigen und schlecht -zu machen. Sie ist ja hier mit allen bekannt, und in diesem Monat kam -sie fortwährend in die Stadt, und da sie ziemlich geschwätzig ist und -über ihre Familienangelegenheiten zu erzählen liebt, besonders aber bei -jedem und allen über ihren Mann klagt, was doch sehr häßlich ist, so -hatte sich die ganze Geschichte in kurzer Zeit nicht bloß in der Stadt, -sondern auch im Kreise verbreitet. Mich griff's hart an, Dunetschka aber -war stärker, hättest du doch sehen können, wie sie alles ertrug, wie sie -mich tröstete und mir Mut zusprach! Sie ist ein Engel! Aber dank der -Barmherzigkeit Gottes nahmen unsere Qualen ein Ende, Herr Sswidrigailoff -kam zur Besinnung, bereute alles, und wahrscheinlich aus Mitleid mit -Dunja legte er Marfa Petrowna volle und klare Beweise der völligen -Unschuld von Dunetschka vor, und zwar, -- einen Brief, den Dunja noch -bevor Marfa Petrowna sie im Garten überraschte, ihm zu schreiben und zu -übersenden sich gezwungen sah, um persönliche Erklärungen und das -Verlangen geheimer Zusammenkünfte abzulehnen; dieser Brief war nach der -Abreise von Dunetschka in den Händen des Herrn Sswidrigailoff geblieben. -In diesem Briefe hatte sie ihn in eindringlichster Weise und mit voller -Entrüstung gerade wegen seines ehrlosen Benehmens Marfa Petrowna -gegenüber getadelt, ihm vorgehalten, daß er Vater und Gatte sei, und ihm -schließlich zu verstehen gegeben, wie niedrig es von ihm sei, ein -wehrloses und ohnedem schon unglückliches Mädchen zu quälen und noch -unglücklicher zu machen. Mit einem Worte, lieber Rodja, dieser Brief ist -so edel und rührend geschrieben, daß ich schluchzend ihn las und ihn -jetzt noch nur unter Tränen lesen kann. Außerdem kamen zur -Rechtfertigung Dunjas die Aussagen der Dienstboten hinzu, die wie -gewöhnlich viel mehr gesehen und gehört hatten, als Herr Sswidrigailoff -ahnte. Marfa Petrowna war außergewöhnlich bestürzt und >von neuem -zerschmettert,< wie sie uns selbst gestand, aber völlig von der -Schuldlosigkeit Dunetschkas überzeugt; am anderen Tage noch, einem -Sonntage, fuhr sie direkt in die Kirche und flehte zur Mutter Gottes -kniefällig und mit Tränen, ihr die Kraft zu geben, diese neue Prüfung zu -überstehen und ihre Pflicht zu erfüllen. Aus der Kirche kam sie zu uns, -ohne jemand anderen zu besuchen, erzählte uns alles, weinte bitter und -umarmte Dunja voller Reue und bat inständig um ihre Verzeihung. Am -selben Morgen noch ging sie gleich von uns in alle Häuser der Stadt, und -überall erzählte sie unter Tränen und in für Dunetschka -schmeichelhaftesten Ausdrücken von Dunjas Unschuld und ihrem edlen Gemüt -und Benehmen. Und nicht genug damit, sie zeigte allen den eigenhändigen -Brief Dunetschkas an Sswidrigailoff, las ihn laut vor und erlaubte sogar -Abschriften von dem Briefe zu nehmen, -- was mir wirklich zu viel -scheint. In dieser Weise mußte sie einige Tage nacheinander alles in der -Stadt besuchen, weil mancher sich gekränkt fühlte, daß anderen der -Vorzug erwiesen war; es wurde also eine Reihenfolge bestimmt, so daß man -sie in jedem Hause zu einer festgesetzten Zeit erwartete, und alle -wußten, daß an dem und dem Tage Marfa Petrowna dort und dort den Brief -vorlesen würde, und zu jedem Vorlesen kamen Leute, auch solche, die den -Brief schon ein paarmal, sowohl in ihrem eigenen Hause, als auch bei -Bekannten, gehört hatten. Meiner Meinung nach war hierbei vieles, sehr -vieles überflüssig, aber Marfa Petrowna hat nun mal so einen Charakter. -Sie hat wenigstens die Ehre von Dunetschka vollkommen wiederhergestellt -und was an dieser Sache prekär, fiel wie eine untilgbare Schande ihrem -Mann, als dem allein Schuldigen zu Lasten, so daß er mir doch zuletzt -leid tat; man ist zu streng mit diesem Wahnwitzigen umgegangen. Dunja -wurde sofort aufgefordert, in einigen Häusern Unterricht zu geben, -allein sie schlug es ab. Überhaupt begannen alle mit einem Male ihr eine -besondere Achtung zu zeigen. Dies alles half hauptsächlich ein Ereignis -herbeiführen, durch das sich, man kann wohl sagen, jetzt unser ganzes -Schicksal ändert. Du sollst wissen, lieber Rodja, daß Dunja einen Antrag -von einem Herrn erhalten hat und daß sie ihre Einwilligung bereits -gegeben hat, was ich dir eilends hierdurch mitteile. Obwohl die Sache -sich auch ohne deinen Ratschlag entschieden hat, wirst du wahrscheinlich -weder über mich noch über deine Schwester ungehalten sein; du wirst -selbst aus dem Verlauf der Angelegenheit ersehen, daß wir unmöglich -warten und die Antwort bis zu dem Empfang deines Briefes hinausschieben -konnten. Ja, und du hättest auch nur an Ort und Stelle alles genau -beurteilen können. Es ging also folgendermaßen vor sich: Er ist schon -Hofrat, heißt Peter Petrowitsch Luschin und ist ein weitläufiger -Verwandter von Marfa Petrowna, die diese Angelegenheit sehr gefördert -hat. Er begann damit, daß er durch Marfa Petrowna den Wunsch äußern -ließ, mit uns bekannt zu werden; er wurde, wie es sich ziemt, empfangen, -trank bei uns Kaffee, und am nächsten Tage schickte er einen Brief, in -dem er sehr höflich seinen Antrag machte und um eine baldige und -bestimmte Antwort bat. Er ist ein arbeitsamer und vielbeschäftigter Mann -und will jetzt schleunigst nach Petersburg reisen, so daß für ihn jeder -Augenblick kostbar ist. Selbstverständlich waren wir zuerst sehr -überrascht, da dies schnell und unerwartet gekommen war. Wir erwogen und -überlegten den ganzen Tag miteinander. Er ist ein zuverlässiger Mann, in -gesicherten Verhältnissen, nimmt zwei Stellungen ein und besitzt schon -eigenes Vermögen. Gewiß, er ist schon fünfundvierzig Jahre alt, hat aber -ein ganz angenehmes Äußere und kann noch Frauen gefallen; ja, er ist -überhaupt ein sehr solider und anständiger Mann, bloß ein wenig düster -und anscheinend hochmütig. Aber vielleicht scheint es bloß so beim -ersten Anblick. Ja, und ich gebe dir den guten Rat, lieber Rodja, wenn -du ihn in Petersburg sehen wirst, was sehr bald geschehen kann, urteile -nicht zu schnell und hitzig, wie es dir eigen ist, wenn bei der ersten -Begegnung dir etwas an ihm nicht so gut gefallen will. Ich sage das bloß -für alle Fälle, denn ich bin überzeugt, daß er auf dich einen angenehmen -Eindruck machen wird. Zudem, um einen fremden Menschen einzuschätzen, -muß man sich ihm allmählich und vorsichtig nähern, damit man keinen -Fehler begeht und keine Voreingenommenheit faßt, die später sehr schwer -zu berichtigen und zu beseitigen ist. Peter Petrowitsch ist, wenigstens -nach vielen Anzeichen, ein sehr ehrenwerter Mann. Bei seinem ersten -Besuche schon erklärte er, daß er ein resoluter Mann sei, aber daß er in -vielem >die Überzeugungen der jüngeren Generation< -- wie er sich -ausdrückte -- teile, und ein Feind von allen Vorurteilen sei. Er sprach -noch über vieles, denn er scheint ein wenig eingebildet zu sein und es -zu lieben, daß man ihm zuhöre, aber das ist ja kein Fehler. Ich habe -natürlich wenig davon begriffen, aber Dunja versicherte mir, daß er -keine sehr große Bildung besitze, aber ein kluger und wie es scheint, -auch guter Mensch sei. Du kennst den Charakter deiner Schwester Rodja. -Sie ist ein starkes, vernünftiges, geduldiges und großmütiges Mädchen, -freilich auch feurigen Herzens, so wie ich sie kenne. Gewiß ist weder -auf ihrer, noch auf seiner Seite eine besondere Liebe vorhanden, aber -Dunja ist nicht allein ein kluges Mädchen, sondern gleichzeitig auch ein -edles Wesen, ein Engel, und wird es sich zur Aufgabe stellen, das Glück -des Mannes auszumachen, der seinerseits für ihr Glück Sorge tragen wird; -daran aber zu zweifeln haben wir vorläufig keine Ursache, obwohl -- -offen gestanden -- die Sache mir ein wenig zu schnell zustande kam. -Außerdem ist er ein berechnender Mann, der sicher einsehen wird, daß -sein eigenes Glück in der Ehe um so fester begründet ist, je glücklicher -er Dunetschka macht. Was aber irgendwelche Unebenheiten des Charakters, -irgendwelche alte Gewohnheiten und sogar ein gewisses Auseinandergehen -in den Anschauungen anbetrifft -- (und das ist auch in den glücklichsten -Ehen nicht zu vermeiden) -- so sagte mir Dunetschka, daß sie in dieser -Hinsicht auf sich vertraut, daß es keinen Grund gibt, darüber beunruhigt -zu sein und daß sie vieles ertragen kann, wenn nur gegenseitige -Ehrlichkeit und Gerechtigkeit herrscht. Mir schien er zum Beispiel -zuerst etwas hart, aber das kann auch von seiner Offenherzigkeit kommen -und so wird es wohl auch sein. Bei seinem zweiten Besuche, als er das -Jawort hatte, äußerte er im Gespräch, daß er schon früher, ehe er Dunja -kennengelernt habe, beschlossen habe, ein ehrliches, aber armes Mädchen -zu heiraten und unbedingt eines, das die Armut schon gekostet habe, denn -ein Mann solle nach seiner Meinung seiner Frau durch nichts verpflichtet -sein, sondern das sei das richtige, daß die Frau den Mann als ihren -Wohltäter betrachte. Ich will hinzufügen, daß er sich ein wenig weicher -und zarter ausdrückte, als ich es schreibe, denn ich habe den richtigen -Wortlaut vergessen, erinnere mich bloß des Sinnes, und zudem hatte er -das keineswegs mit Absicht gesagt, sondern hatte sich offenbar in Eifer -gesprochen, darum versuchte er später, es abzuschwächen und zu mildern. -Dennoch erschien es mir ein wenig zu scharf, und ich sprach darüber -nachher mit Dunja. Sie aber antwortete mir sogar, daß >Worte noch keine -Taten sind,< und das ist auch wahr. Ehe Dunja sich zu diesem Schritt -entschloß, verbrachte sie eine schlaflose Nacht, und in der Meinung, daß -ich schliefe, stand sie auf und ging die ganze Nacht im Zimmer auf und -ab; schließlich ließ sie sich auf die Knie nieder und betete lange und -inbrünstig vor der Mutter Gottes, und am andern Morgen erklärte sie mir, -sie hätte sich entschieden. - -Ich habe schon erwähnt, daß Peter Petrowitsch sich jetzt nach Petersburg -begibt. Er hat dort große Geschäfte vor, will in Petersburg ein -öffentliches Bureau als Advokat eröffnen. Er beschäftigt sich seit -langem schon mit Vertretung von allerhand Zivilklagen und Prozessen, und -hat vor kurzem einen bedeutenden Prozeß gewonnen. Nach Petersburg muß er -auch deswegen reisen, weil er dort im Senate eine bedeutende Sache zu -vertreten hat. So kann er auch dir, lieber Rodja, sehr nützlich sein, ja -in jeder Hinsicht, und wir -- ich und Dunja -- meinen nun, daß mit dem -heutigen Tage deine künftige Karriere mit Sicherheit beginnt und daß -dein Schicksal klar vor Augen liegt. Oh, wenn es sich schon verwirklicht -hätte! Das wäre so ein Glück, daß man es nicht anders, als eine -unmittelbare Gnadenspende des Allmächtigen an uns betrachten müßte. Das -ist Dunjas Traum. Wir haben schon gewagt, ein paar Worte in dieser -Hinsicht Peter Petrowitsch zu sagen. Er äußerte sich vorsichtig und -meinte, daß er gewiß ohne einen Sekretär nicht auskommen könne, und da -sei es selbstverständlich besser, das Gehalt dafür einem Verwandten als -einem Fremden zu zahlen, wenn er sich bloß für den Posten eigne, -- (du -solltest dich dazu nicht eignen!) -- gleichzeitig aber zweifelte er, daß -das Universitätsstudium die Zeit für die Arbeiten in seinem Bureau übrig -ließe. Diesmal blieb die Angelegenheit dabei stehen, aber Dunja denkt an -nichts anderes mehr als an diese Aussicht. Sie ist seit einigen Tagen -fieberhaft erregt, und hat sich einen ganzen Plan ausgedacht, daß du -nämlich späterhin Mitarbeiter und sogar Kompagnon von Peter Petrowitsch -in seinen Rechtssachen werden könntest, um so mehr, als du in der -juristischen Fakultät bist. Ich bin mit ihr vollkommen einig, lieber -Rodja, teile alle ihre Pläne und Hoffnungen und halte ihre völlige -Verwirklichung für möglich. Und trotzdem Peter Petrowitsch sich jetzt -zurückhaltend verhält, was sehr erklärlich ist, da er dich noch nicht -kennt, so ist Dunja fest überzeugt, daß sie alles durch ihren guten -Einfluß auf ihren künftigen Mann erreichen wird. Wir haben uns natürlich -in acht genommen, Peter Petrowitsch etwas von unseren Zukunftsträumen -und hauptsächlich davon, daß du sein Kompagnon werden sollst, merken zu -lassen. Er ist ein nüchterner Mann und hätte es vielleicht sehr kalt -aufgenommen, weil er alles für Phantasterei angesehen hätte. Ebensowenig -haben wir, weder ich, noch Dunja, einen Ton über unsere feste Hoffnung -gesprochen, daß er uns helfen soll, dich mit Geld zu unterstützen, -solange du auf der Universität bist; wir haben es deswegen unterlassen, -weil es sich späterhin jedenfalls von selbst ergeben und weil er sicher -ohne viele Worte es uns anbieten wird -- (er wird doch Dunetschka es -nicht abschlagen können!) -- um so mehr, als du seine rechte Hand im -Bureau werden kannst, und diese Unterstützung nicht als eine Wohltat, -sondern als verdientes Gehalt empfangen sollst. Dunetschka will es so -einrichten, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden. Außerdem -unterließen wir es, darüber zu sprechen, weil ich bei eurer -bevorstehenden Begegnung dich auf gleichem Fuße mit ihm stehen sehen -wollte. Wenn Dunja mit ihm voll Entzücken über dich sprach, antwortete -er, daß man jeden Menschen selbst zuerst sehen, und zwar sehr nah sehen -müsse, um über ihn urteilen zu können, und daß er sich das Recht -vorbehalte, seine Meinung über dich zu bilden, erst nachdem er dich -kennengelernt habe. Weißt du was, mein teurer Rodja, mir scheint es aus -gewissen Gründen, -- die übrigens gar nichts mit Peter Petrowitsch zu -tun haben, sondern so meine eigenen gewissen, persönlichen, vielleicht -auch altweibischen Launen sind, -- also mir scheint es, daß ich -vielleicht besser tue, wenn ich nach ihrer Verheiratung allein, so wie -jetzt, und nicht mit ihnen zusammenleben werde. Ich bin völlig -überzeugt, daß er so erkenntlich und zartfühlend sein wird, selber mir -das Angebot zu machen, bei der Tochter zu bleiben und wenn er darüber -bis jetzt nicht gesprochen hat, so kam es selbstverständlich daher, weil -es auch ohne Worte so anzunehmen ist, aber ich will es ablehnen. Ich -habe in meinem Leben mehr als einmal erfahren, daß Schwiegermütter den -Männern nicht besonders genehm sind, und ich möchte niemandem im -geringsten zur Last fallen und möchte auch selbst vollkommen frei sein, -solange ich noch einen Bissen zu essen und solche Kinder, wie dich und -Dunetschka, zu lieben habe. Wenn es mir möglich ist, will ich mich in -der Nähe von euch beiden niederlassen, denn das angenehmste habe ich zum -Schluß des Briefes aufgehoben, Rodja. Erfahre nun, mein lieber Freund, -daß wir alle vielleicht sehr bald wieder zusammen sein und alle drei uns -nach fast dreijähriger Trennung umarmen werden! Es ist schon _bestimmt_ -beschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg kommen, wann aber -- das -weiß ich noch nicht, in jedem Falle sehr, sehr bald, vielleicht schon in -einer Woche. Alles hängt von den Anordnungen Peter Petrowitschs ab, der -uns sofort, wenn er sich in Petersburg umgesehen hat, Nachricht geben -will. Er will die Vorbereitungen zur Heirat aus verschiedenen Erwägungen -möglichst beschleunigen, und wenn möglich, die Hochzeit noch vor dem -großen Fasten feiern, sollte es aber infolge der kurzen Frist nicht -ausführbar sein, dann gleich nach den Osterfeiertagen. Oh, mit welch -einem Glück werde ich dich an mein Herz pressen! Dunja ist vor Freude -dich wiederzusehen ganz aufgeregt und sagte einmal im Scherz, daß sie -schon deswegen allein Peter Petrowitsch heiraten würde. Sie ist ein -Engel! Sie schreibt dir nicht, hat mich aber gebeten, dir zu schreiben, -daß sie über so vieles mit dir sprechen müsse, über so vieles, daß ihre -Hand sich jetzt gegen die Feder sträube, denn in ein paar Zeilen könne -man nichts mitteilen, sondern sich nur aufregen. Sie bat mich, dich -innig, innig zu umarmen und dir unzählige Küsse zu senden. Trotzdem wir -uns vielleicht sehr bald sehen werden, will ich dir doch in diesen Tagen -Geld, soviel ich vermag, zuschicken. Jetzt, wo alle wissen, daß -Dunetschka Peter Petrowitsch heiratet, hat sich auch mein Kredit -plötzlich gebessert, und ich weiß bestimmt, daß Afanassi Iwanowitsch mir -jetzt auf Konto der Pension sogar bis zu fünfundsiebzig Rubel zu leihen -bereit ist, so daß ich dir vielleicht fünfundzwanzig oder auch dreißig -Rubel schicken kann. Ich würde noch mehr schicken, aber ich fürchte -unsere Reisekosten. Obwohl Peter Petrowitsch so gut war, einen Teil der -Ausgaben für unsere Reise nach der Residenz zu übernehmen, -- er hat -sich nämlich selbst angeboten, unser Gepäck und einen großen Koffer für -seine Rechnung hinzuschicken (er arrangiert es in irgendeiner Weise -durch Bekannte), müssen wir doch mit der Reise nach Petersburg rechnen -und damit, daß man dort nicht ohne einen Groschen ankommen kann und -wenigstens für die ersten paar Tage das Nötige haben muß. Wir haben -übrigens alles genau überschlagen, und es zeigte sich, daß uns die Reise -nicht zu teuer zu stehn kommt. Von uns bis zur Eisenbahn sind es nur -neunzig Werst, und wir haben für jeden Fall mit einem bekannten Bauern -schon abgeschlossen; die Fortsetzung der Reise aber werden wir, ich und -Dunetschka, glücklich und zufrieden in der dritten Klasse machen. Dann -kriege ich es vielleicht fertig, dir nicht nur fünfundzwanzig, sondern -dreißig Rubel zu schicken. Nun aber genug: zwei Bogen habe ich voll -geschrieben und es ist kein Platz mehr da. Unsere ganze Geschichte habe -ich dir erzählt, -- nun, es hat sich auch ein Haufen Ereignisse -angesammelt. Jetzt, mein teurer Rodja, umarme ich dich bis zu unserem -nahen Wiedersehen und sende dir meinen mütterlichen Segen. Rodja, liebe -deine Schwester Dunja; liebe sie so, wie sie dich liebt, und vergiß -nicht, daß sie dich grenzenlos, mehr als sich selbst, liebt. Sie ist ein -Engel und du Rodja, bist unser alles, unsere ganze Hoffnung und unser -Trost. Sei du bloß glücklich, dann werden auch wir glücklich sein. -Betest du zu Gott, Rodja, wie früher und glaubst du auch an die Güte des -Schöpfers und unseres Erlösers? Ich fürchte im Herzen, daß der neueste -moderne Unglaube auch dich berührt haben kann. Wenn es so ist, dann bete -ich für dich. Erinnerst du dich, mein Lieber, wie du, als dein Vater -noch lebte, in deiner Kindheit auf meinen Knien deine Gebete -stammeltest, und wie glücklich waren wir alle damals. Lebe wohl, oder -besser, -- _auf Wiedersehen_! Ich umarme dich innig, innig und küsse -dich unzähligemal. - - Dein bis zum Tode - Pulcheria Raskolnikowa.« - -Fast die ganze Zeit, während Raskolnikoff den Brief las, von den ersten -Zeilen an, war sein Gesicht naß von Tränen; als er aber geendet hatte, -war sein Gesicht bleich und zuckte, und ein hartes, bitteres, böses -Lachen lag auf seinen Lippen. Er lehnte seinen Kopf an das dünne und -abgenutzte Kissen und dachte lange, lange nach. Sein Herz schlug stark, -und die Gedanken wogten hin und her. Es wurde ihm schließlich zu dumpf -und eng in dieser gelben Kammer, die einem Käfig oder einem Kasten -glich. Die Augen und die Gedanken verlangten eine freie Weite. Er nahm -seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu -begegnen: das hatte er vergessen. Er schlug den Weg in der Richtung nach -Wassiljew Ostroff ein, den W.ski-Prospekt entlang, als hätte er dort -eine eilige Angelegenheit, er ging aber, wie es seine Gewohnheit war, -ohne den Weg zu beachten, flüsterte vor sich hin und sprach hin und -wieder laut mit sich selbst; so daß er den Vorübergehenden auffiel, und -viele hielten ihn für betrunken. - - - IV. - -Der Brief der Mutter hatte ihn sehr erschüttert. Über die Hauptsache -aber, das Moment, um das sich alles drehte, war er auch nicht einen -Augenblick im Zweifel, nicht einmal während des Lesens. Ihrem Wesen nach -war die Sache für ihn entschieden: »Diese Heirat kommt nicht zustande, -solange ich lebe, und hol' der Teufel den Herrn Luschin!« - -»Die ganze Geschichte ist klipp und klar,« murmelte er höhnisch lachend -und im voraus triumphierend über die Folgen seines Entschlusses. »Nein, -liebe Mama, nein, Dunja, ihr könnt mich nicht täuschen! ... Und da -entschuldigen sie sich, daß sie mich nicht um Rat gefragt und ohne mich -die Sache gemacht haben! Haben auch Grund dazu! Sie meinen, daß man es -nicht mehr zerreißen kann; wir wollen mal sehen, ob es möglich ist oder -nicht! Sie haben auch eine glänzende Ausrede gefunden -- Peter -Petrowitsch sei so beschäftigt, so beschäftigt, daß er nicht anders, als -per Postpferde, fast per Eisenbahn, heiraten kann. Nein, Dunetschka, ich -durchschaue alles und weiß, worüber du mit mir _so viel_ sprechen -möchtest. Ich weiß auch, worüber du die ganze Nacht im Zimmer auf- und -abgehend nachgedacht hast, und was du vor dem Bilde der Gottesmutter, -das bei Mama im Schlafzimmer hängt, gebetet hast. Es ist schwer, -Golgatha hinaufzugehen ... Hm ... Also es ist endgültig beschlossen. -Awdotja Romanowna, Sie geruhen also einen tüchtigen und resoluten Mann -zu heiraten, der eigenes Vermögen besitzt -- (der _schon_ eigenes -Vermögen besitzt, das ist solider und ehrfurchtgebietender) -- der zwei -Stellungen einnimmt und der die Überzeugungen unserer jüngeren -Generation teilt (wie Mama sagt) und der, wie es scheint, gut ist, wie -Dunetschka selbst sagt. Dieses >_wie es scheint_< ist das großartigste -dabei! Und Dunetschka heiratet dieses >_wie es scheint_<! ... Großartig! -Großartig! - -Es ist jedoch interessant, warum Mama mir über >die jüngere Generation< -geschrieben hat? Bloß um die Person zu charakterisieren oder mit einer -weitliegenden Absicht, -- um mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen? -Oh, ihr Schlauen! Es wäre auch interessant, noch einen Umstand -aufzuklären, -- wie weit war an jenem Tage und in jener Nacht ihre -beiderseitige Offenherzigkeit und auch in der folgenden Zeit? Wurde -_alles_ unter ihnen Wort für Wort besprochen, oder haben beide gefühlt, -daß sie, eine wie die andere, ein und dasselbe auf dem Herzen hatten, so -daß es überflüssig war, alles laut werden zu lassen und womöglich zu -viel zu sagen. Sicher war es größtenteils so gewesen; man sieht's aus -dem Briefe. Mama schien er _ein wenig_ hart, und die naive Mama wandte -sich sofort an Dunja mit Bemerkungen. Die wurde selbstverständlich böse -und >antwortete verstimmt<. Das ist begreiflich! Wen wird es nicht -wütend machen, wenn eine Sache auch ohne naive Fragen klar genug ist, -und wenn ausgemacht ist, daß daran nicht mehr zu rütteln ist. Und warum -schreibt sie mir: >Rodja, liebe Dunja! Sie liebt dich mehr als sich -selbst<. Wird sie etwa im geheimen von Gewissensbissen gequält, daß sie -eingewilligt hat, die Tochter für den Sohn zu opfern. >Du bist unser -Trost, du bist unser Alles! Oh, Mama! ...<« - -Der Zorn packte ihn immer stärker, und wäre Herr Luschin ihm jetzt -begegnet, er hätte sich an ihm vergriffen! - -»Hm ... das ist wahr,« spann er die Gedanken weiter, die sich wie im -Wirbelwinde in seinem Kopfe drehten. »Das ist wahr, daß man sich >einem -Menschen allmählich und vorsichtig nähern muß, um ihn kennenzulernen,< -Herr Luschin ist einem auch so verständlich. Die Hauptsache ist >ein -tüchtiger und _wie es scheint_ guter Mensch<; es hat ja was zu sagen, -daß er das Gepäck übernommen hat und für seine Rechnung den großen -Koffer transportiert! Nun, ist er denn nicht gut? Die beiden aber, _die -Braut_ und die Mutter, akkordieren mit einem Bauern und reisen in einem -mit Strohmatten gedeckten Wagen -- ich kenn es ja selber! Das hat ja -auch nichts zu sagen! Es sind bloß neunzig Werst, weiter aber >fahren -wir zufrieden und glücklich dritter Klasse< -- also über tausend Werst. -Es ist auch vernünftig, -- man muß sich nach der Decke strecken; aber -Sie, Herr Luschin, was denken Sie dabei? Es ist ja Ihre Braut ... -Sollten Sie etwa nicht wissen, daß Mutter sich das Geld zur Reise auf -ihre Pension hin leiht? Gewiß, Sie haben hier ein gemeinsames -kaufmännisches Geschäft, ein Unternehmen auf gegenseitigen Vorteil und -mit gleichlautenden Anteilen, folglich fallen die Ausgaben auch in -gleiche Teile; wie nach dem Sprichworte, -- Salz und Brot zusammen, -Tabak aber jeder für sich. Ja, aber auch hier hat der geschäftstüchtige -Mann die beiden ein wenig übers Ohr gehauen, -- das Gepäck kommt ihm -billiger als ihre Reise zu stehen, und vielleicht kostet das Gepäck ihm -gar nichts. Sehen denn beide es nicht oder wollen sie es nicht sehen? -Sie sind ja zufrieden, sind beide zufrieden! Wenn man aber denkt, daß -dies erst der Anfang ist und daß das dicke Ende später nachkommt! Was -fällt einem hier am meisten auf, -- nicht der Geiz, nicht die schmutzige -Rechnerei, sondern _der Ton_ des Ganzen. Das ist ja der künftige Ton -nach der Verheiratung, die warnende Prophezeiung ... Ja, und die Mama, -warum ist sie so flott? Mit was kommt sie nach Petersburg? Mit drei -Rubel oder mit zwei >Scheinchen,< wie die ... Alte sagt ... hm! Wovon -will sie denn in Petersburg leben? Sie hat schon aus irgendwelchen -Anzeichen herausgefunden, daß sie mit Dunja nach der Verheiratung nicht -zusammenleben kann, nicht mal in der ersten Zeit. Der liebe Mensch hat -sich auch hier sicher irgendwie versprochen, hat es zu verstehen -gegeben, obwohl Mama sich mit beiden Händen dagegen sträubt, -- >ich -will,< sagt sie, >es selbst ablehnen<. Ja, auf was hofft sie denn noch --- mit ihrer Pension von hundertundzwanzig Rubel, von der noch die -Schuld an Afanassi Iwanowitsch abgezogen wird? Sie strickt dann zu Hause -Tücher, stickt Manschetten und verdirbt sich die alten Augen, und das -bringt ihr zwanzig Rubel im Jahre ein zu der Pension, das kenne ich. -Also, hofft man doch und baut auf die Freigiebigkeit und die Großmut des -Herrn Luschin. >Er wird es mir selbst anbieten,< meint sie, >wird mich -darum bitten.< Nein, darauf kann sie lange warten. So geht es stets -diesen schönen Schillerschen Seelen, -- bis zum letzten Moment schmücken -sie einen Menschen mit Pfauenfedern, bis zum letzten Moment glauben sie -an das Gute und nicht an das Böse im Menschen; obwohl sie die Kehrseite -der Medaille ahnen, belügen sie sich lieber selbst, weil sie sich vor -der Wahrheit fürchten. Mit beiden Händen wehren sie sich dagegen, bis -ihnen schließlich der ausgeschmückte Mensch eigenhändig einen -Nasenstüber gibt. Es wäre interessant zu wissen, ob Herr Luschin Orden -hat; ich gehe eine Wette ein, daß er den Orden der heiligen Anna im -Knopfloche stecken hat und daß er ihn zu Diners bei allerhand Kaufleuten -und Lieferanten trägt. Vielleicht wird er ihn auch zur Feier seiner -Hochzeit anlegen! übrigens, hol ihn der Teufel! ... Nun, gegen Mama ist -nichts zu sagen, sie ist einmal so, aber was ist mit Dunja? Liebe -Dunetschka, ich kenne sie doch! Sie war bereits zwanzig Jahre alt, als -wir uns zum letztenmal sahen, ihren Charakter habe ich schon damals -verstanden. Die Mama schreibt >Dunetschka kann vieles ertragen<. Das -wußte ich schon früher. Das wußte ich bereits vor zweiundeinhalb Jahren, -und seit jener Zeit habe ich nachgedacht, zweiundeinhalb Jahre habe ich -gerade darüber nachgedacht, wie vieles Dunetschka ertragen kann? Denn -Herrn Sswidrigailoff mit all dem Folgenden ertragen zu können, heißt -viel ertragen können. Jetzt aber meint sie, wie auch Mama, daß man den -Herrn Luschin als zukünftigen Ehemann ebenfalls ertragen kann, der die -Theorie über die Vorzüge von Frauen vertritt, die von Hause aus -bettelarm sind und folglich von ihren Männern nur Wohltaten empfingen, -und der dies fast bei der ersten Zusammmkunft auseinandersetzt. Nun, -gut, wollen wir annehmen, er habe >sich versprochen,< obwohl er doch ein -verständiger Mann ist, der sich vielleicht gar nicht versprochen, -sondern sofort ihre richtige Stellung klargestellt wissen wollte, aber -Dunja, Dunja, was ist mit ihr? Sie durchschaut doch den Menschen klar -und deutlich, und muß mit ihm leben. Sie würde lieber schwarzes Brot -essen und Wasser dazu trinken, als ihre Seele verkaufen; sie würde ihre -sittliche Freiheit für keinen Komfort hergeben; für ganz -Schleswig-Holstein würde sie sie nicht hergeben, geschweige denn für -einen Herrn Luschin. Nein, Dunja war nicht so, soweit ich sie kannte, -und ... hat sich sicher nicht verändert! ... Was ist da zu sagen! -Sswidrigailoffs sind bitter! Es ist bitter, sein ganzes Leben als -Gouvernante für zweihundert Rubel in der Provinz herumzuwandern, aber -ich weiß, daß meine Schwester lieber als Neger zu einem -Plantagenbesitzer oder als lettischer Bauer zu einem Deutschen in den -Ostseeprovinzen sich verdingen würde, als ihren Geist und ihr sittliches -Empfinden durch die Verbindung mit einem Manne zu besudeln, den sie -nicht achtet und mit dem sie nichts verbindet -- auf ewig, aus -persönlichem Vorteil bloß! Und wäre Herr Luschin sogar aus reinstem -Golde oder aus einem einzigen Brillanten, auch dann würde sie nie -einverstanden sein, die gesetzliche Bettgenossin des Herrn Luschin zu -werden! Warum willigt sie denn ein? Wo ist der Schlüssel? Wo ist die -Lösung? Die Sache ist klar, -- ihrer selber wegen, um eigener -Annehmlichkeiten willen, selbst um sich vor dem Tode zu retten, wird sie -sich nicht verkaufen, für einen anderen aber verkauft sie sich! Für -einen geliebten, für einen vergötterten Menschen verkauft sie sich! Da -haben wir das ganze Rätsel, -- für den Bruder, für die Mutter verkauft -sie sich, verkauft ihr Bestes. Oh, hier wird man auch bei Gelegenheit -das sittliche Empfinden unterdrücken; man wird die Freiheit, die Ruhe, -das Gewissen sogar, alles, alles -- auf den Trödelmarkt bringen. Fahr -dahin, Leben! Mögen bloß diese geliebten Wesen glücklich sein! Nicht -genug dessen, man denkt sich noch eine eigene Kasuistik aus, geht bei -den Jesuiten in die Lehre und beruhigt sich selbst vielleicht für eine -Zeit, überzeugt sich selbst, daß es so gut sei, tatsächlich für einen -guten Zweck nötig sei. Man ist nun einmal so, und alles ist so klar wie -der Tag. Es ist ja selbstredend, daß hier niemand anders als Rodion -Romanowitsch Raskolnikoff mitspricht und im Vordergrunde steht. Nun, -warum denn auch nicht, -- man kann sein Glück begründen, ihn auf der -Universität unterstützen, ihn zum Teilhaber machen, sein ganzes -Schicksal sichern. Vielleicht wird er später ein reicher Mann, wird als -angesehener, geachteter, auch vielleicht als berühmter Mann sein Leben -beenden! Und die Mutter? Ja, es handelt sich um Rodja, den teuren Rodja, -den Erstgeborenen! Und warum soll man nicht um solch eines Erstgeborenen -willen selbst die Tochter opfern! Oh, ihr lieben und einfältigen Seelen! -Man wird in diesem Falle vielleicht auch das Los einer Ssonjetschka -nicht verschmähen! Ssonjetschka, Ssonjetschka Marmeladowa, die ewige -Ssonjetschka, solange die Welt besteht! Habt ihr beide auch das Opfer, -dieses Opfer genau ermessen? Habt ihr es? Reicht die Kraft aus? Ist es -zum Besten? Ist es vernünftig? Wissen Sie auch Dunetschka, daß das Los -von Ssonjetschka in keiner Weise schlimmer ist als Ihr Los mit Herrn -Luschin? >Liebe ist nicht vorhanden,< schreibt die Mama. Was, wenn aber -außer Liebe auch keine Achtung vorhanden ist, sondern im Gegenteil sich -Widerwille, Verachtung und Ekel schon eingestellt haben, was dann? Und -es kommt dabei auf eins heraus, daß man auch hier _auf Sauberkeit -achtgeben_ muß. Ist es nicht etwa so? Verstehen Sie, verstehen Sie auch, -was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Verstehen Sie, daß die Sauberkeit -der Frau von Luschin gleichbedeutend mit der Sauberkeit von Ssonjetschka -ist, vielleicht aber auch schlimmer, gemeiner und ekliger, weil Sie, -Dunetschka, doch mit einem Überschuß von Annehmlichkeiten rechnen, dort -aber handelt es sich einfach ums Verhungern! Diese Sauberkeit kommt -teuer, sehr teuer zu stehen, Dunetschka! Und wenn nun die Kräfte nicht -ausreichen, werden Sie es bereuen? Wieviel Kummer, Trauer, Flüche und -Tränen folgen nach, tief verborgen, da Sie doch keine Marfa Petrowna -sind! Und was wird dann aus der Mutter werden? Sie ist jetzt schon voll -Unruhe und quält sich; wie dann, wenn sie alles klar und deutlich -durchschauen wird? Und was wird mit mir? ... Ja, was haben Sie denn -tatsächlich von mir gedacht? Ich will Ihr Opfer nicht, Dunetschka, ich -will es nicht, Mama! Es soll nicht geschehen, solange ich lebe, es soll -nicht sein, nicht sein! Ich nehme es nicht an!« - -Er kam plötzlich zu sich und blieb stehen. - -»Es soll nicht geschehen! Was willst du denn tun, damit es nicht -geschieht? Willst du es verbieten? Was für ein Recht hast du? Was kannst -du ihnen versprechen, um dir solch ein Recht anzueignen? Dein ganzes -Schicksal, die ganze Zukunft ihnen widmen, _wenn du die Universität -absolviert und eine Stelle erhalten hast_? Davon haben wir gehört, das -sind aber _Träume_, was nun, jetzt? Es muß doch jetzt etwas, sofort -etwas getan werden, verstehst du? Was tust du jetzt? Du beraubst sie. -Sie erhalten das Geld, indem sie die Pension von hundert Rubel versetzen -und sich bei den Herrschaften Sswidrigailoff verdingen. Wie willst du -sie, du zukünftiger Millionär, du Zeus, der über das Schicksal verfügt, -wie willst du sie vor Sswidrigailoffs, vor Afanassi Iwanowitsch -Wachruschin bewahren? Etwa nach zehn Jahren? Inzwischen wird die Mutter -vor lauter Stricken, vielleicht auch von Weinen, längst erblindet sein; -vielleicht vor lauter Fasten zugrunde gehen. Und die Schwester? Denk mal -nach, was nach zehn Jahren oder in diesen zehn Jahren mit der Schwester -geschehen kann? Ist es dir gegenwärtig?« - -So quälte er sich und peitschte sich mit diesen Fragen; es bereitete ihm -sogar einen gewissen Genuß. Und alle diese Fragen sie waren ihm nicht -neu und unerwartet; sie waren alt, lange herumgetragen und längst -vorhanden. Sie marterten sein Herz schon lange. Seit langer, sehr langer -Zeit war in ihm diese Schwermut entstanden, war gewachsen, hatte sich -angesammelt, war zur Reife gekommen, hatte sich konzentriert und die -Form der entsetzlichen, wilden und phantastischen Frage angenommen, die -sein Herz und seinen Kopf marterte und nach einer Lösung schrie. Der -Brief von der Mutter hatte ihn jetzt wie ein Blitz getroffen. Jetzt war -keine Zeit mehr, schwermütig zu sein, passiv zu leiden und zu erwägen, -daß die Fragen unlösbar sind, sondern es muß unbedingt gehandelt werden, -schnell gehandelt werden. Um jeden Preis muß ich mich für etwas -entscheiden oder ... - -»Oder sich vom Leben ganz und gar lossagen!« rief er plötzlich in -größter Erregung aus. -- »Das Schicksal, so wie es ist, ein für allemal -geduldig hinnehmen und alles in sich ersticken, sich von jeglichem -Rechte zu wirken, zu leben und zu lieben, lossagen!« - -»Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man -nirgendwo mehr hingehen kann?« erinnerte er sich plötzlich der gestrigen -Frage Marmeladoffs, »denn es müßte doch so sein, daß jeder Mensch -irgendwo hingehen könnte ...« - -Plötzlich zuckte er zusammen, -- ein Gedanke, auch von gestern, ging -wieder durch seinen Kopf. Er zuckte aber nicht zusammen, weil dieser -Gedanke ihm neu war. Er kannte ihn schon, _er ahnte_, daß er unbedingt -»kommen wird« und erwartete ihn sogar; auch war er nicht erst vom -gestrigen Tage. Aber das andere war, daß dieser Gedanke vor einem Monat -und von gestern noch bloß ein Traum war, jetzt aber ... jetzt erschien -er ihm nicht mehr als Traum, sondern in einem neuen drohenden und völlig -unbekannten Lichte, und er wurde dessen plötzlich bewußt ... Mit -Keulenhieben schlug es ihn nieder, und vor seinen Augen wurde es dunkel. -Er sah sich schnell um, als suche er etwas. Er wollte sich hinsetzen und -suchte eine Bank; er war auf dem K.schen Boulevard. Nicht weit von ihm, -etwa hundert Schritte, bemerkte er eine. Er ging eiligst darauf zu, auf -dem Wege dahin aber ereignete sich ein Zwischenfall, der auf einige -Minuten seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. - -Während er sich nach einer Bank umsah, bemerkte er -- ungefähr zwanzig -Schritte vor sich -- eine Frauensperson, zuerst schenkte er ihr so wenig -Beachtung, wie all den Gegenständen, die an ihm vorbeiglitten. Es -geschah ihm oft, daß er nach Hause kam und sich des Weges nicht entsann, -den er gegangen war; so dahinzuwandern war ihm zur Gewohnheit geworden. -Die Frauensperson aber, die vor ihm ging, hatte so etwas Sonderbares und -Auffallendes an sich, daß seine Aufmerksamkeit allmählich an ihr haften -blieb, -- zuerst gegen seinen Willen und zu seinem Verdruß, dann aber -mit sich steigerndem Interesse. Er wollte sich klarmachen, was an dieser -Frauensperson Sonderbares war. Sie war wahrscheinlich ein noch sehr -junges Mädchen; ging in dieser Hitze mit unbedecktem Kopfe, ohne -Sonnenschirm und ohne Handschuhe und pendelte eigentümlich mit den -Armen. Sie hatte ein leichtes seidenes Kleidchen an, das sehr bedenklich -angezogen und kaum zugeknöpft war, und hinten an der Taille, gerade, wo -der Rock anfing, war es zerrissen, ein ganzes Stück hing lose herunter. -Um den entblößten Hals war ein kleines Tuch umgeworfen und fiel auf der -einen Seite schief herab. Außerdem fiel es ihm auf, daß das Mädchen -unsicher ging, stolperte und sogar schwankte. Diese Erscheinung erregte -also die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikoffs. Er holte das Mädchen bei -der Bank ein; sie aber warf sich in eine Ecke der Bank, lehnte den Kopf -an die Rücklehne und schloß die Augen, anscheinend vor äußerster -Ermattung. Als Raskolnikoff sie näher ansah, begriff er sofort, daß sie -völlig betrunken war. Es war ein so sonderbarer und widerwärtiger -Anblick, daß er an seiner Wirklichkeit zweifelte. Er sah vor sich ein -junges Gesichtchen von sechzehn, oder gar erst fünfzehn Jahren, mit -hellblonden Haaren, sehr hübsch, aber unnatürlich gerötet und allem -Anscheine nach ein wenig aufgedunsen. Das junge Mädchen schien nicht -ganz bei Bewußtsein zu sein; das eine Bein hatte sie über das andere -geschlagen und weiter vorgestreckt, als anständig war; jedenfalls war es -ihr nicht bewußt, daß sie auf der Straße war. - -Raskolnikoff setzte sich nicht hin, wollte aber auch nicht weggehen; er -blieb unschlüssig vor ihr stehen. Dieser Boulevard ist immer ziemlich -leer, jetzt aber in der zweiten Nachmittagsstunde und bei dieser Hitze -war fast niemand zu sehen. Nur etwa fünfzehn Schritte weiter, am Ende -des Boulevards war seitwärts ein Herr stehengeblieben, der allem -Anscheine nach die größte Lust hatte, an das junge Mädchen mit gewissen -Absichten heranzutreten. Er hatte sie wahrscheinlich von weitem erblickt -und war ihr nachgeeilt, Raskolnikoff aber hatte seinen Weg gekreuzt. Er -warf ihm feindliche Blicke zu, die unbemerkt bleiben sollten und wartete -voll Ungeduld, bis der Lump fortgegangen wäre, und er zu seinem Rechte -käme. Die Sache war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, kräftig, -wohlgenährt, mit roten Lippen und kleinem Schnurrbart, und sehr elegant -gekleidet. Raskolnikoff ärgerte sich über ihn; er bekam plötzlich Lust, -diesen gutgenährten Gecken in irgendeiner Weise zu beleidigen. So -verließ er das junge Mädchen und trat an den Herrn heran. - -»He, Sie Sswidrigailoff! Was suchen Sie hier?« rief er ihm zu, ballte -die Fäuste und lachte mit vor Wut bleichen Lippen. - -»Was soll das heißen?« fragte der Herr streng, zog die Augenbrauen -zusammen und maß ihn mit einem hochmütigen Blick. - -»Sie sollen sich packen, heißt das!« - -»Wie wagst du, Kanaille! ...« - -Und er erhob sein Stöckchen. Raskolnikoff stürzte sich mit geballten -Fäusten auf ihn, vollständig vergessend, daß der kräftige Herr mit ein -_paar_ solchen, wie er, fertig würde. In diesem Augenblicke aber packte -ihn jemand von hinten, und zwischen beide trat ein Schutzmann. - -»Ich bitte, meine Herren, sich nicht an öffentlichen Plätzen zu prügeln. -Was wünschen Sie? Wer bist du?« wandte er sich streng an Raskolnikoff, -nachdem er dessen Lumpen erblickt hatte. - -Raskolnikoff sah ihn aufmerksam an. Es war ein braves Soldatengesicht -mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem verständigen Blick. - -»Sie brauche ich gerade,« rief er aus und faßte ihn bei der Hand. »Ich -bin der ehemalige Student Raskolnikoff ... Das können auch Sie -erfahren!« wandte er sich an den Herrn. »Kommen Sie bitte mit, ich will -Ihnen etwas zeigen ...« - -Er nahm den Schutzmann bei der Hand und führte ihn zu der Bank. - -»Sehen Sie, sie ist ganz betrunken, soeben kam sie von dem Boulevard -her. Wer weiß, wer sie ist, aber sie sieht nicht aus, wie eine -gewerbsmäßige. Es ist wahrscheinlicher, daß man sie irgendwo betrunken -gemacht und verführt hat ... zum erstenmal ... verstehen Sie ... und hat -sie dann auf die Straße gebracht. Sehen Sie, wie das Kleid zerrissen -ist, sehen Sie, wie es angezogen ist, -- man hat sie angekleidet, nicht -sie selber, und ungeschickte Hände, Männerhände haben sie angekleidet. -Das sieht man doch. Sehen Sie aber bitte dorthin, -- diesen Geck, mit -dem ich mich soeben beinahe geprügelt hätte, kenne ich nicht, ich sehe -ihn zum erstenmal. Er hat sie auch auf der Straße bemerkt, hat gesehen, -daß sie betrunken, besinnungslos betrunken ist, und nun möchte er -furchtbar gern an sie herankommen, und sie abfangen, und sie in diesem -Zustande irgendwo hinschleppen ... Es ist sicher so, glauben Sie mir, -ich irre mich nicht. Ich habe gesehen, wie er sie beobachtet und -verfolgt hat, ich habe ihn bloß daran gehindert, und er wartet nun, bis -ich weggehe. Sehen Sie, er ist jetzt ein paar Schritte weitergegangen -und bleibt stehen, als drehe er sich eine Zigarette ... Wie können wir -sie ihm entreißen? Wie können wir sie nach Hause schaffen, -- denken Sie -doch darüber nach!« - -Der Schutzmann hatte im Nu alles verstanden und begriffen. Die Absichten -des kräftigen Herrn waren ihm klar, mit dem jungen Mädchen aber mußte -etwas geschehen. Der Veteran beugte sich über sie, um sie näher zu -betrachten und ein aufrichtiges Mitleid drückte sich in seinen Zügen -aus. - -»Ach, wie schade!« sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie ist ja noch -ein Kind. Man hat sie verführt, das ist sicher. Hören Sie, mein -Fräulein,« begann er sie zu rufen. »Wo wohnen Sie?« - -Das junge Mädchen öffnete die müden, schläfrigen Augen, blickte stumpf -den Fragenden an und machte eine abwehrende Handbewegung. - -»Hören Sie,« sagte Raskolnikoff. »Hier haben Sie,« er suchte in der -Tasche und zog zwanzig Kopeken hervor, die er noch fand, »hier haben Sie -zu einer Droschke, und lassen Sie sie durch einen Kutscher nach Hause -bringen. Wenn wir bloß Ihre Wohnung erfahren könnten.« - -»Fräulein, hören Sie, Fräulein!« begann von neuem der Schutzmann, -nachdem er das Geldstück in Empfang genommen hatte. »Ich will Ihnen -sofort eine Droschke besorgen und will Sie selbst begleiten. Wohin -befehlen Sie? Ah? Wo wohnen Sie?« - -»Geht fort! ... Laßt mich in Ruhe! ...« murmelte das Mädchen und wehrte -von neuem mit der Hand ab. - -»Ach, wie schlecht! Ach, welch eine Schande, Fräulein, welch eine -Schande!« sagte der Schutzmann und schüttelte mit dem Kopfe, in -Entrüstung und Mitleid. »Das ist eine Aufgabe!« wandte er sich an -Raskolnikoff und sah ihn wieder flüchtig von Kopf bis zu Füßen an. -Wahrscheinlich erschien er ihm merkwürdig, -- ein Mensch in solchen -Lumpen, der Geld hergab. - -»Haben Sie sie weit von hier gefunden?« fragte er ihn. - -»Ich sagte Ihnen -- sie ging mit wankenden Schritten vor mir, hier, auf -dem Boulevard. Als sie zu der Bank kam, fiel sie sofort hin.« - -»Ach, welch eine Schande jetzt in der Welt herrscht, Herrgott! So -blutjung und schon betrunken! Man hat sie verführt, das ist sicher. Auch -das Kleidchen ist zerrissen ... Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt -um sich greift ... Ja, sie wird wahrscheinlich eine Adlige sein, von den -armen ... Jetzt gibt es viele solche. Dem Aussehen nach ist sie von den -zarten, ganz wie ein Fräulein ...« und er beugte sich wieder über sie. - -Vielleicht wuchsen bei ihm zu Hause auch solche Töchter heran, »ganz wie -Fräuleins und von den zarten,« mit Gewohnheiten der Feinerzogenen und -mit angenommener Modesucht ... - -»Die Hauptsache ist,« sagte Raskolnikoff, »daß dieser Schuft sie nicht -bekommt! Warum soll er sie noch schänden! Man sieht ja, was er will, -sehen Sie, der Schuft, er geht nicht weg.« - -Raskolnikoff sprach laut und zeigte mit der Hand auf ihn. Jener hörte es -und wollte wieder böse werden, aber besann sich und begnügte sich mit -einem verächtlichen Blick. Dann ging er langsam zehn Schritt weiter und -blieb wieder stehen. - -»Das kann man verhindern, daß er sie bekommt,« antwortete der Schutzmann -in Gedanken. »Wenn sie bloß sagen würde, wohin man sie bringen soll, so -aber ... Fräulein, hören Sie, Fräulein!« er beugte sich zu ihr. - -Sie öffnete plötzlich die Augen, blickte aufmerksam die beiden an, als -hätte sie etwas verstanden, stand von der Bank auf und ging in dieselbe -Richtung zurück, woher sie gekommen war. - -»Pfui, schämt euch, könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen!« sagte sie und -wehrte wieder mit der Hand ab. - -Sie ging schnell, aber auch, wie früher, stark schwankend. - -Der feine Herr ging ihr nach, aber in einer anderen Allee, und verlor -sie nicht aus den Augen. - -»Haben Sie keine Sorge, ich will schon aufpassen!« sagte entschlossen -der bärtige Schutzmann und folgte dem Mädchen. - -»Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt um sich greift!« wiederholte er -laut und seufzte. - -Plötzlich schien Raskolnikoff mit einem Schlage wie verwandelt. - -»Hören Sie mal!« rief er dem Schutzmann nach. Der wandte sich um. - -»Lassen Sie es. Was geht es Sie an? Lassen Sie es. Möge er sich -amüsieren« (er zeigte auf den Stutzer). »Was geht es Sie an?« - -Der Schutzmann begriff ihn nicht und starrte ihn an. Raskolnikoff lachte -auf. - -»Na nu!« sagte der Schutzmann, machte eine abwehrende Handbewegung und -ging dem Stutzer und dem jungen Mädchen nach; wahrscheinlich hielt er -Raskolnikoff entweder für einen Verrückten oder für etwas Schlimmeres. - -»Meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen!« sagte Raskolnikoff wütend, -als er allein zurückgeblieben war. »Nun, mag er auch von dem, von dem -andern nehmen und das Mädchen mit ihm gehen lassen, damit wird es auch -enden ... Und wozu habe ich mich hineingemischt? Um zu helfen? Steht es -mir denn zu, jemand zu helfen? Habe ich denn ein Recht dazu? Mögen sie -doch einander lebendig auffressen, -- was geht es mich an? Und wie -durfte ich diese zwanzig Kopeken fortgeben? Gehören sie denn mir?« - -Bei diesen sonderbaren Worten wurde es ihm schwer zumute. Er setzte sich -auf die nun leere Bank. Seine Gedanken waren verwirrt ... Und es war ihm -kaum möglich, in diesem Augenblicke einen Gedanken zu fassen. Er wollte -sich vollkommen vergessen, alles vergessen, dann erwachen und ganz von -neuem beginnen ... - -»Armes Mädchen!« sagte er, nachdem er die leere Ecke der Bank erblickte. -»Sie wird zu sich kommen, wird weinen, und dann erfährt es die Mutter -... Zuerst wird sie sie schlagen, ihr die Rute geben, schmerzhaft und -schmachvoll, vielleicht wird sie sie aus dem Hause jagen ... Und wenn -sie sie nicht verjagt, werden es doch allerhand Darjas Franzowna -erfahren, und das Mädchen wird aus einer Hand in die andere gehen ... -Dann folgt das Krankenhaus -- und das passiert stets mit denen, die bei -sehr ehrenwerten Müttern leben und im geheimen lose Streiche verüben, -- -nun, und dann ... folgt wieder das Krankenhaus ... Wein ... Kneipen ... -und dann nochmals das Krankenhaus ... und in zwei oder drei Jahren ist -sie ein Krüppel, und im ganzen hat sie ein Alter von neunzehn oder auch -bloß achtzehn Jahren erreicht ... Habe ich denn nicht genug solche -gesehen? Wie sind sie aber so geworden? So und nicht anders sind sie es -geworden ... Pfui! Mögen Sie es! Man sagt, es muß so sein. Jedes Jahr, -sagt man, muß ein gewisser Prozentsatz draufgehen ... irgendwohin ... -wahrscheinlich zum Teufel, um die übrigen zu erfrischen und ihnen nicht -hinderlich zu sein. Prozentsatz! Die Menschen haben in der Tat herrliche -Worte gefunden, -- sie sind so beruhigend und wissenschaftlich noch -dazu. Es ist gesagt -- ein Prozentsatz muß sein, also kein Anlaß, um -sich zu beunruhigen. Ja, hätte man ein anderes Wort dafür, nun dann ... -würde es vielleicht beunruhigender sein ... Was aber, wenn auch -Dunetschka in irgendeiner Weise in diesen Prozentsatz hineinkommt! ... -Und wenn nicht in diesen, dann in einen anderen! ... Aber wohin gehe ich -denn?« -- dachte er plötzlich. -- »Sonderbar. Ich ging doch aus -irgendeinem Grunde von Hause weg. Als ich den Brief gelesen hatte, ging -ich fort ... Ich ging zu Rasumichin auf Wassiljew Ostroff ... jetzt -erinnere ich mich. Aber wozu denn eigentlich? Und warum kam mir gerade -jetzt der Gedanke zu Rasumichin zu gehen? Das ist sonderbar.« - -Er wunderte sich über sich selbst. Rasumichin war einer von seinen -früheren Kommilitonen. Raskolnikoffs Eigentümlichkeit auf der -Universität war, daß er fast keine Bekannten hatte, sich von allen -zurückzog, zu niemandem hinging und ungern jemand bei sich empfing. Bald -wandte man sich auch von ihm ab. Weder an gemeinsamen Zusammenkünften, -noch an Gesprächen, noch an Zerstreuungen -- an nichts nahm er teil. Er -arbeitete sehr eifrig, ohne auf sich Rücksicht zu nehmen; man achtete -ihn deswegen, aber niemand liebte ihn. Er war sehr arm, abweisend stolz -und unmitteilsam, als ob er etwas zu verheimlichen hätte. Manchem seiner -Kommilitonen schien es, als sehe er auf sie alle, wie auf Unmündige -herab, als hätte er sie alle in der Entwicklung, im Wissen und in -Lebensanschauung überholt und als betrachte er ihre Anschauungen und -ihre Interessen wie etwas Unreifes. - -Rasumichin war er aus irgendeinem Grunde nähergekommen, das heißt, -eigentlich nicht so nähergekommen, daß er ihm gegenüber mitteilsam und -offener geworden wäre. Man konnte eben zu Rasumichin in keinem anderen -Verhältnisse stehn. Er war ein ungemein lustiger und mitteilsamer -Bursche und gut bis zur Einfalt. Unter dieser Einfalt verbargen sich -jedoch Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden wußten es, und alle -liebten ihn. Er war sehr klug, konnte aber zuweilen wirklich täppisch -sein. Sein Äußeres war charakteristisch -- hochgewachsen, hager, -schwarzhaarig und immer schlecht rasiert. Zuweilen suchte er Händel und -genoß den Ruf eines bärenstarken Menschen. Eines Nachts hatte er in -einer lustigen Gesellschaft mit einem Hiebe einen baumlangen Hüter der -Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unmenschlich, aber er konnte -auch wieder gar nicht trinken; manchmal verübte er Streiche, die ans -Unerlaubte grenzten, aber er konnte auch Ruhe halten. Rasumichin war es -auch eigen, daß ihn kein Mißerfolg verblüffte, und das Schlimmste schien -ihn nicht beugen zu können. Er vermochte es, gegebenenfalls auf einem -Dachboden zu hausen, höllischen Hunger und ungewöhnliche Kälte zu -ertragen. Er war sehr arm und verschaffte sich ganz und gar seinen -Unterhalt durch alle möglichen Arbeiten, für die er eine Unmenge Quellen -hatte. Einmal verbrachte er einen ganzen Winter im ungeheizten Zimmer -und begründete es damit, daß es sich in der Kälte besser schliefe. -Gegenwärtig war er ebenfalls gezwungen, die Universität zu verlassen, -aber nicht auf lange Zeit, und er mühte sich aus allen Kräften, seine -Verhältnisse zu verbessern, um das Studium wieder fortsetzen zu können. -Raskolnikoff war seit vier Monaten nicht bei ihm gewesen, Rasumichin -aber wußte sogar nicht dessen Wohnung. Vor zwei Monaten war er ihm -einmal zufällig auf der Straße begegnet. Raskolnikoff aber hatte sich -abgewandt und war sogar auf die andere Seite hinübergegangen, damit -Rasumichin ihn nicht sehen sollte. Rasumichin hatte ihn wohl erkannt, -ging aber ebenso vorbei, weil er _den Freund_ nicht stören wollte. - - - V. - -»Ich hatte noch vor kurzem wirklich die Absicht, Rasumichin um Arbeit zu -bitten, daß er mir Stunden oder etwas anderes verschaffen solle ...« -dachte Raskolnikoff. -- »Aber womit kann er mir jetzt helfen? Gesetzt -den Fall, er verschafft mir Stunden, ja, gesetzt den Fall, er teilt mit -mir sein letztes Gerstchen, wenn er eines hat, so daß ich mir selbst -Stiefel kaufen und meine Kleidung instand setzen kann, um Stunden zu -geben ... hm ... Aber was weiter? Was kann ich mit den paar Groschen -machen? Ist es das, was ich jetzt brauche? Es ist lächerlich, daß ich zu -Rasumichin gehe ...« - -Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehe, beunruhigte ihn mehr, als -er sich selbst eingestehen wollte, und voll Unruhe suchte er eine böse -Bedeutung in dieser anscheinend ganz gewöhnlichen Handlung. - -»Wie will ich nur die ganze Angelegenheit durch Rasumichin in Ordnung -bringen, habe ich denn als letzten Ausweg nur Rasumichin gefunden?« -fragte er verwundert sich selbst. - -Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz unerwartet, -überraschte ihn nach langem Sinnen ein neuer Gedanke. - -»Hm ... zu Rasumichin ...« sagte er auf einmal völlig ruhig, wie fest -entschlossen. »... zu Rasumichin gehe ich bestimmt ... aber nicht jetzt -... Ich will zu ihm hingehen ... am andern Tage _nach dem_ ... wenn -_das_ schon vorbei ist, und wenn ich von vorne anfange ...« - -Da kam er zu sich. - -»Nach dem,« rief er aus und sprang von der Bank auf. »Ja, wird _das_ -überhaupt geschehen? Wird es tatsächlich geschehen?« - -Er ging fort, ja er rannte beinahe fort; er wollte nach Hause -zurückkehren, doch das war ihm entsetzlich, zu Hause, -- dort in der -Ecke, zwischen den vier öden Wänden, über einen Monat schon reifte der -grausige Plan -- und er ging, wohin die Füße ihn führten. - -Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er empfand -Schüttelfrost, Frost in dieser Hitze! Fast bewußtlos, mit großer -Überwindung begann er alles, was ihm begegnete, zu betrachten, als suche -er Zerstreuung, aber das gelang ihm schlecht, er überraschte sich immer -wieder bei seinem Gespenst. Wenn er aber auffahrend wieder den Kopf -erhob und sich ringsum umblickte, vergaß er sofort, worüber er soeben -nachgedacht hatte und wo er war. In dieser Weise durchwanderte er den -ganzen Wassiljew Ostroff, kam zu der kleinen Newa hinaus, überschritt -die Brücke und wandte sich den Inseln zu. Das frische Grün und die -erquickende Luft taten seinen müden Augen wohl, die an Stadtstaub, Kalk -und an beengende und bedrückende Häuser doch gewöhnt waren. Hier gab es -weder eine dumpfe Luft, noch Gestank, noch Schenken. Doch es währte -nicht lange, und es gingen auch diese neuen angenehmen Empfindungen in -krankhafte und aufregende über. Ab und zu blieb er vor einer aus üppigem -Grün lugenden Villa stehn, blickte durch den Zaun hindurch und sah in -der Ferne auf den Balkonen und Terrassen elegante Frauen und in den -Gärten spielende Kinder. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den -Blumen, sie schaute er am längsten an. Er begegnete auch schönen Wagen, -Reitern und Amazonen, verfolgte sie voll Neugier mit den Blicken und -vergaß sie, wenn sie kaum seinen Augen entschwunden waren. Einmal blieb -er auch stehn und zählte sein Geld nach -- es waren etwa dreißig -Kopeken. - -»Zwanzig gab ich dem Schutzmann, drei für den Brief an Nastasja, also -habe ich gestern Marmeladoffs siebenundvierzig oder fünfzig Kopeken -hinterlassen,« dachte er, indem er aus irgendeinem Grund nachrechnete, -bald aber hatte er vergessen, warum er das Geld aus der Tasche -hervorgeholt hatte. - -Er erinnerte sich wieder daran, als er an einer Speiseanstalt, einer Art -Garküche, vorbeiging und fühlte, daß er Hunger hatte. Er trat ein, trank -ein Gläschen Branntwein und nahm eine Pastete, die er auf dem Wege zu -Ende aß. Er hatte sehr lange schon keinen Branntwein mehr getrunken, der -tat denn auch im Nu seine Wirkung, obwohl es nur ein einziges Gläschen -war. Seine Füße wurden schwer, und er fühlte einen starken Drang zu -schlafen. Er kehrte um, um nach Hause zu gehen, als er aber Petrowski -Ostroff schon erreicht hatte, blieb er in völliger Erschöpfung stehen, -ging abseits des Weges in ein Gebüsch, fiel aufs Gras hin und schlief im -selben Augenblick ein. In krankhaften Zuständen zeichnen sich Träume oft -durch ungewöhnliche Deutlichkeit, Klarheit und außerordentliche -Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit aus. Es erscheint zuweilen ein -seltsames Bild, die Umgebung aber und der ganze Gang der Vorstellung -sind so wahrscheinlich und mit solchen feinen unerwarteten und dem -Gesamtbilde künstlerisch entsprechenden Einzelheiten verbunden, daß -derselbe Träumer sie in Wirklichkeit nicht so ausdenken kann, mag er -auch selbst ein Künstler, wie Puschkin oder Turgenjeff sein. Solche -krankhafte Träume bleiben stets lange in der Erinnerung haften und üben -einen starken Eindruck auf den zerrütteten und angegriffenen Organismus -eines Menschen aus. Raskolnikoff hatte solch einen Traum. Er träumt sich -als Kind in der kleinen Provinzialstadt. Er ist sieben Jahre alt und -geht an einem Feiertage gegen Abend mit seinem Vater außerhalb der Stadt -spazieren. Es ist eine graue trübe Zeit, der Tag drückend, die Gegend -genau so, wie sie in seiner Erinnerung lebt; in seiner Erinnerung ist -sie ihm nicht so klar, als sie ihm jetzt im Traume erscheint. Das -Städtchen liegt vor ihm, wie ein aufgeschlagenes Buch; ringsum kein -Weidenstrauch; sehr weit, ganz am Horizonte hebt sich dunkel ein -Wäldchen ab. Einige Schritte von dem äußersten städtischen Gemüsegarten -steht eine Schenke, eine große Schenke, die auf ihn stets einen höchst -unangenehmen Eindruck machte, ihm Furcht einflößte, wenn er auf dem -Spaziergange mit dem Vater vorbeiging. Dort traf man stets eine große -Menge an; sie brüllten, lachten, schimpften, sangen so scheußlich und -heiser, und prügelten sich so oft; rings um die Schenke lungerten stets -betrunkene und schreckliche Gestalten ... Wenn er ihnen begegnete, -drückte er sich fester an den Vater und zitterte am ganzen Körper. Neben -der Schenke führte ein Weg, ein Landweg vorbei, stets mit schwarzem -Staub bedeckt. Der Weg zog sich schlängelnd weiter, und etwa nach -dreihundert Schritten bog er rechts um den städtischen Friedhof ab. -Mitten auf dem Friedhofe erhob sich eine steinerne Kirche mit grüner -Kuppel, in die er ein paarmal im Jahre mit Vater und Mutter zum -Gottesdienst ging, wenn für seine längst verstorbene Großmutter, die er -nie gesehen hatte, eine Seelenmesse abgehalten wurde. Da nahmen sie -stets »Kutje«[7] auf einem weißen Teller, in einer Serviette, mit, und -die »Kutje« war aus Zucker, Reis und Rosinen zubereitet, und die Rosinen -waren in Form eines Kreuzes in den Reis gesteckt. Er liebte diese Kirche -und die alten Heiligenbilder, die meist ohne Einfassung waren, und den -alten Priester mit dem zitternden Haupte. Neben dem Grabhügel der -Großmutter, auf dem ein Grabstein war, lag auch das kleine Grab seines -jüngsten Bruders, der sechs Monate alt gestorben war, und den er auch -nicht gekannt hatte, an dessen Dasein er sich nicht erinnern konnte. Man -hatte ihm aber erzählt, daß er einen kleinen Bruder gehabt habe, und -jedesmal, wenn er den Friedhof besuchte, bekreuzigte er sich voll -Andacht an dem kleinen Grabhügel, verneigte sich und küßte die Erde. Und -nun träumte er: er geht mit dem Vater zum Friedhof, und sie gehen an der -Schenke vorbei; er hält den Vater an der Hand und blickt voll Schrecken -zu der Schenke hin. Ein besonderer Umstand fesselt seine Aufmerksamkeit, --- diesmal scheint hier ein Volksfest zu sein, ein Haufen geputzter -Bürgerfrauen, Weiber, Männer und allerhand Gesindel steht da herum. Alle -sind betrunken, alle singen, und neben der Treppe der Schenke steht ein -Wagen -- ein seltsamer Wagen. Es ist ein großer Wagen, vor den große -Lastpferde gespannt werden, und auf dem man Waren und Weinfässer -befördert. Er liebt es, diesen ungeschlachten Gäulen mit den langen -Mähnen und den dicken Beinen zuzusehen, wie sie langsam in gleichmäßigem -Schritt dahinschreiten, einen ganzen Berg ohne die geringste Anstrengung -hinter sich herziehend, als wäre es ihnen leichter mit dem Wagen als -ohne ihn zu gehen. Jetzt aber war merkwürdigerweise vor solch einen -großen Wagen ein kleines, mageres, braunes Bauernpferd gespannt, eines -von jenen, die -- wie er es oft gesehen hatte -- sich mit hochbeladenen -Wagen voll Holz oder Heu abquälen müssen, um so mehr, wenn der Wagen im -Schmutze oder in alten Wagenspuren stecken bleibt. Dann hauen die Bauern -darauf los, peitschen sie schmerzhaft, oft auf das Maul und über die -Augen. Das tut ihm so weh, so weh anzusehen, daß ihm die Tränen kommen; -die Mutter führt ihn dann immer von dem Fenster fort. -- Plötzlich -erhebt sich ein Lärm -- aus der Schenke kommen mit Geschrei, Gesang und -mit Balalaikas[8] betrunkene, völlig betrunkene, große Bauern heraus, in -blauen und roten Hemden, mit übergeworfenen Mänteln. - -»Setzt euch, setzt euch alle!« ruft einer, ein junger Bursche mit dickem -Halse und fleischigem, dunkelrotem Gesichte. -- »Ich fahre euch alle -hin, setzt euch darauf!« Mit lautem Lachen erschollen die Ausrufe: - -»So eine Schindmähre soll uns ziehen.« - -»Bist du von Sinnen, Mikolka, -- so eine kleine Stute vor diesen Wagen -zu spannen?« - -»Das Pferdchen ist sicher seine zwanzig Jahre alt, Brüder!« - -»Setzt euch, ich fahre euch alle zusammen!« ruft von neuem Mikolka, -springt als erster auf den Wagen, ergreift die Zügel und pflanzt sich in -seiner ganzen Größe vorne auf dem Wagen auf. »Mit dem Braunen ist Matwei -vorhin losgezogen,« schreit er vom Wagen. »Diese Mähre treibt mir bloß -die Galle ins Blut, ich möchte sie totschlagen, frißt umsonst den Hafer. -Ich sage -- setzt euch! Ich lasse sie im Galopp laufen! Sie muß Galopp -laufen!« Und er nimmt die Peitsche in die Hand und bereitet sich voll -Wonne vor, das Pferd zu schlagen. - -»Setzt euch doch!« ruft man lachend in der Menge. »Hört doch, sie wird -im Galopp laufen.« - -»Sie ist wahrscheinlich schon zehn Jahre nicht mehr im Galopp gelaufen.« - -»Sie wird schön springen!« - -»Keine Angst, Brüder, nehmt jeder eine Peitsche, und drauf los!« - -»Was ist da zu schonen! Schlagt los!« - -Alle springen mit Gelächter und Witzen in den Wagen. Sechs Mann sind -hereingekrochen, und noch ist Platz. Sie nehmen ein dickes und -rotbäckiges Weib noch hinauf, ein Weib in einem Kleide von rotem Kattun, -mit einem Kopfputze aus Glasperlen, an den Füßen lederne Bauernschuhe; -sie knackt Nüsse und lacht. Ringsum in der Menge lacht man auch, und in -der Tat, warum soll man auch nicht lachen, -- so eine abgemagerte Mähre -soll solch eine Last im Galopp ziehen! Zwei Burschen im Wagen nehmen je -eine Peitsche, um Mikolka zu helfen. »Los!« ruft er, die Mähre zieht aus -Leibeskräften an; vom im Trabe laufen kann nicht die Rede sein, sie kann -nicht mal im Schritt losgehen, sie trippelt bloß auf einem Fleck, stöhnt -und keucht unter den Hieben der drei Peitschen, die auf sie wie Hagel -niederprasseln. Das Gelächter auf dem Wagen und in der Menge wird -stärker, Mikolka aber wird wütend und peitscht immer heftiger, als -glaube er wirklich, sie zum Galopp treiben zu können. - -»Nehmt mich auch mit, Brüder!« ruft ein Bursche aus der Menge, der Lust -bekommen hatte, mitzufahren. - -»Setzt euch! Setzt euch alle hinein!« schreit Mikolka. »Sie wird alle -ziehen. Ich peitsche sie zu Tode!« Und er schlägt los, schlägt das Pferd -in einem fort und weiß vor Raserei nicht, womit er es noch schlagen -soll. - -»Papa, lieber Papa!« ruft der Knabe dem Vater zu. -- - -»Papa, was tun sie? Papa, sie schlagen das arme kleine Pferd!« - -»Komm, laß uns gehen!« sagte der Vater. »Betrunkene Dummköpfe treiben -ihren Unfug; laß uns gehen, sieh nicht hin!« und er will ihn fortführen, -der Knabe aber reißt sich los und läuft zu dem Pferde hin. Dem aber geht -es schon schlecht. Es schnappt nach Luft, steht still, zieht von neuem -an und fällt beinahe hin. - -»Peitscht es zu Tode!« schreit Mikolka. »Mag es kaput gehen. Ich -peitsche es zu Tode!« - -»Bist du kein Christ, du Scheusal?« ruft ein alter Mann aus der Menge. - -»Hat man es je erlebt, daß so ein Pferd diese Last ziehen soll,« fügte -ein anderer hinzu. - -»Du quälst es zuschanden!« ruft ein dritter. - -»Schweigt still! Es ist mein Eigentum. Ich kann damit tun, was ich will. -Setzt euch noch dazu in den Wagen! Setzt euch alle hinein! Ich will, daß -es im Galopp läuft! ...« - -Ein lautes Lachen übertönte plötzlich alles, -- die Mähre wollte sich -der scharfen Schläge erwehren und begann in ihrer Bedrängnis -auszuschlagen. Sogar der alte Mann mußte lächeln. Es war auch ein zu -komisches Bild, -- so eine abgebrauchte Mähre schlägt plötzlich aus. -Zwei Burschen aus der Menge verschaffen sich Peitschen und springen -herzu, um das Pferd von zwei Seiten zu schlagen. - -»Schlagt sie auf das Maul, peitscht sie über die Augen, über die Augen!« -schreit Mikolka. - -»Brüder, wollen wir ein Lied singen!« ruft jemand vom Wagen, und alle -darinnen folgten sogleich der Aufforderung. Ein ausgelassenes Lied -erschallt, ein Tamburin rasselt, der Refrain wird gepfiffen. Das Weib -knackt Nüsse und lacht vergnügt. - -... Er läuft neben dem Pferde, er eilt nach vorne, er sieht, wie man es -über die Augen schlägt, direkt über die Augen! Er weint. Sein Herz -krampft sich zusammen, die Tränen fließen. Einer von den Peitschenden -fährt ihm ins Gesicht; er fühlt es nicht, er ringt die Hände, schreit -auf, stürzt zu dem alten Manne mit dem grauen Barte hin, der seinen Kopf -schüttelt und das mißbilligt. Ein Weib packt seine Hand und will ihn -fortführen, er reißt sich los und läuft wieder zu dem Pferde hin. Es hat -keine Kraft mehr, noch einmal schlägt es aus. - -»Hol dich der Teufel!« schreit Mikolka wütend. Er wirft die Peitsche von -sich, bückt sich und zieht vom Boden des Wagens eine lange und dicke -Deichselstange hervor, ergreift sie mit beiden Händen und schwingt sie -mit gewaltiger Anstrengung auf das Pferd nieder. - -»Er schlägt das Pferd tot!« schreit einer. - -»Er zerschmettert es!« - -»Es ist mein Eigentum!« brüllt Mikolka und läßt die Stange mit voller -Wucht niedersausen. - -Ein dumpfer Schlag. - -»Haut es mit der Peitsche! Warum steht ihr da!« ruft man aus der Menge. - -Mikolka holt zum zweiten Male aus, und ein neuer Schlag saust auf den -Rücken der unglücklichen Mähre nieder. Sie fällt beinahe auf die -Hinterbeine, springt aber auf und ruckt und ruckt aus letzter Kraft hin -und her, um den Wagen von der Stelle zu bringen; von allen Seiten -empfängt sie Peitschenhiebe, die Deichselstange erhebt sich von neuem -und saust zum dritten und vierten Male nieder. Mikolka ist wütend, daß -er das Pferd nicht mit einem Schlage töten kann. - -»Es ist zäh!« ruft man ringsum. - -»Es fällt gleich hin, Brüder, nun geht es mit ihm zu Ende!« schreit -jemand aus der Menge. - -»Ist es nicht besser, mit einem Beile es totzuschlagen? Macht doch ein -Ende!« ruft ein anderer. - -»Zum Teufel mit dir! Geht alle aus dem Wege!« brüllt Mikolka, wirft die -Deichsel fort, bückt sich von neuem und holt eine Eisenstange hervor. -»Nehmt euch in acht!« ruft er und läßt sie mit voller Kraft auf das arme -Pferd niedersausen. Dieser Schlag traf; das Pferd taumelte, krümmte sich -und wollte ziehen, aber die Eisenstange sauste wieder auf seinen Rücken -herab, und das Pferd stürzte zu Boden, als wären ihm alle vier Beine mit -einemmal abgeschlagen. - -»Schlagt zu!« schreit Mikolka und springt wie toll vom Wagen herab. -Einige Burschen, ebenso rot im Gesichte wie er und betrunken, ergreifen, -was ihnen in die Hände kommt -- mit Peitschen, Stöcken, der -Deichselstange laufen sie zu dem verendenden Pferde. Mikolka stellt sich -auf der einen Seite hin und fängt an, sinnlos mit der Eisenstange auf -seinen Leib zu schlagen. Die Mähre streckt den Kopf, holt schwer Atem -und verendet. »Nun hast du ihm den Garaus gemacht!« ruft man aus der -Menge. - -»Warum lief es nicht im Galopp!« - -»Es ist mein Eigentum!« schreit Mikolka mit blutunterlaufenen Augen und -hält die Eisenstange noch in den Händen. Er steht da, als täte es ihm -leid, daß er niemanden mehr habe, den er niederschlagen könnte. - -»Du bist wirklich kein Christ!« rufen einige Stimmen aus der Menge. - -Der arme Knabe aber ist außer sich. Mit einem Schrei durchbricht er die -Menge, läuft auf das Pferd zu, umarmt den blutüberströmten toten Kopf -und küßt ihn; er küßt die Augen, die Lefzen ... Dann springt er auf und -stürzt sich voller Wut mit seinen kleinen Fäustchen auf Mikolka. In -diesem Augenblick erwischt ihn der Vater, der ihm nachgelaufen war, und -trägt ihn fort. - -»Gehen wir! Gehen wir!« sagt der Vater zu ihm. »Gehen wir nach Hause!« - -»Papa, lieber Papa! Warum haben sie ... das kleine Pferd ... -erschlagen!« schluchzte er, sein Atem stockt und die Worte kommen wie -Schmerzensschreie aus seiner gepreßten Brust. - -»Sie sind betrunken ... versündigen sich, uns geht es nichts an ... -gehen wir!« sagt der Vater. Er aber umfaßt den Vater mit beiden Händen, -es schnürt ihm die Kehle zu. Er will Atem holen, schreien und -- er -erwacht. Er erwachte ganz mit Schweiß bedeckt, mit feuchten Haaren, -schwer atmend, und erhob sich zitternd. - -»Gottlob, es war nur ein Traum!« sagte er, setzte sich unter den Baum -und seufzte tief auf. »Aber was ist mit mir? Fange ich an zu fiebern, -- -so ein gräßlicher Traum!« - -Sein ganzer Körper war wie zerschlagen, und in seiner Seele war es -dunkel und trübe. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und hielt sich -mit beiden Händen den Kopf. - -»Mein Gott,« rief er aus. »Werde ich denn, werde ich wirklich ein Beil -nehmen, werde es ihr auf den Kopf schlagen, das Gehirn ihr zerschmettern -... in klebrig warmem Blute tasten, das Schloß aufbrechen, stehlen und -zittern, mich verstecken, ganz mit Blut bedeckt ... mit einem Beile ... -Oh, Gott, werde ich es denn tun?« - -Es durchschauerte ihn am ganzen Körper, als er das aussprach. »Ja, was -ist denn mit mir?« fuhr er fort, sich aufraffend und mit tiefem Staunen. -»Ich weiß doch, daß ich es nicht ertragen kann, warum habe ich mich denn -bis jetzt gequält? Gestern, gestern schon, als ich hinging, diesen ... -Versuch zu machen, gestern begriff ich vollkommen, daß ich es nicht zu -tun vermöge ... Was will ich denn jetzt noch? Warum hatte ich bis jetzt -noch Zweifel? Ich sagte mir schon gestern, als ich die Treppe -hinunterging, daß es gemein, niedrig, schuftig sei ... mir wurde ja beim -bloßen Gedanken übel und ein kalter Schauer ging mir durch alle Glieder -... Nein, ich werde es nicht aushalten, werde es nicht aushalten! Mag es -auch keinen einzigen Fehler in diesen Berechnungen geben, mag all das, -was in diesem Monat beschlossen wurde, klar wie der Tag, und richtig wie -eine mathematische Formel sein. Herrgott! Ich kann mich nicht dazu -entschließen! Ich werde es ja nicht aushalten, nicht aushalten! Was ist -denn mit mir immer noch, was denn?« - -Er stand auf, sah sich verwirrt um, als sei er erstaunt, daß er hierher -gekommen war, und ging zu der T.-W.-Brücke. Er war bleich, die Augen -brannten, in seinen Gliedern lag tiefste Ermattung, plötzlich aber -konnte er leichter atmen. Er fühlte, daß er diese furchtbare Last, die -ihn solange bedrückt hatte, abgeworfen habe, und in seiner Seele wurde -es mit einem Male leicht und frei. - -»Oh Gott!« flehte er. »Zeig mir meinen Weg, und ich sage mich los von -diesem verfluchten Trugbild!« Als er über die Brücke ging, blickte er -still und ruhig auf die Newa und auf die untergehende grellrote Sonne. -Trotz seiner Schwäche empfand er keine Müdigkeit. Es war, als sei das -Geschwür an seinem Herzen, das den ganzen Monat heranreifte, plötzlich -aufgegangen. Freiheit! Freiheit! Er ist jetzt von dieser Verzauberung, -von dieser Hexerei, von diesem Reiz, von dieser Versuchung befreit! - -Später, als er an diese Zeit und all das dachte, was mit ihm in diesen -Tagen, Minute für Minute, Punkt für Punkt, Strich für Strich vorgegangen -war, setzte ihn fast bis zum Aberglauben ein Umstand stets in Erstaunen, -der im Grunde genommen nicht besonders ungewöhnlich war, der ihm aber -später wie die Fügung seines Schicksals erschien. Und zwar, -- er konnte -es gar nicht verstehen und erklären, warum er, ermüdet und abgespannt, -statt auf dem kürzesten und geradesten Weg nach Hause zu gehen, -plötzlich über den Heumarkt, den zu durchqueren für ihn ganz überflüssig -war, nach Hause zurückkehrte. Es war kein bedeutender Umweg, aber doch -ein augenscheinlich und eben völlig überflüssiger. Gewiß, er war -Dutzende von Malen nach Hause zurückgekehrt, ohne sich der Straßen zu -erinnern, durch die er gewandert war. Warum aber, fragte er sich immer, -warum passierte so eine wichtige, so eine entscheidende und gleichzeitig -so eine höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte -- über den zu -gehen er gar keine Veranlassung hatte -- gerade zu der Stunde, in dem -Augenblicke seines Lebens, in solch einer Seelenstimmung und unter -solchen Umständen, unter denen diese Begegnung auch die entscheidenste -und endgültigste Wirkung auf sein ganzes Schicksal ausüben mußte? Als -hätte es auf ihn hier absichtlich gelauert! -- Es war gegen neun Uhr, -als er über den Heumarkt ging. Alle Verkäufer an den Tischen, in den -Läden und Buden schlossen ihre Geschäfte oder kramten ihre Waren -zusammen, packten sie ein und waren ebenso, wie ihre Käufer, auf dem -Wege nach Hause. Bei den Garküchen, in den Kellern, in den schmutzigen -und stinkenden Höfen der Häuser am Heumarkte, besonders aber bei den -Schenken drängte sich eine Menge allerhand Händler und verlumpter -Gestalten. Raskolnikoff liebte diese Gegend, ebenso auch alle -umliegenden Gassen, ganz besonders aber, wenn er ohne ein bestimmtes -Ziel bummeln ging. Hier erregten seine Lumpen keine hochmütige -Aufmerksamkeit, hier konnte man gekleidet gehen, wie man wollte, ohne -sich zu blamieren. An der Ecke der K.schen Gasse handelte ein -Kleinbürger mit seiner Frau an zwei Tischen mit allerhand Waren, -- -Zwirn, Bändern, Kattuntüchern und dergleichen mehr. Sie waren auch beim -Aufbruch, wurden aber durch ein Gespräch mit einer Bekannten -aufgehalten. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna oder einfacher -Lisaweta, wie sie allgemein genannt wurde, die jüngere Schwester -derselben Alten, Aljona Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators, -der Wucherin, bei der Raskolnikoff gestern gewesen war, um seine Uhr zu -versetzen und seine _Probe_ zu machen ... Er wußte längst alles über -diese Lisaweta, und sie kannte ihn auch ein wenig. Sie war ein -hochgewachsenes, plumpes, zaghaftes und stilles Mädchen, fast eine -Idiotin, fünfunddreißig Jahre alt, die bei ihrer Schwester lediglich die -Dienstmagd war, für sie Tag und Nacht arbeitete, vor ihr zitterte und -sogar von ihr Schläge bekam. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel vor -dem Händler und seiner Frau und hörte ihnen aufmerksam zu. Die redeten -mit besonderem Eifer auf sie ein. Als Raskolnikoff sie unvermutet -erblickte, überkam ihn eine eigentümliche Empfindung, die einer sehr -starken Verwunderung glich, obwohl diese Begegnung nichts -Verwunderliches an sich hatte. - -»Sie wollen einmal selbst entscheiden, Lisaweta Iwanowna,« sagte der -Händler laut. »Kommen Sie morgen so gegen sieben Uhr. Die werden auch -herkommen.« - -»Mor--gen?« sagte Lisaweta gedehnt und nachdenklich, als ob sie sich -nicht entschließen könne. - -»Aljona Iwanowna hat Ihnen viel zu viel Furcht eingejagt!« sagte die -Frau des Händlers, ein flinkes Weib. »Sie sind ganz wie ein Kind. Und -dabei ist sie nicht mal Ihre leibliche, sondern Ihre Stiefschwester und -hat doch solch eine große Macht über Sie!« - -»Sie sollten Aljona Iwanowna nichts davon erzählen,« unterbrach der -Mann, »ich gebe Ihnen den Rat, und Sie kommen zu uns ohne Erlaubnis. Es -ist ein vorteilhaftes Geschäft. Ihre Schwester wird es später selbst -einsehen.« - -»Soll ich kommen?« - -»Morgen, um sieben Uhr, auch von denen kommt jemand her. Dann können Sie -selbst entscheiden.« - -»Wir stellen den Samowar auf und machen Tee,« fügte die Frau hinzu. - -»Gut, ich will kommen,« antwortete Lisaweta, immer noch in Nachdenken -versunken, und ging langsam weiter. - -Raskolnikoff war schon vorüber und hörte nichts mehr. Er war langsam -gegangen, unbemerkt, und bestrebt, kein Wort vom Gespräche zu verlieren. -Seine Verwunderung verwandelte sich allmählich in Schrecken, als wäre -ihm etwas Kaltes über den Rücken gelaufen. Er hatte erfahren, vollkommen -unerwartet hatte er erfahren, daß morgen abend punkt sieben Uhr -Lisaweta, die Schwester der Alten und ihre einzige Mitbewohnerin, nicht -zu Hause sein werde, und daß also die Alte Punkt sieben Uhr _ganz allein -zu Hause war_. - -Bis zu seiner Wohnung waren es bloß einige Schritte. Er ging, wie ein -zum Tode Verurteilter. Er dachte an nichts und konnte auch an gar nichts -denken, aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er plötzlich, daß er weder -die Freiheit der Erwägung noch einen Willen besitze, und daß alles mit -einem Male endgültig entschieden sei. - -Es war sicher, daß er, selbst bei jahrelangem Warten auf solch einen -günstigen Zufall, sicher nicht auf einen deutlicheren Wink für den -Erfolg rechnen konnte, als der war, der sich ihm jetzt urplötzlich bot. -In jedem Falle würde es schwer sein, am Abend vorher und sicher, mit -größter Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliches Ausfragen -und Untersuchen, zu erfahren, daß am anderen Tage um die und die Stunde -die Alte, auf die man einen Anschlag vorbereitet, ganz allein zu Hause -sein werde. - - - VI. - -Später erfuhr Raskolnikoff ganz zufällig, warum der Händler und dessen -Frau Lisaweta zu sich eingeladen hatten. Es handelte sich um eine rein -alltägliche Sache und enthielt gar nichts Besonderes. Eine zugereiste, -verarmte Familie wollte ihre Sachen, Kleider und ähnliches verkaufen. Da -es unvorteilhaft war, auf dem Markte zu verkaufen, suchte man unter der -Hand eine Händlerin; Lisaweta nun befaßte sich mit dergleichen, -- sie -übernahm Aufträge, besorgte allerhand Gänge und hatte eine recht -ansehnliche Praxis, weil sie sehr ehrlich war und immer den äußersten -Preis bot, -- und bei dem Preis, den sie nannte, blieb sie stets. Sie -redete überhaupt wenig und war, wie gesagt, still und verschüchtert ... - -Raskolnikoff war in der letzten Zeit abergläubisch geworden. Und Spuren -dieses Aberglaubens blieben in ihm noch für lange hinaus untilgbar -haften. Und er war später stets geneigt, in dieser ganzen Angelegenheit -eine gewisse Bestimmung, eine geheimnisvolle Fügung, wie die Existenz -besonderer Einflüsse und Zufälle, zu sehen. Noch im Winter hatte ihm -sein Bekannter, ein Student, Pokoreff, bei seiner Abreise nach Charkoff -beiläufig im Gespräche die Adresse der Alten, Aljona Iwanowna, -mitgeteilt, für den Fall, daß er einmal etwas versetzen möchte. Er ging -lange nicht zu ihr, da er Stunden gab und sich damit einigermaßen -durchschlug. Vor anderthalb Monaten erinnerte er sich der Adresse; er -hatte zwei Sachen, die zum Versetzen taugten, -- eine alte silberne Uhr -von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten -Steinchen, den seine Schwester ihm beim Abschied als Andenken geschenkt -hatte. Er beschloß den Ring hinzubringen; nachdem er die Alte gefunden -hatte, empfand er vom ersten Augenblick an, ohne von ihr etwas Näheres -zu wissen, einen unwiderstehlichen Widerwillen gegen sie; er nahm von -ihr zwei »Scheinchen« und ging auf dem Rückwege in ein schlechtes -Wirtshaus. Da bestellte er Tee, setzte sich hin und verfiel in ein -tiefes Nachdenken. Ein unheimlicher Gedanke löste sich in seinem Kopfe -aus, wie ein Küchlein aus den Eierschalen, und nahm Besitz von ihm. - -An einem anderen Tische, fast neben ihm, saß ein Student, den er nicht -kannte, und dessen er sich nicht erinnerte, und ein junger Offizier. Sie -hatten eine Partie Billard gespielt und tranken nun Tee. Da hörte -Raskolnikoff, wie der Student dem Offiziere von einer Wucherin Aljona -Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators, erzählte und ihm ihre -Wohnung nannte. Das berührte Raskolnikoff seltsam, -- er kommt soeben -von dort und hier unterhält man sich von ihr. Gewiß, es ist ein Zufall, -aber er kann sich gerade jetzt nicht von einem äußerst ungewöhnlichen -Gefühl losmachen, ihm ist es, als wolle ihm jemand dazu behilflich sein, --- der Student erzählte allerhand Einzelheiten von dieser Aljona -Iwanowna. »Sie ist ausgezeichnet,« sagte er, »man kann bei ihr stets -Geld erhalten. Sie ist reich wie ein Jude, kann auf einmal fünftausend -geben, geniert sich aber auch nicht, ein Pfand von einem Rubel -anzunehmen. Viele von meinen Bekannten waren bei ihr. Aber sie ist ein -Scheusal ...« - -Und er erzählte, wie böse und launisch sie sei, und daß das Pfand -verfallen sei, wenn man den Termin bloß um einen Tag versäume. Sie gibt -den vierten Teil des Wertes, nimmt fünf und sogar sieben Prozent pro -Monat und dergleichen mehr. Der Student kam ins Plaudern und teilte -unter anderem auch mit, daß die Alte eine Schwester Lisaweta habe, die -sie, so klein und unansehnlich sie selbst sei, alle Augenblicke schlage -und in völliger Bevormundung wie ein kleines Kind halte, trotzdem -Lisaweta mindestens dreimal größer und stärker sei ... - -»Ja, sie ist eine Zierde ihres Geschlechts!« rief der Student aus und -lachte laut. - -Er fing an von Lisaweta zu erzählen; erzählte mit augenscheinlichem -Genuß und lachte dabei fortwährend; der Offizier hörte mit großem -Interesse zu und bat den Studenten, ihm die Lisaweta zu schicken, um -seine Wäsche auszubessern. Raskolnikoff verlor kein einziges Wort von -der Unterhaltung und erfuhr somit alles, -- Lisaweta war die jüngere -Stiefschwester der Alten -- von anderer Mutter -- und war schon -fünfunddreißig Jahre alt. Sie arbeitete Tag und Nacht für die Schwester, -ersetzte die Köchin und Wäscherin, nähte außerdem um Lohn, ging -außerhalb des Hauses Dielen scheuern und gab jeden Verdienst der -Schwester ab. Keine einzige Bestellung und keine Arbeit wagte sie ohne -die Erlaubnis der Alten zu übernehmen. Diese hatte bereits ihr Testament -gemacht, was Lisaweta bekannt war, hatte ihr keinen Groschen Geld, -sondern nur die bewegliche Habe, wie Stühle und ähnliches vermacht; das -ganze Geld war für ein Kloster in dem N.schen Gouvernement zu ewigen -Seelenmessen bestimmt. Lisaweta war Kleinbürgerin, nicht aus dem -Beamtenstande, unverheiratet, ungewöhnlich plump gebaut, übergroß, mit -breiten Füßen, hatte immer schiefgetretene Schuhe, war aber sonst -reinlich gekleidet. Was aber den Studenten am meisten belustigte, war, -daß Lisaweta alljährlich schwanger war ... - -»Du sagst doch, sie sei häßlich!« bemerkte der Offizier. - -»Ja, sie hat eine dunkle Gesichtsfarbe, wie ein Soldat, ist aber sonst, -weißt du, nicht häßlich. Sie hat so ein gutes Gesicht und gute Augen, -sehr gute Augen; Grund genug, daß sie vielen gefällt. Sie ist still, -sanft und anspruchslos, zu allem bereit. Ihr Lachen ist sogar -einnehmend.« - -»Sie scheint dir zu gefallen!« lachte der Offizier. - -»Ja, ihrer Eigentümlichkeit wegen. Doch, was ich dir sagen wollte. Ich -könnte diese verfluchte Alte ermorden und berauben, und, glaube mir, ich -täte es ohne Gewissensbisse,« fügte der Student eifrig hinzu. - -Der Offizier lachte wieder auf, Raskolnikoff aber fuhr zusammen. Wie -seltsam dies alles war! - -»Erlaube mal, ich will dir eine ernste Frage vorlegen,« sagte der -Student voll Eifer. »Ich habe mir soeben einen Scherz erlaubt, aber sieh -mal an -- einerseits gibt es ein dummes, bedeutungsloses, -minderwertiges, böses, krankes, altes Weib, das keinem Menschen nützt, -im Gegenteil allen schadet, das selbst nicht weiß, wozu es lebt, und das -morgen ohne fremde Hilfe sterben wird. Verstehst du? Verstehst du mich?« - -»Nun, ich verstehe es,« antwortete der Offizier und sah aufmerksam -seinen in Eifer geratenen Freund an. - -»Höre nun weiter. Anderseits gibt es junge, frische Kräfte, die unnütz -zugrunde gehen, ohne Hilfe und das zu tausenden und allerorts. Hundert, -tausend gute Taten und Hilfeleistungen könnte man für das Geld der Alten -tun, das einem Kloster zufallen soll. Hundert, vielleicht tausend -Existenzen könnten damit auf den richtigen Weg gebracht werden; dutzende -Familien könnten vor Hunger, Verfall, Untergang, Laster und vor -venerischen Krankheiten geschützt werden -- und all das für ihr Geld. -Ermorde sie und nimm ihr Geld, um dich später mit seiner Hilfe der -ganzen Menschheit und der gemeinnützigen Sache zu widmen, -- was meinst -du, wird nicht ein einziges unbedeutendes, winziges Verbrechen durch -Tausende guter Taten wettgemacht? Für ein Leben -- Tausende von Leben, -gerettet vor Fäulnis und Verfall. Ein einziger Tod und hunderte Leben an -seiner Statt, das ist doch ein einfaches Rechenexempel. Ja, und was -bedeutet auf der allgemeinen Wage das Leben dieser schwindsüchtigen, -dummen und bösen Alten. Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer -Wanze, und nicht mal soviel, weil die Alte schädlich ist. Sie untergräbt -das Leben eines anderen; vor ein paar Tagen hat sie Lisaweta aus Wut in -den Finger gebissen, man mußte ihn fast abnehmen lassen!« - -»Gewiß, sie ist des Lebens nicht wert,« bemerkte der Offizier. »Aber das -ist doch Sache der Natur.« - -»Ach, Bruder, die Natur korrigiert man doch auch und zeigt ihr den -richtigen Weg, wir müßten ja sonst in Vorurteilen ersticken. Ohne das -würde es keine großen Männer geben. Man redet von Pflicht und Gewissen, --- ich will nichts gegen Gewissen und Pflicht sagen, aber was verstehen -wir darunter? Doch ich will dir noch eine Frage vorlegen. Gib acht!« - -»Nein, warte du mal, jetzt will ich dir eine Frage vorlegen. Höre zu.« - -»Nun!« - -»Sieh, du redest jetzt und ereiferst dich, sage mir aber -- würdest _du -selbst_ die Alte ermorden oder nicht?« - -»Selbstverständlich nicht! Ich rede nur aus Gerechtigkeit ... Ich habe -mit der Sache nichts zu tun ...« - -»Meiner Meinung nach kann von Gerechtigkeit gar nicht die Rede sein, -wenn du dich nicht selbst dazu entschließt. Komm, wir wollen noch eine -Partie Billard spielen!« - -Raskolnikoff war äußerst aufgeregt. Gewiß, das Gespräch war eins von den -gewöhnlichsten Gesprächen und Gedanken, die er mehr als einmal unter -jungen Leuten gehört hatte, vielleicht in einer anderen Form und über -einen anderen Gegenstand. Warum aber kam er jetzt gerade dazu, dieses -Gespräch und diese Gedanken zu hören, wo in seinem eigenen Kopfe ... -_ebensolche Gedanken_ aufgetaucht waren? Und warum stößt er gerade -jetzt, wo in ihm dieser Gedanke auftauchte, als er die Alte verließ, auf -ein Gespräch über dieselbe Alte? ... Ihm erschien dieses Zusammentreffen -stets merkwürdig. Diese nichtssagende Unterhaltung in dem Wirtshause -hatte auf ihn einen außergewöhnlichen Einfluß für die weitere -Entwicklung der Sache, -- als wäre hierbei tatsächlich eine -Vorausbestimmung, ein Fingerzeig gewesen ... - - * * * * * - -Nach Hause zurückgekehrt, warf er sich auf das Sofa und blieb eine volle -Stunde sitzen, ohne sich zu rühren. Es war inzwischen dunkel geworden; -ein Licht besaß er nicht, es kam ihm gar nicht der Gedanke, ein Licht -anzustecken. Er konnte sich später niemals erinnern, ob er in dieser -Stunde an etwas gedacht hatte. Er spürte noch immer das Fieber von -früher her und den Schüttelfrost, und es war ihm ein angenehmer Gedanke, -daß er sich auf das Sofa hinlegen konnte. Ein fester bleierner Schlaf -überfiel ihn und legte sich schwer auf ihn. - -Er schlief ungewöhnlich lange und traumlos. Nastasja, die am nächsten -Morgen um zehn Uhr in das Zimmer kam, konnte ihn nur mit Mühe aufwecken. -Sie brachte ihm Tee und Brot, den Tee wie immer alt aufgegossen in ihrer -eigenen Teekanne. - -»Sieh, wie er schläft!« rief sie entrüstet aus. »Er tut nichts wie -schlafen!« - -Er erhob sich mühsam. Der Kopf tat ihm weh; er versuchte aufzustehen, -drehte sich um und fiel wieder auf das Sofa zurück. - -»Willst du weiter schlafen!« rief Nastasja. »Bist du gar krank?« - -Er antwortete nicht. - -»Willst du Tee trinken?« - -»Nachher,« sagte er mit Anstrengung, schloß die Augen und wandte sich -der Wand zu. - -Nastasja blieb eine Weile neben ihm stehn. - -»Vielleicht ist er wirklich krank,« sagte sie, kehrte um und ging -hinaus. - -Um zwei Uhr kam sie wieder herein mit einer Suppe. Er lag noch wie -früher. Der Tee war unberührt. Nun fühlte Nastasja sich gekränkt und -begann ihn ärgerlich zu rütteln. - -»Was, schnarchst du noch?« rief sie und sah ihn mit Unwillen an. - -Er stand auf und setzte sich, sagte aber nichts und blickte zu Boden. - -»Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja, und wieder erhielt sie -keine Antwort. - -»Du solltest auf die Straße gehen,« sagte sie nach einer Weile, »die -Luft würde dich erquicken. Willst du nicht essen?« - -»Nachher,« antwortete er mit schwacher Stimme. »Geh jetzt fort!« - -Und er winkte mit der Hand ab. Sie blieb noch eine Weile stehen, blickte -ihn voll Mitleid an und ging hinaus. - -Nach einigen Minuten hob er den Blick und schaute lange den Tee und die -Suppe an. Dann nahm er ein wenig Brot, griff nach dem Löffel und begann -zu essen. - -Er aß nicht viel, ohne Appetit, rein mechanisch etwa vier Löffel Suppe. -Der Kopf tat ihm nicht mehr so weh. Nachdem er gegessen hatte, legte er -sich wieder auf das Sofa, konnte aber nicht einschlafen und lag still -da, das Gesicht ins Kopfkissen vergraben. Er träumte, wachend, in einem -fort, und alle Träume waren seltsam, zumeist schien es ihm, als wäre er -irgendwo in Afrika, in Ägypten, in einer Oase. Die Karawane ruht aus, -die Kamele liegen still; ringsum im großen Kreise stehn Palmen, alles -labt sich. Er aber trinkt unausgesetzt Wasser, direkt aus einem Bache, -der hier neben ihm dahinfließt und plätschert. Es ist so kühl, und das -Wasser ist so wundervoll, so blau und kalt, es fließt über bunte Steine -und über reinen mit goldenem Schimmer besäten Sand ... Plötzlich hörte -er deutlich eine Uhr schlagen. Er fuhr auf, kam zu sich, erhob den Kopf, -sah zum Fenster hin, rechnete sich die Zeit aus und sprang auf, als -hätte ihn jemand von dem Sofa heruntergerissen. Er ging auf den -Fußspitzen zu der Türe, öffnete sie leise und lauschte auf die Treppe -hinaus. Sein Herz klopfte gewaltig. Auf der Treppe war alles so still, -als ob alles schliefe ... Höchst sonderbar und merkwürdig erschien es -ihm, daß er von gestern auf heute in solcher Bewußtlosigkeit hatte -durchschlafen können, wo er doch nichts getan und unvorbereitet war ... -Vielleicht hat die Uhr gar sechs geschlagen ... Und eine ungewohnte -fieberhafte und kopflose Hast überfiel ihn, nun nach dem Schlafe und -stumpfen Brüten. Es waren übrigens keine großen Vorbereitungen nötig. Er -strengte alle Kräfte an, um alles zu bedenken und nichts zu vergessen; -das Herz klopfte immer noch heftig und schlug so stark, daß ihm das -Atmen schwer fiel. Zuerst mußte er eine Schlinge machen und an seinen -Mantel annähen, -- das war die Sache einer Minute. Er fuhr mit der Hand -unter das Kopfkissen und fand unter der Wäsche, die dort lag, ein altes -ungewaschenes Hemd, das schon völlig zerrissen war. Von diesem riß er -einen Streifen ab, etwa fünf Zentimeter breit und sechsunddreißig -Zentimeter lang. Diesen Streifen legte er zusammen, zog einen weiten -starken Sommermantel aus dickem baumwollenen Stoffe -- sein einziges -Oberkleid -- aus und begann die beiden Enden des Streifens innen unter -der linken Achselhöhle anzunähen. Seine Hände zitterten beim Halten der -Nadel, er überwand sich aber und hatte den Streifen so angenäht, daß man -von außen nichts bemerken konnte, wenn er den Mantel angezogen hatte. Er -hatte sich schon vor langer Zeit Nadel und Zwirn besorgt, und sie lagen -in einem Stück Papier eingewickelt in dem Tischchen. Die Schlinge war -seine eigene, sehr schlaue Erfindung, sie war für das Beil bestimmt. Man -konnte doch nicht auf der Straße das Beil in der Hand tragen. Und wenn -man es unter dem Mantel versteckt trug, mußte man es doch mit der Hand -festhalten, was wiederum auffallen konnte. Jetzt aber brauchte man bloß -das Beil in die Schlinge zu stecken, und es wird den ganzen Weg unter -der Achsel ruhig hängen. Und wenn er die Hand in die Seitentasche des -Mantels steckt, kann er auch das Ende des Beilschaftes festhalten, damit -es nicht baumelt, und da der Mantel sehr weit war, ein richtiger Sack, -so konnte niemand wahrnehmen, daß er etwas mit der Hand in der Tasche -festhalte. Diese Schlinge hatte er schon vor zwei Wochen erfunden. - -Nachdem er mit der Schlinge fertig war, steckte er seine Finger in einen -kleinen Spalt zwischen seinen »türkischen« Diwan und der Diele, suchte -im linken Winkel nach und zog _das Versatzobjekt_ heraus, das er schon -vor langer Zeit hergestellt und dort versteckt hatte. Es war gar kein -Versatzstück, sondern ein einfaches, glatt abgehobeltes Stück Holz, in -der Größe und Dicke eines silbernen Zigarettenetuis. Dieses -Holzbrettchen hatte er zufällig bei einem seiner Spaziergänge auf einem -Hofe gefunden, wo in einem Nebengebäude eine Werkstatt war. Nachher -hatte er zu dem Brette ein glattes und dünnes Stück Eisen -- -wahrscheinlich irgendein Bruchstück -- beigelegt, das er auch damals auf -der Straße gefunden hatte. Beides, das eiserne Stück war kleiner, hatte -er zusammengelegt und mit einem Bindfaden kreuzweise fest -zusammengebunden; dann hatte er das Ganze peinlich und mit einer -gewissen Sorgfalt in ein reines weißes Papier eingewickelt und so fest -zusammengeschnürt, daß das Paket nicht gleich zu öffnen war. Dies tat -er, um auf eine Spanne Zeit die Aufmerksamkeit der Alten abzulenken, -wenn sie sich mit dem Lösen des Knotens abmühte, um so den passenden -Augenblick zu gewinnen. Das Eisenstück war des Gewichtes wegen -hinzugefügt, damit die Alte wenigstens nicht sofort erriet, daß das -»Versatzstück« nur aus Holz sei. Dies alles lag bis zur gegebenen Zeit -unter dem Diwan verwahrt. Als er gerade das Paket hervorholte, rief -plötzlich jemand auf dem Hofe: - -»Die Uhr geht schon gleich auf sieben!« - -»Schon gleich auf sieben! Mein Gott!« - -Er stürzte zur Tür, lauschte einen Augenblick, nahm seinen Hut und -begann die dreizehn Stufen vorsichtig, leise wie eine Katze -hinabzusteigen. Das Wichtigste stand ihm noch bevor -- das Beil aus der -Küche zu stehlen. Daß das Werk mit einem Beile vollbracht werde hatte er -längst beschlossen. Er hatte wohl noch ein zusammenlegbares -Gartenmesser, aber er mochte sich nicht auf das Messer und zum wenigsten -auf seine Kräfte verlassen, darum hatte er sich endgültig für das Beil -entschieden. Bei dieser Gelegenheit wollen wir eine Eigentümlichkeit von -ihm bei seinen endgültigen Entscheidungen hervorheben, die er in dieser -Sache schon getroffen hatte. Sie hatten alle eine besondere Eigenschaft: -je endgültiger sie wurden, desto abscheulicher, sinnloser wurden sie -sofort in seinen Augen. Trotz des qualvollen innerlichen Kampfes, den er -führte, konnte er die ganze Zeit über keinen Moment an die -Durchführbarkeit seiner Pläne glauben. - -Und wenn er jemals alles bis zum letzten Punkte durchgedacht und -endgültig beschlossen hätte und es gar keine Zweifel mehr gegeben hätte, -dann hätte er offenbar sich von dem ganzen Plane losgesagt, als von -einem sinnlosen, ungeheuerlichen Unding. Aber jetzt gab es noch einen -ganzen Abgrund von ungelösten Punkten und Zweifeln. Woher er sich ein -Beil verschaffen konnte, diese Kleinigkeit beunruhigte ihn gar nicht, -nichts ist leichter als das. Die Sache lag so, daß Nastasja öfters, -besonders aber abends, nicht zu Hause war, -- entweder lief sie zu den -Nachbarn oder in einen Laden, die Türe aber ließ sie stets offen stehn. -Die Wirtin schalt sie immer wieder deshalb. Also, man mußte nur leise -zur rechten Zeit in die Küche gehen und das Beil nehmen, um es nach -einer Stunde, wenn alles vorüber ist, wieder an seinen Platz zu legen. -Aber auch hier tauchten Zweifel auf. Angenommen, er kommt nach einer -Stunde zurück, um das Beil zurückzubringen, und Nastasja ist aber gerade -heimgekehrt. Gewiß, man muß dann vorbeigehen und abwarten, bis sie -wieder fortgeht. Wenn sie aber nun in dieser Zeit das Beil vermißt hat, -es zu suchen begann und danach laut jammerte, -- so ist der Verdacht -oder wenigstens das Moment zu einem Verdacht gegeben. - -Aber das waren Kleinigkeiten, an die zu denken er keine Lust und keine -Zeit mehr hatte. Er dachte an die Hauptsache und hob die Kleinigkeiten -für den gegebenen Moment auf. Das letzte aber erschien ihm selber -unfaßbar. Er konnte sich zum Beispiel in keiner Weise vorstellen, daß er -jemals aufhören werde, bloß an dieses Vorhaben zu denken, daß er -aufstehn und einfach dorthin gehen werde ... Sogar seine kürzliche -_Probe_ (d. h. den Besuch in der Absicht, endgültig sich den Tatort -anzusehen) hatte er nur _versucht_ auszuführen, nicht etwa in vollem -Ernste, sondern eben bloß in dem Gedanken: »ich will mal hingehen und -probieren, anstatt hier davon zu träumen!« und natürlich, er hielt es -nicht aus, ließ gleich die Absicht fallen und war in rasender Wut über -sich selbst davongelaufen. Indessen, wie es schien, war die ganze -Analyse im Sinne der moralischen Lösung der Frage von ihm ins reine -gebracht; seine Kasuistik war geschärft wie ein Rasiermesser, und er -fand in sich selbst keine klare Entgegnung mehr. Zu guter Letzt glaubte -er dann einfach sich selbst nicht und suchte hartnäckig in allen -Richtungen tastend nach Entgegnungen, als ob ihn jemand dazu zwänge und -herbeizöge. Der letzte Tag aber, der so unerwartet eintrat, und der -alles mit einem Male zur Entscheidung brachte, wirkte auf ihn fast rein -mechanisch, -- wie wenn ihn jemand an die Hand genommen und -unwiderstehlich, blindlings mit einer unnatürlichen Kraft und -widerstandslos nach sich gezogen hätte, wie wenn er mit einem Zipfel -seines Rockes in das Rad einer Maschine geraten und mit fortgerissen -worden wäre. - -Von Anfang an, -- übrigens schon lange vorher -- beschäftigte ihn die -Frage: warum fast alle Verbrecher so leicht aufgespürt und entdeckt -werden, und warum die Spuren fast aller Verbrecher so deutlich -wahrzunehmen sind? Er kam allmählich zu vielseitigen und interessanten -Schlüssen, und nach seiner Meinung lag die Hauptursache nicht so sehr in -der materiellen Unmöglichkeit, ein Verbrechen zu verbergen, als in dem -Verbrecher selbst. Der Verbrecher selbst, und fast jeder verliert im -Augenblick des Handelns an Willen und Verstand, an dessen Stelle ein -kindischer phänomenaler Leichtsinn tritt, und gerade in dem Augenblicke, -wo Verstand und Vorsicht am notwendigsten sind. Nach seiner Überzeugung -ergab es sich, daß diese Verdunkelung des Verstandes und der -Zusammenbruch des Willens einen Menschen gleich einer Krankheit packen, -sich allmählich entwickeln und kurz vor der Vollbringung des Verbrechens -ihren höchsten Punkt erreichen, bei der Ausführung, oder noch etwas -länger, je nach Veranlagung, auf demselben Höhepunkt anhalten und dann -ebenso vergehen, wie jede andere Krankheit. Die Frage aber, ob eine -Krankheit das Verbrechen erzeugt oder ob das Verbrechen selbst irgendwie -infolge seiner eigentümlichen Natur stets von etwas Ähnlichem wie -Krankheit begleitet wird, -- zu lösen, fühlte er sich nicht imstande. - -Nachdem er das erwogen hatte, schloß er, daß mit ihm persönlich bei -seiner Tat ein ähnlicher krankhafter Umschwung nicht stattfinden könne, -daß sein Verstand und Wille während der ganzen Zeit der Vollführung -völlig intakt sein werde, einzig schon aus dem Grunde, weil sein -Unternehmen -- »kein Verbrechen« sei ... Lassen wir den ganzen Prozeß -beiseite, durch den er zu dem letzten Schlusse gekommen war; wir sind -schon ohnedem viel zu weit gegangen ... Wir wollen bloß hinzufügen, daß -die tatsächlichen, rein materiellen Hindernisse der Tat überhaupt in -seinem Verstande eine untergeordnete Rolle spielten. »Man muß nur den -ganzen Willen und den ganzen Verstand bewahren, und sie alle werden -seinerzeit besiegt werden, wenn es darauf ankommt, alle Einzelheiten der -Tat bis zum kleinsten Punkt zu übersehen ...« - -Aber die Tat war noch nicht in Angriff genommen. An die endgültige -Ausführung glaubte er eben fortgesetzt selber am wenigsten, und als die -Stunde schlug, kam alles gar nicht so, sondern wie zufällig, ja fast -unerwartet. - -Ein ganz geringfügiger Umstand machte ihn stutzig, noch ehe er die -Treppe hinabgestiegen war. Als er an der Tür zu der Küche vorbeiging, -die wie immer weit geöffnet war, warf er einen vorsichtigen Seitenblick -hinein, um sich vorher zu vergewissern, ob nicht während der Abwesenheit -von Nastasja die Wirtin selbst da sei, und wenn sie nicht da war, ob die -Türe zu ihrem Zimmer auch gut verschlossen sei, damit sie ja nicht -plötzlich herauskommen könne, wenn er das Beil holen würde? Aber wie -groß war seine Betroffenheit, als er plötzlich Nastasja diesmal nicht -nur in der Küche sah, sondern dazu mit einer Arbeit beschäftigt; sie -nahm aus einem Korbe Wäsche und hing sie auf. Als sie ihn erblickte, -hörte sie auf, wandte sich zu ihm und schaute ihn die ganze Zeit an, -während er vorbeiging. Er wandte die Augen ab und ging weiter, als ob er -sie nicht gesehen hätte. Die Sache aber war abgetan, -- er hatte kein -Beil! Er war tief niedergeschlagen. - -»Und woher kam mir der Gedanke,« sagte er sich, indem er sich dem Tore -näherte. »Woher kam mir der Gedanke, daß sie unbedingt in diesem -Augenblicke nicht zu Hause sein dürfe? Warum, warum, warum war ich so -sicher davon überzeugt?« - -Er war verstört, kam sich erniedrigt vor; wollte über sich selbst vor -Ärger lachen ... Eine dumpfe tierische Wut bemächtigte sich seiner. - -Er blieb in Gedanken versunken unter dem Tore stehen. Auf die Straße zu -gehen, um des Scheines willen zu spazieren, war ihm widerlich; nach -Hause zurückkehren noch widerlicher. »Welch eine Gelegenheit hab ich für -immer verloren!« murmelte er, indem er unschlüssig unter dem Tore -stehenblieb, gerade gegenüber der dunklen Kammer des Hausknechts, die -auch offen war. Plötzlich zuckte er zusammen. In der Kammer des -Hausknechts, zwei Schritte von ihm entfernt, schimmerte unter der Bank -rechts etwas Blankes ... Er sah sich um -- niemand war in der Nähe. Auf -den Fußspitzen ging er zu der Kammer hin, stieg zwei Stufen hinab und -rief mit leiser Stimme nach dem Hausknecht. - -»Es stimmt, er ist nicht da! Wahrscheinlich ist er irgendwo in der Nähe -auf dem Hofe, da die Türe weit offen steht.« - -Er stürzte sich in aller Hast auf das Beil (es war ein solches) und zog -es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzscheiten lag, hervor; -befestigte es gleich in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen -und verließ die Kammer. Niemand hatte es gesehen! - -»Wenn der Verstand nicht hilft, so tut es der Teufel!« dachte er mit -einem sonderbaren Lächeln. Dieser Zufall hatte ihn außerordentlich -ermutigt. - -Er ging langsam und _bedächtig_, ohne sich zu beeilen, um ja keinen -Verdacht zu erwecken. Er sah die Vorübergehenden wenig an, versuchte -ihnen nicht ins Gesicht zu sehen, um selber möglichst unerkennbar zu -sein. Plötzlich fiel ihm sein Hut ein. »Mein Gott! Geld hatte ich -vorgestern noch gehabt und bin nicht auf den Gedanken gekommen, mir eine -Mütze zu kaufen!« - -Ein Fluch kam über seine Lippen. Als er zufällig in einen Laden -hineinblickte, sah er, daß die Wanduhr dort schon zehn Minuten über -sieben zeigte. Nun mußte er sich beeilen und gleichzeitig einen Umweg -machen, -- er wollte das Haus von der anderen Seite erreichen ... -Früher, als er ab und zu sich dies alles in der Phantasie vorstellte, -hatte er gemeint, daß er große Angst haben werde. Aber er fürchtete sich -jetzt nicht besonders, ja eigentlich gar nicht. In diesem Augenblicke -beschäftigten ihn selbst ganz andere Gedanken, doch nur immer kurze -Zeit. Als er an dem Jussupowschen Garten vorbeiging, vertiefte er sich -ziemlich stark in die Idee, hohe Springbrunnen zu errichten, und malte -sich aus, wie gut sie die Luft auf allen Plätzen erneuern würden. -Allmählich kam er zu der Überzeugung, daß, wenn man den Sommergarten -über den ganzen Exerzierplatz erweitern und ihn womöglich mit dem -Michailoffschen Schloßpark vereinigen würde, die Stadt dadurch einen -schönen großen Nutzen haben würde. Dabei interessierte ihn wiederum die -Frage, warum gerade in allen großen Städten der Mensch nicht bloß aus -reiner Notwendigkeit, sondern aus anderen Gründen geneigt ist, sich in -solchen Stadtteilen niederzulassen und zu leben, wo es keine Gärten, -keine Springbrunnen gibt, wo Schmutz und Gestank und allerhand -Abscheuliches herrscht. Es kamen ihm auch seine eigenen Spaziergänge -über den Heumarkt in den Sinn, und er besann sich auf sein Vorhaben. - -»Was für ein Unsinn!« dachte er. »Nein, besser, ich denke an gar -nichts.« - -»Wahrscheinlich in ähnlicher Weise heften sich die Gedanken derer, die -man zur Hinrichtung führt, an alle Gegenstände, die sie auf ihrem Wege -treffen,« fuhr es blitzartig durch seinen Kopf. Er verjagte schnell -diesen Gedanken ... da ist das Haus, er sieht das Tor. Irgendwo schlug -plötzlich eine Uhr einmal. »Was, ist es schon halb acht? Das kann nicht -sein, sie geht wahrscheinlich vor!« - -Zu seinem Glück ging unter dem Tore alles wieder gut vonstatten. Wie -absichtlich fuhr in diesem Augenblicke unter das Tor ein ungeheurer -Wagen voll Heu, so daß er ihn die ganze Zeit, während er das Tor -passierte, verdeckte, und als der Wagen in den Hof hineinfuhr, huschte -er in einem Nu nach rechts. Dort, auf der anderen Seite des Wagens, -hörte man, wie einige Stimmen schrien und sich stritten, ihn aber hatte -niemand bemerkt und er begegnete auch niemandem. Viele Fenster, die auf -den großen viereckigen Hof hinausgingen, standen offen, aber er erhob -nicht den Kopf, -- er hatte keine Kraft dazu. Die Treppe zu der Wohnung -der Alten lag in der Nähe, gleich rechts von dem Tore. Er war schon auf -der Treppe ... - -Er holte Atem, hielt die Hand auf das klopfende Herz, fühlte dabei nach -dem Beile, rückte es zurecht und begann vorsichtig und leise die Treppe -hinaufzusteigen, alle Augenblicke horchend. Auch die Treppe war um diese -Zeit vollkommen leer; alle Türen waren verschlossen; er begegnete auch -da niemandem. Im zweiten Stocke stand wohl eine leere Wohnung weit -offen, und in ihr arbeiteten Maler, aber auch die sahen nicht zu ihm -hin. Er stand einen Augenblick still, dachte nach und ging weiter. -- -»Gewiß, es wäre noch besser, wenn sie nicht da wären, aber ... über -ihnen liegen noch zwei Stockwerke. Aber da ist nun der vierte Stock, da -ist die Türe, und die Wohnung gegenüber, die ist unbewohnt. Im dritten -Stocke steht die Wohnung, die unter der Wohnung der Alten liegt, allen -Anzeichen nach auch leer, -- die Visitenkarte, die an der Türe mit -Nägeln befestigt war, ist abgenommen, -- also sind sie ausgezogen!« ... -Sein Atem stockte. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke: »Soll -ich nicht fortgehen!« Er gab sich aber keine Antwort und begann an der -Türe zu der Wohnung der Alten zu horchen, -- es war totenstill. Dann -lauschte er nochmals die Treppe hinab, lauschte lange und aufmerksam ... -Dann sah er sich zum letzten Male um, nahm sich zusammen, faßte sich und -tastete noch einmal nach dem Beil in der Schlinge. - -»Bin ich nicht zu ... blaß?« dachte er. »Bin ich nicht zu erregt? Sie -ist mißtrauisch ... Soll ich nicht besser noch ein wenig warten ... bis -das Herz sich beruhigt? ...« - -Das Herz aber beruhigte sich nicht. Im Gegenteil, es klopfte, wie -absichtlich, immer stärker und stärker ... Er hielt es nicht aus, -langsam streckte er die Hand nach der Klingel und schellte. Nach einer -halben Minute schellte er noch einmal etwas lauter. - -Keine Antwort. Unnütz zu klingeln ging nicht an und paßte außerdem nicht -für ihn. Die Alte ist selbstverständlich zu Hause, aber sie ist -mißtrauisch und allein. Er kannte teilweise ihre Gewohnheiten ... und er -legte noch einmal sein Ohr fest an die Türe. Waren seine Sinne so -geschärft (was überhaupt sich schwer vorstellen läßt) oder war -tatsächlich es deutlich zu hören, er unterschied das vorsichtige Tasten -einer Hand an der Türklinke und das Rascheln eines Kleides an der Türe. -Jemand stand unbemerkbar innen am Schlosse selbst und lauschte ebenso, -wie er hier von außen, mit angehaltenem Atem und wie es schien, ebenso -mit dem Ohre an der Türe ... Er machte absichtlich eine Bewegung und -murmelte laut etwas vor sich hin, um zu zeigen, daß er sich nicht -verstecke. Dann schellte er zum dritten Male, aber leise, mit Anstand -und ohne Ungeduld. Wenn er sich später dessen erinnerte, deutlich und -klar, -- dieser Augenblick hat sich ihm auf ewig eingeprägt, -- konnte -er nicht begreifen, woher soviel Schlauheit über ihn gekommen war, -besonders, da sein Verstand sich zeitweise verdunkelte und er seinen -Körper fast gar nicht fühlte ... Einen Augenblick nachher hörte man, daß -der Verschluß abgenommen wurde. - - - VII. - -Die Türe wurde, wie auch damals, um einen einzigen Spalt geöffnet, und -wieder hafteten auf ihm zwei scharfe und mißtrauische Augen aus der -Dunkelheit. Da verlor Raskolnikoff die Fassung und machte beinahe einen -großen Fehler. - -In der Befürchtung, daß die Alte erschrecken würde, weil sie allein sei, -und da er nicht glauben konnte, daß sein Anblick sie beruhigen würde, -griff er nach der Türe und zog sie zu sich, damit die Alte nicht auf den -Gedanken komme, sich wieder einzuschließen. Als die Alte das sah, zog -sie die Türe nicht zurück, ließ aber auch nicht die Türklinke los, so -daß er sie beinahe mit der Türe auf die Treppe hinauszog. Da er aber -sah, daß sie quer vor der Türe stand und ihn nicht durchlassen wollte, -ging er direkt auf sie los. Die Alte sprang erschreckt zurück, wollte -etwas sagen, aber schien es nicht zu können und sah ihn unverwandt an. - -»Guten Tag, Aljona Iwanowna,« begann er möglichst ungezwungen, aber die -Stimme gehorchte nicht, sie brach ab und zitterte. »Ich habe Ihnen ... -ein Versatzstück gebracht ... aber wir gehen besser hierher ... wo es -hell ist ...« Er ließ sie stehn und ging ohne Aufforderung in das -Zimmer. Die Alte lief ihm nach, ihre Zunge hatte sich gelöst. - -»Herrgott! Was wollen Sie? ... Wer sind Sie? Was wollen Sie?« - -»Erlauben Sie, Aljona Iwanowna ... ich bin Ihnen bekannt ... -Raskolnikoff ... da haben Sie, ich habe ein Versatzstück gebracht, wie -ich vor ein paar Tagen versprach ...« - -Und er reicht ihr das Versatzstück hin. - -Die Alte warf einen leichten Blick auf das Versatzstück, aber richtete -sofort ihre Augen direkt ins Gesicht des ungebetenen Gastes. Sie sah ihn -aufmerksam, böse und mißtrauisch an. Es verging eine Minute; ihm schien -sogar, in ihren Augen liege etwas wie Spott, als ob sie schon alles -erraten hätte. Er fühlte, daß er die Fassung verlor, und daß ihn die -Furcht packte, eine so starke Furcht, daß ihm schien, wenn sie ihn noch -eine halbe Minute so weiter angesehen hätte, er ohne ein Wort zu sagen -weggelaufen wäre. - -»Warum sehen Sie mich so an, als ob Sie mich nicht wiedererkennen?« -sagte er plötzlich ebenfalls böse. »Wenn Sie wollen, nehmen Sie es zum -Versatz, wenn nicht, -- gehe ich zu anderen, ich habe keine Zeit.« - -Er wußte selbst nicht, wie er zu diesen Worten kam. - -Die Alte kam zu sich, und der entschlossene Ton des Besuchers gab ihr -anscheinend Mut. - -»Warum sind Sie hergekommen, Väterchen, was ist das?« fragte sie und -blickte auf das Versatzstück. - -»Ein silbernes Zigarettenetui; ich sprach vorigesmal davon!« - -Sie streckte die Hand aus. - -»Warum sind Sie so blaß? Auch Ihre Hände zittern! Haben Sie gebadet?« - -»Fieber habe ich,« antwortete er kurz. »Unwillkürlich wird man blaß ... -wenn man nichts zu essen hat,« fügte er, die Worte kaum aussprechend, -hinzu. Die Kräfte verließen ihn wieder. Die Antwort aber erschien -wahrheitsgetreu; denn die Alte nahm das Versatzstück. - -»Was ist es?« fragte sie, indem sie Raskolnikoff noch einmal prüfend -ansah und das Versatzstück in der Hand wog. - -»Ein Ding ... ein Zigarettenetui ... aus Silber ... Sehen Sie nach.« - -»Hm, mir scheint es nicht aus Silber ... Sieh, wie er es zugeschnürt hat -...« Indem sie versuchte, den Bindfaden zu lösen und sich zum Fenster -gegen das Licht wandte (alle Fenster waren trotz der schwülen Hitze -geschlossen), ließ sie ihn auf ein paar Sekunden aus dem Auge und -stellte sich mit dem Rücken gegen ihn. Er knöpfte seinen Mantel auf und -zog das Beil aus der Schlinge, aber er holte es noch nicht hervor, -sondern hielt es mit der rechten Hand unter dem Mantel. Seine Hände -waren furchtbar schwach; er fühlte selbst, wie sie mit jedem Augenblick -immer mehr erlahmten und erstarrten. Er fürchtete, daß er das Beil -fallen lassen werde ... plötzlich schwindelte ihm der Kopf. - -»Was hat er denn da umgewickelt!« rief die Alte ärgerlich aus und machte -eine Bewegung nach seiner Seite. Kein Moment länger durfte verloren -gehen. Er zog das Beil ganz hervor, hob es, kaum daß er sich dessen -bewußt war, mit beiden Händen empor und ließ es fast ohne Anstrengung, -fast mechanisch mit der breiten Seite auf den Kopf der Alten -niederfallen. Er hatte, wie es schien, dabei keine Kraft angewandt. Aber -kaum hatte er das Beil zum ersten Male fallen lassen, da kamen auch die -Kräfte. - -Die Alte war wie immer barhäuptig. Ihre hellen, leicht ergrauten dünnen -Haare, wie gewöhnlich fettig geölt, waren in rattenschwanzartige kleine -Flechten geflochten und wurden von einem abgebrochenen Hornkamme, der -auf ihrem Hinterkopfe saß, zusammengehalten. Der Schlag hatte sie bei -ihrer Kleinheit direkt auf den Scheitel getroffen. Sie schrie auf, aber -sehr leise, ihre beiden Hände gegen den Kopf erhebend. In der einen Hand -hielt sie das »Versatzstück« fest. Da schlug er aus aller Kraft ein -zweites und ein drittes Mal zu, immer mit der breiten Seite und immer -gegen den Scheitel. Das Blut strömte hervor wie aus einem zersprungenen -Glase, und der Körper fiel zu Boden mit dem Gesichte nach oben. Er trat -einen Schritt zurück, ließ den Körper liegen und beugte sich über ihr -Gesicht; sie war schon tot. Die Augen waren weit aufgerissen, als ob sie -herausspringen wollten, und die Stirn und das ganze Gesicht waren -verzogen und krampfhaft verzerrt. - -Er legte das Beil auf die Diele neben die Tote, langte eilends in ihre -Tasche, in dieselbe rechte Tasche, aus der sie das vorige Mal die -Schlüssel hervorgeholt hatte, und suchte zu verhindern, daß er sich mit -dem fließenden Blute beschmiere. Er war bei klarem Verstande, -Verdüsterungen und Schwindel fühlte er nicht mehr, aber die Hände -zitterten immer noch. Er erinnerte sich später, daß er sogar sehr -aufmerksam und vorsichtig war und immer versuchte, sich nicht zu -beschmutzen ... Die Schlüssel zog er sofort heraus; sie hingen alle wie -damals an einem Schlüsselbunde, an einem Ringe von Stahl. Er lief sofort -mit ihm in das Schlafzimmer. Das war ein sehr kleines Zimmer mit einer -großen Sammlung Heiligenbilder. An der anderen Wand stand ein großes -Bett, sehr reinlich, mit einer wattierten Decke, die mit bunten -Seidenflicken besetzt war. An der dritten Wand stand eine Kommode. Wie -seltsam, kaum begann er die Schlüssel an der Kommode zu probieren, kaum -hörte er ihr Rascheln, da kam der Krampf über ihn. -- Er bekam wieder -Lust, alles liegenzulassen und fortzugehen. Aber das dauerte nur einen -Augenblick; es war zu spät, fortzugehen. Er lächelte sogar über sich -selbst, als plötzlich ein anderer beunruhigender Gedanke durch seinen -Kopf fuhr. Ihm däuchte plötzlich, daß die Alte vielleicht noch lebe und -zu sich kommen könne. Er ließ die Schlüssel fallen, lief zurück zu der -Toten, ergriff das Beil und erhob es noch einmal über die Alte, ließ es -aber nicht niedersausen. Es gab keinen Zweifel, sie war tot. Indem er -sich über sie beugte und sie wieder in der Nähe betrachtete, sah er -deutlich, daß der Schädel zerschmettert und sogar ein wenig nach der -Seite verschoben war. Er wollte mit dem Finger es befühlen, aber er riß -die Hand zurück; es war ja ohnedem zu sehen. Indessen war schon eine -ganze Pfütze Blut zusammengelaufen. Plötzlich bemerkte er an ihrem Halse -eine Schnur, er riß daran, aber die Schnur war stark und ließ sich nicht -zerreißen, außerdem war sie mit Blut durchtränkt. Er versuchte sie so -unter dem Busen hervorzuziehen, aber etwas hielt die Schnur fest. -Ungeduldig wollte er wieder das Beil emporheben, um die Schnur von oben -über den Körper durchzuschlagen, aber er wagte es nicht, und mit großer -Mühe zerschnitt er nach einer Arbeit von zwei Minuten die Schnur, ohne -mit dem Beile den Körper zu berühren, wobei er aber seine Hände und das -Beil mit Blut besudelt hatte; er hatte sich nicht geirrt -- an der -Schnur hing ein Beutel. Außerdem hingen daran zwei Kreuze, eins von -Zypressen und das andere von Kupfer, und ein Heiligenbildchen aus -Emaille; es war ein kleiner beschmutzter Beutel aus Sämischleder mit -einer stählernen Spanne und kleinem Ringe. Der Beutel war sehr voll -gepackt. Raskolnikoff steckte ihn, ohne ihn näher zu betrachten, in die -Tasche, die Kreuze warf er der Alten auf die Brust, nahm diesmal das -Beil auch mit und stürzte in das Schlafzimmer zurück. - -Er war in schrecklicher Hast, nahm die Schlüssel und versuchte sie von -neuem. Aber es gelang ihm immer nicht, sie paßten nicht für die -Schlösser. Nicht, weil seine Hände zitterten, aber er irrte sich immer; -er sah zum Beispiel, daß es nicht der richtige Schlüssel war, daß er -nicht paßte, trotzdem probierte er ihn immer wieder. Plötzlich dachte er -daran und es leuchtete ihm ein, daß dieser große Schlüssel mit dem -zackigen Barte, der an dem Ringe mit den anderen kleinen zusammenhing, -gar nicht zu der Kommode gehörte (wie es ihm schon vorigesmal in den -Sinn gekommen war), sondern unbedingt zu einer Truhe gehören mußte, und -daß in dieser Truhe vielleicht alles aufbewahrt war. Er verließ die -Kommode und kroch sofort unter das Bett, da er wußte, daß die Truhen -gewöhnlich bei alten Frauen unter dem Bette stehen. Es stimmte, es stand -darunter eine ziemlich große Truhe, ungefähr ein Meter lang, mit einem -halbrunden Deckel, mit rotem Saffian beschlagen. Der zackige Schlüssel -paßte und schloß die Truhe auf. Oben, unter einem weißen Laken, lag ein -mit rotem Stoff bezogener Pelz aus Hasenfellen; unter ihm ein seidenes -Kleid, ein Schal und in der Tiefe lagen, wie es schien, allerhand -Kleidungsstücke. Zuerst begann er seine mit Blut besudelten Hände an dem -roten Stoff abzuwischen. »Der Stoff ist rot und bei rot ist Blut nicht -so auffallend,« dachte er und plötzlich kam er zu sich. »Mein Gott! -Verliere ich den Verstand?« sagte er sich erschreckt. - -Kaum aber hatte er die Lumpen angerührt, als plötzlich unter dem Pelze -eine goldene Uhr hervorglitt. Er machte sich daran, alles in der Truhe -umzuwerfen. Zwischen den Kleidungsstücken waren in der Tat goldene -Sachen untergebracht -- wahrscheinlich alles versetzte Sachen, gekaufte -oder nicht ausgelöste Armbänder, Ketten, Ohrringe, Busennadeln und -dergleichen mehr. Manche Pfänder waren in Futteralen, andere wieder -einfach in Zeitungspapier eingeschlagen, aber peinlich und sorgfältig in -doppelte Bogen und mit Bindfaden zugeschnürt. Ohne einen Moment zu -zögern, begann er seine Hosentaschen und die Taschen im Mantel mit den -Sachen zu füllen; er untersuchte nicht und öffnete nicht die Pakete und -die Futterale, aber er kam nicht dazu, viel einzustecken ... - -Denn plötzlich hörte er in dem Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er -ließ das Kramen und verhielt sich still, wie ein Toter. Alles war aber -ruhig, also hatte er nur geträumt. Aber da hörte er deutlich einen -leisen Schrei, als wenn jemand leise und abgerissen stöhnte und darauf -schwieg. Wieder trat eine Totenstille ein, eine Minute oder zwei Minuten -lang. Er horchte neben der Truhe und wartete mit angehaltenem Atem, -plötzlich aber sprang er auf, ergriff das Beil und lief aus dem -Schlafzimmer. - -Mitten im Zimmer stand Lisaweta mit einem großen Bündel in der Hand und -sah erstarrt die ermordete Schwester an; sie war weiß wie Linnen und -schien außerstande zu schreien. Als sie ihn hereinlaufen sah, erzitterte -sie wie ein Blatt, und ihr ganzes Gesicht zuckte; sie erhob die eine -Hand, öffnete den Mund, schrie aber trotzdem nicht und begann langsam -rückwärts vor ihm in eine Ecke zurückzuweichen, ihm unverwandt ins -Gesicht sehend, aber immer noch nicht schreiend, als ob es ihr an Luft -mangele. Er stürzte sich auf sie mit dem Beile. Ihre Lippen verzogen -sich so kläglich, wie es ganz kleine Kinder tun, wenn sie sich vor etwas -fürchten, den Gegenstand ihrer Furcht unverwandt ansehen und sich -anschicken zu schreien. Diese unglückliche Lisaweta war so einfältig und -so völlig eingeschüchtert, daß sie nicht einmal ihre Hände erhob, um das -Gesicht zu schützen, obwohl das doch die unwillkürlichste und -natürlichste Bewegung in diesem Augenblicke gewesen wäre, während das -Beil über ihrem Kopfe schwebte. Sie erhob nur ein wenig ihre freie linke -Hand, aber bei weitem nicht bis zum Gesichte und streckte sie ihm -langsam entgegen, als ob sie ihn zur Seite schieben wollte. Der Schlag -traf direkt den Schädel mit der scharfen Seite des Beiles und -durchschnitt mit einem Male den ganzen oberen Teil der Stirn fast bis -zur Schläfe. Sie stürzte sofort hin. Raskolnikoff verlor beinahe die -Fassung, er ergriff ihr Bündel, warf es wieder hin und lief in das -Vorzimmer. - -Die Angst packte ihn mehr und mehr nach diesem zweiten, vollkommen -unerwarteten Morde. Er wollte schnell von hier fort. Und wenn er in -diesem Augenblicke imstande gewesen wäre, klarer zu sehen und zu denken, -wenn er sich alle Schwierigkeiten seiner Lage, die ganze Verzweiflung, -den ganzen Ekel und den ganzen Wahnsinn der Situation hätte vorstellen -können und dabei verstanden hätte, wieviel Hindernisse, vielleicht auch -Verbrechen er noch überwinden und vollbringen mußte, um von hier -loszukommen und nach Hause zu gelangen, dann hätte er wahrscheinlich -alles im Stiche gelassen und wäre sofort hingegangen und hätte sich -selbst gestellt; und er hätte es nicht aus Furcht getan für seine -Person, sondern nur aus Schrecken und Widerwillen allein vor dem, was er -vollbracht hatte. Besonders der Widerwillen stieg und wuchs in ihm mit -jedem Augenblicke. Um keinen Preis in der Welt würde er jetzt zu der -Truhe oder in das Zimmer zurückgegangen sein. - -Aber eine Zerstreutheit, eine Nachdenklichkeit kam allmählich über ihn; -einige Minuten blieb er wie verloren stehen oder besser, er verlor sich -in Kleinigkeiten und vergaß die Hauptsache. Als er übrigens einen Blick -in die Küche warf und auf einer Bank einen Eimer sah, der zur Hälfte mit -Wasser gefüllt war, kam er auf den Gedanken, seine Hände und das Beil -abzuwaschen. Seine Hände waren blutig und klebten. Das Beil steckte er -mit der Schneide einfach ins Wasser, ergriff ein Stück Seife, das auf -dem Fensterbrette auf einer zerschlagenen Untertasse lag und begann im -Eimer selbst seine Hände zu waschen. Nachdem er die Hände gereinigt -hatte, zog er auch das Beil heraus, wusch das Eisen ab und wusch lange, -gegen drei Minuten lang, die Blutflecken vom Holze ab und versuchte -sogar das Blut mit Seife abzuwaschen. Dann trocknete er alles mit -Wäschestücken ab, die hier an einem Stricke trockneten, und besah lange -voll Aufmerksamkeit am Fenster das Beil. Spuren waren nicht da, nur das -Holz war noch feucht. Er steckte sorgfältig das Beil in die Schlinge -unter dem Mantel. Darauf besah er den Mantel, die Hosen und die Stiefel, -soweit es ihm das Licht in der halbdunklen Küche erlaubte. Beim ersten -Blick schien man außen nichts zu sehen; nur auf den Stiefeln waren -Flecken. Er machte einen Lappen naß und wischte die Stiefel ab. Er wußte -übrigens, daß er nicht gut sehen konnte, daß es vielleicht etwas in die -Augen Fallendes gab, was er nicht bemerkte. In Nachdenken versunken, -stand er mitten im Zimmer. Ein quälender dunkler Gedanke erstand in ihm --- der Gedanke, daß er den Verstand verliere, und daß er in diesem -Augenblicke weder denken noch sich verteidigen könne, daß vielleicht gar -nicht das zu tun sei, was er jetzt tue ... - -»Mein Gott! Ich muß fort, fort!« murmelte er und stürzte in das -Vorzimmer. Aber hier erwartete ihn ein Schrecken, wie er ihn sicher noch -nie erlebt hatte. - -Er stand, sah hin und traute seinen Augen nicht: die Türe, die -Außentüre, die aus dem Vorzimmer auf die Treppe ging, dieselbe, an der -er vor kurzem geschellt und durch die er hineingekommen war, stand -offen, sogar eine Hand breit offen, weder das Schloß war zu, noch der -Riegel vor -- die ganze, die ganze, ganze Zeit! Die Alte hatte hinter -ihm nicht abgeschlossen, vielleicht aus Vorsicht. Aber, mein Gott! Er -hat aber doch später Lisaweta gesehen! Und wie konnte, wie konnte er -nicht auf den Gedanken kommen, daß sie doch irgendwie hereingekommen -war! Sie war nicht durch die Wand gekommen! - -Er stürzte zur Türe und legte den Riegel vor. - -»Aber nein, das war wieder nicht das richtige! Ich muß fort, fort! ...« - -Er zog den Riegel zurück, öffnete die Türe und begann zur Treppe hin zu -lauschen. - -Er horchte lange. Irgendwo weit unten, wahrscheinlich unter dem Tore, -schrien laut und kreischend zwei Stimmen, stritten sich und schimpften. - -»Was haben die? ...« - -Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einem Male alles still, wie -abgeschnitten; sie sind fortgegangen. - -Er wollte schon hinaustreten, aber plötzlich öffnete sich geräuschvoll -ein Stock tiefer eine Tür zur Treppe, jemand begann die Treppe -hinabzusteigen und summte vor sich irgend etwas her. - -»Wie sie alle lärmen!« ging es durch seinen Kopf. - -Er zog wieder die Türe zu und wartete. Endlich verstummte alles, keine -Seele war zu hören. Er tat schon einen Schritt zur Treppe, als er -plötzlich wieder neue Schritte vernahm. - -Diese Schritte kamen von sehr weit her, ganz vom Anfange der Treppe, -aber er erinnerte sich sehr gut und deutlich, daß er schon beim ersten -Schritte damals aus irgendeinem Grunde den Verdacht faßte, daß man -unbedingt _hierher_, in den vierten Stock, zu der Alten komme. Warum? -Klangen die Schritte so sonderbar, so bedeutungsvoll? Es waren schwere -gleichmäßige Schritte von einem Menschen, der keine Eile hat. Den ersten -Stock hat _er_ schon erreicht, nun steigt er weiter die Treppe hinauf, --- deutlicher und deutlicher hört man es. Er vernahm das schwere Atmen -des Kommenden. Nun ist er schon im dritten Stock. Er kommt hierher! Und -plötzlich erschien es Raskolnikoff, als wäre er versteinert, als wäre er -im Traume, wenn es einem träumt, daß man verfolgt wird, daß die Mörder -ganz nahe hinter einem sind, man aber wie angewachsen dasteht und die -Hände nicht rühren kann. - -Endlich, als der Besucher schon den vierten Stock heraufstieg, fuhr er -plötzlich zusammen und es gelang ihm doch schnell und geschmeidig, von -dem Treppenabsatz in die Wohnung hineinzuschlüpfen und die Türe hinter -sich zuzumachen. Dann nahm er den Haken und legte ihn leise, unhörbar -vor. Der Instinkt half ihm. Als er das in Ordnung gebracht hatte, -stellte er sich mit angehaltenem Atem direkt an die Türe. Der unbekannte -Besucher war schon da. Sie standen jetzt einander gegenüber, wie er vor -kurzem der Alten gegenüberstand, als die Türe sie voneinander trennte, -und er lauschte. - -Der Besucher atmete ein paarmal schwer. - -»Er ist wahrscheinlich dick und groß,« dachte Raskolnikoff und nahm das -Beil fester in die Hand. Ihm war wieder alles wie im Traume. Der -Besucher faßte die Klingel und läutete stark. - -Als die Klingel blechern erklirrte, schien es ihm, als ob in dem Zimmer -sich jemand rühre. Einige Sekunden lauschte er. Der Unbekannte schellte -noch einmal, wartete ein wenig und begann plötzlich ungeduldig aus aller -Kraft mit der Türklinke zu klappern. Mit Schrecken blickte Raskolnikoff -auf den hüpfenden Haken und wartete mit stumpfer Angst, daß der Haken -jeden Augenblick herausspringen werde. Es schien in der Tat möglich zu -sein, -- so stark riß jener an der Türe. Er wollte den Haken mit der -Hand niederhalten, aber der _andere_ konnte es merken. Es begann ihm -wieder schwindlig zu werden. - -»Ich breche noch zusammen!« durchzuckte es ihn, aber der Unbekannte -begann zu sprechen, da kam er zu sich. »Ja, schlafen die denn da oder -sind sie tot? Verflucht noch einmal!« wetterte er. »He, Aljona Iwanowna, -alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, du wundervolle Schönheit! Öffnet! Ach, -verflucht, schlafen sie wirklich?« - -Und er riß von neuem rasend gegen zehnmal nacheinander aus voller Kraft -an der Klingel. Es war wohl ein Mann, der etwas galt und im Hause gut -bekannt war. - -In diesem Augenblick vernahm man unweit auf der Treppe kurze eilige -Schritte. Es kam noch jemand. Raskolnikoff hatte es zuerst nicht gehört. - -»Ist niemand da; unmöglich?« rief laut der Angekommene und wandte sich -freundlich an den ersten Besucher, der noch immer an der Klingel riß. -»Guten Abend, Koch!« - -»Nach der Stimme zu urteilen, muß es ein sehr junger Mann sein,« dachte -Raskolnikoff. - -»Das weiß der Teufel, ich habe fast das Schloß abgerissen,« antwortete -Koch. »Aber woher kennen Sie mich denn?« - -»Warum nicht! Vorgestern habe ich Ihnen drei Partien Billard im ->Gambrinus< abgewonnen.« - -»Ah ...« - -»Also, sie sind nicht zu Hause. Merkwürdig. Das ist aber dumm. Wo mag -nur die Alte hingegangen sein? Ich habe Geschäfte mit ihr.« - -»Ich auch, mein Lieber.« - -»Was ist da zu tun? Wohl oder übel müssen wir wieder gehen. Ach! Und ich -hoffte Geld zu bekommen!« rief der junge Mann aus. - -»Selbstredend müssen wir gehen, aber wozu gibt man eine Zeit an? Die -alte Hexe hat mir selbst die Stunde bestimmt. Für mich bedeutet das -einen weiten Weg. Zum Teufel, ich verstehe nicht, wo sie sich -herumtreiben kann. Das ganze Jahr sitzt sie im Hause, die Hexe, rührt -sich nicht vom Fleck, die Füße tun ihr weh, und nun plötzlich macht sie -Ausflüge!« - -»Sollen wir nicht den Hausknecht fragen?« - -»Wonach denn?« - -»Wohin sie gegangen ist und wann sie wiederkommt?« - -»Hm ... zum Teufel ... sollen wir fragen ... Ja, sie geht doch nie aus -...« und er riß noch einmal an der Türklinke. - -»Zum Teufel, es bleibt nichts übrig, wir müssen fortgehen.« - -»Warten Sie!« rief plötzlich der junge Mann. »Sehen Sie einmal, wie die -Türe nachgibt, wenn man daran reißt!« - -»Na, und?« - -»Also ist sie nicht abgeschlossen, sondern nur eingehakt, auf den Haken! -Hören Sie, wie der Haken klirrt?« - -»Nun?« - -»Verstehn Sie denn nicht? Also ist jemand von ihnen zu Hause. Wenn alle -fortgegangen wären, hätten sie die Türe mit dem Schlüssel abgeschlossen, -und nicht von innen mit dem Haken. Hören Sie nun, wie der Haken klirrt? -Um aber von innen die Türe mit dem Haken abzuschließen, muß man zu Hause -sein, verstehen Sie? Also, sitzen sie zu Hause und öffnen nicht!« - -»Hm! Ja, das ist wahr!« rief erstaunt Koch. »Was ist denn mit ihnen -los?« Und er begann voll Wucht an der Türe zu zerren. - -»Warten Sie!« rief von neuem der junge Mann. »Halten Sie ein! Hier ist -etwas nicht in Ordnung ... Sie haben doch geklingelt, an der Türe -gerüttelt, -- und sie öffnen nicht, also, liegen sie entweder in -Ohnmacht oder ...« - -»Was?« - -»Hören Sie mal, holen wir den Hausknecht, möge er sie aufwecken.« - -»Gut.« - -Sie gingen beide zur Treppe. - -»Warten Sie! Bleiben Sie mal hier, ich aber laufe nach dem Hausknecht.« - -»Warum soll ich bleiben?« - -»Es ist so besser ...« - -»Meinetwegen ...« - -»Ich bereite mich zum Untersuchungsrichter vor! Hier stimmt offenbar, -offen--bar ... nicht alles!« rief voll Eifer der junge Mann und lief -eilig die Treppe hinab. - -Koch blieb, rührte noch einmal leise die Klingel und es klirrte ein -einziges Mal; dann begann er sachte, als ob er es überlegte und prüfte, -die Türklinke zu bewegen, er zog sie auf und ließ sie niedergleiten, um -sich noch einmal zu vergewissern, daß die Türe bloß mit einem Haken -geschlossen sei. Darauf bückte er sich schwer atmend und blickte durch -das Schlüsselloch, aber darin stak von innen der Schlüssel, und er -konnte nichts sehen. - -Raskolnikoff stand und hielt krampfhaft das Beil, fieberhaft erregt. Er -war bereit zu kämpfen, wenn sie hereinkommen sollten. Schon als sie -klopften und sich besprachen, kam ihm einigemal der Gedanke, allem ein -Ende zu machen und ihnen durch die Türe zuzurufen. Es wandelte ihn an, -sie zu schimpfen, sie zu reizen, bevor sie die Türe aufmachten. »Möchte -es doch schneller zu Ende gehen!« fuhr es ihm durch den Kopf. »Zum -Teufel noch einmal ...« - -Die Zeit verrann, eine Minute nach der andern ging vorüber, niemand kam. -Koch begann unruhig zu werden. - -»Zum Teufel noch einmal! ...« rief er plötzlich aus, und voll Ungeduld -verließ er seinen Posten, ging die Treppe eilig hinab, und stapfte fest -auf. - -»Mein Gott, was ist nun zu tun!« Raskolnikoff hob den Haken ab, öffnete -ein wenig die Türe, es war nichts zu hören, er trat plötzlich vollkommen -gedankenlos heraus, zog die Türe hinter sich möglichst dicht zu und ging -hinab. Er war schon drei Treppen hinabgestiegen, als plötzlich unten ein -starker Lärm hörbar wurde, -- wohin sich wenden? Er konnte sich nirgends -verstecken und wollte schon zurück in die Wohnung laufen. - -»He Teufel! Halt!« - -Mit einem Schrei stürzte jemand unten aus einer Wohnung heraus und lief -so schnell hinunter, daß er die Treppe beinahe hinunterzufallen schien. - -»Mitjka, Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Hol dich der Kuckuck!« - -Der Schrei endete mit Kreischen; die letzten Töne hörte man schon vom -Hofe her; alles wurde still. Aber im selben Augenblick begannen ein paar -Menschen, die laut und schnell sprachen, geräuschvoll die Treppe -hinaufzusteigen, vielleicht drei oder vier. Raskolnikoff unterschied die -helle Stimme des jungen Mannes. - -»Das sind sie.« - -In größter Verzweiflung ging er ihnen direkt entgegen, -- mochte nun -kommen, was wollte. Wenn sie ihn anhielten, war alles verloren, wenn sie -ihn vorbeiließen, war auch alles verloren, -- denn sie werden ihn -wiedererkennen. Sie kamen bedenklich näher; zwischen ihnen war nur eine -einzige Treppe -- da kam die Rettung. Einige Stufen vor ihm rechts stand -weit geöffnet eine leere Wohnung, dieselbe Wohnung im zweiten Stock, in -der Arbeiter malten und jetzt wie mit Absicht fortgegangen waren. Das -waren sicher die Leute gewesen, die soeben mit solch einem Geschrei -hinabgelaufen waren. Die Dielen waren frisch gestrichen, mitten im -Zimmer stand ein kleiner Eimer und eine Scherbe von einem Topfe mit -Farbe und Pinsel. Im Nu schlüpfte er durch die offene Tür und verbarg -sich hinter einer hohen Wand, es war hohe Zeit. Sie waren schon auf dem -Treppenabsatz. Dann wandten sie sich nach oben und gingen laut sprechend -nach dem vierten Stock. Er wartete eine Zeitlang, ging auf Fußspitzen -hinaus und lief nach unten. - -Auf der Treppe war niemand! Auch unten nicht. Er ging schnell durch das -Tor und ging nach links die Straße hinunter. Er wußte es nur zu gut, daß -sie in diesem Augenblicke schon in der Wohnung waren, daß sie erstaunt -waren, die Türe offen zu sehen, die noch eben verschlossen war, daß sie -schon die Leichen erblickten, und daß sie in weniger als einer Minute -erraten würden, daß der Mörder hier soeben noch dagewesen war und Zeit -gefunden hatte, sich irgendwo zu verbergen, an ihnen vorbeizuhuschen und -zu fliehen; sie werden vielleicht auch auf den Gedanken gekommen sein, -daß er in der leeren Wohnung stak, als sie nach oben gingen. Indessen -aber durfte er um keinen Preis seinen Gang zu sehr beschleunigen, -obgleich bis zur ersten Seitenstraße gegen hundert Schritte waren. - -»Soll ich nicht in ein Tor hineinschlüpfen und irgendwo in einer -unbekannten Straße abwarten? Nein, das ist gefährlich! Soll ich nicht -das Beil fortwerfen? Soll ich nicht eine Droschke nehmen? Es ist zu -gefährlich, zu gefährlich!« - -Endlich kam die Seitenstraße, er bog in sie halbtot ein. Hier war er -schon zur Hälfte gerettet, und ward es inne, -- hier erregte er kaum -Verdacht, zudem war diese Straße stark belebt, und er ging wie ein -Sandkorn in der Menge verloren. Aber alle diese Qualen hatten ihn so -erschöpft, daß er sich kaum mehr fortbewegen konnte. Der Schweiß rann -ihm in Tropfen herunter, sein Hals war ganz naß. - -»Sieh mal, wie der voll ist!« rief ihm jemand zu, als er auf den Kanal -hinauskam. - -Er hatte fast keinen Gedanken mehr; je weiter er ging, um so schlimmer -wurde es. Er erschrak plötzlich, als er an den Kanal hinauskam; denn -dort gab es wenig Menschen, hier konnte er leichter auffallen, und er -wollte wieder in die Seitengasse zurückkehren. Trotzdem er am Umfallen -war, machte er doch einen Umweg und kam von einer anderen Seite nach -Hause. - -Noch fast besinnungslos schritt er durch das Tor seines Hauses; er war -schon die Treppe hinaufgestiegen, da erst entsann er sich des Beiles. -Eine überaus wichtige Aufgabe stand ihm noch bevor, das Beil -zurückzulegen und es unbemerkt zu tun. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu -überlegen, ob es vielleicht nicht viel besser wäre, das Beil gar nicht -mehr auf seinen früheren Platz zurückzubringen, sondern es irgendwo auf -einen fremden Hof, wenn auch nicht sofort, zu werfen. - -Doch es ging alles gut vonstatten. Die Türe zu der Wohnung des -Hausknechts war zugemacht, aber nicht verschlossen, also war der -Hausknecht sehr wahrscheinlich zu Hause. Und so weit hatte er schon die -Fähigkeit zu überlegen verloren, daß er einfach auf die Wohnung losging -und die Türe öffnete. Hätte der Hausknecht ihn in diesem Augenblick -gefragt, was er wolle, er hätte ihm einfach das Beil in die Hand -gegeben. Der Hausknecht war aber auch diesmal nicht da und er konnte das -Beil auf seinen Platz unter die Bank legen; er bedeckte es sogar wieder -mit einem Holzscheit. Keine Seele begegnete ihm bis zu seinem Zimmer; -die Türe zur Wohnung der Wirtin war abgeschlossen. Nachdem er in sein -Zimmer eingetreten war, warf er sich auf den Diwan, so wie er war. Er -schlief nicht, verfiel aber in einen Halbschlummer. Wenn jemand jetzt in -sein Zimmer getreten wäre, wäre er aufgesprungen und hätte geschrien. -Abgerissene, verworrene Gedanken wirbelten in seinem Kopfe, aber er -konnte keinen einzigen erfassen, keinen festhalten, trotz aller -Anstrengung. - - - - - Zweiter Teil - - - I. - -So lag er sehr lange da. Manchmal wachte er vom Schlafe auf und dann -bemerkte er, daß es schon längst Nacht war. Endlich nahm er wahr, daß es -schon heller Tag war. Er lag auf dem Diwan ausgestreckt, noch erstarrt -von der kaum überwundenen Bewußtlosigkeit. Schrill tönte fürchterliches -verzweifeltes Geheul von der Straße herauf, das er jede Nacht unter -seinem Fenster in der dritten Morgenstunde hörte. Das hatte ihn auch -jetzt wieder aufgeweckt. - -»Ah! Es kommen die Betrunkenen schon aus den Kneipen,« dachte er. »Es -ist drei Uhr!« und er sprang auf, als hätte ihn jemand von dem Diwan -heruntergestoßen. - -»Wie! Es ist schon drei!« - -Er setzte sich -- und da fiel ihm alles ein! Plötzlich fiel ihm alles -ein! - -Im ersten Augenblicke dachte er, er würde den Verstand verlieren. Eine -furchtbare Kälte erfaßte ihn, aber die Kälte kam vom Fieber, das schon -längst während des Traumzustandes angefangen hatte. Es packte ihn ein -Schüttelfrost, daß die Zähne zusammenschlugen, und alles zitterte an -ihm. Er öffnete die Türe und begann zu lauschen: im Hause schlief alles. -Erschreckt betrachtete er sich selbst und alles ringsum im Zimmer und -begriff nicht -- wie konnte er nur gestern die Türe nicht zuhaken und -sich nicht nur angekleidet, sondern sogar mit dem Hute auf den Diwan -werfen; der Hut war ihm heruntergefallen und lag dort auf der Diele in -der Nähe des Kissens. - -»Wenn jemand gekommen wäre, was hätte er denken müssen? Daß ich -betrunken, aber ...« - -Er stürzte zum Fenster. Es war genügend hell und er besah sich schnell -ganz vom Kopfe bis zu den Füßen, seine ganze Kleidung, ob nicht Spuren -daran waren. Aber man konnte so nichts sehen; zitternd vor Frost, zog er -alles aus und wieder betrachtete er es von allen Seiten. Er drehte alles -um bis zum letzten Faden und Fetzen, und da er sich selber nicht traute, -wiederholte er dreimal die Besichtigung. Aber er fand nichts, scheinbar -keine Spur; nur an einer Stelle, wo die Hosen unten abgerieben und in -Fransen hingen, waren an diesen Fransen dicke Flecken eingetrockneten -Blutes. Er nahm ein großes Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. -Mehr schien es nicht zu sein. Da fiel ihm ein, daß der Beutel und die -Sachen, die er aus der Truhe bei der Alten herausgenommen, sich noch -immer in seinen Taschen befanden. Er hatte nicht mehr daran gedacht, sie -herauszunehmen und zu verstecken. Nicht einmal jetzt sogar hatte er sich -ihrer gleich erinnert, als er seine Kleider besah. War denn das möglich? -Hastig nahm er sie heraus und warf sie auf den Tisch. Nachdem er alles -herausgenommen und die Taschen umgekehrt hatte, um sich zu vergewissern, -daß nichts übriggeblieben war, brachte er den ganzen Haufen in eine -Ecke. Dort in der Ecke waren unten an einer Stelle die von der Wand -losgelösten Tapeten zerrissen; sofort begann er alles in dieses Loch -unter dem Papier hineinzustopfen. - -»Es ist hineingegangen! Alles ist fort, sogar der Beutel!« dachte er -voller Freude, indem er aufstand und stumpf in die Ecke sah, auf das -Loch, wo die Tapete jetzt weiter abstand. - -Da schrak er wieder zusammen. - -»Mein Gott,« flüsterte er verzweifelt, »was ist mit mir? Ist denn das -versteckt? Versteckt man das so?« - -Natürlich hatte er mit solchen Gegenständen gar nicht gerechnet; er -dachte, daß es nur Geld bei ihr geben würde und darum hatte er keinen -Platz vorher ausgesucht. - -»Aber jetzt, jetzt, worüber freute ich mich denn?« dachte er. »Versteckt -man denn so? In der Tat, der Verstand verläßt mich!« - -Erschöpft setzte er sich auf den Diwan und von neuem schüttelte ihn ein -unerträglicher Fieberanfall. Mechanisch hüllte er sich in seinen -früheren Studentenmantel, einen gefütterten, aber schon recht schäbigen -Winterüberzieher; er deckte sich mit ihm zu, und alsbald überfielen ihn -wieder Schlaf und Fieberträume. - -Doch schon nach fünf Minuten sprang er wieder auf und stürzte außer sich -von neuem zu seinen Kleidern. »Wie konnte ich nur wieder einschlafen, wo -noch nichts getan ist! Da haben wir es, da haben wir es, die Schlinge -unter der Achsel habe ich noch nicht abgenommen! Ich habe es vergessen, -habe solch eine Sache vergessen! Solch ein Verdachtsmoment!« - -Er riß die Schlinge ab und begann sie schnell in Stücke zu zerreißen und -versteckte sie unter dem Kissen in der Wäsche. - -»Stücke von zerrissener Leinwand können in keinem Falle Verdacht -erregen; es scheint so, es scheint so!« wiederholte er, mitten im Zimmer -stehend, und begann von neuem mit schmerzhaft angespannter -Aufmerksamkeit ringsum, auf der Diele und überall, herumzuspähen, ob er -nicht noch etwas vergessen habe. Die Überzeugung, daß alles, sogar das -Gedächtnis, sogar das einfache Denken ihn verließ, -- begann ihn -unerträglich zu quälen. - -»Was! fängt es schon jetzt an, kommt schon jetzt die Strafe? Sieh da, -sieh es stimmt!« - -Die abgeschnittenen Fransen, die er von den Hosen abgetrennt hatte, -lagen in der Tat auf der Diele mitten im Zimmer, damit sie ja der erste -beste sehen konnte. - -»Was ist denn nur mit mir!« rief er wieder aus, wie verloren. - -Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: vielleicht war auch seine ganze -Kleidung blutig, vielleicht hat sie viele Flecken, aber er sieht sie -bloß nicht, er bemerkt sie nicht, weil sein Denken geschwächt, verworren -... der Verstand verdüstert ist ... Plötzlich erinnerte er sich, daß an -dem Beutel auch Blut war. - -»Bah, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ich den noch feuchten -Beutel hineinsteckte!« - -Schnell kehrte er die Hosentasche um, und -- tatsächlich, -- auf dem -Futter der Tasche waren Spuren, Flecken. - -»Also hat mich der Verstand noch nicht ganz verlassen, also besitze ich -noch Urteilsfähigkeit und Gedächtnis, wenn ich mich hierauf besinnen -konnte!« dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und -freudig auf. »Es ist einfach fieberhafte Schwäche, eine vorübergehende -Anwandlung.« - -Und er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche. In diesem -Augenblicke beleuchtete ein Sonnenstrahl seinen linken Stiefel; auf dem -Strumpfe, der aus dem Stiefel hervortrat, schienen Flecken zu sein. Er -zog den Stiefel aus, -- es waren wirklich Spuren. Die ganze Fußspitze -war mit Blut durchtränkt; wahrscheinlich war er unvorsichtigerweise in -die Pfütze getreten ... »Aber was nun damit tun? Wohin diesen Strumpf -tun? Wohin diesen Strumpf, die Franse, die Hosentasche?« Er knüllte -alles in der Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. »In den -Ofen? Aber im Ofen wird man zuerst nachstöbern. Verbrennen? Ja, aber -womit brennen? Er hat nicht mal Streichhölzer. Nein, besser, irgendwo -hingehen und alles fortwerfen. Ja! das beste ist fortwerfen!« -wiederholte er und setzte sich von neuem auf den Diwan. »Und sofort muß -ich es tun, in diesem Augenblick, ohne Zeit zu verlieren! ...« - -Indessen fiel sein Kopf von neuem auf das Kissen; wieder durchrüttelte -ihn eisig der unerträgliche Schüttelfrost; wieder zog er den -Wintermantel über sich. Und lange noch, ein paar Stunden, träumte er ab -und zu, »ich muß sofort ohne Zögern irgendwo hingehen und alles -fortwerfen, damit es schnell aus den Augen kommt!« Einigemal erhob er -sich vom Diwan, wollte aufstehn, konnte aber nicht mehr. Endlich weckte -ihn ein starkes Klopfen an der Türe. - -»Öffne doch, lebst du oder nicht? Und immer schläft er!« schrie Nastasja -und schlug mit der Faust an die Türe. »Den ganzen geschlagenen Tag -schläft er wie ein Hund! Er ist auch ein Hund! Öffne doch. Es ist schon -elf Uhr.« - -»Vielleicht ist er nicht zu Hause,« sagte eine männliche Stimme. - -»Ha, das ist die Stimme des Hausknechtes ... Was will er?« - -Er sprang auf und setzte sich auf den Diwan. Das Herz klopfte so stark, -daß es ihn schmerzte. - -»Wer hat denn die Türe zugehakt?« erwiderte Nastasja. »Sieh mal, er -fängt an, sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn holen könnte? -Öffne. Mensch, wach auf!« - -»Was wollen sie? Warum ist der Hausknecht da? Alles ist bekannt. Soll -ich Widerstand leisten oder öffnen? Mag alles zugrunde gehen ...« - -Er erhob sich ein wenig, beugte sich nach vorn und nahm den Haken ab. - -Das ganze Zimmer war nur so groß, daß man den Türhaken abnehmen konnte, -ohne vom Bette aufzustehen. - -Er hatte richtig geraten, -- vor ihm standen Nastasja und der -Hausknecht. Nastasja blickte ihn eigentümlich an. Er warf dem -Hausknechte einen herausfordernden und verzweifelten Blick zu. Der -reichte ihm schweigend ein graues zusammengelegtes Stück Papier, das mit -gewöhnlichem Siegellack zugesiegelt war. - -»Vorladung aus dem Bureau,« sagte er, indem er das Papier überreichte. - -»Aus welchem Bureau? ...« - -»Selbstredend vom Polizeibureau.« - -»Von der Polizei! ... Warum?« - -»Woher soll ich es wissen. Man verlangt es und da müssen Sie gehen.« - -Er sah ihn aufmerksam an, warf einen Blick ins Zimmer und wandte sich, -um fortzugehen. - -»Bist du ganz krank geworden?« bemerkte Nastasja, die ihre Augen nicht -von ihm abwandte. - -Der Hausknecht drehte auch einen Augenblick seinen Kopf um. - -»Seit gestern hat er Fieber,« fügte sie hinzu. - -Er antwortete nichts und hielt das Schriftstück in den Händen, ohne es -zu öffnen. - -»Bleib liegen,« fuhr Nastasja fort; sie wurde weicher gestimmt, als sie -sah, daß er die Füße vom Diwan herabließ. - -»Da du krank bist, so gehe nicht hin: es brennt doch nicht. Was hast du -da in der Hand?« - -Er blickte hin. In der rechten Hand hielt er die abgeschnittenen Fransen -von der Hose, den Strumpf und die Fetzen der ausgerissenen Tasche. So -hatte er mit ihnen geschlafen. Als er später darüber nachsann, erinnerte -er sich, daß er im Fieber aufwachend, dies alles nur fester in seiner -Hand zusammenballte und wieder einschlief. - -»Sieh, was für Lumpen er gesammelt hat und schläft mit ihnen, als wären -sie ein kolossaler Schatz ...« Und Nastasja fiel in ihr lautes nervöses -Lachen. - -Im Nu steckte er alles unter den Mantel und heftete auf sie einen -forschenden Blick. Obwohl er in diesem Augenblicke wenig mit Verstand -sich die Sache überlegen konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen -nicht in dieser Weise behandeln würde, wenn man ihn verhaften wollte ... - -»Aber ... die Polizei?« - -»Du solltest etwas Tee trinken. Willst du? Ich bringe ihn dir; es ist -etwas übriggeblieben ...« - -»Nein ... ich will hingehen; ich will sofort hingehen,« murmelte er -aufstehend. - -»Du kannst ja nicht mal die Treppe hinuntergehen.« - -»Ich will hingehen ...« - -»Wie du willst.« - -Sie folgte dem Hausknechte. - -Sofort stürzte er zum Licht, um den Strumpf und die Hosenfransen zu -besehen. - -»Flecken sind da, aber kaum sichtbar. Alles ist beschmutzt, abgerieben -und verblichen. Wer es nicht weiß -- wird nichts bemerken. Nastasja -konnte wahrscheinlich von weitem nichts sehen. Gott sei Dank.« Dann -öffnete er mit Bangen die Vorladung und begann zu lesen; er las lange, -und schließlich begriff er. Es war eine gewöhnliche Vorladung, vom -Polizeirevier, heute um halb zehn in dem Bureau des Revieraufsehers zu -erscheinen. - -»Das ist mir noch nie passiert. Ich habe nichts mit der Polizei zu tun. -Und warum gerade heute!« - -Er wollte sich schon auf die Knie werfen, um zu beten, lachte dann aber -selbst darüber, -- nicht über das Beten, sondern über sich selbst. Er -begann sich eilig anzuziehen. - -»Soll ich zugrunde gehen, na, dann ist nichts zu machen. Soll ich den -Strumpf anziehen!« dachte er plötzlich. »Er wird noch mehr im Staub -beschmutzt und die Spuren werden verschwinden.« - -Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn voll Ekel und Schrecken -herunterriß. Er hatte ihn vom Fuß heruntergerissen, aber nachdem er -überlegt hatte, daß er keinen anderen hatte, zog er ihn wieder an -- und -lachte wieder. - -»All das ist Vorurteil, alles ist nur wie man's nimmt, all das sind nur -Formen,« dachte er einem flüchtigen Gedanken nach und zitterte dabei am -ganzen Körper. »Ich habe ihn doch angezogen. Hab es fertig gebracht, ihn -anzuziehen.« - -Aber das Lachen verwandelte sich sogleich in Verzweiflung. - -»Nein, das ist über meine Kräfte ...« dachte er. Seine Füße zitterten. - -»Aus Angst,« murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und -schmerzte vor Fieber. - -»Eine List ist es! Sie wollen mich mit List hinlocken und mich plötzlich -aus der Fassung bringen,« fuhr er fort vor sich hinzumurmeln und ging -auf die Treppe hinaus. »Das ist schlimm, daß ich fieberig bin ... ich -kann irgendeine Dummheit machen ...« - -Auf der Treppe besann er sich, daß er alle Sachen so in dem Loche unter -der Tapete liegen ließ. »Und gerade jetzt konnte absichtlich in seiner -Abwesenheit eine Haussuchung vorgenommen werden,« fiel es ihm ein, und -er blieb stehn. Aber solch eine Verzweiflung und solch ein, wenn man -sich so ausdrücken darf, -- Zynismus über seinen Untergang hatten ihn -gepackt, daß er unbekümmert weiterging. - -»Möge es bloß schnell vorbei sein! ...« Auf der Straße war es wieder -unerträglich heiß; kein Regentropfen in all diesen Tagen. Wieder gab es -Staub von Ziegeln und Kalk, wieder den Gestank aus den Läden und -Wirtshäusern, wieder tauchten alle Augenblicke Betrunkene, finnische -Höcker und halbzerfallene Droschken auf. Die Sonne strahlte hell in -seine Augen, so daß es ihm weh tat, und der Kopf schwindelte ihm, -- das -gewöhnliche Gefühl eines Fieberkranken, der plötzlich auf die Straße an -einem heißen sonnigen Tage hinaustritt. - -Als er um die Ecke in die _gestrige_ Straße einbog, blickte er dorthin, -auf _jenes_ Haus voll qualvoller Unruhe ... und wendete sogleich die -Augen ab. - -»Wenn man mich frägt, werde ich es vielleicht sagen,« dachte er, indem -er sich dem Polizeibureau näherte. - -Das Bureau war ein paar hundert Schritte von seinem Hause entfernt. Es -war kürzlich in neuen Räumen in einem neuen Hause im vierten Stocke -untergebracht worden. In dem alten Bureau war er einmal, aber vor -längerer Zeit, gewesen. Als er in das Tor eintrat, erblickte er zur -rechten Hand eine Treppe, von der ein Mann mit einem Buche in der Hand -herunterkam. »Ein Bureaudiener also; folglich ist auch hier das Bureau,« -und er begann aufs Geratewohl die Treppe hinaufzusteigen. Er wollte -niemanden um Auskunft fragen. - -»Ich trete ein, werfe mich auf die Knie und erzähle alles ...« dachte -er, indem er die letzte Treppe zum vierten Stock hinaufstieg. - -Die Treppe war sehr schmal, steil und voll Unrat. Alle Küchen von allen -Wohnungen in all den vier Stockwerken mündeten auf diese Treppe und -standen fast den ganzen Tag offen. Daher war dort eine furchtbare, -stickige Luft. Es kamen und gingen Hausknechte mit Büchern unter dem -Arm, Schutzleute und allerhand Volk beiderlei Geschlechts, die da zu tun -hatten. Die Türe zu dem Polizeibureau stand auch sperrweit auf. Er trat -ein und blieb im Vorzimmer stehn. Überall standen, überall warteten -Bauern. Auch hier war die Luft schrecklich dumpf und außerdem roch es -zum Übelwerden nach frischer, nicht ausgetrockneter Farbe mit ranzigem -Öl von den neugestrichenen Dielen. Er wartete ein wenig und beschloß, -weiter in das nächste Zimmer zu gehen. Alle Zimmer waren klein und -niedrig. Eine quälende Ungeduld zog ihn immer weiter und weiter. Niemand -beachtete ihn. In dem zweiten Zimmer saßen und schrieben einige -Schreiber, die vielleicht ein wenig besser gekleidet waren als er, dem -Äußeren nach komische Menschen. Er wandte sich an einen von ihnen. - -»Was wünschest du?« - -Er zeigte die Vorladung. - -»Sie sind Student?« fragte der Schreiber, nachdem er einen Blick auf die -Vorladung geworfen hatte. - -»Ja, ich bin gewesener Student.« - -Der Schreiber blickte ihn ohne jegliche Neugier an. Er war ein besonders -zerzauster Mensch mit einem unbeweglichen Ausdruck im Blicke. - -»Von diesem erfahre ich nichts, denn ihm ist es gleichgültig,« dachte -Raskolnikoff. - -»Gehen Sie dorthin, zu dem Sekretär,« sagte der Schreiber und wies mit -dem Finger auf das allerletzte Zimmer. - -Er trat in dieses Zimmer, das vierte der Reihe nach; es war eng und -vollgestopft von Menschen, die ein wenig besser gekleidet waren, als in -den ersten Zimmern. Unter den Besuchern waren auch zwei Damen. Die eine -in Trauer, ärmlich gekleidet, saß an einem Tisch gegenüber dem Sekretär -und schrieb etwas nach seinem Diktat. Die andere Dame, eine sehr dicke, -purpurrote, ansehnliche Frau mit Flecken im Gesichte, sehr auffällig -gekleidet, mit einer Brosche in der Größe einer Untertasse stand -seitwärts und schien auf etwas zu warten. Raskolnikoff schob dem -Sekretär seine Vorladung zu. Dieser besah sie flüchtig, sagte: »warten -Sie« und fuhr fort, sich mit der Dame in Trauer zu beschäftigen. - -Raskolnikoff atmete erleichtert auf. - -»Es ist sicher nicht das!« Allmählich begann er Mut zu fassen, er sprach -sich mit aller Macht zu, sich zusammenzunehmen und besonnen zu sein. - -»Irgendeine Dummheit, irgendeine geringfügige Unvorsichtigkeit, und ich -kann mich verraten! Hm ... schade, daß hier keine frische Luft ist,« -fügte er hinzu, »diese Schwüle ... Der Kopf schwindelt mir noch mehr ... -und der Verstand auch ...« - -Er fühlte in seinem ganzen Körper eine furchtbare Zerrüttung und -fürchtete auch, sich nicht beherrschen zu können. Nun versuchte er, sich -an etwas anzuklammern, und an irgend etwas vollkommen Nebensächliches zu -denken, aber das gelang ihm absolut nicht. Der Sekretär interessierte -ihn übrigens sehr stark, -- er wollte gern aus seinem Gesichte etwas -erraten und ihn durchschauen. Es war ein sehr junger Mann von etwa -zweiundzwanzig Jahren, mit einem beweglichen Gesichte von dunkler Farbe, -das ihn älter erscheinen ließ; er war nach der Mode und stutzerhaft -gekleidet, hatte einen Scheitel am Hinterkopf, war frisiert und -pomadisiert und trug eine Menge Ringe an den weißen, peinlich sauberen -Fingern und eine goldene Kette auf der Weste. Mit einem anwesenden -Ausländer wechselte er sogar ein paar Worte französisch, und tat es -ziemlich gut. - -»Louisa Iwanowna, setzen Sie sich doch,« sagte er flüchtig zu der -geputzten purpurroten Dame, die die ganze Zeit dastand, als wage sie -nicht sich hinzusetzen, obwohl ein Stuhl neben ihr stand. - -»Ich danke,« sagte sie deutsch und setzte sich, seiderauschend, auf den -Stuhl. Ihr hellblaues Kleid, mit weißen Spitzen besetzt, umgab gleich -einem Luftballon ihren Stuhl und nahm beinahe das halbe Zimmer ein. Ein -Duft von Parfüm verbreitete sich. Aber der Dame schien es peinlich zu -sein, daß sie das halbe Zimmer einnahm und daß sie so stark nach Parfüm -duftete, obgleich sie halb ängstlich, halb frech, jedoch voll deutlicher -Unruhe lächelte. - -Die Dame in Trauer war endlich fertig und erhob sich von ihrem Platze. -Plötzlich trat mit einigem Geräusch, bei jedem Schritte sehr rasch und -eigentümlich die Schultern bewegend, ein Offizier ein, warf die Mütze -mit der Kokarde auf den Tisch und setzte sich in den Sessel. Bei seinem -Anblicke sprang die geputzte Dame von ihrem Platze auf und begann mit -besonderem Entzücken zu knixen, der Offizier aber schenkte ihr nicht die -geringste Beachtung und sie wagte es nicht mehr, sich in seiner -Gegenwart hinzusetzen. Es war der Gehilfe des Revieraufsehers, er hatte -einen horizontal abstehenden rötlichen Schnurrbart, sein Gesicht wies -unbedeutende Züge auf, die außer einer gewissen Frechheit nichts -ausdrückten. Er blickte von der Seite und unmutig auf Raskolnikoff; -dessen Anzug war schlecht, und dennoch entsprach seine Haltung nicht der -Ärmlichkeit seiner Kleidung. Raskolnikoff hatte aus Unvorsichtigkeit ihm -zu lange ins Gesicht gestarrt, so daß jener sich sogar beleidigt fühlte. - -»Was willst du?« schrie er ihn an, entrüstet, daß solch ein zerlumpter -Mensch nicht daran dachte, vor seinem blitzesprühenden Blicke sich zu -verziehen. - -»Man hat mich bestellt ... laut Vorladung ...« antwortete Raskolnikoff -zusammenhanglos. - -»Es handelt sich um eine Geldforderung an ihn, _er ist Student_,« -beeilte sich der Sekretär zu bemerken, indem er von seiner Arbeit -aufschaute. »Da ist es!« und er warf Raskolnikoff ein Heft zu und zeigte -ihm die Stelle. »Lesen Sie es durch!« - -»Geld? Was für Geld?« dachte Raskolnikoff, »aber, ... es ist also nicht -das!« - -Und er fuhr vor Freude zusammen. Es wurde ihm urplötzlich unbeschreibbar -leicht. Alles war verflogen. - -»Um welche Stunde aber sind Sie hierher bestellt, mein Herr!« schrie der -Leutnant, der sich aus unbekannten Gründen immer mehr ärgerte. »Man -bestellte Sie um neun und jetzt ist schon die zwölfte Stunde.« - -»Man hat mir die Vorladung erst vor einer Viertelstunde zugestellt,« -antwortete laut und über die Schulter hinweg Raskolnikoff, der auch -plötzlich und unerwartet ärgerlich geworden war und darin ein gewisses -Vergnügen fand. »Es ist schon genug, daß ich trotz meines Fiebers -hergekommen bin.« - -»Belieben Sie nicht zu schreien!« - -»Ich schreie gar nicht, sondern spreche sehr ruhig, aber Sie schreien -mich an; ich bin Student und erlaube nicht, daß man mich anschreit.« - -Der Gehilfe war so erregt, daß er im ersten Augenblick kein Wort -hervorbringen konnte, er zischte nur und sprang von seinem Platze auf. - -»Schwei--gen Sie bitte! Sie stehen vor einer Behörde. Sie dürfen nicht -grob sein, mein Herr!« - -»Auch Sie sind bei einer Behörde,« rief Raskolnikoff, »und Sie schreien -nicht allein, sondern rauchen auch, verletzen uns also in jeder Weise.« - -Als Raskolnikoff dies gesagt hatte, empfand er einen unbeschreiblichen -Genuß. Der Sekretär blickte sie lächelnd an. Der hitzige Leutnant war -sichtbar verblüfft. - -»Das geht Sie nichts an!« schrie er endlich unnatürlich laut. »Belieben -Sie aber besser eine Antwort auf die Forderung zu geben. Zeigen Sie sie -ihm, Alexander Grigorjewitsch. Klagen laufen gegen Sie ein! Sie zahlen -nicht! Schaut mal den noblen Herrn an!« - -Raskolnikoff aber hörte nicht mehr, nahm aufgeregt das Papier vor und -suchte schnell die Lösung. Er las es einmal, ein zweites Mal, und -begriff nichts. - -»Was ist es denn?« fragte er den Sekretär. - -»Man verlangt von Ihnen Geld laut Schuldschein, eine Forderung ist es. -Sie müssen entweder die Summe mit allen Unkosten, Strafgeldern und so -weiter bezahlen oder eine schriftliche Erklärung abgeben, wann Sie -imstande sind zu bezahlen, gleichzeitig aber auch sich verpflichten, die -Hauptstadt bis zur Tilgung der Schuld nicht zu verlassen und Ihr -Eigentum weder zu veräußern noch zu verheimlichen. Der Gläubiger aber -hat das Recht, Ihr Eigentum zu verkaufen und mit Ihnen nach dem Gesetze -zu verfahren.« - -»Ja ... aber ich schulde niemand etwas.« - -»Das geht uns nichts an. Wir haben zur Einkassierung einen verfallenen -und gesetzlich protestierten Schuldschein auf hundertundfünfzehn Rubel -erhalten, den Sie der Witwe des Kollegienassessors Sarnitzin vor neun -Monaten ausgestellt haben und der von der Witwe Sarnitzin an den Hofrat -Tschebaroff durch Kauf übergegangen ist, und darum fordern wir von Ihnen -eine Erklärung.« - -»Sie ist ja meine Zimmerwirtin!« - -»Nun, und was ist dabei, daß sie Ihre Zimmerwirtin ist?« - -Der Sekretär blickte ihn mit herablassendem mitleidigen Lächeln an, -gleichzeitig aber ein wenig triumphierend, wie über einen Neuling, den -man soeben beginnt zu rupfen, als wollte er sagen: »Nun, wie fühlst du -dich jetzt?« - -Aber was kümmert ihn jetzt der Schuldschein, eine Forderung! Lohnt es -sich jetzt, darüber sich auch nur ein wenig aufzuregen, es auch nur zu -beachten! Er stand da, las, hörte, antwortete, fragte sogar selbst, aber -alles nur mechanisch. Der Triumph der Selbsterhaltung, die Rettung aus -der drohenden Gefahr, -- das erfüllte in diesem Augenblick sein ganzes -Wesen, ohne Ausblick, ohne Analyse, ohne Deutung und Enträtselung der -Zukunft, ohne Zweifel und ohne Fragen. Es war ein Augenblick -unmittelbarer, rein tierischer Freude. Aber in diesem Momente ereignete -sich im Bureau etwas wie die Entladung eines Gewitters. Der Leutnant, -immer noch aus dem Gleichgewicht wegen der Unehrerbietigkeit, ganz -aufgeregt und wahrscheinlich mit dem Wunsche, die gekränkte Ehre -herzustellen, stürzte sich mit seinem ganzen Zorn auf die unglückliche -»pompöse Dame,« die ihn seit seinem Eintritt mit einem äußerst dummen -Lächeln anblickte. - -»Ach du, so eine,« schrie er sie plötzlich aus vollem Halse an (die Dame -in Trauer war schon fortgegangen), »was ist bei dir in der vorigen Nacht -passiert? Ah? Wieder gibt es bei dir Schimpf und Skandal in der ganzen -Straße? Wieder Schlägerei und Sauferei. Du träumst wohl vom -Arbeitshause! Ich habe dir doch schon gesagt, habe dich schon zehnmal -gewarnt, daß ich dir das elfte Mal nichts schenken werde! Und du tust es -wieder, du, du ...« - -Das Papier entfiel den Händen Raskolnikoffs und er blickte entsetzt die -prachtvolle Dame an, mit der man so ungeniert herumsprang; aber bald -darauf begriff er, was los sei, und sofort gefiel ihm diese Sache -ausgezeichnet. Er hörte mit Vergnügen zu, so daß er Lust bekam, laut zu -lachen, zu lachen, zu lachen ... Alle seine Nerven zuckten. - -»Ilja Petrowitsch!« versuchte der Sekretär zu besänftigen, aber er hielt -inne, um die rechte Zeit abzuwarten, denn den in Aufregung geratenen -Leutnant konnte man nicht anders beruhigen als durch Festhalten der -Hände, was er aus eigener Erfahrung kannte. - -Was aber die prachtvolle Dame anging, so begann sie zuerst beim Donner -und Blitz zu beben; aber sonderbar, je zahlreicher und kräftiger die -Schimpfwörter wurden, um so liebenswürdiger wurde ihr Aussehen, um so -bezaubernder wurde ihr Lächeln dem zornigen Leutnant gegenüber. Sie -trippelte auf einem Fleck, knixte ununterbrochen und wartete voll -Ungeduld, daß sie endlich auch zu Wort kommen würde, was ihr schließlich -gelang. - -»Gar kein Lärm und keine Schlägerei waren bei mir, Herr Kapitän,« -plapperte sie plötzlich los, so schnell, als schüttete man Erbsen aus, --- mit einem stark deutschen Akzent, aber doch fließend russisch, -- -»und gar kein Skandal, gar keiner, und sie kamen betrunken hin, und ich -will alles erzählen, Herr Kapitän, und ich bin nicht schuld ... ich habe -ein anständiges Haus, Herr Kapitän, und ein anständiger Ton ist bei mir, -Herr Kapitän, und ich will nie, will selbst nie einen Skandal haben. Sie -aber kamen ganz betrunken hin und haben dann drei Flaschen verlangt, und -dann erhob einer seine Füße und begann mit den Füßen auf dem Klavier zu -spielen, und das paßt sich gar nicht in einem anständigen Hause, und er -hat das ganze Klavier zerschlagen, und das ist doch keine Manier, und da -habe ich es ihm gesagt. Er aber nahm eine Flasche und begann alle von -hinten mit der Flasche zu stoßen. Und da habe ich den Hausknecht -gerufen, und als Karl kam, hat er Karl das Auge ausgeschlagen, und -Henriette hat er auch das Auge ausgeschlagen, und mich hat er fünfmal -auf die Backe geschlagen. Und das ist nicht fein in einem anständigen -Hause, Herr Kapitän, und ich habe geschrien. Und er hat das Fenster zu -dem Kanal geöffnet und hat wie ein kleines Schwein aus dem Fenster -gequiekt; das ist doch eine Schande. Wie kann man auch wie ein kleines -Schwein aus dem Fenster quieken? Pfui, pfui, pfui! Und Karl hat ihn an -seinem Frack vom Fenster gezogen, und das ist wahr, Herr Kapitän, daß er -ihm da seinen Rock zerrissen hat. Und da begann er zu schreien, daß man -ihm fünfzehn Rubel Strafe zahlen müsse. Und ich selbst habe ihm fünf -Rubel für seinen Rock bezahlt, Herr Kapitän. Und das ist ein -unanständiger Gast, Herr Kapitän, und er hat allen Skandal gemacht. Ich -werde, hat er gesagt, eine große Satire über Sie drucken lassen, denn -ich kann in allen Zeitungen über Sie schreiben.« - -»Also ein Zeitungsschreiber?« - -»Ja, Herr Kapitän, und welch ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, wenn -er in einem anständigen Hause ...« - -»Nun, nun, genug! Ich habe dir doch gesagt, habe dir doch gesagt ...« - -»Ilja Petrowitsch!« sagte von neuem der Sekretär bedeutungsvoll. - -Der Leutnant blickte ihn schnell an, der Sekretär nickte leicht mit dem -Kopfe. - -»... Also es ist mein letztes Wort, verehrteste Louisa Iwanowna, und -auch zum letztenmal,« fuhr der Leutnant fort, »wenn in deinem -anständigen Hause nur noch ein einziges Mal ein Skandal vorkommt, so -werde ich dich selbst beim Wickel nehmen, wie man sich poetisch -ausdrückt. Hast du gehört? Also ein Literat, ein Schriftsteller war es, -der in einem >anständigen Hause< fünf Rubel für einen Rockschoß genommen -hat? So sind sie, diese Schriftsteller!« und er warf einen verächtlichen -Blick auf Raskolnikoff. »Vorgestern passierte in einem Restaurant -dieselbe Geschichte, -- hat einer zu Mittag gegessen, wünscht aber nicht -zu zahlen; >ich werde<, sagt er, >Sie in einer Satire schildern<. Ein -anderer wieder beschimpft mit den gemeinsten Worten in der vorigen Woche -auf einem Dampfschiffe die achtbare Familie eines Staatsrates, Frau und -Tochter. Vor ein paar Tagen hat man einen dritten aus einer Konditorei -herausgeschmissen. So sind sie alle, die Schriftsteller, Literaten, -Studenten, Großmäuler ... pfui! Und du kannst dich packen! Ich will mal -selbst dich aufsuchen ... dann nimm dich in acht! Hast du gehört?« - -Louisa Iwanowna begann mit eiliger Liebenswürdigkeit nach allen Seiten -hin zu knixen und trippelte knixend bis zur Türe, hier aber stieß sie -von hinten auf einen stattlichen Offizier mit einem offenen frischen -Gesichte und schönem dichten, blonden Backenbart. Es war Nikodim -Fomitsch selbst, der Revieraufseher. Louisa Iwanowna beeilte sich einen -tiefen Knix zu machen und flog mit eiligen kleinen Schritten hüpfend aus -dem Bureau hinaus. - -»Wieder Gepolter, wieder Donner und Blitz, Wirbelwind und Orkan!« wandte -sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja -Petrowitsch. »Wieder hat man Ihr Herz in Aufruhr gebracht, wieder sind -Sie erregt worden! Ich hab' es schon auf der Treppe gehört.« - -»Ach, was!« sagte mit nobler Gleichgültigkeit Ilja Petrowitsch und ging -mit einigen Papieren zu einem anderen Tisch, wobei er bei jedem Schritt -elegant mit den Schultern zuckte. »Da, bitte sehen Sie es sich mal an -- -der Herr Schriftsteller, pardon Student, ein gewesener wollte ich sagen, -zahlt nicht, stellt Wechsel aus, räumt die Wohnung nicht, fortwährende -Klagen laufen ein, -- er aber war doch gekränkt, daß ich in seiner -Gegenwart mir eine Zigarette ansteckte. Selbst aber gaunert diese Sorte, -bitte sehen Sie sich ihn doch an, -- da steht er in seinem reizenden -Aussehen.« - -»Armut ist kein Laster, mein Freund, na, aber wozu reden. Es ist ja -bekannt, du bist wie Pulver, konntest eine Kränkung nicht ertragen. Sie -fühlten sich durch irgend etwas von ihm gekränkt und konnten sich nicht -beherrschen,« fuhr Nikodim Fomitsch fort, sich liebenswürdig an -Raskolnikoff wendend, »aber das war überflüssig, er ist der -an--stän--dig--ste Mensch, sage ich Ihnen, aber wie Pulver, wie Pulver! -Flammt auf, kocht über, brennt ab -- und Schluß. Und alles ist vorbei! -Und zu guter Letzt bleibt nur das goldene Herz! Man hat ihn schon im -Regiment >Leutnant Pulver< genannt!« - -»Und was für ein Regiment es war!« rief Ilja Petrowitsch aus, sehr -zufrieden, daß man ihm so angenehm geschmeichelt hatte, aber immer noch -schmollend. Raskolnikoff bekam plötzlich Lust, ihnen allen etwas äußerst -Angenehmes zu sagen. - -»Aber bitte, Herr Kapitän,« begann er ziemlich ungezwungen, sich -plötzlich an Nikodim Fomitsch wendend, »berücksichtigen Sie auch meine -Lage ... Ich bin sogar bereit, um Entschuldigung zu bitten, wenn ich -gegen etwas verstoßen habe. Ich bin ein armer und kranker Student, -erdrückt (er sagte >erdrückt<) von Armut. Ich bin ehemaliger Student, da -ich jetzt meinen Unterhalt nicht verdienen kann, aber ich erhalte Geld -... Ich habe Mutter und Schwester im --schen Gouvernement. Sie werden -mir Geld schicken und ich werde ... bezahlen. Meine Wirtin ist eine gute -Frau, aber sie ist so böse geworden, weil ich meine Stunden verloren -habe und ihr den vierten Monat nicht zahle, daß sie mir sogar kein -Mittagessen mehr schickt ... Und ich begreife gar nicht, was das für ein -Wechsel ist. Jetzt verlangt sie von mir, ihn einzulösen, aber wie kann -ich denn zahlen, urteilen Sie selbst!« - -»Aber das geht ja uns nichts an ...« versuchte der Sekretär wieder zu -bemerken ... - -»Erlauben Sie, erlauben Sie, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, -aber erlauben Sie, Ihnen klar zu machen,« unterbrach ihn Raskolnikoff, -indem er sich nicht an den Sekretär, sondern, wie schon die ganze Zeit, -an Nikodim Fomitsch wandte und dabei aus aller Kraft versuchte, sich -auch an Ilja Petrowitsch zu wenden, obgleich dieser sich hartnäckig den -Anschein gab, als wühle er in den Papieren und beachte ihn nicht, -»erlauben Sie mir auch meinerseits Ihnen zu erklären, daß ich schon drei -Jahre bei ihr wohne, seit meiner Ankunft aus der Provinz und früher ... -früher ... übrigens warum soll ich es nicht gestehen, gleich im Anfang -gab ich ihr das Versprechen, daß ich ihre Tochter heiraten werde, es war -ein mündliches, vollkommen freiwilliges Versprechen ... Sie war ein -junges Mädchen ... übrigens sie gefiel mir sogar ... obgleich ich nicht -in sie verliebt war ... mit einem Worte Jugend, d. h. ich will sagen, -daß meine Wirtin mir damals viel Kredit einräumte und ich führte -teilweise ein solches Leben ... ich war sehr leichtsinnig ...« - -»Man verlangt von Ihnen gar nicht solche intime Geständnisse, mein Herr, -außerdem haben wir keine Zeit dazu,« unterbrach ihn grob und -triumphierend Ilja Petrowitsch, aber Raskolnikoff beeilte sich voll -Eifer weiter zu sprechen, obwohl es ihm plötzlich äußerst schwer fiel. - -»Aber erlauben Sie, erlauben Sie mir, teilweise, alles zu erzählen ... -wie die Sache vor sich ging und ... wiederum ... obgleich es überflüssig -ist zu erzählen, ich bin darin mit Ihnen einverstanden, -- aber vor -einem Jahre starb dies junge Mädchen am Typhus, ich aber blieb in Miete, -wie vorher, und meine Wirtin sagte mir, als sie in ihre jetzige Wohnung -einzog, und ... sagte es mir freundschaftlich ... daß sie mir vollkommen -vertraue und daß alles ... aber ob ich ihr nicht einen Schuldschein von -hundertundfünfzehn Rubel ausstellen möchte, das war die Summe, die ich -ihr schuldete. Erlauben Sie, -- sie sagte mir nämlich, daß, wenn ich ihr -dies Papier ausgestellt habe, sie mir von neuem kreditieren würde, -soviel ich nur wünschte, und daß sie niemals, niemals -- das sind ihre -eigenen Worte -- von diesem Papier Gebrauch machen würde, bis ich selbst -bezahlen werde ... Und jetzt, wo ich meine Stunden verloren und nichts -zu essen habe, verklagt sie mich ... Was soll ich dazu sagen?« - -»Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, mein Herr,« -schnitt Ilja Petrowitsch dreist ab. »Sie müssen eine Erklärung abgeben -und eine Verpflichtung ausstellen, ob Sie aber verliebt waren, und all -diese tragischen Sachen gehen uns ganz und gar nichts an.« - -»Nun, du bist aber ... auch zu grausam ...« murmelte Nikodim Fomitsch, -indem er sich an seinen Tisch setzte und Papiere zu unterschreiben -begann. - -Er schien sich zu schämen. - -»Schreiben Sie also,« sagte der Sekretär zu Raskolnikoff. - -»Was soll ich schreiben?« fragte er besonders grob. - -»Ich werde Ihnen diktieren.« - -Raskolnikoff schien es, als wäre der Sekretär herablassender und -geringschätziger ihm gegenüber nach seiner Beichte geworden, -- aber -merkwürdig, -- ihm war plötzlich die Meinung eines anderen so vollkommen -gleichgültig, und dieser Umschwung hatte sich in einem Augenblick, in -einem Nu vollzogen. Wenn er nur ein wenig hätte nachdenken wollen, so -würde er sicher verwundert gewesen sein, wie er so mit ihnen vor einer -Minute hatte sprechen und sich sogar mit seinen Gefühlen hatte -aufdrängen können? Und woher kam dieses Gefühl? Jetzt, wenn das Zimmer -plötzlich nicht mit Revieraufsehern, sondern mit seinen besten Freunden -angefüllt wäre, würde er kein einziges menschliches Wort für sie finden, -so leer war plötzlich sein Herz geworden. Ein düsteres Empfinden der -qualvollen endlosen Einsamkeit und Entfremdung teilte sich plötzlich -bewußt seiner Seele mit. Nicht die Erniedrigung vor Ilja Petrowitsch -durch seine Herzensergießung, auch nicht die Erniedrigung durch den -Triumph des Leutnants hatten sein Herz plötzlich so umgewandelt. Oh, was -ging ihn jetzt die eigene Schuftigkeit an, all der Ehrgeiz, was gingen -ihn alle Leutnants, deutsche Frauen, Geldforderungen, Bureaus an und so -weiter und so weiter! Hätte man ihn in diesem Augenblicke zum -Scheiterhaufen verurteilt, er hätte sich auch dann nicht gerührt, hätte -kaum das Urteil aufmerksam angehört. In ihm vollzog sich etwas ihm -völlig Unbekanntes, Neues, Unerwartetes und Niedagewesenes. Er konnte es -nicht begreifen, aber fühlte es ganz klar mit der ganzen Kraft des -Empfindens, daß er von jetzt ab weder mit gefühlvollen Ereignissen, wie -vorhin, noch mit anderen Dingen sich an diese Menschen im Polizeibureau -wenden konnte; auch dann wäre es für ihn überflüssig, sich an sie jemals -im Leben zu wenden, wenn es sogar seine leiblichen Brüder und Schwestern -gewesen wären, und nicht Polizeileutnants. Er hatte bis zu diesem -Augenblick noch nie eine ähnliche seltsame und fürchterliche Empfindung -erlebt. Und das Quälendste dabei war, -- daß es ein Empfinden war, kein -bewußtes Begreifen, eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von -allen, die er im Leben gekostet. - -Der Sekretär begann ihm die Form einer in diesem Falle gebräuchlichen -Erklärung zu diktieren, d. h. ich kann nicht zahlen, verspreche es in -der Frist (irgendwann) zu tun, werde die Stadt nicht verlassen und mein -Eigentum weder verkaufen, noch verschenken und dergleichen mehr. - -»Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand,« --- bemerkte der Sekretär und blickte voll Neugier Raskolnikoff an. -- -»Sie sind krank?« - -»Ja ... der Kopf schwindelt mir ... diktieren Sie weiter.« - -»Das ist alles. Unterschreiben Sie es.« - -Der Sekretär nahm das Papier und wendete sich andern Besuchern zu. - -Raskolnikoff gab die Feder zurück, aber anstatt aufzustehen und -wegzugehen, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und preßte mit den -Händen den Kopf zusammen. Es war, als ob man ihm einen Nagel in die -Schläfe hineinschlüge. Ein wunderlicher Gedanke kam ihm plötzlich, -- -sofort aufzustehen, zu Nikodim Fomitsch zu gehen und ihm das gestrige zu -erzählen, alles bis auf die letzte Einzelheit, dann mit ihm in seine -Wohnung zu gehen und ihm die Sachen in dem Winkel im Loche zu zeigen. -Der Drang war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen. - -»Soll ich nicht einen Moment nachdenken?« -- fuhr es ihm durch den Kopf. -»Nein, besser nicht nachdenken und die Sache ist abgetan!« - -Aber plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Nikodim Fomitsch sprach -voll Eifer mit Ilja Petrowitsch, und er vernahm folgende Worte: - -»Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens, widerspricht -alles der Annahme; urteilen Sie selbst, -- warum holten sie den -Hausknecht, wenn sie es getan haben? Etwa um sich selbst anzuzeigen? -Oder aus Schlauheit! Nein, das wäre schon zu schlau! Und schließlich, -den Studenten Pestrjakoff haben beide Hausknechte und eine Frau am Tore -im selben Momente gesehen, als er hineinging, -- er ging mit drei -Bekannten zusammen und verabschiedete sich von ihnen am Tore, und dann -fragte er die Hausknechte nach der Wohnung in Gegenwart seiner -Bekannten. Nun, wird jemand nach der Wohnung fragen, wenn er so eine -Absicht hat? Und Koch, -- der hat, bevor er zu der Alten ging, eine -halbe Stunde unten bei dem Silberarbeiter gesessen und er ist genau ein -viertel vor acht zu der Alten hinaufgegangen. Jetzt erwägen Sie ...« - -»Aber erlauben Sie, woher denn der Widerspruch bei ihnen -- sie -behaupten selbst, daß sie geklopft haben, und daß die Türe verschlossen -war, und nach drei Minuten, als sie mit dem Hausknecht heraufkamen, -erwies sich, daß die Türe offen war?« - -»Das ist ja der Haken, -- der Mörder saß unbedingt drinnen und hatte -sich eingeschlossen, und man hätte ihn sicher gefaßt, wenn Koch nicht -die Dummheit begangen hätte, selbst nach dem Hausknecht zu gehen. _Dem_ -aber gelang es währenddessen, die Treppe hinunterzugehen und irgendwie -an ihnen vorbeizuschlüpfen. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: >wenn -ich geblieben wäre,< sagt er, >würde er herausgekommen sein und hätte -mich totgeschlagen<. Er will ein russisches Dankgebet abhalten lassen -... ha--ha!« - -»Und den Mörder hat niemand gesehen?« - -»Wie denn? Das Haus ist eine Arche Noah,« -- bemerkte der Sekretär, der -von seinem Platze zuhörte. - -»Es ist ganz klar, es ist ganz klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch -eifrig. - -»Nein, die Sache ist sehr unklar,« blieb Ilja Petrowitsch bei seiner -Ansicht. - -Raskolnikoff nahm seinen Hut und ging zur Türe, aber kam nicht so weit -... Als er zu sich kommt, sieht er, daß er auf einem Stuhl sitzt; daß -rechts ihn jemand stützt, links ein anderer steht mit einem gelben -Glase, gefüllt mit gelbem Wasser, und daß Nikodim Fomitsch vor ihm steht -und ihn unverwandt anblickt. Er stand vom Stuhle auf. - -»Was ist Ihnen, sind Sie krank?« -- fragte Nikodim Fomitsch ziemlich -scharf. - -»Schon als er unterschrieb, konnte er kaum die Feder führen,« bemerkte -der Sekretär, indem er seinen Platz einnahm und in seinen Papieren -wieder blätterte. - -»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platze -aus, indem er auch in Papieren blätterte. - -Er hatte selbstverständlich auch den Kranken betrachtet, als er -ohnmächtig war, war aber sofort auf die Seite getreten, als jener zu -sich kam. - -»Seit gestern ...« murmelte Raskolnikoff zur Antwort. - -»Und sind Sie gestern ausgegangen?« - -»Ja.« - -»Krank?« - -»Ja.« - -»Um wieviel Uhr?« - -»In der achten Stunde abends.« - -»Und wohin, wenn man fragen darf?« - -»Auf die Straße.« - -»Kurz und bündig.« - -Raskolnikoff antwortete scharf, kurz, bleich wie ein Taschentuch, ohne -seine schwarzen entzündeten Augen vor dem Blick Ilja Petrowitsch' zu -senken. - -»Er kann kaum auf den Füßen stehen und du ...« versuchte Nikodim -Fomitsch zu bemerken. - -»Tut nichts!« -- sagte Ilja Petrowitsch sehr eigentümlich. - -Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, schwieg aber, als er den -Sekretär anblickte, der ihn auch sehr aufmerksam ansah. Plötzlich -schwiegen alle. Es war merkwürdig. - -»Nun gut!« -- schloß Ilja Petrowitsch. - -»Wir halten Sie nicht auf.« - -Raskolnikoff ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem -Fortgange plötzlich ein lebhaftes Gespräch begann, in dem am lautesten -die fragende Stimme von Nikodim Fomitsch hervortrat ... Auf der Straße -kam er ganz zu sich. - -»Eine Haussuchung, Haussuchung, sie werden sofort bei mir suchen!« -- -wiederholte er vor sich hin, indem er sich beeilte nach Hause zu kommen. --- »Räuber! Sie haben Verdacht!« - -Wieder erfaßte ihn vom Kopf bis zu Füßen die Angst von vorhin. - - - II. - -»Wie, wenn die Haussuchung schon vorgenommen ist? Wie, wenn ich sie -jetzt schon bei mir antreffe?« - -Aber da ist er schon in seinem Zimmer. Nichts und niemand; niemand war -dagewesen. Sogar Nastasja hat nichts angerührt. Aber, mein Gott! Wie -konnte er nur vorhin alle diese Sachen in dem Loche liegen lassen? - -Er stürzte zu dem Winkel, steckte die Hand unter die Tapeten und begann -die Sachen hervorzuholen und in die Taschen zu stecken. Im ganzen waren -es acht Stück, -- zwei kleine Schachteln mit Ohrgehängen oder etwas -ähnlichem, -- er hatte es nicht genau angesehen; dann vier kleine Etuis -aus Saffian. Eine kleine Kette war bloß in Zeitungspapier eingewickelt. -Es war noch etwas in einem Zeitungspapier, wie es schien, ein Orden ... -Er steckte alles in die verschiedenen Taschen, in den Paletot und in die -übriggebliebene rechte Hosentasche und gab sich Mühe, daß nichts von -außen zu merken war. Den Beutel nahm er gleichfalls mit. Dann verließ er -das Zimmer und ließ diesmal die Tür weit offen stehen. - -Er ging schnell und fest, und obgleich er fühlte, daß er vollkommen -zerschlagen war, war doch sein Bewußtsein klar. Er fürchtete eine -Verfolgung, fürchtete, daß nach einer halben Stunde, nach einer -Viertelstunde schon vielleicht der Befehl gegeben würde, ihn zu -beobachten, also mußte er um jeden Preis, ehe es zu spät war, alles -beiseite schaffen. Er mußte fertig sein, solange ihm noch die geringste -Kraft und klarer Verstand zur Seite standen ... Wohin aber gehen? - -Das war längst entschieden: »Alles in den Kanal werfen, und das ist das -Ende«. So hatte er noch in der Nacht, im Fieber, beschlossen, in den -Augenblicken, wo er -- er entsann sich dessen -- ein paarmal versuchte -aufzustehen und fortzugehen: »Schnell, schnell, alles fortwerfen«. Aber -das erwies sich als sehr schwer. - -Er wanderte den Jekaterinenkanal schon über eine halbe Stunde entlang, -vielleicht auch länger, und schaute nach den Treppen, die zum Kanal -hinabführten. Aber es war nicht mal daran zu denken, das Vorhaben -auszuführen: entweder lagen an den Treppen Flöße, und Wäscherinnen -wuschen dort, oder Kähne hatten angelegt, und überall wimmelte es von -Menschen, außerdem aber konnte man von allen Seiten hersehen, es war -schon verdächtig, wenn ein Mensch hinabging, stehen blieb und etwas ins -Wasser warf. Und gar wenn die Etuis nicht untergingen, sondern obenauf -schwammen? Ja, und so wird es auch kommen. Jeder wird es sehen. Schon -jetzt sehen alle ihn an, als ob sie sich nur um ihn kümmerten. - -»Woher kommt das, oder scheint es mir nur so?« -- dachte er. - -Endlich kam ihm der Gedanke, ob es nicht besser wäre, irgendwohin an die -Newa zu gehen? Dort sind weniger Menschen, und es würde weniger -bemerkbar und in jedem Falle bequemer sein, hauptsächlich aber wäre es -weit von hier. Und er wunderte sich plötzlich, wie er eine volle halbe -Stunde an den gefährlichen Stellen in Trübsal und Unruhe herumgewandert -war, ohne früher auf diesen Gedanken zu kommen. - -Und er hatte nur darum eine halbe Stunde nutzlos verbraucht, weil er so -im Traume, im Fieber beschlossen hatte. Er war sehr zerstreut und -vergeßlich geworden und fühlte es. Entschieden mußte er sich beeilen. - -Er ging zur Newa den W.schen Prospekt entlang und unterwegs kam ihm -plötzlich der Gedanke: »Warum denn zur Newa? Warum ins Wasser werfen? -Ist es nicht besser, irgendwohin ganz weit hinzugehen, vielleicht auf -die Inseln, und dort irgendwo an einer einsamen Stelle, im Walde, unter -einem Busche alles zu verscharren und vielleicht sich den Baum zu -merken?« - -Und obgleich er fühlte, daß er nicht imstande sei, alles klar und -vernünftig in diesem Augenblicke zu überlegen, schien ihm doch der -Gedanke einwandfrei zu sein. - -Aber auch das war ihm nicht bestimmt auszuführen, es geschah etwas -anderes: -- als er vom W.schen Prospekt auf den Platz kam, erblickte er -plötzlich links das Tor zu einem von vollkommen fensterlosen Mauern -umgebenen Hof. Rechts zog sich von dem Eingange tief in den Hof hinein -die fensterlose, ungekalkte Mauer des vierstöckigen Nachbarhauses. Links -vom Eingange, parallel der kahlen Mauer, lief ein hölzerner Zaun, der -weiterhin, etwa zwanzig Schritte vom Eingange eine Biegung nach links -machte. Es war ein leerer, umzäunter Platz, wo allerhand Baumaterialien -lagen. Weiter, tief im Hofe, blickte hinter dem Zaune die Ecke einer -niedrigen, verräucherten Scheune aus Stein hervor, wahrscheinlich der -Teil einer Werkstatt. Hier war sicher eine Werkstatt für Wagenbauer oder -eine Schlosserei oder etwas ähnliches, denn überall lag viel schwarzer -Kohlenstaub. »Hier könnte man es wegwerfen und fortgehen!« -- -durchzuckte es ihn plötzlich. Da er niemand auf dem Hofe bemerkte, -durchschritt er das Tor und erblickte sofort am Eingange eine am Zaune -angebrachte Rinne, wie man sie oft in solchen Häusern antrifft, in denen -es viele Arbeiter, Kutscher usw. gibt, und über der Rinne war am Zaune -mit Kreide die übliche witzige Bemerkung angeschrieben: »Hier ist es -verboten, stehen zu bleiben!« Dieser Umstand war also ausgezeichnet, es -konnte keinen Verdacht erregen, daß er hineingegangen und hier stehn -geblieben war. »Alles mit einem Ruck fortwerfen und fortgehen!« - -Er blickte sich noch einmal um und wollte schon die Hand in die Tasche -stecken, als er plötzlich an der äußeren Mauer, zwischen dem Tore und -der Rinne, wo es höchstens einen Meter breit war, einen großen -unbehauenen Stein bemerkte, der vielleicht einen halben Zentner schwer -sein mochte und an die Straßenmauer angelehnt war. Hinter dieser Mauer -war die Straße, der Fußsteg, man hörte, wie die Vorbeigehenden -schlurften, aber hinter dem Tore konnte ihn niemand sehen, wenn nicht -jemand von der Straße eintrat, was übrigens sehr leicht passieren -konnte, und darum mußte er sich beeilen. - -Er beugte sich zu dem Steine, packte die obere Spitze mit beiden Händen -fest an, nahm alle seine Kräfte zusammen und wandte den Stein um. Unter -dem Steine hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet; er begann sofort -alles aus der Tasche hineinzuwerfen. Der Beutel kam obenauf zu liegen, -und trotzdem war noch Platz in der Vertiefung. Dann packte er den Stein -von neuem an, drehte ihn mit einem Ruck um, und er kam genau auf die -frühere Stelle zu liegen, nur schien er ein wenig hervorzuragen. Er -scharrte Erde ringsum zusammen und trat sie fest. Es war nichts zu -merken. Dann ging er hinaus und wandte sich dem Platze zu. Wieder packte -ihn auf einen Augenblick eine starke, überwältigende Freude, wie vorhin -in dem Polizeibureau. - -»Alle Spuren sind verwischt! Und wem, wem könnte es in den Sinn kommen, -unter diesem Steine nachzusuchen? Er liegt hier, vielleicht seitdem das -Haus gebaut ist und wird vielleicht noch ebensolange liegen. Und wenn -man es auch finden würde, wer würde an mich denken? Alles ist vorüber! -Es gibt keine Beweise!« und er lachte. Ja, er entsann sich später, daß -ihn ein nervöses stilles Lachen überfallen und daß er solange gelacht -hatte, als er über den Platz ging. Als er aber den K.schen Boulevard -erreichte, wo er vorgestern dem jungen Mädchen begegnet war, verging ihm -das Lachen. Andere Gedanken kamen ihm in den Kopf. Ein Abscheu ergriff -ihn, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals nach dem Fortgehen -des Mädchens gesessen und nachgedacht hatte, und er fürchtete sich, dem -Polizisten wieder zu begegnen, dem er damals zwanzig Kopeken gegeben -hatte. »Hol ihn der Teufel!« Er ging und blickte sich zerstreut und -ärgerlich um. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um einen einzigen, -anscheinend um den Hauptpunkt, und er fühlte, daß dies wirklich der -Hauptpunkt sei, und daß er jetzt, gerade jetzt, mit diesem Hauptpunkte -unter vier Augen zu tun habe, -- und daß es das erstemal seit diesen -zwei Monaten sei. - -»Ah, hol der Teufel all das!« dachte er plötzlich in einem Anfalle von -unermeßlicher Wut. »Na, wenn es mal begonnen hat, mag es auch dabei -bleiben, hol der Teufel das neue Leben. Oh Gott, wie das dumm ist! ... -Und wieviel habe ich heute zusammengelogen und wie gemein war ich! Wie -gemein habe ich vorhin geschwänzelt und dem charakterlosen Ilja -Petrowitsch geschmeichelt. Was war das für ein Blödsinn! Ich pfeife auf -sie alle und auch auf das, daß ich geschwänzelt und geschmeichelt habe. -Das ist es nicht, das ist es gar nicht!« - -Plötzlich blieb er stehn; eine neue, völlig unerwartete und -außerordentlich einfache Frage brachte ihn von diesem Gedanken ab und -ließ ihn bitter erstaunen: - -»Wenn das ganze in der Tat bewußt und nicht in alberner Weise vollführt -wurde, wenn du tatsächlich ein bestimmtes und sicheres Ziel hattest, -- -wie kam es dann, daß du bis jetzt nicht einmal in den Beutel -hineinblicktest und nicht weißt, was dir zugefallen ist, warum hast du -alle Qualen auf dich genommen und solch eine gemeine, häßliche, niedrige -Tat bewußt übernommen? Du wolltest doch soeben ihn ins Wasser werfen, -den Beutel mit all den Sachen, die du auch noch nicht gesehen hast ... -Wie ist denn das?« - -Ja so ist es, es ist einmal so. Er hatte es vorher gewußt, und es war -gar keine neue Frage für ihn. Auch als es in der Nacht beschlossen -wurde, ohne jedes Schwanken und jeden Widerspruch, sondern so, als -gehörte es sich so, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er wußte dies -alles und erinnerte sich daran; ja, schon gestern war es vielleicht so -beschlossen in demselben Moment, als er über den Kasten gebückt dasaß -und die Futterale hervorholte ... Es ist doch so! ... - -»Das kommt daher, daß ich sehr krank bin,« entschied er schließlich -finster, »ich habe mich selbst gemartert und abgequält und weiß selbst -nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und die ganze Zeit -habe ich mich gemartert ... Ich werde gesund werden und ... werde mich -dann nicht mehr martern ... Aber wenn ich nun gar nicht gesund werde? Oh -Gott! Wie ich all dessen überdrüssig bin ...« - -Er ging weiter ohne stehn zu bleiben. Er wollte sehr gern sich irgendwie -zerstreuen, aber er wußte nicht, was er tun und unternehmen sollte. Eine -neue unbezwingbare Empfindung erfaßte ihn immer stärker und stärker mit -jedem Augenblick, -- es war ein grenzenloser, fast physischer Widerwille -gegen alles, was ihm begegnete und was ihn umgab; es war ein -hartnäckiges, böses und quälendes Gesicht. Alle Begegnenden waren ihm -widerwärtig, -- ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen waren ihm -widerwärtig. Er hätte sie am liebsten angespien, ja, vielleicht gar -gebissen, wenn man ihn angeredet hätte. - -Er blieb stehn, als er an das Ufer der kleinen Newa, auf Wassiljew -Ostroff bei der Brücke hinauskam. - -»Da wohnt er ja, in diesem Hause,« dachte er. »Was ist denn das, bin ich -etwa zu Rasumichin mit Willen gegangen? Es ist dieselbe Geschichte wie -damals ... Es ist mir nun doch sehr interessant, -- bin ich mit Absicht -hierhergekommen oder lenkte das Schicksal meine Schritte. Es ist mir -übrigens gleichgültig. Ich sagte mir ... vorgestern ... daß ich am -andren Tage _nach dem_ hingehen werde; na, ich werde es tun, was ist -denn dabei! Als ob ich jetzt nicht zu ihm gehen könnte ...« - -Er ging hinauf zu Rasumichin in das fünfte Stockwerk. - -Rasumichin war in seinem Zimmerchen und mit Schreiben beschäftigt; er -öffnete ihm selbst. Seit vier Monaten etwa hatten sie sich nicht -gesehen. Rasumichin stak in einem zerfetzten abgetragenen Schlafrock, -hatte Pantoffeln an den bloßen Füßen und saß ungekämmt, unrasiert und -ungewaschen da. Auf seinem Gesichte zeigte sich großes Erstaunen. - -»Was ist mit dir?« rief er aus und betrachtete den eingetretenen -Kameraden vom Kopf bis zu den Füßen. Dann schwieg er und tat einen -leisen Pfiff. - -»Steht es mit dir wirklich so schlecht? Ja, du hast sogar unsereinen -übertroffen,« fügte er hinzu und blickte auf Raskolnikoffs Lumpen. »Aber -so setz' dich doch, du bist wahrscheinlich müde!« - -Und als dieser auf das türkische Sofa von Wachstuch hinsank, sah -Rasumichin plötzlich, daß sein Besucher krank sei. - -»Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?« - -Er begann seinen Puls zu fühlen, Raskolnikoff aber riß die Hand weg. - -»Ist nicht nötig,« sagte er, »ich bin gekommen ... die Sache ist -- ich -habe keine Stunden zu geben ... ich wollte ... übrigens, ich brauche -keine Stunden ...« - -»Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn -aufmerksam beobachtete. - -»Nein, ich phantasiere nicht ...« - -Raskolnikoff erhob sich vom Sofa. Indem er zu Rasumichin ging, dachte er -nicht daran, daß er Auge in Auge ihm gegenüberstehen müsse. Jetzt aber, -in einem Nu, wurde es ihm durch diese Erfahrung klar, daß er jetzt am -allerwenigsten aufgelegt sei, irgend jemandem auf der ganzen Welt Auge -in Auge gegenüberzutreten. Die Galle stieg in ihm auf. Er verlor fast -den Atem vor Wut über sich selbst, darüber, daß er diese Schwelle -überschritten hatte. - -»Lebe wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür. - -»Aber warte doch, warte, du komischer Kauz!« - -»Nicht nötig! ...« wiederholte der und stieß seine Hand zurück. - -»Weshalb aber bist du denn gekommen, zum Teufel noch einmal! Bist du von -Sinnen? Das ist doch ... fast beleidigend. Ich laß dich nicht so.« - -»So hör nun, -- ich bin zu dir gekommen, weil ich niemand außer dir -kenne, der mir helfen würde ... anzufangen ... weil du besser, d. h. -klüger als alle anderen bist und beurteilen kannst ... Jetzt aber sehe -ich, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts brauche ... keinen -Dienst und Teilnahme ... Ich selbst ... allein ... Nun, genug davon! -Laßt mich in Ruhe!« - -»Aber warte doch einen Augenblick, du Schornsteinfeger! Bist ja ganz -verrückt! Meinetwegen tue, wie du willst. Siehst du, Stunden habe ich -nicht mal selber und pfeife auch darauf, aber auf dem Trödlermarkt gibt -es einen Buchhändler Heruwimoff, der ist mir lieber als Stunden. Ich -möchte ihn nicht gegen fünf Stunden bei Kaufleuten vertauschen. Er -verlegt allerhand kleine Sachen und gibt naturwissenschaftliche -Broschüren heraus, -- und wie die gehen? Die Titel allein sind schon was -wert! Siehst du, du hast immer behauptet, ich wäre dumm; bei Gott, es -gibt noch Dümmere als ich, Bruder mein! Jetzt macht er sogar in der -modernen Literatur; selbst versteht er rein gar nichts davon, ich aber -unterstütze ihn selbstverständlich darin. Hier siehst du mehr als zwei -Bogen deutschen Text, -- meiner Ansicht nach, von der allerdümmsten -Charlatanerie; mit einem Worte, es wird erörtert, ob die Frau ein Mensch -ist oder nicht? Selbstredend wird mit Glanz bewiesen, daß sie ein Mensch -ist. Heruwimoff bringt es, als zur Frauenfrage gehörend, heraus. Ich -übersetze; er wird diese zwei und einen halben Bogen auf sechs -ausdehnen, wir erfinden dann einen prachtvollen Titel; eine halbe Seite -lang, und schlagen es zu fünfzig Kopeken los. Es wird sicher gehen! Für -die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel pro Bogen, also für das Ganze -fünfzehn, und sechs Rubel habe ich Vorschuß. Wenn wir damit fertig sind, -fangen wir an, über Walfische zu übersetzen, dann folgen einige -langweilige Klatschgeschichten aus dem zweiten Teil der >Konfessions,< -die schon vorgemerkt sind und übersetzt werden sollen. Jemand hat -Heruwimoff gesagt, Rousseau wäre eine Art Radischtscheff.[9] Ich -widerspreche selbstverständlich nicht, hol ihn der Teufel! Willst du nun -den zweiten Bogen von >Ist die Frau ein Mensch?< übersetzen? Wenn du -willst, nimm sofort den Text, Federn und Papier -- dies alles wird -gratis geliefert -- und nimm drei Rubel. Da ich für die ganze -Übersetzung, für den ersten und zweiten Bogen, vorausbekommen habe, so -kommen gerade auf diesen Teil drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen -fertig bist, -- erhältst du noch drei Rubel. Ja, noch eins, -- bitte, -sieh' es nicht als einen Dienst meinerseits an. Im Gegenteil, als du -eintratest, dachte ich gleich, wie nützlich du mir sein könntest. -Erstens bin ich in der Orthographie schlecht und zweitens bin ich im -Deutschen öfters recht schwach, so daß ich meistens selbst hinzu dichte -und mich bloß damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Aber wer -weiß, vielleicht wird es nicht besser, sondern schlechter ... Tust du -mit oder nicht?« Raskolnikoff nahm schweigend die Blätter der deutschen -Artikel, nahm die drei Rubel und ging ohne ein Wort zu sagen hinaus. -Rasumichin blickte ihm erstaunt nach. Als Raskolnikoff aber schon ein -Stück gegangen war, kehrte er plötzlich um, ging wieder zu Rasumichin -hinauf, legte auf den Tisch die Blätter und die drei Rubel und ging -wieder schweigend von dannen. - -»Hast du etwa das Delirium?« schrie Rasumichin, der schließlich wütend -geworden war. »Warum führst du hier eine Komödie auf? Hast mich sogar -konfus gemacht ... Warum bist du denn hergekommen, zum Teufel?« - -»Ich brauche keine ... Übersetzungen ...« murmelte Raskolnikoff, als er -schon die Treppe hinabstieg. - -»Ja, was brauchst du denn, zum Teufel?« rief von oben Rasumichin. - -Der ging jedoch schweigend hinunter. - -»He, du! Wo wohnst du?« - -Es erfolgte keine Antwort. - -»Na, so hol dich der Teu--fel!« ... - -Raskolnikoff war schon auf der Straße angelangt. - -Auf der Nikolaibrücke passierte es ihm, daß er infolge eines für ihn -sehr unangenehmen Zwischenfalles wieder zur völligen Besinnung kam. Der -Kutscher einer Privatequipage hatte ihm einen starken Peitschenhieb über -den Rücken versetzt, weil er beinahe unter die Pferde geraten war, -trotzdem er ihn einigemal angerufen hatte. Der Peitschenhieb verursachte -eine solche Wut in ihm, daß er bis ans Geländer sprang -- (es war -unklar, warum er in der Mitte der Brücke, auf dem Fahrweg, ging) und mit -den Zähnen knirschte. Ringsherum erklang lautes Lachen. - -»Geschieht ihm recht!« - -»Ist wahrscheinlich ein Spitzbube.« - -»Selbstverständlich, stellt sich betrunken, kriecht absichtlich unter -die Räder, und unsereiner muß es verantworten.« - -»Davon leben sie, Verehrtester, damit verdienen sie ...« - -In dem Augenblicke, als er am Geländer stand, den Rücken reibend und -immer noch sinnlos vor Wut der davonfahrenden Equipage nachschaute, -fühlte er, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf, -- -es war eine ältliche Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche, und neben ihr -ein junges Mädchen im Hute, mit einem grünen Sonnenschirme, -wahrscheinlich die Tochter. »Nimm, mein Lieber, um Christi willen!« Er -nahm das Geld, und sie gingen weiter. Es waren zwanzig Kopeken. Seiner -Kleidung und dem Aussehen nach konnten sie ihn sehr leicht für einen -Bettler, für einen echten Groschensammler von der Straße halten, daß sie -ihm aber ganze zwanzig Kopeken gaben, hatte er sicher dem Peitschenhiebe -zu danken, der sie mitfühlend gestimmt hatte. - -Er drückte die Münze fest in die Hand, ging etwa zehn Schritte und -wandte sich mit dem Gesichte zur Newa, in der Richtung des Winterpalais. -Der Himmel war ohne die geringste Wolke und das Wasser fast blau, was so -selten auf der Newa vorkommt. Die Kuppel des Domes, der von keinem -Punkte sich besser hervorhebt, als von der Brücke aus, leuchtete -förmlich, durch die reine Luft konnte man jede Verzierung deutlich -wahrnehmen. Der Schmerz vom Peitschenhieb hatte nachgelassen, und -Raskolnikoff hatte den Hieb vergessen; ein unruhiger und nicht ganz -klarer Gedanke beschäftigte ihn jetzt ausschließlich. Er stand und -schaute lange und unverwandt in die Ferne; diese Stelle kannte er -besonders gut. Als er noch zur Universität ging, geschah es gewöhnlich, --- meistens auf dem Rückwege nach Hause, -- daß er gerade an dieser -Stelle stehn blieb, um unverwandt dieses prachtvolle Panorama zu -betrachten, und jedesmal mußte er über den Eindruck, den er sich nicht -erklären konnte, staunen. Eine unerklärliche Kälte wehte ihm stets von -diesem wundervollen Panorama entgegen; dieses prächtige Bild war für ihn -von einem stillen und dumpfen Geiste erfüllt ... Er wunderte sich -jedesmal über seinen düsteren und rätselhaften Eindruck und schob die -Lösung, ohne zu wissen warum, in die Zukunft. Jetzt erinnerte er sich -deutlich seiner früheren Fragen und Zweifel, und es schien ihm, als -hätte er sich nicht rein zufällig ihrer erinnert. Schon der Umstand -erschien ihm merkwürdig und wunderlich, daß er auf derselben Stelle, wie -früher, stehengeblieben war, als bilde er sich wirklich ein, daß er -jetzt über dasselbe, wie ehedem, nachsinnen und sich für ebensolche -Themen und Bilder interessieren könne, wie er es früher ... noch -unlängst getan. Ihm wurde fast lächerlich zumute und gleichzeitig -schnürte es ihm die Brust zu. In der Tiefe, tief unten in einem -ungeheuren Abgrunde versunken, erschien ihm jetzt die ganze -Vergangenheit, die früheren Gedanken, die alten Ziele und Probleme, die -damaligen Eindrücke und dieses ganze Panorama, und er selbst und alles -... Ihm schien, als fliege er irgendwo hinauf, und alles verschwinde aus -seinen Augen ... Indem er eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand -machte, fühlte er wieder in seiner geballten Faust die zwanzig Kopeken. -Er öffnete die Hand, blickte aufmerksam das Geldstück an und schleuderte -es ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Ihm schien -es, als hätte er in diesem Augenblick seine ganze Vergangenheit mit -einer Schere abgeschnitten. - -Es war am Abend, als er nach Hause kam, also mußte er im ganzen gegen -sechs Stunden gewandert sein. Welchen Weg, und wie er zurückgekommen -war, erinnerte er sich gar nicht. Er kleidete sich aus, und zitternd am -ganzen Körper, wie ein abgehetztes Pferd, legte er sich auf das Sofa, -zog seinen Mantel über sich und fiel sofort in Bewußtlosigkeit ... - -Er wurde in völliger Dämmerung von einem furchtbaren Geschrei -aufgestört. Oh, Gott, was ist das für ein Geschrei! Solche unnatürlichen -Töne, solch ein Geheul, Stöhnen, Knirschen, Weinen, Schläge und -Schimpfen hatte er noch nie vernommen. Er konnte sich nicht mal solchen -Greuel, solche Raserei vorstellen. Voll Schrecken erhob er sich und -setzte sich in seinem Bette auf; schwer atmend litt er Qualen. Die -Schläge, das Geschrei und die Schimpfwörter wurden immer stärker und -stärker. Er vernahm zu seiner größten Verwunderung die Stimme seiner -Wirtin. Sie heulte, kreischte und klagte, sie sprach die Worte in so -eiliger Hast, daß man nicht verstehen konnte, um was sie flehte, -- -gewiß, daß man aufhören sollte, sie zu schlagen, denn man prügelte sie -auf der Treppe unbarmherzig. Die Stimme des Schlagenden war so -schauerlich vor Wut und Raserei, daß er bloß noch röchelte, und er -sprach ebenso unverständlich, hastig und sich verschluckend. Plötzlich -bebte Raskolnikoff am ganzen Körper; er hatte die Stimme von Ilja -Petrowitsch erkannt. Er ist hier und schlägt die Wirtin! Er schlägt sie -mit Fäusten, stößt ihren Kopf auf die Stufen, -- das ist klar, man hörte -es an dem Ton, am Geheul, an den Schlägen! Was ist denn geschehen, hat -sich die Welt gewendet? Man hörte, wie aus allen Stockwerken, auf der -ganzen Treppe sich Menschen ansammeln, Stimmen, Ausrufe erschallen, man -läuft, trampelt, schlägt die Türen zu, rennt zusammen. »Aber weshalb -denn, weshalb und wie ist es denn möglich?« wiederholte er und glaubte -in allem Ernste, er hätte den Verstand verloren. Aber nein, er hört es -doch zu deutlich! ... Also wird man auch zu ihm gleich kommen, »denn ... -das ist sicher wegen desselben ... wegen des gestrigen ... Oh, Gott!« Er -wollte die Tür zuhaken, konnte aber die Hand nicht erheben ... und es -wäre ja nutzlos. Die Angst lag auf seiner Seele wie Eis, hatte ihn -zermartert, ihn erstarrt ... Aber nach und nach hörte dieser Spektakel, -der sicher gegen zehn Minuten gedauert hatte, auf. Die Wirtin stöhnte -und ächzte, Ilja Petrowitsch drohte und schimpfte noch immer ... Endlich -schien auch er ruhiger geworden zu sein; jetzt hörte man ihn nicht mehr. -»Ist er fortgegangen? Oh, Gott!« Ja, nun geht auch die Wirtin fort, sie -stöhnt und weint noch immer ... nun schlug sie auch ihre Türe zu ... -Jetzt gehen die Menschen die Treppe hinunter in ihre Wohnungen, -- sie -bedauern, streiten, rufen einander zu, bald erhebt sich ihr Gerede bis -zum Geschrei, bald sinkt es zum Flüstertone. Wahrscheinlich waren es -viele gewesen, fast das ganze Haus war zusammengelaufen. »Aber, mein -Gott, ist denn das alles möglich! Und warum, warum kam er hierher!« - -Raskolnikoff fiel kraftlos auf das Sofa hin, aber er konnte kein Auge -schließen; er lag etwa eine halbe Stunde in solcher Qual, in dem -unausstehlichen Gefühle eines grenzenlosen Schreckens, wie er ihn noch -nie empfunden hatte. Plötzlich erhellte ein greller Schein sein Zimmer, --- Nastasja kam mit einem Lichte und einem Teller Suppe herein. Sie sah -ihn aufmerksam an und als sie bemerkte, daß er nicht schlafe, stellte -sie das Licht auf den Tisch und begann das Mitgebrachte aufzustellen: -Brot, Salz, einen Teller und Löffel ... - -»Hast seit gestern wahrscheinlich nichts gegessen? Hast dich den ganzen -Tag umhergetrieben, -- im Fieber, wie du bist.« - -»Nastasja ... warum schlug man die Wirtin?« - -Sie sah ihn aufmerksam an. - -»Wer hat die Wirtin geschlagen?« - -»Soeben ... vor einer halben Stunde. Ilja Petrowitsch, der Gehilfe des -Revieraufsehers, auf der Treppe ... Warum hat er sie so geschlagen. Und -... warum kam er her?« - -Nastasja betrachtete ihn schweigend und mit zusammengezogenen -Augenbrauen, und sah ihn lange so an. Ihm wurde dieses Anstarren sehr -unangenehm, beängstigend. - -»Nastasja, warum schweigst du?« sagte er schließlich zaghaft mit -schwacher Stimme. - -»Das ist das Blut,« antwortete sie leise, als rede sie mit sich selbst. - -»Blut! ... Was für ein Blut? ...« murmelte er erbleichend und rückte zur -Wand. - -Nastasja fuhr fort ihn schweigend zu betrachten. - -»Niemand hat die Wirtin geschlagen,« sagte sie endlich in strengem und -entschiedenem Tone. - -Er sah sie an und atmete kaum. - -»Ich habe selbst gehört ... ich habe nicht geschlafen ... ich saß,« -sagte er noch zaghafter. »Ich habe lange zugehört ... Der Gehilfe des -Revieraufsehers war gekommen ... Alle waren auf der Treppe -zusammengelaufen, aus allen Stockwerken ...« - -»Niemand ist dagewesen. Es ist das Blut, das in dir spricht. Wenn es -keinen Ausweg hat und sich in Klumpen zusammenballt, dann erscheinen -einem allerhand Dinge ... Wirst du essen?« - -Er antwortete nicht. Nastasja stand immer noch bei ihm, blickte ihn -aufmerksam an und ging nicht weg. - -»Gib mir zu trinken ... liebe Nastasja.« - -Sie ging hinunter und nach ein paar Minuten kehrte sie mit Wasser in -einer weißen Tasse zurück, weiter erinnerte er sich nichts mehr, nur -noch, wie er einen Schluck kalten Wassers genommen und aus der Tasse auf -die Brust verschüttet hatte. Dann hatte er das Bewußtsein verloren. - - - III. - -Er war jedoch nicht ganz besinnungslos während seiner Krankheit; es war -ein fieberhafter Zustand mit Traumgesichten und halbem Bewußtsein. An -vieles konnte er sich später erinnern. Bald schien es ihm, als versammle -sich eine Menge Menschen um ihn, die ihn irgendwohin fort tragen wollten -und sich seinetwegen sehr viel stritten und zankten. Bald war er wieder -allein im Zimmer, alle waren weggegangen und fürchteten sich vor ihm, -nur zuweilen öffnete man die Türe, um ihn zu betrachten, man drohte ihm, -verabredete unter sich etwas, lachte und reizte ihn. Nastasja sah er oft -um sich, auch unterschied er noch einen Menschen, der ihm sehr bekannt -schien, aber wer es war -- konnte er nicht herausbekommen, das peinigte -ihn, und er weinte sogar. Manchmal schien es ihm, als liege er schon -einen Monat, ein anderes Mal aber -- als wäre es noch derselbe Tag. -_Jenes_ aber, _jenes Ereignis_ hatte er völlig vergessen; dafür aber -dachte er immerfort, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte -vergessen dürfen, -- er quälte sich, marterte sich, um darauf zu kommen, -stöhnte, es überfiel ihn eine rasende Wut oder eine schreckliche -unerträgliche Angst. Dann versuchte er aufzustehen, wollte fliehen, aber -stets hielt ihn jemand mit Gewalt zurück und er verfiel wieder in -Schwäche und Bewußtlosigkeit. -- Endlich kam er ganz zu sich. - -Das geschah an einem Morgen um zehn Uhr. Um diese Stunde zog an heiteren -Tagen die Sonne stets einen langen Streifen über die rechte Wand des -Zimmers und beleuchtete die Ecke an der Tür. An seinem Bette stand -Nastasja und noch ein Mann, der ihn mit großem Interesse betrachtete und -der ihm völlig unbekannt war. Das war ein junger Bursche in langem Rock, -mit einem kleinen Barte, der seinem Aussehen nach ein Kontordiener sein -mochte. Hinter der halbgeöffneten Tür blickte die Wirtin hervor. -Raskolnikoff erhob sich. - -»Wer ist das, Nastasja?« fragte er und wies auf den Burschen. - -»Sieh mal, er ist zu sich gekommen!« sagte sie. - -»Zu sich gekommen,« wiederholte der Kontordiener. - -Als sie hörte, daß er zu sich gekommen sei, schloß die Wirtin sofort die -Tür und verschwand. Sie war immer schon schüchtern und vertrug mit Mühe -Gespräche und Auseinandersetzungen; sie war gegen vierzig Jahre alt, -dick und fett, hatte schwarze Augenbrauen und schwarze Augen, war -gutmütig aus Wohlgenährtheit und Faulheit, ziemlich hübsch, genierte -sich aber über alle Maßen. - -»Wer sind ... Sie?« wandte sich fragend Raskolnikoff an den -Kontordiener. In diesem Augenblicke wurde die Türe von neuem weit -geöffnet, und gebückt, da er viel zu groß war, trat Rasumichin ein. - -»Das ist ja die reinste Schiffskajüte,« rief er beim Eintreten, »immer -stoße ich mit der Stirn an. Und das nennt sich eine Wohnung? Und du bist -zu dir gekommen, Bruder! Die liebe Praskovja sagte es mir.« - -»Er ist soeben zu sich gekommen,« sagte Nastasja. - -»Soeben zu sich gekommen,« bestätigte wieder der Kontordiener mit einem -Lächeln. - -»Wer sind Sie aber, mein Herr?« fragte er plötzlich Rasumichin, sich an -ihn wendend. »Ich bin, sehen Sie, Rasumichin, Student, Sohn eines -Edelmannes, und er ist mein Freund. Nun, und wer sind Sie?« - -»Ich bin in unserm Kontor Diener, beim Kaufmann Schelopajeff, und komme -in Geschäften.« - -»Nehmen Sie bitte Platz auf diesem Stuhl.« - -Rasumichin setzte sich auf einen andern, an der anderen Seite des -Tischchens. - -»Das hast du gut getan, Bruder, daß du zu dir gekommen bist,« fuhr er -fort, sich an Raskolnikoff wendend. »Den vierten Tag schon hast du kaum -etwas gegessen oder getrunken. Löffelweise hat man dir ein wenig Tee -gegeben. Ich brachte ein paarmal Sossimoff mit. Erinnerst du dich -seiner? Er hat dich genau untersucht und sagte sofort, es sei nichts von -Bedeutung, -- es hat sich in den Kopf gezogen. Irgendein Unsinn mit den -Nerven, sagt er, schlechte Ernährung, zu wenig Bier und Meerrettich habe -man dir gegeben, daher auch die Krankheit, aber es habe nichts auf sich, -wird bald vergehen und gut werden. Sossimoff ist ein tüchtiger Kerl! -Fängt glänzend an damit, daß er dich kuriert. Na, ich will Sie nicht -aufhalten,« wandte er sich wieder an den Kontordiener, »wollen Sie Ihre -Wünsche erklären? Denk dir, Rodja, das ist schon der zweite Bote aus dem -Kontor, mit dem ersten habe ich gesprochen. Wer war es, der vor Ihnen da -war?« - -»Ich glaube, es war vorgestern; ja es stimmt. Das war Alexei -Ssemenowitsch, er ist auch aus unserem Kontor.« - -»Er ist wohl gescheiter als Sie, he?« - -»Ja, Sie haben recht, er ist solider.« - -»Das lobe ich mir, nun, fahren Sie fort.« - -»Also, Afanassi Iwanowitsch Wachruschin, von dem, wie ich annehme, Sie -öfter gehört haben, sendet Ihnen auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, durch -unser Kontor eine Anweisung,« begann der Diener, sich direkt an -Raskolnikoff wendend. - -»Falls Sie wieder bei Bewußtsein sind, soll ich Ihnen fünfunddreißig -Rubel überreichen, die an Ssemjon Ssemenowitsch von Afanassi Iwanowitsch -auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, wie in früheren Fällen, überwiesen werden. -Sie kennen ihn doch?« - -»Ja ... ich erinnere mich ... Wachruschin ...« sagte Raskolnikoff -sinnend. - -»Hören Sie -- er kennt den Kaufmann Wachruschin!« rief Rasumichin aus. -»Ist er nun nicht bei Bewußtsein? Übrigens, ich merke jetzt auch, daß -Sie ebenfalls ein gescheiter Mann sind. Na! Kluge Reden hört man gern.« - -»Ja, er ist es, Wachruschin, Afanassi Iwanowitsch, und zufolge des -Wunsches Ihrer Frau Mutter, die schon einmal auf diesem Wege Ihnen Geld -gesandt hatte, hat er es auch diesmal nicht abgelehnt und hat Ssemjon -Ssemenowitsch in diesen Tagen Order erteilt, Ihnen fünfunddreißig Rubel -bis auf weiteres zu übergeben.« - -»Das ist gut: >bis auf weiteres,< nicht übel war auch das >von Ihrer -Frau Mutter<. Nun, also wie ist Ihre Ansicht, -- ist er bei vollem -Bewußtsein oder nicht, he?« - -»Mir ist es gleich. Sehen Sie, nur die Unterschrift müßte ich haben.« - -»Er wird sie schon hinkritzeln. Was haben Sie da, ein Buch etwa?« - -»Ein Quittungsbuch, hier.« - -»Geben Sie es her. Nun, Rodja, erhebe dich. Ich will dich stützen; -unterschreibe mal, nimm die Feder, denn Geld brauchen wir jetzt mehr als -Syrup, Bruder.« - -»Ist nicht nötig,« sagte Raskolnikoff und stieß die Feder von sich. - -»Was ist nicht nötig?« - -»Ich werde nicht unterschreiben.« - -»Zum Teufel, wie denn ohne Quittung?« - -»Ich brauche nicht ... das Geld ...« - -»Das Geld brauchst du nicht? Nun, da lügst du, Bruder, ich kann es -bezeugen! ... Bitte, beachten Sie es nicht, er tut bloß so ... -phantasiert wieder. Das passiert ihm übrigens auch in wachem Zustande -... Sie sind ein verständiger Mann und wir wollen ihn leiten, das heißt, -einfach seine Hand führen, er wird dann unterschreiben. Helfen Sie ...« - -»Übrigens, ich kann auch ein andres Mal kommen.« - -»Nein, nein, warum wollen Sie sich bemühen. Sie sind ein verständiger -Mann ... Nun, Rodja, halte den Besuch nicht auf ... du siehst, er -wartet,« und er schickte sich in allem Ernste an, Raskolnikoffs Hand zu -führen. - -»Laß, ich will selbst ...« sagte jener, nahm die Feder und quittierte im -Buche. - -Der Kontordiener zählte das Geld auf und ging. - -»Bravo! Willst du nun essen, Bruder?« - -»Ich will essen,« antwortete Raskolnikoff. - -»Haben Sie Suppe?« - -»Ja, von gestern,« antwortete Nastasja, die die ganze Zeit dabei -gestanden hatte. - -»Mit Kartoffel und Reis?« - -»Ja, mit Kartoffel und Reis.« - -»Ich kenne das auswendig. Bringe die Suppe und gib auch Tee.« - -»Gleich.« - -Raskolnikoff blickte auf alles mit großem Erstaunen und einer dumpfen -sinnlosen Angst. Er beschloß zu schweigen und abzuwarten, was weiter -kommen würde. »Ich träume nicht, wie es scheint,« dachte er, »es scheint -Wirklichkeit zu sein ...« - -Nach ein paar Minuten kam Nastasja mit der Suppe zurück und erklärte, -daß sofort auch der Tee da sein werde. Mit der Suppe erschienen auch -zwei Löffel, zwei Teller und das ganze Zubehör: ein Salzfaß, Pfeffer, -Senf für das Fleisch und alles übrige, in einer Ordnung, die schon lange -nicht mehr geherrscht hatte. Sogar das Tischtuch war sauber. - -»Es wäre nicht schlecht, liebe Nastasja, wenn Praskovja Pawlowna ein -paar Flaschen Bier beordern würde. Wir würden sie gerne trinken.« - -»Auch noch!« murmelte Nastasja, ging aber, den Befehl auszuführen. - -Raskolnikoff begann starr und angestrengt zu beobachten. Unterdessen -hatte sich Rasumichin zu ihm auf das Sofa gesetzt; ungeschickt, wie ein -Bär, umfaßte er mit der linken Hand Raskolnikoffs Kopf, trotzdem dieser -selber sich erheben konnte, und brachte ihm mit der rechten Hand den -Suppenlöffel an seinen Mund, nachdem er ein paarmal vorher darauf -geblasen hatte, damit er sich nicht verbrenne. Die Suppe war kaum warm. -Raskolnikoff verschlang voll Gier einen Löffel, dann einen zweiten und -einen dritten. Nachdem er aber ihm noch einige Löffel gereicht, hielt -Rasumichin plötzlich inne und erklärte, daß man des weiteren wegen -Sossimoff fragen müsse. - -Nastasja kam mit zwei Flaschen Bier herein. - -»Willst du Tee?« - -»Ja, ich möchte gern.« - -»Bring mal schnell den Tee, Nastasja, denn was Tee anbelangt, so kann -man wohl auch ohne Konsultation auskommen. Na, und hier ist Bier!« - -Er setzte sich auf seinen Stuhl, rückte die Suppe und das Fleisch zu -sich und begann mit solch einem Appetit zu essen, als hätte er drei Tage -nichts bekommen. - -»Ich esse jetzt jeden Tag bei euch zu Mittag, lieber Rodja,« brummte er, -soweit es ihm der vollgestopfte Mund erlaubte, »und zwar bewirtet mich -so die liebe Praskovja, deine Wirtin, und ehrt mich von ganzer Seele. -Ich bestehe selbstverständlich nicht darauf, aber protestiere auch nicht -dagegen. Da ist Nastasja mit dem Tee. Wie flink du bist! Nastasja, -willst du Bier?« - -»Ne, du Spaßvogel.« - -»Und wie steht es mit Tee?« - -»Tee möchte ich wohl.« - -»Gieß ein. Warte, ich will dir selbst eingießen; setz dich an den -Tisch.« - -Er machte sich sofort daran, goß eine Tasse ein, dann eine zweite, ließ -sein Essen stehen und setzte sich wieder auf das Sofa hin. Wie früher, -umfaßte er mit der linken Hand den Kopf des Kranken, richtete ihn auf -und begann ihm den Tee löffelweise einzuflößen, wobei er wieder -ununterbrochen und sehr eifrig auf den Löffel blies, als bestände in -diesem Blasen das wesentlichste und heilsamste Moment für die Genesung. -Raskolnikoff schwieg und sträubte sich nicht, obwohl er genügend Kraft -in sich fühlte, sich zu erheben und ohne fremde Hilfe auf dem Sofa zu -sitzen, nicht bloß die Hände zu benutzen, um den Löffel oder die Tasse -zu halten, sondern vielleicht auch herumzugehen. Aber aus einer -eigentümlichen, fast tierischen Schlauheit heraus kam es ihm plötzlich -in den Sinn, vorläufig seine Kräfte zu verheimlichen, sich zu verstellen -und sich auch nötigenfalls den Anschein zu geben, als verstünde er noch -nicht alles, indessen aber zuzuhören und zu erfahren, was um ihn -vorgehe. Übrigens überwand er nicht seinen Widerwillen, -- nachdem er -etwa zehn Löffel Tee geschlürft hatte, befreite er plötzlich seinen Kopf -von der Umarmung, stieß den Löffel von sich und sank wieder auf die -Kissen zurück. Unter seinem Kopfe lagen jetzt wirklich Kissen, -- -gefüllt mit weichem Flaum und mit sauberen Überzügen bezogen; das hatte -er auch schon bemerkt und darüber nachgedacht. - -»Die liebe Praskovja muß uns heute noch Himbeersaft schicken, um ihm ein -Getränk zu machen,« sagte Rasumichin, indem er seinen Platz wieder -einnahm und sich an die Suppe und das Bier machte. - -»Wo soll sie den Himbeersaft für dich hernehmen?« fragte Nastasja, die -die Untertasse auf ihren ausgespreizten fünf Fingern hielt und den Tee -durch ein Stück Zucker hindurchsog. - -»Den Himbeersaft wird sie im Laden erhalten, mein Freund. Siehst du, -Rodja, während du krank warst, ist hier eine ganze Geschichte passiert. -Als du in solcher spitzbübischen Weise von mir ausrücktest und mir deine -Wohnung nicht sagtest, packte mich plötzlich eine Wut, daß ich beschloß, -dich aufzusuchen und zu strafen. Am selben Tage begann ich schon. Ich -wanderte und wanderte umher, fragte hier und fragte dort! Deine jetzige -Wohnung hatte ich vergessen, erinnerte mich ihrer auch nicht, weil ich -sie gar nicht kannte. Nun, und von der früheren Wohnung wußte ich bloß, -daß sie an den Fünfecken lag, im Hause Karlamoff. Ich suchte und suchte -dies Haus von Karlamoff, -- und später fand sich's, daß es gar nicht -Karlamoff, sondern Buch gehörte, wie man sich zuweilen im Klange irren -kann. Na, ich wurde böse, und ging auf gut Glück am anderen Tage in das -Adreßbureau, und stell dir vor, -- in zwei Minuten hatte man dich dort -herausgefunden. Du bist dort eingetragen.« - -»Ich bin dort eingetragen.« - -»Das stimmt, aber den General Koboleff, siehst du, konnte man dort gar -nicht finden. Na, darüber ließe sich viel reden. Kaum war ich hier -eingebrochen, als ich sofort mit allen deinen Angelegenheiten bekannt -wurde; mit allen, mit allen, Bruder, ich weiß alles. Nikodim Fomitsch -lernte ich kennen, Ilja Petrowitsch zeigte man mir, auch mit dem -Hausknecht wurde ich bekannt, ebenso Herrn Alexander Grigorjewitsch -Sametoff, dem Sekretär in dem Polizeibureau und zu guter Letzt mit der -lieben Praskovja, -- das war die Krone vom ganzen. Sie, Nastasja, weiß -es auch ...« - -»Er hat sich eingeschmeichelt,« murmelte Nastasja mit einem schelmischen -Lächeln. - -»Versüßen Sie doch Ihren Tee, Nastasja Nikiforowna.« - -»Zum Kuckuck mit dir!« rief plötzlich Nastasja und prustete vor Lachen. -»Ich heiße übrigens Nastasja Petrowna und nicht Nikiforowna,« fügte sie -hinzu, nachdem sie aufgehört hatte zu lachen. - -»Das will ich mir merken. Na, also, Bruder, um nicht viel Worte zu -verlieren, ich wollte, siehst du, zuerst hier einen elektrischen Strom -durchlassen, um alle Vorurteile in hiesiger Gegend mit einem Male zu -vertilgen, aber die liebe Praskovja siegte. Ich hatte gar nicht -erwartet, Bruder, daß sie so ... lieb sein würde ... Was meinst du?« - -Raskolnikoff schwieg, obwohl er keinen Augenblick seinen erregten Blick -von ihm gewandt hatte, und jetzt noch fortfuhr, ihn starr anzublicken. - -»Und sogar sehr lieb,« fuhr Rasumichin fort, ohne sich durch -Raskolnikoffs Schweigen stören zu lassen, und als bekräftige er dessen -Antwort, »und in bester Ordnung in jeder Hinsicht.« - -»Das ist einer!« rief Nastasja wieder aus, der dieses Gespräch eine -unbeschreibliche Wonne zu bereiten schien. - -»Schlimm war es, Bruder, daß du von Anfang an nicht verstanden hast, die -Sache richtig anzufassen. Mit ihr mußte man anders verfahren. Sie ist -sozusagen ein problematischer Charakter! Doch vom Charakter später ... -Eins nur, zum Beispiel, wie konntest du es soweit kommen lassen, daß sie -wagte, dir kein Mittagessen zu schicken? Oder zum Beispiel dieser -Wechsel? Bist du etwa verrückt geworden, Wechsel zu unterzeichnen. Oder -wiederum diese in Aussicht genommene Ehe, als noch die Tochter, Natalja -Jegorowna, lebte ... Ich weiß alles! übrigens, ich sehe, daß das eine -zarte Angelegenheit ist und ich ein Esel bin; entschuldige bitte. -Apropos: Dummheit; Praskovja Pawlowna ist gar nicht so dumm, Bruder, wie -man auf den ersten Blick meinen könnte, he?« - -»Ja ...« sagte Raskolnikoff gedehnt, indem er zur Seite blickte, aber er -begriff, daß es vorteilhafter war, vom Thema nicht abzulenken. - -»Nicht wahr?« rief Rasumichin aus, sichtlich erfreut, daß er Antwort -bekommen hatte. »Aber auch nicht klug, wie? Ein ganz, ganz -unberechenbarer Charakter! Zum Teil bin ich mir selber nicht ganz klar, -sage ich dir, Bruder ... Sie wird sicher ihre vierzig sein. Sie sagt, -sie sei sechsunddreißig, und das ist ihr gutes Recht. Übrigens, ich -schwöre dir, daß ich über sie mehr nach meinem Verstande, rein -metaphysisch urteile; hier haben sich Verwicklungen eingestellt, -schlimmer, als in der Algebra. Ich begreife nichts! -- Na, das ist -lauter Unsinn. Als sie sah, daß du nicht mehr Student bist, weder -Stunden noch Kleidung hast, bekam sie Furcht und da sie es nicht nötig -hat, nach dem Tode ihrer Tochter dich verwandtschaftlich zu behandeln, -und da du deinerseits dich in den Winkel verkrochst und den früheren -Verkehr nicht unterhieltest, faßte sie den Entschluß, dich aus der -Wohnung hinauszuwerfen. Sie hatte schon lange diese Absicht gehabt, aber -der Wechsel tat ihr leid. Außerdem hast du ja selbst versichert, daß -deine Mutter bezahlen würde ...« - -»Das habe ich aus Schuftigkeit gesagt ... Meine Mutter muß beinahe -betteln gehen ... und ich log, damit man mich wohnen ließe und ... mir -zu essen gebe,« sagte Raskolnikoff laut und deutlich. - -»Ja, das hast du vernünftig gemacht. Nur die Sache war die, daß sich ein -Herr Tschebaroff einfand, Hofrat und Geschäftsmann. Die liebe Praskovja -hätte ohne ihn nichts unternommen, sie ist doch zu schüchtern. Na, ein -Geschäftsmann aber ist nicht schüchtern, und das erste, was er -selbstverständlich tat, war, ihr die Frage vorzulegen, ob Aussicht da -sei, daß der Wechsel eingelöst werde? Die Antwort lautete, -- -ja, denn es gibt so eine Mutter, die mit ihrer Pension von -hundertundfünfundzwanzig Rubel dem Rodenka helfen würde, wenn sie auch -selbst hungern müßte, und es gibt noch eine Schwester, die für ihren -Bruder sich schinden lassen würde. Darauf baute der Geschäftsmann ... -Halte dich nur ruhig! Ich habe jetzt alle deine Geheimnisse erfahren, -Bruder, du warst nicht umsonst gegen die liebe Praskovja offen, als du -noch auf verwandtschaftlichem Fuße mit ihr standest, jetzt aber sage ich -dir dies alles in aller Liebe ... Da haben wir es, ein ehrlicher und -gefühlvoller Mensch ist offen, spricht sich aus, ein Geschäftsmann aber -hört zu und kaut dazu und verspeist zu guter Letzt. Sie überließ also -diesen Wechsel, als hätte sie dafür Zahlung erhalten, jenem Tschebaroff, -und er genierte sich nicht und forderte die Summe auf gesetzlichem Wege. -Ich wollte, als ich dies alles erfuhr, ihm zur Beruhigung meines -Gewissens mit einem kalten Strahl kommen, aber da begann zwischen mir -und der lieben Praskovja die Harmonie, und ich ordnete an, daß die Sache -im Keime sozusagen erstickt werden sollte, indem ich mich verbürgte, daß -du bezahlen wirst. Ich habe mich für dich verbürgt, Bruder, hörst du? -Tschebaroff wurde hergerufen, man warf ihm zehn Rubel in den Rachen, -nahm den Wechsel ihm ab, und da habe ich die Ehre, ihn Ihnen zu -übergeben, -- man glaubt Ihnen nun aufs Wort -- nehmen Sie ihn, er ist -von mir, wie es sich gehört, eingerissen.« - -Rasumichin legte den Wechsel auf den Tisch; Raskolnikoff blickte ihn an -und wandte sich ohne ein Wort zu sagen gegen die Wand. Rasumichin -berührte es peinlich. - -»Ich sehe, Bruder,« sagte er nach einer Weile, »daß ich wieder eine -Dummheit gemacht habe. Ich dachte dich zu zerstreuen und mit Geplauder -zu erheitern, habe aber, wie es scheint, deine Galle aufgerührt.« - -»Du warst es, den ich im Fieber nicht erkannte?« fragte Raskolnikoff -nach einigem Schweigen, ohne den Kopf umzuwenden. - -»Ja, ich war es, und du gerietest sogar aus diesem Grunde in Wut, -besonders, als ich einmal Sametoff mitbrachte.« - -»Sametoff? ... Den Sekretär? ... Warum?« Raskolnikoff wandte sich -schnell um und starrte Rasumichin an. - -»Ja, was ist dir ... Warum regst du dich auf? Er wollte mit dir bekannt -werden; hatte selbst den Wunsch geäußert, weil ich viel mit ihm über -dich gesprochen habe ... Von wem hätte ich denn sonst soviel über dich -erfahren. Er ist ein prächtiger Bursche, Bruder, wundervoll ... -selbstverständlich in seiner Art. Jetzt sind wir Freunde, fast täglich -sehen wir uns. Ich bin in dieses Revier übergesiedelt. Du weißt es noch -nicht? Ich bin soeben umgezogen. Bei der Louisa waren wir ein paarmal. -Erinnerst du dich an Louisa Iwanowna?« - -»Habe ich phantasiert?« - -»Und ob? Du warst ja ganz ohne Bewußtsein.« - -»Worüber habe ich phantasiert?« - -»Nanu! Worüber du phantasiert hast? Es ist begreiflich, worüber man -phantasiert ... Nun, Bruder, wir wollen jetzt keine Zeit mehr verlieren, -zur Arbeit.« - -Er stand vom Stuhle auf und nahm seine Mütze. - -»Worüber habe ich phantasiert?« - -»Er läßt nicht davon. Hast du Angst vor einem Geheimnis? Sei ruhig, von --- einer Gräfin wurde nichts geredet. Aber von einer Bulldogge, von -Ohrgehängen und von allerhand Ketten, von der Krestowski-Insel und von -einem Hausknecht, von Nikodim Fomitsch und von Ilja Petrowitsch, seinem -Gehilfen hast du viel gesprochen. Ja, und außerdem geruhtest du dich -sogar sehr für deinen Strumpf zu interessieren. Klagtest: >Gebt ihn,< -sagtest du, >bitte<. Sametoff suchte in eigener Person in allen Winkeln -deine Strümpfe zusammen und überreichte dir den Schund mit seinen -parfümierten und mit Ringen besetzten Händen. Dann erst beruhigtest du -dich und hieltest diesen Schund Tag und Nacht in den Händen, man konnte -es dir nicht wegnehmen. Wahrscheinlich liegt er auch jetzt irgendwo -unter deiner Decke. Und dann batest du um Fransen von den Hosen, du -batest mit Tränen darum. Wir versuchten zu erfahren, was für Fransen du -wünschtest? Aber man konnte nichts verstehen ... Nun, an die Arbeit. -Hier sind fünfunddreißig Rubel, ich nehme zehn davon, und nach ein paar -Stunden werde ich Rechenschaft darüber abgeben. Unterdessen will ich -Sossimoff benachrichtigen, obwohl er ohnedem längst hier sein müßte, -denn es geht auf zwölf. Sie aber, Nastasja, sehen öfters nach, während -ich fort bin, und sorgen für ein Getränk oder etwas anderes, was er -wünschen sollte ... Und der lieben Praskovja werde ich selbst gleich -sagen, was nötig ist. Auf Wiedersehen!« - -»Liebe Praskovja nennt er sie! Ach, du schlauer Kerl!« -- sagte Nastasja -hinter ihm drein. - -Dann öffnete sie die Tür und begann zu horchen, aber sie hielt es nicht -aus und lief hinunter. Es interessierte sie doch zu sehr, was er mit der -Wirtin sprach; überhaupt konnte man sehen, daß sie von Rasumichin ganz -bezaubert war. - -Kaum schloß sich die Tür hinter ihr, als der Kranke die Decke von sich -warf und wie wahnsinnig aus dem Bette sprang. Mit brennender, -krampfhafter Ungeduld hatte er gewartet, daß sie schneller fortgehen -würden, um sofort etwas zu tun. Aber was denn, was wollte er tun? -- ihm -schien es, als mußte es so sein, jetzt vergessen zu haben. - -»Oh, Gott! Sag' du mir nur eins -- wissen sie alles oder wissen sie noch -nichts? Aber wenn sie schon alles wissen und sich bloß so anstellen, -mich irreführen, solange ich liege, um dann plötzlich einzutreten und zu -sagen, daß alles schon längst bekannt sei und daß sie bloß so ... Was -soll ich jetzt tun? Ich habe es vergessen, vergessen; plötzlich ist es -mir entschwunden und eben noch wußte ich es! ...« - -Er stand mitten im Zimmer und blickte in qualvoller Unentschlossenheit -ringsumher; er ging zur Tür, öffnete sie und lauschte, aber das war es -nicht. Plötzlich, als hätte er sich erinnert, stürzte er zu der Ecke, wo -hinter den Tapeten das Loch war, sah alles nach, steckte die Hand in das -Loch und scharrte nach, aber auch das war es nicht. Er ging zum Ofen, -öffnete die Tür und begann in der Asche zu scharren; die Fransen von der -Hose und die Fetzen der zerrissenen Tasche lagen noch umher, wie er sie -hineingeworfen hatte, also hat niemand nachgesehen. Da erinnerte er sich -des Strumpfes, von dem Rasumichin soeben erzählt hatte. In der Tat, er -lag auf dem Sofa unter der Decke, aber er war so abgenutzt und -beschmutzt, daß Sametoff sicher nichts hatte sehen können. - -»Bah, Sametoff ... das Polizeibureau! ... Warum ladet man mich ins -Polizeibureau? Wo ist die Vorladung? Bah! ... ich verwechsele ... das -war damals! Ich habe schon da den Strumpf besehen und jetzt ... jetzt -war ich krank. Warum ist aber Sametoff hergekommen? Warum hat Rasumichin -ihn mitgebracht? ...« murmelte er, ganz schwach, und setzte sich auf das -Sofa. »Was ist denn? Phantasiere ich weiter oder ist es Wirklichkeit? Es -scheint Wirklichkeit zu sein ... Ah, ich erinnere mich, ich muß fliehen! -Schnell fliehen, unbedingt, unbedingt fliehen! Ja ... aber wohin? Und wo -sind meine Kleider? Die Stiefel sind nicht da. Man hat sie weggeschafft! -Hat sie versteckt! Ich verstehe es! Ah, da ist der Mantel -- den haben -sie übersehen. Hier auf dem Tische liegt auch Geld, Gott sei Dank! Da -ist auch der Wechsel ... Ich nehme das Geld und gehe fort, will mir eine -andere Wohnung mieten, sie werden mich nicht finden! ... Ja, aber das -Adreßbureau? Sie werden mich finden! Rasumichin wird mich finden. Es ist -besser, ganz weit zu fliehen ... nach Amerika ... und ich pfeif' auf -sie! Ich will auch den Wechsel nehmen ... dort kann er von Nutzen sein -... Was soll ich noch mitnehmen? Sie denken, ich sei krank. Sie wissen -es nicht, daß ich gehen kann, hehehe! ... Ich habe es an ihren Augen -erraten, daß sie alles wissen. Wenn ich nur die Treppe hinunterkäme! -Aber wenn sie dort Wächter aufgestellt haben ... Polizeibeamte! Ist das -Tee? Ah, Bier ist auch übriggeblieben, eine halbe Flasche, es ist kalt!« - -Er nahm die Flasche, in der noch ein ganzes Glas übrig war, und trank -sie in einem Zuge mit Genuß aus, als lösche er ein Feuer in seiner -Brust. Aber es verging kaum eine Minute, da stieg ihm das Bier zu Kopfe -und längs dem Rücken durchzog ihn ein leichtes, doch angenehmes -Frösteln. Er legte sich hin und zog die Decke über sich. Seine Gedanken, -die ohnedem krankhaft und ohne Zusammenhang waren, verwirrten sich immer -mehr, und bald überfiel ihn ein leichter und angenehmer Schlaf. Mit -Wonne suchte er mit dem Kopf eine Stelle in den Kissen aus, wickelte -sich fester in die weiche wattierte Decke ein, die jetzt an Stelle des -zerrissenen Mantels über ihm lag, seufzte leise und fiel in einen -tiefen, festen, kräftigenden Schlaf. - -Er erwachte, als er jemand in das Zimmer eintreten hörte, öffnete die -Augen und erblickte Rasumichin, der die Türe weit geöffnet hatte und auf -der Schwelle stand, unentschlossen, ob er eintreten solle oder nicht. -Raskolnikoff erhob sich schnell und blickte ihn an, als gäbe er sich -Mühe, sich auf etwas zu besinnen. - -»Ah, du schläfst nicht; nun, da bin ich! Nastasja, schlepp' das Bündel -her!« rief Rasumichin hinunter. »Du erhältst sofort Abrechnung ...« - -»Wieviel Uhr ist es?« fragte Raskolnikoff und blickte erregt um sich. - -»Du hast tüchtig geschlafen, Bruder; es ist Abend, etwa um sechs Uhr. Du -hast über sechs Stunden geschlafen ...« - -»Oh, Gott! Was ist mit mir! ...« - -»Ja, was soll denn sein? Zur Gesundheit ist's! Wohin treibt's dich denn? -Zu einem Stelldichein etwa? Die ganze Zeit gehört jetzt uns. Ich warte -schon drei Stunden, war ein paarmal hier, da du schliefst. Bei Sossimoff -war ich auch zweimal, er ist nicht zu Hause und basta! Das tut nichts, -er wird schon kommen! ... - -In eigenen Angelegenheiten war ich auch fortgewesen. Ich bin ja heute -umgezogen, fix und fertig umgezogen mit meinem Onkel zusammen. Ich habe -nämlich jetzt einen Onkel ... Nun aber zum Teufel damit, jetzt zur -Sache. Gib mal das Bündel her, Nastasja. Wir wollen es gleich besorgen. -Und wie fühlst du dich?« - -»Ich bin gesund, bin nicht krank ... Rasumichin, bist du schon lange -hier?« - -»Ich sage dir, ich warte seit drei Stunden.« - -»Nein, ich meine vorher?« - -»Was vorher?« - -»Seit wann kommst du hierher?« - -»Ich habe es dir doch erzählt oder erinnerst du dich nicht?« - -Raskolnikoff sann nach. Wie im Traume schwebte ihm das vorhin Geschehene -vor. Allein er konnte sich nicht entsinnen und blickte fragend -Rasumichin an. - -»Hm!« sagte dieser. »Du hast es vergessen. Mir schien es schon damals, -daß du noch nicht ganz ... Jetzt nach dem Schlafe hast du dich erholt -... Tatsächlich, du siehst besser aus. Braver Junge! Nun aber zur Sache. -Du wirst dich gleich erinnern. Sieh mal her, lieber Bursche.« - -Er begann das Bündel aufzumachen, das ihn sichtlich außerordentlich -interessierte. »Das, glaube mir, lag mir besonders auf dem Herzen. Denn -man muß doch aus dir einen Menschen machen. Wollen wir anfangen, und -zuerst von oben. Siehst du dieses Kaskett?« sagte er, indem er aus dem -Bündel eine ziemlich hübsche, aber auch sehr einfache und billige Mütze -hervorholte. -- »Laß es dir mal anprobieren.« - -»Nachher ... später,« -- sagte Raskolnikoff, sich mürrisch wehrend. - -»Nein, Rodja, sträube dich nicht, sonst wird es zu spät und auch ich -werde die ganze Nacht nicht einschlafen können, weil ich es ohne Maß -aufs Geratewohl gekauft habe. Es paßt genau!« -- rief er triumphierend -aus, nachdem er die Mütze anprobiert hatte, -- »paßt, wie angemessen! -Die Kopfbedeckung, Bruder, ist der wichtigste Teil des Anzuges, eine -tote Empfehlung. Mein Freund Tolstjakoff muß jedesmal seine -Kopfbedeckung abnehmen, wenn er irgendwo hinkommt, wo alle anderen in -Hüten und Mützen herumstehen. Alle glauben, er tue es aus sklavischer -Empfindung, nein, er schämt sich einfach seines Vogelnestes; er ist mal -schon so schüchtern. Nun, Nastenka, hier haben Sie zwei Kopfbedeckungen -(er holte aus einer Ecke den zerdrückten runden Hut von Raskolnikoff, -den er Gott weiß warum Palmerston nannte) -- diesen Palmerston und -dieses Kleinod. Taxiere mal. Rodja, was meinst du, das ich dafür bezahlt -habe? Nastasjuschka?« -- wandte er sich an sie, als er sah, daß -Raskolnikoff schwieg. »Zwanzig Kopeken wirst du wahrscheinlich gegeben -haben«, -- antwortete Nastasja. - -»Zwanzig Kopeken, Dummkopf!« -- rief er beleidigt aus, -- »heutzutage -kauft man auch dich nicht mal für zwanzig Kopeken. Achtzig Kopeken habe -ich bezahlt! Und auch deshalb nur, weil sie schon getragen ist. Jedoch -mit der Bedingung, daß du im nächsten Jahre eine andere umsonst -erhältst, wenn diese abgetragen ist, bei Gott! Nun wollen wir zu den -Vereinigten Staaten von Amerika, wie man bei uns im Gymnasium sagte, -übergehen. Ich sage im voraus, daß ich auf die Hosen stolz bin!« -- und -er breitete vor Raskolnikoff ein paar graue Beinkleider aus leichtem, -wollenem Sommerstoff aus. -- »Weder ein Löchlein, noch ein Fleckchen, -dafür aber sehr anständig, obwohl sie getragen sind, ebensolch eine -Weste, in derselben Farbe, wie es die Mode verlangt. Und daß sie -getragen sind, ist offen gestanden auch besser, sie sind weicher, zarter -... Siehst du, Rodja, um in der Welt eine Karriere zu machen, genügte -es, meiner Meinung nach, sich stets nach der Saison zu richten; wenn man -im Monat Januar keinen Spargel ißt, behält man im Beutel ein paar Rubel -mehr; ebenso ist es mit diesem Kauf. Wir haben jetzt die Sommersaison, -und da habe ich auch danach den Einkauf gemacht, denn zur Herbstsaison -wird so wie so ein wärmerer Stoff vonnöten sein, also muß man es -fortwerfen ... um so mehr, als dies alles bis dahin von selbst verfallen -wird, wenn nicht aus stärker gewordenem Luxusbedürfnis, so aus inneren -Zerrüttungen. Nun taxiere sie mal. Wieviel meinst du? -- Zwei Rubel -fünfundzwanzig Kopeken! Und vergiß nicht mit derselben Bedingung, hast -du sie vertragen, erhältst du im nächsten Jahre ein anderes Paar -umsonst. In Fedjajeffs Laden handelt man nicht anders: man bezahlt nur -einmal und hat fürs ganze Leben genug, denn ein zweites Mal geht man -selbst nicht hin. Jetzt zu den Stiefeln, -- wie gefallen sie dir? Man -sieht es wohl, daß sie getragen sind, aber ein paar Monate halten sie -noch aus, denn es ist ausländische Arbeit und ausländische Ware; der -Sekretär der englischen Botschaft hat sie vorige Woche auf dem -Trödelmarkte losgeschlagen, er hat sie nur sechs Tage getragen, brauchte -aber sehr notwendig Geld. Der Preis ist ein Rubel fünfzig Kopeken. Ist -das nicht ein glücklicher Einkauf?« - -»Aber vielleicht passen sie nicht!« -- bemerkte Nastasja. - -»Nicht passen! Und was ist das?« -- er zog aus der Tasche den alten, -eingetrockneten, zerrissenen, ganz mit altem Schmutz bedeckten Stiefel -Raskolnikoffs. -- »Ich bin mit Vorrat hingegangen; nach diesem Scheusal -hat man das richtige Maß festgestellt. Alles war sorgfältig bedacht. Und -wegen der Wäsche habe ich mich mit der Wirtin beraten. Da sind drei -leinene Hemden, mit modernen Kragen ... Also nun die Rechnung: achtzig -Kopeken die Mütze, zwei Rubel fünfundzwanzig die übrigen Kleider, im -ganzen drei Rubel und fünf; ein Rubel und fünfzig die Stiefel, -- weil -sie gar so gut sind, -- macht vier Rubel fünfundfünfzig und die ganze -Wäsche fünf Rubel -- wir haben einen Engrospreis gemacht, -- ist in -Summa neun Rubel fünfundfünfzig Kopeken. Den Rest -- fünfundvierzig -Kopeken in Kupfer bitte ich zurückzunehmen, da lege ich sie hin. Und -nun, Rodja, bist du in deiner ganzen Kleidung hergestellt, denn dein -Mantel kann, meiner Meinung nach, nicht bloß weiterdienen, sondern er -macht sogar einen besonders anständigen Eindruck; das macht, wenn man -bei einem guten Schneider arbeiten läßt. Was Strümpfe und das übrige -anbelangt, das überlasse ich dir selbst; wir haben an Geld noch -fünfundzwanzig Rubel; wegen der lieben Praskovja und der Miete kannst du -ruhig sein. Ich sage dir, du hast einen unbegrenzten Kredit. Jetzt aber -erlaube mal, dir die Wäsche zu wechseln, Bruder, vielleicht steckt die -Krankheit jetzt bloß noch im Hemde ...« - -»Laß es! Ich will nicht!« wehrte sich Raskolnikoff, der voll Widerwillen -dem gesucht neckischen Bericht Rasumichins über den Einkauf der Sachen -zugehört hatte. - -»Das geht nicht an, Bruder. Warum habe ich mich denn abgeschunden!« -bestand Rasumichin auf seinem Verlangen. »Nastasjuschka, genieren Sie -sich nicht, sondern helfen Sie, -- so, so!« - -Und ungeachtet des Widerstandes Raskolnikoffs, hatte er ihm doch die -Wäsche gewechselt. Der aber fiel auf die Kissen zurück und ein paar -Minuten redete er kein Wort. - -»Die werde ich noch lange nicht los!« dachte er. - -»Von welchem Gelde ist denn dies alles gekauft?« fragte er endlich, -indem er nach der Wand blickte. - -»Von welchem Gelde? Das ist mal eine Frage! Doch von deinem eigenen. -Vorhin war doch der Bureaudiener von Wachruschin hier, deine Mutter hat -es dir gesandt, oder hast du auch das vergessen?« - -»Jetzt erinnere ich mich ...« sagte Raskolnikoff nach langem und -düsterem Nachdenken. Rasumichin sah ihn hin und wieder voll Unruhe mit -zusammengezogenen Brauen an. Da öffnete sich die Türe und ein großer -kräftiger Mann trat ein, der dem Aussehen nach Raskolnikoff schon ein -wenig bekannt vorkam. - -»Sossimoff! Endlich!« rief Rasumichin erfreut aus. - - - IV. - -Sossimoff war groß und dick, mit einem gedunsenen, farblosen, blassen -und glattrasierten Gesichte, hatte helles glattes Haar, trug eine Brille -und an einem seiner fetten Finger saß ein großer goldener Ring. Er war -etwa siebenundzwanzig Jahre alt. Unter einem weiten, eleganten, leichten -Überzieher sahen helle Sommerbeinkleider hervor; alles war an ihm weit, -elegant und nagelneu, die Wäsche war tadellos und die Uhrkette massiv. -Seine Bewegungen waren langsam, es lag in seiner Trägheit gleichzeitig -eine gesuchte Ungezwungenheit; eine Überhebung, die er übrigens stark zu -verbergen suchte, kam immer wieder zum Vorschein. Alle, die ihn kannten, -fanden ihn schwerfällig, gaben jedoch zu, daß er seine Sache verstände. - -»Ich bin zweimal bei dir gewesen, Bruder ... Siehst du, er ist zu sich -gekommen!« rief Rasumichin aus. - -»Ich sehe, sehe es. Nun, wie fühlen wir uns jetzt?« wandte sich -Sossimoff an Raskolnikoff, indem er ihn aufmerksam betrachtete und sich -zu ihm auf das Sofa zu seinen Füßen setzte, wobei er sich sofort nach -Möglichkeit breit machte. »Er ist immer schlechter Laune,« fuhr -Rasumichin fort, »wir haben ihm soeben die Wäsche gewechselt, da fing er -fast zu weinen an.« - -»Das ist begreiflich; die Wäsche konnte man auch später wechseln, wenn -er es selbst wünscht ... Der Puls ist prächtig. Der Kopf tut immer noch -ein wenig weh, ja?« - -»Ich bin gesund, bin vollkommen gesund!« sagte hartnäckig und gereizt -Raskolnikoff, indem er sich gleichzeitig vom Sofa erhob und mit den -Augen blitzte, er fiel aber sofort auf das Kissen zurück und wandte sich -der Wand zu. - -Sossimoff beobachtete ihn aufmerksam. - -»Sehr gut ... alles, wie es sich gehört,« sagte er träge. »Hat er etwas -gegessen?« - -Man sagte es ihm und fragte, was man geben könne. - -»Ja, alles kann man ihm geben ... Suppe, Tee ... Pilze und Gurken -selbstverständlich nicht, na, und Fleisch ist auch nicht nötig und ... -was ist da weiter zu reden! ...« - -Er wechselte einen Blick mit Rasumichin. - -»Die Arznei weg und alles weg; morgen will ich wieder nachsehen ... Es -wäre heute ... na, einerlei ...« - -»Morgen abend gehe ich mit ihm spazieren!« beschloß Rasumichin. »In den -Jussupoff-Garten, und nachher gehen wir in den Kristallpalast.« - -»Morgen würde ich ihm noch nicht raten, sich Bewegung zu machen, -übrigens aber ... ein wenig ... na, wir wollen sehen.« - -»Ach, es ist schade, heute weihe ich gerade meine Wohnung ein, es sind -ja nur zwei Schritte von hier; wenn er auch dabei sein könnte! Er könnte -ja auf dem Sofa unter uns liegen. Du wirst doch kommen?« wandte sich -Rasumichin plötzlich an Sossimoff. »Vergiß es nicht, du hast -versprochen.« - -»Vielleicht komme ich, aber ein wenig später. Was hast du denn?« - -»Ja, nichts besonderes, Tee, Schnaps, Hering. Eine Pirogge gibt es; nur -die nächsten Bekannten kommen.« - -»Wer denn?« - -»Ja, alle aus der nächsten Nachbarschaft und fast lauter neue, -ausgenommen den alten Onkel und neu ist der auch. Er ist gestern nach -Petersburg in eigenen Angelegenheiten gekommen; alle fünf Jahre sehen -wir uns.« - -»Wo ist er?« - -»Er hat sein Lebelang in einer Kreisstadt als Postmeister vegetiert ... -erhält eine kleine Pension, ist fünfundsechzig Jahre alt, es lohnt sich -nicht, darüber zu sprechen ... Ich habe ihn übrigens gern. Porphyri -Ssemenowitsch wird auch kommen, der hiesige Untersuchungsrichter ... er -ist aus dem Richterstande. Ja, du kennst ihn doch ...« - -»Ist er auch ein Verwandter von dir?« - -»Ganz weitläufig; warum siehst du so verdrießlich aus? Weil ihr euch -einmal gezankt habt, wirst vielleicht deshalb nicht kommen?« - -»Ah, ich pfeife auf ihn ...« - -»Das ist auch das beste. Nun und außerdem -- Studenten, ein Lehrer, ein -Beamter, ein Musiker, ein Offizier, Sametoff ...« - -»Sag mir bitte, was kann zwischen dir oder dem da,« Sossimoff wies auf -Raskolnikoff, »und einem Sametoff gemeinsames sein?« - -»Ach, du Nörgler! Prinzipienreiter! ... Du bist ja ganz mit Prinzipien -ausgestopft wie ein Kissen mit Federn, bist schon ganz ihr Sklave. Meine -Meinung ist, wenn ein Mensch gut ist, -- so ist er mir angenehm, und das -ist mein Prinzip. Und Sametoff ist ein ganz prächtiger Bursche.« - -»Und läßt sich schmieren.« - -»Nun ja, was macht es, wenn er sich schmieren läßt, ich pfeife darauf. -Was ist da dabei, wenn er sich schmieren läßt!« rief plötzlich -Rasumichin unnatürlich gereizt aus, -- »hab ich ihn denn gelobt, weil er -sich schmieren läßt? Ich sagte, daß er nur in seiner Art gut sei. Und -wenn man alle so genau nach jeder Seite besehen würde, dann würden nicht -viel gute Menschen übrig bleiben. Ich bin überzeugt, daß man dann für -mich, mit allen Eingeweiden zusammen, eine gebackene Zwiebel geben -würde, und auch nur mit dir als Zugabe! ...« - -»Das ist wenig; ich will für dich zwei geben ...« - -»Und ich für dich nur eine! Mach mir keine weiteren Witze! Sametoff ist -noch ein dummer Junge, ich werde ihn noch oft an den Haaren zupfen, man -muß ihn an sich ziehen und nicht von sich stoßen. Wenn man einen -Menschen abstößt, verbessert man ihn nicht, um so mehr, wenn er ein -unreifer Junge ist. Mit einem Jungen soll man noch einmal so vorsichtig -sein. Ach, ihr progressiven Dummköpfe, nichts versteht ihr! Ihr achtet -nicht den Menschen, und schadet euch selbst ... Und wenn du es wissen -willst, wir haben ein gemeinsames Interesse.« - -»Das möchte ich wissen.« - -»Ja, es ist in der Sache mit dem Maler, das heißt dem Anstreicher ... -Wir werden ihn schon loskriegen! Übrigens ist jetzt auch keine Gefahr -mehr. Die Sache ist jetzt klipp und klar! Wir wollen sie bloß -beschleunigen.« - -»Was ist das für ein Anstreicher?« - -»Wie, habe ich dir denn nicht davon erzählt? Ja, richtig, ich habe dir -nur den Anfang erzählt ... von der Ermordung der alten Pfandleiherin, -der Beamtenwitwe ... nun und darein ist jetzt ein Anstreicher verwickelt -...« - -»Von diesem Morde habe ich schon früher gehört, bevor du es mir -erzähltest, und ich interessiere mich sehr für diese Sache ... teilweise -... aus einem besonderen Grunde ... ich las in den Zeitungen darüber. -Aber siehst du ...« - -»Lisaweta hat man auch ermordet!« platzte plötzlich Nastasja heraus, -indem sie sich an Raskolnikoff wandte. - -Sie hatte die ganze Zeit an die Tür gelehnt zugehört. - -»Lisaweta?« murmelte Raskolnikoff mit kaum hörbarer Stimme. - -»Lisaweta, die Händlerin, weißt du es nicht? Sie kam öfters hierher in -unser Haus, hat dir auch ein Hemd ausgebessert.« - -Raskolnikoff wandte sich zu der Wand, wählte auf der schmutzigen gelben -Tapete mit weißen Blümchen eine plumpe weiße Blume mit braunen Strichen -aus und begann sie zu betrachten, wieviel Blätter sie habe, was für -Zacken an den Blättern und wieviel Striche sie durchzogen. Er fühlte, -daß seine Hände und Füße erstarrten, als wären sie gelähmt, aber er -versuchte nicht mal sich zu rühren und blickte unverwandt die Blume an. - -»Nun, was ist mit dem Anstreicher?« unterbrach Sossimoff sehr unwillig -Nastasjas Geschwätz. - -Sie seufzte und schwieg. - -»Er soll auch der Mörder sein!« fuhr Rasumichin eifrig fort. - -»Hat man denn Beweise?« - -»Gar keine, zum Teufel! Übrigens hat man doch einen, aber dieser Beweis -ist kein Beweis und siehst du, das muß man erst nachweisen. Es ist genau -so, wie sie zuerst diese ... wie heißen sie doch ... ja Koch und -Pestrjakoff verdächtigt und eingesperrt haben. Pfui! Wie dumm dies alles -gehandhabt wird, einen Unbeteiligten ekelt es an. Pestrjakoff, der eine -von ihnen, wird vielleicht auch heute bei mir sein ... Apropos, Rodja, -du kennst ja diese Geschichte, sie passierte noch vor deiner Krankheit, -gerade am Abend vorher, als du im Polizeibureau ohnmächtig wurdest, als -man darüber sprach ...« - -Sossimoff blickte Raskolnikoff neugierig an, er rührte sich aber nicht. - -»Weißt du, Rasumichin? Ich muß mich über dich wundern, daß du dich -überall hineinmischest,« bemerkte Sossimoff. - -»Mag sein, aber wir wollen ihn doch loskriegen!« rief Rasumichin aus und -schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was einen dabei aber am meisten -ärgert, ist nicht, daß sie so viel lügen. Lügen kann man immer -entschuldigen, Lügen ist ein gutes Ding, wenn es zur Wahrheit führt. -Aber das ist ärgerlich, daß sie lügen und an ihre eigenen Lügen -unerschütterlich glauben. Ich achte Porphyri, aber ... Was hat sie zum -Beispiel ganz am Anfang aus dem Konzept gebracht? Die Türe war -verschlossen, und als sie später mit dem Hausknecht kamen, war sie -offen, also haben Koch und Pestrjakoff gemordet! Siehst du, so ist ihre -Logik!« - -»Rege dich doch nicht auf; man hat sie einfach eine kurze Zeit in Haft -behalten, man kann doch nicht ... Nebenbei gesagt, ich habe diesen Koch -irgendwo kennengelernt. Es hat sich herausgestellt, daß er von der Alten -verfallene Pfandobjekte ankaufte?« - -»Ja, er ist ein Gauner! Er kauft auch Wechsel auf. Ein dunkler -Ehrenmann. Aber hol ihn der Teufel! Versteh mich doch, worüber ich mich -am meisten ärgere. Über ihre veraltete, sinnlose, verkehrte Methode -ärgere ich mich ... Hier aber, in dieser Sache allein, muß man einen -ganz neuen Weg entdecken. Nach den psychologischen Momenten allein kann -man schon zeigen, wie die richtige Spur gefunden werden soll. Wir haben -Indizien, sagen sie! Ja, aber Indizien ist doch nicht alles; wenigstens -die Hälfte der Sache besteht darin, wie man mit den Indizien umzugehen -versteht!« - -»Und verstehst du mit den Indizien umzugehen?« - -»Man kann aber doch nicht schweigen, wenn man fühlt, handgreiflich -fühlt, daß man der Sache nützen könnte, wenn ... Ach! ... Kennst du die -Sache ausführlich?« - -»Ich warte darauf, über den Anstreicher zu hören.« - -»Ach ja! Höre also die Geschichte, -- genau am dritten Tage nach dem -Morde, am Morgen, als sie sich noch mit Koch und Pestrjakoff abgaben, -- -obwohl die jeden ihrer Schritte nachgewiesen hatten, alles war schreiend -klar, -- wird plötzlich ein ganz unerwartetes Faktum offenbar. Ein -gewisser Duschkin, ein Bauer, Besitzer einer Kneipe gerade gegenüber -jenem Hause, erscheint in dem Polizeibureau, bringt ein Etui mit -goldenen Ohrgehängen mit und erzählt eine ganze Geschichte. >Vorgestern -abend ungefähr nach acht Uhr,< -- merk du dir Tag und Stunde! -- >kommt -zu mir ein Arbeiter, ein Anstreicher, Nikolai, der auch schon früher im -Laufe des Tages dagewesen war, und bringt mir dieses Kästchen mit -goldenen Ohrgehängen und mit den Steinen und bittet, ihm zwei Rubel -darauf zu leihen; auf meine Frage aber, woher er sie habe, erklärte er -mir, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte. Mehr habe ich ihn nicht -ausgefragt,< das alles sagt Duschkin, >sondern gab ihm einen Schein,< -das heißt also einen Rubel, >denn ich dachte, wenn ich sie nicht nehme, -versetzt er sie bei einem anderen, und wird das Geld sowieso vertrinken. -Mögen besser die Sachen bei mir liegen; sollte sich aber etwas zeigen -oder sollten Gerüchte auftauchen, bringe ich sie zur Polizei.< -Selbstverständlich schwindelt er, lügt wie ein Pferd, denn ich kenne -diesen Duschkin, er ist selbst Pfandleiher, schafft Gestohlenes zur -Seite und hat dem Nikolai das Ding, das dreißig Rubel wert ist, nicht -abgeluchst, um es zur Polizei zu bringen. Er hat einfach Angst bekommen. -Hol' ihn der Teufel! -- höre weiter,« fuhr Rasumichin fort: »>Ich kenne -ihn, den Nikolai Dementjeff von klein auf,< erzählt Duschkin weiter, >er -stammt aus demselben Rjasanschen Gouvernement wie ich, und aus demselben -Kreise. Nikolai ist kein Säufer, trinkt aber doch hin und wieder eins, -und ich wußte, daß er in jenem Hause mit Dmitri arbeitet, denn Dmitri -stammt auch aus derselben Gegend. Als er von mir den Schein erhalten -hatte, wechselte er ihn sofort, trank auf einmal zwei Gläschen, nahm den -Rest des Geldes und ging seiner Wege, Dmitri war aber damals nicht mit -ihm. Am anderen Tage hörte ich, daß Aljona Iwanowna und ihre Schwester -Lisaweta mit einem Beile erschlagen sind, -- ich habe sie gekannt, -- -und da packten mich Zweifel wegen der Ohrgehänge, denn mir war es -bekannt, daß die Verstorbene Geld gegen Pfand auslieh. Ich ging hinüber -und begann vorsichtig und still auszuhorchen und zu allererst frug ich, -ob Nikolai da sei! Dmitri erzählte mir, daß Nikolai zu trinken -angefangen habe, er wäre bei Tagesanbruch betrunken nach Hause gekommen, -ungefähr zehn Minuten dageblieben und wieder fortgegangen; Dmitri habe -ihn nicht mehr gesehen und beende die Arbeit allein. Sie arbeiteten aber -im zweiten Stock desselben Hauses, in dem die Ermordeten lebten. Als ich -dies hörte, habe ich niemanden etwas davon mitgeteilt,< sagte Duschkin, ->ich versuchte vielmehr alles über die Ermordung in Erfahrung zu bringen -und bin mit denselben Zweifeln nach Hause zurückgekehrt. Heute morgen -nun gegen acht Uhr,< das heißt, am dritten Tage, verstehst du? >sehe ich -Nikolai hereinkommen, nicht nüchtern, aber auch nicht ganz betrunken, so -daß er ganz gut ausgehört werden konnte. Er setzt sich auf eine Bank und -schweigt. Außer ihm war in der Kneipe zu der Zeit noch ein fremder -Mensch da, auf einer Bank schlief ein anderer, ein Bekannter von mir, -auch die zwei Laufjungens waren zur Stelle. Hast du Dmitri gesehen, -fragte ich ihn. -- Nein, sagte er, ich habe ihn nicht gesehen. -- Und -warst du auch nicht bei ihm? -- Nein, antwortete er, seit vorgestern war -ich nicht bei ihm. -- Und wo hast du die Nacht geschlafen? -- Bei -Bekannten auf den Peßki. -- Und woher, fragte ich, hast du die -Ohrgehänge genommen? -- Ich habe sie auf dem Trottoir gefunden, -- und -er sagte es so, als sei es nicht wahr, und ohne mich anzublicken. -- -Hast du auch gehört, fragte ich ihn, daß dies und dies, und erzählte ihm -nun die Geschichte, am selben Abend und zur selben Stunde auf jener -Treppe geschehen ist? -- Nein, sagte er, ich habe nichts gehört. -- Er -hörte mit weit aufgerissenen Augen auf das, was ich ihm erzählte, und -ward plötzlich weiß wie Kalk. Ich erzähle weiter, siehe da, er nimmt -seine Mütze und will aufstehen. Da wollte ich ihn festhalten und sage, -warte ein wenig, Nikolai, willst du nicht eins trinken? Ich gab einem -Jungen ein Zeichen, daß er die Tür zuhalten soll, und kam hinter dem -Ladentisch hervor, er aber springt auf, stürzt auf die Straße und läuft -um die Ecke, -- weg war er. Da verlor ich meine Zweifel, es ist sein -Werk, sein Verbrechen ...<« - -»Sicher! ...« sagte Sossimoff. - -»Warte! Höre zu Ende! Selbstverständlich beeilte man sich schleunigst, -Nikolai zu finden; Duschkin wurde verhaftet und Haussuchung bei ihm -gehalten, Dmitri sperrte man auch ein; die Bekannten von Nikolai, bei -denen er die letzte Nacht geschlafen hat, wurden gleichfalls hergenommen --- und vorgestern brachte man Nikolai selbst; man hatte ihn in der Nähe -des N.schen Schlagbaums in einer Spelunke aufgefangen. Er war dorthin -gekommen, hatte sein silbernes Kreuz vom Halse genommen und ein Glas -Schnaps dafür verlangt. Man hatte es ihm auch gegeben. Nach einer Weile -ging die Frau in den Kuhstall und sah durch eine Ritze, daß Nikolai in -der Scheune nebenan an einen Balken seinen Gürtel gebunden hatte und -eine Schlinge gemacht hatte; dann stieg er auf einen Klotz und wollte -die Schlinge um den Hals legen; die Frau schrie aus vollem Halse, und -man lief zusammen. -- >Du bist so einer!< -- >Führt mich,< sagte er, ->auf das Polizeibureau, ich will alles bekennen.< Nun, man schaffte ihn -mit den gehörigen Ehrenbezeigungen in das Polizeibureau, das heißt -hierher. Allerhand Fragen wurden ihm dort gestellt, wer, woher, wie alt --- >zweiundzwanzig< und dergleichen. Frage: >Als du und Dmitri -arbeitetet, habt ihr nicht jemand auf der Treppe in der und der Stunde -gesehen?< Antwort: >Gewiß sind Menschen vorbeigegangen, aber wir haben -sie uns nicht gemerkt.< >Habt ihr nicht Lärm oder ähnliches gehört?< ->Wir haben nichts besonderes gehört.< >Wußtest du aber, Nikolai, daß am -selben Tage die Witwe so und so an diesem Tage und zu der und der Stunde -mit ihrer Schwester ermordet und beraubt wurde?< >Ich habe gar nichts -gewußt, zum ersten Male hörte ich davon in der Kneipe am dritten Tage -von Afanassi Pawlowitsch.< >Und woher hast du die Ohrgehänge?< >Ich habe -sie auf dem Trottoir gefunden.< >Warum bist du am anderen Tage nicht mit -Dmitri zur Arbeit gekommen?< >Weil ich angefangen hatte zu bummeln.< ->Und wo hast du gebummelt?< >Ja, dort und dort.< >Warum liefst du von -Duschkin weg?< >Weil ich große Angst bekam.< >Warum bekamst du Angst?< ->Daß man mich verhören wird.< >Wie konntest du denn davor Angst -bekommen, wenn du dich vollkommen unschuldig fühlst??< ... Nun, glaub -oder glaub mir nicht, Sossimoff, diese Frage wurde gestellt und -buchstäblich mit diesen Worten, ich weiß es bestimmt, man hat es mir -genau mitgeteilt! Wie findest du das? Wie findest du das?« - -»Aber, es existieren doch Beweise.« - -»Ich spreche jetzt nicht von den Beweisen, sondern von der -Fragestellung, darüber, wie sie ihre Aufgabe auffassen! Aber, zum Teufel -damit! ... Also sie haben so lange gepreßt und gequetscht, bis er -bekannte, >ich habe sie,< sagte er, >nicht auf dem Trottoir, sondern in -der Wohnung gefunden, wo ich mit Dmitri arbeitete.< >Wie verhält sich -denn das?< >Wir arbeiteten den ganzen Tag bis acht Uhr und wollten schon -nach Hause gehen, da nahm Dmitri einen Pinsel, schmierte mir in die -Fratze Farbe und lief davon und ich ihm nach. Und ich lief hinter ihm -her und schrie aus vollem Halse; wie ich aber von der Treppe unter den -Torweg kam, stieß ich im vollen Laufe mit dem Hausknecht und einigen -Herren zusammen, -- wieviel Herren es waren, erinnere ich mich nicht, -der Hausknecht schimpfte mich aus, auch der andere Hausknecht schimpfte -mich, die Frau des Hausknechtes kam heraus und schimpfte; ein Herr, der -mit einer Dame durch den Torweg kam, schimpfte auch, weil ich und Dmitri -quer im Wege lagen, -- ich hatte Dmitri an den Haaren gepackt, ihn -hingeworfen und versetzte ihm Püffe, Dmitri hatte, unter mir liegend, -mich auch an den Haaren und puffte mich, wir taten es nicht im Ernst, -sondern in aller Freundschaft, im Scherze. Dmitri machte sich von mir -los und lief auf die Straße, ich lief ihm nach, holte ihn aber nicht ein -und ging in die Wohnung allein zurück, -- es mußte noch aufgeräumt -werden. Ich begann das Werkzeug zu sammeln und wartete auf Dmitri, -vielleicht kommt er noch. Und bei der Türe im Vorzimmer, an der Wand, in -einem Winkel, trat ich auf ein Kästchen. Ich sehe, es liegt da, -eingeschlagen in Papier. Das Papier nahm ich ab und sah solche ganz -winzige Häkchen, ich machte sie auf und im Kästchen lagen die Ohrgehänge -...<« - -»Hinter der Tür? Hinter der Tür lag es? Hinter der Tür?« rief plötzlich -Raskolnikoff, sah Rasumichin mit einem trüben, erschreckten Blick an und -erhob sich langsam, sich mit der Hand stützend, vom Sofa. - -»Ja ... aber was ist denn los? Was ist mit dir? Was hast du?« Rasumichin -erhob sich auch von seinem Platze. - -»Nichts! ...« antwortete kaum hörbar Raskolnikoff, sank wieder auf das -Kissen zurück und wandte sich von neuem zu der Wand. - -Alle schwiegen eine Weile. - -»Er war wahrscheinlich eingeschlummert, noch halb im Schlafe,« sagte -endlich Rasumichin und blickte Sossimoff fragend an; jener machte eine -leichte verneinende Bewegung mit dem Kopfe. - -»Na, fahr fort,« sagte Sossimoff, »was weiter?« - -»Ja, was weiter? Als er die Ohrgehänge erblickte, vergaß er sofort die -Wohnung und Dmitri, nahm seine Mütze und lief zu Duschkin hin und -erhielt von ihm, wie es dir bekannt ist, einen Rubel, ihm log er aber -vor, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte, und fing sofort an zu -bummeln. Von dem Morde aber bestätigt er das früher gesagte: >Ich weiß -von gar nichts, habe es erst am dritten Tage gehört!< >Und warum bist du -bis jetzt nicht gekommen?< >Vor Angst.< >Und warum wolltest du dich -erhängen?< >Vor lauter Gedanken.< >Was für Gedanken?< >Daß man mich -verurteilen würde.< Nun, das ist die ganze Geschichte. Jetzt, was meinst -du, daß sie daraus gefolgert haben?« - -»Ja, was ist da zu denken, es ist eine Spur, wenn sie auch unbedeutend -ist, so ist es doch eine Spur. Eine Tatsache. Soll man deinen -Anstreicher etwa in Freiheit setzen?« - -»Ja, sie halten ihn jetzt einfach für den Mörder! Sie haben keinen -Zweifel mehr ...« - -»Das geht zu weit, du bist hitzig. Nun aber die Ohrgehänge? Du mußt doch -selbst zugeben, -- wenn am selben Tage und zur selben Stunde die -Ohrgehänge aus dem Kasten der Alten in die Hände von Nikolai geraten, -- -daß sie in irgendeiner Weise zu ihm hingekommen sein müssen? Das hat -doch nicht wenig zu sagen bei solch einer Untersuchung.« - -»Wie hingekommen! Wie sie hingekommen sind?« rief Rasumichin aus. »Und -du als Arzt, du, der vor allen Dingen verpflichtet ist, den Menschen zu -studieren und der Gelegenheit hat, eher als jeder andere, die -menschliche Natur kennenzulernen, -- kannst du denn nicht nach all -diesen gegebenen Anzeichen sehen, was für eine Natur dieser Nikolai ist? -Kannst du denn nicht auf den ersten Blick sehen, daß alles, was er bei -den Verhören ausgesagt hat, die heiligste Wahrheit ist? Sie sind genau -so in seine Hände geraten, wie er ausgesagt hat. Er ist auf ein Kästchen -getreten und hat es aufgehoben.« - -»Heiligste Wahrheit! Er hat aber doch selbst eingestanden, daß er das -erstemal gelogen hat?« - -»Höre mich an, höre aufmerksam zu, -- der Hausknecht, Koch und -Pestrjakoff, auch der andere Hausknecht, die Frau des ersten -Hausknechtes und eine Bekannte von ihr, die zur selben Zeit in der -Wohnung des Hausknechtes saßen, und der Hofrat Krjukoff, der in -demselben Augenblick aus einer Droschke gestiegen und mit einer Dame Arm -in Arm durch den Torweg gegangen war, -- alle, also acht oder zehn -Zeugen, sagen einstimmig aus, daß Nikolai den Dmitri zu Boden gedrückt, -auf ihm lag und ihn schlug, und daß jener ihn an den Haaren gepackt -hatte und ebenso auf ihn schlug. Sie liegen beide quer im Wege und -versperren den Durchgang; sie werden von allen geschimpft und sie liegen -da, wie >kleine Kinder< aufeinander (buchstäblicher Ausdruck der -Zeugen), kreischen, prügeln sich und lachen, lachen beide um die Wette, -mit den komischsten Fratzen und laufen auf die Straße, gleich Kindern, -hinaus einander zu fangen. Hast du gehört? Nun merke dir jetzt, -- oben -liegen die Körper noch warm, hörst du, noch warm, so fand man sie! Wenn -sie oder auch Nikolai nur allein, gemordet und dabei den Kasten -aufgebrochen und geraubt hätten oder auch nur einigermaßen an dem Raube -beteiligt gewesen wären, erlaube mir nur die eine Frage dir vorzulegen, --- ist solch eine seelische Stimmung, das heißt, Kreischen, Lachen, -kindisches Prügeln in dem Torwege -- mit Beilen, Blut, mit -verbrecherischer Schlauheit, Vorsicht, Raub vereinbar? Sie haben soeben -noch vor fünf oder zehn Minuten gemordet, -- denn es muß so stimmen, die -Körper waren ja noch warm -- und plötzlich lassen sie die Leichen liegen -und die Wohnung offen, wobei sie wissen, daß soeben Menschen dorthin -gegangen sind, kümmern sich nicht um die Beute und wälzen sich wie -kleine Kinder auf dem Wege, lachen und lenken die allgemeine -Aufmerksamkeit auf sich -- und dies alles bezeugen einstimmig zehn -Zeugen!« - -»Sicher ist es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch unmöglich, -aber ...« - -»Nein, Bruder, es gibt kein aber, -- sondern wenn die Ohrgehänge, die -zur selben Stunde und am selben Tage in Nikolais Hände geraten sind, -tatsächlich einen wichtigen ihn belastenden Beweis ausmachen, -- der -jedoch durch seine Aussagen einfach erklärt wird, also noch ein -_strittiger Beweis ist_, -- muß man doch auch die entlastenden Tatsachen -in Erwägung ziehen und um so mehr, als dies _unwiderlegbare_ Tatsachen -sind. Und glaubst du wohl, nach der Art unserer Jurisprudenz, daß sie -dies anerkennen wird, oder daß sie fähig ist, solch eine Tatsache, -- -die ausschließlich auf rein psychologischer Unmöglichkeit, nur auf -seelischer Stimmung allein begründet ist, -- als eine unanfechtbare und -alle belastenden und sachlichen Momente, wie sie auch sein mögen, -widerlegende Tatsache anzuerkennen? Nein, sie werden es nicht -anerkennen, keineswegs, denn man hat das Kästchen gefunden, werden sie -sagen, und der Mensch wollte sich erhängen, -- >was nicht geschehen -könnte, wenn er sich nicht schuldig fühlte<. Das ist die Hauptfrage, -darum ereifere ich mich auch! Verstehe es doch!« - -»Ja, ich sehe es auch, daß du dich ereiferst. Warte, ich vergaß dich zu -fragen, wodurch ist es nachgewiesen, daß das Kästchen mit den -Ohrgehängen tatsächlich von der Alten stammt?« - -»Das ist nachgewiesen,« antwortete Rasumichin mit gerunzelten -Augenbrauen und anscheinend mit Unlust. »Koch hat das Ding erkannt und -den Pfandgeber genannt, und dieser hat bewiesen, daß die Ohrgehänge ihm -gehören.« - -»Das ist schlimm. Jetzt noch eins, -- hat jemand Nikolai gesehen, als -Koch und Pestrjakoff allein hinaufgingen, und kann man es nicht -irgendwie beweisen?« - -»Das ist es ja, daß niemand ihn gesehen hat,« antwortete Rasumichin -ärgerlich, -- »das ist ja das Schlimme; sogar Koch und Pestrjakoff haben -Nikolai und Dmitri nicht bemerkt, als sie hinaufgingen, obgleich ihr -Zeugnis jetzt nicht viel bedeuten würde. >Wir haben gesehen,< sagen sie, ->daß die Wohnung offen war, daß man darin wahrscheinlich arbeitete, aber -wir haben im Vorübergehen nicht darauf geachtet und erinnern uns nicht -genau, ob in dem Momente dort Arbeiter waren oder nicht.<« - -»Hm. Also gibt es nur eine einzige Rechtfertigung: die, daß sie einander -Püffe versetzt und gelacht haben. Angenommen, dies ist ein starker -Beweis, aber ... Erlaube mal, wie erklärst du selbst den ganzen Vorgang? -Wodurch willst du den Fund der Ohrgehänge erklären, wenn er sie -tatsächlich so gefunden hat, wie er angibt?« - -»Wie ich es erkläre? Ja, was ist da zu erklären, die Sache ist klar. -Wenigstens der Weg, den man bei dieser Sache gehen muß, ist klar und -bewiesen, und gerade das Kästchen hat ihn gezeigt. Der wirkliche Mörder -hat die Ohrgehänge verloren. Der Mörder war oben, als Koch und -Pestrjakoff klopften, und saß eingeschlossen dort. Koch machte die -Dummheit und ging nach unten, da sprang der Mörder heraus und lief -ebenfalls nach unten, denn er hatte keinen anderen Ausweg. Auf der -Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakoff und dem Hausknecht in -der leeren Wohnung, und zwar in dem Augenblicke, als Dmitri und Nikolai -herausgelaufen waren; er stand hinter der Türe, als der Hausknecht und -die anderen nach oben gingen, wartete bis die Schritte verhallten und -ging in aller Seelenruhe hinunter, genau im selben Augenblicke, als -Dmitri und Nikolai auf die Straße gelaufen waren, alles fort und niemand -im Torwege war. Vielleicht hat man ihn auch gesehen, aber nicht -beachtet; es gehen ja nicht wenige Menschen dort aus und ein. Und das -Kästchen ist ihm aus der Tasche gefallen, als er hinter der Tür stand, -und er hat es nicht gemerkt, denn er mußte an anderes denken. Das -Kästchen aber beweist klar, daß er dort gestanden hat. So ist die ganze -Sache!« - -»Das ist schlau. Nein, Bruder, das ist sehr schlau. Das ist zu schlau!« - -»Aber warum denn, warum?« - -»Ja, weil alles viel zu glücklich verlief ... und sich gestaltete ... -wie auf dem Theater.« - -»Ach,« rief Rasumichin und wollte fortfahren, aber in diesem Augenblicke -öffnete sich die Tür und es trat eine neue, von keinem der Anwesenden -gekannte Person herein. - - - V. - -Es war ein Herr, nicht mehr jung, geziert, würdevoll, mit einem -lauernden und verdrießlichen Gesichte; er begann damit, daß er an der -Tür stehen blieb und sich mit unverkennbar beleidigtem Erstaunen -umblickte, als ob er fragen würde: »wohin bin ich denn geraten?« -Mißtrauisch, mit dem Ausdruck eines affektierten Überraschtseins, fast -eines Schreckens, sah er sich in Raskolnikoffs enger und niedriger -»Schiffskajüte« um. Mit gleichem Erstaunen richtete er seine Blicke auf -Raskolnikoff selbst, der entkleidet, ungekämmt und ungewaschen auf -seinem unansehnlichen, schmutzigen Sofa lag und ihn ebenso unverwandt -betrachtete. Dann begann er mit gleicher Bedächtigkeit die abgerissene, -unrasierte und ungekämmte Gestalt Rasumichins zu betrachten, der -seinerseits ihm frech und fragend direkt in die Augen blickte, ohne sich -von seinem Platze zu rühren. Das gespannte Schweigen dauerte etwa eine -Minute und endlich trat, wie man es auch erwarten konnte, ein kleiner -Stimmungswechsel ein. Nachdem der eingetretene Herr wahrscheinlich aus -gewissen, übrigens sehr deutlichen Anzeichen entnommen hatte, daß mit -einer herrischen Miene hier in dieser »Schiffskajüte« nichts zu wollen -sei, wurde er etwas freundlicher und sagte höflich, obgleich nicht ohne -eine gewisse Strenge, indem er sich an Sossimoff wandte und jede Silbe -seiner Frage betonte: »Rodion Romanytsch Raskolnikoff, Herr Student oder -ehemaliger Student?« - -Sossimoff rührte sich ein wenig und hätte auch vielleicht geantwortet, -wenn Rasumichin, an den die Worte gar nicht gerichtet waren, ihm nicht -zuvorgekommen wäre. - -»Da liegt er auf dem Sofa! Und was wollen Sie?« Dieses familiäre »Und -was wollen Sie?« traf den gezierten Herrn wie ein Hieb, und fast hätte -er sich zu Rasumichin umgewandt, aber er hielt sich noch rechtzeitig -zurück und wandte sich schnell wieder an Sossimoff. - -»Da ist Raskolnikoff!« brummte Sossimoff und wies auf den Kranken hin, -dann gähnte er, wobei er ungewöhnlich weit seinen Mund aufsperrte und -ihn ungewöhnlich lange in dieser Lage behielt. Dann bewegte er die Hand -langsam zu der Westentasche, zog eine riesige, dicke, goldene Uhr -hervor, öffnete den Deckel, sah nach und steckte sie ebenso langsam und -träge wieder ein. - -Raskolnikoff selbst lag die ganze Zeit schweigend auf dem Rücken und -blickte unverwandt, scheinbar gedankenlos, den Eingetretenen an. Sein -Gesicht, das er jetzt von der interessanten Blume in der Tapete -abgewandt hatte, war außerordentlich bleich und drückte ein -ungewöhnliches Leiden aus, als hätte er soeben eine qualvolle Operation -durchgemacht, oder als hätte er eine Tortur hinter sich. Der -eingetretene Herr aber begann allmählich seine Aufmerksamkeit mehr und -mehr zu erregen, es tauchten in ihm Zweifel, Mißtrauen und sogar -anscheinend Furcht auf. Als aber Sossimoff auf ihn hinwies und »da ist -Raskolnikoff« sagte, erhob er sich schnell, wie auffahrend, setzte sich -auf sein Bett und sagte mit fast herausfordernder, aber schwankender und -schwacher Stimme: - -»Ja. Ich bin Raskolnikoff! Was wollen Sie?« - -Der Besucher blickte ihn aufmerksam an und sagte mit Betonung: - -»Peter Petrowitsch Luschin. Ich habe die sichere Hoffnung, daß mein Name -Ihnen nicht ganz unbekannt sei.« - -Raskolnikoff aber, der etwas ganz anderes erwartet hatte, blickte ihn -stumpf und nachdenklich an und antwortete nichts, als ob er Peter -Petrowitschs Namen entschieden zum erstenmal höre. - -»Wie? Haben Sie bis jetzt noch keine Nachrichten über mich erhalten?« -fragte Peter Petrowitsch mit einer Bewegung unangenehmer Überraschung. - -Anstatt zu antworten, ließ sich Raskolnikoff langsam auf das Kissen -nieder, steckte die Hände unter den Kopf und begann die Zimmerdecke zu -betrachten. Eine bedrückte Stimmung zeigte auf Luschins Gesicht starke -Betroffenheit. Sossimoff und Rasumichin fingen an, ihn mit noch größerer -Neugierde anzusehen, und er wurde sichtlich verlegen. - -»Ich nahm an und rechnete bestimmt darauf,« murmelte er, »daß der Brief, -der schon vor mehr als zehn Tagen, vielleicht sogar vor vierzehn Tagen -abgesandt ist ...« - -»Hören Sie mal, was sollen Sie denn die ganze Zeit an der Türe stehen?« -unterbrach ihn Rasumichin, »wenn Sie etwas mitzuteilen haben, setzen Sie -sich doch, für Sie und Nastasja ist es dort zu eng. Nastasja, mach mal -Platz, laß ihn durchgehen! Kommen Sie hierher, da haben Sie einen Stuhl! -Kriechen Sie hier durch!« - -Er rückte seinen Stuhl von dem Tische ab, machte zwischen dem Tisch und -seinen Knien einen Durchgang frei und wartete in dieser unbequemen -Stellung, bis der Gast durch diesen Spalt »hindurchkriechen« würde. Der -Moment war so gewählt, daß man nicht gut ablehnen konnte, und der -Besucher kroch durch den engen Durchgang, sich beeilend und stolpernd, -hindurch. Als er den Stuhl erreicht hatte, setzte er sich und blickte -Rasumichin argwöhnisch an. - -»Seien Sie übrigens nicht verlegen,« platzte dieser hervor. »Rodja ist -schon den fünften Tag krank und hat drei Tage phantasiert, jetzt aber -ist er zu sich gekommen und hat sogar mit Appetit gegessen. Dort sitzt -sein Arzt, er hat ihn soeben untersucht, und ich bin Rodjas Kamerad, -auch ein ehemaliger Student, und pflege ihn nun; also, achten Sie nicht -auf uns und genieren Sie sich nicht, fahren Sie nur fort und sagen Sie, -was Sie zu sagen haben.« - -»Ich danke Ihnen. Werde ich aber nicht durch meine Anwesenheit und mit -meinem Gespräch den Kranken aufregen?« wandte sich Peter Petrowitsch an -Sossimoff. - -»N--nein,« sagte Sossimoff langsam, »Sie können ihn vielleicht -zerstreuen.« - -Und er gähnte wieder. - -»Oh, er ist schon lange bei Besinnung, seit heute morgen!« fuhr -Rasumichin fort, dessen Familiarität den Stempel solch einer -unverfälschten Treuherzigkeit trug, daß Peter Petrowitsch allmählich -seine Fassung wiedergewann, zum Teil wohl auch darum, weil dieser -zerlumpte und freche Mensch sich als Student vorgestellt hatte. - -»Ihre Frau Mutter ...« begann Luschin. - -»Hm!« äußerte sich Rasumichin vernehmlich. - -Luschin blickte ihn fragend an. - -»Das hat nichts zu sagen, ich tat es nur so; fahren Sie fort ...« - -Luschin zuckte die Achseln. - -»... Ihre Frau Mutter begann noch während meiner Anwesenheit dort einen -Brief an Sie. Nachdem ich hier eingetroffen war, ließ ich absichtlich -einige Tage vergehen und kam nicht gleich zu Ihnen, um ganz gewiß zu -sein, daß Sie von allem unterrichtet sind, jetzt aber zu meinem -Erstaunen ...« - -»Ich weiß, ich weiß!« sagte plötzlich Raskolnikoff mit dem Ausdrucke des -ungeduldigsten Ärgers. »Sie sind es? Der Bräutigam? Nun, ich weiß ... -und genug!« - -Peter Petrowitsch fühlte sich entschieden beleidigt, aber er schwieg. Er -dachte eifrig nach, was dieses alles zu bedeuten habe. Es herrschte ein -minutenlanges Schweigen. - -Indessen begann Raskolnikoff, der sich bei seiner Antwort nur ein wenig -ihm zugekehrt hatte, ihn von neuem aufmerksam und mit einer gewissen -Neugier anzusehen, als hätte er vorhin nicht Zeit gefunden, ihn ganz zu -betrachten oder als wäre ihm etwas Neues an ihm aufgefallen; er erhob -sich zu dem Zwecke sogar absichtlich von dem Kissen. In dem ganzen -Aussehen von Peter Petrowitsch lag wirklich etwas Besonderes, und zwar -etwas, das die Bezeichnung »Bräutigam,« die ihm soeben so ungeniert -zugeteilt wurde, zu rechtfertigen schien. Man konnte sehen, und zwar -ziemlich deutlich, daß Peter Petrowitsch sich sehr beeilt hatte, die -paar Tage seines Aufenthaltes in der Residenz auszunutzen, um sich in -Erwartung der Braut neu auszustaffieren und zu verschönern, was gewiß -sehr unschuldig und statthaft war. Sogar die eigentümliche, vielleicht -ein wenig zu ausgeprägte Selbstzufriedenheit über seine angenehme -Veränderung konnte in diesem Falle verzeihlich erscheinen, denn Peter -Petrowitsch war ja in dem Stande eines Bräutigams. Seine ganze Kleidung -war soeben vom Schneider gekommen und alles war gut, nur daß eben alles -zu neu war und zu sehr den bestimmten Zweck verriet. Auch der elegante, -nagelneue, runde Hut deutete auf diesen Zweck hin, -- Peter Petrowitsch -behandelte ihn zu ehrerbietig und hielt ihn mit zu großer Vorsicht in -Händen. Auch das reizende Paar Handschuhe von heller lila Farbe bezeugte -das, wenn auch nur damit, daß man sie nicht anzog, sondern in der Hand -hielt. Helle und jugendliche Farben herrschten in Peter Petrowitschs -Kleidung vor. Er hatte ein sehr hübsches Sommerjackett von hellbrauner -Farbe an, helle leichte Beinkleider, ebensolch eine Weste, neugekaufte -feine Wäsche, eine leichte Krawatte aus Batist mit rosa Streifen, und -das allerbeste war dabei, daß alles Peter Petrowitsch sehr gut kleidete. -Sein Gesicht, sehr frisch und sogar hübsch, schien auch ohnedem jünger -als fünfundvierzig Jahre. Ein dunkler Backenbart umrahmte es zu beiden -Seiten und verdichtete sich ziemlich hübsch um das glänzende, vorzüglich -rasierte Kinn. Auch die Haare, übrigens nur stellenweise und kaum -bemerkbar grau, waren von einem Friseur gekämmt und gekräuselt, -erhielten aber dadurch nichts Lächerliches oder gaben ein dummes -Aussehen, was gewöhnlich bei gekräuselten Haaren der Fall ist, weil es -dem Gesichte eine unvermeidliche Ähnlichkeit mit einem Deutschen, der -zum Altar schreitet, verleiht. Wenn in diesem ziemlich hübschen und -soliden Gesichte etwas tatsächlich Unangenehmes und Abstoßendes war, so -hatte dies einen anderen Grund. Nachdem Raskolnikoff Herrn Luschin -ungeniert betrachtet hatte, lächelte er sarkastisch, ließ sich wieder -auf das Kissen nieder und begann, wie früher, die Zimmerdecke anzusehen. - -Herr Luschin aber nahm sich zusammen und schien entschlossen zu sein, -diese Sonderbarkeiten vorläufig nicht zu beachten. - -»Ich bedauere sehr, sehr, Sie in solch einer Lage zu finden,« begann er -von neuem, mit Mühe das Schweigen brechend. »Wenn ich von Ihrem -Unwohlsein gewußt hätte, wäre ich früher gekommen. Aber, wissen Sie, die -Plackereien ... Ich habe außerdem eine sehr wichtige Angelegenheit im -Senat, in meiner Eigenschaft als Advokat. Ich erwähne nicht die Sorgen, -die auch Sie erraten können. Die Ihrigen, das heißt Ihre Frau Mutter und -Schwester, erwarte ich stündlich ...« - -Raskolnikoff machte eine Bewegung und wollte etwas sagen; sein Gesicht -drückte eine gewisse Erregung aus. Peter Petrowitsch hielt in Erwartung -inne, aber da nichts erfolgte, fuhr er fort: »... Stündlich. Ich habe -ihnen fürs erste eine Wohnung gesucht ...« - -»Wo?« fragte leise Raskolnikoff. - -»Gar nicht weit von hier, im Hause von Bakalejeff.« - -»Das ist auf dem Wosnesensky-Prospekt,« unterbrach ihn Rasumichin, »dort -sind zwei Stockwerke, als möblierte Zimmer eingerichtet; der Kaufmann -Juschin ist Inhaber; ich bin dort gewesen.« - -»Ja, es sind möblierte Zimmer ...« - -»Es ist fürchterlich dort; Schmutz, Gestank und ein verdächtiger Ort -auch; mancherlei ist da vorgefallen. Ja, und weiß der Teufel, was da -nicht alles wohnt! ... Ich selbst bin dort aus einem skandalösen Grunde -gewesen. Übrigens ist es billig.« - -»Ich konnte selbstverständlich nicht soviel erfahren, da ich selbst vor -kurzem angekommen bin,« antwortete Peter Petrowitsch empfindlich, »es -sind übrigens zwei sehr, sehr saubere kleine Zimmer, und da es auf eine -sehr kurze Zeit nur ist ... Ich habe schon eine wirkliche, das heißt -unsere künftige Wohnung gefunden,« wandte er sich an Raskolnikoff, »und -jetzt wird sie instand gesetzt; unterdessen aber behelfe ich mich auch -selbst mit einem möblierten Zimmer, zwei Schritte von hier, bei Frau -Lippewechsel, in der Wohnung eines jungen Freundes von mir, Andrei -Ssemenytsch Lebesjätnikoff; er hat auch mir das Haus von Bakalejeff -empfohlen ...« - -»Lebesjätnikoff?« sagte langsam Raskolnikoff, als ob er sich auf etwas -besinne. - -»Ja, Andrei Ssemenytsch Lebesjätnikoff, er ist im Ministerium -angestellt. Kennen Sie ihn?« - -»Ja ... nein ...« antwortete Raskolnikoff. - -»Entschuldigen Sie, mir scheint es so nach Ihrer Frage. Ich war einmal -sein Vormund ... ein sehr lieber junger Mann ... und mit Interessen ... -Und ich bin froh, mit der Jugend zusammenzukommen; durch sie erfährt man -alles Neue ...« - -Peter Petrowitsch blickte erwartungsvoll alle Anwesenden an. - -»Wie meinen Sie das?« fragte Rasumichin. - -»Nun, im besten Sinne des Wortes,« sagte Peter Petrowitsch, als wäre er -über die Frage erfreut. »Ich war, sehen Sie, seit zehn Jahren nicht mehr -in Petersburg. Alle unsere Neuerungen, Reformen und Ideen, dies alles -hat auch uns in der Provinz erreicht, aber um klarer zu sehen und um -alles zu sehen, muß man in Petersburg sein. Nun, und meine Meinung ist, -daß man am meisten bemerkt und erfährt, indem man unsere jüngere -Generation beobachtet. Und offen gestanden, ich bin erfreut ...« - -»Worüber denn?« - -»Ihre Frage ist zu umfassend. Ich kann mich irren, aber es scheint mir, -ich finde einen klareren Blick, sozusagen mehr Kritik, mehr Tüchtigkeit -...« - -»Das ist wahr,« sagte gelassen Sossimoff. - -»Du lügst, Tüchtigkeit ist nicht da,« mischte sich Rasumichin ein. -»Tüchtigkeit erwirbt sich schwer und fällt nicht umsonst vom Himmel. Wir -sind aber fast seit zweihundert Jahren von jeder Arbeit entwöhnt ... Ich -gebe zu, Ideen hat man,« wandte er sich an Peter Petrowitsch, »auch -Wünsche für das Gute sind da, wenn auch kindische, auch Ehrlichkeit -findet man vor, ungeachtet dessen, daß hierher unzählige Gauner gekommen -sind, aber Tüchtigkeit gibt es doch nicht! Nur in Ausnahmefällen.« - -»Ich bin mit Ihnen nicht einverstanden,« erwiderte mit sichtbarem -Behagen Peter Petrowitsch, »sicher gibt es Übertreibung, -Unregelmäßigkeiten, aber man muß auch nachsichtig sein; Übertreibung -zeugt von Eifer für die Sache und von der unrichtigen äußeren Umgebung, -in der die Sache sich befindet. Wenn noch wenig getan ist, so war auch -die Zeit zu kurz. Von den Mitteln rede ich gar nicht. Meiner -persönlichen Auffassung nach ist sogar, wenn Sie wollen, etwas getan, -- -es sind neue nützliche Gedanken, einige neue nützliche Werke, an Stelle -der früheren schwärmerischen und romantischen, verbreitet; die Literatur -zeigt ein reiferes Gepräge; viele schädliche Vorurteile sind ausgerottet -und werden verspottet ... Mit einem Worte, wir haben uns unwiderruflich -von der Vergangenheit losgesagt, und das ist meiner Meinung nach schon -eine Tat ...« - -»Hat er das auswendig gelernt! Empfiehlt sich damit!« sagte plötzlich -Raskolnikoff. - -»Was?« fragte Peter Petrowitsch, da er nicht recht gehört hatte, aber er -erhielt keine Antwort. - -»Das ist alles wahr,« beeilte sich Sossimoff zu bemerken. - -»Ja, nicht wahr?« fuhr Peter Petrowitsch fort und blickte Sossimoff -freundlich an. »Geben Sie selbst zu,« wandte er sich an Rasumichin, -jetzt aber im Tone des Triumphes und der Überlegenheit, und beinahe -hätte er »junger Mann« hinzugefügt, »daß es einen Fortschritt oder, wie -man sich jetzt ausdrückt, einen Prozeß gibt, wenigstens in der -Wissenschaft und in den wirtschaftlichen Gesetzen ...« - -»Das ist ein Gemeinplatz!« - -»Nein, es ist kein Gemeinplatz! Wenn man mir zum Beispiel bis jetzt -sagte: >Liebe deinen Nächsten<, und ich tat es, -- was kam dabei -heraus?« fuhr Peter Petrowitsch fort, vielleicht mit zu großem Eifer. -»Es kam das heraus, daß ich meinen Rock in zwei Hälften zerriß, ihn mit -dem Nächsten teilte, und wir beide blieben halbnackt, wie nach dem -russischen Sprichworte: >Wer ein paar Hasen gleichzeitig nachjagt, fängt -keinen einzigen.< Die Wissenschaft aber sagt: >Liebe vor allem zuerst -dich selbst, denn alles in der Welt ist auf persönlichem Interesse -begründet.< Wenn man sich selbst liebt, wird man seine Angelegenheiten, -wie es sich gehört, in Ordnung bringen, und der Rock bleibt einem ganz -und heil. Die wirtschaftlichen Gesetze fügen noch hinzu, daß, je mehr es -in der Gesellschaft geordnete Privatangelegenheiten und sozusagen ganze -und heile Röcke gibt, daß sie um so mehr Grundlagen hat, und daß um so -mehr das Allgemeinwohl gefördert wird. Also, indem ich allein und -ausschließlich für mich selbst erwerbe, erwerbe ich dadurch auch für -alle und trage dazu bei, daß mein Nächster etwas mehr als einen -zerrissenen Rock erhält, und nicht mehr als Wohltat von einzelnen -Privatpersonen, sondern infolge des allgemeinen Fortschritts. Der -Gedanke ist einfach, aber zum Unglück tauchte er zu spät auf, verdeckt -durch Überschwänglichkeit und Schwärmerei, und es möchte scheinen, daß -man nicht viel Witz braucht, um darauf zu kommen ...« - -»Entschuldigen Sie, ich habe auch nicht viel Witz,« unterbrach ihn -Rasumichin schroff, »hören wir besser auf. Ich habe nur aus einem -bestimmten Zweck begonnen, sonst ist mir dies ganze Geschwätz, dieses -Sichselbst-Trösten, diese endlosen unaufhörlichen Gemeinplätze und dies -ewige Einerlei in drei Jahren so zuwider geworden, daß ich bei Gott -erröte, wenn auch andere, nicht ich bloß, in meiner Gegenwart davon -sprechen. Sie haben sich selbstverständlich beeilt, sich mit Ihren -Kenntnissen einzuführen, das ist sehr verzeihlich, und ich verurteile -Sie nicht. Ich aber wollte bloß erfahren, wer Sie sind; denn sehen Sie, -in der letzten Zeit haben sich so viel und allerhand Industrieritter an -der allgemeinen Sache angeklebt und haben alles, womit sie in Berührung -kamen, so zu ihrem Vorteil zugerichtet, daß sie entschieden die ganze -Sache beschmutzt haben. -- Nun genug davon!« - -»Mein Herr,« begann Luschin, sich mit der größten Würde aufrichtend, -»wollen Sie etwa damit ausdrücken, daß auch ich ...« - -»Oh, bitte, bitte ... Könnte ich es denn! ... Nun genug!« schnitt -Rasumichin ab und wandte sich unmittelbar an Sossimoff, um das frühere -Gespräch fortzusetzen. - -Peter Petrowitsch zeigte sich so klug, sofort der Erklärung zu glauben, -beschloß aber, nach ein paar Minuten wegzugehen. - -»Ich hoffe, daß unsere jetzt geschlossene Bekanntschaft,« wandte er sich -an Raskolnikoff, »nach Ihrer Genesung und infolge der Ihnen bekannten -Umstände sich noch mehr befestigen wird ... Besonders wünsche ich Ihnen -gute Besserung ...« - -Raskolnikoff wandte nicht mal den Kopf um. Peter Petrowitsch schickte -sich an, aufzustehen. - -»Der Mörder war sicher ein Pfandgeber!« Sossimoff stimmte zu. - -»Unbedingt ein Pfandgeber!« wiederholte Rasumichin. »Porphyri verrät -seine Gedanken nicht, aber er verhört doch die Pfandgeber ...« - -»Verhört die Pfandgeber?« fragte Raskolnikoff laut. - -»Ja, was ist denn?« - -»Nichts.« - -»Wo findet er sie denn?« fragte Sossimoff. - -»Einige hat Koch genannt; von anderen waren die Namen auf den Umschlägen -der Sachen notiert, und manche kamen von selbst, als sie hörten ...« - -»Na, das muß doch eine gewandte und erfahrene Kanaille sein! Welche -Kühnheit! Welche Entschlossenheit!« - -»Das ist es ja, daß dies nicht der Fall ist!« unterbrach Rasumichin. -»Das bringt auch alle von der Spur ab. Ich aber sage -- er war ungewandt -und unerfahren und sicher war es das erstemal. -- Nimm Berechnung und -eine gewandte Kanaille an, und es erscheint unglaublich. Nimm aber einen -Unerfahrenen an, und es zeigt sich, daß nur der Zufall ihn unterstützt -und gerettet hat, und was tut nicht der Zufall? Ich bitte dich, er hat -vielleicht nicht einmal Hindernisse vorausgesehen! Und wie führt er die -Tat aus? -- Er nimmt Sachen im Werte von zehn und zwanzig Rubel, stopft -sich damit die Taschen voll, wühlt in dem Kasten, in allerhand -Weiberlumpen, -- und in der Kommode, in der oberen Schublade findet man -nachher in einer Schatulle an barem Gelde gegen anderthalb tausend, -außer den Wertpapieren. Er hat nicht mal verstanden zu rauben, er hat -bloß verstanden zu morden! Ich sage dir, es ist sein erster Fall, sein -allererster; er hat seine Fassung verloren. Und nicht durch Berechnung, -sondern durch Zufall ist er entkommen.« - -»Mir scheint, Sie sprechen von der kürzlichen Ermordung der alten -Beamtenwitwe,« mischte sich Peter Petrowitsch ein, sich an Sossimoff -wendend. Er stand schon mit dem Hute und Handschuhen in der Hand, aber -vor dem Fortgehen wollte er noch einige geistreiche Worte fallen lassen. -Er mühte sich sichtlich, einen guten Eindruck zu hinterlassen und die -Eitelkeit überwand die Vernunft. - -»Ja. Haben Sie davon gehört?« - -»Selbstverständlich, es ist ja in der Nachbarschaft ...« - -»Kennen Sie die Einzelheiten?« - -»Das kann ich nicht behaupten. Mich aber interessiert dabei ein anderer -Umstand, sozusagen die ganze Frage. Ich spreche nicht davon, daß in den -letzten fünf Jahren die Verbrechen in der unteren Klasse sich vermehrt -haben; ich spreche nicht von den ununterbrochenen Raubanfällen und -Feuersbrünsten, die überall nun vorkommen; am auffallendsten aber -erscheint mir, daß die Verbrechen auch in den höheren Klassen sich -ebenso vermehren und sozusagen in paralleler Weise. Dort, hört man, hat -ein ehemaliger Student auf offener Straße die Post beraubt; dort wieder -fabrizieren Menschen, die nach ihrer gesellschaftlichen Stellung zu den -ersten gehören, falsches Papiergeld; in Moskau ertappt man eine ganze -Gesellschaft beim Fälschen von Scheinen der letzten Prämienanleihe, -- -und einer der Hauptbeteiligten ist ein Professor der Weltgeschichte; -dort, im Auslande ermordet man einen von unsern Botschaftssekretären aus -rätselhaften Gründen ... Und wenn jetzt diese alte Pfandleiherin von -jemand aus der besseren Gesellschaft getötet ist, -- denn einfache Leute -versetzen keine Goldsachen, -- wie kann man denn diese Verdorbenheit des -gebildeten Teiles unserer Gesellschaft erklären?« - -»Es gibt viele ökonomische Verschiebungen,« bemerkte Sossimoff. - -»Wie erklären?« unterbrach ihn Rasumichin. - -»Gerade durch die uns anhaftende Untüchtigkeit kann man es erklären.« - -»Wieso denn?« - -»Was antwortete Ihr Professor in Moskau auf die Frage, warum er die -Scheine gefälscht habe? Alle werden durch allerhand Mittel reich, da -wollte ich auch schnell reich werden -- das war seine Antwort. Des -Wortlautes entsinne ich mich nicht genau; aber der Sinn war, daß er auf -fremde Kosten schnell, ohne zu arbeiten, reich werden wollte. Wir sind -gewohnt, Hilfe zu erhalten, am Gängelbande zu gehen, Vorgekautes zu -essen ... Nun, und schlägt die große Stunde, da zeigt sich jeder in -seiner wahren Gestalt ...« - -»Aber es gibt doch Moral. Und sozusagen Begriffe ...« - -»Ja, was ereifern Sie sich denn?« mischte sich Raskolnikoff plötzlich -ins Gespräch. »Es ist doch nach Ihrer Theorie!« - -»Wieso nach meiner Theorie?« - -»Ziehen Sie doch die Konsequenzen dessen, was Sie vorhin predigten, und -es ergibt sich, daß man Menschen umbringen darf ...« - -»Aber ich bitte!« rief Luschin aus. - -»Nein, so ist das nicht!« bemerkt Sossimoff. - -Raskolnikoff lag bleich mit zuckender Lippe da und atmete schwer. - -»Alles hat seine Grenzen,« fuhr Luschin hochmütig fort, »eine -ökonomische Idee ist noch keine Aufforderung zum Mord, und wenn man nur -annimmt ...« - -»Ist es wahr, daß Sie,« unterbrach ihn von neuem Raskolnikoff mit vor -Wut zitternder Stimme, aus der man die Freude zu beleidigen heraus -merkte, »ist es wahr, daß Sie Ihrer Braut ... in derselben Stunde, als -Sie ihr Jawort erhielten, gesagt haben, daß Sie sich am meisten darüber -freuten ... daß sie eine Bettlerin sei ... weil es vorteilhafter sei, -eine bettelarme Frau zu nehmen, um über sie später herrschen ... und ihr -vorhalten zu können, daß Sie ihr Wohltäter seien? ...« - -»Mein Herr!« rief Luschin betroffen und gereizt aus und wurde rot und -verwirrt. »Mein Herr ... so meine Worte zu entstellen ... Entschuldigen -Sie, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die zu Ihnen gedrungen -sind, oder besser gesagt, die Ihnen zugetragen sind, auch nicht den -Schatten eines vernünftigen Grundes haben, und ich ... vermute, wer ... -mit einem Worte ... dieser ... Pfeil ... mit einem Worte, Ihre Frau -Mutter ... Sie erschien mir auch ohnedem, bei allen ihren übrigens -ausgezeichneten Eigenschaften, in ihrer Auffassung ein wenig -schwärmerisch und romantisch angehaucht ... Aber ich war doch tausend -Meilen entfernt von der Voraussetzung, daß sie die Sache in solch einer -von der Phantasie verunstalteten Weise auffassen und auslegen würde ... -Und schließlich ... schließlich ...« - -»Wissen Sie was?« rief Raskolnikoff aus, erhob sich auf dem Kissen und -sah ihn mit durchdringendem, scharfem Blicke an. »Wissen Sie was?« - -»Was denn?« Luschin hielt inne und wartete mit gekränkter und -herausfordernder Miene. - -Das Schweigen dauerte einige Sekunden. - -»Daß, wenn Sie noch einmal ... wagen, nur ein Wort ... von meiner Mutter -zu erwähnen, ich Sie die Treppe hinunterwerfe!« - -»Was ist dir?« rief Rasumichin aus. - -»Ah, so ist die Sache!« Luschin erbleichte und biß sich auf die Lippen. -»Hören Sie, Herr,« begann er stockend und mit aller Kraft an sich -haltend, aber dennoch atemlos, »ich habe schon vorhin beim ersten -Schritt Ihre Feindseligkeit erraten, aber ich blieb absichtlich hier, um -noch mehr zu erfahren. Vieles konnte ich einem Kranken und Verwandten -zugute halten, jetzt aber ... Ihnen ... niemals ...« - -»Ich bin nicht krank!« rief Raskolnikoff aus. - -»Um so schlimmer ...« - -»Scheren Sie sich zum Teufel!« - -Luschin ging schon von selbst, ohne seine Rede zu vollenden, indem er -wieder zwischen dem Tisch und Stuhl hindurchkroch; Rasumichin stand -diesmal auf, um ihn durchzulassen. Ohne jemand anzusehen und ohne sogar -Sossimoff mit einem Kopfnicken zu grüßen, der ihm längst schon Zeichen -gegeben hatte, den Kranken in Ruhe zu lassen, ging Luschin hinaus, und -als er durch die Tür gebückt hindurchging, hielt er vorsichtshalber -seinen Hut in Schulterhöhe. Sogar die Krümmung seines Rückens schien -ausdrücken zu wollen, daß er sich furchtbar beleidigt fühle. - -»Aber wie kann man denn, wie kann man denn so ...« sagte der verblüffte -Rasumichin und schüttelte den Kopf. - -»Laßt mich, laßt mich alle in Ruhe!« rief Raskolnikoff rasend. »Ja, -wollt ihr endlich mich in Ruhe lassen, ihr Quälgeister! Ich fürchte euch -nicht! Ich fürchte jetzt niemand, niemand! Geht fort! Ich will allein -sein, allein, allein sein!« - -»Gehen wir!« sagte Sossimoff und winkte Rasumichin. - -»Erlaube, kann man ihn denn so lassen?« - -»Gehen wir,« bestand Sossimoff und ging hinaus. - -Rasumichin sann nach und lief dann hinaus, ihn einzuholen. - -»Es könnte schlimmer werden, wenn wir nicht gehorcht hätten,« sagte -Sossimoff, schon auf der Treppe. »Man darf ihn nicht reizen ...« - -»Was ist mit ihm?« - -»Wenn ihm bloß etwas Glückliches widerfahren wollte, das wäre gut. -Vorhin war er bei Kräften ... Weißt du, er hat etwas auf dem Herzen. -Etwas Starkes, Bedrückendes ... Das fürchte ich sehr!« - -»Ja, vielleicht ist es dieser Herr Peter Petrowitsch! Aus dem Gespräche -konnte man entnehmen, daß er seine Schwester heiraten will, und daß -Rodja darüber kurz vor der Krankheit einen Brief erhalten hat ...« - -»Ja; der Teufel hat ihn jetzt hergeführt; vielleicht hat er die ganze -Sache verdorben. Hast du aber gemerkt, daß er gegen alles gleichgültig -ist, über alles schweigt, außer den einen Punkt, wo er aus sich -herausgeht -- den Mord ...« - -»Ja, ja!« bestätigte Rasumichin. »Ich habe es sehr gut gemerkt. Er -interessiert sich dafür, gerät in Aufregung. Man hat ihn am Tage, als er -krank wurde, in dem Polizeibureau damit erschreckt; er fiel in -Ohnmacht.« - -»Erzähle mir darüber genauer heute abend, ich will dir auch später etwas -sagen. Er interessiert mich sehr! Nach einer halben Stunde will ich ihn -aufsuchen ... Ein Fieber wird übrigens nicht folgen.« - -»Ich danke dir. Ich will unterdessen bei der lieben Praskovja warten und -will durch Nastasja ihn beobachten lassen ...« - -Raskolnikoff blickte voll Ungeduld und traurig Nastasja an; sie aber -zögerte wegzugehen. - -»Willst du jetzt Tee trinken?« fragte sie ihn. - -»Nachher! Ich will schlafen! Laß mich ...« Er wandte sich krampfhaft der -Wand zu. Nastasja ging hinaus. - - - VI. - -Kaum aber war sie hinausgegangen, als er aufstand, die Tür zuhakte, das -Bündel mit Kleidern, das Rasumichin vorhin gebracht und wieder -zugebunden hatte, aufmachte und sich anzukleiden begann. Merkwürdig, -plötzlich schien er völlig ruhig geworden zu sein, weder das -halbwahnsinnige Phantasieren, wie vorhin, noch die panische Angst, wie -in der ganzen letzten Zeit, waren vorhanden. Es war der erste Augenblick -einer seltsamen Ruhe. Seine Bewegungen waren bestimmt und klar, eine -feste Absicht lag in ihnen. »Heute noch, heute noch! ...« murmelte er -vor sich hin. Er begriff jedoch, daß er noch schwach sei, aber eine -starke, seelische Spannung, die sich bis zur Ruhe, bis zu einer -unerschütterlichen Idee gesteigert hatte, verlieh ihm Kraft und -Selbstbewußtsein; er hoffte auch, daß er auf der Straße nicht hinstürzen -würde. Nachdem er sich neu angezogen hatte, erblickte er das Geld, das -auf dem Tische lag, dachte nach und steckte es in die Tasche. Es waren -fünfundzwanzig Rubel. Er nahm auch das Kupfergeld, den Rest von den zehn -Rubeln, die Rasumichin für die Kleidung ausgegeben hatte. Dann hob er -leise den Haken ab, ging aus dem Zimmer, stieg die Treppe hinab und warf -einen Blick in die weit geöffnete Küche! Nastasja stand mit dem Rücken -gegen ihn und blies gebückt in den Samowar. Sie hatte nichts gehört. Wer -konnte auch voraussetzen, daß er fortgehen würde? Nach einer Minute war -er schon auf der Straße. - -Es war gegen acht Uhr, die Sonne ging unter. Es herrschte die frühere -Schwüle, aber er atmete gierig diese stinkende, staubige, durch die -Stadt verpestete Luft ein. Der Kopf begann ihm ein wenig zu schwindeln; -eine wilde Energie blitzte in seinen entzündeten Augen und in seinem -abgemagerten, bleichen, gelben Gesichte auf. Er wußte nicht und dachte -auch nicht nach, wohin er wollte; er wußte bloß eins, »daß man _alles_ -heute noch, mit einem Schlage, sofort beenden müsse, daß er anders nicht -nach Hause zurückkehren würde, weil er nicht so weiterleben wolle. Wie -enden? Wodurch? Davon hatte er keinen Begriff und wollte auch daran -nicht denken. Er verscheuchte den Gedanken, der ihn quälte. Bloß eins -fühlte und wußte er, daß alles sich ändern müsse, so oder so; einerlei -wie,« wiederholte er mit einer verzweifelten, starren Entschlossenheit -und Festigkeit. - -Nach seiner Gewohnheit ging er wieder dem Heumarkt zu. Kurz vor dem -Heumarkte stand auf der Straße vor einem kleinen Laden ein junger -schwarzhaariger Mann mit einem Leierkasten und spielte ein rührseliges -Stück. Er begleitete ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vor ihm auf dem -Fußsteig stand und wie eine Dame mit Krinoline, Mantille, Handschuhen -und einem Strohhut mit einer Feder von flammendem Rot bekleidet war; -alles war alt und abgetragen. Sie sang in Erwartung einer -Zweikopekenmünze eine Romanze mit zitternder, aber nicht unangenehmer -und kräftiger Straßenstimme. Raskolnikoff blieb neben ein paar anderen -Zuhörern stehen, hörte zu, nahm ein Fünfkopekenstück und legte es in die -Hand des jungen Mädchens. Sie brach bei der höchsten und rührseligsten -Note ab, rief dem Leiermann scharf »Schluß!« zu, und beide wanderten -weiter zu dem nächsten Laden. - -»Haben Sie Straßengesang gern?« wandte sich plötzlich Raskolnikoff an -einen nicht mehr jungen Mann, der neben ihm stand und das Aussehen eines -Bummlers hatte. Dieser blickte ihn erschrocken und verwundert an. - -»Ich habe es gern,« fuhr Raskolnikoff fort, und mit einem Ausdrucke, als -rede er gar nicht über Straßengesang. »Ich liebe es, wenn nach einer -Leierkastenmelodie gesungen wird an einem kalten, dunklen und feuchten -Herbstabend, unbedingt an einem feuchten, wenn alle Vorübergehenden -blaßgrüne und kranke Gesichter haben, oder noch besser, wenn ein nasser -Schnee kerzengerade, ohne Wind, niederfällt, wissen Sie, und die -Gasflammen hindurchschimmern ...« - -»Ich weiß nicht ... Entschuldigen Sie ...« murmelte der Herr, betroffen -über die Worte und das sonderbare Aussehen Raskolnikoffs, und ging auf -die andere Seite der Straße hinüber. - -Raskolnikoff schritt weiter und kam zu der Ecke auf dem Heumarkte, wo -der Kleinbürger und seine Frau, die sich damals mit Lisaweta -unterhielten, ihren Handel trieben, aber sie waren jetzt nicht da. Als -er die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, sah sich um und wandte -sich an einen jungen Burschen im roten Hemde, der am Eingange eines -Mehlladens gähnte. - -»Hier an der Ecke handelt doch ein Kleinbürger und seine Frau, nicht -wahr?« - -»Es handeln hier viele Leute,« antwortete der Bursche und blickte -Raskolnikoff von oben herab an. - -»Wie heißt er?« - -»Wie man ihn getauft hat, so heißt er auch.« - -»Bist du nicht aus dem Rjasanschen Gouvernement? Aus welcher Gegend bist -du denn?« - -Der Bursche sah Raskolnikoff wieder an. - -»Wie soll ich es denn wissen, Eure Durchlaucht, bin zu dumm, um es zu -wissen ... Entschuldigen Sie gütigst, Durchlaucht.« - -»Ist dort oben eine Schenke?« - -»Das ist ein Restaurant, hat auch ein Billard und schöne Damen findet -man dort auch ... Tra-la-la.« - -Raskolnikoff ging quer über den Platz. Dort auf der anderen Ecke stand -eine dichte Volksmenge, lauter Bauern. Er zwängte sich durch den -dicksten Knäuel und sah die Gesichter an. Aus irgendeinem Grunde zog es -ihn an alle anzureden. Aber die Bauern schenkten ihm keine Beachtung und -lamentierten alle unter sich. Er blieb stehen, dachte nach und ging nach -rechts, auf den Fußsteg, in der Richtung zu dem W.-schen Prospekt. Als -er den Platz verlassen hatte, geriet er in die N.-Gasse. - -Er war auch früher oft durch diese sehr kurze Gasse gegangen, die eine -Biegung macht und von dem Platze auf die Ssadowaja führte. In der -letzten Zeit zog es ihn sogar an, wenn es ihm schwer zumute war, in -dieser Gegend herumzuirren, damit »es ihm noch schwerer werden sollte«. -Jetzt aber war er hierhergekommen, ohne etwas zu wollen. Hier gab es ein -großes Haus, das ganz mit Schenken und anderen Speise- und -Trinkanstalten angefüllt war; alle Augenblicke kamen von dort -Frauenzimmer herausgelaufen, gekleidet, wie man »in der Nachbarschaft« -herumzugehen pflegt -- ohne Kopfbekleidung und Überrock. Sie sammeln -sich auf dem Fußsteig an, ein paar stehen in Gruppen, besonders bei den -Eingängen in das Erdgeschoß, wo man zwei Stufen tiefer in allerhand sehr -lustige Lokale gelangen konnte. In einem von diesen Etablissements -herrschte in diesem Augenblicke starker Lärm und Geschrei, so daß man es -in der ganzen Straße hören konnte, auf einer Guitarre wurde geklimpert, -es wurde gesungen, es ging sehr bunt zu. Eine große Gruppe von Frauen -drängte sich am Eingange; einige saßen auf den Stufen, andere auf dem -Fußsteig, andere wieder standen und unterhielten sich. Auf dem Fahrdamme -daneben schlenderte ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette, -schimpfte laut und wie es schien, wollte er irgendwo hineingehen, aber -wahrscheinlich hatte er vergessen, wohin er wollte. Ein zerlumpter Kerl -schimpfte einen anderen und ein total Betrunkener lag quer über der -Straße. Raskolnikoff blieb bei der großen Gruppe von Weibern stehen. Sie -sprachen mit heiseren Stimmen, alle hatten sie Kattunkleider an und -billige Stiefel und waren barhaupt. Einige waren über vierzig Jahre alt, -es waren aber auch siebzehnjährige dabei, fast alle hatten sie zerbläute -Gesichter. -- Aus irgendeinem Grunde interessierte ihn der Gesang und -dieser ganze Lärm und Tumult dort unten ... Man konnte hören, wie unter -Lachen und Kreischen jemand mit einer hohen Fistelstimme burschikos zu -einer Guitarre sang und wie ein anderer toll dazu tanzte und mit den -Absätzen den Takt schlug. Er hörte aufmerksam, düster und nachdenklich -zu, indem er, am Eingange stehend und sich vorbeugend, neugierig in das -Vorzimmer hineinblickte. - - Oh, mein schöner Schutzmann - Schlägt mich so ohne Grund! ... - -ertönte die dünne Stimme des Sängers. Raskolnikoff hatte schreckliche -Lust zu hören, was man sang, als wäre das jetzt die Hauptsache. - -»Soll ich nicht hineingehen?« dachte er. »Sie lachen laut! Aus -Betrunkenheit. Warum soll ich mich nicht auch betrinken?« - -»Kommen Sie doch herein, lieber Herr!« sagte eine der Frauen mit -ziemlich heller und nicht ganz heiserer Stimme. Sie war jung und gar -nicht abstoßend -- die einzige von der ganzen Gruppe. - -»Sieh mal, wie hübsch du bist!« antwortete er, den Kopf erhebend und -blickte sie an. - -Sie lächelte; das Kompliment hatte ihr sehr gefallen. - -»Sie sind auch selbst sehr hübsch,« sagte sie. - -»Wie mager Sie sind!« bemerkte eine andere mit einer Baßstimme. »Kommen -wohl eben aus dem Krankenhause?« - -»Ihr seid alle aus feiner Familie, aber die Nasen sind zu platt!« -unterbrach sie plötzlich ein herantretender Bauer, ein wenig -angeheitert, mit einem listig lächelnden Gesichte. -- »Das ist aber ein -Vergnügen!« - -»Geh hinein, wenn du schon da bist!« - -»Ich will auch hineingehen. Du Süße!« - -Und er stolperte hinunter. - -Raskolnikoff ging weiter. - -»Hören Sie, mein Herr!« rief ihm das Mädchen nach. - -»Was?« - -Sie tat schämig. - -»Ich würde mich freuen, mein Herr, mit Ihnen die Zeit zu vertreiben, ich -bin aber ganz außer Fassung vor Ihnen. Schenken Sie mir, hoher Herr, -sechs Kopeken zu einem Trunk.« - -Raskolnikoff nahm heraus, was er erfaßt hatte -- es waren fünfzehn -Kopeken. - -»Ach, was für ein guter Herr!« - -»Wie heißt du?« - -»Fragen Sie nach Duklida.« - -»Nein, das geht nicht an,« sagte plötzlich eine aus der Gruppe und -schüttelte den Kopf über Duklida. »Ich verstehe nicht, wie man so -betteln kann. Ich würde vor lauter Scham in die Erde sinken ...« - -Raskolnikoff blickte neugierig die Sprechende an. Es war ein -pockennarbiges Mädchen, etwa dreißig Jahre alt, voll blauer Flecken mit -geschwollener Lippe. Sie sprach und tadelte ruhig und ernst. - -»Wo habe ich,« dachte Raskolnikoff, während er weiterging, »wo habe ich -es gelesen, wie ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor seinem Ende -spricht oder denkt, daß wenn er irgendwo auf einer Höhe, auf einem -Felsen und auf einem schmalen Streifen, wo er bloß seine zwei Füße -hinsetzen könnte, leben sollte, -- umgeben von Abgründen, von Ozean, von -ewiger Finsternis, ewiger Einsamkeit und ewigem Sturm, -- und so, auf -diesem ellenbreiten Streifen stehend, sein ganzes Leben, tausend Jahre, -eine Ewigkeit verbringen müßte, -- daß es besser sei so zu leben, als -sofort zu sterben! Nur leben, leben, leben! Wie, ganz gleich! -- bloß -leben! ... Wie wahr! Herrgott, wie wahr! Der Mensch ist ein Schuft! ... -Und ein Schuft ist der, welcher ihn darum einen Schuft nennt,« fügte er -nach einer Weile hinzu. - -Er kam auf eine andere Straße hinaus. - -»Ah! Das ist ja der Kristallpalast! Rasumichin sprach vorhin vom -Kristallpalast! Ja, was wollte ich aber? Ah, ich wollte lesen! ... -Sossimoff erzählte, daß er in den Zeitungen gelesen hätte ...« - -»Haben Sie Zeitungen?« fragte er, indem er in ein ziemlich geräumiges -und sogar reinliches Restaurant mit mehreren jetzt ziemlich leeren -Räumen eintrat. Zwei, drei Gäste tranken Tee und in einem der -Hinterzimmer saßen etwa vier Menschen und tranken Champagner. -Raskolnikoff glaubte unter ihnen Sametoff zu erkennen. Von weitem konnte -man es nicht unterscheiden. - -»Und wenn auch!« dachte er. - -»Befehlen Sie Branntwein?« fragte der Kellner. - -»Bringe mir Tee. Und bringe mir Zeitungen, alte Zeitungen, so von den -letzten fünf Tagen, ich gebe dir ein Trinkgeld dafür.« - -»Jawohl. Hier sind die heutigen. Befehlen Sie auch Branntwein?« - -Alte Zeitungen und der Tee erschienen. Raskolnikoff setzte sich hin und -begann zu suchen: -- »Isler ... Isler ... Azteken ... Azteken ... Isler -... Bartola ... Massimo ... Azteken ... Isler ... pfui, zum Teufel! ah, -da ist die Lokalchronik ... von der Treppe herabgestürzt ... ein -Kleinbürger gestorben an Alkoholvergiftung ... Feuersbrunst ... -Feuersbrunst ... noch eine Feuersbrunst ... und noch eine Feuersbrunst -... Isler ... Massimo ... Isler ... Isler ... Massimo ... Ah, da ist es -...« - -Er hatte endlich gefunden, was er suchte und begann zu lesen; die Zeilen -hüpften vor seinen Augen, trotzdem las er die ganze »Nachricht« zu Ende -und begann voll Gier in den weiteren Nummern die Fortsetzung zu suchen. -Seine Hände zitterten vor starker Ungeduld, indem er in den Zeitungen -blätterte. Plötzlich setzte sich jemand neben ihn, an seinen Tisch. Er -schaute hin -- es war Sametoff, derselbe Sametoff und mit demselben -Äußern, mit Ringen, Uhrketten, mit einem Scheitel in seinen schwarzen -gekräuselten und pomadisierten Haaren, in einer eleganten Weste, in -einem etwas abgetragenen Rocke und nicht ganz reiner Wäsche. Er war -lustig gestimmt, wenigstens lachte er sehr vergnügt und gutmütig. Sein -gebräuntes Gesicht war vom genossenen Champagner ein wenig erhitzt. - -»Wie! Sie hier?« begann er mit Staunen und in einem Tone, als wäre er -ein ewigalter Bekannter. »Mir erzählte gestern noch Rasumichin, daß Sie -immer noch bewußtlos daliegen. Das ist merkwürdig! Wissen Sie, ich war -bei Ihnen ...« - -Raskolnikoff hatte sich's gedacht, daß er zu ihm herankommen würde. Er -legte die Zeitungen beiseite und wandte sich zu Sametoff. Auf seinen -Lippen spielte ein hämisches Lächeln, aber in diesem Lächeln lag eine -gereizte Ungeduld. - -»Ich weiß es, daß Sie da waren,« antwortete er, »ich habe es gehört. Sie -haben meinen Strumpf gesucht ... Wissen Sie, Rasumichin ist ganz -entzückt von Ihnen, er erzählte, daß Sie mit ihm bei Louisa Iwanowna -waren, wissen Sie, wegen der Sie damals so angelegentlich dem Leutnant -Pulver zuzwinkerten und er immer nicht begriff, erinnern Sie sich noch? -Und es war doch nicht viel zu verstehen -- es war ja eine klare Sache -... nicht?« - -»Was für ein Schwätzer er ist!« - -»Pulver?« - -»Nein, Ihr Freund Rasumichin ...« - -»Sie haben es gut, Herr Sametoff; zu den angenehmsten Orten zollfreien -Eintritt! Wer hat Ihnen soeben Champagner spendiert?« - -»Wir haben ... ein wenig getrunken ... Und Sie sagen -- spendiert?!« - -»Ein wenig Honorar! Sie ziehen eben aus allem Nutzen!« Raskolnikoff -lachte. »Hat nichts zu sagen, mein guter junger Mann, tut nichts!« fügte -er hinzu und schlug Sametoff auf die Schulter. »Ich sage es nicht aus -Bosheit, sondern >aus Freundschaft, im Scherze,< so wie der Arbeiter -sagte, als er Dmitri schlug, wissen Sie, in der Sache der Alten ...« - -»Woher wissen Sie es?« - -»Ich weiß vielleicht mehr als Sie ...« - -»Wie komisch Sie sind ... Wahrscheinlich sind Sie noch sehr krank. Es -war unvorsichtig von Ihnen auszugehen.« - -»Erscheine ich Ihnen komisch?« - -»Ja. Was lesen Sie da, Zeitungen?« - -»Ich lese Zeitungen.« - -»Es wird viel von Feuersbrünsten geschrieben.« - -»Nein, ich lese nicht über Feuersbrünste.« Hier blickte er Sametoff -rätselhaft an; ein höhnisches Lächeln verzog wieder seine Lippen. »Nein, -ich las nicht über Feuersbrünste,« fuhr er fort und zwinkerte Sametoff -zu. »Gestehen Sie nur, lieber junger Mann, daß Sie furchtbar gern wissen -möchten, was ich gelesen habe?« - -»Ich will es gar nicht wissen; ich habe bloß so gefragt. Darf man denn -nicht fragen? Was haben Sie nur immer ...« - -»Hören Sie, Sie sind doch ein gebildeter, belesener Mensch?« - -»Ich habe die Sekunda eines Gymnasiums,« antwortete Sametoff mit Würde. - -»Die Sekunda! Ach, Sie kleiner Spatz! Mit einem Scheitel, mit Ringen -- -ein reicher Mann! Nein, welch ein lieber Junge!« Hier verfiel -Raskolnikoff in ein nervöses Lachen und lachte Sametoff direkt ins -Gesicht. Der fuhr zurück und war, wie es schien, nicht gekränkt, eher -sehr verwundert. - -»Nein, wie komisch Sie sind!« wiederholte Sametoff ernsthaft. »Mir -scheint, Sie phantasieren immer noch.« - -»Ich phantasiere? Das lügst du, mein Spätzchen! ... Also, ich bin -komisch? Nun errege ich aber Ihre Neugier? Nicht wahr?« - -»Ja, Sie erregen meine Neugier.« - -»Soll ich Ihnen also sagen, was ich gelesen, was ich gesucht habe? Sehen -Sie, wieviel Nummern ich mir bringen ließ. Erscheint das nicht -verdächtig?« - -»Sagen Sie mir ...« - -»Sind Ihre Ohren gespitzt?« - -»Warum sollen sie gespitzt sein?« - -»Ich will es Ihnen nachher sagen, jetzt aber erkläre ich Ihnen, mein -Lieber ... nein, besser, >ich gestehe< ... Nein, das ist auch nicht das -richtige, >ich gebe es Ihnen zu Protokoll und Sie schreiben es,< so -lautet's doch. Also, ich gebe zu Protokoll, daß ich gelesen, mich -interessiert, gesucht habe ... nachgeforscht ...« - -Raskolnikoff kniff die Augen zusammen und wartete eine Weile. -»Nachgeforscht habe, -- und bin auch darum hierher gekommen, -- betreffs -der Ermordung der Alten, der Beamtenwitwe,« sagte er endlich, fast im -Flüstertone, wobei er mit seinem Gesichte außerordentlich nahe dem -Sametoffs kam. - -Sametoff sah ihn unverwandt an, ohne sich zu bewegen und ohne sein -Gesicht zurückzuziehen. Am merkwürdigsten erschien es Sametoff nachher, -daß das Schweigen wohl eine volle Minute gedauert hatte und daß sie -solange einander anblickten. - -»Nun, was ist dabei, daß Sie darüber gelesen haben?« rief er plötzlich -ungehalten und ungeduldig aus. »Was geht das mich an? Was ist denn -dabei?« - -»Das ist dieselbe Alte,« fuhr Raskolnikoff fort, in demselben -Flüstertone und ohne sich bei dem Ausrufe Sametoffs zu rühren, »es ist -dieselbe, von der man, erinnern Sie sich, im Polizeibureau zu sprechen -begann, wobei ich in Ohnmacht fiel. Merken Sie was?« - -»Ja, was denn? Was ... soll ich merken?« sagte Sametoff unruhig. - -Das unbewegliche und ernste Gesicht Raskolnikoffs veränderte sich -plötzlich und wieder verfiel er in das nervöse Lachen von vorhin, als -hätte er keine Macht darüber. Und auf einen Augenblick schwebte ihm -außerordentlich klar und intensiv jener Moment vor Augen, als er mit dem -Beil hinter der Türe stand, wie der Haken hüpfte, und wie die hinter der -Tür schimpften und an der Türe rissen, und wie er plötzlich Lust bekam, -ihnen zuzurufen, sie zu schimpfen, ihnen die Zunge zu zeigen, sie zu -verhöhnen, zu lachen, laut zu lachen, lachen und lachen! - -»Sie sind entweder verrückt oder ...« sagte Sametoff -- und hielt inne, -als hätte er über einem plötzlichen Gedanken die Sprache verloren. - -»Oder? Was -- >oder<? Was ist's? Sprechen Sie?« - -»Nichts!« antwortete Sametoff gereizt. »Es ist ja alles Unsinn!« - -Beide verstummten. Auf den Lachanfall wurde Raskolnikoff gleich wieder -nachdenklich und düster. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und -legte den Kopf in die Hand. Es schien, als hätte er die Gegenwart -Sametoffs völlig vergessen. Das Schweigen dauerte ziemlich lange. - -»Warum trinken Sie Ihren Tee nicht? Er wird kalt,« sagte Sametoff. - -»Ah? Was? Tee? ... Meinetwegen ...« Raskolnikoff nahm einen Schluck aus -dem Glase, steckte ein kleines Stück Brot in den Mund, blickte Sametoff -an und schien sich auf einmal an alles zu erinnern. Sein Gesicht nahm im -selben Augenblick den früheren höhnischen Ausdruck an. Er fuhr fort, Tee -zu trinken. - -»Heutzutage passieren viele Gaunereien,« sagte Sametoff. »Ich las vor -kurzem in den >Moskowskije Wedomosti<, daß man in Moskau eine Bande -Falschmünzer festgenommen habe. Es war eine ganze Gesellschaft ... Sie -fälschten Papiergeld.« - -»Oh, das ist schon lange her. Ich habe es vor einem Monat gelesen,« -antwortete Raskolnikoff ruhig. - -»Also, das sind Ihrer Meinung nach Gauner!« fügte er lächelnd hinzu. - -»Warum nicht Gauner?« - -»Die? Das sind Grünspechte, aber keine Gauner! Ganze fünfzig Menschen -vereinigen sich zu diesem Zwecke! Geht denn das an? Bei so einer Sache -sind schon drei zu viel, da muß jeder dem andern mehr als sich selbst -vertrauen. Es braucht bloß einer in Betrunkenheit mit anderen zu -plappern, und alles ist verloren! Grünspechte waren es! Sie mieteten -sich unzuverlässige Menschen, um das Geld in allerhand Banken umwechseln -zu können, -- so eine Sache dem ersten besten anvertrauen! Nun gut, -nehmen wir an, daß es ihnen geglückt wäre, jeder hat eine Million -eingewechselt, nun, was weiter, das ganze Leben hindurch? Jeder ist von -dem anderen sein Lebelang abhängig! Da ist es besser, sich gleich zu -erhängen! Und sie verstanden nicht mal einzuwechseln, -- der eine geht -in eine Bank zum wechseln, empfängt fünftausend und die Hände beginnen -zu zittern. Viertausend zählt er nach, das fünfte Tausend aber nimmt er -ohne nachzuzählen, auf gut Glauben, um es schneller in die Tasche -stecken zu können und fortzulaufen. Er erregte Verdacht, und die ganze -Sache ging in die Brüche bloß wegen eines einzigen Dummkopfes! Ja, ist -das denkbar?« - -»Daß die Hände zitterten?« unterbrach Sametoff. - -»Das ist denkbar. Ich bin vollkommen überzeugt, daß es möglich ist. -Manchmal kann man so etwas nicht standhalten.« - -»So etwas?« - -»Könnten Sie standhalten? Ich hielte es nicht aus! Für eine Bezahlung -von hundert Rubel diese Angst auf sich nehmen! Nein! Mit einem -gefälschten Papier hingehen -- und wohin noch -- in ein Bankhaus, wo sie -so gewitzt sind, -- nein, ich hätte die Fassung verloren. Und Sie hätten -nicht die Fassung verloren?« - -Raskolnikoff hatte plötzlich wieder große Lust, »die Zunge zu zeigen«. -Ein Schüttelfrost packte ihn wieder. - -»Ich würde nicht so gehandelt haben,« begann er, weit ausholend. »Ich -hätte so gewechselt, -- ich hätte das erste Tausend so gegen viermal von -allen Seiten nachgezählt, jeden Schein betrachtet, und hätte mich dann -an das zweite Tausend gemacht; ich hätte angefangen zu zählen, wäre bis -zur Hälfte gekommen, hätte dann irgendeinen Schein von fünfzig Rubel -hervorgeholt, und ihn gegen das Licht gehalten, dann ihn umgedreht und -wieder gegen das Licht gehalten, -- ob er nicht gefälscht ist? Ich bin -ängstlich -- hätte ich gesagt, -- eine Verwandte von mir hat auf diese -Weise vor kurzem fünfundzwanzig Rubel eingebüßt, -- und hätte nun eine -Geschichte zum Besten gegeben. Und wenn ich das dritte Tausend zu zählen -angefangen hätte, -- würde ich sagen, -- erlauben Sie, ich habe, scheint -mir, in dem zweiten Tausend das siebente Hundert nicht richtig -nachgezählt, ich bin im Zweifel. -- Ich hätte das dritte Tausend zur -Seite gelegt und wieder das zweite Tausend nachgezählt, -- und in dieser -Weise hätte ich es mit allen fünf gemacht. Und wenn ich damit fertig -gewesen wäre, hätte ich aus dem zweiten und aus dem fünften Tausend je -einen Schein herausgenommen, gegen das Licht gehalten und voll Zweifel -gebeten, ihn umzutauschen, -- und ich hätte den Angestellten zum -Schwitzen gebracht, so daß er alles getan hätte, um mich endlich los zu -werden. Und nach dem allen wäre ich schließlich zur Türe gegangen, hätte -sie geöffnet -- und wäre wieder zurückgegangen, um unter Entschuldigung -irgend etwas zu fragen oder mich über etwas zu erkundigen, -- sehen Sie, -so hätte ich es gemacht!« - -»Oh, was für Schauergeschichten Sie erzählen!« sagte Sametoff lachend. -»Das redet man so, bei der Ausführung aber würden Sie schon stolpern. -Bei so einer Sache, sage ich Ihnen, kann nicht mal ein geübter, -geriebener Mensch für sich einstehen, geschweige denn wir beide. Wozu so -weit ausholen, -- da haben Sie ein Beispiel, in unserem Revier hat man -eine alte Frau ermordet. Allem Anschein nach ein verwegener Bursche, am -hellen lichten Tage hat er's gewagt, nur durch ein Wunder rettete er -sich, -- die Hände aber haben doch versagt; er hat nicht verstanden zu -stehlen, hat nicht standgehalten; man sieht es aus dem Tatbestande ...« - -Raskolnikoff schien sich gekränkt zu fühlen. - -»Man sieht es! So nehmen Sie ihn doch fest!« rief er höhnisch aus, um -Sametoff zu reizen. - -»Man wird ihn schon kriegen.« - -»Wer? Sie? Sie wollen ihn kriegen? Das wird lange dauern! Sehen Sie, was -ist denn bei Ihnen die Hauptsache, -- ob ein Mensch viel Geld ausgibt -oder nicht? Hatte er vor kurzem keins, gibt jetzt plötzlich Geld aus, -- -so muß er das sein! In dieser Weise kann Sie jedes kleine Kind -irreführen, wenn es will.« - -»Das ist es ja, daß sie alle so handeln,« antwortete Sametoff. »Erst -morden sie mit Bedacht, riskieren ihr Leben und gehen dann fort ohne -Beute in eine Schenke und werden dort festgenommen. Beim Geldausgeben -werden sie festgenommen. Nicht alle sind so schlau wie Sie. Sie würden -selbstverständlich in keine Schenke gehen!« - -Raskolnikoff zog die Augenbrauen zusammen und blickte Sametoff scharf -an. - -»Sie haben, wie es scheint, Appetit bekommen und möchten wissen, wie ich -auch in diesem Falle gehandelt hätte?« fragte er bitter. - -»Ich möchte es sehr gern wissen,« antwortete jener fest und bestimmt. -Seine Stimme und sein Blick waren jetzt fast zu ernst geworden. - -»Sehr?« - -»Sehr.« - -»Gut. Ich hätte folgendermaßen gehandelt,« begann Raskolnikoff, indem er -plötzlich sein Gesicht wieder dem Sametoffs näherte, ihn unverwandt -anblickte und wieder im Flüstertone sprach, so daß jener diesmal -zusammenzuckte. »Ich hätte folgendermaßen gehandelt, -- ich hätte das -Geld und die Sachen an mich genommen und kaum entkommen, wäre ich sofort -ohne Aufenthalt zu einem abgelegenen Platz gegangen, wo es nur Zäune -gibt und wo es fast menschenleer ist, -- zu einem Gemüsegarten oder -etwas ähnlichem. Ich hätte mir dort auf diesem Hofe schon früher -irgendeinen Stein, ungefähr im Gewichte von zwanzig Kilo oder mehr -ausgesucht, irgendwo in einer Ecke am Zaune einen Stein also, der, -seitdem das Haus gebaut ist, dort liegt; ich hätte diesen Stein -aufgehoben -- unter ihm muß es eine Vertiefung geben, -- und in diese -Vertiefung hätte ich alle Sachen und das Geld hineingelegt. Dann hätte -ich den Stein auf seinen alten Platz gerückt, die Erde ringsum mit dem -Fuße ausgeglättet und wäre fortgegangen. Ja, und ich würde ein Jahr, -zwei oder auch drei Jahre nichts angerührt haben, -- nun, sucht mal! Es -war da und nun ist es weg.« - -»Sie sind verrückt!« sagte Sametoff auch fast im Flüstertone und rückte -plötzlich von Raskolnikoff weg. - -Raskolnikoffs Augen funkelten; er war furchtbar bleich, seine Oberlippe -zuckte und zitterte. Er beugte sich zu Sametoff noch näher hin und -bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen; das währte eine halbe Minute; -er wußte, was er tat, aber er konnte sich nicht mehr halten. Ein -fürchterliches Wort, wie damals der Haken an der Türe, hüpfte auf seinen -Lippen -- jeden Augenblick konnte es sich lösen, er brauchte es nur -entschlüpfen zu lassen, nur auszusprechen! - -»Wie, wenn ich die Alte und Lisaweta ermordet hätte?« sagte er plötzlich -und -- kam zu sich. Sametoff blickte ihn wild an und wurde so weiß wie -das Tischtuch. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. - -»Wie wäre das möglich?« sagte er kaum hörbar. - -Raskolnikoff blickte ihn zornig an. - -»Gestehen Sie, daß Sie es glaubten? -- Ja? Nicht wahr?« - -»Nein, nicht! Jetzt weniger als je!« sagte Sametoff hastig. - -»Nun haben Sie sich verraten! Das Spätzlein ist erwischt! Also haben Sie -es früher geglaubt, wenn Sie es >jetzt weniger als je< glauben?« - -»Aber gar nicht!« rief Sametoff sichtlich betroffen. »Sie haben mich -deshalb erschreckt, um mich dahin zu bringen?« - -»Also Sie glaubten es nicht? Worüber aber sprachen Sie damals, als ich -aus dem Bureau fortging? Und warum verhörte mich der Leutnant Pulver -nach meiner Ohnmacht? Hör mal, du!« rief er dem Kellner zu, stand auf -und nahm seine Mütze. »Was habe ich zu zahlen?« - -»Dreißig Kopeken im ganzen!« antwortete der Kellner. - -»Da hast du noch zwanzig Kopeken als Trinkgeld. Sehen Sie, wieviel Geld -ich habe,« er streckte Sametoff seine zitternde Hand mit Papiergeld hin, --- »rote und blaue Scheine, fünfundzwanzig Rubel sind es. Woher habe ich -es? Und woher stammt die neue Kleidung? Sie wissen doch, daß keine -Kopeke da war! Sie haben doch sicher meine Wirtin ausgefragt ... Nun, -genug! _Assez causé!_{[2]} Auf Wiedersehen ... auf angenehmes -Wiedersehen! ...« - -Er ging hinaus, am ganzen Körper von einer wilden, hysterischen -Erregtheit zitternd, in die sich das Gefühl eines qualvollen Genusses -mischte, -- sonst aber düster und todmüde. Sein Gesicht war verzerrt, -wie nach einem Anfalle. Und seine Ermattung nahm rasch überhand. Seine -Kräfte ließen sich spannen und zeigten sich beim ersten Anlaß, beim -ersten Empfinden des Reizes und erschlafften ebenso schnell, in dem -Maße, wie der Reiz nachließ. - -Nachdem Sametoff allein geblieben war, saß er noch lange sinnend auf -demselben Platz. Raskolnikoff hatte seine Gedanken in diesem Punkte zum -Umschlagen gebracht, und eine neue Auffassung hatte sich in ihm -endgültig befestigt. - -»Ilja Petrowitsch ist ein Dummkopf!« sagte er endlich. - -Kaum hatte Raskolnikoff die Türe zur Straße geöffnet, als er plötzlich -auf der Außentreppe mit dem eintretenden Rasumichin zusammenstieß. Sie -hatten beide einander nicht gesehen, so daß sie fast mit den Köpfen -zusammenstießen. Eine Weile maßen sie sich mit den Blicken. Rasumichin -war höchst erstaunt, aber plötzlich flammte der Zorn, ein wirklicher -Zorn, drohend in seinen Augen auf. - -»Also hier bist du!« schrie er aus vollem Halse. »Du bist dem Bette -entsprungen! Und ich habe dich sogar unter dem Sofa gesucht! Wir sind -auf dem Boden gewesen. Ich habe Nastasja deinetwegen beinahe verprügelt -... Und nun bist du hier! Rodjka! Was soll das bedeuten? Sag die -Wahrheit! Gestehe! Hörst du?« - -»Es bedeutet, daß ich euch alle ernstlich satt habe, und daß ich allein -sein will,« antwortete Raskolnikoff ruhig. - -»Allein sein? Wo du nicht mal gehen kannst, wo deine Fratze noch bleich -wie Leinwand ist, und wo du den Atem verlierst! Dummkopf! ... Was hast -du im Kristallpalast gesucht? Gestehe es sofort!« - -»Laß mich!« sagte Raskolnikoff, und wollte an ihm vorbeigehen. - -Das brachte Rasumichin ganz außer sich, er packte ihn fest an der -Schulter. - -»Laß mich? Du wagst zu sagen >Laß mich<? Weißt du auch, was ich mit dir -gleich tun werde? Ich packe dich zu einem Bündel zusammen und bringe -dich unterm Arm nach Hause und sperre dich ein!« - -»Höre, Rasumichin,« begann Raskolnikoff leise und scheinbar völlig -ruhig. »Siehst du denn nicht, daß ich deine Wohltaten nicht wünsche? Und -was ist es für ein Vergnügen, denen Wohltaten zu erweisen, die ... -darauf pfeifen? Denen, schließlich, die sie in allem Ernste am wenigsten -vertragen? Nun, sage mir, warum hast du mich beim Beginn meiner -Krankheit aufgesucht? Ich wäre vielleicht glücklich gewesen zu sterben! -Nun, habe ich dir heute nicht genügend gezeigt, daß du mich quälst, daß -ich deiner ... überdrüssig geworden bin? Was für ein Vergnügen hast du -daran, Menschen zu quälen! Ich versichere dir, daß dies alles meine -Genesung ernstlich hindert, weil es mich ununterbrochen reizt. Sossimoff -ging doch vorhin fort, um mich nicht zu reizen. Laß du mich um -Gotteswillen auch in Ruhe! Und was für ein Recht hast du schließlich, -mich mit Gewalt zurückzuhalten? Ja, siehst du denn nicht, daß ich jetzt -bei vollem Verstande bin? Wie, wie -- sage mir -- soll ich dich -schließlich bitten, daß du mich in Ruhe läßt und mir keine Wohltaten -mehr erweisest? Mag ich undankbar sein, mag ich gemein sein, aber um -Gotteswillen laßt mich, laßt mich alle in Ruhe. Laßt mich in Ruhe!« - -Er hatte ruhig begonnen und freute sich im voraus über das ganze Gift, -das er sich auszuschütten anschickte, er schloß aber in Raserei und fast -erstickend, wie vorhin bei Luschin. - -Rasumichin stand eine Weile da, dachte nach und ließ seine Hand los. - -»Scher dich zum Teufel!« sagte er leise und fast nachdenklich. - -»Halt!« brüllte er plötzlich, als Raskolnikoff fortgehen wollte. »Höre -mich an. Ich erkläre dir, daß ihr alle ohne Ausnahme Großmäuler und -aufgeblasene Kerls seid! Wenn ihr ein kleines Leid habt, lauft ihr wie -ein Huhn mit einem Ei herum! Auch in diesem Falle stehlt ihr von -anderen. Keine Spur von Selbständigkeit steckt in euch! Ihr seid aus -Spermacetsalbe gemacht und anstatt Blut habt ihr Quark in den Adern! -Keinem von euch glaube ich! Das erste, die Hauptsache bei euch in allen -Dingen ist -- nur nicht einem Menschen ähnlich sein! War--te!« rief er -mit verstärkter Wut, als er merkte, daß Raskolnikoff sich anschickte -wegzugehen. »Höre mich zu Ende! Du weißt, heute kommen Leute zu mir, um -die neue Wohnung einzuweihen, vielleicht sind sie schon da, ich habe den -Onkel dortgelassen, -- ich war soeben zu Hause, -- die Gäste zu -empfangen. Also, wenn du kein Dummkopf, kein flacher Dummkopf, kein Esel -wärest, keine Übersetzung aus fremden Sprachen ... siehst du, Rodja, ich -gestehe, du bist ein kluger Bursche, aber ein Dummkopf, -- also, wenn du -kein Dummkopf wärest, würdest du heute besser den Abend bei mir -verbringen, als unnütz die Stiefel abzulaufen. Du bist nun einmal -ausgegangen, da ist weiter nichts mehr daran zu machen! Ich würde dir -einen weichen Sessel hereinbringen, meine Wirtsleute haben einen ... Tee -würde es geben, Gesellschaft ... Und wenn du den Sessel nicht wünschst, --- lege ich dich auf die Chaiselongue hin, -- aber du würdest dann doch -unter uns liegen ... Auch Sossimoff kommt. Kommst du?« - -»Nein!« - -»Du lügst!« rief Rasumichin ungeduldig aus. »Warum weißt du es? Du -kannst für dich nicht bestimmen! Und übrigens du verstehst davon nichts. -Ich habe mich tausendmal ebenso mit Menschen verkracht und bin wieder -zurückgegangen ... man schämt sich -- und kehrt zu dem Menschen zurück. -Also, erinnere dich, Haus Potschinkoff, dritter Stock ...« - -»Auf diese Weise werden Sie, Herr Rasumichin, möglicherweise sich -schlagen lassen, nur dem, der Sie schlägt, zu Gefallen?« - -»Was? Schlagen! Schon für den Gedanken drehte ich dem die Nase ab. Haus -Potschinkoff, Nr. 47, in der Wohnung des Beamten Babuschkin ...« - -»Ich komme nicht, Rasumichin!« Raskolnikoff wandte sich um und ging -fort. - -»Ich wette, daß du kommst!« rief ihm Rasumichin nach. »Sonst bist du ... -sonst bist du ... sonst will ich nichts mehr von dir wissen! Warte! Ist -Sametoff hier?« - -»Ja, er ist hier.« - -»Hast du ihn gesehen?« - -»Ich habe ihn gesehen.« - -»Hast du mit ihm gesprochen?« - -»Ich habe mit ihm gesprochen.« - -»Worüber? Nun, hol dich der Teufel, meinetwegen brauchst du es nicht zu -sagen. Haus Potschinkoff, 47, Babuschkins Wohnung, vergiß nicht!« - -Raskolnikoff ging bis zur Ssadowaja und bog um die Ecke. Rasumichin -blickte ihm sinnend nach. Endlich machte er eine abwehrende Bewegung mit -der Hand und ging in das Haus hinein, aber auf der Mitte der Treppe -blieb er stehen. - -»Teufel noch einmal!« fuhr er fast laut fort. »Er spricht vernünftig, -und doch scheint's ... Ich bin auch ein Dummkopf. Sprechen denn -Verrückte nicht vernünftig? Und Sossimoff hatte, ich glaube, davor -Angst!« Er tippte mit dem Finger an seine Stirn. »Wenn aber ... wie kann -man ihn jetzt allein gehen lassen? Er kann sich ertränken ... Ach, daran -habe ich nicht gedacht! Man darf ihn nicht allein lassen!« und er lief -zurück, um Raskolnikoff einzuholen, aber der war verschwunden. Er spie -aus und eilte in den Kristallpalast zurück, um etwas von Sametoff zu -erfahren. - -Raskolnikoff ging direkt auf die N.sche Brücke, blieb in der Mitte -stehen, stützte beide Ellbogen auf das Geländer und begann in die Ferne -zu schauen. Nachdem er von Rasumichin Abschied genommen hatte, war er so -schwach geworden, daß er nur mit Mühe hierher gekommen war. Er wollte -sich irgendwo hinsetzen oder hinlegen, und sei's auf die Straße. Über -das Wasser gebeugt, blickte er mechanisch auf den letzten, rosigen -Widerschein des Sonnenuntergangs, auf die Reihe Häuser, die in der -hereinbrechenden Dämmerung dunkel hervortraten, auf das weit entfernte, -kleine Fenster in irgendeiner Mansarde auf dem linken Quai, das wie im -Flammenschein von dem letzten Sonnenstrahl getroffen, leuchtete; er -blickte auf das dunkle Wasser des Kanals und schien dieses Wasser -aufmerksam zu betrachten. Auf einmal zeigten sich vor seinen Augen rote -Kreise, die Häuser drehten sich, die Vorübergehenden, die Ufer, -Equipagen, -- alles drehte sich und tanzte. Er fuhr auf, vielleicht vor -einem neuen Ohnmachtsanfall durch ein schauerliches, wildes und -widerwärtiges Ereignis bewahrt. Er fühlte, wie jemand an seine rechte -Seite trat; sah hin und bemerkte ein Weib, hochgewachsen, mit einem -Tuche um den Kopf, mit einem gelben, länglichen, abgemagerten Gesichte -und mit geröteten, eingefallenen Augen. Sie schaute auf ihn, aber -offenbar sah sie ihn nicht und unterschied niemanden. Plötzlich stützte -sie sich mit der rechten Hand auf das Geländer, hob das linke Bein und -stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser spritzte hoch auf, -verschlang auf einen Moment sein Opfer, aber nach einer Minute tauchte -noch einmal die Selbstmörderin auf, und die Strömung nahm sie mit fort. -Ihr Kopf und ihre Füße waren im Wasser, mit dem Rücken lag sie nach -oben, ihr Rock war übergeschlagen und wie ein Kissen vom Wasser -aufgeblasen. - -»Sie hat sich ertränkt! Sie hat sich ertränkt!« riefen ein Dutzend -Stimmen; Menschen liefen zusammen, die beiden Ufer bedeckten sich mit -Zuschauern, auf der Brücke, rings um Raskolnikoff, drängte sich das -Volk, stieß ihn und preßte ihn von hinten. - -»Leute, das ist ja unsere Afrosinja!« schrie unweit eine weinerliche -Frauenstimme. »Leute, rettet sie! Gute, liebe Leute, zieht sie heraus!« - -»Ein Boot! Ein Boot!« rief man in der Menge. Ein Boot war aber nicht -mehr nötig; ein Schutzmann war die Stufen zu dem Kanal hinuntergelaufen, -hatte seinen Mantel und seine Stiefel von sich geworfen und stürzte sich -ins Wasser. Es war keine große Arbeit, -- die Unglückliche schwamm nur -ein paar Schritte entfernt von der Treppe, er erfaßte mit der rechten -Hand ihr Kleid und mit der linken gelang es ihm, die Stange, die ihm ein -Kamerad entgegenhielt, zu ergreifen, und die Selbstmörderin wurde -alsbald herausgezogen. Man legte sie auf die Granitfliesen der Treppe. -Sie kam rasch zu sich, erhob sich, setzte sich hin, begann zu niesen und -zu prusten und wischte mit den Händen mechanisch ihr nasses Kleid ab. -Sie sprach nichts. - -»Sie hat sich bis zur Bewußtlosigkeit vollgesoffen, Leute,« heulte -dieselbe Frauenstimme, jetzt schon neben der Afrosinja. »Vor kurzem -wollte sie sich hängen, wir haben sie aus der Schlinge gezogen. Ich ging -eben in einen Laden, hatte ein kleines Mädchen dagelassen, um auf sie -aufzupassen, -- und da ist das Unglück geschehen! Sie ist eine -Kleinbürgerin, wohnt hier nebenan, im zweiten Hause von hier, dort ...« - -Das Volk ging auseinander, die Schutzleute gaben sich noch mit der -Lebensmüden ab, jemand rief etwas »vom Polizeibureau« ... Raskolnikoff -sah allem mit einem seltsamen Gefühle von Gleichgültigkeit und -Teilnahmslosigkeit zu. Ihm wurde übel. - -»Nein, es ist abscheulich ... das Wasser ... es lohnt sich nicht, hier -zu bleiben,« murmelte er vor sich hin. »Nichts wird hier geschehen,« -fügte er hinzu. »Es lohnt sich nicht, zu warten. Wie wär's mit dem -Polizeibureau ... Warum aber ist Sametoff nicht im Bureau? Das Bureau -ist doch in der zehnten Stunde offen ...« - -Er wandte dem Geländer den Rücken und blickte um sich. - -»Nun, was ist dabei! Auch so gut!« sagte er entschlossen, ging über die -Brücke und schlug die Richtung nach dem Polizeibureau ein. Sein Herz war -leer und öde. Denken wollte er nicht. Auch seine schwermütige Stimmung -war verschwunden, von der früheren Energie, als er seine Wohnung -verließ, um allem ein Ende zu machen, war keine Spur mehr vorhanden. -Eine völlige Apathie war an ihre Stelle getreten. - -»Es gibt doch einen Ausweg!« dachte er, indem er langsam und träge längs -des Kanalufers ging. »Ich werde ein Ende machen, weil ich will ... Ist -es aber ein Ausweg? Ach, einerlei! Einen drei Ellen langen Raum wird es -doch noch geben ... he! Aber was ist das für ein Ende! Und soll es -wirklich das Ende sein? Werde ich es ihnen sagen oder nicht? Ah ... zum -Teufel! Ich bin auch müde, könnte ich mich doch irgendwo bald hinlegen -oder hinsetzen! Am meisten schäme ich mich, daß es so dumm ist. Aber -auch darauf pfeife ich! Was für Dummheiten einem in den Sinn kommen ...« - -Um in das Polizeibureau zu gelangen, mußte man geradeaus gehen und bei -der zweiten Biegung links einschwenken, -- es war nur zwei Schritte -entfernt. Als er die erste Biegung erreicht hatte, blieb er stehen, -dachte nach, bog in eine Seitengasse ein und ging durch zwei Straßen auf -einem Umwege dorthin, -- vielleicht ohne jedes Ziel, vielleicht aber um -es noch eine Minute hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und sah -zur Erde. Plötzlich schien ihm jemand etwas ins Ohr geflüstert zu haben. -Er erhob den Kopf und sah, daß er an _dem_ Hause, direkt am Toreingange -stehe. Seit _jenem_ Abend war er hier nicht mehr gewesen und auch nicht -vorübergegangen. - -Ein unbezähmbares und unerklärliches Verlangen zog ihn. Er ging in das -Haus hinein, durchschritt das Tor, bog in den ersten Eingang rechts ein -und begann die bekannte Treppe in das vierte Stockwerk hinaufzusteigen. -Es war sehr dunkel auf der engen und steilen Treppe. Er blieb auf jedem -Absatz stehen und sah sich neugierig um. Auf dem Absatze des ersten -Stockes war ein Fensterrahmen herausgenommen. »Das war damals nicht -gewesen,« dachte er. Da ist auch die Wohnung im zweiten Stock, wo -Nikolai und Dmitri gearbeitet haben. »Sie ist verschlossen. Und die Türe -ist neu bemalt, also wird sie vermietet sein.« - -»Und da ist auch der dritte Stock ... und der vierte ... - -Hier war es!« - -Ein Zweifel packte ihn. Die Türe zu dieser Wohnung war sperrweit -geöffnet, es waren Menschen drin, man hörte Stimmen. Dies hatte er -keineswegs erwartet. -- Nachdem er eine Weile unschlüssig dagestanden -hatte, stieg er die letzten Stufen hinauf und trat in die Wohnung ein. - -Sie wurde auch neu hergerichtet; es waren Arbeiter da, dies schien ihn -zu verwundern. Er glaubte aus irgendeinem Grunde alles ebenso -anzutreffen, wie er es damals verlassen hatte, vielleicht sogar die -Leichen an denselben Stellen auf der Diele. Jetzt aber fand er kahle -Wände, keine Möbel, -- es war so eigentümlich! Er ging zum Fenster und -setzte sich auf das Fensterbrett. - -Es waren nur zwei Arbeiter da, beide junge Burschen, der eine schien -bedeutend jünger zu sein als der andere. Sie beklebten die Wände mit -neuen Tapeten, weiß mit lila Blümchen, an Stelle der früheren gelben, -die zerrissen und schmutzig waren. Raskolnikoff gefiel dies ganz und gar -nicht; er blickte diese neuen Tapeten feindselig an, als täte es ihm -leid, daß man alles so verändert habe. - -Die Arbeiter schienen sich verspätet zu haben. Sie rollten schnell das -Papier zusammen und schickten sich an, nach Hause zu gehen. -Raskolnikoffs Erscheinen hatten sie fast nicht beachtet. Sie -unterhielten sich und Raskolnikoff kreuzte die Arme und begann -zuzuhören. - -»Sie kam also am Morgen zu mir,« sagte der ältere, »ganz früh schon, -schön geputzt. Warum hast du dich denn so fein gemacht -- sagte ich -- -warum hast du dich denn so geputzt?« »Ich will -- sagt sie -- nun völlig -zu Ihren Diensten stehn.« »Siehst du, so war es. Und wie fein geputzt -sie war, -- wie aus einem Journal, wie aus einem Mode-Journal!« - -»Was ist ein Journal, Onkelchen?« fragte der jüngere. Er schien offenbar -bei dem »Onkelchen« in die Schule zu gehen. - -»Ein Journal ist, ja weißt du, solche bemalte Bilder, und sie kommen -jeden Sonnabend per Post aus dem Auslande hierher, zu den hiesigen -Schneidern, damit man weiß, wie sich jeder -- ein Mann oder eine Frau, --- kleiden soll. So eine Zeichnung also. Die Männer werden meistens in -langen Röcken gemalt und für die Frauen gibt es feine Sachen, daß man -Mund und Augen aufsperren muß.« - -»Was man nicht alles in diesem Petersburg hat!« rief der jüngere -begeistert aus. »Außer Vater und Mutter kann man doch alles haben.« - -»Ja, außer diesen gibt es hier alles,« sagte in belehrendem Tone der -Ältere. - -Raskolnikoff stand auf und ging in das andere Zimmer, wo früher die -Truhe, das Bett und die Kommode der Alten gestanden hatten; das Zimmer -erschien ihm ohne Möbel furchtbar klein. Die Tapeten waren dieselben; in -der Ecke konnte man deutlich an der Tapete sehen, wo der Heiligenschrank -mit den Heiligenbildern gestanden hatte. Er blickte sich um und kehrte -zu seinem früheren Platz am Fenster zurück. Der ältere Arbeiter blickte -ihn von der Seite an. - -»Was wünschen Sie?« fragte er, sich plötzlich an ihn wendend. - -Anstatt zu antworten, stand Raskolnikoff auf, ging in das Vorzimmer, -ergriff die Klingel und zog daran. Dieselbe Klingel, derselbe blecherne -Ton! Er zog zum zweiten und zum dritten Male; er lauschte und entsann -sich. Das frühere, qualvoll schreckliche, abscheuliche Gefühl begann -immer deutlicher und lebendiger in seiner Erinnerung aufzuwachen, er -zuckte bei jedem Tone zusammen, ihm wurde dabei immer wohler und wohler. - -»Was willst du denn? Wer bist du?« rief der Arbeiter, indem er zu ihm -hinausging. Raskolnikoff war wieder durch die Türe eingetreten. - -»Ich will die Wohnung mieten,« sagte er, »und sehe sie mir an.« - -»In der Nacht mietet man keine Wohnung, und außerdem müssen Sie mit dem -Hausknecht kommen.« - -»Ist die Diele gewaschen, wird man sie streichen?« fuhr Raskolnikoff -fort. »Blut ist nicht da?« - -»Was für Blut?« - -»Man hat doch die Alte und ihre Schwester ermordet. Hier war eine ganze -Pfütze.« - -»Ja, was bist du für ein Mensch?« rief der Arbeiter unruhig. - -»Ich?« - -»Ja.« - -»Möchtest du es wissen? ... Komm in das Polizeibureau, dort will ich es -dir sagen.« - -Die Arbeiter sahen ihn starr an. - -»Wir müssen fortgehen, haben uns verspätet. Komm, Aljoschka. Wir müssen -nun abschließen,« sagte der ältere Arbeiter. - -»So wollen wir gehen!« antwortete Raskolnikoff gleichgültig, ging zuerst -hinaus und stieg langsam die Treppe hinab. »He, Hausknecht!« rief er, -als er im Tore war. Einige Menschen standen am Eingange von der Straße -und sahen sich die Vorübergehenden an; es waren die beiden Hausknechte, -ein Weib, ein Kleinbürger im Schlafrocke und noch jemand. Raskolnikoff -ging auf sie zu. - -»Was wünschen Sie?« sagte der eine Hausknecht. - -»Bist du im Polizeibureau gewesen?« - -»Ich war soeben dort. Was wünschen Sie?« - -»Sind die Beamten dort?« - -»Ja, sie sind da.« - -»Ist auch der Gehilfe des Aufsehers da?« - -»Er war da. Was wünschen Sie?« - -Raskolnikoff antwortete nicht und blieb neben ihm, in Nachdenken -versunken, stehen. - -»Er kam sich die Wohnung anzusehen,« sagte der herantretende ältere -Arbeiter. - -»Welche Wohnung?« - -»Wo wir arbeiten. >Warum ist das Blut abgewaschen<, fragte er. >Hier ist -doch ein Mord geschehen und ich möchte nun die Wohnung mieten.< Und an -der Klingel hat er gerissen, beinahe hätte er sie abgerissen. Wir -wollen, sagt er, auf das Polizeibureau gehen, dort will ich alles -erklären. Wir konnten gar nicht von ihm loskommen.« - -Der Hausknecht betrachtete mißtrauisch und finster Raskolnikoff. - -»Wer sind Sie eigentlich?« rief er barsch. - -»Ich heiße Rodion Romanytsch Raskolnikoff, bin ehemaliger Student, und -wohne im Hause Schill, hier in der Seitengasse, nicht weit von hier, in -Wohnung Nr. 14. Frage den Hausknecht ... er kennt mich.« - -Raskolnikoff sagte dies träge und nachdenklich, ohne sich umzuwenden, -und blickte dabei stier auf die dunkel gewordene Straße. - -»Ja, warum sind Sie in die Wohnung gegangen?« - -»Um sie zu sehen.« - -»Was ist dort zu sehen?« - -»Nehmt ihn doch und bringt ihn auf das Polizeibureau!« warf der -Kleinbürger ein und verstummte wieder. - -Raskolnikoff blickte ihn über die Schulter aufmerksam an und sagte -ebenso leise und träge: - -»Wollen wir hingehen.« - -»Bringt ihn doch hin!« wiederholte der Kleinbürger, der wieder Mut -gefaßt hatte. »Warum hat er _danach_ gefragt, was hat er im Sinn?« - -»Betrunken scheint er nicht zu sein, weiß Gott, was er ist,« murmelte -der Arbeiter. - -»Ja, was wollen Sie denn?« rief von neuem der Hausknecht, der ernstlich -böse wurde. »Was suchst du hier?« - -»Dir ist Angst, mit aufs Polizeibureau zu gehen!« sagte Raskolnikoff -höhnisch. - -»Mir Angst? Was suchst du hier?« - -»Spitzbube!« rief das Weib. - -»Was _ist_ da viel zu reden,« rief der andere Hausknecht, ein sehr -großer Bauer, in einem offenen langen Mantel und mit Schlüsseln am -Gürtel. »Pack dich! ... Ist wahrhaftig ein Spitzbube ... Pack dich!« - -Und er nahm Raskolnikoff an der Schulter und stieß ihn auf die Straße. - -Dieser wäre beinahe gefallen, fing sich jedoch noch, reckte sich, sah -schweigend alle Zuschauer an und ging weiter. - -»Närrischer Mensch,« sagte der Arbeiter. - -»Närrische Leute gibt es heutzutage viele,« meinte das Weib. - -»Besser wäre es doch, ihn aufs Polizeibureau zu bringen,« fügte der -Kleinbürger hinzu. - -»Es lohnt sich nicht, mit so einem anzubinden,« sagte der große -Hausknecht. »Man sieht doch, daß er ein Spitzbube ist! Er will es ja -selbst, und wenn man ihm den Willen tut, wird man ihn nicht los ... Wir -kennen das.« - -»Also soll ich hingehen oder nicht?« dachte Raskolnikoff, indem er -mitten auf der Straße an einer Kreuzung stehen blieb und sich umsah, als -erwarte er von jemand das entscheidende Wort. Aber von keiner Seite kam -es; alles war still und tot, wie die Steine, über die er ging, für ihn -war alles tot, für ihn allein ... Da, zweihundert Schritt vor ihm, -unterschied er am Ende der Straße in der Dunkelheit eine Menschenmenge, -hörte Stimmen, Geschrei ... Mitten im Gewühl stand eine Equipage ... Ein -Licht schimmerte in der Straße. »Was ist da geschehen?« Raskolnikoff -wandte sich nach rechts und ging auf die Menge zu. Er schien sich an -alles anzuklammern, und lächelte kalt, als er es inne ward, denn er war -schon fest entschlossen, auf das Polizeibureau zu gehen und glaubte -sicher, daß alles sogleich ein Ende haben würde. - - - VII. - -Mitten in der Straße stand eine elegante herrschaftliche Equipage mit -zwei feurigen grauen Pferden. In der Equipage saß niemand, der Kutscher -war vom Bock gestiegen und stand daneben; die Pferde hielt man am Zügel. -Ringsherum drängten sich die Menschen, ganz vorne standen Polizisten. -Einer von ihnen hielt eine kleine brennende Laterne in der Hand, mit der -er, sich bückend, etwas auf der Straße dicht bei den Rädern der Equipage -beleuchtete. Alle redeten, schrien und stießen Ah!-Rufe aus; der -Kutscher schien bestürzt zu sein und rief mehrmals: - -»Welch ein Unglück! Herrgott, welch ein Unglück!« - -Raskolnikoff drängte sich nach Möglichkeit nach vorne und erblickte -endlich die Ursache dieses Zusammenlaufs und der Neugierde. Auf dem -Boden lag ein von den Pferden getretener Mann, ohne Besinnung, -anscheinend schlecht gekleidet, ganz mit Blut bedeckt. Das Blut floß ihm -vom Gesicht und Kopf; sein Gesicht war vollkommen zerschlagen, zerrissen -und verstümmelt. Man sah, daß er schwer verwundet war. - -»Liebe Leute!« klagte der Kutscher. »Habe ich Schuld daran? Ja, wenn ich -die Pferde gejagt oder ihm nicht zugerufen hätte, ich fuhr aber langsam, -gleichmäßig. Alle haben es gesehen und können es bezeugen ... Ich sah -ihn, wie er über die Straße ging, hin und her wankte, beinahe hinfiel, --- ich rief ihm einmal zu, noch einmal und zum drittenmal, hielt die -Pferde zurück, aber er fiel direkt unter ihre Hufe! Hat er es -absichtlich getan oder war er zu stark angetrunken ... Die Pferde sind -jung und ängstlich, -- sie zogen an und wurden wild, als er aufschrie -... und das Unglück war geschehen.« - -»Es ist so, wie er sagt!« rief ein Augenzeuge. - -»Er hat ihm zugerufen, das ist wahr, dreimal hat er gerufen,« sagte eine -andere Stimme. - -»Genau dreimal hat er gerufen, wir haben es alle gehört,« rief ein -dritter. - -Der Kutscher war übrigens nicht allzu sehr niedergeschlagen und -erschrocken. Man konnte sehen, daß die Equipage einem reichen und -angesehenen Herrn gehöre, der irgendwo abgeholt werden sollte; die -Polizisten gaben sich deshalb nicht Mühe, diesen letzten Umstand zu -berücksichtigen. Den Überfahrenen wollte man auf das Polizeibureau und -ins Krankenhaus schaffen. Niemand kannte ja seinen Namen. - -Unterdessen hatte sich Raskolnikoff nach vorn gedrängt und beugte sich -über ihn. Plötzlich beleuchtete die Laterne hell das Gesicht des -Unglücklichen, -- er erkannte ihn. - -»Ich kenne ihn, kenne ihn!« rief er aus und drängte sich ganz nach -vorne. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, Titularrat Marmeladoff! Er -wohnt hier, nebenan, im Hause Kosel ... Holt schnell einen Arzt! Ich -will bezahlen, hier ist Geld!« - -Er zog aus der Tasche sein Geld hervor und zeigte es einem Schutzmann. -Er war in merkwürdiger Aufregung. - -Die Polizeibeamten waren sehr zufrieden, daß sie erfahren hatten, wer -der Überfahrene sei. Raskolnikoff nannte auch seinen Namen, gab seine -Wohnung an und bat inständig, als gelte es seinem leiblichen Vater, den -besinnungslosen Marmeladoff schnell in dessen Wohnung zu schaffen. - -»Er wohnt hier, drei Häuser weit,« sagte er, »im Hause Kosel, eines -reichen Deutschen ... Er ging wahrscheinlich betrunken nach Hause. -- -Ich kenne ihn ... Er ist ein Trinker ... Er hat Familie, Frau und Kinder -und noch eine Tochter. Ihn ins Krankenhaus zu schleppen, dauert zu -lange, hier im Hause aber ist sicher ein Arzt. Ich bezahle, bezahle -alles! ... Er wird doch Pflege bei den Seinigen finden, man wird ihm -sofort helfen, auf dem Wege zum Krankenhause aber kann er sterben ...« -Er hatte sogar Zeit gefunden, etwas dem Schutzmanne unbemerkt in die -Hand zu drücken; übrigens war die Sachlage gesetzlich klar und -jedenfalls war Hilfe hier näher. Man hob den Verunglückten auf und trug -ihn; es fanden sich bereitwillige Hände. Das Haus Kosel war nur dreißig -Schritte entfernt. Raskolnikoff ging hinterher, stützte vorsichtig den -Kopf des Verletzten und wies den Weg. »Hierher, hierher! Die Treppe -hinauf muß man ihn mit dem Kopfe voran tragen; dreht euch um ... so -ist's gut! Ich will's bezahlen, ich will's euch danken!« murmelte er. - -Katerina Iwanowna spazierte, wie immer, wenn sie einen freien Augenblick -hatte, in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, vom Fenster bis zum Ofen und -zurück, wobei sie die Hände über der kranken Brust gekreuzt hatte und -mit sich selbst redete. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, öfter -und mehr mit dem älteren Mädchen, der zehnjährigen Poljenka, zu -sprechen, die vieles noch nicht begriff, dafür aber sehr gut verstanden -hatte, daß die Mutter sie brauchte, und die darum ihr stets mit ihren -großen, klugen Augen folgte und sich mit aller Kraft den Anschein gab, -als verstehe sie alles. Jetzt zog Poljenka gerade ihren kleinen Bruder -aus, der sich den ganzen Tag nicht wohl gefühlt hatte, um ihn schlafen -zu legen. Der Knabe wartete darauf, daß man ihm das Hemdchen wechselte, -das in der Nacht noch gewaschen werden mußte, und saß auf einem Stuhl -schweigend, mit ernstem Gesichte, kerzengerade und unbeweglich, mit nach -vorn gestreckten Füßen. Er horchte auf das, was die Mutter mit der -Schwester sprach, mit offenem Munde, seine kleinen Augen schauten starr, -er rührte sich nicht, alles so, wie gewöhnlich brave Kinder dasitzen -müssen, wenn sie ausgekleidet werden, um schlafen zu gehen. Das jüngste -Mädchen, in Lumpen gehüllt, stand bei dem Bettschirm und wartete, bis -sie an die Reihe kam. Die Türe nach der Treppe zu war offen, wegen der -Tabakswolken, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die die arme -Schwindsüchtige alle Augenblicke zwangen, lange und qualvoll zu husten. -Katerina Iwanowna schien in diesen acht Tagen noch magerer geworden zu -sein, und die roten Flecken auf ihren Wangen brannten noch greller als -früher. - -»Du kannst nicht glauben, du kannst es dir nicht vorstellen, Poljenka,« -sagte sie, indem sie auf und ab ging, »wie lustig und prachtvoll wir im -Hause meines Papas lebten, und wie dieser Trinker mich zugrunde -gerichtet hat und euch alle zugrunde richten wird! Mein Papa war Oberst -im Zivildienst und beinahe schon Gouverneur; er war ganz nahe daran, so -daß alle zu ihm kamen und sagten: >Wir sehen Sie, Iwan Michailytsch, -schon als unseren Gouverneur an.< Als ich ... khe! ... als ich ... khe -... khe--khe ... oh, verfluchtes Leben!« rief sie aus, als sie -ausgehustet hatte, und griff nach der Brust. »Als ich ... ach, auf dem -letzten Balle ... bei dem Adelsmarschall ... mich die Fürstin -Bessemeljanja erblickte, -- die mir späterhin den Segen gab, als ich -deinen Papa heiratete, Polja, -- frug sie mich sofort: >Sind Sie nicht -das liebe Mädchen, das mit dem Shawl beim Schlußexamen getanzt hatte?< -... (Das Loch muß man zunähen, nimm eine Nadel und stopfe es sofort, -sonst ... khe ... khe ... zerreißt es ... khe--khe--khe ... mor--gen -noch mehr! rief sie fast erstickend aus.) ... Damals war aus Petersburg -soeben der Kammerjunker Fürst Tschegolski angekommen ... er tanzte mit -mir Mazurka und wollte am anderen Tage kommen, mir einen Antrag zu -machen, aber ich dankte ihm in der schmeichelhaftesten Weise und sagte, -daß mein Herz längst einem anderen gehöre. Dieser andere war dein Vater, -Polja. Mein Papa war furchtbar böse ... Ist das Wasser fertig? Nun, gib -das Hemd ... wo sind die Strümpfe? ... Lida,« wandte sie sich an die -jüngste Tochter, »schlaf diese Nacht einmal ohne Hemd ... und lege die -Strümpfe nebenan hin ... Ich will gleich mitwaschen ... Warum kommt der -Lump nicht, der Trinker! Er trägt sein Hemd schon lange, es ist wie ein -schmutziger Lappen, hat es auch zerrissen ... Ich würde es jetzt -waschen, um mich nicht zwei Nächte nacheinander zu quälen! Herr Gott! -Khe--khe--khe--khe! Schon wieder! Was ist das?« rief sie aus, als sie -die Menge auf der Treppe erblickte, und ein paar Männer, die etwas in -ihr Zimmer hineintrugen. »Was ist das? Was bringen sie da? Oh, Gott!« - -»Wo soll man ihn hinlegen?« fragte ein Schutzmann und sah sich um, -nachdem man den blutbedeckten und besinnungslosen Marmeladoff in das -Zimmer hineingebracht hatte. - -»Auf das Sofa! Legen Sie ihn auf das Sofa, mit dem Kopfe hierher!« -zeigte Raskolnikoff. - -»Er ist überfahren worden, auf der Straße! Er war betrunken!« rief -jemand von der Treppe aus. - -Katerina Iwanowna stand bleich und atmete schwer. Die Kinder waren -erschrocken. Die kleine Lida schrie auf, stürzte zu Poljenka hin, -umfaßte sie und erzitterte am ganzen Körper. - -Nachdem Marmeladoff gebettet war, eilte Raskolnikoff zu Katerina -Iwanowna hin. - -»Beruhigen Sie sich, um Gotteswillen, erschrecken Sie nicht!« sagte er -hastig. »Er ging über die Straße, eine Equipage hat ihn überfahren, -beruhigen Sie sich, er wird zu sich kommen, ich habe angeordnet, daß man -ihn hierher bringe ... ich war schon bei Ihnen, erinnern Sie sich ... Er -wird zu sich kommen, ich will bezahlen!« - -»So weit hat er's gebracht!« schrie Katerina Iwanowna verzweifelt auf -und stürzte zu ihrem Manne. - -Raskolnikoff merkte bald, daß diese Frau keine von denen war, die sofort -in Ohnmacht fallen. Im Nu ward unter den Kopf des Unglücklichen ein -Kissen geschoben, an das niemand gedacht hatte; Katerina Iwanowna begann -ihn zu entkleiden, besah ihn, war die ganze Zeit um ihn und verlor nicht -die Fassung; sie hatte ihr eigenes Leid vergessen, biß die zitternden -Lippen zusammen und unterdrückte den Schrei, der sich ihrer Brust -entringen wollte. - -Raskolnikoff hatte indessen jemand veranlaßt, einen Arzt zu holen. Wie -es sich zeigte, wohnte im Nebenhause ein Arzt. - -»Ich habe nach einem Arzt geschickt,« sagte er zu Katerina Iwanowna, -»beunruhigen Sie sich nicht, ich will bezahlen. Haben Sie Wasser? ... -Geben Sie mir auch eine Serviette oder ein Handtuch, irgend etwas, -schnell; man kann noch nicht sehen, wie stark er verletzt ist ... Er ist -nur verletzt und nicht tot, seien Sie überzeugt. -- Wir wollen sehen, -was der Arzt sagt!« - -Katerina Iwanowna rannte zum Fenster; dort stand in der Ecke auf einem -durchgesessenen Stuhl eine große tönerne Schüssel mit Wasser, zum -Waschen der Kinderwäsche und der Wäsche des Mannes. Diese nächtliche -Wäsche vollzog Katerina Iwanowna selbst, wenigstens zweimal in der -Woche, zuweilen auch öfters, denn sie waren so heruntergekommen, daß sie -fast gar keine Wäsche zum Wechseln besaßen und daß jedes Mitglied der -Familie nur hatte, was es auf dem Leibe trug; Katerina Iwanowna aber -konnte Unreinlichkeit nicht vertragen und lieber quälte sie sich in der -Nacht und über ihre Kraft, um bis zum Morgen die nasse Wäsche trocknen -und ihnen reine Wäsche geben zu können, als Schmutz im Hause zu dulden. -Sie ergriff die Schüssel, um sie Raskolnikoff hinzubringen, wäre aber -fast damit hingefallen. Raskolnikoff hatte schon ein Handtuch gefunden, -angefeuchtet und begann das mit Blut bedeckte Gesicht Marmeladoffs -abzuwaschen. Katerina Iwanowna stand neben ihm, atmete schwer und hielt -die Hände auf die Brust gepreßt. Sie brauchte selbst Hilfe. Raskolnikoff -fing an, zu begreifen, daß er vielleicht töricht daran getan hatte, den -Überfahrenen hierher schaffen zu lassen. Der Schutzmann stand noch -unschlüssig da. - -»Polja!« rief Katerina Iwanowna, »laufe zu Ssonja, schnell. Wenn du sie -nicht zu Hause triffst, sag, sag dort jedenfalls, daß Vater überfahren -sei und daß sie sofort herkommen soll ... wenn sie nach Hause kommt. -Schnell, Polja! Da hast du ein Tuch, bedecke dich!« - -»Lauf, was du kannst!« rief plötzlich der Kleine von seinem Stuhle, dann -fiel er wieder in sein früheres Schweigen zurück und saß auf dem Stuhle -kerzengerade, mit starren Augen und mit vorgestreckten Füßchen. - -Indessen füllte sich das Zimmer so an, daß man sich kaum rühren konnte. -Die Polizeibeamten waren, außer einem, fortgegangen, der blieb eine -Weile da und bemühte sich, die Zuschauer, die von der Treppe -hereingedrungen waren, wieder hinauszutreiben. Aus den anderen Zimmern -dagegen waren fast alle Mieter der Frau Lippewechsel erschienen, zuerst -drängten sie sich nur an der Türe, dann aber überfluteten sie in einem -Haufen das ganze Zimmer. Katerina Iwanowna geriet in Zorn. - -»Laßt ihn doch wenigstens ruhig sterben!« schrie sie die Menge an. -»Meint ihr, hier wird eine Vorstellung gegeben? Mit Zigaretten im Munde -kommen sie her! Khe--khe--khe! Setzt doch noch die Hüte auf den Kopf! -... Da ist ja auch einer im Hute ... Hinaus mit euch! Habt doch -wenigstens vor einem Sterbenden Achtung!« - -Der Husten erstickte sie fast, aber ihr Appell half. Man hatte offenbar -vor Katerina Iwanowna Respekt; die Mieter zogen sich, einer nach dem -anderen, zurück zu der Türe, mit dem eigentümlichen Gefühle der -Befriedigung, das sich stets, sogar bei den Allernächsten, bemerklich -macht, wenn einen ihrer Nebenmenschen ein Unglück trifft. Von diesem -Gefühle ist kein Mensch, ohne jede Ausnahme, frei, mag er noch so -aufrichtiges Mitleid und Teilnahme hegen. - -Hinter der Türe wurden Stimmen laut, die vom Krankenhaus sprachen und -meinten, es gehöre sich nicht, hier unnütze Aufregung hervorzurufen. - -»Es gehört sich nicht, zu sterben!« rief Katerina Iwanowna und stürzte -zur Türe hin, um sie zu öffnen und ihrem Zorne Luft zu machen, aber bei -der Türe stieß sie mit Frau Lippewechsel zusammen, die soeben von dem -Unglücke vernommen hatte und gelaufen kam, um Ordnung zu schaffen. Sie -war eine außerordentlich alberne und fahrige Deutsche. - -»Ach mein Gott!« schlug sie die Hände zusammen. »Ihr Mann ist betrunken -unter die Pferde geraten. Er muß ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!« - -»Amalie Ludwigowna! Ich bitte Sie, sich zu überlegen, was Sie sagen,« -begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie stets im -hochmütigen Tone, damit die »ihre Stellung nicht vergesse,« und konnte -sich auch jetzt dieses Vergnügen nicht versagen), »Amalie Ludwigowna -...« - -»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie mich nicht Amalie -Ludwigowna nennen sollen, ich heiße Amalie Iwanowna.« - -»Sie heißen nicht Amalie Iwanowna, sondern Amalie Ludwigowna, und da ich -nicht zu den schuftigen Schmeichlern gehöre, wie Herr Lebesjätnikoff, -der jetzt hinter der Türe lacht« (hinter der Türe hörte man wirklich -Lachen und den Ruf: »Sie sind sich in die Haare gefahren!«), »so werde -ich Sie stets Amalie Ludwigowna nennen, obgleich ich gar nicht verstehen -kann, warum Ihnen dieser Name nicht gefällt. Sie sehen selbst, was mit -Ssemjon Sacharowitsch ist, -- er stirbt. Ich bitte Sie, diese Türe -sofort abzuschließen und niemanden hereinzulassen. Lassen Sie ihn -wenigstens ruhig sterben! Sonst, versichere ich Sie, wird über Ihre -Handlungsweise noch morgen der Generalgouverneur selbst erfahren. Der -Fürst kannte mich, als ich noch ein junges Mädchen war, und erinnert -sich sehr gut Ssemjon Sacharowitschs, dem er viele Male geholfen hat. Es -ist allen bekannt, daß Ssemjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner -hatte, von denen er sich selbst in edlem Stolz zurückgezogen hatte, weil -er sich seiner unglücklichen Schwäche bewußt war, jetzt aber (sie zeigte -auf Raskolnikoff) hilft uns ein großmütiger junger Mann, der Mittel und -Verbindungen besitzt, und den Ssemjon Sacharowitsch noch als Kind -gekannt hat, und seien Sie versichert, Amalie Ludwigowna ...« - -Dies alles wurde mit außerordentlicher Schnelligkeit hervorgestoßen, und -je länger desto schneller; aber der Husten unterbrach mit einem Male die -Rede von Katerina Iwanowna. In diesem Augenblicke kam der Sterbende zu -sich und stöhnte auf, und sie lief zu ihm hin. Er öffnete die Augen, und -ohne jemand zu erkennen und etwas zu verstehen, begann er den über ihn -gebeugten Raskolnikoff zu betrachten. Er atmete schwer, tief und mit -großen Pausen: auf den Lippen zeigte sich Blut; der Schweiß trat ihm auf -die Stirn. Da er Raskolnikoff nicht erkannt hatte, begann er unruhig die -Augen hin und her zu wenden. Katerina Iwanowna blickte ihn voll -Traurigkeit, aber streng an; aus ihren Augen quollen Tränen. - -»Mein Gott! Seine ganze Brust ist zerquetscht! Sehen Sie, wieviel Blut!« -sagte sie voll Verzweiflung. - -»Man muß ihn ausziehen! Dreh dich etwas um, Ssemjon Sacharowitsch, wenn -du kannst,« rief sie ihm zu. - -Marmeladoff erkannte sie. - -»Einen Priester!« sagte er mit heiserer Stimme. Katerina Iwanowna ging -zum Fenster, lehnte die Stirn an den Fensterrahmen und rief verzweifelt -aus: - -»Oh, dreimal verfluchtes Leben!« - -»Priester!« sagte nach einer Weile von neuem der Sterbende. - -»Man holt ihn schon!« schrie ihn Katerina Iwanowna an; da schwieg er. - -Mit schüchternem, traurigem Blicke suchte er sie; sie war wieder zu ihm -zurückgekehrt und stellte sich an seinem Kopfe hin. Er beunruhigte sich -ein wenig, aber es dauerte nicht lange. Seine Augen blieben bald an der -kleinen Lidotschka (seinem Liebling) in der Ecke haften, die wie im -Fieber zitterte und ihn mit erstaunten, weit aufgerissenen Augen ansah. - -»Ach ... ach ...« zeigte er voll Unruhe auf sie. Er wollte etwas sagen. - -»Was ist denn?« rief Katerina Iwanowna. - -»Barfuß. Barfuß!« murmelte er und zeigte mit einem irren Blick auf die -nackten Füßchen des Kindes. - -»Schweig!« rief gereizt Katerina Iwanowna. »Du weißt selbst, warum sie -barfuß ist.« - -»Gott sei Dank, da ist der Arzt!« rief erfreut Raskolnikoff. - -Der Arzt, ein sorgfältig gekleideter, alter Mann, ein Deutscher, trat -ein und blickte mißtrauisch um sich; er trat zu dem Verunglückten heran, -fühlte seinen Puls, betastete aufmerksam den Kopf, öffnete das mit Blut -völlig durchtränkte Hemd und machte die Brust frei. Die Brust war ganz -zerquetscht, eingedrückt und zerrissen, einige Rippen auf der rechten -Seite waren gebrochen. Auf der linken Seite, ganz am Herzen, war ein -schrecklicher, großer, gelblich schwarzer Fleck, ein furchtbarer -Hufschlag. Des Arztes Blick wurde trüb. Der Schutzmann erzählte ihm, daß -der Verunglückte von einem Rade erfaßt und etwa dreißig Schritte auf der -Straße geschleift worden sei. - -»Merkwürdig, daß er noch zu sich gekommen ist,« flüsterte der Arzt leise -Raskolnikoff zu. - -»Was meinen Sie?« fragte der. - -»Er wird gleich sterben.« - -»Gibt es gar keine Hoffnung?« - -»Nicht die geringste. Er liegt in den letzten Zügen ... Außerdem ist der -Kopf sehr gefährlich verletzt ... Hm. Vielleicht könnte man ihn noch zu -Ader lassen ... aber ... es ist nutzlos. Nach fünf oder zehn Minuten -stirbt er unbedingt.« - -»Lassen Sie ihn doch zu Ader!« - -»Gut ... Ich sage aber im voraus, es ist völlig nutzlos.« - -In diesem Augenblicke ertönten Schritte, die Menge auf der Treppe machte -Platz und auf der Schwelle erschien der Priester, ein alter Mann, mit -den Sakramenten. Ihn hatte ein Schutzmann sofort nach dem Unglück -geholt. Der Arzt trat ihm sofort seinen Platz ab und wechselte mit ihm -einen bedeutungsvollen Blick. Raskolnikoff bat den Arzt, noch eine Weile -zu bleiben. Der zuckte die Achseln und blieb. - -Alle traten zurück. Die Beichte dauerte nicht lange. Der Sterbende -schien kaum etwas zu verstehen; er konnte bloß abgerissene, unklare -Laute hervorbringen. Katerina Iwanowna hatte Lidotschka an die Hand -genommen, den Knaben vom Stuhle heruntergeholt, war mit ihnen in eine -Ecke am Ofen gegangen, auf die Knie gesunken, die Kinder vor sich. Das -kleine Mädchen zitterte; der Knabe aber lag auf seinen nackten Knien -ernst da, erhob sein Händchen, schlug ein großes Kreuz und beugte sich -zum Boden nieder, wobei er mit der Stirne anstieß, was ihm anscheinend -Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich auf die Lippen und hielt -die Tränen zurück; sie betete auch; ab und zu zog sie dem Knaben das -Hemdchen zurecht, und warf über die nackten Schultern des Mädchens ein -Tuch, das sie von der Kommode nahm, ohne sich zu erheben und weiter -betend. Indessen wurde die Türe zu den anderen Zimmern wieder von -Neugierigen geöffnet. Im Treppenflure drängten sich immer mehr und mehr -Zuschauer, Mieter vom ganzen Hause, aber ohne die Schwelle des Zimmers -zu überschreiten. Ein Lichtstümpfchen beleuchtete die ganze Szene. - -In diesem Augenblicke drängte sich durch die Menge auf dem Flure -Poljenka, die gelaufen war, die Schwester zu holen. Sie kam atemlos vom -schnellen Laufen, nahm ihr Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter, -trat an sie heran und sagte: »Sie kommt! Ich habe sie auf der Straße -getroffen!« Die Mutter zog sie neben sich auf die Knie. Durch die Menge -drängte sich leise und schüchtern ein junges Mädchen, und ihre -Erscheinung in diesem Zimmer, mitten in dieser Armut, Lumpen, Tod und -Verzweiflung war grotesk. Sie war auch in Lumpen; ihre Kleidung war von -billiger Sorte, aber straßenmäßig geschmückt, mit Geschick und -Verständnis für ihren besonderen Zweck und diesen Zweck in peinlich -aufdringlicher Weise unterstreichend. Ssonja blieb im Flure neben der -Schwelle stehen, trat nicht in das Zimmer und blickte wie verloren vor -sich hin; sie schien ganz fassungslos, schien vergessen zu haben, daß -sie ein seidenes, farbiges, aus vierter Hand gekauftes und hier -unpassendes Kleid anhatte, mit einer langen und lächerlichen Schleppe -und einer ungeheuren Krinoline, die die ganze Türe einnahm, auch daß sie -helle Stiefel und einen Sonnenschirm trug, den sie doch in der Nacht -nicht brauchte, und einen lächerlichen runden Strohhut mit einer grell -feuerroten Feder aufhatte. Unter diesem keck aufgesetzten Hute blickte -ein mageres, bleiches und erschrockenes Gesichtchen hervor, mit -geöffnetem Munde und vor Schreck unbeweglichen Augen. Ssonja war klein -von Wuchs, etwa achtzehn Jahre alt, mager, aber eine hübsche Blondine -mit wundervollen blauen Augen. Sie blickte starr auf das Sofa und auf -den Priester und atmete schwer vom schnellen Gehen. Wahrscheinlich hatte -sie das Flüstern und einige Worte unter der Menge vernommen. Sie senkte -den Kopf, tat einen Schritt über die Schwelle und blieb im Zimmer -stehen, wieder aber ganz an der Türe. - -Die Beichte und das Abendmahl waren beendet. Katerina Iwanowna ging -wieder an das Lager ihres Mannes. Der Priester trat zurück und wandte -sich beim Weggehen an Katerina Iwanowna, um ihr ein paar Worte zum Trost -und als Beileid zu sagen. - -»Wo soll ich denn mit diesen hin?« unterbrach sie ihn scharf und gereizt -und zeigte auf die Kleinen. - -»Gott ist gnädig. Vertrauen Sie auf die Hilfe des Allmächtigen,« begann -der Priester. - -»Ja--a! Er ist gnädig, aber nicht für uns!« - -»So etwas zu sagen ist eine Sünde, meine Dame,« bemerkte der Priester -und schüttelte den Kopf. - -»Und ist das keine Sünde?« rief Katerina Iwanowna aus und wies auf den -Sterbenden. - -»Vielleicht werden die, welche die unwillkürliche Ursache waren, bereit -sein, es Ihnen zu entgelten, wenigstens hinsichtlich des verlorenen -Verdienstes ...« - -»Sie verstehen mich nicht!« rief gereizt Katerina Iwanowna und winkte -mit der Hand ab. »Ja, wofür sollen sie mich entgelten? Er ist ja selbst -betrunken unter den Wagen geraten? Was für ein Verdienst? Wir hatten von -ihm keinen Verdienst, sondern nur Qual. Er vertrank doch alles! Er -bestahl uns und schleppte es in die Schenke, das Leben der Kinder und -meines hat er in der Schenke verpraßt. Und Gott sei Dank, daß er stirbt! -Weniger Ausgaben bedeutet es!« - -»Sie sollten lieber in der Todesstunde verzeihen. Solche Gefühle zu -haben, ist eine große Sünde!« Katerina Iwanowna war um den Sterbenden -bemüht, sie reichte ihm zu trinken, trocknete den Schweiß und das Blut -von seinem Kopfe, machte die Kissen zurecht und während der Arbeit -unterhielt sie sich mit dem Priester, wobei sie sich nur selten zu ihm -wandte. Jetzt aber stürzte sie sich fast rasend auf ihn. - -»Ach, Väterchen! Das sind nur Worte und weiter nichts! Verzeihung! Sehen -Sie, wenn er nicht überfahren wäre, wäre er heute betrunken nach Hause -gekommen, -- er hat nur ein Hemd, ganz schmutzig und zerrissen, -- er -hätte sich schlafen gelegt, ich aber hätte bis zum frühen Morgen im -Wasser geplantscht, seine Lumpen und die Kinderwäsche gewaschen, hätte -es vor dem Fenster getrocknet, und wenn der Morgen gekommen wäre, hätte -ich mich hingesetzt und die Sachen ausgebessert, -- sehen Sie, das wäre -meine Nachtruhe gewesen! ... Also, was ist da vom Verzeihen zu reden! -Ich habe auch so verziehen!« - -Ein hohler, schrecklicher Husten unterbrach sie. Sie hustete, spie in -ein Taschentuch, hielt die eine Hand vor Schmerz an die Brust und zeigte -mit der anderen dem Priester das Taschentuch. Das Taschentuch war voll -Blut ... - -Der Priester senkte den Kopf und schwieg. - -Marmeladoff lag in den letzten Zügen; er wandte von Katerina Iwanowna, -die sich wieder über ihn gebeugt hatte, seine Augen nicht ab. Er wollte -ihr immer etwas sagen, er begann auch, bewegte voll Anstrengung die -Zunge und sprach die Worte unklar aus, aber Katerina Iwanowna, die -verstanden hatte, daß er sie um Verzeihung bitten möchte, rief ihm -sofort in befehlendem Tone zu: - -»Schweig ... schweig! Ist nicht nötig! ... Ich weiß, was du sagen -willst! ...« - -Und der Sterbende verstummte, aber in diesem Augenblicke fiel sein -irrender Blick auf die Türe, und er erblickte Ssonja. - -Vorher hatte er sie nicht bemerkt, -- sie stand im Schatten in der Ecke. - -»Wer ist das? Wer ist das?« sagte er plötzlich mit heiserer, -erstickender Stimme, ganz aufgeregt und zeigte voll Schrecken mit den -Augen auf die Türe, wo seine Tochter stand, und versuchte sich zu -erheben. - -»Bleib liegen!« rief Katerina Iwanowna. Ihm war es mit unnatürlicher -Anstrengung gelungen, sich auf seine Hand zu stützen. Er sah wild und -unbeweglich eine Weile die Tochter an, als ob er sie nicht erkenne. Er -hatte sie auch noch nie in diesem Aufzuge gesehen. Plötzlich erkannte er -sie, die gedemütigte, völlig niedergeschlagene, geputzte und sich -schämende, die demütig wartete, bis an sie die Reihe kam, vom sterbenden -Vater Abschied zu nehmen. Ein grenzenloses Leid zeigte sich auf seinem -Gesichte. - -»Ssonja! Tochter! Verzeih!« rief er und wollte nach ihr die Hand -ausstrecken, aber er verlor das Gleichgewicht und stürzte vom Sofa mit -dem Gesichte zu Boden. Man lief hin, um ihn aufzuheben und legte ihn auf -das Sofa hin, aber er war schon im Sterben. Ssonja schrie schwach auf, -lief hin, umarmte ihn und blieb bewegungslos stehen. Er starb in ihren -Armen. - -»Er hat's erreicht!« rief Katerina Iwanowna, als sie ihren Mann tot sah. -»Aber was soll ich jetzt tun! Womit soll ich ihn beerdigen? Und womit -soll ich diese hier füttern?« - -Raskolnikoff trat zu Katerina Iwanowna. - -»Katerina Iwanowna,« begann er. »Ihr verstorbener Gatte erzählte mir in -der vorigen Woche sein ganzes Leben und alle seine Verhältnisse ... -Seien Sie versichert, daß er von Ihnen mit Wärme und Achtung sprach. -Seit diesem Abend, als ich erfuhr, wie er an Ihnen hing und wie er Sie, -Katerina Iwanowna, besonders hochschätzte und liebte, trotz seiner -unglücklichen Schwäche, seit diesem Abend waren wir Freunde ... Erlauben -Sie mir jetzt also ... Ihnen behilflich zu sein ... meinem verstorbenen -Freunde die letzte Ehre erweisen zu können. Sehen Sie, hier habe ich ... -zwanzig Rubel, glaube ich ... und wenn dies Ihnen eine Hilfe sein kann, -so ... ich ... will mit einem Worte wiederkommen, ... ich komme -unbedingt ... ich komme unbedingt ... ich komme vielleicht schon morgen -zu Ihnen ... Leben Sie wohl!« - -Und er ging schnell aus dem Zimmer und drängte sich durch die Menge, da -aber stieß er plötzlich mit Nikodim Fomitsch, dem Polizeikommissar, -zusammen, der von dem Unglück gehört hatte und persönlich Anordnungen -treffen wollte. Seit dem Auftritt im Polizeibureau hatten sie einander -nicht gesehen, aber Nikodim Fomitsch erkannte ihn sofort. - -»Ah, Sie sind hier?« fragte er. - -»Er ist gestorben,« antwortete Raskolnikoff. »Ein Arzt war dagewesen, -auch ein Priester war da, alles ist in Ordnung. Regen Sie die arme Frau -nicht auf, sie hat ohnedem die Schwindsucht. Flößen Sie ihr Mut ein, so -gut Sie können ... Sie sind ja ein guter Mensch, ich weiß es ...« fügte -er mit einem schiefen Lächeln hinzu und blickte ihm in die Augen. - -»Wie Sie sich mit Blut befleckt haben,« bemerkte Nikodim Fomitsch, als -er beim Lichte der Laterne einige frische Flecken auf der Weste -Raskolnikoffs erblickte. - -»Ja, ich habe mich bespritzt ... ich bin mit Blut bedeckt!« sagte -Raskolnikoff mit einem eigentümlichen Ausdruck, lächelte, nickte ihm zu -und ging die Treppe hinab. Er stieg langsam hinab, ohne sich zu beeilen, -tief ergriffen, voll von einem einzigen, neuen, unermeßlichen Gefühl, -das als volle und mächtige Lebenswelle über ihn gekommen war. Ein -Gefühl, das dem eines zu Tode Verurteilten gleichen mochte, dem man -unerwartet die Begnadigung mitgeteilt hatte. Auf der Treppe überholte -ihn der Priester, der nach Hause ging; Raskolnikoff ließ ihn schweigend -an sich vorübergehen und wechselte mit ihm einen stummen Gruß. Als er -aber die letzten Stufen hinabschritt, hörte er eilige Schritte hinter -sich. Jemand wollte ihn einholen. Es war Poljenka, sie lief ihm nach und -rief: »Hören Sie, hören Sie doch!« - -Sie kam die letzte Treppe herab und blieb eine Stufe über ihm stehen. -Ein schwaches Licht drang vom Hofe herein. Raskolnikoff schaute in das -magere, aber liebe Gesichtchen des kleinen Mädchens, das ihm zulächelte -und ihn fröhlich, nach Kinderart, ansah. Sie war mit einem Auftrage -gekommen, der ihr selbst sehr zu gefallen schien. - -»Sagen Sie mir, wie heißen Sie denn? ... und noch ... wo wohnen Sie -denn?« fragte sie ihn hastig mit erstickendem Stimmchen. - -Er legte beide Hände auf ihre Schultern und blickte sie glücklich an. Es -war ihm wohltuend, sie anzusehen, -- er wußte selbst nicht warum. - -»Wer hat dich zu mir geschickt?« - -»Schwesterchen Ssonja hat mich geschickt,« antwortete das kleine Mädchen -und lächelte noch freundlicher. - -»Ich wußte, daß Schwesterchen Ssonja dich geschickt hat.« - -»Mama hat mich auch geschickt. Als Schwesterchen Ssonja mich schickte, -kam Mama auch und sagte: Ja, lauf schnell, Poljenka!« - -»Liebst du Schwesterchen Ssonja?« - -»Ich liebe sie mehr als alle anderen!« sagte Poljenka mit besonderer -Festigkeit, und ihr Gesicht wurde plötzlich ernst. - -»Wirst du mich auch lieben können?« - -Anstatt einer Antwort näherte sich ihm das Gesichtchen des Kindes, und -die kleinen Lippen streckten sich ihm zum Kuß entgegen. Ihre Ärmchen, -streichhölzchendünn, umschlangen ihn kräftig, ihr Kopf senkte sich auf -seine Schulter, und das kleine Mädchen fing leise an zu weinen und -preßte sich immer fester und fester mit dem Gesicht an ihn. - -»Papa tut mir so leid!« sagte sie nach einer Weile, hob ihr verweintes -Gesichtchen in die Höhe und wischte sich mit den Händen die Tränen ab. -»Wir haben immer Unglück,« fügte sie unerwartet hinzu und mit jenem -besonders wichtigen Ausdruck, den Kinder annehmen, wenn sie wie -Erwachsene sprechen wollen. - -»Papa hat dich auch geliebt?« - -»Er hat Lidotschka mehr als uns alle geliebt,« fuhr sie mit dem gleichen -Ernste fort, »er liebte sie, weil sie klein und krank ist, und er -brachte ihr immer etwas mit, uns aber lehrte er das Lesen, und mich -Grammatik und Religion,« fügte sie mit Stolz hinzu, »Mama sagte nichts -dazu, aber wir wußten doch, daß sie das gern hatte, und Papa wußte es -auch. Mama will mich Französisch lehren, es ist Zeit, daß ich eine -Erziehung erhalte.« - -»Kannst du auch beten?« - -»Oh, gewiß können wir es. Schon lange, ich bete, seitdem ich groß bin, -allein für mich, Kolja und Lidotschka beten laut mit Mama; zuerst sagen -sie das Gebet an die Gottesmutter und dann noch ein Gebet, >lieber Gott, -verzeihe und segne Schwesterchen Ssonja,< und dann >lieber Gott, -verzeihe und segne unsern andern Papa,< denn unser älterer Papa ist -schon gestorben, dieser war unser zweiter Papa, doch wir beten auch für -ihn.« - -»Poletschka, ich heiße Rodion; bete auch für mich einmal, -- >für den -Gottesknecht Rodion< -- und mehr nicht.« - -»Ich werde mein ganzes künftiges Leben für Sie beten,« sagte eifrig das -kleine Mädchen, lachte wieder heiter und umarmte ihn von neuem. -Raskolnikoff nannte ihr seinen Namen, gab ihr seine Adresse und -versprach, morgen unbedingt zu ihr zu kommen. Das kleine Mädchen ging -völlig entzückt von ihm. Es war die elfte Stunde, als er auf die Straße -hinaustrat. Nach fünf Minuten stand er auf der Brücke, genau an -derselben Stelle, wo vorhin die Frau sich ins Wasser gestürzt hatte. - -»Genug!« sagte er entschlossen und feierlich, »fort mit den -Traumgebilden, fort mit den eingebildeten Schrecken, fort mit den -Gespenstern! ... Es gibt noch ein Leben! Habe ich eben nicht gelebt? -Mein Leben ist noch nicht mit der alten Witwe gestorben! Möge ihr das -Himmelreich beschieden sein und, -- und genug, Mütterchen, es ist Zeit -für dich zu ruhen! Das Reich der Vernunft und des Lichtes ist jetzt -gekommen! ... und ... und des Willens ... und der Kraft ... und nun -wollen wir sehen! Wir wollen unsere Kräfte messen« fügte er -herausfordernd hinzu, als wende er sich an eine dunkle Macht und fordere -sie zum Kampfe auf. »Und ich war schon bereit, mich auf den ellenlangen -Raum einzurichten!« - -»... Sehr schwach fühle ich mich in diesem Augenblicke, aber ... es -scheint, die Krankheit ist vorüber. Ich wußte, daß sie vergehen wird, -als ich vor kurzem wegging. Wie ist mir denn -- ist nicht das Haus -Potschinkoff kaum zwei Schritte von hier. Jetzt gehe ich zu Rasumichin, -wenn es auch nicht nur zwei Schritte wären ... mag er die Wette -gewinnen! ... mag er auch sein Vergnügen haben, -- tut nichts, mag er es -haben! Kraft, Kraft ist nötig, -- ohne Kraft kann man nichts überwinden, -und die Kraft muß wieder durch Kraft erworben werden, aber davon haben -sie keine Ahnung,« fügte er stolz und selbstbewußt hinzu, und konnte -kaum seine Füße noch heben. Der Stolz und das Selbstvertrauen wuchsen -mit jeder Minute in ihm; im nächsten Augenblicke war er schon ein -anderer Mensch als in dem vorhergehenden. Was war mit ihm Besonderes -vorgegangen, das ihn so verwandelt hatte? Er wußte es selbst nicht; ihm -war es wie einem Menschen, der nach einem Strohhalm greift, um sich zu -retten; und es war ihm, als ob es noch Leben gab für ihn, als ob sein -Leben mit der Alten nicht gestorben sei. Vielleicht war er zu eilig mit -der Schlußfolgerung, aber daran dachte er nicht. - -»Den Gottesknecht Rodion soll sie im Gebet nennen,« durchfuhr es ihn, -»und das ist ... für alle Fälle!« fügte er hinzu, und mußte selber über -den Einfall lachen. - -Er befand sich in ausgezeichneter Stimmung. - -Rasumichin fand er mit Leichtigkeit; im Hause Potschinkoff kannte man -schon den neuen Mieter, und der Hausknecht zeigte ihm sogleich den Weg. -Auf der halben Treppe konnte man den Lärm und die lebhaften Stimmen -einer großen Gesellschaft vernehmen. Die Türe zur Treppe war -sperrangelweit auf; man hörte, wie geschrien und gestritten wurde. -Rasumichins Zimmer war ziemlich groß, und es waren etwa fünfzehn -Menschen bei ihm. Raskolnikoff blieb im Flure stehen. Hier, hinter einer -Rollwand, waren zwei Mädchen der Wirtsleute mit zwei großen Samowars -beschäftigt, hier standen Flaschen, Teller und Schüsseln mit Pasteten -und Imbiß, die aus der Küche der Wirtsleute hierher geschafft worden -waren. Raskolnikoff ließ Rasumichin herausholen. Der kam freudig -überrascht herausgelaufen. Man merkte beim ersten Blick, daß er -ungewöhnlich viel getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich nie -betrunken hatte, konnte man es ihm dieses Mal doch anmerken. - -»Höre,« beeilte sich Raskolnikoff zu sagen, »ich bin nur hergekommen, um -dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast, und daß tatsächlich -niemand wissen kann, was alles mit ihm geschieht. Hineingehen kann ich -nicht, -- ich fühle mich zu schwach, so daß ich fürchten muß, -hinzufallen. Und darum sage ich dir gleich >Guten Abend< und >Lebewohl<! -Komm du morgen zu mir ...« - -»Weißt du was, ich begleite dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst, -daß du dich schwach fühlst, da ...« - -»Und deine Gäste? Wer ist dieser mit dem lockigen Haar, der soeben -herausguckte?« - -»Der? Weiß der Teufel, wer er ist! Wahrscheinlich ein Bekannter meines -Onkels, vielleicht ist er auch ohne Aufforderung hergekommen ... Ich -lasse den Onkel bei den Gästen; er ist ein prächtiger Mensch. Schade, -daß du ihn jetzt nicht kennenlernst. Im übrigen, hol sie alle der -Teufel! Jetzt haben sie keine Zeit, an mich zu denken, und ich muß -frische Luft schöpfen; du bist mir sehr gelegen gekommen. Noch zwei -Minuten und ich hätte mich mit ihnen geprügelt, bei Gott! Sie lügen so -das dümmste Zeug zusammen ... Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß -der Mensch im Lügen ist! Na, warum sollst du es dir nicht vorstellen -können? Wir lügen doch selbst? Ja, mögen sie auch jetzt lügen, dafür -werden sie später nicht mehr lügen ... Warte einen Augenblick, ich sage -es noch Sossimoff ...« - -Sossimoff eilte hastig auf Raskolnikoff zu; man merkte in ihm eine -besondere Neugierde, jedoch sein Gesicht hellte sich sofort auf. - -»Gleich ins Bett,« sagte er, nachdem er nach Möglichkeit den Kranken -untersucht hatte, »und zur Nacht nehmen Sie noch ein Pülverchen. Wollen -Sie es nicht? Ich habe schon vorher für Sie ... ein Pülverchen -bereitet.« - -»Meinetwegen nehme ich auch zwei Pulver,« antwortete Raskolnikoff. - -Und das Pulver wurde sofort eingenommen. - -»Es ist sehr gut, daß du ihn begleitest,« sagte Sossimoff zu Rasumichin, -»wie es morgen sein wird, werden wir sehen, heute ist es nicht übel mit -ihm, -- eine bedeutende Verbesserung seit kurzem. Man lernt sein ganzes -Leben ...« - -»Weißt du, was Sossimoff mir soeben zuflüsterte, als wir fortgingen,« -platzte Rasumichin heraus, als sie auf die Straße traten. »Ich will dir, -Bruder, nicht alles so direkt sagen, denn sie sind Dummköpfe. Sossimoff -bat mich, den ganzen Weg mit dir zu schwatzen und dich selbst zum -Schwatzen zu veranlassen, um ihm dann alles nachher zu erzählen, denn er -hat eine Idee ... nämlich daß du ... verrückt seist, oder nahe daran -bist. Stell' dir das vor! Erstens bist du dreimal klüger als er, -zweitens, wenn du nicht verrückt bist, pfeifst du darauf, daß er so -dummes Zeug im Kopfe hat, und drittens, dieses Stück Fleisch, trotz -seiner Spezialität für Chirurgie, ist jetzt auf Geisteskrankheiten -versessen, und in bezug auf dich hat ihn dein heutiges Gespräch mit -Sametoff endgültig darauf gebracht.« - -»Hat dir Sametoff alles erzählt?« - -»Ja, alles, und es ist sehr gut, daß er es erzählt hat. Jetzt habe ich -alles, auch was drum und dran hängt, begriffen, und Sametoff hat auch -begriffen ... Nun ja, mit einem Worte, Rodja ... die Sache ist die ... -Ich bin jetzt ein bißchen betrunken ... Aber das tut nichts ... die -Sache ist die, daß dieser Gedanke ... verstehst du? ... in der Tat ihnen -hin und wieder kam ... verstehst du? Das heißt, niemand wagte es laut -auszusprechen, denn es ist das dümmste Zeug, und besonders, nachdem man -diesen Anstreicher verhaftet hatte, zerfiel alles in nichts und -verschwand auf immer. Aber warum sind sie solche Dummköpfe? Ich hatte -damals Sametoff ein wenig verprügelt, -- das soll unter uns bleiben, -Bruder; bitte, laß dir auch nicht das geringste merken, daß du es weißt, -ich habe bemerkt, daß er empfindlich ist, es geschah bei Louisa, -- -heute, heute wurde alles klar. Hauptsächlich dieser Ilja Petrowitsch! Er -benutzte damals deine Ohnmacht im Polizeibureau, später schämte er sich -selber dessen, ich weiß es ...« - -Raskolnikoff hörte aufmerksam zu. Rasumichin plapperte in seiner -Trunkenheit alles aus. - -»Ich fiel damals darum in Ohnmacht, weil so schlechte Luft war und weil -die Ölfarbe so widerlich roch,« sagte Raskolnikoff. - -»Du willst noch erklären! Nicht die Ölfarbe war es allein, die Krankheit -bereitete sich schon einen ganzen Monat vor, -- Sossimoff ist doch -Zeuge! Aber wie niedergeschlagen jetzt dieser Junge -- Sametoff -- ist, -du kannst dir es nicht vorstellen! -- >Ich bin den kleinen Finger dieses -Menschen nicht mal wert<, sagt er. Das heißt _deinen_ kleinen Finger. Er -hat zuweilen schöne Gefühle, Bruder. Aber die Lehre, die heutige Lehre -im Kristallpalast -- das ist der Hauptcoup! Du hast ihn zuerst -erschreckt und fast zum Wahnsinn gebracht! Du hast ihn fast gezwungen, -wieder an diesen ganzen scheußlichen Unsinn zu glauben und dann -plötzlich zeigtest du ihm die Zunge, -- als würdest du sagen, -- na, da -hast du es jetzt, glaubst du nun? Es war köstlich! Er ist jetzt -zermalmt, zerknirscht! Du bist ein Meister, bei Gott, so muß man mit -ihnen umspringen! Schade, daß ich nicht dabei war! Er erwartete dich -jetzt sehnlichst bei mir. Porphyri will dich auch kennenlernen ...« - -»Ah ... auch der ... Und warum halten sie mich für verrückt?« - -»Das heißt nicht für verrückt. Ich habe, scheint mir, da zuviel gesagt -... Siehst du, es setzte ihn in Erstaunen, daß dich diese Sache -interessiert; wo er alle Umstände kennt ... und er sah, wie es dich -gereizt hatte und wie es mit deiner Krankheit zusammenfiel ... Ich bin -ein wenig betrunken, Bruder, aber weiß der Teufel, er hat so seine -eigene Idee ... Ich sage dir, -- er ist jetzt auf Geisteskrankheiten -versessen. Pfeif' ihm darauf ...« - -Beide schwiegen eine Weile. - -»Höre, Rasumichin,« begann Raskolnikoff, »ich will dir offen gestehen; -ich war soeben bei einem Sterbenden, Beamter ist er gewesen ... dort -habe ich mein ganzes Geld hergegeben ... außerdem hat mich soeben ein -Wesen geküßt, das auch, wenn ich wirklich jemand ermordet hätte, ebenso -... mit einem Worte, ich habe dort noch ein anderes Wesen gesehen ... -mit einer feuerroten Feder ... übrigens, aber ich phantasiere ... ich -bin sehr schwach, stütze mich ... gleich sind wir bei der Treppe ...« - -»Was ist mit dir? Was ist mit dir?« fragte Rasumichin ängstlich. - -»Mir schwindelt ein wenig der Kopf, aber das ist es nicht, mir ist so -traurig, so traurig ... wie jener Frau ... es ist wahr! Sieh, was ist -das? Sieh! Sieh!« - -»Was denn?« - -»Siehst du denn nicht? Siehst du nicht, in meinem Zimmer ist Licht! -Durch die Ritze ...« - -Sie standen schon auf dem letzten Treppenabsatz, neben der Türe zu der -Wirtin Wohnung; man konnte wirklich von unten aus sehen, daß -Raskolnikoffs Kammer erleuchtet war. - -»Sonderbar! Es ist vielleicht Nastasja,« bemerkte Rasumichin. - -»Sie ist niemals um diese Zeit bei mir, und außerdem schläft sie schon -längst, doch ... mir ist es einerlei. Lebe wohl!« - -»Was ist dir? Ich begleite dich doch, wir gehen beide hinein!« - -»Ich weiß, daß wir zusammen hineingehen werden, aber ich will hier deine -Hand drücken und hier von dir Abschied nehmen. Da, gib mir die Hand, -lebwohl!« - -»Was ist dir, Rodja?« - -»Nichts ... komm, wir gehen ... du wirst Zeuge sein ...« - -Sie begannen die Treppe hinaufzusteigen, und Rasumichin durchzuckte der -Gedanke, daß Sossimoff doch vielleicht recht habe. »Ach! Ich habe ihn -mit meinem Geschwätz verwirrt!« murmelte er vor sich hin. Als sie an die -Türe kamen, hörten sie Stimmen im Zimmer. - -»Was ist da los?« rief Rasumichin aus. - -Raskolnikoff ergriff zuerst die Türklinke und öffnete die Türe weit und -blieb wie versteinert auf der Schwelle stehen. - -Seine Mutter und Schwester saßen auf dem Sofa und warteten auf ihn schon -seit anderthalb Stunden. Sie hatte er am allerwenigsten erwartet und -noch weniger an sie gedacht, trotzdem ihm heute noch einmal die -Mitteilung geworden war, daß sie abgereist, unterwegs wären und jeden -Augenblick ankommen könnten. Sie hatten die anderthalb Stunden, einander -unterbrechend, Nastasja ausgefragt, die auch jetzt noch vor ihnen stand -und ihnen schon alles erzählt hatte, und waren vor Schreck fast gelähmt, -als sie hörten, daß er »heute weggelaufen sei,« krank, wie er war, und -sicher nicht bei vollem Bewußtsein, wie man aus der Erzählung entnehmen -konnte! »Mein Gott, was wird mit ihm geschehen sein!« Sie weinten beide, -und beide hatten in diesen anderthalb Stunden Folterqualen erlitten. - -Ein freudiger, entzückter Schrei begrüßte Raskolnikoffs Erscheinen. -Beide stürzten auf ihn zu. Er aber stand wie leblos da; eine -unerträgliche Empfindung hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Seine Hände -erhoben sich nicht, um sie zu umarmen, -- sie konnten sich nicht -erheben. Die Mutter und Schwester erdrückten ihn in ihrer Umarmung, -küßten ihn, lachten und weinten ... Er tat einen Schritt, schwankte und -stürzte ohnmächtig zu Boden. - -Aufregung, erschreckte Ausrufe, Gestöhn ... Rasumichin, der auf der -Schwelle stand, flog ins Zimmer herein, packte den Kranken mit seinen -kräftigen Armen, und jener lag im Nu auf dem Sofa. - -»Hat nichts zu sagen! Tut nichts!« rief er Mutter und Schwester zu, »das -ist eine Ohnmacht, das ist nichts! Soeben hat noch der Arzt gesagt, daß -es ihm bedeutend besser gehe, daß er vollkommen gesund sei! Wasser her! -Sehen Sie, er kommt schon zu sich, er ist bei Bewußtsein!« - -Er ergriff die Hand Dunetschkas so stark, daß er sie beinahe verrenkte, -und zog sie näher, damit sie sich überzeuge, daß »er schon bei -Bewußtsein sei«. Mutter und Schwester blickten Rasumichin wie die -Vorsehung, mit Rührung und Dankbarkeit an; sie hatten schon von Nastasja -gehört, was dieser »eifrige junge Mann,« wie ihn am selben Abend -Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa selbst in einem intimen Gespräche -mit Dunetschka genannt hatte, für ihren Rodja gewesen war. - - - - - Dritter Teil - - - I. - -Raskolnikoff erhob sich und setzte sich auf das Sofa. Er winkte mit der -Hand schwach Rasumichin ab, damit er dem Strome seiner eifrigen -Trostspendung an Mutter und Schwester ein Ende mache, nahm beider Hände -und blickte etwa zwei Minuten schweigend bald die eine, bald die andere -an. Die Mutter erschrak vor seinem Blick. In diesem Blicke lag ein bis -zur Qual gesteigertes Gefühl, aber gleichzeitig etwas Starres, fast -Irrsinniges. Pulcheria Alexandrowna begann zu weinen. - -Awdotja Romanowna war bleich, ihre Hand zitterte in der des Bruders. - -»Geht nach Hause ... mit ihm,« sagte er mit stockender Stimme und wies -auf Rasumichin, »bis morgen; morgen wird alles ... Seid ihr schon lange -angekommen?« - -»Heute abend, Rodja,« antwortete Pulcheria Alexandrowna, »der Zug hat -sich schrecklich verspätet. Rodja, ich will aber jetzt um keinen Preis -der Welt von dir gehen! Ich schlafe hier neben dir ...« - -»Quält mich nicht!« sagte er und machte eine gereizte Bewegung mit der -Hand. - -»Ich bleibe bei ihm!« rief Rasumichin. »Ich will ihn keinen einzigen -Augenblick verlassen, und hol der Teufel alle meine Gäste, mögen sie -außer sich sein! Mein Onkel mag dort repräsentieren.« - -»Wie, wie soll ich Ihnen danken!« begann Pulcheria Alexandrowna und -drückte von neuem Rasumichin die Hand, aber Raskolnikoff unterbrach sie. - -»Ich kann nicht, kann nicht,« wiederholte er gereizt, »quält mich nicht! -Genug, geht weg ... Ich kann nicht! ...« - -»Gehen wir, Mama, gehen wir wenigstens auf einen Augenblick aus dem -Zimmer heraus,« flüsterte die erschrockene Dunja, »wir martern ihn, man -sieht's doch.« - -»Soll ich denn gar nicht bei ihm sein, nach drei Jahren langer -Trennung!« weinte Pulcheria Alexandrowna. - -»Wartet!« hielt Raskolnikoff sie zurück, »ihr unterbrecht mich immer, -und meine Gedanken verwischen sich ... Habt ihr Luschin gesehen?« - -»Nein, Rodja, aber er weiß schon, daß wir angekommen sind. Wir haben -gehört, Rodja, daß Peter Petrowitsch so gut war und dich heute besucht -hat,« fügte ein wenig schüchtern Pulcheria Alexandrowna hinzu. - -»Ja ... er war so gut ... Dunja, ich habe vorher Luschin gesagt, daß ich -ihn die Treppe hinunterwerfen werde und habe ihn zum Teufel gejagt ...« - -»Rodja, was ist dir! Du hast sicher ... du willst doch nicht sagen,« -begann Pulcheria Alexandrowna erschreckt, hielt aber vor einem Blick -Dunjas inne. - -Awdotja Romanowna sah den Bruder aufmerksam an und wartete auf das, was -er weiter sagen würde. Beide waren schon von dem Streite durch Nastasja -benachrichtigt, so weit sie es selber begriffen hatte und mitteilen -konnte, und hatten unter der Ungewißheit und Erwartung gelitten. - -»Dunja,« fuhr Raskolnikoff mit Mühe fort, »ich wünsche diese Heirat -nicht, und darum mußt du morgen noch Luschin absagen, damit er völlig -verschwinde.« - -»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. - -»Bruder, überlege, was du sprichst!« begann Awdotja Romanowna erregt, -aber hielt sofort an sich. »Du bist vielleicht jetzt nicht imstande, du -bist müde,« fügte sie sanft hinzu. - -»Gar im Fieber? Nein ... Du heiratest Luschin um meinetwillen. Ich aber -nehme das Opfer nicht an. Und darum schreibe morgen den Brief ... mit -der Absage ... Gib ihn mir morgen früh zu lesen, und Schluß damit!« - -»Ich kann es nicht tun!« rief das gekränkte Mädchen aus. »Mit welchem -Recht ...« - -»Dunetschka, du bist zu hitzig, hör auf, morgen ... Siehst du denn nicht -...« suchte die erschrockene Mutter zu beruhigen. »Ach, gehen wir besser -fort!« - -»Er redet im Fieber!« rief der berauschte Rasumichin. »Sonst würde er -das nicht sagen! Morgen ist dieser ganze Unsinn verschwunden ... Heute -hat er ihn wohl hinausgejagt. Das ist wahr. Nun, und jener wurde böse -... Er hat hier schöne Reden gehalten, seine Kenntnisse ausgekramt und -ging dann mit eingezogenem Schwanz weg ...« - -»Also, es ist wahr?« rief Pulcheria Alexandrowna aus. - -»Bis auf morgen, Bruder!« sagte Dunja mitleidsvoll. »Gehen wir, Mama ... -Leb wohl, Rodja!« - -»Hörst du, Schwester,« rief er ihnen mit letzten Kräften nach, »ich -phantasiere nicht; diese Heirat ist eine Schuftigkeit. Mag ich ein -Schuft sein, du aber darfst nicht ... einer von beiden ... und wenn ich -auch ein Schuft bin, aber so eine Schwester will ich nicht als Schwester -anerkennen. Entweder ich oder Luschin! Geht ...« - -»Du bist verrückt geworden! Despot!« brüllte Rasumichin, aber -Raskolnikoff antwortete nicht mehr, vielleicht hatte er auch nicht mehr -die Kraft, zu antworten. - -Er hatte sich auf das Sofa gelegt und sich in völliger Ermattung der -Wand zugekehrt. Awdotja Romanowna blickte Rasumichin voll Interesse an; -ihre schwarzen Augen funkelten, -- Rasumichin zuckte unter diesem Blicke -zusammen. Pulcheria Alexandrowna stand, wie vom Donner gerührt, da. - -»Ich kann nicht weggehen!« flüsterte sie fast verzweifelt Rasumichin zu, -»ich bleibe hier, irgendwo ... begleiten Sie Dunja.« - -»Und Sie werden die ganze Sache verderben!« flüsterte Rasumichin außer -sich. »Gehen wir wenigstens auf die Treppe hinaus. Nastasja, leuchte -uns! Ich schwöre Ihnen,« fuhr er im Flüstertone fort, als sie schon auf -der Treppe waren, »daß er vorhin beinahe mich und den Arzt verprügelt -hätte! Verstehen Sie! Selbst den Arzt! Und der gab nach, um ihn nicht zu -reizen und ging fort, ich aber blieb unten, um auf ihn aufzupassen, er -hatte sich aber inzwischen angekleidet und entschlüpfte mir. Er wird uns -auch jetzt entschlüpfen, wenn Sie ihn reizen werden, und es ist Nacht, -und er kann sich etwas antun ...« - -»Ach, was sagen Sie?« - -»Und Awdotja Romanowna kann auch nicht ohne Sie allein in diesen -möblierten Zimmern bleiben! Denken Sie nach, wo Sie abgestiegen sind! -Dieser Schuft Peter Petrowitsch konnte Ihnen doch eine bessere Wohnung -... Übrigens, wissen Sie, ich bin ein wenig betrunken und habe darum ... -ihn geschimpft; beachten Sie es nicht ...« - -»Ich gehe zu seiner Wirtin,« bestand Pulcheria Alexandrowna auf ihrer -Absicht, »ich will sie bitten, mir und Dunja einen Platz für diese Nacht -zu geben. Ich kann ihn nicht so verlassen, ich kann nicht!« - -Während sie darüber sprachen, standen sie auf dem Treppenabsatz vor der -Türe zu der Wohnung der Wirtin. Nastasja leuchtete ihnen von der letzten -Stufe herab. Rasumichin war ungewöhnlich erregt. Vor einer halben Stunde -noch, als er Raskolnikoff nach Hause begleitete, war er wohl übermäßig -geschwätzig und wußte es auch, er war aber völlig munter und ganz -frisch, ungeachtet des fürchterlichen Quantums Wein, das er an diesem -Abend getrunken hatte. Jetzt aber geriet er in Ekstase und der ganze -Wein schien mit einem Male mit verstärkter Macht ihm zu Kopf gestiegen -zu sein. Er stand vor den beiden Damen, hatte sie beide an den Händen -gefaßt, redete auf sie ein und machte ihnen mit erstaunlicher Offenheit -Vorstellungen und wahrscheinlich, um sie besser zu überzeugen, preßte er -bei jedem Worte, wie mit Klammern, ihre Hände, daß ihnen die Tränen -kamen und schien Awdotja Romanowna mit den Augen zu verschlingen, ohne -sich dabei groß zu genieren. Vor Schmerz suchten sie ihre Hände aus -seiner großen und knochigen Hand zu befreien, aber er merkte den Grund -nicht und zog beide noch stärker zu sich. Wenn sie ihm in diesem -Augenblicke befohlen hätten, ihnen zuliebe sich von der Treppe kopfüber -hinabzustürzen, er hätte es getan, ohne sich zu besinnen und zu zögern. -Pulcheria Alexandrowna, ganz aufgeregt im Gedanken an ihren Rodja, -fühlte wohl, daß der junge Mann sehr exzentrisch sei und zu schmerzhaft -ihre Hand drücke, aber da er doch für sie ein Stück Vorsehung war, so -wollte sie alle diese exzentrischen Einzelheiten nicht bemerken. Trotz -ihrer Aufregung wegen des Bruders und obwohl sie nicht ängstlicher Natur -war, bemerkte Awdotja Romanowna doch voll Staunen und fast mit Schrecken -die in wildem Feuer funkelnden Augen des Freundes ihres Bruders, und -bloß das grenzenlose Vertrauen, das ihr die Erzählung Nastasjas über -diesen sonderbaren Menschen eingeflößt hatte, hielt sie ab, wegzulaufen -und die Mutter von ihm wegzubringen. Sie begriff aber auch, daß sie von -ihm jetzt nicht loskommen könne. Nach etwa zehn Minuten aber hatte sie -sich schon gefaßt, -- Rasumichins Art war es, sich schnell restlos zu -zeigen, in welcher Stimmung er auch war, so daß alle sehr bald wußten, -mit wem sie es zu tun hatten. - -»Bei der Wirtin ist es unmöglich, und ein greulicher Unsinn ist es!« -fiel er Pulcheria Alexandrowna in die Rede. »Mögen Sie auch die Mutter -sein, wenn Sie aber hier bleiben, versetzen Sie ihn in Raserei und dann -weiß der Teufel, was folgen wird! Hören Sie, ich will es so machen, -- -jetzt bleibt bei ihm Nastasja sitzen, ich aber begleite Sie beide zu -Ihrer Wohnung, denn Sie können nicht allein auf der Straße gehen. Bei -uns in Petersburg ist es in dieser Hinsicht ... Nun, lassen wir das ... -Ich laufe dann sofort hierher zurück und bringe Ihnen nach einer -Viertelstunde, mein heiliges Ehrenwort darauf, Rapport, -- wie es mit -ihm steht, ob er schläft oder nicht und dergleichen. Dann, hören Sie -weiter! Dann laufe ich von Ihnen auf einen Sprung zu mir, -- ich habe -Gäste, alle sind betrunken, -- nehme Sossimoff -- das ist der Arzt, der -ihn behandelt, er sitzt jetzt bei mir, ist nicht betrunken, er ist nie -betrunken. Ich schleppe ihn zu Rodja und bin wieder sofort bei Ihnen, -also im Laufe von einer Stunde haben Sie zwei Rapporte über ihn, -- und -vom Arzte, verstehen Sie, vom Arzte selbst, das ist mehr wert als von -mir! Sollte es schlimmer sein, ich schwöre Ihnen, so bringe ich Sie -selbst hierher, steht aber alles gut, so gehen Sie schlafen. Ich aber -werde diese Nacht hier schlafen, im Flure, er wird nichts hören, und -Sossimoff werde ich sagen, er soll bei der Wirtin schlafen, damit er da -ist, wenn man ihn braucht. Nun, was ist für ihn jetzt besser, -- Sie -oder der Arzt? Der Arzt ist doch nützlicher, nützlicher. Nun, gehen Sie -also nach Hause! Zu der Wirtin ist es unmöglich; mir ist es möglich, -Ihnen aber nicht, -- sie wird Sie nicht hereinlassen, weil ... weil sie -eine Närrin ist. Sie wird auf Awdotja Romanowna meinetwegen eifersüchtig -sein, wenn Sie es wissen wollen, und auch auf Sie selbst ... Auf Awdotja -Romanowna aber unbedingt. Sie ist ein vollkommen, vollkommen -unberechenbarer Charakter! Übrigens, ich bin auch ein Narr ... Ich -pfeife darauf! Gehen wir! Glauben Sie mir? Nun, glauben Sie mir oder -nicht? ...« - -»Gehen wir, Mama,« sagte Awdotja Romanowna, »er wird bestimmt so tun, -wie er versprochen hat. Er hat schon einmal den Bruder zum Leben -erweckt, und wenn der Arzt wirklich damit einverstanden ist, hier zu -schlafen, dann ist es am besten so.« - -»Sehen Sie ... Sie ... Sie verstehen mich, weil Sie ein Engel sind!« -rief Rasumichin entzückt aus. »Gehen wir! Nastasja! Schnell herauf und -setze dich mit dem Lichte zu ihm; ich komme in einer Viertelstunde ...« - -Obwohl Pulcheria Alexandrowna nicht ganz überzeugt war, widersetzte sie -sich nicht mehr. Rasumichin bot ihnen beiden seinen Arm und zog sie die -Treppe hinab. Es beunruhigte sie übrigens eins -- »obwohl er flink und -gut ist, kann er aber auch erfüllen, was er verspricht? Er ist doch in -solchem Zustande! ...« - -»Sie haben Angst, weil Sie glauben, daß ich nicht ganz klar im Kopfe -bin!« unterbrach Rasumichin ihren Gedankengang, als ob er ihn erraten -hätte, während er mit Riesenschritten weiterging, ohne zu bemerken, daß -die beiden Damen ihm kaum folgen konnten. »Unsinn! das heißt ... ich bin -wie ein Stück Holz betrunken, aber das hat nichts zu sagen; denn ich bin -nicht vom Wein betrunken. Als ich Sie erblickte, da stieg mir das Blut -zu Kopfe ... Aber pfeifen Sie auf mich! Achten Sie nicht darauf, -- ich -lüge; ich bin Ihrer unwürdig! ... Wenn ich Sie nach Hause gebracht habe, -gieße ich mir schleunigst hier aus diesem Kanal zwei Eimer Wasser über -den Kopf, damit ich wieder zur Besinnung komme ... Wenn Sie nur wüßten, -wie ich Sie beide liebe! ... Lachen Sie nicht und seien Sie mir nicht -böse! ... Seien Sie auf alle böse, aber auf mich sollen Sie nicht böse -sein! Ich bin sein Freund, also bin ich auch Ihr Freund. Ich will es so -... Ich habe es geahnt, ... im vorigen Jahre gab es so einen Augenblick -... Übrigens, ich habe gar nichts geahnt, denn Sie sind wie vom Himmel -gefallen. Ich werde vielleicht auch die ganze Nacht nicht schlafen ... -Dieser Sossimoff fürchtete vorhin, daß er den Verstand verlieren könnte -... Darum muß man ihn nicht reizen ...« - -»Was sagen Sie?« rief die Mutter aus. - -»Hat das der Arzt gesagt?« fragte erschrocken Awdotja Romanowna. - -»Er hat gesagt, aber nicht das, sondern ganz was anderes. Er hat ihm -auch eine Arznei gegeben, ein Pulver, ich habe es gesehen, und da kamen -Sie ... Ach! ... Es wäre besser, Sie wären morgen gekommen! Insofern ist -es gut, daß wir weggingen. Nach einer Stunde wird Ihnen Sossimoff selbst -über alles Rapport erstatten. Sehen Sie, der ist nicht betrunken! Auch -ich wäre nicht betrunken ... Warum aber habe ich so viel getrunken? Wie -sie mich in eine Diskussion hineingebracht haben, die Verfluchten! Ich -habe mir selbst das Versprechen gegeben, nicht zu streiten! ... Nun -redeten sie aber so einen Blödsinn zusammen! Ich habe mich beinahe mit -ihnen geprügelt! Ich habe nun meinen Onkel als Präsidium hinterlassen -... Können Sie es glauben, -- sie verlangen völlige Unpersönlichkeit des -einzelnen und finden darin den Sinn des Lebens! Bloß nicht für sich -selbst sein, möglichst wenig eigenartig sein! Und das halten sie für den -allergrößten Fortschritt. Und wenn sie wenigstens auf eigene Art lügen -würden, so aber ...« - -»Hören Sie,« unterbrach ihn schüchtern Pulcheria Alexandrowna, aber das -brachte ihn noch mehr in Eifer. - -»Ja, was meinen Sie?« rief Rasumichin und erhob seine Stimme noch mehr. -»Meinen Sie, ich rede so, weil sie lügen? Unsinn! Ich liebe es, wenn man -lügt. Das Lügen ist das einzige menschliche Privilegium vor allen -Organismen. Wenn du lügst, -- kommst du zur Wahrheit! Ich bin darum auch -Mensch, weil ich lüge. Keine einzige Wahrheit ist erreicht, ohne daß man -vorher vierzigmal, vielleicht auch hundertundvierzigmal gelogen hat, und -das ist in seiner Art höchst ehrenvoll. Wir aber verstehen nicht einmal, -auf eigene Art zu lügen! Lüge mir vor, aber lüge in deiner Weise, und -ich gebe dir dann einen Kuß. In seiner eigenen Weise zu lügen ist besser -noch als Wahrheit nur aus fremder Quelle; im ersten Falle bist du ein -Mensch, im letzteren bist du bloß ein Papagei. Die Wahrheit wird nicht -fortlaufen, das Leben aber kann man dabei mit Brettern zunageln; wir -haben Beispiele dafür. Nun, was sind wir jetzt? Wir alle, alle ohne -Ausnahme, sitzen in bezug auf Wissenschaft, Entwicklung, Denken, -Erfindungen, Ideale, Wünsche, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und -alles, alles, alles und alles noch in der ganz untersten Klasse des -Gymnasiums! Uns hat es genügt, mit fremder Weisheit auszukommen, -- wir -haben Geschmack daran gefunden! Ist es nicht so? Habe ich recht?« - -»Oh, mein Gott, ich weiß es nicht,« sagte die arme Pulcheria -Alexandrowna. - -»Es ist so, so ... obwohl ich mit Ihnen nicht in allem einverstanden -bin,« fügte Awdotja Romanowna ernst hinzu, aber gleich darauf schrie sie -auf, weil er ihr diesmal zu stark die Hand gedrückt hatte. - -»So? Sie sagen, es sei so? Ach, dann sind Sie ... Sie ...« rief er voll -Entzücken aus. »Sie sind die Quelle der Güte, Reinheit, der Vernunft und -... der Vollkommenheit! Geben Sie mir Ihre Hand, geben Sie ... geben -auch Sie Ihre Hand, ich will Ihnen beiden die Hände küssen, hier, -sofort, auf den Knien!« - -Und er warf sich mitten auf dem Trottoir, das zum Glück leer war, auf -die Knie hin. - -»Hören Sie auf, ich bitte Sie, was machen Sie?« rief die äußerst -betroffene Pulcheria Alexandrowna. - -»Stehen Sie doch auf, stehen Sie doch auf!« lachte Dunja, aber mit einer -gewissen Unruhe. - -»In keinem Falle, Sie müssen erst Ihre Hände gegeben haben! So ist es -gut, nun genug, ich bin aufgestanden und nun wollen wir weitergehen! Ich -bin ein unglückseliger Tolpatsch, ich bin Ihrer unwürdig und bin -betrunken und schäme mich ... Ich bin nicht wert, Sie zu lieben, aber -die Knie vor Ihnen zu beugen ist die Pflicht eines jeden, wenn er nicht -ein vollkommenes Tier ist! Und ich habe vor Ihnen die Knie gebeugt ... -Da sind auch Ihre möblierten Zimmer, und schon ihretwegen allein war -Rodion im Rechte, als er vorhin Ihren Peter Petrowitsch hinauswarf! Wie -durfte er es wagen, Sie in solchen Zimmern unterzubringen? Das ist ein -Skandal! Wissen Sie, wer hier absteigt? Sie sind doch seine Braut! Sie -sind seine Braut, nicht wahr? Und nun sage ich Ihnen, daß Ihr Bräutigam -nach diesem ein Schuft ist!« - -»Hören Sie, Herr Rasumichin, Sie haben vergessen ...« begann Pulcheria -Alexandrowna. - -»Ja, ja, Sie haben recht, ich habe mich vergessen, ich schäme mich!« -rief Rasumichin erschrocken. »Aber ... aber ... aber ... Sie können mir -nicht böse sein, daß ich so rede! Denn ich sage es aufrichtig und nicht -weil ... hm! das wäre gemein; mit einem Worte, nicht weil ich Sie ... -hm! ... nun, also, es ist nicht nötig, ich will nicht sagen, warum, ich -darf es nicht! ... Wir hatten alle vorhin gleich begriffen, als er -hereinkam, daß dieser Mensch nicht zu uns paßt. Nicht weil er mit -gebrannten Locken vom Friseur kam, nicht weil er sich beeilte, seinen -Verstand zu zeigen, sondern weil er ein Aushorcher und Spekulierer ist, -weil er ein Jude und Gauner ist, und das sieht man. Sie denken, er ist -klug? Nein, er ist ein Dummkopf! Nun, paßt er denn zu Ihnen? Oh, mein -Gott! Sehen Sie, meine Damen,« er blieb plötzlich auf der Treppe stehen, -»wenn sie alle bei mir auch betrunken sind, dafür aber sind sie alle -ehrlich, und obgleich wir auch lügen, denn ich lüge auch, aber wir -werden uns schließlich bis zur Wahrheit durchlügen, weil wir auf einem -anständigen Wege gehen, Peter Petrowitsch jedoch ... geht nicht auf -einem anständigen Wege. Ich habe wohl soeben sie alle tüchtig -geschimpft, aber ich achte sie alle; sogar Sametoff, wenn ich ihn auch -nicht achte, so liebe ich ihn doch, denn er ist noch wie ein junger -Hund! Selbst dieses Vieh von Sossimoff, weil er auch ehrlich ist und -seine Sache versteht ... Aber genug, alles ist gesagt und wird -verziehen. Ist es verziehen? Ist es wirklich? Nun, gehen wir. Ich kenne -diesen Korridor, bin hier ein paarmal gewesen; sehen Sie hier, in Nummer -drei, war einmal ein Skandal ... Nun, wo wohnen Sie? Welche Nummer? -Acht? Nun, schließen Sie sich für die Nacht ein, lassen Sie niemand -herein. Nach einer Viertelstunde kehre ich mit einer Nachricht zurück -und dann noch einmal nach einer halben Stunde mit Sossimoff, Sie werden -sehen! Leben Sie wohl, ich springe!« - -»Mein Gott, Dunetschka, was wird geschehen?« sagte Pulcheria -Alexandrowna und wandte sich voll Unruhe und Angst an die Tochter. - -»Beruhigen Sie sich, Mama,« antwortete Dunja, indem sie ihren Hut und -die Mantille abnahm. »Uns hat Gott selbst diesen Mann gesandt, obgleich -er direkt von einer Kneiperei kommt. Man kann sich auf ihn verlassen, -ich versichere Sie. Was hat er alles schon für den Bruder getan ...« - -»Ach Dunetschka, Gott weiß, ob er kommen wird? Wie konnte ich mich dazu -entschließen, Rodja allein zu lassen! ... Und ich habe es mir nicht, -durchaus nicht vorgestellt, ihn so zu finden! Wie ernst er war, als wäre -er um uns nicht froh ...« - -Tränen zeigten sich in ihren Augen. - -»Nein, das ist nicht wahr, Mama. Sie konnten ihn nicht gut sehen, weil -Sie fortwährend weinten. Er ist von einer schweren Krankheit sehr -mitgenommen, -- das ist der ganze Grund.« - -»Ach, diese Krankheit! Was soll noch werden, was soll daraus werden! Und -wie er mit dir sprach, Dunja!« sagte die Mutter und blickte schüchtern -der Tochter in die Augen, um ihre Gedanken zu erraten, und teilweise -schon dadurch getröstet, weil Dunja ihren Bruder in Schutz nahm, somit -ihm verziehen habe. »Ich bin überzeugt, daß er morgen seinen Sinn ändern -wird,« fügte sie hinzu, sie weiter auszuforschen. - -»Und ich dagegen bin überzeugt, daß er auch morgen dasselbe sagen wird -...« schnitt Awdotja Romanowna ab, und man sprach nicht mehr darüber, -denn es berührte einen Punkt, über den jetzt zu sprechen Pulcheria -Alexandrowna sich zu sehr fürchtete. - -Dunja trat an die Mutter heran und küßte sie. Diese umarmte sie -schweigend und innig. Dann setzte sie sich in unruhiger Erwartung -Rasumichins hin, begann scheu die Tochter zu beobachten, die mit -gekreuzten Armen und selbst voll Erwartung in Gedanken versunken im -Zimmer auf und ab ging. Das Auf- und Abgehen in Gedanken war die -Angewohnheit von Awdotja Romanowna, und die Mutter hütete sich immer, -ihr Nachdenken zu stören. - -Rasumichin war selbstverständlich lächerlich mit seiner plötzlichen, in -der Trunkenheit entflammten Leidenschaft zu Awdotja Romanowna. Aber wenn -man Awdotja Romanowna gesehen hatte, besonders jetzt, wo sie mit -gekreuzten Armen, traurig und nachdenklich auf und ab ging, würden -vielleicht viele ihn entschuldigt haben, ganz abgesehen von seinem -exzentrischen Zustande. Awdotja Romanowna war sehr schön, -- -hochgewachsen, wundervoll schlank, kräftig und selbstbewußt, -- das -äußerte sich in jeder ihrer Bewegungen, tat aber der Weichheit und -Grazie derselben in keiner Weise Eintrag. Ihr Gesicht ähnelte dem des -Bruders, man konnte sie mit Recht eine Schönheit nennen. Ihr Haar war -dunkelblond, ein wenig heller als das des Bruders; die Augen waren fast -schwarz, ihr Blick stolz und doch wieder zuweilen von ungewöhnlicher -Güte. Sie war bleich, aber nicht krankhaft; ihr Gesicht hatte vielmehr -die Frische der Gesundheit. Ihr Mund war etwas klein, die Unterlippe, -frisch und rot, stand kaum merklich hervor; ebenso das Kinn, das war -aber auch die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesichte und -verlieh ihm dafür eine besondere Eigentümlichkeit und vielleicht auch -etwas wie Hochmut. Der Ausdruck ihres Gesichtes war in der Regel mehr -ernst und sinnend als fröhlich; wie stand aber dafür ein Lächeln diesem -Gesichte, wie kleidete sie ein lustiges, junges und sorgloses Lachen! Es -war begreiflich, daß der hitzige, offene, schlichte, ehrliche, -reckenhafte und betrunkene Rasumichin, der noch nie etwas Ähnliches -gesehen hatte, beim ersten Blick den Kopf verlor. Außerdem zeigte ihm -der Zufall gleich zuerst Dunja, wie absichtlich, in dem schönen Momente -der Liebe zum Bruder und der Freude des Wiedersehens. Er sah dann, wie -ihre Unterlippe vor Entrüstung gegenüber den ungestümen und undankbar -grausamen Wünschen des Bruders zuckte, -- und er konnte nicht mehr -widerstehen. - -Er hatte übrigens die Wahrheit gesagt, als er vorhin in seiner -Trunkenheit auf der Treppe damit herausplatzte, daß die exzentrische -Wirtin Raskolnikoffs, Praskovja Pawlowna, nicht bloß wegen Awdotja -Romanowna, sondern vielleicht auch wegen Pulcheria Alexandrowna auf ihn -eifersüchtig sein würde. Trotzdem Pulcheria Alexandrowna schon -dreiundvierzig Jahre alt war, wies ihr Gesicht immer noch Zeichen der -früheren Schönheit auf und außerdem erschien sie bedeutend jünger als -sie war, was so oft der Fall ist bei Frauen, die die Klarheit des -Geistes, die Frische der Eindrücke und das ehrliche, reine Feuer des -Herzens bis zum Alter sich bewahrten. Wir wollen in Parenthese -hinzufügen, daß dies zu bewahren das einzige Mittel ist, auch seine -Schönheit bis ins Alter zu behalten. Ihr Haar zwar begann grau und dünn -zu werden, kleine strahlenartige Runzeln hatten sich schon lange um die -Augen gelegt, die Wangen waren eingefallen und vor Kummer und Sorgen -hager geworden, und dennoch war dieses Gesicht schön. Es war Dunetschkas -Abbild, nur zwanzig Jahre älter und ohne den besonderen Ausdruck der -Unterlippe, die bei ihr nicht hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war -empfindsam, aber nicht bis zur Süßlichkeit, sie war schüchtern und -nachgiebig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, -- sie konnte in -vielem nachgeben, konnte mit vielem sich abfinden, selbst wenn es ihrer -Überzeugung widersprach, aber zur Verleugnung der Ehrlichkeit und ihrer -tiefsten Überzeugungen konnten sie keine Umstände bringen. - -Genau nach zwanzig Minuten, seit Rasumichin weggegangen war, wurde -zweimal nicht laut, aber hastig an die Türe geklopft; er war -zurückgekehrt. - -»Ich komme nicht herein, habe keine Zeit!« sagte er hastig, als die Türe -geöffnet wurde. »Er schläft einen Herkulesschlaf, ausgezeichnet, ruhig -und geb's Gott, daß er zehn Stunden fortschläft. Nastasja sitzt bei ihm; -ich habe ihr befohlen, nicht wegzugehen, bis ich zurückgekommen bin. -Jetzt schleppe ich Sossimoff her, er wird Ihnen Rapport erstatten, und -dann legen Sie sich schlafen; ich sehe, Sie sind abgespannt bis zum -äußersten ...« Und er lief den Korridor hinab. - -»Welch ein flinker und ... ergebener junger Mann!« rief die Pulcheria -Alexandrowna außerordentlich erfreut aus. - -»Er scheint ein prächtiger Mensch zu sein!« antwortete Awdotja Romanowna -mit einem gewissen Eifer und begann von neuem im Zimmer hin und her zu -wandern. - -Fast nach einer Stunde vernahm man Schritte auf dem Korridor, und bald -darauf wieder ein Klopfen an der Türe. Beide Frauen warteten, diesmal -vollkommen dem Versprechen Rasumichins vertrauend, -- und er hatte auch -tatsächlich Sossimoff mitgeschleppt. Sossimoff hatte sich sofort bereit -erklärt, das Fest zu verlassen und Raskolnikoff zu besuchen, aber zu den -Damen ging er unwillig und mißtrauisch, da er dem betrunkenen Rasumichin -nicht geglaubt hatte. Seine Eigenliebe war aber sofort beruhigt und er -fühlte sich sogar geschmeichelt, -- er sah, daß man wirklich auf ihn, -wie auf einen Propheten, gewartet hatte. Er blieb genau zehn Minuten und -hatte es verstanden, Pulcheria Alexandrowna vollkommen zu beruhigen. Er -sprach voll ungewöhnlicher Teilnahme, aber zurückhaltend und sehr ernst, -ganz wie ein siebenundzwanzigjähriger Arzt bei einer wichtigen -Konsultation, mit keinem Worte schweifte er vom Gegenstande ab und -zeigte nicht den geringsten Wunsch, mit den Damen in ein persönlicheres -und privates Verhältnis zu kommen. Als er beim Eintritt gesehen hatte, -wie blendend schön Awdotja Romanowna war, vermied er, sie zu beachten -und wandte sich während des ganzen Besuches ausschließlich an Pulcheria -Alexandrowna. Dies alles gewährte ihm eine außerordentliche innere -Genugtuung. Über den Kranken äußerte er, daß er ihn gegenwärtig in -durchaus befriedigendem Zustande gefunden habe. Seinen Beobachtungen -nach, habe die Krankheit des Patienten, außer der schlechten materiellen -Lage in den letzten Monaten, noch einige seelische Ursachen, »sie ist -sozusagen das Resultat vieler komplizierter, moralischer und materieller -Einflüsse, Aufregungen, Sorgen, gewisser Ideen ... und dergleichen«. Als -er zufällig bemerkte, daß Awdotja Romanowna besonders aufmerksam -zuzuhören begann, ging er auf dieses Thema näher ein. Auf die aufgeregte -und schüchterne Frage Pulcheria Alexandrownas, wegen seines »gewissen -Verdachts von geistiger Störung,« antwortete er mit ruhigem und offenem -Lächeln, daß man seine Worte übertrieben habe, daß man bei dem Kranken -wohl eine fixe Idee, etwas, das auf Monomanie deute, konstatieren könne, --- er, Sossimoff, verfolge jetzt besonders diesen äußerst interessanten -Zweig der Medizin, -- aber man dürfe auch nicht vergessen, daß der -Kranke bis heute in fieberhaften Phantasien befangen war, und ... und, -selbstverständlich werde die Ankunft der Verwandten auf ihn kräftigend, -zerstreuend und heilbringend wirken, »wenn nur neue, besondere -Erschütterungen vermieden würden,« fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann -erhob er sich, verabschiedete sich einfach und freundlich, begleitet von -Segnungen, heißer Dankbarkeit und Bitten; das Händchen Awdotja -Romanownas streckte sich sogar, ohne daß er es suchte, zum Abschied ihm -entgegen, und er ging fort, außerordentlich zufrieden mit seinem Besuche -und noch mehr mit sich selbst. - -»Morgen wollen wir weiter sehen; legen Sie sich jetzt unbedingt nieder!« -sagte Rasumichin, indem er mit Sossimoff fortging. »Morgen bin ich -möglichst früh mit einem Rapport bei Ihnen.« - -»Welch ein reizendes kleines Mädchen diese Awdotja Romanowna ist!« -bemerkte Sossimoff und schnalzte mit der Zunge, als sie beide auf die -Straße hinaustraten. - -»Reizend? Du hast reizend gesagt!« brüllte Rasumichin, stürzte sich -plötzlich auf Sossimoff und packte ihn an der Kehle. »Wenn du es noch -einmal wagst ... Verstehst du? Verstehst du?« schrie er, schüttelte ihn -am Kragen und drückte ihn an die Wand. »Hast du gehört?« - -»Laß mich los, betrunkener Teufel!« wehrte sich Sossimoff, blickte ihn -dann, nachdem Rasumichin ihn losgelassen hatte, aufmerksam an und -schüttelte sich plötzlich vor Lachen. - -Rasumichin stand mit gesenkten Armen und in düster ernstem Nachdenken -vor ihm. - -»Selbstverständlich bin ich ein Esel,« sagte er finster, wie eine -Gewitterwolke, »aber auch du ... bist einer.« - -»Nein, Bruder, nein, ich bin keiner. Ich träume nicht von Dummheiten.« - -Sie gingen schweigend weiter und erst, als sie sich der Wohnung -Raskolnikoffs näherten, unterbrach Rasumichin mit sorgenvollem Gesichte -das Schweigen. - -»Höre,« sagte er zu Sossimoff, »du bist ein prächtiger Bursche, aber du -bist, außer all deinen üblen Eigenschaften, noch ein Stromer, das weiß -ich, und außerdem einer von den ärgsten. Du bist ein nervöser, schwacher -Lappen, hast verrückte Anwandlungen, hast Fett angesetzt und kannst dir -nichts versagen, -- und das nenne ich schon gemein, denn es führt zum -Gemeinen. Du hast dich so verwöhnt, daß ich -- offen gesagt, -- nicht im -geringsten verstehe, wie du dabei ein guter und sogar aufopfernder Arzt -sein kannst. Du -- ein Arzt -- schläfst auf einem Pfühle und stehst für -einen Kranken in der Nacht auf! Nach drei Jahren wirst du nicht mehr -wegen eines Kranken aufstehen ... Nun, zum Teufel damit, das ist es -nicht, sondern folgendes, -- du schläfst heute Nacht in der Wohnung der -Wirtin, -- ich habe sie mit Mühe dazu überredet, -- und ich in der -Küche, -- da habt ihr Gelegenheit, einander näher kennenzulernen! Nicht -etwa, wie du meinst, um ...! Davon ist keine Rede!« - -»Ich meine auch gar nichts.« - -»Hier findest du, Bruder, Schamhaftigkeit, Schweigsamkeit, -Schüchternheit, eine gräßliche Keuschheit und dabei -- Seufzer, und sie -schmilzt wie Wachs! Befreie mich von ihr, im Namen aller Teufel in der -Welt! Sie ist sehr ansprechend! ... Ich vergelte es dir, tausendfach -vergelte ich es dir!« - -Sossimoff lachte noch stärker als vorher. - -»Sieh mal, wie du aus dem Häuschen bist! Was soll ich denn mit ihr?« - -»Ich versichere dich, du brauchst dich wenig mit ihr abzugeben, rede -bloß irgendeinen Unsinn, sprich, was du willst, setze dich aber neben -sie und rede frisch drauf los. Du bist ja auch Arzt, fange an, sie zu -behandeln. Ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen. Sie hat ein -Klavier; du weißt, ich klimpere ein bißchen; ich habe bei ihr ein -kleines Lied, ein echtes russisches Lied liegen, >Ich vergieße bittre -Tränen ...< Sie liebt echte Volkslieder, -- nun, mit einem Liede fing es -auch an; und du spielst doch Klavier, wie ein Virtuos, wie ein Meister, -wie Rubinstein ... Ich versichere, du wirst es nicht bereuen! ...« - -»Hast du ihr denn etwas versprochen? Hast du ihr etwas Schriftliches -gegeben? Hast du ihr versprochen, sie zu heiraten ...« - -»Nein, nichts, rein gar nichts! Und sie ist gar nicht so; Tschebaroff -wollte ihr einen Antrag ...« - -»Nun, so laß sie doch laufen!« - -»Man kann sie nicht so ohne weiteres laufen lassen!« - -»Warum denn nicht?« - -»Man kann es nicht tun, und basta! Es ist da etwas, was mich festhält.« - -»Warum hast du sie denn verleitet?« - -»Ich habe sie gar nicht verleitet, ich habe mich selbst vielleicht aus -Dummheit verleiten lassen, ihr aber wird es gleichgültig sein, ob du -oder ich, nur, daß jemand neben ihr sitzt und seufzt. Es ist Bruder ... -Ich kann es dir nicht erklären, es ist ... nun, du kannst doch gut -Mathematik, und beschäftigst dich noch jetzt damit, soviel ich weiß ... -fang an mit ihr die Integralrechnung durchzunehmen, bei Gott, ich -scherze nicht, ich spreche im Ernst, ihr wird es vollkommen gleich sein, --- sie wird dich ansehen und seufzen, und so wird es ein Jahr dauern. -Ich habe ihr unter anderem sehr lange, zwei Tage nacheinander, von dem -Herrenhaus in Preußen erzählt, -- denn was soll man mit ihr reden? -- -sie seufzte bloß und schwitzte! Nur über Liebe sprich nicht, -- sie wird -furchtbar verlegen, -- aber zeige doch, daß du nicht weggehen kannst, -- -das genügt. Es ist sehr komfortabel dort; man ist ganz wie zu Hause, -- -kann lesen, sitzen, liegen oder schreiben ... Man kann sogar einen Kuß -geben, mit Vorsicht jedoch ...« - -»Was soll ich aber mit ihr?« - -»Ach, ich kann dir es nicht erklären. Siehst du, -- ihr paßt -ausgezeichnet zueinander! Ich habe schon früher an dich gedacht ... Du -wirst schon damit enden! Ist es denn dir nicht einerlei, -- ob früher -oder später? Hier ist, Bruder, so etwas wie ein Pfühl, -- ach! und auch -nicht das allein! Hier lockt es einen und zieht, hier ist das Ende der -Welt, hier wirft man den Anker, hat einen stillen Zufluchtsort, -sozusagen das Zentrum der Erde, die Essenz von Pfannkuchen, -Abendsamowars, stillen Seufzern und warmen gestrickten Jacken und -geheizten Ofenbänken -- nun, es ist, als ob du gestorben wärest und -gleichzeitig am Leben bist, von beidem die Vorteile auf einen Schlag! -Nun, Bruder, zum Teufel, ich habe zu viel geschwätzt, es ist Zeit, -schlafen zu gehen! Höre, -- ich wache in der Nacht zuweilen auf, und da -will ich nach ihm sehen. Es ist aber nichts, Unsinn, alles ist gut. -Beunruhige dich nicht besonders, wenn du aber willst, sieh auch mal -nach. Wenn du aber etwas merken solltest, Fieber zum Beispiel oder -Phantasieren oder etwas anderes, weck mich sofort auf. Übrigens, es wird -nichts passieren ...« - - - II. - -Am andern Morgen gegen acht Uhr wachte Rasumichin ernst und sorgenvoll -auf. Eine Menge von neuen und unvorhergesehenen Fragen tauchte in ihm -auf. Er hätte sich's früher nicht träumen lassen, daß er jemals so -aufwachen würde. Er erinnerte sich bis aufs geringste alles gestern -Vorgefallenen und begriff, daß ihm etwas nicht Alltägliches widerfahren -sei; daß er in sich einen ihm bis jetzt völlig neuen Eindruck, der -keinem früheren ähnelte, aufgenommen habe. Gleichzeitig war er sich -vollkommen klar, daß der Traum, der in seinem Kopfe entflammt war, im -höchsten Grade unerfüllbar sei, -- so unerfüllbar, daß er sich seiner -schämte, und er sich schleunigst anderen, alltäglichen Sorgen und -Plagen, die ihm der »verfluchte gestrige Tag« gebracht hatte, zuwandte. - -Die unangenehmste Erinnerung war für ihn, wie »niedrig und gemein« er -sich gestern benommen hatte, nicht allein, weil er betrunken war, -sondern weil er vor dem jungen Mädchen aus dummer übereilter Eifersucht, -ihre Lage ausnutzend, ihren Bräutigam geschimpft hatte, ohne daß er ihr -gegenseitiges Verhältnis und die Verpflichtungen, geschweige denn den -Mann selbst ordentlich kannte. Und welches Recht hatte er, so schnell -und übereilt über ihn zu urteilen? Und wer hatte ihn zum Richter -berufen? Und kann denn solch ein Wesen, wie Awdotja Romanowna, sich -einem unwürdigen Menschen des Geldes wegen hingeben? Also, muß er doch -auch Tugenden haben. Die möblierten Zimmer? Woher sollte er denn in der -Tat erfahren, was für möblierte Zimmer er genommen hatte? Er läßt doch -eine Wohnung instand setzen ... pfui, welche Erniedrigung! War das etwa -eine Entschuldigung, daß er betrunken war? Eine dumme Ausrede, die ihn -noch mehr bloßstellte. Im Weine liegt die Wahrheit, und da hat sich auch -die ganze Wahrheit, »das heißt, der ganze Schmutz seines neidischen, -rohen Herzen«, gezeigt! Ist denn solch eine Idee ihm, Rasumichin, -überhaupt erlaubt? Wer ist er im Vergleiche mit solch einem jungen -Mädchen, -- er, der betrunkene Skandalmacher und gestrige Prahlhans? -»Ist denn so eine zynische und lächerliche Zusammenstellung überhaupt -möglich?« Rasumichin wurde bei diesem Gedanken rot, dazu erinnerte er -sich noch, wie absichtlich, deutlich, daß er ihnen gestern auf der -Treppe erzählt hatte, die Wirtin werde um seinetwillen auf Awdotja -Romanowna eifersüchtig sein ... nein, es war unerträglich. Wütend schlug -er mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich die Hand und schlug -einen Ziegelstein heraus. - -»Gewiß,« -- murmelte er nach einer Weile vor sich hin, im Gefühle seiner -Erniedrigung, -- »gewiß, alle diese Scheußlichkeiten lassen sich nie -mehr beschönigen und verwischen ... also, soll man auch daran nicht -denken, sondern man muß schweigend seine Pflichten erfüllen ... nicht -um Verzeihung bitten, überhaupt nichts sagen, und ... und -selbstverständlich ist jetzt alles verloren!« - -Trotzdem besah er beim Ankleiden seinen Anzug sorgfältiger als sonst. -Einen anderen Anzug besaß er nicht, und wenn er auch einen anderen -gehabt hätte, hätte er ihn vielleicht nicht angezogen, -- »gerade nicht -angezogen«. Auf keinen Fall aber durfte man ein Zyniker und Schmutzfink -bleiben, -- er hatte kein Recht, die Gefühle anderer zu beleidigen, um -so mehr, als sie, die anderen, ihn brauchten und ihn selbst zu sich -riefen. Also bürstete er aufs peinlichste seine Kleider aus. Seine -Wäsche war stets erträglich, darauf hielt er etwas. - -Er wusch sich an diesem Morgen mit großer Sorgfalt, -- bei Nastasja fand -er Seife, -- er wusch sein Haar, den Hals und besonders die Hände. Als -aber die Frage an ihn herantrat, ob er seine Borsten rasieren sollte -oder nicht, -- Praskovja Pawlowna hatte noch von ihrem verstorbenen -Manne, Herrn Sarnitzin, ausgezeichnete Rasiermesser, -- da wurde sie -unbarmherzig abgelehnt, -- »so soll es bleiben! Wenn sie meinen, daß ich -mich rasiert habe, um ... und sie würden es meinen! Nein, ich tue es -nicht, um keinen Preis in der Welt!« - -»Und ... und die Hauptsache ist, daß er so grob, schmutzig ist und -Manieren wie aus der Kneipe hat, und ... und er weiß auch wohl, daß er -nun wenigstens ein bißchen ein anständiger Mensch ist ... nun, was ist -denn da stolz zu sein, daß er ein anständiger Mensch ist? Jeder muß ein -anständiger Mensch sein und mehr ... er aber hat -- das weiß er -- -manches auf dem Kerbholz ... nichts Unehrenhaftes zwar, aber doch -allerlei! ... Und was für Gedanken hatte er gehabt? Hm ... und kann man -denn dies alles auf eine Stufe mit Awdotja Romanowna stellen? Nun, aber -zum Teufel damit! Mag es so bleiben! Ich will absichtlich so schmutzig, -schmierig, wie aus der Kneipe sein, und pfeife auf alles andere! Ich -will es noch mehr zeigen! ...« - -Bei diesen Selbstgesprächen traf ihn Sossimoff an, der in der Wohnstube -von Praskovja Pawlowna geschlafen hatte. Er wollte nach Hause gehen und -sich vorher noch einmal den Kranken ansehen. Rasumichin teilte ihm mit, -daß derselbe wie ein Murmeltier schlafe. Sossimoff ordnete an, ihn nicht -zu wecken, bis er selbst aufwache. Er versprach, in der elften Stunde -wiederzukommen. - -»Wenn er nur zu Hause bleiben wird,« -- fügte er hinzu. -- - -»Pfui, Teufel! Man hat noch nicht einmal Macht über seinen Kranken und -soll ihn behandeln! Weißt du es, geht _er_ zu denen, oder kommen _die_ -hierher?« - -»Ich glaube, die kommen her,« -- antwortete Rasumichin, als er den Zweck -der Frage verstanden hatte, -- »und sie werden sicher über ihre -Familienangelegenheiten sprechen. Ich gehe fort. Du als Arzt hast -selbstverständlich mehr Rechte als ich.« - -»Ich bin doch kein Beichtvater; ich will kommen und sofort weggehen. Ich -habe noch mehr zu tun.« - -»Mich beunruhigt eins,« -- unterbrach ihn Rasumichin mit verdüstertem -Gesichte, -- »ich habe gestern in der Trunkenheit ihm auf dem Wege -hierher allerhand Dummheiten erzählt, -- allerhand ... unter anderem -auch, daß du fürchtest, daß er anscheinend ... zum Irrsinn neige ...« - -»Du hast auch gestern den Damen davon geschwatzt.« - -»Ich weiß, daß es dumm war. Meinetwegen kannst du mich verhauen! Sag' -mir aber, hattest du wirklich daran geglaubt?« - -»Ich sage doch, es ist Scherz gewesen; was soll ich geglaubt haben? Du -hast ihn mir selbst als einen Monomanen geschildert, als du mich zu ihm -brachtest ... Nun, und gestern haben wir noch mehr geschürt, das heißt, -eigentlich du, mit deiner Erzählung ... von dem Anstreicher; ein schönes -Gespräch, wenn vielleicht gerade damit seine Verwirrung zusammenhängt! -Wenn ich alles genau gewußt hätte, was damals im Polizeibureau -vorgefallen war und daß ihn dort irgendeine Kanaille mit diesem Verdacht -... gekränkt hatte, ich hätte gestern ein solches Gespräch nicht -zugelassen. Diese Monomanen machen doch aus einem Tropfen einen Ozean -und sehen die unsinnigsten Dinge deutlich im wachen Zustande ... Wie ich -mich erinnere, ist mir gestern aus der Erzählung von Sametoff schon die -Sache zur Hälfte klar geworden. Das ist noch gar nichts. Ich kenne einen -Fall, wo ein Hypochonder, ein vierzigjähriger Mann, nicht imstande war, -den täglichen Spott eines achtjährigen Knaben bei Tische zu ertragen und -ihn deshalb ermordete! Und hier, er zerlumpt, ein frecher -Polizeikommissar, beginnende Krankheit, und -- so ein Verdacht! Einem -ausgesprochenen Hypochonder gegenüber! Mit einer wahnsinnigen, besonders -ausgeprägten Eigenliebe! Vielleicht sitzt gerade hier der Ausgangspunkt -der Krankheit! Nun, aber zum Teufel! ... Apropos, dieser Sametoff ist -wirklich ein lieber Junge, aber hm ... es war doch überflüssig, daß er -gestern dies alles erzählte. Ein furchtbarer Schwätzer!« - -»Wem hat er denn alles erzählt? Mir und dir!« - -»Und Porphyri.« - -»Nun, was tut denn das?« - -»Hm, sag' mal, hast du irgendeinen Einfluß auf die Mutter und Schwester? -Man müßte heute ihm gegenüber vorsichtiger sein ...« - -»Sie werden sich schon einigen!« -- antwortete Rasumichin unwillig. - -»Und warum ist er so gegen den Luschin? Ein Mensch mit Geld, ihr, wie es -scheint, nicht unangenehm ... und sie haben doch keinen blanken Heller!« - -»Was forschest du mich aus?« -- rief Rasumichin gereizt. -- »Woher soll -ich wissen, ob sie einen Heller haben oder nicht? Frage sie doch selbst, -vielleicht sagen sie es dir ...« - -»Na, wie dumm du zuweilen bist! Der gestrige Rausch sitzt noch in dir -... Auf Wiedersehen! Danke in meinem Namen deiner Praskovja Pawlowna für -das Nachtlager. Sie hat sich eingeschlossen, auf meinen >Guten Morgen< -hat sie durch die Tür geantwortet, war aber um sieben Uhr aufgestanden, -man brachte ihr aus der Küche durch den Korridor den Samowar ... Ich -hatte nicht die Ehre, sie zu sehen ...« - -Punkt neun Uhr erschien Rasumichin in Bakalejeffs »Möbliertem Zimmer«. -Beide Damen erwarteten ihn schon lange mit nervöser Ungeduld. Sie waren -schon vor sieben Uhr aufgestanden. Er trat finster wie die Nacht ein, -machte eine linkische Verbeugung, worüber er sofort ärgerlich wurde -- -selbstverständlich auf sich selbst. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt -gemacht, -- Pulcheria Alexandrowna stürzte buchstäblich zu ihm hin, -erfaßte ihn an beiden Händen und küßte sie beinahe. Er warf einen -schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna, aber auch auf diesem stolzen -Gesichte lag in diesem Augenblicke solch ein Ausdruck von Dankbarkeit -und freundlicher Gesinnung, solch eine vollkommene und unerwartete -Achtung -- (an Stelle von spöttischen Blicken und unwillkürlicher -schlecht verborgener Verachtung) -- daß es ihm tatsächlich angenehmer -gewesen wäre, wenn man ihn mit Scheltworten begrüßt hätte, es war zu -beschämend. Zum Glück gab es ein Thema zur Unterhaltung, und er benutzte -es sofort. - -Als Pulcheria Alexandrowna vernahm, daß er zwar noch nicht aufgewacht, -aber »daß alles ausgezeichnet gehe,« erklärte sie, das wäre sehr gut, -weil sie noch vorher mit ihm, Rasumichin, über sehr, sehr vieles zu -sprechen habe. Er wurde gefragt, ob er schon Tee getrunken habe und dann -eingeladen, mit ihnen den Tee zu trinken, -- sie hatten in Erwartung -Rasumichins noch nicht gefrühstückt. Awdotja Romanowna klingelte, auf -ihr Zeichen erschien ein schmutziger, zerlumpter Kerl, und bei ihm wurde -der Tee bestellt, der auch endlich gereicht wurde, aber so schmutzig und -so unanständig, daß die Damen sich schämten. Rasumichin begann energisch -über diese möblierten Zimmer zu schimpfen, erinnerte sich aber Luschins, -verstummte, wurde verlegen und war sehr froh, als Pulcheria Alexandrowna -ihn mit ihren Fragen nicht mehr losließ. - -Er beantwortete sie alle, sprach drei Viertelstunden lang, wurde -beständig unterbrochen und von neuem befragt, und teilte alles -Hauptsächliche und Notwendige, das er aus dem letzten Jahre kannte, mit, -und schloß mit einer genauen Erzählung von der Krankheit Rodion -Romanowitschs. Er ließ aus, was verschwiegen werden mußte, unter anderem -den Auftritt in dem Polizeibureau mit allen seinen Folgen. Man lauschte -gierig seiner Erzählung; als er aber glaubte, daß er zu Ende sei und -seine Zuhörerinnen befriedigt habe, zeigte es sich, daß er für sie kaum -begonnen zu haben schien. - -»Sagen Sie, sagen Sie mir, wie meinen Sie ... ach, entschuldigen Sie, -ich kenne ja noch nicht einmal Ihren und Ihres Vaters Namen!« -- sagte -Pulcheria Alexandrowna eilig. - -»Dmitri Prokofjitsch.« - -»Also, Dmitri Prokofjitsch, ich möchte sehr gern erfahren ... wie er -überhaupt ... wie er jetzt die Dinge betrachtet, das heißt, verstehen -Sie mich ... wie soll ich es Ihnen erklären, das heißt, besser gesagt, --- was liebt er und was liebt er nicht? Ist er immer so gereizt? Was hat -er für Wünsche und Träume, wenn man so sagen kann? Was hat auf ihn jetzt -einen besonderen Einfluß? Mit einem Worte, ich möchte ...« - -»Ach, Mama, wie kann man denn das alles auf einmal beantworten!« -- -bemerkte Dunja. - -»Ach, mein Gott, ich habe doch nicht, gar nicht erwartet, ihn so zu -finden, Dmitri Prokofjitsch.« - -»Das ist sehr natürlich,« -- antwortete Rasumichin. -- »Ich habe keine -Mutter mehr, aber mein Onkel kommt jedes Jahr hergereist und erkennt -mich jedesmal beinahe nicht mehr, selbst dem äußeren nach nicht, und ist -doch auch ein kluger Mann. Nun, und in den drei Jahren Ihrer Trennung -ist viel Wasser den Berg hinuntergeflossen. Ja, und was soll ich Ihnen -sagen? Anderthalb Jahre kenne ich Rodion, -- er ist verschlossen, -düster, selbstbewußt und stolz; in der letzten Zeit -- vielleicht aber -auch schon früher -- argwöhnisch und hypochondrisch. Dabei großmütig und -gut. Er liebt nicht seine Gefühle zu zeigen, und würde lieber hart -erscheinen, als sein Herz zu offenbaren. Zuweilen erscheint er übrigens -gar nicht hypochondrisch, sondern einfach kalt und gefühllos bis zur -Unmenschlichkeit, als ob in ihm zwei entgegengesetzte Charaktere -abwechselten. Er ist zuweilen schrecklich einsilbig! Er hat nie Zeit, -immer stören ihn die anderen, dabei liegt er still und tut nichts. Er -ist nicht spöttisch, nicht als ob es ihm an Witz mangelte, sondern weil -er keine Zeit für solche Nichtigkeiten übrig hat. Er hört nicht bis zu -Ende, wenn man ihm erzählt. Er interessiert sich nie für Dinge, für die -sich alle im gegebenen Augenblicke interessieren. Er schätzt sich hoch -ein und ich glaube, nicht ohne ein gewisses Recht dazu. Nun, was noch -... Mir dünkt, Ihre Ankunft wird auf ihn einen sehr heilsamen Einfluß -ausüben.« - -»Ach, möge es Gott geben!« -- rief Pulcheria Alexandrowna aus, die durch -die Ansicht Rasumichins über ihren Rodja niedergedrückt war. - -Rasumichin aber blickte endlich Awdotja Romanowna mit etwas mehr Mut an. -Er hatte sie während des Gespräches öfters angesehen, aber nur flüchtig, -auf einen kurzen Augenblick, und wandte immer gleich seine Augen ab. -Awdotja Romanowna setzte sich bald an den Tisch und hörte aufmerksam zu, -bald stand sie wieder auf, begann nach ihrer Gewohnheit mit gekreuzten -Armen und zusammengepreßten Lippen im Zimmer auf und ab zu gehen und -stellte zuweilen Fragen, ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, und in -Gedanken versunken. Auch sie hatte die Gewohnheit, nicht bis zu Ende -zuzuhören. Sie war mit einem dunklen Kleide aus leichtem Stoff -bekleidet, um den Hals war ein weißes durchsichtiges Tüchlein -geschlungen. Aus vielen Anzeichen hatte Rasumichin bald die dürftigsten -Verhältnisse der beiden Frauen ersehen. Wenn Awdotja Romanowna wie eine -Königin gekleidet gewesen wäre, hätte er sich wohl vor ihr gar nicht -gefürchtet; jetzt aber hatte sich vielleicht gerade aus dem Grunde, weil -sie so ärmlich gekleidet war, und weil er die ganze ärmliche Umgebung -bemerkt hatte, in seinem Herzen eine gewisse Scheu eingenistet, und er -ängstigte sich für jedes seiner Worte und für jede Bewegung, was für -einen Menschen, der ohnedem sich nicht traute, sicher unbequem war. - -»Sie haben viel Interessantes über den Charakter meines Bruders erzählt -und ... haben es unparteiisch gesagt. Das ist gut; ich dachte, Sie beten -ihn an,« -- bemerkte Awdotja Romanowna mit einem Lächeln. -- »Es scheint -auch besser, wenn um ihn eine Frau ist,« -- fügte sie nachdenklich -hinzu. - -»Das habe ich nicht gemeint, aber Sie haben vielleicht auch darin recht, -nur ...« - -»Was?« - -»Er liebt doch niemand; vielleicht wird er auch nie lieben,« -- schnitt -Rasumichin ab. - -»Das heißt, er ist unfähig, jemand zu lieben?« - -»Wissen Sie, Awdotja Romanowna, daß Sie Ihrem Bruder auffallend ähnlich -sehen, in allem!« -- platzte er plötzlich heraus, sich selber -überraschend, als er sich aber erinnerte, was er ihr soeben über den -Bruder gesagt hatte, wurde er rot wie ein Krebs und stark verlegen. - -Awdotja Romanowna mußte bei seinem Anblicke laut auflachen. - -»In bezug auf Rodja könntet ihr beide euch irren,« -- sagte Pulcheria -Alexandrowna etwas pikiert. -- »Ich rede nicht von dem jetzigen, -Dunetschka. Das, was Peter Petrowitsch in diesem Briefe schreibt ... und -was wir mit dir voraussetzten, -- kann unwahr sein, aber Sie können sich -nicht vorstellen, Dmitri Prokofjitsch, wie phantastisch er ist und -- -wie soll ich es sagen -- launisch er ist. Ich konnte mich nie auf seinen -Charakter verlassen, selbst als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin -überzeugt, daß er auch jetzt plötzlich irgend etwas tun kann, woran -keiner je dachte ... Wir brauchen nicht weit zu gehen, -- ist es Ihnen -bekannt, wie er vor anderthalb Jahren mich überraschte, erschütterte, ja -fast bis zum Tode erschreckte, als er diese, wie heißt sie doch, -- die -Tochter von dieser Sarnitzin heiraten wollte?« - -»Wissen Sie etwas Näheres über diese Geschichte?« -- fragte ihn Awdotja -Romanowna. - -»Glauben Sie,« -- fuhr Pulcheria Alexandrowna voll Eifer fort, -- »ihn -hätten damals meine Tränen, meine Bitten, meine Krankheit, mein Tod -vielleicht aus Gram, unsere große Armut, zurückgehalten? Er würde über -alle Hindernisse in größter Ruhe hinweggeschritten sein. Aber ist es -möglich, ist es möglich, daß er uns nicht liebt?« - -»Er hat mir nie selbst etwas über diese Geschichte gesagt,« -- -antwortete Rasumichin vorsichtig, -- »aber ich habe einiges von Frau -Sarnitzin selbst gehört, die in ihrer Art auch nicht von den -Mitteilsamen ist, und was ich gehört habe, ist vielleicht ein wenig -seltsam.« - -»Und was, was haben Sie gehört?« -- frugen gleichzeitig beide Frauen. - -»Es ist nichts gar so Besonderes. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die -schon eine vollständig abgemachte Sache war und bloß wegen des Todes der -Braut nicht zustande kam, Frau Sarnitzin selbst sehr mißfiel ... -Außerdem erzählt man, daß die Braut nicht hübsch war, das heißt, man -sagt, sie sei sogar häßlich gewesen ... und sehr kränklich ... und -eigentümlich ... sie hatte aber, wie es scheint, auch ihre Vorzüge. Es -mußten unbedingt irgendwelche Vorzüge dagewesen sein, sonst konnte man -so was nicht verstehen ... Mitgift hatte sie gar keine, und auf Mitgift -hätte er auch nicht gerechnet ... Es ist überhaupt schwer in solch einer -Sache zu urteilen.« - -»Ich bin überzeugt, daß sie ein würdiges junges Mädchen war,« bemerkte -Awdotja Romanowna kurz. - -»Gott wird es mir verzeihen, ich habe mich aber doch über ihren Tod -gefreut, obwohl ich es nicht weiß, wer von ihnen den andern zugrunde -gerichtet hätte, -- er sie oder sie ihn,« schloß Pulcheria Alexandrowna. - -Dann begann sie vorsichtig mit Unterbrechungen, wobei sie ständig Dunja -anblickte, was jener offenbar unangenehm war, wieder über den gestrigen -Auftritt zwischen Rodja und Luschin zu fragen. Dieser Vorfall -beunruhigte sie, wie man merken konnte, am meisten, bis zu Angst und -Zittern. Rasumichin erzählte von neuem alles bis ins einzelne und fügte -diesmal noch seine Ansicht hinzu, -- er beschuldigte Raskolnikoff, daß -er Peter Petrowitsch vorsätzlich gekränkt habe und entschuldigte ihn -sehr wenig durch seine Krankheit. - -»Er hat es sich noch vor der Erkrankung ausgedacht,« -- fügte er hinzu. - -»Das denke ich auch« -- sagte Pulcheria Alexandrowna niedergeschlagen. - -Sie war aber sehr überrascht, daß Rasumichin heute sich so vorsichtig -und mit Achtung über Peter Petrowitsch äußerte. Auch Awdotja Romanowna -war erstaunt. - -»Ist das Ihre Meinung über Peter Petrowitsch?« -- konnte sich Pulcheria -Alexandrowna nicht enthalten zu fragen. - -»Über den künftigen Mann Ihrer Tochter kann ich auch keine andere -Meinung haben,« -- antwortete Rasumichin fest und eifrig. -- »Und ich -sage es nicht aus fader Höflichkeit, sondern weil ... weil ... nun, -sagen wir, aus dem Grunde allein, weil Awdotja Romanowna selbst -freiwillig diesen Menschen mit ihrer Wahl beehrte. Wenn ich ihn aber -gestern so geschimpft habe, so war es, weil ich gestern schmählich -betrunken und außerdem ... ohne Verstand war, ja, ohne Verstand, ich -hatte den Verstand verloren, vollkommen ... und heute schäme ich mich -dessen! ...« Er errötete und verstummte. Auch Awdotja wurde rot, aber -unterbrach nicht das Schweigen. Sie hatte kein einziges Wort seit dem -Augenblicke gesagt, als man über Luschin zu sprechen begann. Und -Pulcheria Alexandrowna war ohne ihre Unterstützung offenbar unschlüssig. -Schließlich sagte sie, stockend und ununterbrochen die Tochter -anblickend, daß ein Umstand sie jetzt außerordentlich beunruhige. - -»Sehen Sie, Dmitri Prokofjitsch,« -- begann sie. »Ich will gegenüber -Dmitri Prokofjitsch vollkommen offen sein, Dunetschka.« - -»Selbstverständlich, Mama,« -- bemerkte Awdotja Romanowna nachdrücklich. - -»Sehen Sie, die Sache ist die,« -- beeilte sie sich nun, ihren Kummer -mitzuteilen, als hätte man ihr durch die Erlaubnis eine schwere Bürde -abgenommen. -- »Heute, in aller Frühe, erhielten wir von Peter -Petrowitsch einen Brief, als Antwort auf unsere gestrige Mitteilung von -unserer Ankunft. Sehen Sie, er sollte uns gestern auf dem Bahnhofe -selbst, wie er auch versprochen hatte, empfangen. - -Anstatt dessen war ein Diener zu unserem Empfang auf den Bahnhof gesandt -worden, mit der Adresse von diesen möblierten Zimmern und um uns den Weg -zu zeigen. Peter Petrowitsch aber ließ uns mitteilen, daß er heute -morgen hier bei uns erscheinen werde. Anstatt dessen kam heute früh -dieser Brief von ihm ... Es ist das beste, Sie lesen ihn selbst; in ihm -ist ein Punkt, der mich sehr beunruhigt ... Sie werden selbst sofort -sehen, welchen Punkt ich meine, und ... sagen Sie mir Ihre aufrichtige -Meinung, Dmitri Prokofjitsch! Sie kennen besser als alle den Charakter -Rodjas und können uns am besten raten. Ich sage Ihnen im voraus, daß -Dunetschka schon alles vom ersten Schritt an beschlossen hat, ich aber, -ich weiß noch nicht, wie ich handeln soll und ... und wartete die ganze -Zeit auf Sie.« - -Rasumichin entfaltete den Brief, der mit dem gestrigen Datum versehen -war, und las folgendes: - -»Sehr verehrte Pulcheria Alexandrowna! - -Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich infolge plötzlich -eingetretener Hindernisse Sie auf dem Bahnsteige nicht empfangen konnte, -ich sandte darum einen gewandten Menschen. Ebenso werde ich auch morgen -früh nicht die Ehre einer Zusammenkunft mit Ihnen haben können, -infolge unaufschiebbarer Angelegenheiten im Senat, und um Ihre -verwandtschaftliche Zusammenkunft mit Ihrem Sohne und Awdotja Romanownas -mit ihrem Bruder nicht zu stören. Ich will mir aber die Ehre nehmen, Sie -spätestens morgen, Punkt acht Uhr abends, aufzusuchen, um Ihnen meine -Aufwartung in Ihrer Wohnung zu machen, wobei ich mir erlaube, eine -inständige und -- ich füge hinzu -- dringende Bitte auszusprechen, daß -bei unserer gemeinsamen Zusammenkunft Rodion Romanowitsch nicht anwesend -sein soll, da er mich bei meinem gestrigen Besuche während seiner -Krankheit beispiellos und schwer gekränkt hat, und weil ich außerdem mit -Ihnen persönlich eine notwendige und ausführliche Erklärung über einen -Punkt haben möchte, über den ich Ihre eigene Deutung zu erfahren -wünsche. Ich habe die Ehre, im voraus mitzuteilen, daß, falls ich, -entgegen meiner Bitte, Rodion Romanowitsch antreffen sollte, ich -gezwungen sein würde, mich zu entfernen, woran Sie allein sich die -Schuld zuzuschreiben hätten. - -Ich schreibe es in der Voraussetzung, daß Rodion Romanowitsch, der bei -meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, nach zwei Stunden -plötzlich genas, ausgehen und also zu Ihnen kommen kann. Ich habe mich -davon mit meinen eigenen Augen überzeugt, als er gestern in der Wohnung -eines von Pferden überfahrenen Trunkenboldes, der an den Verletzungen -gestorben ist, dessen Tochter, einem Mädchen von verrufenem -Lebenswandel, etwa fünfundzwanzig Rubel aushändigte, unter dem Vorwande, -die Kosten der Beerdigung zu tragen, was mich sehr überraschte, weil ich -wußte, mit welcher Mühe Sie diese Summe erhielten. Hierbei übermittele -ich meine besondere Achtung der geehrten Awdotja Romanowna und bitte -Sie, meine achtungsvolle Ergebenheit entgegenzunehmen. - - Ihr untertänigster Diener - P. Luschin.« - -»Was soll ich jetzt tun, Dmitri Prokofjitsch?« -- sagte Pulcheria -Alexandrowna fast weinend. -- »Wie kann ich Rodja zumuten, nicht zu -kommen? Er verlangte gestern so eindringlich die Absage an Peter -Petrowitsch, und nun verlangt man, ihn selber abzuweisen. Ja, er wird -absichtlich kommen, wenn er es erfährt und ... was geschieht dann?« - -»Handeln Sie so, wie Awdotja Romanowna beschlossen hat,« -- antwortete -ruhig und sofort Rasumichin. - -»Ach, mein Gott! Sie sagt ... sie sagt -- Gott weiß was, und erklärt mir -nicht den Zweck! Sie sagt, es würde am besten sein, das heißt, nicht am -besten sein, sondern es sei aus einem Grunde unbedingt nötig, daß auch -Rodja heute um acht Uhr abends bestellt werde, und daß sie unbedingt -hier einander träfen ... Und ich wollte ihm nicht einmal den Brief -zeigen, und es irgendwie durch Ihre Vermittelung einrichten, daß er -nicht herkäme ... denn er ist so gereizt ... Ja, und ich verstehe gar -nicht, was für ein Trunkenbold dort gestorben ist und was das für eine -Tochter ist, und in welcher Weise konnte er dieser Tochter das letzte -Geld abgeben ... das ...« - -»Das Ihnen so teuer zu stehen kam, Mama,« -- fügte Awdotja Romanowna -hinzu. - -»Er war gestern außer sich,« -- sagte Rasumichin nachdenklich. -- »Wenn -Sie erst wüßten, was er gestern in einer Restauration angerichtet hat, -es war ja klug ... hm! Von einem Verstorbenen und von einem Mädchen -sprach er tatsächlich gestern etwas zu mir, als wir nach Hause gingen, -aber ich habe kein Wort verstanden ... übrigens, war ich gestern auch -...« - -»Mama, am besten gehen wir zu ihm hin und dort, versichere ich Sie, -werden wir sofort sehen, was zu tun ist. Und außerdem ist es Zeit, -- -Herrgott! Es ist über zehn Uhr!« -- rief sie aus, nachdem sie einen -Blick auf ihre prachtvolle goldene Uhr mit Emaille warf, die an einer -sehr feinen venetianischen Kette um ihren Hals hing, und mit der übrigen -Kleidung gar nicht harmonierte. - -»Ein Geschenk des Bräutigams,« -- dachte Rasumichin. - -»Ach, es ist Zeit ... es ist Zeit, Dunetschka, es ist Zeit!« -- regte -sich Pulcheria Alexandrowna auf. »Er wird denken, daß wir ihm noch von -gestern her böse sind, weil wir solange nicht kommen. Ach, mein Gott!« - -Indem sie es sagte, warf sie eilig ihre Mantille um und setzte den Hut -auf; auch Dunetschka zog sich an. Ihre Handschuhe waren nicht bloß -abgetragen, sondern sogar zerrissen, wie Rasumichin bemerkte, indessen -verlieh diese augenscheinliche Armut der Kleidung den Damen eine Art -Würde, was immer bei denen der Fall ist, die ein ärmliches Kleid zu -tragen verstehen. Rasumichin blickte voll Ehrfurcht Dunetschka an und -war stolz, daß er sie begleiten durfte. »Die Königin,« -- dachte er im -stillen, -- »die ihre Strümpfe in Gefängnissen stopfte, sah sicher in -jenem Augenblicke wie eine echte Königin aus und königlicher als zur -Zeit der prachtvollsten Feste und Empfänge.« - -»Mein Gott!« -- rief Pulcheria Alexandrowna aus, -- »habe ich je -gedacht, daß ich ein Wiedersehen mit meinem Sohne, mit meinem lieben, -lieben Rodja fürchten werde, wie ich es jetzt tue! ... Ich fürchte mich, -Dmitri Prokofjitsch!« -- fügte sie hinzu und blickte ihn schüchtern an. - -»Fürchten Sie sich nicht, Mama,« sagte Dunja und küßte sie, -- »glauben -Sie besser an ihn. Ich glaube.« - -»Ach, mein Gott! Ich glaube auch, habe aber die ganze Nacht nicht -geschlafen!« -- rief die arme Frau aus. - -Sie traten auf die Straße hinaus. - -»Weißt du, Dunetschka, als ich gegen Morgen erst ein wenig einschlief, -träumte ich plötzlich von der verstorbenen Marfa Petrowna ... sie war -ganz in weiß ... sie kam auf mich zu, nahm mich an der Hand, schüttelte -den Kopf über mich, und so streng, so streng, als ob sie mich verdamme -... Ist das auch ein gutes Zeichen? Ach, mein Gott, Dmitri Prokofjitsch, -Sie wissen es noch nicht, -- Marfa Petrowna ist gestorben!« - -»Nein, ich weiß es nicht. Was für eine Marfa Petrowna?« - -»Nachher, Mama,« -- mischte sich Dunja ein, -- »er weiß ja noch nicht, -wer Marfa Petrowna war.« - -»Ach, Sie wissen es nicht? Und ich dachte, Sie kennen schon alles. -Entschuldigen Sie mich, Dmitri Prokofjitsch, ich verliere in diesen -Tagen völlig den Verstand. Ich sehe Sie wirklich wie unsere Vorsehung -an, und darum war ich auch so überzeugt, daß Sie alles schon kennen. Ich -betrachte Sie wie einen Verwandten ... Seien Sie mir nicht böse, daß ich -so spreche. Ach, mein Gott, was ist mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie -sie verletzt?« - -»Ja, ich habe sie verletzt,« -- murmelte glückselig Rasumichin. - -»Ich spreche zuweilen so offenherzig, daß Dunja mich korrigiert ... -Aber, mein Gott, in was für einer Kammer er lebt! Ist er wohl schon -aufgewacht? Und diese Frau, seine Wirtin, rechnet dies für ein Zimmer? -Hören Sie, Sie sagen, er liebt nicht, sein Herz zu zeigen, so daß ich -vielleicht ihm auch überdrüssig werden kann ... mit meinen Schwächen? -... Können Sie mir nicht sagen, Dmitri Prokofjitsch, wie ich ihm -gegenüber sein soll? Wissen Sie, ich gehe ganz wie verloren umher.« - -»Fragen Sie ihn nicht zu sehr aus, wenn Sie merken, daß er das Gesicht -verzieht; besonders über seine Gesundheit fragen Sie ihn nicht zu viel, -er liebt es nicht.« - -»Ach, Dmitri Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein.« - -»Hier ist die Treppe ... Was für eine schreckliche Treppe ...« - -»Mama, Sie sind so bleich, beruhigen Sie sich, meine Liebe,« -- sagte -Dunja und schmiegte sich an sie, -- »er muß glücklich sein, Sie zu -sehen, und Sie quälen sich so,« -- fügte sie mit funkelnden Augen hinzu. - -»Warten Sie, ich sehe zuerst nach, ob er aufgewacht ist.« - -Die Damen folgten langsam Rasumichin, der vorher die Treppe -hinaufgegangen war, und als sie im vierten Stock an der Türe der Wirtin -vorbei gingen, bemerkten sie, daß die Türe zu deren Wohnung ganz -unbedeutend geöffnet war, und daß zwei schwarze Augen sie beide schnell -in der Dunkelheit betrachteten. Als ihre Blicke sich kreuzten, wurde die -Türe plötzlich zugeschlagen und mit solch einem Knall, daß Pulcheria -Alexandrowna vor Schreck beinahe aufgeschrien hätte. - - - III. - -»Er ist gesund, gesund!« -- rief den Eintretenden Sossimoff fröhlich zu. - -Er war schon vor zehn Minuten gekommen und saß in seiner gestrigen Ecke -auf dem Sofa. Raskolnikoff saß in der andern Ecke ihm gegenüber, -vollkommen angekleidet und frisch gewaschen und gekämmt, was schon lange -nicht mehr vorgekommen war. Das Zimmer war mit einem Male voll, aber -Nastasja fand doch Zeit, den Besuchern zu folgen, um zuzuhören. - -In der Tat, Raskolnikoff war fast gesund, besonders im Vergleiche mit -gestern, er war bloß sehr blaß, zerstreut und düster. Dem Äußeren nach -glich er einem Verwundeten oder einem, der einen starken physischen -Schmerz duldet, -- seine Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen -aufeinander gepreßt und der Blick fieberhaft. Er sprach wenig und -widerwillig, wie mit großer Anstrengung oder als erfülle er eine -Pflicht, und eine Unruhe zeigte sich zuweilen in seinen Bewegungen. - -Es fehlte bloß die Binde um den Arm oder ein Verband um den Finger, um -die völlige Ähnlichkeit mit einem Verletzten vollzumachen. - -Aber dieses bleiche und düstere Gesicht erhellte sich auf einen -Augenblick, als Mutter und Schwester eintraten, aber sein Gesicht nahm -rasch statt der früheren düsteren Zerstreutheit den Ausdruck innerer -Pein an, und Sossimoff, der seinen Patienten mit dem ganzen Eifer des -Anfängers beobachtete und studierte, bemerkte voll Verwunderung, statt -Freude über die Ankunft der Verwandten, die mühsam versteckte -Entschlossenheit, eine mehrstündige Folterqual zu ertragen, die man -nicht umgehen kann. Er sah später, wie fast jedes Wort der -nachträglichen Unterhaltung irgendeine Wunde seines Patienten zu -berühren und aufzuwühlen schien, gleichzeitig aber war er wieder -erstaunt, wie dieser heute verstand, sich zu bemeistern und seine -Gefühle zu verbergen, -- der gestrige Monomane, der wegen des geringsten -Wortes fast in Raserei geriet. - -»Ja, ich sehe jetzt selbst, daß ich fast gesund bin,« sagte -Raskolnikoff, und küßte die Mutter und die Schwester freundlich, worüber -Pulcheria Alexandrowna in Entzücken geriet, »und ich spreche nicht mehr -wie _gestern_,« fügte er hinzu, sich an Rasumichin wendend, und drückte -ihm freundschaftlich die Hand. - -»Ich habe mich heute nicht wenig über ihn gewundert,« begann Sossimoff, -der über die Eingetretenen sehr erfreut war, weil er in den zehn Minuten -den Faden des Gespräches mit seinem Kranken schon verloren hatte. »Nach -drei oder vier Tagen, wenn es so weiter geht, wird alles beim alten -sein, das heißt, wie es vor einem oder zwei Monaten ... vielleicht auch -vor drei Monaten war. Es hat sich doch seit langem vorbereitet und -entwickelt ... ah? Wollen Sie jetzt eingestehen, daß Sie selbst -vielleicht mit daran schuld waren?« fügte er mit einem vorsichtigen -Lächeln hinzu, als fürchte er, ihn schon dadurch zu reizen. - -»Es ist sehr möglich,« antwortete Raskolnikoff kalt. - -»Ich sage es nur aus dem Grunde,« fuhr Sossimoff fort, »weil Ihre -völlige Genesung jetzt hauptsächlich von Ihnen allein abhängt. Jetzt, wo -man mit Ihnen reden kann, möchte ich Ihnen vorhalten, daß es notwendig -ist, die ursprünglichen, sozusagen die Grundursachen zu beseitigen, die -Ihren Krankheitszustand hervorgerufen haben, dann werden Sie auch -genesen, sonst kann es wieder schlimmer werden. Diese ursprünglichen -Ursachen kenne ich nicht, aber Ihnen müssen Sie bekannt sein. Sie sind -ein kluger Mensch und haben sich selbst sicher beobachtet. Mir scheint, -der Anfang Ihrer Krankheit fällt teilweise mit Ihrem Austritt aus der -Universität zusammen. Sie dürfen nicht ohne Beschäftigung sein, und -darum können Arbeit und ein fest vorgenommenes Ziel, wie mich dünkt, -Ihnen von sehr großem Werte sein.« - -»Ja, ja, Sie haben vollkommen recht ... ich will sofort die Universität -besuchen, und dann wird alles ... wie geschmiert gehen ...« - -Sossimoff, der seine klugen Ratschläge teilweise wegen der Wirkung auf -die Damen erteilt hatte, war natürlich verblüfft, als er seine Rede -beendete und auf dem Gesicht seines Zuhörers einen entschieden -spöttischen Ausdruck bemerkte. Das währte übrigens nur einen Augenblick. -Pulcheria Alexandrowna begann sofort, Sossimoff zu danken, besonders für -seinen Nachtbesuch im Hotel. - -»Wie, er ist in der Nacht bei euch gewesen?« fragte Raskolnikoff -anscheinend beunruhigt. »Also habt ihr auch nach der Reise nicht -geschlafen?« - -»Ach, Rodja, das war doch vor zwei Uhr. Wir haben uns auch zu Hause -nicht früher als um zwei Uhr schlafen gelegt.« - -»Ich weiß nicht, wie ich ihm danken soll,« fuhr Raskolnikoff finster -fort und den Blick senkend, »abgesehen von der Geldfrage -- -entschuldigen Sie, daß ich es erwähnte« (er wandte sich an Sossimoff), -»ich weiß gar nicht, wodurch ich so eine besondere Aufmerksamkeit -Ihrerseits verdient habe? Ich verstehe es einfach nicht ... und ... es -lastet auf mir sogar, weil es mir unverständlich ist, -- ich sage es -Ihnen ganz offen --.« - -»Werden Sie nur nicht gereizt,« lachte Sossimoff gezwungen. »Stellen Sie -sich vor, daß Sie mein erster Patient sind, nun, und unsereiner, der -soeben zu praktizieren anfängt, liebt seine ersten Patienten wie eigene -Kinder, und manche sogar verlieben sich in sie. Und ich bin an Patienten -nicht reich.« - -»Ich will gar nicht reden von dem dort,« fügte Raskolnikoff hinzu und -wies auf Rasumichin, »auch er hat außer Kränkungen und Sorgen nichts von -mir erfahren.« - -»Was er faselt! Bist du etwa heute in einer gerührten Stimmung?« rief -Rasumichin. - -Wenn er etwas scharfsinniger gewesen wäre, hätte er gesehen, daß hier -nichts von einer gerührten Stimmung da war, eher das Gegenteil. Awdotja -Romanowna aber hatte es gemerkt. Sie beobachtete durchdringend und voll -Unruhe den Bruder. - -»Von Ihnen, Mama, wage ich nicht zu sprechen,« fuhr er fort, als sage er -etwas vorher auswendig Gelerntes auf. »Heute erst konnte ich -einigermaßen einsehen, wie Sie sich gestern hier in Erwartung meiner -Rückkehr gequält haben müssen.« - -Dann reichte er plötzlich stumm und mit einem Lächeln der Schwester die -Hand. In diesem Lächeln schimmerte ein wahres, unverfälschtes Gefühl. -Dunja erfaßte sofort, erfreut und dankbar, die ausgestreckte Hand und -drückte sie innig. Zum erstenmal wandte er sich an sie nach dem -gestrigen Zerwürfnis. Das Gesicht der Mutter leuchtete vor Entzücken und -Glück beim Anblick dieser endgültigen und wortlosen Aussöhnung zwischen -Bruder und Schwester. - -»Dafür liebe ich ihn!« flüsterte, sich energisch auf dem Stuhle wendend, -Rasumichin, der sich leicht begeisterte. »Er hat solche Regungen! ...« - -»Und wie alles sich bei ihm gut macht,« dachte die Mutter, »was für edle -Regungen er hat, und wie schlicht und zart er das gestrige -Mißverständnis mit der Schwester beseitigt hat -- nur dadurch, daß er -ihr die Hand im richtigen Augenblicke reichte und sie lieb anblickte ... -Und was für schöne Augen er hat und wie schön das ganze Gesicht ist ... -Er ist sogar schöner als Dunetschka ... Aber, mein Gott, was für einen -Anzug hat er an, wie schrecklich ist er gekleidet! Der Markthelfer -Wassja im Laden Atanassi Iwanowitsch ist besser gekleidet! ... Und ich -möchte mich ihm an den Hals werfen und ihn umarmen, und ... weinen -- -aber ich fürchte mich, ich fürchte ... wie er es auffassen könnte, oh -Gott! Er spricht wohl freundlich, aber ich fürchte mich! Nun, warum -fürchte ich mich? ...« - -»Ach, Rodja, du wirst nicht glauben,« beeilte sie sich plötzlich, seine -Bemerkung zu beantworten, »wie wir gestern, ich und Dunetschka ... -unglücklich waren! Jetzt, wo alles vorüber und beendet ist, und wir alle -wieder glücklich sind, -- kann man es sagen. Stell dir vor, wir laufen -hierher, um dich zu umarmen, fast direkt von der Eisenbahn, und diese -Frau, -- ah, da ist sie auch! Guten Tag, Nastasja! ... Sie sagt uns -plötzlich, daß du im starken Fieber liegst und daß du soeben ohne Wissen -des Arztes im Fieber weggelaufen seist, und daß man dich suchen gegangen -sei. Du glaubst nicht, wie das uns traf! Ich stellte mir sofort vor, wie -der Leutnant Potantschikoff, unser Bekannter, ein Freund deines Vaters, --- du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja -- tragisch endete, er -hatte auch starkes Fieber und war in derselben Weise weggelaufen und in -einen Brunnen im Hofe hineingefallen, am anderen Tage erst konnte man -ihn herausziehen. Und wir haben es uns selbstverständlich noch schwärzer -ausgemalt. Wir wollten hinausstürzen und Peter Petrowitsch suchen, um -mit seiner Hilfe wenigstens ... denn wir waren allein, vollkommen -allein,« sagte sie mit kläglicher Stimme und verstummte plötzlich, als -sie sich erinnerte, daß es noch ziemlich gefährlich sei, über Peter -Petrowitsch zu sprechen, ungeachtet dessen, »daß alle schon wieder -vollkommen glücklich sind.« - -»Ja, ja ... das alles ist sicher ärgerlich ...« murmelte Raskolnikoff, -aber mit solch einem zerstreuten und fast unaufmerksamen Ausdrucke, daß -Dunetschka ihn voll Erstaunen ansah. - -»Was wollte ich doch sagen,« fuhr er fort und versuchte sich zu -besinnen, »ja, -- bitte, Mama, und du, Dunetschka, denkt nicht, daß ich -nicht als erster heute zu euch kommen wollte und etwa auf euren Besuch -wartete.« - -»Ja, was fällt dir ein, Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna, die jetzt -auch erstaunte, aus. - -»Weshalb spricht er so konventionell?« dachte Dunetschka. »Er söhnt sich -aus und bittet um Verzeihung, als erfülle er eine Pflicht oder sage das -Gelernte auf!« - -»Ich bin soeben aufgewacht und wollte zu euch gehen, aber mich hielten -meine Kleider auf; ich hatte vergessen, ihr ... Nastasja zu sagen ... -dieses Blut auszuwaschen ... Jetzt, soeben erst habe ich mich -angezogen.« -- - -»Blut! Was für Blut?« sagte Pulcheria Alexandrowna erschrocken. - -»Es ist nichts ... regen Sie sich nicht auf. Das Blut kommt daher, weil -ich, als ich gestern besinnungslos herumirrte, auf einen überfahrenen -Menschen stieß ... auf einen Beamten ...« - -»Besinnungslos? Aber du erinnerst dich an alles,« unterbrach ihn -Rasumichin. - -»Das ist richtig,« antwortete ihm Raskolnikoff mit Bedacht, »ich -erinnere mich an alles, bis auf die geringste Kleinigkeit, aber dennoch, -denk dir, -- warum ich das getan und dort gewesen bin und jenes gesagt -habe, -- kann ich mir nicht erklären.« - -»Das ist eine sehr bekannte Tatsache,« mischte sich Sossimoff ein, -»zuweilen ist die Ausführung einer Sache meisterlich, glänzend, die -Direktion der Handlungen aber, der Ursprung der Handlungen, ist dunkel -und hängt von allerhand krankhaften Empfindungen ab. Es ist wie im -Traume.« - -»Es ist vielleicht gut, daß er mich beinahe für einen Irrsinnigen hält,« -dachte Raskolnikoff. - -»Aber das kann man vielleicht auch von Gesunden sagen,« bemerkte -Dunetschka und sah Sossimoff besorgt an. - -»Ihre Bemerkung ist ziemlich richtig,« antwortete er, »in diesem Sinne -gleichen wir fast alle tatsächlich und sehr oft Verrückten, nur mit dem -kleinen Unterschiede, daß die >Kranken< ein bißchen mehr verrückt sind -als wir, man muß hier eine Grenze festhalten. Einen ganz harmonischen -Menschen aber, -- das ist wahr, -- gibt es fast nicht; auf Zehntausende, -vielleicht aber auch auf viele Hunderttausende findet man einen ...« - -Bei dem Worte »verrückt,« das Sossimoff unvorsichtigerweise -entschlüpfte, als er auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam, verzogen -alle die Gesichter. Raskolnikoff saß in Gedanken und mit einem seltsamen -Lächeln auf den bleichen Lippen da, als schenke er dem keine -Aufmerksamkeit. Er fuhr fort etwas zu erwägen. - -»Nun, was ist mit dem Überfahrenen? Ich habe dich unterbrochen!« rief -schnell Rasumichin. - -»Was?« schien er zu erwachen, »ja ... nun, da habe ich mich mit Blut -beschmutzt, als ich half, ihn in seine Wohnung zu tragen ... Ja, Mama, -ich habe gestern etwas Unverzeihliches getan, -- ich war wirklich nicht -bei Verstand. Ich habe gestern alles Geld, das Sie mir geschickt haben, -... seiner Frau ... zur Beerdigung gegeben. Sie ist jetzt Witwe, eine -schwindsüchtige, beklagenswerte Frau ... drei kleine Kinder, Waisen, -hungrig ... im Hause ist nichts ... und es ist noch eine Tochter da ... -Vielleicht hätten Sie auch selbst gegeben, wenn Sie gesehen hätten ... -Ich hatte übrigens gar kein Recht, ich gestehe es ein, besonders weil -ich weiß, wie Sie dieses Geld sich verschafft haben. Um zu helfen, muß -man erst ein Recht dazu haben, sonst -- >_Crevez, chiens, si vous n'êtes -pas contents_{[3]}<.« Er lachte. »Ist es nicht wahr, Dunja?« - -»Nein, es ist nicht wahr,« antwortete Dunja fest. - -»Bah! Auch du hast ... Ansichten! ...« murmelte er und blickte sie fast -mit Haß an und lächelte spöttisch. »Ich hätte dies in Betracht ziehen -müssen ... Nun, was ist dabei, es ist lobenswert und für dich besser ... -und wenn du bis zu einer Grenze kommst, die du nicht übertreten kannst --- wirst du unglücklich sein, und wenn du sie überschreitest, -- wirst -du vielleicht noch unglücklicher sein ... Übrigens aber, dies ist alles -Unsinn!« fügte er gereizt hinzu, ärgerlich über seine unwillkürliche -Offenheit. »Ich wollte bloß sagen, daß ich Sie, Mama, um Verzeihung -bitte,« schloß er scharf und bündig. - -»Aber Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« sagte -erfreut die Mutter. - -»Seien Sie nicht davon überzeugt,« antwortete er und verzog den Mund zu -einem Lächeln. - -Ein Schweigen trat ein. Etwas Gespanntes lag in diesem ganzen Gespräche -und im Schweigen, wie auch in der Versöhnung und Verzeihung, und alle -fühlten es. - -»Als ob sie sich vor mir fürchteten,« dachte Raskolnikoff und blickte -die Mutter und die Schwester unter der gesenkten Stirn hervor an. - -Pulcheria Alexandrowna wurde immer ängstlicher, je länger sie schwieg. - -»Aus der Ferne schien sie doch zu lieben,« durchzuckte es ihn. - -»Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« platzte plötzlich -Pulcheria Alexandrowna heraus. - -»Was für eine Marfa Petrowna?« - -»Ach, mein Gott, Marfa Petrowna Sswidrigailowa! Ich habe dir so viel -über sie geschrieben.« - -»Ach, ja ich erinnere mich ... also sie ist gestorben? Ach, in der Tat?« -fuhr er plötzlich auf, als sei er erwacht. »Ist sie wirklich gestorben? -Woran denn?« - -»Stell dir vor, ganz plötzlich!« beeilte sich Pulcheria Alexandrowna ihm -zu antworten, ermutigt durch seine Neugier, »und gerade in der Zeit, als -ich dir den Brief schickte, sogar an demselben Tage! Denk dir, dieser -schreckliche Mensch scheint auch die Ursache ihres Todes zu sein. Man -erzählt, er habe sie furchtbar verprügelt!« - -»Leben sie denn in dieser Weise?« fragte er, sich an die Schwester -wendend. - -»Nein, im Gegenteil. Er war ihr gegenüber stets sehr geduldig und -höflich. In vielen Fällen sogar zu duldsam ihrer Art gegenüber, volle -sieben Jahre ... Mit einem Male scheint er die Geduld verloren zu -haben.« - -»Also ist er gar nicht so schrecklich, wenn er sieben Jahre ausgehalten -hat? Du scheinst ihn, Dunetschka, zu entschuldigen?« - -»Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Ich kann mir nichts -Schrecklicheres vorstellen,« antwortete Dunja fast erbebend, zog die -Augenbrauen zusammen und wurde nachdenklich. - -»Es geschah am Morgen,« fuhr Pulcheria Alexandrowna eilig fort. »Dann -befahl sie, sofort anzuspannen, um gleich nach dem Mittagessen in die -Stadt zu fahren, weil sie stets in solchen Fällen in die Stadt fuhr; sie -aß zu Mittag, wie man sagt, mit großem Appetit ...« - -»Verprügelt, wie sie war?« - -»... Sie hatte übrigens auch immer diese ... Angewohnheit, und kaum als -sie gegessen hatte, ging sie, um nicht zu spät abzufahren, sofort in die -Badestube ... Siehst du, sie nahm aus Gesundheitsrücksichten Bäder; sie -haben dort eine kalte Quelle, und sie badete dort jeden Tag, und als sie -ins Wasser stieg, traf sie plötzlich der Schlag!« - -»Kein Wunder,« sagte Sossimoff. - -»Und hat er sie stark verprügelt?« - -»Das ist aber doch gleichgültig,« sagte Dunja. - -»Hm. Übrigens, was haben Sie für ein Vergnügen, Mama, solch einen Unsinn -zu erzählen,« kam es gereizt und plötzlich von den Lippen Raskolnikoffs. - -»Ach, mein Freund, ich wußte nicht mehr, worüber ich sprechen soll,« -sagte Pulcheria Alexandrowna. - -»Ja, was ist das, fürchtet ihr mich etwa?« sagte er mit einem -gezwungenen Lächeln. - -»Das ist wahr,« antwortete Dunja und sah den Bruder offen und streng an. -»Als Mama die Treppe hinaufging, schlug sie sogar ein Kreuz vor Angst.« - -Sein Gesicht verzog sich wie im Krampf. - -»Ach, Dunja, was ist mit dir! Sei nicht böse, Rodja, ich bitte dich ... -Warum hast du das gesagt, Dunja!« sagte Pulcheria Alexandrowna verlegen, -»das ist wahr, als ich hierherreiste, träumte ich den ganzen Weg, wie -wir uns wiedersehen, wie wir einander alles erzählen werden ... und war -so glücklich, daß ich die Reise nicht einmal belästigend fand! Ja, was -sage ich! Ich bin auch jetzt glücklich ... Du hast unrecht, Dunja ... -Ich bin schon allein dadurch glücklich, daß ich dich sehe, Rodja ...« - -»Lassen Sie es, Mama,« murmelte er in Verlegenheit und drückte ihr die -Hand ohne sie anzublicken, »wir werden schon Zeit haben uns -auszusprechen.« - -Nachdem er das gesagt hatte, wurde er wieder verlegen und erbleichte, -- -wieder durchzog eine kurze schreckliche Empfindung in toter Kälte seine -Seele, wieder wurde es ihm plötzlich vollkommen klar, daß er soeben eine -furchtbare Lüge gesagt hatte, daß er nie wieder sich aussprechen könne, -daß er nie mehr, niemals und mit niemandem, überhaupt _sprechen_ dürfe. -Der Eindruck dieses qualvollen Gedankens war so stark, daß er auf einen -Moment sich fast vergaß, von seinem Platze aufstand und ohne jemand -anzublicken, aus dem Zimmer zu gehen im Begriffe war. - -»Was ist dir?« rief Rasumichin und faßte ihn an der Hand. - -Er setzte sich wieder hin und begann sich schweigend umzusehen; alle -blickten ihn befremdet an. - -»Ja, warum seid ihr alle so langweilig!« rief er plötzlich, ganz -unerwartet. »Sagt doch etwas! Warum sitzen wir so herum! Nun, so redet -doch! Wollen wir uns unterhalten ... Sind zusammengekommen und schweigen -... redet doch etwas!« - -»Gott sei dank! Ich dachte, mit ihm geschieht irgend etwas wie gestern,« -sagte Pulcheria Alexandrowna und bekreuzigte sich. - -»Was ist mit dir, Rodja?« fragte Awdotja Romanowna mißtrauisch. - -»Nichts, ich denke gerade an etwas Komisches,« antwortete er und lachte -plötzlich. - -»Nun, wenn es etwas Komisches ist, so ist es gut! Ich dachte beinahe -selbst ...« murmelte Sossimoff und erhob sich vom Sofa. »Ich muß jetzt -gehen; ich komme noch einmal her, vielleicht ... wenn ich Sie antreffe -...« Er verabschiedete sich und ging hinaus. - -»Welch ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna. - -»Ja, er ist prächtig, ausgezeichnet, gebildet, klug ...« sagte plötzlich -Raskolnikoff schnell und mit einer an ihm nicht gewohnten Lebhaftigkeit, -»ich erinnere mich nicht, daß ich ihn vor meiner Krankheit getroffen -hätte ... und doch ist mir, als hätte ich ihn irgendwo schon getroffen -... Dieser da ist auch ein guter Mensch!« er wies mit dem Kopfe auf -Rasumichin, -- »gefällt er dir, Dunja?« fragte er sie und lachte -plötzlich, ohne daß man wußte warum. - -»Er gefällt mir sehr,« antwortete Dunja. - -»Pfui, wie ... gemein du bist!« sagte Rasumichin furchtbar verlegen und -errötend und stand vom Stuhle auf. - -Pulcheria Alexandrowna lächelte ein wenig und Raskolnikoff lachte laut. - -»Wohin willst du denn?« - -»Ich muß auch ... gehen.« - -»Du mußt gar nicht, bleibe hier! Sossimoff ist fortgegangen und da mußt -du auch gehen? Bleib nur. Wieviel Uhr ist es? Ist es schon zwölf? Was du -für eine nette Uhr hast, Dunja! Ja, warum schweigt ihr wieder? Bloß ich, -ich allein rede die ganze Zeit! ...« - -»Die Uhr ist ein Geschenk von Marfa Petrowna,« antwortete Dunja. - -»Und eine sehr teure Uhr,« fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. - -»So--o! Wie groß ist sie, fast keine Damenuhr mehr.« - -»Ich habe solche gern,« sagte Dunja. - -»Also, es ist kein Geschenk vom Bräutigam,« dachte Rasumichin und wurde -froh darüber. - -»Ich dachte, sie ist ein Geschenk von Luschin,« bemerkte Raskolnikoff. - -»Nein, er hat Dunetschka noch nichts geschenkt.« - -»So--o! Erinnern Sie sich noch, Mama, daß ich verliebt war und heiraten -wollte,« sagte er plötzlich und sah die Mutter an, die von der -unerwarteten Bemerkung und dem Tone, mit dem er sprach, betroffen war. - -»Ach, mein Freund, ja ich erinnere mich!« Pulcheria Alexandrowna -wechselte mit Dunetschka und Rasumichin einen Blick. - -»Hm! Ja! Was soll ich Ihnen erzählen? Ich erinnere mich dessen ganz -wenig. Sie war ein sehr krankes Mädchen,« fuhr er fort, anscheinend -wieder in Gedanken versunken und mit gesenktem Blicke, »ganz krank war -sie; sie liebte Almosen zu geben und träumte immer vom Kloster, und -einmal weinte sie arg, als sie mir davon erzählte. Ja, ja ... ich -erinnere mich ... ich erinnere mich dessen gut. Sie sah so ... häßlich -aus. Ich weiß wirklich nicht, warum ich damals eine Neigung zu ihr -faßte, vielleicht weil sie immer krank war ... Wäre sie noch lahm oder -buckelig gewesen, ich hätte sie dann, glaube ich, noch mehr geliebt ...« -(er lächelte nachdenklich). »Es war so ... ein Frühlingstraum ...« - -»Nein, es war nicht allein ein Frühlingstraum,« sagte Dunetschka innig. - -Er blickte aufmerksam und durchdringend die Schwester an, ohne ihre -Worte recht gehört oder gar verstanden zu haben. Dann stand er in tiefem -Nachdenken auf, trat an die Mutter heran, küßte sie, kehrte auf seinen -Platz zurück und setzte sich wieder. - -»Du liebst sie auch jetzt noch!« sagte Pulcheria Alexandrowna gerührt. - -»Sie? Jetzt? Ach ja ... Sie meinen sie! Nein. All das ist jetzt wie aus -einer anderen Welt ... und so lange her. Ja und alles, was hier rings um -mich geschieht, ist, als geschähe es nicht hier ...« - -Er blickte sie aufmerksam an. - -»Auch euch ... ich sehe euch, wie tausend Werst weit von hier ... Ja, -und zum Teufel, warum sprechen wir darüber! Und warum fragt ihr mich -aus?« fügte er ärgerlich hinzu und verstummte, kaute an den Fingernägeln -und wurde von neuem nachdenklich. - -»Wie schlecht deine Wohnung ist, Rodja, sie ist wie ein Sarg,« sagte -plötzlich Pulcheria Alexandrowna, das peinliche Schweigen unterbrechend, -»ich bin überzeugt, daß zur Hälfte dich diese Wohnung zu einem -Melancholiker gemacht hat.« - -»Die Wohnung? ...« antwortete er zerstreut. »Ja, diese Wohnung hat viel -dazu beigetragen ... ich habe es auch gedacht ... Wenn Sie aber wüßten, -welchen merkwürdigen Gedanken Sie soeben aussprachen,« fügte er -plötzlich hinzu und lächelte eigentümlich. - -Noch ein Weniges, und diese Gesellschaft, seine nächsten Verwandten, die -er nach dreijähriger Trennung wiedersah, und diese Art von Gesprächen, -die kein Thema festzuhalten vermochten, mußten ihm schließlich ganz -unerträglich werden. Es gab jedoch noch eine unaufschiebbare -Angelegenheit, die heute noch, so oder so, aber unbedingt entschieden -werden sollte, -- so hatte er vorhin schon, als er erwachte, -beschlossen. Jetzt freute er sich darüber, wie über einen Ausweg. - -»Höre, Dunja,« begann er ernst und trocken, »ich bitte -selbstverständlich wegen des Gestrigen um Verzeihung, aber ich halte es -für meine Pflicht, dich noch einmal zu erinnern, daß ich von meinem -Hauptverlangen nicht zurücktrete. Entweder ich oder Luschin. Mag ich ein -Schuft sein, du aber darfst es nicht werden. Einer allein. Wenn du -Luschin heiratest, höre ich sofort auf, dich als meine Schwester -anzusehen.« - -»Rodja, Rodja! Das ist doch dasselbe wie gestern,« rief Pulcheria -Alexandrowna kummervoll aus, »und warum nennst du dich immer einen -Schuft, ich kann es nicht ertragen! Auch gestern war dasselbe ...« - -»Bruder,« antwortete Dunja fest und ebenso trocken, »in alledem liegt -ein Irrtum deinerseits. Ich habe es heute überlegt und den Irrtum -gefunden. Die Hauptsache ist, daß du, wie es mir scheint, denkst, ich -bringe mich jemandem und um jemandes willen zum Opfer. Das ist nicht -richtig. Ich heirate nur meinethalben, weil mir das Leben so zu führen -selbst schwer fällt; dann aber will ich auch sicher froh sein, wenn es -mir gelingen sollte, meinen Verwandten nützlich zu sein, zu meinem -Entschlusse aber ist dies nicht der hauptsächlichste Beweggrund ...« - -»Sie lügt!« dachte er und kaute vor Wut an seinen Nägeln. »Sie ist -stolz! Sie will es nicht eingestehen, daß sie Wohltaten erweisen möchte! -Oh, diese niedrigen Charaktere! Sie lieben, als haßten sie ... Oh, wie -ich sie alle ... hasse!« - -»Mit einem Worte, ich heirate Peter Petrowitsch,« fuhr Dunetschka fort, -»weil ich von zwei Übeln das kleinste wähle. Ich habe die Absicht, alles -ehrlich zu erfüllen, was er von mir erwartet, also betrüge ich ihn nicht -... Warum lächelst du jetzt?« - -Sie errötete und in ihren Augen blitzte der Zorn. - -»Du willst alles erfüllen?« fragte er mit einem giftigen Lächeln. - -»Bis zu einer gewissen Grenze. Die Art und die Form des Antrages von -Peter Petrowitsch haben mir sofort gezeigt, was er braucht. Er schätzt -sich gewiß vielleicht zu hoch ein, aber ich hoffe, daß er auch mich -schätzt ... Warum lachst du wieder?« - -»Und warum errötest du wieder? Du lügst, Schwester, du lügst bewußt, -bloß aus weiblichem Eigensinn, um nur auf deinem Willen vor mir zu -bestehen ... Du kannst Luschin nicht achten, -- ich habe ihn gesehen und -mit ihm gesprochen. Also, verkaufst du dich für Geld und also handelst -du in jedem Falle niedrig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch -erröten kannst!« - -»Es ist nicht wahr, ich lüge nicht! ...« rief Dunetschka, ihre ganze -Kaltblütigkeit verlierend, »ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht -überzeugt wäre, daß er mich schätzt und auf mich etwas gibt; ich würde -ihn nicht heiraten, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß ich ihn -selbst achten kann. Zum Glück kann ich mich davon sicher und heute noch -überzeugen. Und solch eine Heirat ist keine Schuftigkeit, wie du sagst! -Und wenn du auch recht hättest, wenn ich tatsächlich mich zu einer -Schuftigkeit entschlossen hätte, -- ist es dann nicht grausam von dir, -so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir ein Heldentum, das du -vielleicht selbst nicht hast? Das ist Despotismus, das ist -Gewalttätigkeit! Wenn ich jemand zugrunde richte, doch höchstens mich -selbst ... Ich habe noch niemanden getötet ... Warum schaust du mich so -an? Warum bist du so bleich geworden? Rodja, was ist dir? Rodja, lieber -...« - -»Herrgott! Sie hat ihn bis zur Ohnmacht gebracht!« -- rief Pulcheria -Alexandrowna aus. - -»Nein, nein ... das ist Unsinn ... es ist nichts! ... Der Kopf -schwindelt mir nur ein wenig. Es ist keine Ohnmacht ... Ihr wittert -überall Ohnmachten ... Hm! ja ... was wollte ich sagen? Ja, -- wie -willst du dich heute überzeugen, daß du ihn achten kannst, und daß er -dich ... schätzt etwa, wie du sagtest? Du sagtest, schien mir, heute? -Oder habe ich mich verhört?« - -»Mama, zeigen Sie dem Bruder den Brief von Peter Petrowitsch,« -- sagte -Dunetschka. - -Pulcheria Alexandrowna reichte ihm mit zitternden Händen den Brief. Er -nahm ihn mit großer Neugierde. Ehe er ihn aber öffnete, blickte er -plötzlich verwundert Dunetschka an. - -»Sonderbar,« -- sagte er langsam, als wäre er durch einen neuen Gedanken -überrascht, »warum rege ich mich so auf? Warum dieses ganze Geschrei? -Heirate, wen du willst!« - -Er sagte es scheinbar für sich selbst, sprach es aber laut aus und -blickte eine Weile die Schwester wie verblüfft an. - -Er öffnete endlich den Brief, wobei er immer noch den Ausdruck einer -seltsamen Verwunderung behielt; dann begann er langsam und aufmerksam zu -lesen und las den Brief zweimal. Pulcheria Alexandrowna war in großer -Unruhe, auch die anderen erwarteten etwas Besonderes. - -»Mich wundert es,« -- begann er nach einigem Nachdenken und gab den -Brief der Mutter zurück, wandte sich aber zu keinem einzelnen, -- »er -führt doch Prozesse, ist Advokat, und seine Weise zu sprechen hat auch -so einen ... Anstrich, -- aber wie ungebildet er schreibt.« Alle rührten -sich, das hatten sie nicht erwartet. - -»Sie schreiben doch alle so,« -- bemerkte Rasumichin kurz. - -»Hast du den Brief gelesen?« - -»Ja.« - -»Wir haben ihn gezeigt, Rodja, wir ... haben vorhin uns beratschlagt,« --- begann Pulcheria Alexandrowna verlegen. - -»Es ist eigentlich der Gerichtsstil,« -- unterbrach Rasumichin, -- -»Gerichtspapiere werden heute noch so geschrieben.« - -»Gerichtsstil? Ja, wirklich, Gerichtsstil, Geschäftsstil ... Er ist -nicht ganz ungebildet geschrieben und auch nicht sehr literarisch; ein -Geschäftsbrief!« - -»Peter Petrowitsch verheimlicht auch nicht, daß er wenig gelernt hat, -und ist sogar stolz darauf, daß er seinen Weg selbst gemacht hat,« -- -bemerkte Awdotja Romanowna, neuerlich durch den Ton des Bruders -gekränkt. - -»Nun, wenn er stolz darauf ist, hat er auch ein Recht dazu, -- ich -widerspreche nicht. Du, Schwester, scheinst gekränkt zu sein, daß ich -aus dem ganzen Brief nur so eine frivole Schlußfolgerung gezogen habe, -und meinst, daß ich absichtlich über solche Kleinigkeiten gesprochen -habe, um mich über dich aus Ärger lustig zu machen. Im Gegenteil, mir -kam in bezug des Stils ein in diesem Falle nicht ganz überflüssiger -Gedanke. In dem Briefe ist ein Ausdruck -- >woran Sie allein sich die -Schuld zuzuschreiben hätten<, der sehr bedeutungsvoll und klar -hingesetzt ist, und außerdem enthält der Brief die Drohung, daß er -sofort fortgehen werde, wenn ich hinkomme. Diese Drohung fortzugehen, -ist gleichbedeutend der Drohung, euch beide zu verlassen, wenn ihr -unfolgsam sein werdet, und gerade jetzt zu verlassen, wo er euch nach -Petersburg gebracht hat. Nun, was meinst du, -- kann man durch solch -einen Ausdruck seitens Luschins ebenso gekränkt sein, wie wenn er es -geschrieben hätte« -- (er zeigte auf Rasumichin) -- »oder Sossimoff oder -einer von uns?« - -»N--nein,« -- antwortete Dunetschka, -- »ich habe sehr gut verstanden, -daß es zu naiv ausgedrückt ist, und daß er vielleicht bloß nicht -versteht zu schreiben ... Das hast du gut beurteilt, Bruder. Ich habe -das nicht mal erwartet ...« - -»Das ist in Gerichtssprache ausgedrückt und im Gerichtsstil kann man es -anders nicht schreiben, und es ist gröber herausgekommen, als er -vielleicht wollte. Übrigens, ich muß dich ein wenig enttäuschen, -- in -diesem Briefe gibt es noch eine Äußerung, eine Verleumdung in bezug auf -mich, und eine ziemlich gemeine. Ich habe das Geld gestern der Witwe, -einer schwindsüchtigen und niedergeschmetterten Frau, gegeben, und nicht -unter dem Vorwande, die Beerdigungskosten zu tragen, sondern einfach zur -Beerdigung, auch nicht der Tochter, -- einem Mädchen, wie er schreibt, ->von verrufenem Lebenswandel< -- und die ich gestern zum ersten Male in -meinem Leben gesehen habe, sondern tatsächlich der Witwe. In diesem -allen sehe ich den zu eiligen Wunsch, mich mit Schmutz zu bewerfen und -mit euch zu verzwisten. Es ist wiederum in der Gerichtssprache -ausgedrückt, das heißt mit einer zu deutlichen Klarlegung des Zweckes -und einer sehr naiven Eile. Er ist ein kluger Mann, aber um klug zu -handeln genügt nicht, nur Verstand zu haben. Dies alles zeigt den -Menschen und ... ich glaube nicht, daß er dich hochschätzt. Ich teile es -dir nur zur Belehrung mit, denn ich wünsche aufrichtig dein Gutes ...« - -Dunetschka antwortete nicht; ihr Entschluß war schon vorhin gefaßt, sie -erwartete bloß den Abend. - -»Wie entschließt du dich denn, Rodja?« -- fragte Pulcheria Alexandrowna, -noch mehr beunruhigt als vorhin, durch den plötzlichen, neuen, -_geschäftlichen_ Ton seiner Rede. - -»Was heißt -- entschließest du dich?« -- - -»Peter Petrowitsch schreibt doch, daß du heute abend nicht bei uns sein -sollst, und daß er fortgehen werde ... wenn du doch kommen solltest. -Also, wie ... wirst du kommen?« - -»Die Entscheidung hierüber kommt doch selbstverständlich nicht mir, -sondern erstens Ihnen zu, wenn Sie dieses Verlangen von Peter -Petrowitsch nicht kränkt, und zweitens Dunja, wenn sie sich auch nicht -gekränkt fühlt. Und ich will handeln, wie es für sie am besten ist,« -- -fügte er trocken hinzu. - -»Dunetschka hat schon beschlossen, und ich bin mit ihr völlig -einverstanden,« -- beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu bemerken. - -»Ich habe beschlossen, dich, Rodja, zu bitten, eindringlich zu bitten, -unbedingt bei dieser Zusammenkunft zugegen zu sein,« -- sagte Dunja, -- -»willst du kommen?« - -»Ich will kommen.« - -»Auch Sie bitte ich, bei uns um acht Uhr zu sein,« -- wandte sie sich an -Rasumichin, -- »Mama, ich fordere ihn auch auf.« - -»Sehr gut, Dunetschka. Nun, wie ihr beschlossen habt, möge es bleiben,« --- fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. -- »Und für mich ist es auch -leichter; ich liebe nicht, mich zu verstellen und zu lügen; besser -wollen wir die ganze Wahrheit sagen ... Mag Peter Petrowitsch jetzt böse -sein oder nicht!« - - - IV. - -In diesem Augenblicke wurde die Türe leise geöffnet und ins Zimmer trat, -sich schüchtern umblickend, ein junges Mädchen herein. Alle wandten sich -mit Erstaunen und Neugier zu ihr um. Raskolnikoff erkannte sie nicht -gleich auf den ersten Blick. Es war Ssofja Ssemenowna Marmeladowa. -Gestern hatte er sie zum ersten Male gesehen, aber in solch einem -Augenblicke, in solcher Umgebung und solch einem Aufzuge, daß in seiner -Erinnerung das Bild einer ganz anderen Person haften geblieben war. -Jetzt war es ein einfach und sogar ärmlich angezogenes Mädchen, noch -sehr jung, fast einem Kinde ähnlich, mit bescheidenem und anständigem -Wesen, und mit einem klaren, aber anscheinend verängstigten Gesichte. -Sie hatte ein sehr einfaches Hauskleid an und auf dem Kopfe einen alten -Hut von früherer Mode; nur in den Händen trug sie den Sonnenschirm von -gestern. Als sie plötzlich ein Zimmer voll Menschen erblickte, wurde sie -nicht bloß verlegen, sondern verlor die Fassung und ward verzagt wie ein -kleines Kind, und machte sogar eine Bewegung, als wollte sie wieder -gehen. - -»Ach ... Sie sind es? ...« sagte Raskolnikoff außerordentlich -verwundert, und wurde plötzlich selbst verlegen. Er dachte sofort daran, -daß die Mutter und die Schwester aus dem Briefe Luschins schon etwas von -einem gewissen Mädchen »von verrufenem Lebenswandel« wußten. Soeben -hatte er noch gegen die Verleumdung Luschins protestiert und erwähnt, -daß er dieses Mädchen zum ersten Male gesehen habe, und plötzlich tritt -sie selbst ein. Er erinnerte sich auch, daß er gar nicht gegen den -Ausdruck -- »von verrufenem Lebenswandel« protestiert habe. Dies alles -durchzog unklar und flüchtig seinen Kopf. Als er aber aufmerksamer -hinblickte, sah er, wie gedrückt dieses erniedrigte Wesen war, und sie -tat ihm plötzlich leid. Als sie aber im Schreck sich anschickte -wegzulaufen, schlug seine Stimmung um. - -»Ich habe Sie nicht erwartet,« -- sagte er hastig und hielt sie mit -seinem Blicke zurück. -- »Setzen Sie sich bitte. Sie kommen sicher im -Auftrage Katerina Iwanownas. Erlauben Sie, setzen Sie sich nicht -hierhin, sondern dorthin« ... Bei Ssonjas Eintritt war Rasumichin, der -auf einem der drei Stühle Raskolnikoffs gerade neben der Türe gesessen -hatte, aufgestanden, um ihr zum Hereingehen Platz zu machen. Zuerst -wollte ihr Raskolnikoff den Platz in der Ecke des Sofas anbieten, wo -Sossimoff gesessen hatte, aber es fiel ihm ein, daß dieses Sofa ein zu -_familiärer_ Platz sei, ihm als Bett diene und beeilte sich, ihr den -Stuhl Rasumichins anzubieten. - -»Und du setzt dich hierher,« -- sagte er zu Rasumichin und wies ihn in -die Ecke, wo Sossimoff gesessen hatte. - -Ssonja setzte sich, fast zitternd vor Angst, und blickte schüchtern auf -die beiden Damen. Man sah, daß sie selbst nicht begriff, wie sie sich -neben sie hinsetzen konnte. Als es ihr bewußt wurde, erschrak sie so, -daß sie wieder aufstand und sich in völliger Verwirrung an Rasumichin -wandte. - -»Ich ... ich ... bin nur auf einen Augenblick gekommen, verzeihen Sie, -daß ich Sie gestört habe,« -- sagte sie stockend. - -»Ich komme im Auftrage Katerina Iwanownas, sie hatte sonst niemanden zum -Schicken ... Und Katerina Iwanowna läßt Sie sehr bitten, zu der -Totenmesse morgen früh ... zu kommen. Nach dem Gottesdienst ... auf dem -Mitrofaniewschen Friedhof und nachher bei uns ... bei ihr ... zu essen -... Ihr die Ehre zu erweisen ... Sie läßt Sie bitten.« - -Sie stockte und verstummte. - -»Ich will es unbedingt versuchen ... unbedingt,« -- antwortete -Raskolnikoff, indem er sich auch erhob, ebenso stockte und nicht -ausredete. -- »Bitte, tun Sie mir den Gefallen, setzen Sie sich,« -- -sagte er plötzlich, -- »ich muß mit Ihnen sprechen. Bitte, -- Sie haben -es vielleicht eilig, -- tun Sie mir aber den Gefallen und schenken Sie -mir nur noch zwei Minuten ...« und er schob ihr den Stuhl hin. Ssonja -setzte sich wieder, und wieder warf sie schüchtern und verstört einen -schnellen Blick auf die beiden Damen und senkte sogleich wieder die -Augen. - -Das bleiche Gesicht Raskolnikoffs errötete; er schien wie umgewandelt, -seine Augen funkelten. - -»Mama,« -- sagte er fest und eindringlich, -- »das ist Ssofja Ssemenowna -Marmeladowa, die Tochter des unglücklichen Herrn Marmeladoff, der -gestern vor meinen Augen vom Pferde zu Boden getreten wurde, was ich -Ihnen schon erzählt habe ...« - -Pulcheria Alexandrowna blickte nach Ssonja und kniff ein wenig die Augen -zusammen. Trotz ihrer Verlegenheit vor dem eindringlichen und -herausfordernden Blicke Rodjas konnte sie sich dieses Vergnügen nicht -versagen. Dunetschka sah ernst und unverwandt dem armen Mädchen ins -Gesicht und betrachtete sie unschlüssig. Als Ssonja diese Vorstellung -hörte, erhob sie die Augen auf einen Augenblick und wurde noch mehr -verlegen. - -»Ich wollte Sie fragen,« -- wandte sich Raskolnikoff schnell zu ihr, -- -»wie hat sich heute alles bei Ihnen gemacht? Hat man sie nicht -belästigt? ... Zum Beispiel die Polizei.« - -»Nein, alles ging glatt ... Es war doch deutlich zu sehen, woran er -gestorben ist; man hat uns weiter nicht belästigt, nur die Mieter sind -böse.« - -»Warum?« - -»Weil die Leiche so lange steht ... jetzt ist es doch heiß, es gibt -einen Geruch ... so daß man die Leiche heute zur Abendmesse auf den -Friedhof tragen wird, und läßt sie dort bis morgen in der Kapelle -stehen. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht, jetzt aber sieht sie -selbst ein, daß es so besser ist ...« - -»Also heute?« - -»Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen, morgen bei der Totenmesse in -der Kirche zu sein, und dann bei ihr zu essen.« - -»Sie gibt zu seinem Andenken ein Essen?« - -»Ja, einen Imbiß; sie läßt Ihnen sehr danken, daß Sie gestern uns -geholfen haben ... ohne Sie wäre gar nichts da, womit man ihn hätte -beerdigen können.« - -Ihre Lippen und ihr Kinn bebten plötzlich, aber sie nahm sich zusammen, -hielt an sich, und senkte wieder die Augen zu Boden. - -Während des Gespräches schaute sie Raskolnikoff unverwandt an. Sie hatte -ein zartes, ganz mageres und blasses Gesichtchen, ziemlich unregelmäßige -Züge, mit einer spitzen kleinen Nase und ebensolchem Kinn. Man konnte -sie nicht einmal hübsch nennen, aber ihre blauen Augen waren so klar, -und, wenn sie sich belebten, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes so gut -und schlicht, daß sie einen unwillkürlich anzog. In ihrem Gesichte und -auch in ihrer ganzen Gestalt lag außerdem etwas besonders -Charakteristisches, -- trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie jünger aus als -sie war, fast wie ein Kind, und dies zeigte sich zuweilen in gelungener -Weise bei einigen ihrer Bewegungen. - -»Aber wie konnte denn Katerina Iwanowna mit so wenig Mitteln auskommen, -und hat dazu noch die Absicht, ein Essen zu geben?« ... fragte -Raskolnikoff, bestrebt, das Gespräch fortzuführen. - -»Der Sarg ist einfach ... und alles ist einfach, so daß es nicht teuer -kommt ... wir haben vorhin mit Katerina Iwanowna alles ausgerechnet, es -bleibt noch so viel übrig, um sein Andenken zu ehren ... und Katerina -Iwanowna möchte das so sehr gern. Man kann nichts dagegen sagen ... ihr -ist es ein Trost ... so ist sie nun, Sie wissen doch ...« - -»Ich verstehe, verstehe ... Selbstverständlich ... Warum betrachten Sie -so mein Zimmer? Meine Mama sagt auch, daß es einem Sarge ähnelt.« - -»Sie haben gestern uns alles gegeben!« -- sagte plötzlich Ssonjetschka -leise und hastig, und schlug wieder die Augen nieder. - -Ihre Lippen und ihr Kinn bebten wieder. Sie war längst schon von der -ärmlichen Umgebung Raskolnikoffs überrascht, und jetzt waren ihr diese -Worte entschlüpft. Es trat Schweigen ein. Dunetschkas Augen schienen zu -leuchten, und Pulcheria Alexandrowna blickte Ssonja freundlich an. - -»Rodja,« -- sagte sie, sich erhebend, -- »wir essen selbstverständlich -zusammen zu Mittag. Dunetschka, komm ... Rodja, du solltest ausgehen, -etwas spazieren gehen, dann dich ausruhen, hinlegen, und dann kommst du -zu uns ... Ich fürchte, wir haben dich ermüdet ...« - -»Ja, ja, ich will kommen,« -- antwortete er eilig im Aufstehen, -- »... -ich habe übrigens noch zu tun ...« - -»Ja, werdet ihr nicht mal zusammen zu Mittag essen?« -- rief Rasumichin -und blickte erstaunt Raskolnikoff an. -- »Was ist mit dir?« - -»Ja, ja, ich komme selbstverständlich ... Bleibe noch einen Augenblick. -Sie brauchen ihn doch jetzt nicht, Mama? Oder nehme ich ihn euch -vielleicht weg?« - -»Ach, nein, nein! Und Sie, Dmitri Prokofjitsch, kommen Sie zu Mittag, -seien Sie so gut.« - -»Bitte, kommen Sie,« -- bat auch Dunetschka. - -Rasumichin verbeugte sich und strahlte förmlich. Auf einen Augenblick -waren alle sonderbar verlegen. - -»Lebwohl, Rodja, das heißt, auf Wiedersehen! Ich liebe nicht >lebwohl< -zu sagen. Lebwohl, Nastasja, ... ach, wieder habe ich >lebwohl< gesagt! -...« - -Pulcheria Alexandrowna wollte sich auch vor Ssonjetschka verbeugen, aber -sie brachte es nicht fertig und ging eilig aus dem Zimmer. - -Awdotja Romanowna wartete, bis die Reihe an sie kam, und als sie hinter -der Mutter an Ssonja vorbeiging, verabschiedete sie sich von ihr mit -einem aufmerksamen, höflichen und achtungsvollen Gruß. Ssonjetschka -wurde verlegen, grüßte hastig und erschrocken, und ein schmerzliches -Empfinden drückte sich in ihrem Gesichte aus, als ob die Höflichkeit und -Aufmerksamkeit Awdotja Romanownas sie bedrückte und peinigte. - -»Dunja, lebwohl!« -- rief Raskolnikoff ihr auf der Treppe nach, -- »gib -mir doch die Hand!« - -»Ich habe sie dir doch gereicht, hast du es vergessen?« antwortete Dunja -innig und wandte sich zu ihm um. - -»Nun, was tut es, gib sie mir noch einmal!« - -Und er drückte stark ihre kleinen Finger. Dunetschka lächelte ihm zu, -errötete, riß schnell ihre Hand aus der seinen und ging glücklich der -Mutter nach. - -»Nun, das ist prächtig!« -- sagte er zu Ssonja, indem er in sein Zimmer -zurückkehrte und sie klar anblickte, -- »gebe Gott den Toten die Ruhe -und lasse die Lebenden leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Es ist doch so?« - -Ssonja sah verwundert in sein plötzlich erhelltes Gesicht; er blickte -sie einige Augenblicke schweigend und unverwandt an, -- was ihr -verstorbener Vater von ihr erzählt hatte, lebte in dieser Minute in -seiner Erinnerung auf ... - - * * * * * - -»Herrgott, Dunetschka!« -- sagte Pulcheria Alexandrowna, als sie kaum -auf der Straße waren, -- »ich freue mich, daß wir weggegangen sind; es -wird mir leichter zumute. Wie hätte ich mir gestern im Eisenbahnwagen -denken können, daß ich darüber froh sein könnte!« - -»Ich sage Ihnen noch einmal, Mama, daß er noch sehr krank ist. Können -Sie es denn nicht sehen? Vielleicht ist er so aufgeregt, weil er -unseretwegen litt. Man muß nachsichtig sein, und man kann vieles, vieles -verzeihen.« - -»Du aber warst nicht nachsichtig!« -- unterbrach sie eifrig und -eifersüchtig Pulcheria Alexandrowna. -- »Weißt du, Dunja, ich sah euch -beide an, du bist sein Ebenbild, und nicht so sehr äußerlich als -seelisch, beide seid ihr schwerblütig, beide seid ihr düster und -jähzornig, beide hochmütig und beide hochherzig ... Es kann doch nicht -sein, daß er ein Egoist ist, Dunetschka, he? ... Und wenn ich daran -denke, was uns heute abend bevorsteht, so steht mir das Herz still!« - -»Regen Sie sich nicht auf, Mama, es wird geschehen, was geschehen muß.« - -»Dunetschka! Denk doch nur, in welcher Lage wir jetzt sind! Was -geschieht, wenn Peter Petrowitsch sich zurückzieht?« -- sagte -unvorsichtigerweise die arme Pulcheria Alexandrowna. - -»Ja, und was ist er dann wert?« -- antwortete Dunetschka scharf und -verächtlich. - -»Wir haben gut getan, daß wir jetzt weggingen,« -- beeilte sich -Pulcheria Alexandrowna fortzufahren, -- »er hatte etwas Eiliges vor; mag -er ausgehen, er wird frische Luft amten ... es ist furchtbar dumpf bei -ihm ... aber wo kann man hier frische Luft atmen? Auch auf den Straßen -hier ist es wie in einem Zimmer ohne Ventilation -- Herrgott, was ist -das für eine Stadt! ... Warte doch, geh aus dem Wege, man wird dich noch -umstoßen, sie tragen da etwas! Ein Klavier tragen sie, wirklich ... wie -sie stoßen ... Dieses Mädchen fürchte ich auch sehr ...« - -»Was für ein Mädchen, Mama?« - -»Ja, diese dort, Ssofja Ssemenowna, die soeben da war ...« - -»Warum denn?« - -»Ich habe so eine Ahnung, Dunja. Nun, glaube mir oder nicht, aber als -sie hereinkam, dachte ich im selben Augenblick, daß hier die Hauptsache -sei ...« - -»Nichts ist da!« -- rief Dunja ärgerlich aus. -- »Was haben Sie auch für -Ahnungen, Mama! Er kennt sie erst seit gestern, und jetzt, als sie -hereintrat, erkannte er sie nicht einmal gleich.« - -»Nun, du wirst sehen! ... Sie bringt mich in Verwirrung, du wirst sehen, -wirst sehen! Und ich bin so erschrocken, -- sie blickt mich an und -blickt mich an, hat solche Augen, ich konnte kaum auf dem Stuhle sitzen -bleiben, erinnerst du dich, als er sie vorstellte? Und sonderbar -erscheint es mir, -- Peter Petrowitsch schreibt über sie in solcher -Weise, und er stellt sie uns vor und dir noch dazu! Sie muß ihm doch -teuer sein!« - -»Er schreibt über vieles! Über uns hat man auch gesprochen und -geschrieben, haben Sie es vergessen? Und ich bin überzeugt, daß sie ... -gut ist, und daß alles Unsinn ist!« - -»Möge es Gott geben!« - -»Und Peter Petrowitsch ist ein häßliches Klatschmaul,« -- schnitt -plötzlich Dunetschka ab. - -Pulcheria Alexandrowna fuhr zusammen. Das Gespräch war plötzlich -abgebrochen. -- -- - - * * * * * - -»Höre, höre mal, ich habe etwas mit dir vor ...« -- sagte Raskolnikoff -und führte Rasumichin zum Fenster hin. - -»Also, ich will Katerina Iwanowna ausrichten, daß Sie kommen ...« wollte -sich Ssonjetschka verabschieden. - -»Sofort, Ssofja Ssemenowna, wir haben keine Geheimnisse, Sie stören -nicht ... Ich möchte Ihnen noch ein paar Worte sagen ... Höre mal,« -- -wandte er sich wieder an Rasumichin. -- »Du kennst doch diesen ... Wie -heißt er? ... Porphyri Petrowitsch?« - -»Und ob? Er ist doch verwandt mit mir. Weshalb?« -- fügte jener mit -Neugier hinzu. - -»Er führt doch jetzt diese Sache ... nun, über den Mord ... worüber ihr -gestern gesprochen habt ...?« - -»Ja ... und?« -- Rasumichin sperrte die Augen auf. - -»Er hat die Pfandgeber befragt, ich habe auch dort versetzt, -Kleinigkeiten, jedoch auch einen Ring von der Schwester, den sie mir zum -Andenken schenkte, als ich abreiste, und die silberne Uhr meines Vaters. -Alles das kostet fünf oder sechs Rubel, mir aber sind sie zu teuer als -Andenken. Was soll ich jetzt tun? Ich will nicht, daß die Sachen -verloren gehen, besonders die Uhr. Ich bebte davor, daß die Mutter -danach fragen würde, als wir über Dunetschkas Uhr sprachen. Es ist das -einzige, was vom Vater herrührt. Sie wird krank werden, wenn die Uhr -verloren geht! Frauen sind einmal so! Also, was soll ich tun, sage es -mir! Ich weiß, daß ich im Polizeibureau es anmelden muß. Ist es aber -nicht besser, sich an Porphyri selbst zu wenden?? Ah! He! Wie meinst du? -Man müßte es schnell tun. Du wirst sehen, daß die Mutter mich vor dem -Mittage danach noch fragt.« - -»Keinesfalls im Polizeibureau, unbedingt sich an Porphyri wenden!« rief -Rasumichin in ungewöhnlicher Aufregung. -- »Nun, wie ich froh bin! Ja, -was ist da viel zu denken, gehen wir sofort hin, es sind bloß zwei -Schritte, wir treffen ihn bestimmt an.« - -»Meinetwegen ... gehen wir zu ihm ...« - -»Und er wird sehr, sehr erfreut sein, dich kennenzulernen! Ich habe ihm -viel von dir gesprochen, zu verschiedenen Malen ... Auch gestern wieder. -Gehen wir! ... Also du hast die Alte gekannt? So so! ... Ausgezeichnet -hat sich alles gemacht! ... Ach, ja ... Ssofja Iwanowna ...« - -»Ssofja Ssemenowna,« -- korrigierte ihn Raskolnikoff. -- »Ssofja -Ssemenowna, das ist mein Freund Rasumichin, und ein guter Mensch ist er -...« - -»Wenn Sie jetzt gehen müssen ...« -- begann Ssonja, wobei sie Rasumichin -gar nicht angesehen hatte, was sie noch mehr verwirrt machte. - -»Nun, gehen wir!« -- beschloß Raskolnikoff, -- »ich komme zu Ihnen heute -noch, Ssofja Ssemenowna, sagen Sie mir, wo Sie wohnen.« - -Er war nicht verwirrt, aber er schien es eilig zu haben und vermied -ihren Blick. Ssonja gab ihre Adresse und errötete dabei. Sie gingen -gleichzeitig fort. - -»Schließt du denn das Zimmer nicht ab?« -- sagte Rasumichin, hinter -ihnen die Treppe hinabsteigend. - -»Nie! ... ich will schon seit zwei Jahren ein Schloß kaufen,« -- fügte -er nachlässig hinzu. -- »Glücklich sind die Menschen, die nichts -abzuschließen haben, nicht wahr?« -- wandte er sich lachend an Ssonja. - -Auf der Straße blieben sie am Tore stehen. - -»Sie müssen nach rechts, Ssofja Ssemenowna! Wie haben Sie mich denn -gefunden?« -- fragte er sie, schien aber etwas ganz anderes sagen zu -wollen. - -Er wollte die ganze Zeit in ihre stillen klaren Augen blicken, und es -gelang ihm immer nicht ... - -»Sie gaben doch gestern Poletschka Ihre Adresse.« - -»Polja? Ach ja ... Poletschka! Das ist ... die Kleine ... das ist Ihre -Schwester? Also, ich gab ihr meine Adresse!« - -»Haben Sie es denn vergessen?« - -»Nein ... ich erinnere mich ...« - -»Und ich habe von Ihnen noch durch den Verstorbenen gehört ... Ich -kannte bloß damals Ihren Namen nicht, und auch er selbst wußte ihn nicht -... Jetzt aber kam ich ... und als ich gestern Ihren Namen hörte ... da -fragte ich heute: wo wohnt hier Herr Raskolnikoff? ... Und ich wußte -nicht, daß Sie auch ein Zimmer gemietet ... Leben Sie wohl ... Ich will -Katerina Iwanowna ...« - -Sie war sehr froh, daß sie endlich loskam; und ging mit gesenktem Kopfe -eilig, um nur schneller aus ihren Augen zu verschwinden, um nur -schneller diese zwanzig Schritte bis zur Biegung nach rechts in die -Seitenstraße zu durcheilen und endlich allein zu sein; um im schnellen -Gehen, ohne jemand anzublicken und unbeachtet, nachzudenken, sich zu -erinnern und jedes Wort und jeden Umstand sich zurückzurufen. Nie, nie -hatte sie Ähnliches empfunden. Eine ganz neue Welt war unbekannt und -dunkel in ihre Seele gedrungen. Sie erinnerte sich plötzlich, daß -Raskolnikoff heute selbst zu ihr kommen wollte, vielleicht schon heute -morgen, vielleicht gleich! - -»Besser nicht heute, bitte, nicht heute!« -- murmelte sie mit stockendem -Herzen, als flehe sie jemand an, wie ein erschrecktes Kind. -- -»Herrgott! Zu mir ... in dies Zimmer ... er wird sehen ... oh, Gott!« - -Sie konnte sicher in diesem Augenblicke den fremden Herrn nicht -bemerken, der eifrig sie beobachtete und ihr auf den Fersen folgte. Er -begleitete sie schon von dem Tore der Wohnung Raskolnikoffs an. In dem -Augenblicke, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikoff und sie auf dem -Fußsteige, um ein paar Worte zu wechseln, stehen blieben, schien dieser -Vorübergehende plötzlich aufzufahren, als er an ihnen vorbeiging und -zufällig die Worte Ssonjas auffing, -- »da fragte ich, wo wohnt hier -Herr Raskolnikoff?« Er warf einen schnellen, aber aufmerksamen Blick -allen dreien zu, besonders aber Raskolnikoff, an den sich Ssonja wandte, -sah dann das Haus an und merkte es sich. Dies alles war in einem kurzen -Augenblick, im Vorbeigehen geschehen und unauffällig, nun verminderte er -seine Schritte, als wartete er. Er wartete auf Ssonja, denn er hatte -gesehen, daß sie sich verabschiedete und wohl sofort nach Hause gehen -würde. - -»Aber wohin nach Hause? Ich habe dieses Gesicht irgendwo gesehen,« -- -dachte er und forschte in seiner Erinnerung nach dem Gesicht Ssonjas, -- -»... ich muß es erfahren.« Als er die Biegung erreichte, ging er auf die -andere Seite der Straße hinüber, wandte sich um und sah, daß Ssonja -denselben Weg wie er eingeschlagen hatte und ihn nicht gewahrte. Sie bog -in dieselbe Straße ein. Er verlor sie nicht aus den Augen und ging nach -etwa fünfzig Schritten wieder auf dieselbe Seite hinüber, auf der Ssonja -dahinschritt, holte sie ein und folgte ihr auf fünf Schritt Entfernung. --- Es war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, etwas mehr als -mittelgroß, wohlbeleibt, mit breiten und schrägen Schultern, was ihm ein -etwas gebücktes Aussehen verlieh. Er war elegant und bequem gekleidet -und sah ansehnlich aus. In den Händen trug er einen hübschen Stock, den -er bei jedem Schritt auf das Trottoir aufstieß, und seine Hände staken -in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit hervorstehenden -Backenknochen war nicht unangenehm, und seine Gesichtsfarbe frisch, -nicht von Petersburger Art. Sein noch sehr dichtes Haar war ganz -hellblond und kaum leicht ergraut, und der breite dichte Bart, der wie -eine Schaufel herabhing, war noch heller als das Kopfhaar. Seine blauen -Augen blickten kalt, durchdringend und sinnend; die Lippen waren rot. -Überhaupt war er ein ausgezeichnet konservierter Mann und schien -bedeutend jünger zu sein, als er war. - -Als Ssonja auf den Kanal hinauskam, waren sie beide allein auf dem -Fußsteige. Während er sie beobachtete, hatte er schon ihre -Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Als Ssonja ihr Haus -erreichte, ging sie durch das Tor, er folgte ihr und schien überrascht -zu sein. Im Hofe bog sie rechts in die Ecke ab, wo die Treppe zu ihrer -Wohnung war. »Ah!« -- murmelte der Unbekannte und begann hinter ihr her -die Stufen hinaufzusteigen. Hier erst bemerkte ihn Ssonja. Sie ging bis -ins dritte Stockwerk, bog in den Korridor ein und klingelte an der Türe -Nr. 9, wo mit Kreide -- »_Kapernaumoff, Schneider_« -- angeschrieben -war. »Ah!« -- wiederholte der Unbekannte, verwundert über dieses -seltsame Zusammentreffen, und klingelte an der Türe Nr. 8. Beide Türen -waren voneinander kaum sechs Schritte entfernt. - -»Sie wohnen bei Kapernaumoff!« sagte er, blickte Ssonja an und lachte. -»Er hat mir gestern eine Weste umgeändert. Und ich wohne hier neben -Ihnen bei Madame Gertrude Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!« Ssonja -schaute ihn aufmerksam an. - -»Wir sind also Nachbarn,« fuhr er besonders freundlich fort. »Ich bin -erst seit drei Tagen in der Stadt. Nun, vorläufig auf Wiedersehen.« - -Ssonja antwortete nicht; die Tür wurde geöffnet und sie schlüpfte -hinein. Sie schämte sich und schien sich zu ängstigen ... - - * * * * * - -Rasumichin war auf dem Wege zu Porphyri in besonders aufgeregtem -Zustande. - -»Das ist prächtig, Bruder,« wiederholte er ein paarmal, »und ich freue -mich! Ich freue mich!« - -»Ja, worüber freut er sich?« dachte Raskolnikoff. - -»Ich wußte gar nicht, daß du auch bei der Alten versetzt hast. Und ... -und ... ist es lange her? Das heißt, warst du vor längerer Zeit bei -ihr?« - -»Wie naiv und dumm er ist!« - -»Wann? ...« Raskolnikoff blieb stehen und besann sich: »Ja, drei Tage -vielleicht vor ihrem Tode war ich dort. Übrigens, ich gehe doch nicht -jetzt hin, um die Sachen auszulösen,« sagte er hastig und wie besorgt um -seine Sachen, »ich habe ja wieder bloß einen einzigen Rubel in Silber -... infolge des gestrigen verfluchten Fieberanfalls ...« - -Den Fieberanfall betonte er besonders. - -»Nun, ja, ja, ja,« bestätigte Rasumichin eilig, »also darum auch hat -dich ... er damals überrascht ... und weißt du, du hast auch im Fieber -von allerhand Ringen und Ketten immer phantasiert! ... Nun, ja, ja ... -Das ist klar, alles ist jetzt klar.« - -»Also doch! Wie dieser Gedanke bei ihnen sich festgesetzt hat! Dieser -da, dieser Mensch ließe sich für mich ans Kreuz schlagen, und er ist -doch froh, daß es sich geklärt hat, warum ich im Fieber von Ringen -redete! Wie tief es bei ihnen allen wurzelt! ...« - -»Werden wir ihn auch antreffen?« fragte er laut. - -»Wir treffen ihn bestimmt an,« beeilte sich Rasumichin zu antworten. »Er -ist ein prächtiger Bursche, du wirst sehen! Ein wenig plump, das heißt, -er ist wohl Weltmann, aber ich meine in anderem Sinne ist er plump. Ein -kluger Bursche. Er hat nur eine eigentümliche Denkweise. Mißtrauisch, -skeptisch, ein Zyniker ... liebt er zu betrügen, das heißt nicht zu -betrügen, sondern einen anzuführen ... Er hat die alte Mode auf Indizien -... versteht aber seine Sache, versteht sie gut ... Er hat im vorigen -Jahre das Dunkel über einen Mord ausgetüftelt, wo fast alle Spuren schon -verloren waren! Er wünscht sehr, dich kennenzulernen!« - -»Ja, warum denn sehr?« - -»Das heißt, nicht etwa so ... siehst du, in der letzten Zeit, als du -krank wurdest, hatte ich viel und oft Gelegenheit, dich zu erwähnen ... -Nun, er hörte zu ... und als er erfuhr, daß du Jura studiert hast und -infolge allerhand Umstände den Kursus nicht beenden konntest, sagte er, -wie schade! Ich folgerte daraus ... das heißt, dies alles zusammen, -nicht nur dies eine ... gestern hat Sametoff ... Siehst du, Rodja, ich -habe dir gestern in meiner Betrunkenheit, als wir nach Hause gingen, -etwas erzählt ... und ich fürchte nun, Bruder, daß du es übertreiben -könntest, siehst du ...« - -»Was denn? Daß man mich für verrückt hält? Ja, vielleicht ist es auch -wahr.« - -Er lächelte gezwungen. - -»Ja, ja ... das heißt, pfui, nein! ... Nun, alles, was ich sprach ... -und auch über anderes, ist Unsinn und in Betrunkenheit gesagt.« - -»Ja, wozu entschuldigst du dich! Wie mir das alles zum Ekel ist!« rief -Raskolnikoff mit übertriebener, zum Teil gespielter Gereiztheit. - -»Ich weiß, ich weiß, verstehe es. Sei überzeugt, daß ich es verstehe. -Ich sollte mich schämen, davon nur zu sprechen ...« - -»Wenn du dich schämst, was sprichst du darüber!« - -Beide verstummten. Rasumichin war äußerst vergnügt und Raskolnikoff -fühlte es voll Widerwillen. Ihn beunruhigte auch das, was Rasumichin -soeben über Porphyri erzählt hatte. - -»Vor dem muß man auch ein Klagelied anstimmen,« dachte er erbleichend -und mit Herzklopfen, »und es recht natürlich machen. Am besten wäre -vielleicht, nichts vorzuklagen. Absichtlich nichts vorklagen! Nein, -absichtlich wäre wieder nicht natürlich ... Nun, wie es sich macht ... -wir werden ja sehen ... bald genug ... aber ist es gut oder nicht gut, -daß ich hingehe? Der Schmetterling fliegt von selbst ins brennende -Licht. Mein Herz klopft, das ist nicht gut! ...« - -»In diesem grauen Hause wohnt er,« sagte Rasumichin. - -»Am wichtigsten ist es, ob Porphyri es weiß oder nicht, daß ich gestern -in der Wohnung dieser Hexe war ... und von dem Blut sprach? Sogleich muß -ich es erfahren, beim ersten Schritt, wenn ich hineinkomme, muß ich es -ihm am Gesichte anmerken; sonst ... und wenn ich zugrunde gehe, ich muß -es erfahren!« - -»Weißt du auch?« wandte er sich plötzlich an Rasumichin mit einem -schelmischen Lächeln, »ich habe bemerkt, Bruder, daß du dich seit heute -früh in einer ungewöhnlichen Aufregung befindest? Ist es so?« - -»In was für einer Aufregung? In gar keiner Aufregung,« fuhr Rasumichin -auf. - -»Nein, Bruder, es ist dir tatsächlich anzusehen. Auf dem Stuhl saßest du -vorhin, wie du sonst nie sitzest, so nur auf einem Endchen und die ganze -Zeit durchzuckte es dich, wie wenn du Krämpfe hättest. Du sprangst mir -nichts dir nichts auf. Bald sahst du böse aus, bald verzog sich dein -Gesicht plötzlich zu einem süßen Lächeln. Sogar rot wurdest du, -besonders als man dich zu Mittag einlud.« - -»Nichts von alledem ist wahr, du lügst! ... Was denkst du dir?« - -»Ja, und jetzt drehst und wendest du dich wie ein Schulbube? Pfui! -Teufel! Er ist schon wieder rot geworden!« - -»Was du für ein Schwein bist!« - -»Ja, warum wirst du so verlegen? Romeo! Warte, ich will es irgend -jemanden heute noch erzählen, ha--ha--ha! Ich werde Mama zum Lachen -bringen ... und noch jemand ...« - -»Höre mal, höre, aber im Ernste, es ist doch ... Was soll das bedeuten, -zum Teufel!« Rasumichin wurde ganz verwirrt und starr vor Schrecken. -»Was willst du ihnen erzählen? Ich bin, Bruder ... Pfui, welch ein -Schwein du bist!« - -»Du bist wie eine Frühlingsrose! Und wie es dir steht, wenn du es nur -wüßtest. Romeo, ein neuer Romeo! Und wie du dich heute gewaschen hast, -vielleicht auch die Nägel gereinigt? Ah? Wann war dies zuletzt der Fall? -Und du hast dich, bei Gott, mit Pomade eingeschmiert! Beuge dich mal!« - -»Schwein!« - -Raskolnikoff lachte so stark, daß er sich nicht mehr halten konnte, mit -Lachen traten sie auch in die Wohnung von Porphyri Petrowitsch ein. Das -wollte eben Raskolnikoff bezwecken, -- drinnen in den Zimmern konnte man -es hören, daß sie lachend ins Vorzimmer eingetreten waren und dort immer -noch lachten. - -»Kein Wort hier, oder ich ... zerschmettere dich!« flüsterte Rasumichin -und packte wütend Raskolnikoff an der Schulter. - - - V. - -Sie gingen hinein. Raskolnikoff sah aus, als hielte er mit Gewalt an -sich, um nicht loszuplatzen. Ihm folgte mit gänzlich verändertem -Gesichte Rasumichin, rot wie eine Päonie, vor Scham und Wut, und -verlegen. Sein Gesicht und die ganze Gestalt waren in diesem Augenblicke -lächerlich und rechtfertigten Raskolnikoffs Heiterkeit. Raskolnikoff, -dem Hausherrn noch nicht bekannt, verbeugte sich vor ihm, der mitten im -Zimmer stand und sie fragend anblickte, reichte ihm die Hand und drückte -die seinige, immer noch mit sichtlicher, großer Mühe seine Lustigkeit -bekämpfend, um wenigstens ein paar Worte sagen und sich vorstellen zu -können. Aber kaum war es ihm gelungen, eine ernste Miene anzunehmen und -etwas hinzumurmeln, -- als er plötzlich, wie unwillkürlich wieder -Rasumichin anblickte und da hielt er es nicht mehr aus, -- sein -unterdrücktes Lachen brach um so ungestümer hervor, je stärker er es bis -jetzt zurückgehalten hatte. Die ungewöhnliche Wut, mit der Rasumichin -dieses »herzliche« Lachen auffaßte, verlieh diesem ganzen Auftritt das -Aussehen von aufrichtigster Lustigkeit und, was die Hauptsache war, -Natürlichkeit. Rasumichin trug, als beabsichtigte er's, noch viel dazu -bei. - -»Pfui, zum Teufel!« brüllte er, holte mit der Hand aus und traf einen -kleinen runden Tisch, auf dem ein leeres Teeglas stand. Alles fiel hin -und zerbrach. - -»Ja, warum müssen denn gleich Stühle zerschlagen werden, meine Herren, -das ist ein Verlust für den Staat!« rief Porphyri Petrowitsch lachend -aus. - -Der Auftritt stellte sich wie folgt dar, -- Raskolnikoff lachte weiter, -seine Hand in der Hand des Hausherrn lassend, aber er kannte das Maß und -wartete nur auf den Augenblick, um schnell und natürlich zu enden. -Rasumichin, durch den Fall des Tisches und des zerschlagenen Glases -völlig verwirrt, blickte düster auf die Scherben, spie aus und drehte -sich schroff nach dem Fenster, wo er sich mit dem Rücken gegen die -übrigen hinstellte und mit fürchterlich finsterem Gesichte -hinausschaute, aber nichts sah. Porphyri Petrowitsch lachte und hätte -noch mehr gelacht, wenn er nur eine Erklärung dafür gehabt hätte. In der -Ecke auf einem Stuhle hatte Sametoff gesessen, der sich beim Eintritt -der Besucher erhob und in Erwartung dastand; sein Mund war zu einem -Lächeln verzogen, aber er schaute stutzig und mißtrauisch dem ganzen -Auftritt zu und sah Raskolnikoff verwirrt an. Die unerwartete -Anwesenheit Sametoffs überraschte Raskolnikoff unangenehm. - -»Da muß man sich in acht nehmen!« dachte er. - -»Entschuldigen Sie, bitte,« begann er plötzlich ganz verlegen, -»Raskolnikoff ...« - -»Erlauben Sie aber, sehr angenehm, und Sie kamen so angenehm herein ... -Was, will er nicht mal >Guten Tag< sagen?« wies Porphyri Petrowitsch auf -Rasumichin. - -»Bei Gott, ich weiß nicht, warum er auf mich wütend ist. -- Ich sagte -ihm bloß auf dem Wege hierher, daß er Romeo ähnlich sei und ... habe es -bewiesen, sonst war nichts.« - -»Du bist ein Schwein!« rief Rasumichin, ohne sich umzuwenden. - -»Er hatte also sehr ernste Gründe, um wegen dieses einzigen Wortes so -böse zu werden,« lachte Porphyri Petrowitsch. - -»Nun auch der Untersuchungsrichter! ... Zum Teufel mit euch allen!« -schnitt Rasumichin ab, plötzlich aber lachte er selbst und ging mit -heiterem Gesichte, als wäre nichts vorgefallen, auf Porphyri Petrowitsch -zu. - -»Schluß damit! Alle seid ihr Dummköpfe. Jetzt zur Sache, -- hier ist -mein Freund, Rodion Romanytsch Raskolnikoff, der erstens von dir viel -gehört hat und mit dir bekannt werden wollte, und der zweitens ein -kleines Ansuchen an dich hat. Ah! Sametoff! Wie kommst du hierher? Kennt -ihr denn einander? Seid ihr schon lange bekannt?« - -»Was bedeutet das!« dachte Raskolnikoff voll Unruhe. - -Sametoff schien ein wenig verlegen zu werden. - -»Wir haben uns gestern doch bei dir kennengelernt,« sagte er -ungezwungen. - -»Also hat mich Gott vor Schererei behütet; in der vorigen Woche hat er -mich geplagt, ihn mit dir, Porphyri, irgendwie bekannt zu machen, und -nun habt ihr euch, ohne meine Hilfe, gefunden ... Wo hebst du deinen -Tabak auf?« - -Porphyri Petrowitsch war in Hauskleidung, -- in einem Schlafrock, sehr -reiner Wäsche und in abgetretenen Pantoffeln. Es war ein Mann von etwa -fünfunddreißig Jahren, unter Mittelgröße, dick, mit einem Bäuchlein, -glattrasiert, ohne Schnurrbart, mit kurz geschnittenem Haare auf dem -großen runden Kopfe, der nach hinten zu besonders gewölbt war. Sein -volles, rundes und ein wenig stumpfnäsiges Gesicht hatte eine -kränkliche, dunkelgelbe Farbe, war aber munter und sogar spöttisch. Es -wäre gutmütig zu nennen, wenn nicht der Ausdruck der Augen, die mit fast -weißen, zwinkernden Wimpern bedeckt waren, mit ihrem wässerigen Glanze -störend gewirkt hätte. Der Blick dieser Augen paßte wenig zu der ganzen -Gestalt, die entschieden etwas Weibisches an sich hatte, und machte ihn -viel ernster, als man beim ersten Anblick vermutete. - -Als Porphyri Petrowitsch vernahm, daß der Besucher ein kleines Ansuchen -an ihn habe, bat er ihn sofort, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er setzte -sich selbst in die andere Ecke und sah den Besucher voll Erwartung mit -einer starken und zu ernsten Aufmerksamkeit an, die bedrücken und -vollends gleich beim ersten Zusammensein verwirren mußte, um so mehr, -wenn das, was man vorzubringen hat, durchaus in keinem Verhältnisse zu -einer so ungewöhnlichen Aufmerksamkeit zu stehen scheint. Raskolnikoff -jedoch legte seine Angelegenheit in kurzen und bündigen Worten, deutlich -und klar dar, und war mit sich so zufrieden, daß er noch Gelegenheit -fand, Porphyri Petrowitsch genau zu betrachten. Auch Porphyri -Petrowitsch wandte keinen Augenblick seine Augen von ihm ab. Rasumichin -hatte an demselben Tische ihnen gegenüber Platz genommen und verfolgte -eifrig und ungeduldig die Darstellung der Sache, wobei er alle -Augenblicke und ziemlich auffällig seine Augen von einem zu dem andern -gleiten ließ. - -»Dummkopf!« schimpfte Raskolnikoff bei sich. - -»Sie müssen eine Eingabe an das Polizeibureau machen,« antwortete mit -Geschäftsmiene Porphyri, »daß Sie über diesen Vorfall, das heißt von -diesem Mord erfahren haben, und bitten den Untersuchungsrichter, der -diese Sache führt, zu benachrichtigen, daß die und die Sachen Ihnen -gehören, und daß Sie sie einlösen möchten ... oder Ähnliches ... man -wird Ihnen das übrigens sagen.« - -»Das ist ja das Unbequeme, daß ich in diesem Augenblicke,« Raskolnikoff -bemühte sich, möglichst verlegen zu werden, »nicht recht bei Kassa bin -... und sogar so eine Kleinigkeit nicht kann ... sehen Sie, ich möchte -jetzt nur erklären, daß es meine Sachen sind, und daß, wenn ich Geld -haben werde, ich ...« - -»Das ist einerlei,« antwortete Porphyri Petrowitsch, die Erklärung über -die Finanzlage kalt aufnehmend, »übrigens, Sie können auch direkt an -mich, wenn Sie wollen, in demselben Sinne schreiben, daß Sie das und das -in Erfahrung gebracht haben und die und die Sachen als Ihr Eigentum -angeben und bitten ...« - -»Man kann es auf einfachem Papiere schreiben?« beeilte sich -Raskolnikoff, ihn zu unterbrechen, wieder ein Interesse für die -Geldfrage zeigend. - -»Oh, auf dem allereinfachsten Papiere!« und plötzlich blickte ihn -Porphyri Petrowitsch spöttisch mit zusammengekniffenen Augen an und -schien ihm zuzuzwinkern. - -Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß so geschienen, denn es -dauerte nur einen Augenblick. Etwas war wenigstens gewesen. Raskolnikoff -hätte darauf schwören mögen, daß er ihm zugezwinkert habe, weiß der -Teufel warum. - -»Er weiß alles!« durchzuckte es ihn wie ein Blitz. - -»Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Kleinigkeiten belästigt -habe,« fuhr er etwas verwirrt fort, »meine Sachen sind im ganzen -höchstens fünf Rubel wert, aber sie sind mir besonders teuer, als ein -Andenken an die, von denen ich sie erhalten habe und, offen gestanden, -als ich es hörte, erschrak ich sehr ...« - -»Darum fuhrst du auch gestern so auf, als ich Sossimoff erzählte, daß -Porphyri die Pfandgeber ausfrage!« bemerkte Rasumichin mit deutlicher -Absicht. - -Das war schon unerträglich. Raskolnikoff konnte sich's nicht versagen, -ihn wütend mit seinen vor Zorn funkelnden schwarzen Augen anzublicken. -Er besann sich aber sofort. - -»Du scheinst dich über mich lustig zu machen, Bruder?« wandte er sich an -ihn mit geschickt gespielter Gereiztheit. »Ich sehe es ein, daß ich -vielleicht meine Sorge um diesen Schund übertreibe, der er doch in -deinen Augen ist, aber man darf mich darum weder für einen Egoisten, -noch für einen habgierigen Menschen halten, und für mich brauchen diese -zwei geringen Gegenstände gar kein Schund zu sein. Ich sagte dir schon -vorhin, daß diese silberne Uhr, die einen Spottwert hat, das einzige -ist, was mir von meinem Vater geblieben ist. Du kannst dich über mich -amüsieren, aber soeben ist meine Mutter angekommen,« wandte er sich -plötzlich an Porphyri, »und wenn sie erfahren würde,« kehrte er sich -wieder schnell zu Rasumichin und gab sich besondere Mühe, um mit der -Stimme zu zittern, »daß diese Uhr verloren sei, so würde sie -- schwöre -ich -- in Verzweiflung sein! Sie ist doch eine Frau!« - -»Ich sagte es gar nicht in dem Sinne! Ganz im Gegenteil!« rief -Rasumichin gekränkt. - -»War es auch gut? War es natürlich? Habe ich nicht übertrieben?« sagte -Raskolnikoff bebend zu sich selbst. »Warum sagte ich -- sie ist doch -eine Frau!« - -»Ihre Frau Mutter ist zu Ihnen gekommen?!« erkundigte sich aus -irgendeinem Grunde Porphyri Petrowitsch. - -»Ja.« - -»Wann denn?« - -»Gestern abend.« - -Porphyri Petrowitsch schwieg, als überlege er etwas. - -»Ihre Sachen konnten in keiner Weise verloren gehen,« fuhr er ruhig und -kalt fort. »Ich erwarte Sie schon seit langem.« - -Und als wäre nichts vorgefallen, schob er sorgsam einen Aschbecher -Rasumichin zu, der unbarmherzig die Asche von seiner Zigarette auf den -Teppich streute. Raskolnikoff zuckte zusammen, aber Porphyri schien ihn -nicht anzublicken, noch immer um Rasumichins Zigarette besorgt. - -»Was? Du hast ihn erwartet! Wußtest du denn, daß auch er dort versetzt -hatte?« rief Rasumichin aus. - -»Ihre beiden Sachen, der Ring und die Uhr, waren _bei ihr_ in einem und -demselben Stück Papier eingewickelt, und auf dem Papier war mit -Bleistift deutlich Ihr Name vermerkt, ebenso auch das Datum, wann sie -sie von Ihnen erhalten hatte ...« - -»Wie genau Sie sind! ...« lächelte ein wenig ungeschickt Raskolnikoff -und versuchte, ihm in die Augen zu sehen, er konnte sich aber nicht -enthalten, hinzuzufügen: - -»Ich sage das nur deshalb, weil wahrscheinlich sehr viele Pfandgeber -waren ... so daß es Ihnen doch schwer fallen mußte, sich aller zu -erinnern ... Sie aber erinnern sich im Gegenteil an alles so deutlich, -und ... und ...« - -»Es war dumm! Schwach! Warum habe ich es hinzugefügt!« - -»Alle Pfandgeber sind jetzt schon bekannt, so daß Sie der einzige sind, -der sich noch nicht meldete,« antwortete Porphyri Petrowitsch mit einem -kaum merklichen Anfluge von Spott. - -»Ich war nicht ganz gesund.« - -»Auch davon habe ich gehört. Habe sogar gehört, daß Sie von etwas sehr -mitgenommen waren. Sie sind auch jetzt noch etwas bleich!« - -»Ich bin gar nicht bleich ... im Gegenteil, ich bin ganz gesund!« -schnitt ihn grob und böse Raskolnikoff ab, plötzlich seinen Ton -verändernd. - -Die Wut pochte in ihm und er konnte sie nicht unterdrücken. »Und in der -Wut werde ich mich versprechen!« durchzuckte es ihn von neuem. »Und -warum quälen sie mich! ...« - -»Nicht ganz gesund!« hub Rasumichin an. »Wie er aufschneidet! Bis -gestern noch phantasierte er und war bewußtlos ... Du kannst es mir -glauben, Porphyri, er konnte kaum mehr auf den Füßen stehen, und -trotzdem, als wir, Sossimoff und ich, gestern uns nur auf einen -Augenblick entfernten, -- zog er sich an, lief heimlich weg und irrte -irgendwo fast bis Mitternacht herum, und das, sage ich dir, ganz im -Fieber, kannst du dir so etwas vorstellen! Ein ganz merkwürdiger Fall!« - -»Und geschah es wirklich ganz im Fieber? Sagen Sie mal?« Mit einer -weibischen Bewegung schüttelte Porphyri Petrowitsch den Kopf. - -»Ah, Unsinn! Glauben Sie ihm nicht! Übrigens, Sie glauben es ja auch -sowieso nicht!« entschlüpfte es Raskolnikoff in seiner Wut. - -Aber Porphyri Petrowitsch schien diese seltsamen Worte überhört zu -haben. - -»Wie konntest du dann weggehen, wenn du nicht im Fieber warst?« -ereiferte sich Rasumichin. »Warum bist du weggegangen? Wozu? ... Und -warum gerade heimlich? Sag, warst du damals bei gesundem Verstande? -Jetzt, wo die ganze Gefahr vorbei ist, sage ich es dir offen!« - -»Ich war ihrer gestern überdrüssig geworden,« wandte sich rasch -Raskolnikoff an Porphyri Petrowitsch mit einem dreisten, -herausfordernden Lächeln, »und ich lief von ihnen fort, mir eine Wohnung -zu mieten, damit sie mich nicht wiederfinden sollten, und habe einen -Haufen Geld mitgenommen. Herr Sametoff hat das Geld gesehen. Und sagen -Sie, Herr Sametoff, war ich gestern vernünftig oder im Fieber, -entscheiden Sie unseren Streit!« - -Er hätte in diesem Augenblicke Sametoff erwürgen können. Dessen Blick -und sein Schweigen waren ihm äußerst peinlich. - -»Meiner Ansicht nach redeten Sie sehr vernünftig und sogar schlau, Sie -waren bloß sehr reizbar,« erklärte Sametoff trocken. - -»Und heute sagte mir Nikodim Fomitsch,« bemerkte Porphyri Petrowitsch, -»er hätte Sie gestern noch sehr spät in der Wohnung eines überfahrenen -Beamten getroffen ...« - -»So nehmen wir diesen Fall her!« begann Rasumichin, »warst du nicht -verrückt bei diesem Beamten? Das letzte Geld hat er der Witwe für die -Beerdigung gegeben! Und, wenn du helfen wolltest, -- konntest du ihr -fünfzehn oder zwanzig Rubel geben und wenigstens drei Rubel für dich -behalten, du schenktest ihnen aber alle fünfundzwanzig.« - -»Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, was du noch nicht -weißt? Darum war ich gestern auch so freigebig ... Herr Sametoff weiß, -daß ich einen Schatz gefunden habe! ... Entschuldigen Sie, bitte,« -wandte er sich mit bebenden Lippen an Porphyri Petrowitsch, »daß wir Sie -mit solchem kleinlichen Geschwätz eine halbe Stunde belästigen. Sie sind -unserer überdrüssig, ja?« - -»Erlauben Sie, im Gegenteil, im Ge--gen--teil! Wenn Sie wüßten, wie Sie -mich interessieren! Es ist amüsant, zuzusehen und zuzuhören ... und ich -bin, offen gesagt, so froh, daß Sie endlich einmal gekommen sind ...« - -»Gib aber doch wenigstens Tee! Die Kehle trocknet einem ein!« rief -Rasumichin aus. - -»Eine ausgezeichnete Idee! Vielleicht beteiligen Sie sich alle. Willst -du aber nicht ... etwas Wesentlicheres vor dem Tee haben?« - -»Nein, laß gut sein!« - -Porphyri Petrowitsch ging hinaus, um Tee zu bestellen. - -Die Gedanken drehten sich wie im Wirbelwinde in Raskolnikoffs Kopfe. Er -war aufs äußerste gereizt. - -»Das schönste ist, daß sie sich nicht mal verbergen und nicht einmal den -Anstand wahren wollen! Aus welchem Grunde aber sprach er, wenn er mich -gar nicht kennt, mit Nikodim Fomitsch über mich? Also wollen sie nicht -mal verbergen, daß sie wie eine Koppel Hunde mich verfolgen! Sie speien -mir ganz offen ins Gesicht!« Er zitterte vor Wut. »Schlagt doch offen zu -und spielt nicht wie die Katze mit der Maus. Das ist doch geschmacklos. -Porphyri Petrowitsch, das erlaube ich dir einfach nicht! ... Ich stehe -auf und schleudere allen die ganze Wahrheit ins Gesicht und Sie werden -wenigstens sehen, wie ich Sie verachte!« Er holte schwer Atem. »Wenn mir -aber dies alles nur so vorkommt? Wenn dies aber bloß ein Spiel meiner -Phantasie ist und ich mich irre, aus Unerfahrenheit mich ärgere und -meine gemeine Rolle nicht gut spiele? Vielleicht ist alles ohne jede -Absicht? Ihre Worte sind alle gewöhnlich, aber etwas liegt doch in ihnen -... All dieses kann stets gesagt werden, aber etwas ist doch dabei. -Warum sagte er einfach -- >bei ihr?< Warum fügte Sametoff hinzu, daß ich -schlau gesprochen habe? Warum reden sie in solch einem Tone? Ja ... der -Ton ... Aber Rasumichin saß doch auch hier, warum fiel ihm nichts auf? -Diesem naiven Holzklotze fällt eben nie etwas auf! Ich habe wieder -Fieber! ... Zwinkerte mir Porphyri Petrowitsch vorhin zu oder nicht? Es -war sicher nichts; warum sollte er mir zuzwinkern? Wollen sie meine -Nerven reizen, oder führen sie mich an der Nase herum? Entweder ist -alles ein Phantasiespiel oder sie wissen es! Sogar Sametoff ist dreist -... Ist Sametoff wirklich dreist? Sametoff hat sich's über Nacht -überlegt. Ich ahnte es doch, daß er es sich überlegen wird! Er benimmt -sich wie zu Hause, ist aber zum ersten Male hier. Porphyri betrachtet -ihn nicht als seinen Gast, sitzt mit dem Rücken zu ihm. Sie stecken -unter einer Decke! Sie stecken unbedingt meinetwegen unter einer Decke! -Sie haben sicher vor unserem Kommen über mich gesprochen! ... Wissen sie -etwas von der Wohnung gestern? Mag es schneller herauskommen! ... Als -ich sagte, daß ich gestern weggelaufen wäre, mir eine Wohnung zu mieten, -ließ er es gelten, erfaßte nicht die Gelegenheit ... Mit der Wohnung -habe ich's fein angedeutet, -- es kann mir später nützen! ... Im Fieber -war es, kann ich sagen! ... Ha--ha--ha! Er weiß alles über den gestrigen -Abend! Von der Ankunft der Mutter wußte er nicht! ... Und die Hexe hat -auch das Datum mit Bleistift vermerkt! ... Ihr lügt, ich ergebe mich -nicht! Das sind doch keine Tatsachen, bloß Phantasiegebilde! Nein, rückt -mal mit Tatsachen heraus! Auch der Besuch der Wohnung ist keine -Tatsache, sondern Fieber, -- ich weiß, was ich ihnen sagen muß ... -Wissen sie, daß ich in der Wohnung war? Ich gehe nicht fort, ehe ich es -nicht erfahre! Warum bin ich hergekommen? Daß ich mich jetzt ärgere, das -ist vielleicht eine Tatsache! Wie reizbar ich bin! Vielleicht aber ist -es auch gut; es ist die Rolle eines Kranken ... Er betastet mich. Er -wird mich verwirren wollen. Warum bin ich überhaupt gekommen?« - -Dies alles fuhr ihm durch den Kopf wie ein Blitz. - -Porphyri Petrowitsch kehrte bald zurück. Er war auf einmal vergnügter -geworden. - -»Mein Kopf brummt von dem gestrigen Abend bei dir, Bruder ... und ich -bin ganz zerschlagen,« begann er in einem ganz anderen Tone und wandte -sich lachend an Rasumichin. »War es interessant? Ich verließ euch doch -gestern bei dem interessantesten Punkte. Wer siegte?« - -»Niemand, selbstverständlich. Wir kamen später zu den ewigalten Fragen, -schwebten in höheren Regionen.« - -»Was meinst du, Rodja, worauf sie gestern zu sprechen kamen, -- gibt es -oder gibt es keine Verbrecher? Ich sag dir, sie schwatzten das Blaue vom -Himmel herunter!« - -»Was ist da Merkwürdiges dran? Eine gewöhnliche soziale Frage,« -antwortete Raskolnikoff zerstreut. - -»Die Frage war nicht so formuliert,« bemerkte Porphyri Petrowitsch. - -»Nein, nicht ganz so, das ist wahr,« pflichtete Rasumichin wie -gewöhnlich eilig und sich ereifernd bei. »Sieh, Rodion, höre mich an und -sage dann deine Meinung. Es wäre mir lieb. Ich wollte gestern geradezu -aus der Haut fahren, ich wartete auf dich, denn ich hatte ihnen gesagt, -daß du kommen wirst ... Es begann mit der Anschauung der Sozialisten. -Die Anschauung ist bekannt, -- das Verbrechen ist ein Protest gegen die -anormale soziale Einrichtung, und -- mehr nichts, keine andern Gründe -wurden zugelassen, -- nichts mehr! ...« - -»Da schwindelst du schon!« rief Porphyri Petrowitsch. Er wurde sichtbar -belebter und lachte alle Augenblicke, indem er Rasumichin ansah, der -dadurch noch mehr in Hitze kam. - -»Sonst wurde nichts zugelassen!« unterbrach ihn Rasumichin voll Eifer, -»ich schwindle nicht! ... Ich will dir ihre Bücher zeigen, -- an allem -soll die sogenannte >gute Gesellschaft schuld sein< -- und weiter -nichts! Das ist ihre Lieblingsphrase! Und daraus geht hervor, daß, wenn -die Gesellschaft normal eingerichtet sein wird, mit einem Male auch alle -Verbrecher verschwinden werden, weil es nichts mehr geben wird, dagegen -zu protestieren, und alle werden auf einmal gerecht werden. Die Natur -wird nicht in Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die Natur -hat keinen Platz! Bei ihnen wird die Menschheit nicht von selbst sich in -eine normale Gesellschaft verwandeln, indem sie den historischen, -lebendigen Entwicklungsgang durchmacht, sondern im Gegenteil, ein -soziales System, irgendeinem mathematischen Kopfe entsprungen, soll -sofort die ganze Menschheit verändern und im Nu sie gerecht und -sündenlos machen, ohne jeden historischen und lebendigen -Entwicklungsgang, ohne jeglichen lebendigen Prozeß! Darum hassen sie -auch so instinktiv die Geschichte, -- >in ihr kommen bloß -Scheußlichkeiten und Dummheiten vor<, -- und alles wird bloß durch -Dummheit allein erklärt! Darum lieben sie auch nicht den lebendigen -Lebensprozeß, -- sie brauchen keine lebendige Seele. Eine lebendige -Seele wird Leben verlangen, eine lebendige Seele will nicht einem -Mechanismus gehorchen, eine lebendige Seele ist mißtrauisch, eine -lebendige Seele ist rückschrittlich! Und bei ihnen kann man die Seele -aus Kautschuk machen, tut nichts, daß sie Leichengeruch hat, -- sie ist -dafür nicht lebendig, ohne Willen, eine Sklavenseele und wird sich nicht -empören. Und im Resultate kommt es darauf hinaus, daß sich alles nur um -das Zusammensetzen von Ziegelsteinen und um die Lage der Korridore und -der Zimmer in der kommunistischen Kolonie dreht! Die kommunistische -Kolonie ist fertig, sie verlangt Leben, hat ihren Lebensprozeß noch -nicht abgeschlossen, es ist zu früh für sie, auf den Kirchhof zu kommen! -Mit der Logik allein kann man nicht die Natur überspringen! Die Logik -will drei Fälle voraussetzen, und es gibt ihrer eine Million! Soll man -die ganze Million Fälle abschneiden und alles bloß zur Frage des -Komforts konzentrieren? Die leichteste Lösung der Aufgabe! Sie ist -verlockend einfach und man braucht nicht zu denken! Und das ist die -Hauptsache -- man braucht nicht zu denken! Das ganze Lebensgeheimnis -findet auf zwei Druckbogen Platz!« - -»Wie es dich gepackt hat, du schlugst fest die Trommel! Man muß dich -festhalten,« lachte Porphyri Petrowitsch. »Stellen Sie sich vor,« wandte -er sich an Raskolnikoff, »so war es auch gestern abend, und das in einem -Zimmer, angefüllt mit sechs Mann, die er dazu noch vorher mit Punsch -bewirtet hat, -- können Sie sich so was vorstellen? Nein, Bruder, du -schwindelst, -- >die Gesellschaft< hat bei einem Verbrechen viel zu -bedeuten; das kann ich dir bestätigen.« - -»Ich weiß es selbst, daß sie viel zu bedeuten hat, aber sage mir, -- -wenn ein Vierzigjähriger ein Mädchen von zehn Jahren vergewaltigt, -- -hat ihn etwa die Gesellschaft, die Umgebung dazu gezwungen?« - -»Ja, im strengen Sinne vielleicht auch die Gesellschaft,« bemerkte -Porphyri Petrowitsch mit merkwürdiger Wichtigkeit, »ein Verbrechen an -einem kleinen Mädchen kann man sehr, sehr gut durch >die Gesellschaft< -erklären.« - -Rasumichin geriet nun fast in Wut. - -»Nun, willst du, so werde ich dir sofort beweisen,« brüllte er »daß du -weiße Wimpern einzig und allein darum hast, weil der Turm von Iwan -Weliki fünfundsiebzig Meter hoch ist, und ich will es dir klar, genau, -fortschrittlich, und sogar mit einem liberalen Anfluge beweisen! Ich -übernehme es! Nun, willst du mit mir wetten?« - -»Ich nehme die Wette an! Wollen wir mal hören, wie er es beweisen will!« - -»Ja, du stellst dich bloß so an, zum Teufel!« rief Rasumichin aus, -sprang von seinem Stuhle und wehrte mit der Hand ab. »Nun, lohnt es sich -mit dir zu sprechen? Er tut dies nur absichtlich, du kennst ihn noch -nicht, Rodion! Auch gestern war er auf ihrer Seite, bloß, um sie alle -anzuführen. Und was er gestern alles sagte, oh Gott! Und die waren um -ihn froh! ... Er kann in dieser Weise zwei Wochen aushalten. Im vorigen -Jahre erzählte er uns aus irgendeinem Grunde, daß er ins Kloster gehe, --- zwei Monate blieb er dabei! Vor kurzem wollte er uns aufbinden, daß -er heiraten würde, und daß alles schon zur Hochzeit bereit sei. Sogar -einen neuen Anzug hatte er sich bestellt. Wir fingen schon an, ihm zu -gratulieren. Keine Braut, nichts war da, -- alles Phantasiespiel!« - -»Da hast du wieder geschwindelt! Den Anzug hatte ich vorher bestellt! -Wegen des neuen Anzuges kam es mir auch in den Sinn, euch alle -anzuführen!« - -»Können Sie sich wirklich so verstellen?« fragte Raskolnikoff -nachlässig. - -»Und Sie glauben es nicht? Warten Sie, auch Sie will ich anführen -- -ha--ha--ha! Nein, hören Sie, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Bei -allen diesen Fragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleinen Mädchen erinnere -ich mich plötzlich, -- übrigens habe ich mich stets dafür interessiert, --- an einen Aufsatz von Ihnen, -- >Über Verbrechen ...< oder wie er -heißt, ich habe den Titel vergessen, ich erinnere mich nicht genau an -ihn. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in dem >Periodischen -Worte< zu lesen.« - -»Meinen Aufsatz? In dem >Periodischen Worte?<« fragte verwundert -Raskolnikoff, »ich habe tatsächlich vor einem halben Jahre, als ich die -Universität verließ, einen Aufsatz geschrieben, aber ich habe ihn damals -der Zeitung >Das wöchentliche Wort< und nicht dem >Periodischen< -übergeben.« - -»Er ist aber im >Periodischen< erschienen.« - -»Das >Wöchentliche Wort< hörte damals auf zu erscheinen, darum druckte -man ihn auch nicht ...« - -»Das ist richtig; und das >Wöchentliche Wort< verschmolz mit dem ->Periodischen< und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten -dort. Sie wußten es nicht?« - -Raskolnikoff wußte tatsächlich nichts davon. - -»Erlauben Sie, Sie können doch Geld für den Aufsatz verlangen! Was Sie -für ein Mensch sind! Sie leben so einsam, daß Sie selbst von solchen -Dingen, die Sie doch direkt angehen, keine Ahnung haben.« - -»Bravo, Rodja! Auch ich wußte nichts,« rief Rasumichin aus. »Ich gehe -heute noch in die Lesehalle und verlange die Nummer. Vor zwei Monaten -war es! Welches Datum? Na, einerlei, ich werde ihn schon finden! Das ist -mal eine Sache! Und er sagte nichts davon!« - -»Woher haben Sie zu wissen bekommen, daß der Aufsatz von mir ist? Er ist -nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.« - -»Zufällig, und auch erst in diesen Tagen. Durch den Redakteur; ich kenne -ihn ... Ich war sehr interessiert.« - -»Ich betrachtete, soweit ich mich erinnere, den psychologischen Zustand -eines Verbrechers während des ganzen Vorganges.« - -»Ja, und Sie behaupteten, daß die Vollbringung eines Verbrechens stets -von einer Krankheit begleitet wird. Sehr, sehr originell, aber ... mich -interessierte eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein -gewisser Gedanke, der zum Schlusse vorkommt, den Sie aber leider nur -unklar andeuteten ... Wenn Sie sich entsinnen, es ist da angedeutet, daß -in der Welt offenbar Menschen existieren, die tun können ... das heißt -nicht bloß können, sondern volles Recht dazu haben, allerhand -Scheußlichkeiten und Verbrechen zu vollbringen, und daß für sie das -Gesetz nicht geschrieben ist.« - -Raskolnikoff lächelte über die starke absichtliche Verdrehung seiner -Idee. - -»Wie? Was? Ein Recht auf Verbrechen? Aber doch nicht aus dem Grunde, -weil die Gesellschaft schuld ist?« erkundigte sich Rasumichin voll -Schrecken. - -»Nein, nein, nicht aus dem Grunde,« antwortete Porphyri Petrowitsch. -»Die ganze Sache dreht sich darum, daß in seinem Aufsatze die Menschen -in >gewöhnliche< und >ungewöhnliche< eingeteilt werden. Die Gewöhnlichen -müssen in Gehorsam leben und haben kein Recht, ein Gesetz zu -überschreiten, weil sie -- eben Gewöhnliche sind. Und die Ungewöhnlichen -haben das Recht, allerhand Verbrechen zu vollbringen und in jeder Weise -das Gesetz zu verletzen, und das, weil sie Ungewöhnliche sind. So -scheint es mir in Ihrem Aufsatze zu stehen, wenn ich nicht irre?« - -»Aber wie ist denn das? Es kann nicht sein, daß es so gemeint ist!« -murmelte Rasumichin zweifelnd. - -Raskolnikoff lächelte wieder. Er hatte sofort verstanden, wie die Sache -stand und worauf man ihn bringen wollte; er entsann sich der Stelle und -beschloß, die Herausforderung anzunehmen. - -»Es steht nicht ganz so in meinem Aufsatze,« begann er schlicht und -bescheiden. »Übrigens, ich muß gestehen, daß Sie ihn nahezu richtig -wiedergegeben haben, und wenn Sie es wünschen, auch vollkommen richtig -...« Es paßte ihm anscheinend, zuzugeben, daß der Gedanke vollkommen -richtig wiedergegeben war. »Der Unterschied besteht einzig darin, daß -ich gar nicht behauptete, daß die ungewöhnlichen Menschen unbedingt -allerhand Scheußlichkeiten vollbringen müssen und dazu verpflichtet -sind, wie Sie es sagen. Ich glaube auch, daß man einen solchen Aufsatz -in der Presse nicht zugelassen hätte. Ich habe einfach angedeutet, daß -ein >ungewöhnlicher< Mensch das Recht habe ... das heißt kein -offizielles Recht, sondern in sich selbst das Recht trage, seinem -Gewissen zu gestatten ... einige Hindernisse zu überschreiten, und -einzig in dem Falle, wenn die Erfüllung seiner Idee, -- die zuweilen -vielleicht für die ganze Menschheit heilbringend ist, -- dieses -verlangt. Sie beliebten zu sagen, daß mein Aufsatz nicht deutlich sei; -ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Ich irre mich -vielleicht nicht, wenn ich annehme, daß Sie es wünschen, gut. Meine -Ansicht geht dahin, -- wenn die Entdeckungen von Newton und Kepler, -infolge irgendwelcher Kombinationen, in keiner Weise der Menschheit -anders bekannt werden konnten als durch den Verlust des Lebens von -einem, zehn, hundert und mehr Menschen, die der Erfindung störend waren, -oder ihr als ein Hindernis im Wege standen, so hätte Newton das Recht -gehabt und wäre sogar verpflichtet gewesen ... diese zehn oder hundert -Menschen zu beseitigen, um seine Erfindungen der ganzen Menschheit -bekannt zu machen. Daraus läßt sich übrigens gar nicht schließen, daß -Newton das Recht hatte, jeden beliebigen, den ersten besten zu ermorden -oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Weiter entwickelte ich -- -soweit ich mich erinnern kann -- in meinem Aufsatze, daß alle ... nun, -nehmen wir zum Beispiel die Gesetzgeber und Führer der Menschheit, -angefangen von den allerältesten Lykurg, Solon bis Mahomet, Napoleon und -so weiter herauf: alle waren ohne Ausnahme Verbrecher, schon dadurch -allein, daß sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft -heilig geehrte und von den Vätern übernommene Gesetz verletzten, -- und -sie schraken sicher nicht vor dem Blutvergießen zurück, wenn ihnen nur -das Blut, -- und es war zuweilen ganz unschuldiges und tapfer für das -alte Gesetz vergossenes Blut -- helfen konnte. Es ist sogar auffallend, -daß der größte Teil dieser Wohltäter und Führer der Menschheit besonders -grausame Blutvergießer waren. Mit einem Worte, ich ziehe den Schluß, daß -auch alle, nicht bloß die Großen, sondern auch die kaum über das Maß -hervortretenden Menschen, das heißt, die auch nur eine geringe Fähigkeit -haben, etwas Neues zu sagen, unbedingt ihrer Natur nach mehr oder -weniger Verbrecher sein müssen. Anders würde es ihnen schwer fallen, aus -dem Gleise herauszukommen; und im Gleise zu bleiben können sie gar nicht -wollen, wiederum ihrer Natur nach, und meiner Ansicht nach sind sie -sogar verpflichtet, es nicht zu wollen. Mit einem Worte, Sie sehen, daß -bis dato etwas besonders Neues nicht in dem Aufsatze steht. Das wurde -schon tausendmal gedruckt und gelesen. Was meine Einteilung der Menschen -in gewöhnliche und ungewöhnliche anbetrifft, gebe ich zu, daß sie ein -wenig willkürlich ist, aber ich klammere mich auch nicht an genaue -Zahlen. Ich glaube nur an meinen Hauptgedanken. Er besteht gerade darin, -daß die Menschen infolge eines Naturgesetzes überhaupt in zwei Gattungen -zerfallen, -- eine niedrige, die gewöhnlichen, das heißt sozusagen das -Material, das einzig zur Weitererzeugung dient, und eigentliche -Menschen, das heißt solche, die die Begabung oder das Talent haben, in -ihrem Kreise ein neues Wort zu sagen. Selbstverständlich gibt es hier -endlose Unterabteilungen, aber die bezeichnenden Merkmale beider -Gattungen sind ziemlich scharf, -- die erste Gattung, das heißt das -Material, besteht, im allgemeinen gesagt, aus Menschen, die ihrer Natur -nach konservativ und gesittet sind, in Gehorsam leben und es lieben, -gehorsam zu sein. Meiner Ansicht nach sind sie auch verpflichtet, -gehorsam zu sein, denn das ist ihre Bestimmung und dabei ist entschieden -nichts Erniedrigendes für sie. Die zweite Gattung, -- die überschreiten -alle das Gesetz, sind Zerstörer oder neigen dazu, je nach ihren -Fähigkeiten. Die Verbrechen dieser Menschen sind selbstverständlich -relativ und verschieden; meistens verlangen sie die Zerstörung des -Gegenwärtigen im Namen eines Besseren. Wenn er aber seiner Idee wegen, --- sagen wir -- über eine Leiche schreiten oder Blut vergießen muß, so -kann er, meine ich, innerlich von seinem Gewissen aus sich die Erlaubnis -geben, über diese Leiche hinwegzuschreiten, -- das heißt, je nach der -Idee und ihrem Umfange, -- halten Sie das fest! Nur in diesem Sinne -spreche ich auch in meinem Aufsatze über ihr Recht auf Verbrechen. Sie -entsinnen sich doch, daß wir mit einer juristischen Frage anfingen. -Übrigens, es ist nicht wert, sich viel aufzuregen, -- die Menge erkennt -fast nie dieses Recht für sie an, sie läßt sie hinrichten und hängen -- -mehr oder weniger -- und erfüllt dadurch vollkommen richtig ihre -konservative Bestimmung, jedoch mit dem Unterschiede, daß dieselbe Menge -in den folgenden Generationen die Hingerichteten auf das Piedestal -stellen und sie anbeten wird -- mehr oder weniger. Die erste Gattung ist -immer der Herr der Gegenwart, die zweite -- der Herr der Zukunft. Die -ersten bewahren die Welt und vermehren sie der Zahl nach; die zweiten -bewegen die Welt und führen sie zum Ziele. Wie die einen, so haben auch -die anderen das vollkommen gleiche Recht, zu existieren. Mit einem -Worte, in meinem Aufsatze haben alle gleich großes Recht und -- _vive la -guerre éternelle_{[1]}, -- bis zum Neuen Jerusalem, versteht sich!« - -»Also, Sie glauben trotzdem an Neu-Jerusalem?« - -»Ich glaube daran,« antwortete Raskolnikoff fest. Indem er dies sagte, -blickte er zu Boden, wie er auch während seiner langen Rede auf einen -Punkt des Teppiches geblickt hatte. - -»Und, und glauben Sie auch an Gott? Entschuldigen Sie meine Neugier.« - -»Ich glaube an ihn,« wiederholte Raskolnikoff und hob die Augen zu -Porphyri Petrowitsch empor. - -»Und, und glauben Sie an die Auferstehung des Lazarus?« - -»Ich glau--be. Warum wollen Sie das wissen?« - -»Glauben Sie buchstäblich daran?« - -»Buchstäblich.« - -»So, so ... ich fragte bloß aus Neugier. Entschuldigen Sie. Aber -erlauben Sie, -- ich kehre zu dem Gesagten zurück, -- jene werden doch -nicht immer hingerichtet, manche ganz im Gegenteil ...« - -»Triumphieren während ihres Lebens? Oh ja, manche erreichen es auch -während ihrer Lebenszeit, und dann ...« - -»Beginnen sie selbst hinzurichten?« - -»Wenn es nötig ist, und wissen Sie, eigentlich meistenteils. Ihre -Bemerkung war treffend.« - -»Danke. Aber sagen Sie bitte, wie soll man diese Ungewöhnlichen von den -Gewöhnlichen unterscheiden? Gibt es etwa bei der Geburt solche Merkmale? -Ich meine, daß hier mehr Klarheit, sozusagen mehr äußerliche Genauigkeit -sein müßte, -- entschuldigen Sie bei mir die natürliche Besorgnis eines -praktischen und loyalen Menschen, aber könnte man hier nicht zum -Beispiel eine besondere Kleidung einführen, irgend etwas tragen, -irgendwie sie kennzeichnen? ... Denn, gestehen Sie selbst, wenn eine -Verwechslung stattfindet, und einer aus der einen Gattung sich -einbildet, daß er zu der anderen Gattung gehöre und anfängt >alle -Hindernisse zu beseitigen<, wie Sie sich sehr treffend ausdrückten, so -kann dabei ...« - -»Oh, das kommt sehr oft vor! Ihr letzter Einwurf ist noch besser als der -vorige ...« - -»Danke sehr ...« - -»Keine Ursache; aber ziehen Sie doch in Betracht, daß ein Irrtum nur -seitens der ersten Gattung, das heißt der >gewöhnlichen< Menschen, wie -ich sie vielleicht sehr unglücklich genannt habe, möglich ist. Trotz -ihrer angeborenen Neigung zum Gehorsam lieben es sehr viele von ihnen, -aus einem gewissen, lebhaften Naturell, das auch einer Kuh nicht versagt -ist, sich einzubilden Fortschrittsmänner, >Zerstörer<, zu sein und -glauben es mit einem neuen Worte erreicht zu haben, und sie tun -vollkommen aufrichtig. Und die tatsächlich Neuen bemerken sie darüber -sehr oft nicht, verachten sie sogar als rückschrittliche und -untergeordnete Menschen. Meiner Ansicht nach aber kann hier keine große -Gefahr vorliegen, denn sie erreichen nie viel im Leben. Für ihre -Verblendung könnte man sie zuweilen züchtigen, um sie an ihren Platz zu -erinnern, aber auch nicht mehr; man braucht aber dabei oftmals keinen -Vollstrecker, sie werden sich selbst züchtigen, weil sie sehr -wohlgesittet sind, -- manche erweisen einander diesen Dienst, andere -aber tun es eigenhändig ... Sie legen sich dabei allerhand öffentliche -Bußen auf, -- es macht sich das hübsch und wirkt belehrend: mit einem -Worte, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen ... Für sie besteht ein -Gesetz.« - -»Nun, in diesem Punkte haben Sie mich wenigstens etwas beruhigt, aber da -haben wir noch einen bösen Punkt, -- sagen Sie mir bitte, gibt es viele -solche Leute, die das Recht haben, andere zu morden, sogenannte ->Ungewöhnliche<? Ich bin selbstverständlich bereit, mich vor Ihnen zu -beugen, aber Sie müssen doch selbst zugeben, daß es ängstlich ist, wenn -es viele von der Art gäbe?« - -»Oh, regen Sie sich auch in diesem Punkte nicht auf,« fuhr Raskolnikoff -in demselben Tone fort, »Menschen mit neuen Gedanken, sogar solche, die -nur einigermaßen befähigt sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt -ungewöhnlich wenige geboren, sogar merkwürdig wenig. Eines ist mir klar, -daß die Ordnung für das Entstehen und Gedeihen aller dieser Kategorien -und Subkategorien sehr genau und sicher durch irgendein Naturgesetz -bestimmt ist. Dieses Gesetz ist uns selbstverständlich unbekannt, aber -ich glaube, daß es existiert und späterhin vielleicht auch einmal -bekannt werden wird. Die ungeheure Menge Menschen, das Material -existiert bloß in der Welt, um schließlich durch irgendeine Anstrengung, -durch einen geheimnisvollen Vorgang, durch eine Kreuzung von -Geschlechtern und Gattungen sich zusammen zu fassen und einen einzigen --- sagen wir von tausend -- einigermaßen selbständigen Menschen in die -Welt zu setzen. Mit einer noch größeren Selbständigkeit wird vielleicht -nur ein einziger von zehntausend geboren, -- ich spreche bildlich. Mit -einer noch größeren von hunderttausend ein einziger. Geniale Menschen -von Millionen und große Genies, die Vollender der Menschheit, kommen -vielleicht zur Welt nach dem Ableben von vielen tausend Millionen -Menschen. Mit einem Worte, ich habe keinen Blick in die Retorte -geworfen, in der dies alles vorgeht. Aber ein bestimmtes Gesetz -existiert unbedingt und muß existieren; hier kann es keinen Zufall -geben.« - -»Ja, sagt einmal, scherzt ihr etwa beide?« rief Rasumichin endlich aus. -»Führt ihr einander an der Nase herum oder nicht? Sie sitzen und treiben -miteinander Spaß! Meinst du es ernst, Rodja?« - -Raskolnikoff erhob sein bleiches und fast trauriges Gesicht zu ihm und -antwortete nichts. Und merkwürdig erschien Rasumichin, im Vergleiche zu -diesem stillen und traurigen Gesichte, der offene, zudringliche, -gereizte und unhöfliche, beißende Spott von Porphyri Petrowitsch. - -»Nun, Bruder, wenn es tatsächlich ernst ist, so ... Du hast gewiß recht, -wenn du sagst, daß dies nicht neu sei und allem, was wir tausendmal -gelesen und gehört haben, gleiche. Aber was tatsächlich originell in -alledem ist, -- und in der Tat dir zu meinem Entsetzen allein gehört, -ist der Punkt, daß du trotzdem Blutvergießen dem Gewissen nach -gestattest und es -- entschuldige mich, -- sogar mit so einem Fanatismus -tust ... In diesem also besteht auch der Hauptgedanke deines Aufsatzes. -Diese Erlaubnis, dem Gewissen nach Blut zu vergießen, das ... das ist -meiner Meinung nach schrecklicher als eine offizielle Erlaubnis, Blut zu -vergießen, sozusagen eine gesetzliche ...« - -»Vollkommen richtig, -- es ist schrecklicher,« pflichtete Porphyri -Petrowitsch bei. - -»Nein, du hast dich von irgend etwas hinreißen lassen! Das muß ein -Irrtum sein. Ich will den Aufsatz lesen ... Du hast dich bestimmt -hinreißen lassen! Du kannst nicht so denken ... Ich will es lesen.« - -»Im Aufsatze steht dies alles nicht, es ist dort bloß angedeutet,« sagte -Raskolnikoff. - -»So, so,« Porphyri Petrowitsch rückte auf seinem Stuhle hin und her, -»mir ist es jetzt ziemlich klar, wie Sie belieben Verbrechen zu -betrachten, aber ... entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit, -- ich -belästige Sie zu sehr, schäme mich selbst darüber, -- aber sehen Sie, -- -Sie haben mich vorhin sehr beruhigt über die Möglichkeit einer -Verwechslung der beiden Kategorien, aber ... mich quälen nun allerhand -praktische Fälle! Nehmen wir an, irgendein Mann oder Jüngling bildet -sich plötzlich ein, er sei Lykurg oder Mahomet ... ein Zukünftiger, -verstehen Sie, und -- beginnt nun alle Hindernisse zu beseitigen ... Es -steht ihm, sagt er sich, ein langer Weg bevor und für diesen Weg braucht -er Geld ... so beginnt er sich das Geld zu verschaffen ... wissen Sie?« - -Sametoff prustete plötzlich vor Lachen; Raskolnikoff würdigte ihn nicht -eines Blickes. - -»Ich muß zugeben,« antwortete er ruhig, »daß solche Fälle in der Tat -vorkommen müssen. Dümmere und besonders eitle Menschen fallen darauf -herein; insbesondere die Jugend.« - -»Sehen Sie. Nun, was soll da geschehen?« - -»Ja, was denn,« lächelte ein wenig Raskolnikoff, »ich bin doch daran -nicht schuld. So ist es einmal und wird immer so bleiben. Er« -- er wies -auf Rasumichin -- »sagte soeben, daß ich Blutvergießen gestatte. Was ist -denn dabei? Die Gesellschaft ist doch mit Verbannung, Gefängnissen, -Untersuchungsrichtern, Zuchthäusern genug gesichert, -- wozu denn sich -beunruhigen? Sucht den Dieb! ...« - -»Nun, und wenn wir ihn finden?« - -»Fort mit ihm.« - -»Das ist sehr logisch. Nun, und wie steht es mit dem Gewissen?« - -»Was kümmert Sie das?« - -»Doch, aus Humanität.« - -»Wer ein Gewissen hat, mag darunter leiden, wenn er seinen Irrtum -einsieht. Das ist auch eine Strafe für ihn, -- außer der Zwangsarbeit.« - -»Nun, und die tatsächlich Genialen,« fragte Rasumichin mit düsterem -Gesichte, »die nämlich, denen das Recht gegeben ist zu morden, die -sollen gar nicht, auch nicht wegen des vergossenen Blutes leiden?« - -»Warum sagst du: sollen? Es gibt hier weder eine Erlaubnis, noch ein -Verbot. Mag er leiden, wenn ihm das Opfer leid tut ... Leiden und -Schmerz hängen immer mit einer weiten Erkenntnis und einem tiefen Herzen -zusammen. Die wirklich großen Menschen müssen auf Erden großes Leid -empfinden,« fügte er plötzlich nachdenklich, nicht im Tone des -Gespräches, hinzu. - -Er hob die Augen auf, blickte alle sinnend an, lächelte und nahm seine -Mütze. Er war im Vergleiche mit seinem Eintritt zu ruhig, und er fühlte -es auch. Alle erhoben sich. - -»Nun, schelten Sie mich oder nicht, ärgern Sie sich über mich oder -nicht, aber ich kann es nicht unterlassen,« sagte Porphyri Petrowitsch -wieder, »erlauben Sie mir noch eine kleine Frage -- ich belästige Sie -sehr, -- nur eine einzige kleine Idee möchte ich aussprechen, bloß um es -nicht zu vergessen ...« - -»Gut, sagen Sie Ihre kleine Idee.« Raskolnikoff stand ernst und bleich -in Erwartung vor ihm. - -»Ja, sehen Sie ... ich weiß wirklich nicht, wie ich mich glücklich -ausdrücken soll ... die Idee ist zu gelungen ... ist psychologisch ... -Sehen Sie, als Sie Ihren Aufsatz schrieben, -- da war es doch nicht ganz -ohne, he--he--he--, -- daß Sie sich selbst, -- nun, sagen wir, ein -bißchen vielleicht, -- auch für einen >ungewöhnlichen< Menschen hielten, -der ein neues Wort -- in Ihrem Sinne, versteht sich, -- sagt ... War es -nicht so?« - -»Sehr möglich,« antwortete Raskolnikoff verächtlich. Rasumichin machte -eine Bewegung. - -»Und wenn es so ist, würden Sie in diesem Falle sich entschließen, -- -nun, sagen wir, wegen irgendwelcher Fehlschläge und beschränkter -Verhältnisse oder auch um irgendwie die Menschheit zu fördern, -- über -ein Hindernis hinweg zu schreiten? ... Nun, zum Beispiel, zu morden und -zu rauben? ...« - -Und wieder schien er ihm plötzlich mit dem linken Auge zuzuzwinkern und -lachte unhörbar, -- genau wie vorhin. - -»Wenn ich auch über eines hinweg schreiten würde, so würde ich es Ihnen -sicher nicht sagen,« antwortete Raskolnikoff mit herausfordernder -hochmütiger Verachtung. - -»Ach was, ich interessiere mich doch in rein literarischer Hinsicht, um -eigentlich Ihren Aufsatz mehr zu verstehen ...« - -»Jetzt wird er deutlich und unverschämt!« dachte Raskolnikoff voll -Widerwillen. - -»Gestatten Sie mir gütigst zu bemerken,« antwortete er trocken, »daß ich -mich weder für einen Mahomet noch für einen Napoleon halte ... für keine -von solchen Persönlichkeiten, also kann ich, da ich keiner von denen -bin, Ihnen auch keine befriedigende Erklärung geben, wie ich handeln -würde.« - -»Nun, aber bitte, wer hält sich jetzt in Rußland nicht für einen -Napoleon?« sagte Porphyri Petrowitsch plötzlich mit großer Familiarität. - -Sogar im Tone seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches. - -»Möglicherweise hat auch ein künftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna -in der vorigen Woche mit dem Beile erschlagen?« platzte Sametoff heraus. - -Raskolnikoff schwieg und blickte unverwandt und fest Porphyri -Petrowitsch an. Rasumichins Gesicht verfinsterte sich. Ihm war schon -vorher etwas aufgefallen. Er blickte zornig um sich. Eine Minute -düsteren Schweigens verging. Raskolnikoff wandte sich, um wegzugehen. - -»Sie wollen schon fortgehen?« sagte Porphyri Petrowitsch freundlich und -reichte ihm außerordentlich liebenswürdig die Hand. »Ich freue mich -sehr, sehr über Ihre Bekanntschaft. Und was Ihre Bitte anbetrifft, seien -Sie ohne Sorge. Schreiben Sie nur so, wie ich Ihnen sagte. Oder noch -besser, kommen Sie selber einmal zu mir ... vielleicht in diesen Tagen -... morgen ... ich werde gegen elf Uhr da sein. Wir wollen dann alles -besorgen ... uns auch etwas unterhalten ... Sie, als einer der letzten, -die dort gewesen waren, könnten uns vielleicht etwas mitteilen ...« - -»Sie wollen mich offiziell, mit allem Zubehör, verhören?« fragte -Raskolnikoff scharf. - -»Warum denn? Vorläufig ist das gar nicht nötig. Sie haben das falsch -verstanden. Sehen Sie, ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen und ... -und habe schon mit allen Pfandgebern gesprochen ... manche Aussagen habe -ich zu Protokoll genommen ... und Sie, als der letzte ... Ja, a propos!« -rief er plötzlich, sich über etwas freuend, »ich erinnere mich jetzt, -was ist denn mit mir! ...« wandte er sich an Rasumichin. »Siehst du, du -hast mir von diesem Nikolai die Ohren vollgeblasen ... nun, ich weiß -auch selbst, ich weiß,« wandte er sich an Raskolnikoff, »daß der Bursche -unschuldig ist, aber was ist da zu machen, ich mußte auch Dmitri -belästigen ... ja, die Sache ist nun die, -- als Sie damals die Treppe -hinaufgingen ... erlauben Sie, -- Sie waren doch in der achten Stunde -dort?« - -»Ja, in der achten,« antwortete Raskolnikoff und empfand es im selben -Momente unangenehm, da er dies doch nicht zu sagen brauchte. - -»Also, als Sie die Treppe in der achten Stunde hinaufgingen, haben Sie -da nicht im zweiten Stock, in einer offenstehenden Wohnung -- erinnern -Sie sich? -- zwei Arbeiter oder wenigstens einen von ihnen gesehen? Sie -strichen dort an, haben Sie sie nicht bemerkt? Das ist sehr, sehr -wichtig für die beiden! ...« - -»Anstreicher? Nein, ich habe sie nicht gesehen ...« antwortete -Raskolnikoff langsam und wie in seiner Erinnerung suchend, dabei spannte -er unter schweren Qualen sein ganzes Wesen an, um alsbald die gestellte -Falle zu erkennen und nichts zu übersehen. »Nein, ich habe sie nicht -gesehen und eine offenstehende Wohnung auch nicht bemerkt ... aber ich -erinnere mich -- (er hatte die Falle jetzt erkannt und triumphierte) -- -daß im vierten Stock ein Beamter aus der Wohnung auszog ... gerade -gegenüber Aljona Iwanowna ... ich erinnere mich dessen ... erinnere mich -klar ... Soldaten trugen ein Sofa hinaus und preßten mich dabei an die -Wand ... Anstreicher, nein, deren erinnere ich mich nicht ... und eine -offenstehende Wohnung habe ich nirgends gesehen. Ja, nirgends ...« - -»Ja, was ist denn das!« rief plötzlich Rasumichin, als sei er zu sich -gekommen und hätte es sich überlegt, »ja, die Anstreicher arbeiteten -doch am Tage des Mordes dort und er war drei Tage vorher dort? Was -fragst du denn?« - -»Ach! Ich habe es verwechselt!« schlug sich Porphyri Petrowitsch vor die -Stirn. »Zum Teufel, ich verliere noch den Verstand durch diese Sache!« -wandte er sich wie entschuldigend an Raskolnikoff. »Uns ist es so -wichtig, zu erfahren, ob man jemand in der achten Stunde in der Wohnung -gesehen hat und da bildete ich mir ein, daß Sie es auch sagen könnten -... ich habe es rein verwechselt!« - -»Man muß eben aufmerksamer sein,« bemerkte Rasumichin grimmig. - -Die letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesagt. Porphyri Petrowitsch -begleitete sie außerordentlich liebenswürdig bis zur Türe. Beide traten -finster und verdrießlich auf die Straße hinaus und redeten einige -Schritte kein Wort. Raskolnikoff tat einen tiefen Atemzug. - - - VI. - -»... Ich glaube nicht daran! Ich kann es nicht glauben!« wiederholte -Rasumichin bestürzt und versuchte mit aller Kraft die Einwände -Raskolnikoffs zu widerlegen. - -Sie näherten sich schon den »Möblierten Zimmern« von Bakalejeff, wo -Pulcheria Alexandrowna und Dunja sie seit langem erwarteten. Rasumichin -blieb alle Augenblicke im Eifer des Gespräches stehen, verwirrt und -schon dadurch allein aufgeregt, daß sie zum erstenmale _darüber_ klar -gesprochen hatten. - -»Du glaubst es nicht!« antwortete Raskolnikoff mit einem kalten und -nachlässigen Lächeln. »Du hast nach deiner Gewohnheit nicht acht gehabt, -aber ich wog jedes Wort ab.« - -»Du bist argwöhnisch, darum legtest du auch jedes Wort auf die Wage ... -Hm ... in der Tat, ich gebe zu, der Ton von Porphyri war ziemlich -merkwürdig; besonders aber dieser Schuft Sametoff! ... Du hast recht, -etwas war an ihm, -- aber warum? Warum?« - -»Er hat sich's über Nacht überlegt.« - -»Aber im Gegenteil, im Gegenteil! Wenn sie diesen hirnlosen Gedanken -wirklich hätten, so würden sie mit allen Kräften ihn zu verbergen suchen -und ihre Karten verdeckt halten, um dich später plötzlich zu fangen ... -Jetzt aber ist es unverschämt und unvorsichtig!« - -»Wenn sie Tatsachen, das heißt wirklich Tatsachen oder einen -einigermaßen begründeten Verdacht hätten, dann würden sie wirklich -versuchen, ihr Spiel zu verbergen, -- in der Hoffnung, noch mehr zu -gewinnen und ... hätten übrigens auch längst eine Haussuchung -vorgenommen! Aber sie haben keine Tatsache, keine einzige, -- alles ist -Phantasie, alles hat zwei Seiten, sie haben nur im allgemeinen eine -Idee, -- so versuchen sie durch Unverschämtheit zu verwirren. Vielleicht -aber ist er auch wütend darüber, daß er keine Tatsachen hat, und aus -Ärger läßt er sich gehen. Vielleicht aber hat er auch damit einen Zweck -verfolgt ... Er scheint ein kluger Mann zu sein ... Er wollte mich -vielleicht erschrecken damit, daß er etwas weiß ... Hier, Bruder, liegt -eine eigene Psychologie ... Übrigens aber, ist es gemein, dies alles zu -erklären. Laß es!« - -»Und beleidigend, beleidigend! Ich verstehe dich! Aber ... da wir schon -einmal deutlich darüber reden -- und es ist gut, daß wir endlich klar -darüber sprechen können, ich freue mich darüber, -- so will ich dir -jetzt offen gestehen, daß ich lange schon bei ihnen diesen Gedanken, in -dieser ganzen Zeit gemerkt habe, selbstverständlich in einer kaum -merkbaren, in einer schleichenden Form. Warum aber? Wie können sie es -wagen? Wo liegen bei ihnen die Gründe? Wenn du wüßtest, wie ich wütend -war! Wie, -- aus dem Grunde, weil da ein armer Student ist, -heruntergekommen durch große Armut und Hypochondrie, am Vorabend einer -schrecklichen Krankheit, verbunden mit Fieberwahn, die vielleicht längst -in ihm saß, -- merk dir das! -- ein argwöhnischer, ehrgeiziger Mensch, -der seinen Wert kennt und der sechs Monate in einem Winkel gesessen und -niemand gesehen hat; er steht in Lumpen und in Stiefeln ohne Sohlen vor -allerhand Polizisten und leidet unter ihren Schmähungen; dazu kommt noch -eine unerwartete Schuld, ein nicht eingelöster Wechsel von Hofrat -Tschebaroff, dumpfer Farbengeruch, dreißig Grad Wärme, stickige Luft, -eine Menge Menschen, die Erzählung von der Ermordung einer Person, bei -der er am Vorabend war, und dies alles -- auf leeren Magen! Ja, wie soll -man dabei nicht ohnmächtig werden! Und darauf, darauf wird alles -begründet! Zum Teufel! Ich verstehe, daß es einen ärgert, aber an deiner -Stelle, Rodja, würde ich ihnen allen ins Gesicht lachen, oder noch -besser, ihnen allen ordentlich in die Fratze spucken, ich würde noch ein -paar Dutzend Ohrfeigen verteilen, selbstverständlich in kluger Weise, -wie man sie stets geben muß, und würde damit die Sache abschließen. -Pfeif darauf! Halt dich fest! Es ist eine Schande!« - -»Er hat es gut dargestellt,« dachte Raskolnikoff. - -»Pfeif darauf? Und morgen ist wieder Verhör!« sagte er bitter. »Soll ich -mich etwa in Verhandlungen mit ihnen einlassen? Ich ärgere mich schon, -daß ich mich gestern in dem Restaurant bis zu Sametoff erniedrigt habe -...« - -»Zum Teufel! Ich will selbst zu Porphyri gehen! Und ich will ihn schon -_in verwandtschaftlicher Weise_ vorkriegen; er soll mir alles haarklein -erzählen. Und Sametoff ...« - -»Endlich kommt er auf ihn!« dachte Raskolnikoff. - -»Halt!« rief Rasumichin und packte ihn plötzlich an der Schulter, »halt! -Du hast geschwindelt! Ich habe es mir überlegt, du hast geschwindelt! -Wieso ist das eine Falle? Du sagst, daß die Frage über die Anstreicher -eine Falle war? Denk doch nach, -- wenn du _es_ getan hättest, hättest -du es zugegeben, daß du gesehen hast, wie die Wohnung gemalt wurde ... -und die Arbeiter? Im Gegenteil, -- du hättest gesagt, ich habe nichts -gesehen, wenn du es auch gesehen hättest! Wer zeugt denn gegen sich -selbst?« - -»Wenn ich _es_ getan hätte, so würde ich unbedingt gesagt haben, daß ich -wie die Anstreicher, so auch die Wohnung gesehen habe,« antwortete -Raskolnikoff unwillig und mit sichtlichem Ekel. - -»Ja, warum gegen sich selbst aussagen?« - -»Weil nur Bauern oder ganz unerfahrene Neulinge beim Verhör offen und -alles nacheinander leugnen. Ein einigermaßen gebildeter und schlauer -Mann versucht unbedingt und nach Möglichkeit alle äußeren, -unverfänglichen Tatsachen zu bestätigen; er sucht bloß andere Gründe -anzuführen, bringt seine eigene besondere und unerwartete Erklärung -hinein, die eine vollkommen andere Bedeutung gibt und alles in einem -anderen Lichte erscheinen läßt. Porphyri konnte gerade damit rechnen, -daß ich unbedingt in dieser Weise antworten und sicher sagen würde, daß -ich sie gesehen habe, nur der Wahrscheinlichkeit halber, und dabei -irgend etwas zur Erklärung hinzufügen würde.« - -»Er hätte dir sofort gesagt, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter dort -gewesen sein konnten, und daß also du gerade am Tage des Mordes, um acht -Uhr, dort gewesen bist. Er hätte dich mit dieser Kleinigkeit gefangen.« - -»Er rechnete auch damit, daß ich keine Zeit haben werde, es mir zu -überlegen und mich beeilen würde, wahrheitsgetreuer zu antworten und -dabei vergessen würde, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter da sein -konnten.« - -»Wie kann man aber das vergessen?« - -»Sehr leicht! Auf solche geringfügigen Dinge fallen am ehesten schlaue -Menschen herein. Je schlauer ein Mensch ist, um so weniger ahnt er, daß -man ihn bei etwas Einfachem ertappen würde. Den schlauesten Menschen muß -man gerade mit dem Einfachsten verwirren. Porphyri ist gar nicht so -dumm, wie du denkst ...« - -»Er ist nach alledem ein Schuft!« - -Raskolnikoff konnte sich des Lachens nicht erwehren. Aber im selben -Augenblicke erschien ihm seine eigene Lust und die Begeisterung, mit der -er seine letzte Erklärung abgegeben hatte, überaus sonderbar; das ganze -vorangehende Gespräch hatte er mit einem düsteren Widerwillen, nur unter -dem Zwange der Situation geführt. - -»Ich bekomme noch Geschmack daran!« dachte er. - -Jedoch gleich darauf wurde er unruhig, als hätte ihn ein unerwarteter -und beunruhigender Gedanke überrascht. Seine Unruhe wuchs. Sie waren -schon am Eingange zu den möblierten Zimmern von Bakalejeff. - -»Geh allein hinein,« sagte plötzlich Raskolnikoff, »ich komme sofort -zurück.« - -»Wohin willst du? Wir sind ja schon da!« - -»Ich muß, ich muß; ich habe etwas zu tun ... ich komme nach einer halben -Stunde wieder ... Sage es ihnen.« - -»Wie du willst, ich begleite dich aber!« - -»Was, willst auch du mich quälen!« rief er mit solcher bitteren -Gereiztheit und solcher Verzweiflung im Blicke, daß Rasumichin -fassungslos wurde. - -Er blieb eine Weile auf der Außentreppe stehen und sah finster zu, wie -jener schnell in der Richtung nach seiner Wohnung dahinschritt. -Schließlich biß er die Zähne zusammen, ballte die Faust, schwur sich -selbst, daß er heute noch den ganzen Porphyri wie eine Zitrone -ausquetschen würde, und ging die Treppe hinauf, um Pulcheria -Alexandrowna, die durch ihre lange Abwesenheit schon aufgeregt war, zu -beruhigen. - -Als Raskolnikoff bei seinem Hause anlangte, waren seine Schläfen mit -Schweiß bedeckt und er atmete schwer. Er eilte die Treppe hinauf, trat -in seine nicht abgeschlossene Wohnung und hakte sofort die Türe zu. Dann -stürzte er erschreckt und wie wahnsinnig zu der Ecke, zu dem Loche -hinter den Tapeten, wohin er damals die Sachen gelegt hatte, steckte die -Hand hinein und scharrte einige Minuten aufs höchste erregt in dem Loche -und untersuchte alle Ecken und Falten der Tapete. Als er nichts fand, -stand er auf und holte tief Atem. Als er sich vorhin der Treppe von -Bakalejeff näherte, war es ihm plötzlich in den Sinn gekommen, daß -irgendeine Sache, eine Kette oder ein Manschettenknopf etwa, oder auch -ein Stück Papier, in dem sie eingewickelt waren, mit einem Vermerk von -der Hand der Alten auf irgendeiner Spalte liegen geblieben sein konnte -und als ein unerwarteter und unabwendbarer Beweis vor ihnen auftauchen -konnte. - -Er stand, wie in Nachdenken versunken und ein sonderbares, demütiges, -halb sinnloses Lächeln umspielte seine Lippen. Er nahm seine Mütze und -ging langsam hinaus. Seine Gedanken irrten umher. Nachdenklich trat er -unter das Tor. - -»Da ist der Herr selbst!« rief eine laute Stimme; er erhob den Kopf. - -Der Hausknecht stand an der Türe seiner Kammer und zeigte auf einen -nicht sonderlich großen Mann, der wie ein Kleinbürger aussah, und der -mit einem Mantel, einem Schlafrock ähnlich, und einer Weste bekleidet -war und von weitem eine große Ähnlichkeit mit einem Weibe hatte. Sein -Kopf, mit einer fettigen Mütze bedeckt, hing nach vorne, die ganze -Gestalt schien gekrümmt. Sein schlaffes, runzeliges Gesicht deutete auf -ein Alter über fünfzig; die kleinen verschwommenen Augen blickten -finster, ernst und mißvergnügt drein. - -»Was soll's?« fragte Raskolnikoff und trat zu dem Hausknechte. - -Der Kleinbürger wendete seine Augen zu ihm und blickte ihn unter der -Stirn hervor durchdringend, aufmerksam und andauernd an; dann wandte er -sich um und ging, ohne ein Wort gesagt zu haben, zum Tore auf die Straße -hinaus. - -»Ja, was ist denn das?« rief Raskolnikoff. - -»Dieser da fragte, ob hier ein Student wohne, nannte Ihren Namen, und -bei wem Sie wohnen. Sie kamen gerade, ich zeigte Sie ihm, nun ist er -fortgegangen. Das ist komisch.« - -Der Hausknecht hatte auch gewisse Bedenken, er dachte eine kleine Weile -nach, drehte sich aber um und ging in seine Kammer. - -Raskolnikoff stürzte dem Kleinbürger nach und erblickte ihn sofort, wie -er auf der anderen Seite der Straße gleichmäßig und nicht eilig, mit zu -Boden gerichteten Augen und anscheinend nachdenklich dahinschritt. Er -holte ihn bald ein, ging eine Weile hinter ihm; schließlich trat er -neben ihn und blickte ihm von der Seite ins Gesicht. Der Kleinbürger -bemerkte ihn sofort und schaute ihn schnell von oben bis unten an, ließ -aber wieder die Augen sinken, und in dieser Weise gingen sie eine -Strecke nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen. - -»Haben Sie nach mir gefragt ... beim Hausknecht?« sagte Raskolnikoff -endlich, aber nicht sehr laut. - -Der Kleinbürger gab ihm keine Antwort und blickte ihn nicht an. Wieder -gingen sie stumm dahin. - -»Ja, warum ... kommen Sie und fragen ... und schweigen jetzt ... ja, was -ist denn das?« Raskolnikoffs Stimme stockte und die Worte kamen ihm -schwer über die Lippen. - -Der Kleinbürger erhob diesmal die Augen und sah mit einem drohenden, -finsteren Blicke Raskolnikoff an. »Mörder!« sagte er plötzlich mit -leiser, aber klarer und deutlicher Stimme ... - -Raskolnikoff ging neben ihm weiter. Seine Füße wurden plötzlich -schrecklich schwach, im Rücken fühlte er Kälte und sein Herz schien auf -einen Augenblick still zu stehen; dann fing es an zu klopfen, als wollte -es sich losreißen. So gingen sie etwa hundert Schritte nebeneinander und -wieder vollkommen stumm. - -Der Kleinbürger blickte ihn nicht an. - -»Was fällt Ihnen ein ... was ... wer ist ein Mörder?« murmelte -Raskolnikoff kaum hörbar. - -»_Du_ bist ein Mörder,« sagte jener, noch deutlicher und -bedeutungsvoller und blickte mit dem Lächeln eines haßerfüllten -Triumphes in das bleiche Gesicht Raskolnikoffs und seine erloschenen -Augen. - -Sie kamen zu einer Straßenkreuzung. Der Kleinbürger bog links in eine -Straße ein und ging weiter, ohne sich umzusehen. Raskolnikoff blieb -stehen und sah ihm lange nach. Er sah, wie jener nach fünfzig Schritten -ungefähr sich umwandte und ihn, der immer noch unbeweglich auf derselben -Stelle stand, anblickte. Man konnte nicht sehen, aber Raskolnikoff -schien es, als hätte er auch diesmal sein kaltes, haßvolles und -triumphierendes Lächeln gehabt. - -Mit langsamen, schweren Schritten, mit zitternden Knien und fröstelnd -kehrte Raskolnikoff zurück und ging in sein Zimmer hinauf. Er nahm seine -Mütze ab und legte sie auf den Tisch hin und stand etwa zehn Minuten -unbeweglich daneben. Dann legte er sich völlig ermattet auf das Sofa und -streckte sich mit einem schwachen, krankhaften Stöhnen aus; seine Augen -waren geschlossen. So lag er eine halbe Stunde. - -Er dachte an nichts. Es waren wohl Gedanken oder Fetzen von Gedanken da, -Vorstellungen, ohne Ordnung und Zusammenhang, -- Gesichter von Menschen, -die er noch als Kind gesehen hatte, oder denen er irgendwo nur ein -einziges Mal begegnet war, und an die er sich nie mehr erinnert hatte, --- der Turm der W.schen Kirche, ein Billard, Zigarrengeruch in einem -Tabaksladen im Kellergeschosse, eine Kneipe, eine Küchentreppe, ganz -dunkel, ganz mit Unrat begossen und mit Eierschalen bedeckt, und -irgendwo ertönte das Sonntagsgeläute der Glocken ... Die Gegenstände -wechselten und drehten sich wie im Wirbelwinde. Manche gefielen ihm -sogar und er wollte sich an ihnen festklammern, aber sie erloschen, es -bedrückte ihn innerlich etwas, aber nicht sehr stark. Zuweilen war es -sogar gut ... Ein leichtes Frösteln blieb und selbst das war fast -angenehm. Er hörte die eiligen Schritte Rasumichins und seine Stimme, er -schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Türe -und blieb eine Weile auf der Schwelle, wie unschlüssig, stehen. Dann -trat er leise in das Zimmer und ging vorsichtig zu dem Sofa. Man hörte -Nastasja flüstern. - -»Laß ihn; mag er schlafen; er kann nachher essen.« - -»Das ist wahr,« antwortete Rasumichin. - -Beide gingen leise hinaus und machten die Türe zu. Noch eine halbe -Stunde verging. Raskolnikoff öffnete die Augen, legte sich wieder auf -den Rücken und steckte die Hände unter den Kopf ... - -»Wer ist er? Wer ist dieser wie aus der Erde hervorgewachsener Mensch? -Wo war er und was hat er gesehen? Er hat alles gesehen, das ist -zweifellos. Wo war er damals und von wo sah er es? Warum erscheint er -erst jetzt, wie aus der Erde gestiegen? Und wie konnte er es sehen, -- -ist es denn möglich? ... Hm ...« fuhr Raskolnikoff fort, erstarrend und -zusammenfahrend, »aber das Etui, das Nikolai hinter der Türe gefunden -hat, -- war denn das nicht auch möglich? Beweise? Ein Hunderttausendstel -übersieht man, -- und der Beweis wächst zu einer ägyptischen Pyramide! -Eine Fliege ist vorbeigeflogen, sie hat es gesehen! Aber ist es denn -möglich?« - -Und er fühlte mit Ekel, wie er plötzlich schwach, physisch schwach -geworden war. - -»Ich hätte es wissen müssen,« dachte er mit einem bitteren Lächeln, »und -wie durfte ich, indem ich mich kannte und ahnte, wie ich sein würde, ein -Beil nehmen und mit Blut mich besudeln. Ich war verpflichtet, es vorher -zu wissen ... Ach! Ich wußte es doch vorher!« ... - -Zuweilen blieb er unbeweglich an irgendeinem Gedanken haften. - -»Nein, die Menschen sind nicht so gemacht; ein wahrer Herrscher, dem -alles erlaubt ist, zerstört Toulon, veranstaltet eine Abschlachtung in -Paris, vergißt eine Armee in Ägypten, verbraucht eine halbe Million -Menschen im russischen Feldzuge und wird in Wilna durch ein Wortspiel -damit fertig; und ihm stellt man nach dem Tode Standbilder auf, -- somit -ist auch alles erlaubt. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht aus -Fleisch und Blut, sondern aus Eisen!« - -Ein plötzlicher Nebengedanke brachte ihn fast zum Lachen. - -»Napoleon, Pyramiden, Waterloo, -- und eine magere Beamtenwitwe, -Wucherin, mit einer roten Truhe unter dem Bett, -- nun, wie soll das -- -sagen wir selbst Porphyri Petrowitsch -- verdauen können! ... Wie sollen -sie es auch verdauen! ... Die Ästhetik wird sie hindern. >Will ein -Napoleon,< werden sie sagen, >unter das Bett zu einer Alten kriechen!< -Ach, Unsinn! ...« Ab und zu fühlte er, daß er phantasiere, -- er verfiel -dann einer fieberhaften verzückten Stimmung. - -»Die Alte ist Unsinn!« dachte er und wühlte eifrig und heftig seine -Gedankengänge weiter: - -»Daß es diese Alte war, war vielleicht ein Irrtum, aber die Hauptsache -liegt nicht an ihr. Die Alte war nur eine Krankheit ... ich wollte -schneller darüber hinweg schreiten ... ich habe nicht einen Menschen -getötet, ich habe ein Prinzip getötet! Das Prinzip habe ich wohl -getötet, bin aber nicht darüber hinweg geschritten, ich bin auf dieser -Seite geblieben ... Ich habe bloß verstanden, zu töten. Auch das habe -ich nicht mal verstanden, wie es sich zeigt ... Prinzip? Warum hat -vorhin der Dummkopf Rasumichin die Sozialisten gescholten? Sie sind -fleißige Leute und arbeitsam; sie beschäftigen sich mit dem >allgemeinen -Glück<. Nein, mir ist das Leben einmal gegeben und nie kommt es wieder; -ich will nicht auf das >allgemeine Glück< warten. Ich will auch selbst -leben, sonst lieber gar nicht. Was denn? Ich konnte nicht an einer -hungrigen Mutter vorbeigehen und meinen Rubel in der Erwartung des ->allgemeinen Glücks< in der Tasche festhalten. >Ich trage<, konnte ich -sagen, >einen kleinen Stein bei zum allgemeinen Glück, und darum habe -ich Seelenruhe.< Ha--ha--ha! Warum seid ihr an mir vorbeigegangen? Ich -lebe doch bloß einmal, ich will doch auch ... Ach was, ich bin eine -ästhetische Laus und mehr nicht,« fügte er hinzu und lachte plötzlich -wie ein Irrsinniger. »Ja, ich bin tatsächlich eine Laus,« fuhr er fort, -indem er sich voll Schadenfreude an den Gedanken klammerte, sich -hineinbohrte, mit ihm spielte und sich mit ihm amüsierte, »und schon aus -dem Grunde allein, weil ich erstens jetzt darüber räsonniere, daß ich -eine Laus bin, und zweitens, weil ich einen ganzen Monat die allgütige -Vorsehung belästige, indem ich sie als Zeuge anrief, daß ich es nicht -meines Fleisches und meiner Lust willen unternehme, sondern ein -prächtiges und herrliches Ziel im Auge habe, -- ha--ha--ha! Drittens, -weil ich mir vorgenommen hatte, möglichst Gerechtigkeit bei der -Ausführung walten zu lassen und Gewicht und Maß, wie auch Berechnung -einzuhalten, -- von allen Läusen wählte ich die allernutzloseste und -beschloß, nachdem ich sie ermordet haben würde, genau so viel zu nehmen, -als ich zum ersten Schritt brauche, -- nicht mehr und nicht weniger ... -und das übrige würde also laut dem Vermächtnis dem Kloster zugefallen -sein ... ha--ha--ha! Und zu guter Letzt bin ich selber eine Laus,« fügte -er mit Zähneknirschen hinzu, »weil ich vielleicht selbst noch schlimmer -und abscheulicher bin als die getötete Laus, und weil ich im voraus -ahnte, daß ich mir dies sagen würde, nachdem ich sie ermordet haben -würde! Kann ich denn mit diesem Entsetzen irgend etwas vergleichen! Oh, -Trivialität! Oh, Gemeinheit! ... Oh, wie ich den >Propheten< zu Pferde -mit einem Säbel in der Hand begreife, -- Allah befiehlt und die ->zitternden< Kreaturen sollen gehorchen! Der >Prophet< ist -tausendmal im Rechte, wenn er irgendwo mitten in der Straße eine -aus--ge--zeich--ne--te Batterie aufstellt und auf Unschuldige und -Schuldige schießt, ohne sich herabzulassen, eine Erklärung abzugeben! -Gehorcht, zitternde Kreaturen und -- wünscht nichts, denn -- ihr _habt_ -nichts zu wünschen! ... Oh, um nichts in der Welt, um keinen Preis will -ich der Alten verzeihen!« Sein Haar war mit Schweiß bedeckt, die -bebenden Lippen waren trocken und der unbewegliche Blick auf die -Zimmerdecke gerichtet. - -»Mutter und Schwester, -- wie ich sie geliebt habe! Warum hasse ich sie -jetzt? Ja, ich hasse sie, hasse sie physisch, ich kann sie nicht mehr -neben mir ertragen ... Vorhin ging ich zur Mutter hin und küßte sie, ich -erinnere mich dessen ... Sie zu umarmen und denken zu müssen, wenn sie -es wüßte, so ... soll ich ihr es sagen? Man kann mir das zutrauen ... -Hm! Sie muß ebenso sein wie ich ...« fügte er hinzu, mühsam seinen -Gedanken verfolgend, als kämpfe er mit dem ihn packenden Fieber. »Oh, -wie ich jetzt diese Alte hasse! Ich könnte sie noch einmal ermorden, -wenn sie zu sich käme! Arme Lisaweta! Warum kam sie hinzu? ... -Sonderbar, warum ich an sie fast gar nicht denke, als hätte ich sie -nicht ermordet! ... Lisaweta! Ssonja! Ihr armen sanften Geschöpfe mit -euren sanften Augen ... Ihr Lieben! ... Warum weinen sie nicht? Warum -stöhnen sie nicht? ... Sie geben alles hin ... blicken sanft und still -... Ssonja, Ssonja! Stille Ssonja! ...« - -Er verlor das Bewußtsein; merkwürdig erschien es ihm, daß er sich nicht -entsann, wie er auf die Straße gekommen. Es war schon später Abend. Die -Dämmerung nahm zu, der volle Mond leuchtete immer heller und heller; -aber die Luft war besonders dumpf. Menschen gingen in Haufen in den -Straßen; Handwerker und Geschäftsleute wanderten nach Hause; andere -gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und stehendem Wasser. -Raskolnikoff schritt traurig und sorgenvoll dahin, -- er erinnerte sich -sehr gut, daß er zu irgendeinem Zwecke aus dem Hause gegangen sei und -daß er etwas tun sollte und sich dabei beeilen müßte, was es aber war, --- hatte er vergessen. Plötzlich blieb er stehen und sah, daß auf der -anderen Seite der Straße, auf dem Fußwege, ein Mann stand und ihm mit -der Hand winkte. Er ging über die Straße zu ihm hin, da wandte sich -dieser Mann um, ging weiter, als wäre nichts gewesen, mit gesenktem -Kopfe, ohne sich umzuwenden und ohne merken zu lassen, daß er ihn -gerufen habe. »Ja, hatte er mich auch gerufen?« dachte Raskolnikoff und -ging ihm nach. Kaum zehn Schritte entfernt von ihm, erkannte er ihn -plötzlich -- und erschrak; es war der Kleinbürger von vorhin, im selben -Schlafrocke und ebenso gekrümmt. Raskolnikoff folgte ihm von weitem; -sein Herz klopfte; sie bogen in eine Gasse ein, -- der Kleinbürger -wandte sich noch immer nicht um. - -»Weiß er, daß ich ihm folge?« dachte Raskolnikoff. Der Kleinbürger trat -in das Tor eines großen Hauses. Raskolnikoff ging schnell zu dem Tore -hin, um hineinzusehen, ob er sich nicht umschaue und ihn rufen würde. -Und in der Tat, als der Kleinbürger durch das Tor geschritten war und -schon in den Hof trat wandte er sich wieder um und schien ihm wieder zu -winken. Raskolnikoff durchschritt sofort das Tor, aber der Kleinbürger -war nicht mehr auf dem Hofe. Also muß er hier die erste Treppe -hinaufgegangen sein. Raskolnikoff stürzte ihm nach. Ein paar Treppen -höher vernahm man gleichmäßige, nicht eilige Schritte. Sonderbar, die -Treppe kam ihm bekannt vor! Hier im ersten Stock ist ein Fenster; durch -die Scheiben schimmert traurig und geheimnisvoll der Mond; da ist auch -der zweite Stock. Oh! Das ist dieselbe Wohnung, in der die Arbeiter -anstrichen ... Wie hatte er das Haus nicht sofort wiedererkennen können? -Die Schritte des vorangehenden Menschen waren verhallt, »er ist also -stehen geblieben oder hat sich irgendwo versteckt«. Da ist der dritte -Stock; soll ich weitergehen? Und welch eine Stille hier herrscht, es ist -zum Fürchten ... Er ging jedoch höher hinauf. Das Geräusch seiner -eigenen Schritte erschreckte und beunruhigte ihn. Mein Gott, wie dunkel -es ist! Der Kleinbürger hat sich sicher irgendwo in einer Ecke -versteckt. Ah! Die Wohnung ist weit offen; er dachte nach und trat ein. -Im Vorzimmer war es sehr dunkel und leer, keine Menschenseele, als hätte -man alles fortgebracht; leise, auf den Fußspitzen ging er in die -Wohnstube hinein, -- das ganze Zimmer war hell vom Mondenschein -überflutet; alles war hier wie vorher, -- die Stühle standen da, der -Spiegel, das gelbe Sofa und die eingerahmten Bilder. Der große, runde, -kupferrote Mond blickte durch die Fensterscheiben hinein. »Diese Stille -kommt vom Monde,« dachte Raskolnikoff, »er gibt jetzt sicher ein Rätsel -auf.« Er stand und wartete, wartete lange, und je stiller der Mond war, -um so stärker klopfte sein Herz, es tat ihm sogar weh. Und immer noch -diese Stille. Plötzlich ertönte ein kurzes trockenes Knacken, als hätte -man einen Holzspan zerbrochen und wieder wurde alles still. Eine -aufgewachte Fliege stieß im Fluge an die Scheibe und summte kläglich. Im -selben Augenblicke entdeckte er in der Ecke zwischen einem kleinen -Schrank und dem Fenster, wie es ihm schien, einen an der Wand hängenden -Pelzmantel. »Warum hängt da ein Pelzmantel?« dachte er, »er war doch -früher nicht da ...« Er trat sehr leise heran und erriet; daß hinter dem -Pelzmantel sich jemand versteckt hielt. Er schob vorsichtig mit der Hand -den Mantel zur Seite und entdeckte einen Stuhl, und auf dem Stuhle in -der Ecke saß die Alte, ganz zusammengekauert und mit gesenktem Kopfe, so -daß er das Gesicht gar nicht sehen konnte, aber sie war es. Er stand -eine Weile vor ihr; »sie fürchtet sich!« dachte er; zog dann leise das -Beil aus der Schlinge und versetzte der Alten einen Schlag auf den Kopf -und noch einen zweiten. Aber merkwürdig, -- sie rührte sich nicht bei -den Schlägen, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, beugte sich über sie -und begann sie zu betrachten, da ließ sie den Kopf noch mehr sinken. Er -beugte sich dann fast zu Boden und blickte ihr von unten ins Gesicht; er -sah sie an und erstarrte, -- die Alte saß und lachte, -- sie schüttelte -sich vor Lachen, ein leises, unhörbares Lachen, sie hielt aus -Leibeskräften an sich, damit er es nicht hören solle. Da schien es ihm, -als würde die Tür zum Schlafzimmer ein wenig geöffnet, und auch da -schien man zu lachen und zu flüstern. Die Wut übermannte ihn, -- er -begann aus voller Kraft der Alten auf den Kopf zu schlagen, aber mit -jedem Schlage hörte man immer stärker das Lachen und Flüstern im -Schlafzimmer, und die Alte schüttelte sich nur so vor Lachen. Er stürzte -hinaus, da war das ganze Vorzimmer schon voll von Menschen, die Tür zu -der Treppe war weit geöffnet und auf dem Flure, auf der Treppe und dort -unten standen Menschen, Kopf an Kopf, und blickten alle auf ihn, sie -waren alle still, sie schienen auf etwas zu warten und schwiegen! ... -Sein Herz krampfte sich, die Füße ließen sich nicht mehr bewegen, waren -wie angewachsen ... Er wollte schreien und -- wachte auf. - -Er holte schwer Atem, -- aber merkwürdig, der Traum schien sich immer -noch fortzusetzen, -- seine Tür war weit geöffnet und auf der Schwelle -stand ein völlig unbekannter Mann und betrachtete ihn aufmerksam. - -Raskolnikoff hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet und schloß sie -auch sofort wieder. Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. »Ist -das noch der Traum oder nicht?« dachte er und hob kaum merklich die -Wimpern, um zu sehen, -- der Unbekannte stand auf derselben Stelle und -blickte ihn weiter unverwandt an. Auf einmal trat er vorsichtig über die -Schwelle, schloß leise die Türe hinter sich zu, ging an den Tisch und -wartete eine Weile, -- während dieser Zeit wandte er kein Auge von -Raskolnikoff ab, -- er setzte sich leise auf einen Stuhl neben das Sofa -hin; seinen Hut stellte er auf den Boden neben sich, stützte sich mit -beiden Händen auf seinen Stock und legte das Kinn auf die Hände. Man -konnte sehen, daß er sich anschickte, lange zu warten. Soweit -Raskolnikoff durch die blinzelnden Wimpern sehen konnte, war dieser Mann -nicht mehr jung, und hatte einen dichten, hellblonden, fast weißen Bart. - -Es vergingen etwa zehn Minuten. Es war noch hell, aber der Abend nahte -schon. Im Zimmer herrschte eine vollkommene Stille. Sogar von der Treppe -drang kein Ton herein. Bloß eine große Fliege summte und schlug sich im -Fluge an die Fensterscheibe. Dies wurde endlich unerträglich. -- -Raskolnikoff erhob sich plötzlich und setzte sich auf das Sofa hin. - -»Nun sagen Sie, was wünschen Sie?« - -»Sehen Sie, ich wußte es doch, daß Sie nicht schlafen, sondern sich bloß -den Anschein geben,« antwortete der Unbekannte eigentümlich und lachte -ruhig. »Erlauben Sie mich Ihnen vorzustellen: Arkadi Iwanowitsch -Sswidrigailoff ...« - - - - - Vierter Teil - - - I. - -»Ist das etwa die Fortsetzung des Traumes?« dachte Raskolnikoff noch -einmal. - -Er betrachtete vorsichtig und mißtrauisch den unerwarteten Besucher. - -»Sswidrigailoff? Welch ein Unsinn! Es kann nicht sein!« sagte er -schließlich laut und zweifelnd. - -Der Besucher schien über diesen Ausruf gar nicht erstaunt zu sein. - -»Ich bin zu Ihnen aus zwei Gründen gekommen, -- erstens wollte ich Sie -persönlich kennenlernen, da ich längst über Sie sehr Interessantes und -Vorteilhaftes gehört habe; zweitens aber bilde ich mir ein, daß Sie sich -vielleicht nicht weigern werden, mir bei einem Vorhaben zu helfen, das -besonders die Interessen Ihrer Schwester Awdotja Romanowna betrifft. -Mich allein, ohne Empfehlung, wird sie vielleicht jetzt nicht mal ins -Haus lassen infolge eines Vorurteiles; mit Ihrer Hilfe rechne ich -darauf.« - -»So rechnen Sie schlecht,« unterbrach ihn Raskolnikoff. - -»Ihre Angehörigen sind doch erst gestern angekommen, erlauben Sie mir -die Frage?« - -Raskolnikoff antwortete nicht. - -»Ja, gestern, ich weiß es. Ich bin selbst erst seit vorgestern hier. -Doch, was soll ich Ihnen weiter sagen, Rodion Romanowitsch; ich halte es -für überflüssig, mich zu rechtfertigen, nur eins lassen Sie mich -bemerken, -- habe ich denn tatsächlich etwas verbrochen, wenn man alles -ohne Vorurteile, mit ruhiger Vernunft betrachtet?« - -Raskolnikoff betrachtete ihn immer noch schweigend. - -»Der Umstand, daß ich in meinem Hause ein wehrloses, junges Mädchen -verfolgt und >sie mit meinen abscheulichen Anerbieten beleidigt habe<, -soll ein Verbrechen sein? Ich komme Ihnen zuvor. -- Denken Sie doch -daran, daß ich auch nur ein Mensch bin, _et nihil humanum_ ... mit einem -Worte, daß ich auch fähig bin, Reize zu empfinden und zu lieben, -- was -sicher nicht mit unserem Wollen geschieht, sondern in unserer Natur -liegt, und damit läßt sich alles auf die allernatürlichste Weise -erklären. Die Frage ist nur die, bin ich ein Scheusal oder selbst ein -Opfer? Nun, und wenn ich das Opfer bin? Und sehen Sie, indem ich dem -Gegenstande meiner Liebe anbot, mit mir nach Amerika oder in die Schweiz -zu fliehen, empfand ich dabei die allerehrerbietigsten Gefühle und -glaubte uns zum gegenseitigen Glück zu verhelfen! ... Der Verstand dient -doch der Leidenschaft, und ich richtete mich selbst dabei zugrunde, das -müssen Sie doch auch in Betracht ziehen! ...« - -»Darum handelt es sich gar nicht,« unterbrach ihn Raskolnikoff voll -Widerwillen. »Sie sind mir einfach widerlich, ob Sie schuldig sind oder -nicht, und man will mit Ihnen nichts zu tun haben, man jagt Sie fort und -so gehen Sie doch Ihrer Wege! ...« - -Sswidrigailoff lachte laut auf. - -»Aber Sie sind ... man kann Sie nicht verwirren!« sagte er und lachte -offen heraus, »ich dachte es schlau angefangen zu haben, aber es gelang -nicht, Sie stellten sich gleich auf den richtigsten Standpunkt.« - -»Ja, und Sie wollen auch in diesem Augenblicke schlau sein.« - -»Was wäre dabei? Nun, was wäre dabei?« wiederholte Sswidrigailoff und -lachte weiter. »Es ist doch _bonne guerre_{[4]}, wie man es nennt und -eine höchst erlaubte Schlauheit! ... Aber Sie haben mich unterbrochen; -ich wiederhole noch einmal, ob es so oder anders gekommen wäre, es wären -keine Unannehmlichkeiten vorgefallen, wenn nicht noch der Auftritt im -Garten hinzugekommen wäre. Marfa Petrowna ...« - -»Marfa Petrowna, sagt man, haben Sie auch ins Grab gebracht?« unterbrach -ihn schroff Raskolnikoff. - -»Sie haben auch davon gehört? Wie sollten Sie es übrigens nicht zu hören -bekommen ... Hier weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll, -obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung im höchsten Maße ruhig -ist. Glauben Sie ja nicht, daß ich irgend etwas dabei fürchte; dies -alles ist in völliger Ordnung und mit Genauigkeit geprüft worden, -- die -ärztliche Untersuchung hat einen Herzschlag nachgewiesen, der infolge -sofortigen Badens nach einem reichlichen Mittagessen erfolgt ist, wobei -fast eine ganze Flasche Wein geleert wurde, und anderes konnte nicht -festgestellt werden ... Nein, sehen Sie, ich habe eine Zeitlang, -besonders im Eisenbahnwagen auf dem Wege hierher nachgedacht, ob ich zu -diesem ... Unglück irgendwie, moralisch, durch Reizung oder etwas -ähnliches, nicht beigetragen habe? Ich bin zu dem Resultate gekommen, -daß dies positiv nicht der Fall sein konnte.« - -Raskolnikoff lachte. - -»Warum fällt es Ihnen denn noch ein, sich so zu beunruhigen?« - -»Worüber lachen Sie denn? Denken Sie doch nach, -- ich habe sie nur -zweimal mit der Reitgerte geschlagen, ohne daß Spuren zu sehen waren ... -Halten Sie mich, bitte, nicht für frivol; ich weiß sehr wohl, daß das -schändlich von mir war ... und so weiter; aber ich weiß auch sicher, daß -Marfa Petrowna vielleicht froh war über meinen, sagen wir, Mangel an -Beherrschung. Die Geschichte mit Ihrer Schwester war bis zum letzten -Tropfen erschöpft. Marfa Petrowna sah sich gezwungen, den dritten Tag -schon zu Hause zu sitzen; sie hatte nichts, womit sie sich im Städtchen -zeigen konnte, und außerdem war sie allen mit diesem Briefe -- über das -Vorlesen dieses Briefes haben Sie doch gehört, -- lästig geworden. Da -kamen ihr diese zwei Schläge mit der Reitgerte wie vom Himmel geschickt, --- ihr erstes war, sofort den Wagen vorfahren zu lassen! ... Ich spreche -nicht mal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen sehr, sehr -angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der zur Schau getragenen -Entrüstung! Diese Fälle kommen bei allen vor. -- Der Mensch liebt es im -allgemeinen sehr, beleidigt zu sein; haben Sie das noch nicht bemerkt? -Bei Frauen aber ist dies besonders der Fall. Man kann so weit gehen und -sagen, daß sie sich damit gern die Zeit vertreiben.« - -Einen Augenblick dachte Raskolnikoff aufzustehen und wegzugehen, um -dadurch diesem Besuche ein Ende zu machen. Eine gewisse Neugier aber und -vielleicht Berechnung hielten ihn für eine Weile zurück. - -»Sie prügeln wohl gerne?« fragte er ihn zerstreut. - -»Nein, nicht besonders,« antwortete Sswidrigailoff ruhig. »Und mit Marfa -Petrowna habe ich mich fast nie geprügelt. Wir lebten in großer -Eintracht und sie war stets mit mir zufrieden. Die Gerte habe ich in den -sieben Jahren nur zweimal gebraucht, wenn man ein drittes Mal, das -übrigens sehr zweifelhaft ist, nicht mitzählt; das erste Mal war es zwei -Monate nach unserer Heirat, gleich nach der Ankunft auf dem Gut, und nun -der jetzige, letzte Fall. Sie dachten schon, ich sei so ein Scheusal, -Rückschrittler und Anhänger der Leibeigenschaft? He--he--he ... Ja, -nebenbei gesagt, -- erinnern Sie sich nicht, Rodion Romanowitsch, wie -vor einigen Jahren, noch zu Zeiten der wohltätigen Pressefreiheit, man -einen Edelmann -- ich habe seinen Namen vergessen, -- der eine Deutsche -im Eisenbahnwagen verprügelte, öffentlich an den Pranger stellte, -erinnern Sie sich noch? Es war im selben Jahre, glaube ich, als die ->Egyptischen Nächte< öffentlich vorgetragen wurden und ein Skandal -passierte, erinnern Sie sich jetzt? >Schwarze Augen! Oh, wo bist du, -goldene Zeit unserer Jugend! ...< So, und hier haben Sie meine Meinung, --- für den Herrn, der die Deutsche verprügelte, habe ich keine -Sympathie, denn warum soll man in der Tat ... mit dem sympathisieren! -Hierbei kann ich nicht umhin zu bemerken, daß zuweilen sich solche -anregende >Deutsche< finden, und daß es keinen einzigen Fortschrittler, -wie es mir scheint, gibt, der für sich vollkommen garantieren könnte. -Von diesem Standpunkte hatte damals niemand die Sache betrachtet, -indessen aber ist er der eigentlich humane Standpunkt wahrhaftig, so ist -es!« - -Nachdem er das gesagt hatte, lachte Sswidrigailoff von neuem. -Raskolnikoff war es klar, daß dieser Mensch, der sich etwas fest -vorgenommen hatte, darauf bestimmt lossteuerte. - -»Sie haben jedenfalls einige Tage nacheinander mit niemandem -gesprochen?« fragte er ihn. - -»Das könnte stimmen. Warum? Sie wundern sich wohl, daß ich so gesprächig -bin.« - -»Nein, ich wundere mich, daß Sie so vernünftig reden.« - -»Weil ich mich durch die Grobheit Ihrer Zwischenfragen nicht gekränkt -fühlte? Ist es so? Ja ... warum sollte ich gekränkt sein? Wie man mich -fragte, so antwortete ich auch,« fügte er mit wunderbarer Gutmütigkeit -hinzu. »Ich interessiere mich fast für nichts, bei Gott,« fuhr er fort, -wie sinnend. »Ich bin besonders jetzt mit nichts beschäftigt ... -Übrigens ist es begreiflich, wenn Sie denken, ich wollte mich bei Ihnen -einschmeicheln und um so mehr, weil ich ein Anliegen, wie ich selbst -erklärte, an Ihre Schwester habe. Aber ich will Ihnen offen sagen, -- -mir ist es langweilig, besonders seit diesen drei Tagen, so daß ich mich -auf Ihre Gesellschaft freute ... Seien Sie mir aber nicht böse, Rodion -Romanowitsch, Sie kommen mir aber selbst sehr merkwürdig vor. Fassen Sie -es auf wie Sie wollen, aber es ist etwas an Ihnen und gerade jetzt, -nicht nur in diesem Augenblicke, sondern überhaupt jetzt ... Nun, nun, -ich will nicht mehr davon reden, verziehen Sie nur nicht gleich die -Stirn! Ich bin doch nicht solch ein Bär, wie Sie glauben.« - -Raskolnikoff blickte ihn finster an. - -»Sie sind vielleicht gar kein Bär,« sagte er. »Mir scheint es sogar, Sie -gehören zur guten Gesellschaft oder Sie verstehn wenigstens bei -Gelegenheit auch ein anständiger Mann zu sein.« - -»Ich interessiere mich auch nicht besonders für irgend wessen Meinung -über mich,« antwortete Sswidrigailoff trocken, mit einem Anfluge von -Hochmut, »und warum soll man nicht fade sein, wenn diese Art unserem -Lande so geläufig ist und ... und wenn man noch eine natürliche Neigung -dazu hat,« fügte er hinzu und lachte wieder. - -»Ich habe gehört, daß Sie hier viele Bekannte haben. Sie sind doch nicht -ohne das, was man >Verbindungen< nennt. Wozu haben Sie mich denn nötig, -wenn nicht zu einem bestimmten Zwecke?« - -»Ganz richtig, ich habe Bekannte hier,« fuhr Sswidrigailoff fort, ohne -die Hauptfrage zu beantworten, »ich habe auch einige getroffen; ich -wandre schon den dritten Tag herum, erkenne manche selbst wieder und -mich scheint man auch wiederzuerkennen. Ich bin anständig angezogen und -werde für keinen armen Menschen gehalten; uns hat die Aufhebung der -Leibeigenschaft nicht berührt, -- uns sind Wälder und Wiesen geblieben, -das Einkommen ist demnach nicht vermindert worden. Aber ... ich will -meine Beziehungen nicht pflegen, auch früher waren sie mir langweilig. -Ich gehe nun den dritten Tag herum und gebe mich nicht zu erkennen ... -Dazu kommt noch diese Stadt! Sagen Sie mir bitte, wie ist sie -entstanden! Eine Stadt von Beamten und allerhand Seminaristen! Ich habe -wirklich früher vieles nicht bemerkt, als ich vor acht Jahren mich hier -herumtrieb ... Ich setzte alle meine Hoffnungen nur noch ganz allein auf -die Anatomie, bei Gott!« - -»Was für eine Anatomie?« - -»Nun, ich hoffe auf alle diese Klubs und französischen Restaurants und -vielleicht noch auf den Fortschritt, -- nun, der möge nach unserem Tode -kommen,« fuhr er fort, ohne wieder die Frage zu beachten. »Und was ist -das für ein Vergnügen, Falschspieler zu sein?« - -»Waren Sie denn auch Falschspieler?« - -»Warum denn auch nicht? Wir waren eine ganze Gesellschaft vor acht -Jahren und eine höchst anständige; wir vertrieben uns die Zeit, und -wissen Sie, es waren alles Menschen mit guten Umgangsformen, es waren -Dichter und reiche Leute darunter. Ja, und überhaupt bei uns in der -russischen Gesellschaft trifft man bei denen, die schon Prügel bekommen -haben, die allerbesten Umgangsformen, -- haben Sie es noch nicht -gemerkt? Ich bin auf dem Lande ein wenig heruntergekommen. Und trotzdem -wollte mich damals ein Griechenkerl aus Njeschin wegen Schulden ins -Gefängnis einsperren lassen. Da tauchte Marfa Petrowna auf, handelte ein -wenig und löste mich für dreißigtausend Silberlinge aus -- im ganzen -schuldete ich siebzigtausend. Wir traten in den gesetzlichen Ehestand -und sie brachte mich sofort auf ihr Gut, als habe sie einen Schatz -gehoben. Sie war um fünf Jahre älter als ich. Liebte mich sehr. Sieben -Jahre habe ich dort gelebt. Und stellen Sie sich vor, sie hatte ihr -ganzes Leben das Dokument in Händen, es war auf einen fremden Namen über -diese dreißigtausend von mir ausgestellt, so daß, wenn ich -beabsichtigte, mich gegen sie zu empören, -- ich sofort ins Loch -gekommen wäre. Und sie hätte es getan! Bei Frauen ist alles möglich.« - -»Und wäre das Dokument nicht vorhanden gewesen, so wären Sie auch -sicherlich schon lange ausgekniffen?« - -»Ich weiß nicht, was ich Ihnen da sagen soll. Dieses Dokument genierte -mich fast gar nicht. Ich hatte keine Lust, irgendwohin zu reisen, und -Marfa Petrowna riet mir selbst ein paarmal eine Auslandsreise, als sie -merkte, daß ich mich langweile. Wozu aber? Im Auslande war ich vorher -gewesen und da war es mir immer langweilig. Eigentlich langweilte ich -mich nicht, aber sehen Sie, man sieht die Sonne untergehen, ringsum ist -das Meer -- die Bucht von Neapel, und es wird einem traurig zumute. Am -unangenehmsten ist es, daß man tatsächlich Sehnsucht nach Hause bekommt. -Nein, in der Heimat ist es besser, -- hier schiebt man die Schuld immer -den andern zu und nimmt sich selbst in Schutz. Ich würde mich vielleicht -jetzt gegebenenfalls an einer Expedition nach dem Nordpol beteiligen, -denn -- _j'ai le vin mauvais_{[5]}, es widert mich an, zu trinken, und -außer dem Wein bleibt mir nichts übrig. Man sagt, daß Berg am Sonntag im -Jussupoffschen Garten in einem großen Ballon aufsteigen will und -Mitreisende gegen eine bestimmte Bezahlung auffordert, ist das wahr?« - -»Was, Sie wollen wohl mitfliegen?« - -»Ich? Nein ... so ...« murmelte Sswidrigailoff und wurde wirklich -nachdenklich. - -»Was ist mit dem nur los?« dachte Raskolnikoff. - -»Nein, das Dokument genierte mich nicht,« fuhr Sswidrigailoff sinnend -fort. »Ich verließ freiwillig nicht das Gut. Ja und es wird bald ein -Jahr, seit Marfa Petrowna mir zu meinem Namenstage dieses Dokument -zurückgab und außerdem mir noch eine nennenswerte Summe schenkte. Sie -hatte ein schönes Vermögen. >Sehen Sie, wie ich Ihnen vertraue, Arkadi -Iwanowitsch<, wahrhaftig, so sagte sie. Sie glauben nicht, daß sie so -gesagt hat? Wissen Sie, ich bin auf dem Lande ein anständiger Hauswirt -geworden; man kennt mich im ganzen Umkreise. Ich ließ mir auch Bücher -kommen. Marfa Petrowna fand es zuerst gut, später aber fürchtete sie -immer, ich könnte mich durch zu vieles Lesen überanstrengen.« - -»Sie vermissen Marfa Petrowna, wie es scheint, sehr?« - -»Ich? Vielleicht. Wahrhaftig, vielleicht. Ja, nebenbei gesagt, glauben -Sie an Gespenster?« - -»Was für Gespenster?« - -»An gewöhnliche Gespenster!« - -»Sie glauben daran?« - -»Vielleicht, vielleicht auch nicht, _pour vous plaire_{[6]} ... Das -heißt eigentlich, glaube ich ...« - -»Erscheinen sie bei Ihnen etwa?« - -Sswidrigailoff blickte ihn sonderbar an. - -»Marfa Petrowna geruht mich zu besuchen,« sagte er und verzog seinen -Mund zu einem merkwürdigen Lächeln. - -»Was heißt es, sie geruht Sie zu besuchen?« - -»Ja, sie ist schon dreimal dagewesen. Zum erstenmal sah ich sie am Tage -der Beerdigung, eine Stunde nach ihrem Begräbnis. Das war am Tage vor -meiner Abreise. Das zweitemal war es vorgestern auf der Reise, am frühen -Morgen auf der Station Malaja Wischera, und zum dritten Male heute, vor -zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich abgestiegen bin; ich war allein.« - -»Sehen Sie sie im wachen Zustande?« - -»Vollkommen. Alle dreimal im wachen Zustande. Sie tritt herein, spricht -einen Augenblick und geht durch die Tür hinaus, stets durch die Türe. -Man kann es sogar hören.« - -»Ich habe es mir gleich gedacht, daß mit Ihnen unbedingt irgend etwas -dieser Art vorgehen muß!« sagte plötzlich Raskolnikoff und staunte im -selben Augenblicke, daß er das gesagt hatte. Er war in großer Aufregung. - -»So, so? Sie haben es sich gedacht?« fragte Sswidrigailoff verwundert. -»Ist es möglich? Sagte ich nicht, daß es zwischen uns einen gemeinsamen -Punkt geben muß.« - -»Das haben Sie nie gesagt!« antwortete scharf und außer sich -Raskolnikoff. - -»Habe ich es nicht gesagt?« - -»Nein!« - -»Mir war, als hätte ich es gesagt. Als ich vorhin eintrat und sah, daß -Sie mit geschlossenen Augen liegen und sich bloß schlafend stellten, da -sagte ich mir, >er ist derselbe!<« - -»Was heißt das -- er ist derselbe? Was meinen Sie damit?« rief -Raskolnikoff aus. - -»Was ich meine? Wirklich, ich weiß es nicht ...« murmelte Sswidrigailoff -offenherzig und scheinbar selbst verwirrt vor sich hin. Sie schwiegen -etwa eine Minute und blickten einander unablässig an. - -»Das ist alles Unsinn!« rief Raskolnikoff ärgerlich. »Was sagt sie Ihnen -denn, wenn sie erscheint?« - -»Sie? Stellen Sie sich vor, sie spricht über die geringsten -Kleinigkeiten und mögen Sie sich über mich wundern oder nicht, -- gerade -das ärgert mich. Das erstemal, als sie erschien, -- wissen Sie, ich war -müde nach der Totenmesse und dem Begräbnis und dem Essen und war in -meinem Schreibzimmer allein geblieben, hatte mir eine Zigarre angesteckt -und war in Gedanken versunken, -- da trat sie also durch die Türe ein -und sagte: >Arkadi Iwanowitsch, Sie haben heute bei all dem Trubel -vergessen, die Uhr im Speisezimmer aufzuziehen.< Diese Uhr habe ich -tatsächlich all die sieben Jahre jede Woche selbst aufgezogen, und wenn -ich es vergessen hatte, erinnerte sie mich stets daran. Am anderen -Morgen war ich schon auf der Reise hierher. Ich komme am frühen Morgen -auf einer Station an, hatte die Nacht nur wenig geschlummert, fühlte -mich zerschlagen, die Augen waren müde, und als ich mir eine Tasse -Kaffee nahm, sah ich plötzlich, wie sich Marfa Petrowna neben mich mit -einem Kartenspiel in der Hand hinsetzte. >Soll ich Ihnen nicht die -Karten legen, Arkadi Iwanowitsch?< fragte sie mich. Sie war eine -Meisterin im Kartenlegen. Nein, ich werde es mir nie verzeihen, daß ich -mir die Karten nicht legen ließ. Ich lief im Schrecken fort, es war auch -höchste Zeit, denn es wurde zum Abfahren geläutet. Heute sitze ich nun -nach einem sehr schlechten Essen aus einer Stadtküche mit schwerem Magen -da und rauche, -- da erscheint wieder Marfa Petrowna sehr geputzt, in -einem neuen grünen Seidenkleide mit einer sehr langen Schleppe. >Guten -Tag, Arkadi Iwanowitsch!< sagte sie. >Wie gefällt Ihnen mein Kleid? -Anisja kann es nicht so gut machen.< Anisja, wissen Sie, ist unsere -Schneiderin auf dem Lande, eine frühere Leibeigene, hat ihr Handwerk in -Moskau erlernt, -- ein hübsches Mädel. Also, Marfa Petrowna steht vor -mir und zeigt sich von allen Seiten. Ich besah mir das Kleid und blickte -ihr dann aufmerksam ins Gesicht. >Was ist es für ein Vergnügen, Marfa -Petrowna, wegen solcher Kleinigkeiten zu mir zu kommen und mich zu -belästigen.< -- >Ach, mein Gott, man darf Sie auch nicht mal fragen!< -Und ich sagte ihr, um sie zu necken: >Ich will mich verheiraten, Marfa -Petrowna.< -- >Das kann man von Ihnen erwarten, Arkadi Iwanowitsch; Sie -legen damit nicht viel Ehre ein, da Sie kaum Ihre Frau beerdigt haben -und schon heiraten wollen. Und wenn Sie noch gut gewählt hätten, so aber --- ich weiß es -- werden weder Sie selbst, noch Ihre Auserwählte es gut -haben.< Darauf ging sie hinaus mit rauschender Schleppe. Ist das nicht -alles Unsinn?« - -»Ich glaube, das sind alles ausgedachte Lügen?« erwiderte Raskolnikoff. - -»Ich lüge selten,« antwortete Sswidrigailoff sinnend und als hätte er -die Grobheit der Frage gar nicht gemerkt. - -»Haben Sie nie vorher Gespenster gesehen?« - -»Nein, ich habe wohl ein einziges Mal im Leben vor sechs Jahren ein -Gespenst gesehen. Ich hatte einen Diener Filka; gerade, als man ihn -beerdigt hatte, rief ich in der Zerstreutheit: >Filka, die Pfeife!< und -er kam herein und ging zu dem Pfeifenständer. Ich saß und dachte, >er -wird sich wohl rächen wollen<, denn vor seinem Tode hatten wir uns -ordentlich gezankt. >Wie, wagst du<, sagte ich zu ihm, >zu mir mit einem -zerrissenen Ellenbogen zu kommen, -- hinaus, Hallunke!< Er wandte sich -um, ging hinaus und erschien nie mehr. Ich habe es Marfa Petrowna nicht -erzählt. Ich wollte für ihn eine Totenmesse abhalten lassen, aber -genierte mich.« - -»Gehen Sie zu einem Arzte!« - -»Ich weiß auch ohne Sie, daß ich nicht gesund bin, obwohl ich wahrhaftig -nicht weiß, wo es mir fehlt; meiner Ansicht nach bin ich sicher fünfmal -gesünder als Sie. Ich habe Sie jedoch nicht danach gefragt. Ich habe Sie -vielmehr gefragt, glauben Sie, daß es Gespenster gibt?« - -»Nein, ich kann um nichts in der Welt daran glauben!« rief Raskolnikoff -wütend aus. - -»Wie spricht man von solchem Falle gewöhnlich?« murmelte Sswidrigailoff -vor sich hin, sah dabei zur Seite und hatte ein wenig den Kopf gesenkt. -»Die einen sagen, -- du bist krank, und das, was sich dir vorstellt, ist -ein nicht existierender Wahn. Das ist aber doch unlogisch. Ich gebe zu, -daß Gespenster nur Kranken erscheinen, aber das beweist doch bloß, daß -die Gespenster niemand anderen als Kranken erscheinen können, jedoch -nicht, daß sie an und für sich nicht existieren.« - -»Gewiß, sie existieren auch nicht!« bestand Raskolnikoff gereizt auf -seiner Ansicht. - -»Nicht? Sie meinen es?« fuhr Sswidrigailoff langsam fort und blickte ihn -an. »Nun, man kann es auch so betrachten, -- Sie müssen mir helfen, -- -Gespenster sind sozusagen Teile und Stückchen aus anderen Welten, ihr -Anfang. Ein gesunder Mensch braucht sie selbstverständlich nicht zu -sehn, denn ein Gesunder ist der meist irdische Mensch und soll also der -Ordnung und Vollständigkeit wegen nur das gegenwärtige Leben leben. Nun, -wenn er aber erkrankt und wenn die normale irdische Ordnung im -Organismus ein wenig ins Wanken geraten ist, beginnt sich sofort die -Möglichkeit einer anderen Welt zu zeigen, und je stärker er erkrankt, um -so mehr gibt es für ihn Berührungspunkte mit dieser Welt, bis er, wenn -er schließlich stirbt, in die andere Welt übergeht. Ich habe darüber -seit langem nachgedacht. Wenn Sie an ein zukünftiges Leben glauben, so -können Sie auch an diesen Gedanken glauben.« - -»Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben,« sagte Raskolnikoff. - -Sswidrigailoff saß nachdenklich da. - -»Wenn es aber dort drüben nur Spinnen oder dergleichen gibt,« sagte er -rasch. - -»Er ist verrückt,« dachte Raskolnikoff. - -»Uns erscheint immer die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen -kann, als etwas ungeheuer Großes. Aber warum soll sie denn unbedingt -ungeheuer groß sein? Und schließlich stellen Sie sich vor, anstatt -dessen wird dort ein kleines Zimmer sein, ähnlich einer Badestube auf -dem Lande; verräuchert, in allen Ecken Spinnen, und das wird die ganze -Ewigkeit sein. Wissen Sie, ich stelle sie mir zuweilen in dieser Art -vor.« - -»Und stellen Sie sich tatsächlich nichts tröstlicheres und gerechteres -vor, als dieses!« rief Raskolnikoff aufgeregt. - -»Gerechteres? Woher wissen wir es, vielleicht _ist_ dies auch gerecht; -und wissen Sie, _ich_ würde es unbedingt so einrichten!« antwortete -Sswidrigailoff und lächelte unbestimmt. - -Es überlief Raskolnikoff bei dieser abscheulichen Antwort kalt. -Sswidrigailoff erhob den Kopf, blickte ihn aufmerksam an und lachte -plötzlich laut auf. - -»Nein, bedenken Sie bloß,« rief er aus, »vor einer halben Stunde hatten -wir einander noch nicht gesehen, hielten uns für Feinde, hatten eine -Angelegenheit auszutragen; wir ließen die Sache fallen und verwirren uns -in diese Ideen! Nun, habe ich nicht die Wahrheit gesagt, daß wir von -_einem_ Stamme sind?« - -»Tun Sie mir den Gefallen,« fuhr Raskolnikoff gereizt fort, »erklären -Sie sich schneller und teilen Sie mir mit, warum Sie mir die Ehre -erwiesen haben, mich zu besuchen ... und ... und ich habe Eile, habe -keine Zeit, ich will fortgehen ...« - -»Bitte, bitte. Ihre Schwester Awdotja Romanowna heiratet Herrn Peter -Petrowitsch Luschin?« - -»Können Sie nicht jede Frage über meine Schwester vermeiden und ihren -Namen unerwähnt lassen? Ich begreife nicht, wie Sie es wagen, in meiner -Gegenwart ihren Namen auszusprechen, wenn Sie tatsächlich Sswidrigailoff -sind.« - -»Ich bin doch gekommen, um über sie zu sprechen, wie soll ich denn ihren -Namen nicht erwähnen?« - -»Gut. Reden Sie, aber schnell!« - -»Ich bin überzeugt, daß Sie sich Ihre Meinung über diesen Herrn Luschin, -einen Verwandten meiner Frau, schon gebildet haben, wenn Sie ihn nur -eine halbe Stunde gesehen oder irgend etwas Sicheres und Genaues über -ihn gehört haben. Er paßt nicht für Awdotja Romanowna. Meiner Ansicht -nach bringt sich Awdotja Romanowna hier sehr großmütig und uneigennützig -zum Opfer für ... für ihre Familie. Mir schien es, auf Grund all dessen, -was ich über Sie gehört habe, daß Sie Ihrerseits sehr zufrieden sein -würden, wenn diese Heirat ohne Verletzung der Interessen nicht -zustandekommen würde. Jetzt aber, nachdem ich Sie persönlich -kennengelernt habe, bin ich davon sogar überzeugt.« - -»Ihrerseits ist dies alles sehr naiv, entschuldigen Sie, ich wollte -sagen, frech,« erwiderte Raskolnikoff. - -»Das heißt, Sie sagen damit, daß ich für meinen eigenen Nutzen sorge. -Seien Sie ruhig, Rodion Romanowitsch, wenn ich meine eigenen Vorteile im -Auge haben würde, so hätte ich mich nicht so offen ausgesprochen, ich -bin doch nicht ganz dumm. In dieser Beziehung will ich Ihnen eine -psychologische Merkwürdigkeit offenbaren. Vorhin sagte ich, als ich -meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, daß ich selbst ein Opfer -dieser Liebe sei. Nun, mögen Sie wissen, daß ich jetzt gar keine Liebe -mehr, absolut gar keine empfinde, so daß ich mich über mich selbst -wundere, denn ich hatte doch tatsächlich so empfunden ...« - -»Aus Müßiggang und Unsittlichkeit,« unterbrach ihn Raskolnikoff. - -»Ich bin wirklich ein Nichtstuer und Wüstling. Aber, Ihre Schwester hat -so viele Vorzüge, daß ich einem gewissen Eindrucke unterliegen mußte. -Doch das ist alles Unsinn, wie ich es selbst jetzt auch einsehe.« - -»Haben Sie es seit langem eingesehen?« - -»Ich habe es schon früher gemerkt, mich aber vorgestern im Augenblicke -meiner Ankunft in Petersburg endgültig davon überzeugt. Übrigens, in -Moskau noch stellte ich mir vor, daß ich nur reise, um mit Herrn Luschin -in Konkurrenz zu treten und um Awdotja Romanownas Hand anzuhalten.« - -»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber tun Sie mir den -Gefallen, sich kürzer zu fassen und direkt auf den Zweck Ihres Besuches -überzugehen. Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...« - -»Mit größtem Vergnügen. Als ich hier angekommen war und mich -entschlossen hatte, jetzt eine ... Reise anzutreten, wollte ich einige -notwendige Anordnungen vorher treffen. Meine Kinder sind bei der Tante -geblieben und sind reich; mich persönlich brauchen sie nicht. Was für -ein Vater wäre ich auch? Ich habe mir selbst nur das genommen, was mir -Marfa Petrowna vor einem Jahre geschenkt hatte. Für mich reicht es. -Entschuldigen Sie, ich komme sofort zur Sache selbst. Vor meiner Reise, -die vielleicht bald verwirklicht wird, will ich aber mit Herrn Luschin -abrechnen. Nicht etwa, daß ich ihn gar nicht ausstehen kann, aber um -seinetwillen entstand der Streit mit Marfa Petrowna, nachdem ich -erfahren hatte, daß sie diese Heirat eingeleitet hat. Ich möchte jetzt, -durch Ihre Vermittlung, Awdotja Romanowna sehen und meinetwegen in Ihrer -Anwesenheit ihr erklären, daß sie von seiten des Herrn Luschin nicht nur -nicht den geringsten Vorteil, sondern sicher eine unbedingte -Enttäuschung erfahren wird. Dann möchte ich, nachdem ich sie wegen aller -Unannehmlichkeiten um Entschuldigung gebeten habe, mir die Erlaubnis -einholen, ihr zehntausend Rubel anzubieten, um ihr in dieser Weise den -Bruch mit Herrn Luschin zu erleichtern; ich bin überzeugt, daß sie sich -gegen einen Bruch mit ihm nicht sträubt, wenn sich nur eine Möglichkeit -bietet.« - -»Sie sind aber tatsächlich, tatsächlich verrückt!« rief Raskolnikoff, -mehr erstaunt als ärgerlich. »Wie können Sie sich unterstehen, so zu -sprechen!« - -»Ich wußte es, daß Sie mich anschreien werden, aber trotzdem ich nicht -reich bin, kann ich vollkommen über diese zehntausend Rubel verfügen, -ich brauche sie gar nicht. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht annehmen -will, werde ich sie vielleicht in der dümmsten Art verwenden. Das ist -das eine. Mein Gewissen ist vollkommen ruhig, ich biete sie ohne -jeglichen Hintergedanken an. Nun zweitens. Glauben Sie es, oder glauben -Sie es nicht, später werden Sie und Awdotja Romanowna es erfahren. Die -ganze Sache dreht sich doch darum, daß ich tatsächlich Mühe und -Unannehmlichkeiten Ihrer verehrten Schwester verursacht habe; und da ich -eine aufrichtige Reue empfinde, wünsche ich von Herzen, -- mich nicht -etwa loskaufen und die Unannehmlichkeiten bezahlen, sondern einfach ihr -etwas Vorteilhaftes aus dem Grunde zu erweisen, weil ich doch -schließlich kein Privilegium habe, nur Böses zu tun. Wenn sich in meinem -Anerbieten eine winzige Spur von Berechnung fände, so würde ich ihr doch -nicht bloß zehntausend anbieten, da ich vor fünf Wochen ihr viel mehr -angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht sehr, sehr bald ein junges -Mädchen heiraten, folglich muß dadurch der ganze Verdacht, daß ich gegen -Awdotja Romanowna etwas im Schilde führe, fortfallen. Zum Schlusse -möchte ich noch sagen, daß Awdotja Romanowna, indem sie Herrn Luschin -heiratet, dasselbe Geld nimmt, nur von anderer Seite ... Ärgern Sie -bitte sich nicht, Rodion Romanowitsch, überlegen Sie es sich ruhig und -kaltblütig ...« - -Sswidrigailoff war, während er dies sagte, selbst außerordentlich -kaltblütig und ruhig. - -»Ich bitte Sie, zu Ende zu kommen,« sagte Raskolnikoff. »Jedenfalls ist -es unverzeihlich frech.« - -»Keineswegs. Demnach könnte ein Mensch einem anderen in dieser Welt nur -Böses zufügen und hat im Gegenteil kein Recht wegen leerer -konventioneller Formalitäten, ihm ein bißchen Gutes zu erweisen. Das ist -unsinnig. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und diese Summe Ihrer -Schwester laut Testament hinterlassen hätte, würde sie sich auch dann -weigern, sie anzunehmen?« - -»Sehr möglich.« - -»Nein, das glaube ich nicht. Übrigens, wenn sie nein sagt, mag es dabei -bleiben, zehntausend aber sind unter Umständen eine angenehme Sache. In -jedem Falle bitte ich Sie, Awdotja Romanowna das Gesagte mitzuteilen.« - -»Nein, ich werde es ihr nicht mitteilen.« - -»In diesem Falle, Rodion Romanowitsch, werde ich gezwungen sein, eine -persönliche Zusammenkunft herbeizuführen, also auch sie belästigen.« - -»Und wenn ich es ihr mitteilen werde, wollen Sie dann von einer -persönlichen Zusammenkunft absehen?« - -»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll. Einmal möchte ich -sie doch gerne sehen.« - -»Hoffen Sie nicht darauf!« - -»Schade. Sie kennen mich noch nicht. Vielleicht werden wir uns -näherkommen.« - -»Sie meinen, daß wir einander näherkommen werden?« - -»Warum denn nicht?« sagte Sswidrigailoff lächelnd, stand auf und nahm -seinen Hut. »Nicht, daß es mir Spaß machte, Sie zu belästigen, und als -ich hierher ging, rechnete ich nicht mit dieser Möglichkeit, obwohl mir -Ihr Gesicht schon vorhin, heute morgen, auffiel ...« - -»Wo haben Sie mich heute früh gesehen?« fragte Raskolnikoff voll Unruhe. - -»Zufällig ... Mir kommt es immer vor, als wäre etwas in Ihnen, was -meinem Wesen entspricht ... Regen Sie sich nicht auf, ich bin nicht -aufdringlich; ich bin mit Falschspielern gut ausgekommen, war dem -Fürsten Sswirbei, einem entfernten Verwandten und Würdenträger, nicht -zur Last gefallen, habe es verstanden, Frau Prilukoff ins Album ein -Gedicht über die Raphaelsche Madonna zu schreiben, habe mit Marfa -Petrowna sieben Jahre auf einem Fleck verlebt, in früheren Zeiten im -Hause Wjasemski auf dem Heumarkte geschlafen und werde nun vielleicht -mit Berg im Luftballon aufsteigen.« - -»Nun, schon gut. Erlauben Sie mir die Frage, wollen Sie bald Ihre Reise -antreten?« - -»Welch eine Reise?« - -»Von der Sie sprachen ... Sie sagten es doch selbst.« - -»Ach ja! ... in der Tat, ich sprach von der Reise ... Nun, das ist eine -große Frage ... Wenn Sie aber wüßten, wonach Sie mich soeben fragten!« -fügte er hinzu und lachte laut und kurz. »Ich werde vielleicht anstatt -zu reisen, mich verheiraten. Man freit mir eine Braut.« - -»Hier?« - -»Ja.« - -»Wann haben Sie denn dazu Zeit gefunden?« - -»Mit Awdotja Romanowna jedoch möchte ich sehr gern einmal -zusammentreffen. Ich bitte Sie in allem Ernst. Nun, auf Wiedersehen, ach -... ja! Ich hätte bald vergessen, Rodion Romanowitsch! Teilen Sie bitte -Ihrer Schwester mit, daß sie im Testamente Marfa Petrownas mit -dreitausend Rubeln bedacht ist. Das ist absolut richtig. Marfa Petrowna -hat es eine Woche vor ihrem Tode angeordnet, und zwar in meiner -Anwesenheit. Nach zwei oder drei Wochen kann Awdotja Romanowna auch das -Geld erhalten.« - -»Sagen Sie die Wahrheit?« - -»Die volle Wahrheit. Teilen Sie es ihr mit. Nun, Ihr Diener. Ich wohne -nicht sehr weit von Ihnen.« - -Beim Weggehen stieß Sswidrigailoff in der Tür mit Rasumichin zusammen. - - - II. - -Es war schon fast acht Uhr; beide eilten zu Bakalejeff, um früher als -Luschin da zu sein. - -»Wer war denn das?« fragte Rasumichin, als sie auf die Straße -hinaustraten. - -»Es war Sswidrigailoff, derselbe Gutsbesitzer, in dessen Hause meine -Schwester als Gouvernante Kränkungen dulden mußte. Weil er ihr -nachstellte, verließ sie das Haus, von seiner Frau Marfa Petrowna -hinausgejagt. Dieselbe Marfa Petrowna hat nachher Dunja um Verzeihung -gebeten und ist jetzt plötzlich gestorben. Vorhin sprachen wir von ihr. -Ich weiß nicht warum, aber ich fürchte diesen Menschen sehr. Er reiste -sofort nach der Beerdigung seiner Frau hierher, ist sehr sonderbar und -hat sich zu etwas entschlossen ... Er scheint etwas zu wissen ... Man -muß Dunja vor ihm schützen ... und das wollte ich dir auch sagen, hörst -du?« - -»Schützen! Was kann er denn gegen Awdotja Romanowna vorhaben? Nun, ich -danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst ... Wir wollen sie schützen! -... Wo lebt er?« - -»Ich weiß es nicht.« - -»Warum hast du ihn nicht gefragt? Ach, schade! Ich werde es übrigens -bald erfahren!« - -»Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikoff nach einigem Schweigen. - -»Nun ja, ich habe ihn mir gemerkt; gut gemerkt!« - -»Hast du ihn wirklich gesehen? Deutlich gesehen?« wiederholte -Raskolnikoff. - -»Freilich, ich erinnere mich seiner deutlich; unter tausend erkenne ich -ihn wieder, ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.« - -Sie schwiegen wieder. - -»Hm ... das ist gut ...« murmelte Raskolnikoff. »Sonst, weißt du ... -dachte ich ... mir scheint es manchmal, als wenn es eine Einbildung von -mir wäre.« - -»Was meinst du damit? Ich verstehe dich nicht ganz.« - -»Ihr sprecht doch alle davon,« fuhr Raskolnikoff fort und verzog den -Mund zu einem Lächeln, »daß ich verrückt sei; mir schien es nun -augenblicklich, als ob ich tatsächlich verrückt sei und bloß ein -Gespenst gesehen habe.« - -»Was fällt dir ein?« - -»Wer weiß es denn! Vielleicht bin ich wahrhaftig verrückt, und alles, -was in diesen Tagen vorgefallen ist, geschah vielleicht nur in meiner -Einbildung ...« - -»Ach, Rodja! Man hat dich wieder aufgeregt! ... Ja, was sagte er denn, -warum kam er?« - -Raskolnikoff antwortete nicht, Rasumichin sann eine Weile nach. - -»Nun, höre mir zu,« begann er. »Ich war bei dir gewesen, da schliefst -du. Dann aßen wir zu Mittag und ich ging nachher zu Porphyri. Sametoff -war noch immer da. Ich wollte anfangen mit ihm zu sprechen, aber es kam -nichts heraus. Ich konnte nie in richtiger Weise beginnen. Sie schienen -auch nicht zu begreifen und wollten nichts begreifen und waren gar nicht -beschämt. Ich führte Porphyri zum Fenster hin und begann zu sprechen, -aber es kam wieder nichts dabei heraus, -- er blickte zur Seite und ich -blickte zur Seite. Schließlich streckte ich ihm die Faust drohend -entgegen und sagte, daß ich ihn in verwandtschaftlicher Weise -zerschmettern werde. Er sah mich bloß an und sagte nichts. Ich ließ die -Sache fallen und ging weg, das ist alles. Sehr dumm, nicht wahr. Mit -Sametoff redete ich kein Wort. Siehst du aber, -- ich dachte anfangs, -ich habe die Sache verschlimmert, aber wie ich die Treppe hinunterstieg, -kam mir, nein besser, erleuchtete mich der Gedanke, warum beunruhigen -wir uns eigentlich? Wenn dir wenigstens eine Gefahr drohen würde oder -etwas ähnliches in Aussicht wäre, nun, dann wäre es verständlich! Was -geht es aber dich an? Du hast mit der Sache nichts zu tun, also pfeife -auf sie; wir werden noch später über sie lachen und ich würde an deiner -Stelle sie noch mystifizieren. Wie sie sich nachher schämen werden! -Pfeif darauf; wir können sie auch nachher verprügeln, jetzt aber wollen -wir über sie lachen!« - -»Du hast recht, versteht sich!« antwortete Raskolnikoff. - -»Aber was wirst du morgen sagen?« dachte er sofort. - -Sonderbar, bis jetzt war ihm noch nie der Gedanke gekommen, »was wird -Rasumichin denken, wenn er es erfährt?« Und bei diesem Gedanken blickte -Raskolnikoff ihn gespannt an. An dem jetzigen Berichte Rasumichins über -seinen Besuch bei Porphyri hatte er weniger Interesse, -- seit der Zeit -war vieles verschwunden und hinzugekommen! ... - -Im Korridor stießen sie mit Luschin zusammen, -- er war punkt acht Uhr -erschienen und suchte das Zimmer, so daß alle drei zugleich eintraten, -ohne aber einander anzublicken und ohne sich zu grüßen. Die jungen Leute -gingen sofort in die Stube hinein, Peter Petrowitsch verblieb aus -Anstand eine Weile im Vorzimmer und nahm den Mantel ab. Pulcheria -Alexandrowna ging ihm sofort entgegen, um ihn an der Schwelle zu -empfangen. Dunja begrüßte den Bruder. - -Peter Petrowitsch trat ein und verneigte sich ziemlich liebenswürdig, -aber auch mit besonderer Zurückhaltung vor den Damen. Er sah aus, als -wäre er ein wenig verwirrt und als ob er sich noch nicht gefaßt hätte. -Pulcheria Alexandrowna, auch ein wenig aufgeregt, beeilte sich sofort, -alle um einen Tisch, auf dem ein Samowar brannte, zu placieren. Dunja -und Luschin setzten sich einander gegenüber zu beiden Seiten des -Tisches. Rasumichin und Raskolnikoff kamen Pulcheria Alexandrowna -gegenüber zu sitzen, -- Rasumichin neben Luschin, Raskolnikoff neben der -Schwester. - -Es trat Schweigen ein. Peter Petrowitsch zog langsam ein -Batisttaschentuch hervor, das nach Parfüm duftete und schneuzte sich mit -der Miene eines tugendhaften, in seiner Würde gekränkten Menschen, der -fest entschlossen ist, Erklärungen zu verlangen. Im Vorzimmer war ihm -der Gedanke gekommen, -- den Mantel nicht abzunehmen und fortzugehen und -dadurch die Damen streng und nachdrücklich zu bestrafen, um sie mit -einem Male ihr Unrecht fühlen zu lassen. Aber er konnte sich nicht dazu -entschließen. Außerdem liebte er keine Ungewißheit, und hier galt es, -festzustellen, aus welchem Grunde sein Befehl so offensichtlich nicht -befolgt wurde, es mußte irgend etwas Besonderes sein, und so war es -besser abzuwarten; zu strafen war immer Zeit genug, es lag ja in seinen -Händen. - -»Ich hoffe, die Reise ist glücklich abgelaufen?« wandte er sich im -offiziellen Tone an Pulcheria Alexandrowna. - -»Gottlob ja, Peter Petrowitsch.« - -»Sehr angenehm zu hören. Und Awdotja Romanowna ist auch nicht ermüdet?« - -»Ich bin jung und stark und werde nicht müde, aber für Mama war es sehr -schwer gewesen,« antwortete Dunetschka. - -»Was ist da zu machen; die Entfernungen in unserm Lande sind groß. Groß -ist das sogenannte >Mütterchen Rußland< ... Ich aber konnte beim besten -Willen Sie gestern nicht empfangen. Ich hoffe jedoch, daß alles ohne -Aufregung gut verlaufen ist?« - -»Ach nein, Peter Petrowitsch, wir waren sehr mutlos,« beeilte sich -Pulcheria Alexandrowna mit besonderer Betonung zu bemerken, »und wenn -uns nicht Gott selbst Dmitri Prokofjitsch gestern gesandt hätte, so -wären wir sehr verlassen gewesen. Das ist er, Dmitri Prokofjitsch -Rasumichin,« fügte sie hinzu, ihn Luschin vorstellend. - -»Ich hatte schon das Vergnügen ... gestern,« murmelte Luschin und sah -Rasumichin dabei feindselig von der Seite an, sein Gesicht verdüsterte -sich und er schwieg. - -Peter Petrowitsch gehörte zu den Leuten, die in der Gesellschaft -außerordentlich liebenswürdig sind und auf Liebenswürdigkeit besonderen -Anspruch erheben, die aber auch sofort, wenn das geringste nicht nach -ihrem Geschmack ist, alle ihre guten Eigenschaften verlieren und eher -Mehlsäcken als gewandten und die Gesellschaft belebenden Kavalieren -gleichen. Alle verstummten wieder eine Weile, -- Raskolnikoff schwieg -hartnäckig und Awdotja Romanowna wollte das Schweigen nicht vorzeitig -unterbrechen. Rasumichin hatte nichts zu sagen, so daß Pulcheria -Alexandrowna wieder unruhig wurde. - -»Marfa Petrowna ist gestorben, Sie haben es wohl gehört?« begann sie zu -einem ihrer Hauptaushilfemittel greifend. - -»Ich habe es gehört. Ich wurde sofort benachrichtigt und bin sogar jetzt -gekommen, Ihnen mitzuteilen, daß Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff -unverzüglich nach der Beerdigung seiner Gattin nach Petersburg abgereist -ist. So lauten wenigstens die sichersten Nachrichten, die ich empfangen -habe.« - -»Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunja voll Unruhe und wechselte mit -der Mutter einen Blick. - -»Ja, es ist ganz sicher und er kommt selbstverständlich nicht ohne -Absichten, wenn man die Eile der Abreise und überhaupt die -vorangegangenen Umstände in Betracht zieht.« - -»Mein Gott! Will er etwa auch hier Dunetschka nicht in Ruhe lassen?« -rief Pulcheria Alexandrowna aus. - -»Mir scheint es, weder Sie noch Awdotja Romanowna brauchen sich -besonders aufzuregen, wenn Sie natürlich nicht selbst mit ihm in -Verbindung treten wollen. Was mich anbetrifft, so werde ich nach ihm -forschen und mich erkundigen, wo er abgestiegen ist ...« - -»Ach, Peter Petrowitsch, Sie werden nicht glauben, wie Sie mich jetzt -erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn bloß -zweimal gesehen, er erschien mir schrecklich, fürchterlich! Ich bin -überzeugt, daß er die Ursache von Marfa Petrownas Tode ist.« - -»Darüber läßt sich nichts sagen. Ich habe genaue Nachrichten. Ich -bestreite nicht, daß er vielleicht den Gang der Dinge sozusagen durch -den moralischen Einfluß von Kränkungen beschleunigt habe; denn im Urteil -über sein Benehmen und überhaupt über seinen sittlichen Charakter bin -ich mit Ihnen völlig einig. -- Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und -was Marfa Petrowna ihm hinterlassen hat, darüber werde ich in kürzester -Zeit erfahren, aber hier, in Petersburg, wird er selbstverständlich, -wenn er nur einigermaßen Mittel besitzt, sofort seinen alten -Gewohnheiten nachgehen. Er ist der verdorbenste und in Lastern -verkommenste Mensch seines Geschlechts. Ich habe einen triftigen Grund -anzunehmen, daß Marfa Petrowna, die das Unglück hatte, sich in ihn zu -verlieben und ihn vor acht Jahren von Schulden befreite, auch in anderer -Hinsicht ihm geholfen hat, -- einzig und allein dank ihrer Bemühungen -und Opfer wurde eine kriminelle Sache mit einem Beigeschmack von -tierischer und sozusagen phantastischer Roheit vertuscht, für die er mit -größter Wahrscheinlichkeit nach Sibirien geschickt worden wäre. Sehen -Sie, so ist dieser Mensch, wenn Sie es wissen wollen.« - -»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Petrowna aus. - -Raskolnikoff hörte aufmerksam zu. - -»Sagen Sie die Wahrheit, daß Sie darüber genaue Nachrichten besitzen?« -fragte Dunja streng und nachdrücklich. - -»Ich erzähle bloß das, was ich selbst, als Geheimnis, von der -verstorbenen Marfa Petrowna gehört habe. Ich muß bemerken, daß diese -Sache vom juristischen Standpunkte sehr dunkel ist. Hier lebte und -scheint noch jetzt eine gewisse Rößlich zu leben, eine Ausländerin, eine -kleine Wucherin, die aber sich auch mit anderen Geschäften abgibt. Zu -dieser Rößlich stand seit langem Herr Sswidrigailoff in gewissem sehr -nahem und geheimnisvollem Verhältnisse. Bei der Rößlich wohnte eine -entfernte Verwandte, eine Nichte, glaube ich, ein taubstummes Mädchen -von fünfzehn oder vierzehn Jahren, die diese Rößlich grenzenlos haßte, -der sie jedes Stück Brot vorwarf und die sie sogar unmenschlich schlug. -Eines Tages wurde dieses Mädchen auf dem Boden erhängt aufgefunden. Es -wurde festgestellt, daß sie mit Selbstmord geendet hatte. Nach den -gewöhnlichen Formalitäten wurde die Sache abgeschlossen, später aber -lief eine Denunziation ein, daß das Kind von Herrn Sswidrigailoff ... -grausam mißhandelt worden sei. Es ist wahr, die Sache war sehr dunkel, -die Denunziation stammte von einer anderen Deutschen, einem -verwerflichen Frauenzimmer, die kein Vertrauen genoß; schließlich ergab -es sich dank den Bemühungen und dem Gelde Petrownas, daß im Grunde -genommen gar keine Denunziation eingelaufen sei; alles beschränkte sich -auf ein Gerücht. Aber dieses Gerücht war bedeutsam genug. Sie, Awdotja -Romanowna, haben sicher auch von der Geschichte mit dem Diener Filka -gehört, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, an -Mißhandlungen gestorben ist.« - -»Ich habe im Gegenteil gehört, daß dieser Filka sich selbst erhängt -habe.« - -»Das stimmt, aber die ununterbrochenen Verfolgungen und Strafen des -Herrn Sswidrigailoff haben ihn gezwungen oder besser gesagt, zum -Selbstmorde getrieben.« - -»Davon weiß ich nichts,« antwortete Dunja trocken, »ich habe bloß eine -sehr sonderbare Geschichte gehört, -- dieser Filka war ein Hypochonder, -ein Philosoph, die Menschen sagten von ihm, er habe zu viel gelesen, und -er hat sich eher wegen der Spötteleien, als wegen der Schläge von Herrn -Sswidrigailoff erhängt. Als ich dort im Hause war, behandelte er die -Leute gut, und die Leute liebten ihn sogar, obwohl sie ihm an dem Tode -Filkas die Schuld gaben.« - -»Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie auf einmal geneigt sind, ihn zu -entschuldigen,« bemerkte Luschin und verzog den Mund zu einem -zweideutigen Lächeln. »Er ist in der Tat ein schlauer Mensch und für -Damen verführerisch, wofür Marfa Petrowna, die eines eigentümlichen -Todes gestorben ist, als trauriges Beispiel dient. Ich wollte bloß Ihnen -und Ihrer Frau Mutter mit meinem Ratschlage einen Dienst erweisen, -in Anbetracht seiner neuen und zweifellos bevorstehenden -Annäherungsversuche. Was mich anbetrifft, so bin ich fest überzeugt, daß -dieser Mensch selbstverständlich wieder im Schuldgefängnisse -verschwinden wird. Marfa Petrowna hat nie und nimmer die Absicht gehabt, -irgend etwas auf seinen Namen zu übertragen, weil sie die Kinder im Auge -hatte, und wenn sie ihm etwas hinterlassen hat, so ist es höchstens das -Notwendigste, kaum nennenswert und was für einen Menschen von seinen -Gewohnheiten auch nicht ein Jahr ausreicht.« - -»Peter Petrowitsch, ich bitte Sie,« sagte Dunja, »hören wir auf, von -Herrn Sswidrigailoff zu sprechen. Es macht mich schwermütig.« - -»Er war soeben bei mir,« sagte plötzlich Raskolnikoff, zum ersten Male -sein Schweigen brechend. - -Von allen Seiten ertönten Ausrufe und alle wandten sich an ihn. Sogar -Peter Petrowitsch wurde aufgeregt. - -»Vor anderthalb Stunden, als ich schlief, kam er herein, weckte mich auf -und stellte sich vor,« fuhr Raskolnikoff fort. »Er war ziemlich -ungezwungen und lustig und hofft sicher, daß ich mit ihm in nähere -Beziehungen treten werde. Unter anderem bittet er sehr um eine -Zusammenkunft mit dir, Dunja, und bat mich, der Vermittler dieser -Zusammenkunft zu sein. Er will dir ein Anerbieten machen; worin dies -besteht, hat er mir mitgeteilt. Außerdem teilte er mir positiv mit, daß -Marfa Petrowna Zeit gefunden hat, eine Woche vor ihrem Tode, dir, Dunja, -dreitausend Rubel zu vermachen, und daß du dieses Geld in sehr kurzer -Zeit erhalten kannst!« - -»Gott sei Dank!« rief Pulcheria Alexandrowna und schlug ein Kreuz. »Bete -für sie, Dunja, bete!« - -»Das ist tatsächlich wahr?« entschlüpfte es Luschin. - -»Nun und weiter?« drängte Dunja. - -»Dann sagte er, daß er selbst nicht reich sei und das ganze Vermögen -seinen Kindern, die jetzt bei der Tante sind, zufällt. Er sagte auch, -daß er irgendwo nicht weit von mir abgestiegen sei, wo aber -- das weiß -ich nicht, ich habe ihn nicht gefragt ...« - -»Aber, was will er denn Dunetschka anbieten?« fragte die erschrockene -Pulcheria Alexandrowna. »Hat er es dir gesagt?« - -»Ja, er hat es gesagt.« - -»Was ist es denn?« - -»Ich will es nachher sagen.« Raskolnikoff verstummte und wandte sich zu -seinem Glase Tee. - -Peter Petrowitsch sah auf seine Uhr. - -»Ich muß in einer notwendigen Angelegenheit weggehen und werde dann -nicht stören,« fügte er mit merklich gekränkter Miene hinzu und erhob -sich halb vom Stuhle. - -»Bleiben Sie, Peter Petrowitsch,« sagte Dunja, »Sie hatten doch die -Absicht, den ganzen Abend hier zu verbringen. Außerdem schrieben Sie -selbst, daß Sie wünschen, über etwas mit Mama zu sprechen.« - -»Das ist richtig, Awdotja Romanowna,« sagte Peter Petrowitsch mit -Nachdruck, setzte sich wieder hin, behielt aber den Hut in der Hand, -»ich wollte tatsächlich mit Ihnen und mit Ihrer verehrten Frau Mutter, -und sogar über sehr wichtige Punkte, sprechen. Aber, wie Ihr Bruder in -meiner Gegenwart sich über einige Angebote Herrn Sswidrigailoffs nicht -näher erklären kann, so wünschte ich auch nicht und kann nicht ... in -Gegenwart von anderen ... über einige äußerst wichtige Punkte sprechen. -Außerdem ist meine Haupt- und eindringlichste Bitte nicht erfüllt worden -...« Luschin nahm eine bittre Miene an und schwieg würdevoll. - -»Ihre Bitte, daß mein Bruder bei unserer Zusammenkunft nicht zugegen -wäre, ist einzig auf mein Verlangen nicht erfüllt worden,« sagte Dunja. -»Sie schrieben, daß Sie von meinem Bruder beleidigt worden sind; ich -denke, daß sich dies sofort aufklären läßt und Sie beide werden sich -vertragen. Und wenn Rodja Sie tatsächlich beleidigt hat, so _muß_ und -_wird_ er Sie um Entschuldigung bitten.« - -Peter Petrowitsch wurde sofort kouragierter. - -»Es gibt gewisse Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten -Willen nicht vergessen kann. In allem gibt es eine Grenze, die zu -überschreiten gefährlich ist; denn, _ist_ sie einmal überschritten, so -ist es unmöglich, zurückzukehren.« - -»Ich sprach eigentlich nicht darüber, Peter Petrowitsch,« unterbrach ihn -Dunja ein wenig ungeduldig, »verstehn Sie mich so, daß die ganze Zukunft -jetzt davon abhängt, ob dieses alles sich möglichst schnell aufklären -und erledigen wird oder nicht? Ich sage offen, daß ich anders es nicht -ansehen kann, und wenn Sie mich nur ein wenig schätzen, so muß die ganze -Geschichte, wie schwer es auch sein mag, heute noch beigelegt werden. -Ich wiederhole Ihnen, wenn mein Bruder die Schuld trägt, wird er um -Verzeihung bitten.« - -»Ich bin erstaunt, daß sie die Frage so stellen, Awdotja Romanowna,« -wurde Luschin immer mehr gereizt, »wenn ich Sie schätze und sozusagen -verehre, brauche ich doch gleichzeitig nicht jeden aus Ihrer Familie -besonders gern zu haben. Wenn ich auf den glücklichen Besitz ihrer Hand -Anspruch erhebe, brauche ich doch nicht gleichzeitig Verpflichtungen zu -übernehmen, die unvereinbar ...« - -»Ach, lassen Sie diese Empfindlichkeit, Peter Petrowitsch,« unterbrach -ihn Dunja mit Wärme, »und seien Sie der kluge und edle Mensch, für den -ich Sie stets gehalten habe und halten will. Ich habe Ihnen ein großes -Versprechen gegeben, ich bin Ihre Braut geworden; vertrauen Sie doch mir -in dieser Sache und glauben Sie mir, ich werde die Kraft haben, -unparteiisch zu urteilen. Der Umstand, daß ich die Rolle eines Richters -übernehme, ist für meinen Bruder ebenso eine Überraschung wie für Sie. -Als ich ihn heute nach dem Empfang Ihres Briefes aufforderte, unbedingt -zu unserer Zusammenkunft zu kommen, habe ich ihm nichts von meinen -Absichten mitgeteilt. Verstehn Sie doch, daß, wenn Sie sich nicht -vertragen, ich zwischen Ihnen beiden wählen muß, -- entweder Sie oder -ihn. So ist die Frage, wie von seiner, so auch von Ihrer Seite gestellt. -Ich will und darf mich nicht in der Wahl irren. Ihretwegen muß ich mit -meinem Bruder brechen; meines Bruders wegen muß ich mit Ihnen brechen. -Ich will und kann jetzt sicher erfahren, -- ist er mir wirklich ein -Bruder? Und von Ihnen, ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen und -Sie mir ein Gatte sein können?« - -»Awdotja Romanowna,« sagte Luschin verletzt. »Ihre Worte sind für mich -zu bedeutungsvoll, ich will sogar sagen, kränkend, in Anbetracht der -Stellung, die ich die Ehre habe Ihnen gegenüber einzunehmen. Ich spreche -schon gar nicht von der kränkenden und sonderbaren Gegenüberstellung -zwischen mir ... und einem aufgeblasenen Jüngling, aber in Ihren Worten -geben Sie mir die Möglichkeit zu, das mir gegebene Versprechen zu -brechen. Sie sagen, >entweder Sie, oder er<? also zeigen Sie damit, wie -wenig ich für Sie bedeute ... ich kann dies bei den Beziehungen ... und -Umständen, die zwischen uns bestehen, nicht zulassen.« - -»Wie!« flammte Dunja auf. »Ich stelle Ihre Interessen auf eine Stufe mit -allem, was mir im Leben bis jetzt teuer war, was bis jetzt mein _ganzes_ -Leben ausmachte, und Sie sind gekränkt, daß ich Sie _zu wenig_ schätze!« - -Raskolnikoff lächelte schweigend und höhnisch, Rasumichin war empört; -Peter Petrowitsch aber ließ die Erwiderung nicht gelten, er wurde im -Gegenteil mit jedem Worte immer zudringlicher und gereizter, als hätte -er daran Geschmack gefunden. - -»Die Liebe zum künftigen Lebensgefährten, zum Manne, muß die Liebe zum -Bruder überwiegen,« sagte er sentenziös, »in jedem Falle aber kann ich -nicht auf ein und derselben Stufe stehn ... Aber obwohl ich vorhin -bestimmt sagte, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders nicht wünsche, alles -zu erklären, und nicht sagen könne, weswegen ich hierhergekommen bin, -habe ich jetzt trotzdem die Absicht, mich an Ihre verehrte Frau Mutter -zu wenden, um eine notwendige Aufklärung über einen sehr wichtigen und -mich beleidigenden Punkt zu erhalten. Ihr Sohn,« wandte er sich an -Pulcheria Alexandrowna, »hat mich gestern in Gegenwart des Herrn -Rassudkin« ... (»Nicht wahr, der Name ist doch richtig, ich habe Ihren -Namen vergessen, entschuldigen Sie,« verbeugte er sich höflich vor -Rasumichin) »durch die Verdrehung eines Gedankens von mir, den ich Ihnen -einmal in einem Privatgespräch bei einer Tasse Kaffee mitteilte, -beleidigt. Mein Gedanke war, daß die Heirat mit einem armen Mädchen, das -schon die Sorgen des Lebens erfahren hat, meiner Ansicht nach vom -Standpunkte der Ehe aus vorteilhafter sei, als mit einem, das im -Überflusse lebt, weil es in moralischer Hinsicht nützlicher sei. Ihr -Sohn hat absichtlich den Sinn meiner Worte äußerst entstellt und mich -böswilliger Absichten beschuldigt, indem er sich meiner Ansicht nach auf -Ihren eigenen Brief stützte. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn es -Ihnen, Pulcheria Alexandrowna, möglich wäre, mich vom Gegenteil zu -überzeugen und mich dadurch sehr zu beruhigen. Teilen Sie mir mit, in -welchen Ausdrücken Sie meine Worte in Ihrem Briefe an Rodion -Romanowitsch wiedergegeben haben?« - -»Ich entsinne mich nicht,« sagte Pulcheria Alexandrowna verwirrt, »ich -habe sie aber wiedergegeben, wie ich sie selbst verstanden hatte. Ich -weiß nicht, wie Rodja es Ihnen erzählt hat ... Vielleicht hat er auch -einiges übertrieben.« - -»Ohne Ihren Anstoß konnte er sie nicht übertreiben.« - -»Peter Petrowitsch,« erwiderte Pulcheria Alexandrowna voll Würde, »der -Beweis, daß ich und Dunja Ihre Worte nicht in sehr schlechtem Sinne -aufgefaßt haben, ist, daß wir _hier_ sind.« - -»Das war gut, Mama!« sagte Dunja lobend. - -»Also, auch daran bin ich schuld!« bemerkte Luschin gekränkt. - -»Sehen Sie, Peter Petrowitsch, Sie beschuldigen immer Rodion, Sie selbst -aber haben vorhin in dem Briefe über ihn die Unwahrheit geschrieben,« -fügte Pulcheria Alexandrowna ermutigt hinzu. - -»Ich erinnere mich nicht, daß ich irgendeine Unwahrheit geschrieben -hätte.« - -»Sie haben geschrieben,« sagte Raskolnikoff scharf, ohne sich zu Luschin -umzuwenden, »daß ich gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen -gegeben habe, wie es in der Tat war, sondern seiner Tochter, die ich -nebenbei gesagt niemals vor dem gestrigen Tage gesehen habe. Sie haben -dies geschrieben, um mich mit meinen Verwandten zu entzweien, und haben -auch aus dem Grunde sich in abscheulichen Ausdrücken über den -Lebenswandel des jungen Mädchen geäußert, das Sie nicht einmal kennen. -Das sind alles gemeine Klatschereien.« - -»Entschuldigen Sie, mein Herr,« antwortete Luschin zitternd vor Wut, »in -meinem Briefe habe ich mich über Ihre Eigenschaften und Handlungen -einzig aus dem Grunde geäußert, um die Bitte Ihrer Schwester und Mutter -zu erfüllen und ihnen zu beschreiben, wie ich Sie gefunden und welch -einen Eindruck Sie auf mich gemacht haben. Was das in meinem Briefe -Erwähnte anbetrifft, so zeigen Sie mir wenigstens eine unwahre Zeile, -das heißt, daß Sie das Geld nicht verbraucht haben und daß in dieser -wenn auch unglücklichen Familie keine unwürdigen Personen sich -befinden?« - -»Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen nicht den kleinen -Finger dieses unglücklichen Mädchens wert, auf das Sie einen Stein -werfen.« - -»Nun, können Sie sich auch entschließen, sie in die Gesellschaft Ihrer -Mutter und Schwester einzuführen?« - -»Ich habe es schon getan, wenn Sie es wissen wollen. Ich habe sie heute -neben meine Mutter und Dunja gesetzt.« - -»Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. - -Dunetschka errötete; Rasumichin zog die Augenbrauen zusammen. Luschin -lächelte höhnisch und hochmütig. - -»Sie belieben selbst zu sehen, Awdotja Romanowna,« sagte er, »daß hier -keine Verständigung möglich ist. Ich hoffe jetzt, daß diese Sache -abgetan und ein für allemal aufgeklärt ist. Ich will mich entfernen, um -die weitere angenehme Zusammenkunft der Verwandten und die Mitteilung -von Geheimnissen nicht zu stören.« Er erhob sich vom Stuhle und nahm -seinen Hut. »Beim Weggehen erlaube ich mir zu bemerken, daß ich hoffe, -künftig von ähnlichen Begegnungen und sozusagen Ausgleichsversuchen -befreit zu sein. Sie, verehrte Pulcheria Alexandrowna, möchte ich -besonders bitten, um so mehr, als auch mein Brief an Sie und nicht an -andere adressiert war.« - -Pulcheria Alexandrowna fühlte sich gekränkt. - -»Was, wollen Sie uns ganz in Ihre Macht nehmen, Peter Petrowitsch? Dunja -hat uns den Grund gesagt, warum Ihr Wunsch nicht erfüllt worden ist, -- -sie hatte gute Absichten damit verfolgt. Ja, und Sie schreiben mir, als -ob Sie mir zu befehlen hätten. Sollen wir denn jeden Ihrer Wünsche als -Befehl ansehen? Ich will Ihnen im Gegenteil sagen, daß Sie jetzt uns -gegenüber besonders delikat und nachgiebig sein sollten, weil wir alles -im Stich gelassen haben und im Vertrauen zu Ihnen hierhergereist sind, -also auch uns sowieso fast in Ihrer Gewalt befinden.« - -»Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und besonders im -gegenwärtigen Augenblick nicht, wo Ihnen über die von Marfa Petrowna -nachgelassenen dreitausend Rubel Mitteilung zukam, was Ihnen sehr -willkommen zu sein scheint, wie man nach dem neuen Tone, in dem Sie mit -mir sprechen, annehmen kann,« fügte er höhnisch hinzu. - -»Nach dieser Bemerkung zu urteilen, haben Sie tatsächlich auf unsere -Hilflosigkeit gerechnet,« sagte Dunja gereizt. - -»Jetzt wenigstens kann ich dies nicht mehr, und ich möchte besonders -nicht die Mitteilung der geheimnisvollen Angebote von Arkadi Iwanowitsch -Sswidrigailoff stören, mit denen er Ihren Bruder betraut hat, und die -für Sie, wie ich sehe, eine wichtige und vielleicht auch sehr angenehme -Überraschung sind.« - -»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. - -Rasumichin konnte nicht mehr auf dem Stuhle sitzen. - -»Und du schämst dich jetzt nicht, Schwester?« fragte Raskolnikoff. - -»Ich schäme mich, Rodja,« sagte Dunja. »Peter Petrowitsch, gehen Sie -hinaus!« wandte sie sich zu ihm, bleich vor Zorn. - -Mit einem solchen Ende hatte Peter Petrowitsch nicht gerechnet. Er hatte -zu sehr auf sich selbst, auf seine Macht und die Hilflosigkeit seiner -Opfer gebaut. Aber er glaubte es auch jetzt noch nicht. Er erbleichte -und seine Lippen zitterten. - -»Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt zu dieser Türe hinausgehe mit einem -solchen Abschiede, so -- bedenken Sie es -- kehre ich nie mehr zurück. -Überlegen Sie es sich gut! Mein Wort ist unerschütterlich.« - -»Welch eine Frechheit!« rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem -Platze, »ich will gar nicht, daß Sie zurückkehren!« - -»Wie! Also so steht es!« rief Luschin aus, der bis zum letzten -Augenblicke an solchen Ausgang nicht geglaubt hatte, und der nun -vollkommen den Faden verlor, »also, so ist es gemeint! Aber wissen Sie -auch, Awdotja Romanowna, daß ich dagegen protestieren könnte.« - -»Welch ein Recht haben Sie, in solcher Weise mit ihr zu sprechen!« trat -Pulcheria Alexandrowna hitzig ein. »Wie können Sie protestieren? Und was -für Rechte haben Sie? Und soll ich Ihnen, solch einem, meine Dunja -geben? Gehen Sie, verlassen Sie uns! Wir sind selbst schuld, daß wir auf -solch eine ungerechte Sache eingingen und am meisten ich ...« - -»Sie haben mich doch, Pulcheria Alexandrowna,« ereiferte sich Luschin in -seiner Wut, »durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt -lossagen ... und endlich ... endlich haben Sie mich dadurch sozusagen in -Unkosten gestürzt ...« - -Diese letzte Anmaßung war dem Charakter von Peter Petrowitsch so -entsprechend, daß Raskolnikoff, bleich vor Zorn und Anstrengung an sich -zu halten, sich nicht enthalten konnte und -- laut auflachte. Pulcheria -Alexandrowna aber war außer sich. - -»In Unkosten? In was für Unkosten? Meinen Sie etwa damit unseren Koffer? -Es hat doch ein Schaffner ihn umsonst hergeschafft. Mein Gott, wir haben -Sie gebunden! Besinnen Sie sich doch, Peter Petrowitsch, Sie haben uns -an Händen und Füßen gebunden und nicht wir Sie!« - -»Genug, Mama, bitte, genug!« bat Awdotja Romanowna. »Peter Petrowitsch, -tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie!« - -»Ich gehe sofort, aber noch ein letztes Wort!« sagte er, völlig außer -sich. »Ihre Mutter scheint vollkommen vergessen zu haben, daß ich mich -entschlossen hatte, trotz den Gerüchten in der Stadt, die im ganzen -Umkreise über Ihren Ruf verbreitet waren, Sie zu heiraten. Indem ich -Ihretwegen die öffentliche Meinung nicht beachtete und Ihren Ruf -herstellte, konnte ich sicher sehr auf eine Vergeltung hoffen und sogar -Ihre Dankbarkeit verlangen ... Und jetzt erst sind mir die Augen -geöffnet worden! Ich sehe selbst, daß ich sehr übereilt gehandelt habe, -indem ich der öffentlichen Stimme keine Beachtung schenkte ...« - -»Ja, hat er denn zwei Köpfe!« rief Rasumichin aus, sprang vom Stuhle auf -und schickte sich schon an, ihm einen Denkzettel zu geben. - -»Sie sind ein gemeiner und böser Mensch!« sagte Dunja. - -»Kein Wort mehr! Keine Bewegung!« rief Raskolnikoff und hielt Rasumichin -zurück; dann trat er dicht an Luschin heran. - -»Gehen Sie sofort hinaus!« sagte er leise und deutlich, »und kein Wort -mehr, sonst ...« - -Peter Petrowitsch blickte ihn einige Sekunden mit bleichem vor Wut -verzogenem Gesichte an, wandte sich um und ging hinaus, und sicher hat -selten jemand soviel Haß auf einen andern in seinem Herzen -davongetragen, wie dieser Mann gegen Raskolnikoff. Ihn und nur ihn -allein machte er für alles verantwortlich. Merkwürdig, daß er sich, als -er schon die Treppe hinabstieg, immer noch einbildete, daß die Sache -vielleicht nicht ganz verloren und bei den Damen wenigstens sogar »sehr -leicht« ins Geleise zu bringen sei. - - - III. - -Die Hauptsache war, daß er bis zum letzten Augenblicke einen derartigen -Ausgang gar nicht erwartet hatte. Er spielte bis zum letzten Momente den -Überlegenen, ohne auch nur die Möglichkeit zu ahnen, daß zwei arme und -schutzlose Frauen sich seiner Macht entziehen könnten. Zu dieser -Überzeugung trugen seine Eitelkeit und sein übermäßiges Selbstbewußtsein -viel bei, das man am besten Selbstverliebtheit nennen kann. Peter -Petrowitsch, der sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet hatte, -hatte die krankhafte Angewohnheit, sich selbst mit Wohlgefallen zu -betrachten, schätzte seinen Verstand und seine Fähigkeiten hoch ein, ja, -er besah sogar zuweilen, wenn er allein war, sein Gesicht mit Liebe im -Spiegel. Am meisten in der Welt aber liebte und schätzte er sein Geld, -das er durch Arbeit und allerhand Machinationen erworben hatte, -- es -stellte ihn nach seinem Dafürhalten auf gleiche Stufe mit allem, was -höher war als er. - -Indem er voll Bitterkeit Dunja daran erinnerte, daß er sich entschlossen -hatte, sie, trotz der schlechten Gerüchte über sie, zu heiraten, sprach -Peter Petrowitsch vollkommen aufrichtig, er empfand eine tiefe -Entrüstung über solch einen »schwarzen Undank«. Als er aber damals um -Dunja anhielt, war er schon von der Sinnlosigkeit aller dieser -Klatschgeschichten völlig überzeugt, die von Marfa Petrowna selbst -öffentlich widerrufen und schon längst vom ganzen Städtchen, das Dunja -warm in Schutz nahm, vergessen waren. Er würde es selber jetzt nicht -geleugnet haben, daß er alles damals schon gewußt hatte. Aber trotzdem -rechnete er seinen Entschluß, Dunja zu sich zu erheben, hoch an und -hielt ihn für eine große Tat. Indem er dies gegen Dunja aussprach, -drückte er einen geheimen längst gehegten Gedanken aus, an dem er mehr -als einmal sich selber erbaut hatte, und er konnte es nicht begreifen, -daß die anderen seine große Tat nicht mit gleicher Bewunderung ansahen. -Als er damals Raskolnikoff einen Besuch machte, kam er mit den Gefühlen -eines Wohltäters, der sich anschickt, die Früchte seiner Taten zu ernten -und schmeichelhaftes Lob zu hören. Auch jetzt, als er die Treppe -hinabstieg, hielt er sich selbstverständlich für im höchsten Grade -gekränkt und verkannt. - -Dunja hatte er einfach nötig; es war ihm undenkbar, auf sie zu -verzichten. Lange schon, seit einigen Jahren, träumte er mit Behagen von -einer Heirat, aber er sparte fortwährend noch mehr Geld und wartete. Er -dachte mit Begeisterung in seinen geheimsten Träumen an ein -wohlgesittetes und armes (sie mußte unbedingt arm sein) Mädchen, das -jung, sehr hübsch, aus guter Familie, gebildet, sehr eingeschüchtert -sein mußte, das außerordentlich viel Unglück durchgemacht hatte und das -sich vor ihm vollkommen beugen würde, an ein solches Mädchen, das ihr -ganzes Leben lang ihn als ihren Retter ansehen, ihn verehren, sich ihm -unterordnen und ihn, nur ihn allein bewundern würde. Wieviel Szenen, -wieviel wonnige Episoden hatte er sich in der Phantasie über dieses -verführerische und reizende Thema ausgemalt, wenn er in aller Stille von -der Arbeit ausruhte! Und siehe da, der Traum von so viel Jahren wurde -fast ganz zur Wirklichkeit, -- die Schönheit und die Bildung Awdotja -Romanownas hatten ihn überrascht, und ihre hilflose Lage reizte ihn aufs -äußerste. Hier war mehr noch vorhanden, als er geträumt hatte; er hatte -ein stolzes, charakterfestes, tugendhaftes Mädchen getroffen, das an -Erziehung und Bildung höher stand, als er selber (das fühlte er), und -solch ein Wesen wird ihm ihr ganzes Leben wegen seiner großen Tat -sklavisch dankbar sein und in Verehrung sich vor ihm in den Staub -werfen, er aber wird grenzenlos und unbedingt über sie herrschen ... Als -hätte es so sein müssen, hatte er sich kurz vorher nach langem Wägen und -Warten entschlossen, seine Laufbahn zu ändern und in einen größeren -Wirkungskreis überzugehen, um gleichzeitig allmählich in die höhere -Gesellschaft, an die er lange schon mit Sehnsucht gedacht hatte, -hineinzukommen ... Mit einem Worte, er entschloß sich, es in Petersburg -zu versuchen. Er wußte, daß man durch Frauen sehr viel machen konnte. -Der Zauber einer reizenden, tugendhaften und gebildeten Frau konnte -wunderbar seinen Weg ebnen, Leute an ihn heranziehen, ihm einen -Glorienschein verleihen ... und nun war alles zerstört! Dieser -plötzliche abscheuliche Bruch traf ihn wie ein Donnerschlag. Aber es war -ein schlechter Spaß, war Unsinn! Er hat doch nur ein bißchen -übertrieben; er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich auszusprechen, er -hatte bloß gescherzt, ließ sich ein wenig gehen, und es hat so ein -ernstes Ende genommen! Und schließlich, er liebte doch Dunja in seiner -Weise, er herrschte schon über sie in seinen Träumen, -- und nun -plötzlich dieses! ... Nein! Morgen, morgen schon muß alles wieder -ausgeglichen, aufgeklärt und gutgemacht werden, Hauptsache war -- diesen -aufgeblasenen Milchbart, der an allem Schuld war, zu vernichten. Mit -Unbehagen dachte er plötzlich an Rasumichin ... aber er beruhigte sich -gleich -- »es fehlte gerade noch, daß auch er auf eine Stufe mit ihm -gestellt würde!« Wen er aber tatsächlich allen Ernstes fürchtete -- war -Sswidrigailoff ... Mit einem Worte, es standen viel Mühe und Sorgen -bevor ... - - * * * * * - -»Nein, ich, ich bin am meisten schuld!« sagte Dunja, umarmte und küßte -die Mutter, »ich habe mich von seinem Gelde verlocken lassen, aber ich -schwöre dir, Bruder, -- ich konnte nicht glauben, daß er so unwürdig -ist. Hätte ich ihn vorher erkannt, hätte ich mich um alles in der Welt -nicht verlocken lassen! Klage mich nicht an, Bruder!« - -»Gott hat uns gerettet! Gott hat uns gerettet!« murmelte Pulcheria -Alexandrowna, aber wie unbewußt, als hätte sie noch nicht ganz -begriffen, was vorgefallen war. - -Alle freuten sich, und nach fünf Minuten lachten sie sogar. Zuweilen -erblaßte Dunetschka ein wenig und verzog die Augenbrauen bei der -Erinnerung an das Vorgefallene. Pulcheria Alexandrowna konnte es nicht -begreifen, daß sie sich auch freute; der Bruch mit Luschin war ihr heute -früh noch als ein schreckliches Unglück erschienen. Rasumichin aber war -entzückt. Er wagte noch nicht ganz sein Entzücken zu äußern, aber er -bebte am ganzen Körper wie im Fieber, als hätte sich eine zentnerschwere -Last von seinem Herzen gelöst. Jetzt hat er das Recht, ihnen sein ganzes -Leben hinzugeben, ihnen zu dienen ... und noch mehr. -- Aber sofort -jagte er ängstlich alle Zukunftsgedanken fort, er fürchtete sich vor -seiner Phantasie. Nur Raskolnikoff allein saß auf demselben Platze, fast -düster und zerstreut. Er, der am meisten auf den Bruch mit Luschin -bestanden hatte, schien sich jetzt am allerwenigsten für das -Vorgefallene zu interessieren. Dunja dachte unwillkürlich, daß er immer -noch sehr böse auf sie sei, und Pulcheria Alexandrowna betrachtete ihn -ängstlich. - -»Was hat dir denn Sswidrigailoff gesagt?« trat Dunja an ihn heran. - -»Ach ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. - -Raskolnikoff erhob den Kopf. - -»Er will dir unbedingt zehntausend Rubel schenken und äußert dabei den -Wunsch, dich einmal in meiner Gegenwart zu sehen.« - -»Sie zu sehen! Um keinen Preis in der Welt!« rief Pulcheria -Alexandrowna, »und wie wagt er es, ihr Geld anzubieten!« - -Darauf teilte Raskolnikoff ziemlich trocken sein Gespräch mit -Sswidrigailoff mit, wobei er von dem Erscheinen Marfa Petrownas als -Gespenst nichts erwähnte, um nicht zu weit zu gehen, und weil er einen -Widerwillen empfand, irgendeine Unterhaltung, außer der notwendigsten, -zu führen. - -»Was hast du ihm geantwortet?« fragte Dunja. - -»Ich sagte zuerst, daß ich dir keine Mitteilung machen wolle. Darauf -erklärte er mir, daß er dann selbst mit allen Mitteln versuchen werde, -dich zu sehen. Er beteuerte, daß seine Leidenschaft zu dir eine Torheit -gewesen sei und daß er jetzt dir gegenüber nichts mehr empfinde ... Er -will nicht, daß du Luschin heiratest ... Er sprach überhaupt verworren.« - -»Wie erklärst du ihn dir, Rodja? Wie ist er dir erschienen?« - -»Ich muß gestehen, daß ich mir nicht so ganz klar über ihn bin. Er -bietet zehntausend an, sagt aber selbst, er sei nicht reich. Er erklärt, -daß er irgendwohin reisen will, und nach zehn Minuten vergißt er, daß er -darüber gesprochen hat. Plötzlich sagt er auch, daß er heiraten will und -daß man ihm schon eine Braut freit ... Sicher hat er Absichten und am -wahrscheinlichsten -- schlimme ... Aber wieder ist es sonderbar -anzunehmen, daß er so dumm die Sache anfassen würde, wenn er dir -gegenüber schlimme Absichten hätte ... Ich habe selbstverständlich -dieses Geld in deinem Namen ein für allemal ausgeschlagen. Überhaupt -erschien er mir sehr eigentümlich und ... sogar ... mit Anzeichen von -Geistesstörung. Ich kann mich jedoch auch irren; er kann einfach -geschwindelt haben. Der Tod von Marfa Petrowna scheint aber einen -Eindruck auf ihn gemacht zu haben ...« - -»Gott schenke ihrer Seele Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna, »ich will -ewig, ewig für sie zu Gott beten! Nun, wie würde es mit uns jetzt -stehen, Dunja, ohne diese dreitausend Rubel! Mein Gott, sie sind wie vom -Himmel geschickt! Ach, Rodja, wir hatten ja am Morgen im ganzen noch -drei Rubel, und ich überlegte mit Dunetschka die ganze Zeit, wie wir am -schnellsten irgendwo die Uhr versetzen könnten, um bloß nicht von diesem -... zu fordern, bis es ihm selbst in den Sinn kommt.« - -Dunja hatte das Anerbieten Sswidrigailoffs zu stark überrascht. Sie -stand die ganze Zeit in Gedanken versunken. - -»Er hat irgend etwas Schreckliches im Sinn!« sagte sie fast im -Flüstertone zu sich selbst und schauderte. - -Raskolnikoff bemerkte diese maßlose Furcht. - -»Ich glaube, ich werde ihn noch einmal sehen,« sagte er zu Dunja. - -»Wir wollen ihn beobachten! Ich werde ihn finden!« rief Rasumichin -energisch. »Ich will mein Auge nicht von ihm lassen! Rodja hat es mir -erlaubt. Er hat mir selbst vorhin gesagt: Beschütze die Schwester! Und -wollen Sie es auch erlauben, Awdotja Romanowna?« - -Dunja lächelte und reichte ihm die Hand, aber die Sorge verließ nicht -ihr Gesicht. Pulcheria Alexandrowna blickte sie schüchtern an; die -dreitausend Rubel hatten sie sichtlich beruhigt. - -Nach einer Viertelstunde waren alle in lebhaftester Unterhaltung. Sogar -Raskolnikoff hörte einige Zeit aufmerksam zu, obwohl er sich nicht am -Gespräch beteiligte. - -Rasumichin redete in einem fort. - -»Und warum, warum sollen Sie abreisen!« ergoß er sich mit Wonne in einer -begeisterten Rede, »und was wollen Sie in dem Städtchen machen? Und die -Hauptsache, Sie leben alle hier zusammen, und der eine besucht den -anderen, ... braucht ihn sehr, verstehen Sie mich! So versuchen Sie es -wenigstens eine Weile ... Mich nehmen Sie als Ihren Freund, als -Kompagnon, und ich versichere Sie, wir wollen ein ausgezeichnetes -Unternehmen gründen. Hören Sie, ich will Ihnen alles genau erklären, -- -das ganze Projekt mit allen Details! Schon heute Morgen, als noch nichts -vorgefallen war, kam es mir in den Sinn ... Sehen Sie, die Sache besteht -aus folgendem, -- ich habe einen Onkel, -- ich will Sie mit ihm bekannt -machen, ein ausgezeichneter und verehrungswürdiger alter Herr, -- und -dieser Onkel hat ein Vermögen von tausend Rubel, er selbst lebt von -seiner Pension und leidet keine Not. Fast zwei Jahre schon quält er -mich, daß ich diese tausend Rubel für ihn anlegen und ihm sechs Prozent -dafür zahlen soll. Ich weiß ja, wie der Hase läuft, -- er will mir -einfach helfen; im vorigen Jahre aber brauchte ich es nicht, in diesem -Jahre jedoch wartete ich bloß auf seine Ankunft und habe mich -entschlossen, es anzunehmen. Sie geben dann das zweite Tausend von Ihren -drei, und sehen Sie, das genügt für den Anfang, und wir verbünden uns. -Was machen wir aber damit?« - -Und nun begann Rasumichin sein Projekt zu entwickeln und redete viel -darüber, wie wenig fast alle unsere Buchhändler und Verleger von ihrer -Sache verstehen, darum seien sie auch gewöhnlich schlechte Verleger, -während anständige Buchausgaben sich sicher bezahlt machten und einen -zuweilen bedeutenden Nutzen abwürfen. Von der Tätigkeit eines Verlegers -träumte also Rasumichin; er hatte schon zwei Jahre für andere gearbeitet -und beherrschte drei europäische Sprachen recht gut, wenn er auch vor -sechs Tagen Raskolnikoff erklärt hatte, daß er im Deutschen »schwach« -sei, aber das tat er, um ihn zu bewegen, die Hälfte der -Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen. Er log -damals, und Raskolnikoff wußte, daß er log. - -»Warum denn sollen wir unseren eigenen Vorteil versäumen, wenn wir -plötzlich eines der Hauptmittel besitzen, -- und zwar eigenes Geld?« -ereiferte sich Rasumichin. »Gewiß, man muß viel arbeiten, aber wir -wollen arbeiten, Sie, Awdotja Romanowna, ich, Rodion ... manche -Buchausgaben rentieren jetzt prächtig! Und die Hauptunterlage des -Unternehmens besteht darin, daß wir wissen werden, was gerade übersetzt -werden muß. Wir wollen übersetzen und verlegen und lernen, alles -zusammen. Jetzt kann ich nützlich sein, denn ich habe darin Erfahrung. -Es sind bald zwei Jahre, seit ich bei den Verlegern herumlaufe, und ich -kenne alle ihre Schliche; es ist keine Hexerei, glauben Sie mir! Und -warum soll man nicht nach dem Bissen greifen! Ich kenne selbst und -bewahre es als ein Geheimnis, zwei oder drei solcher Werke; für den -Gedanken allein, sie zu übersetzen und zu verlegen, kann man hundert -Rubel für jedes Buch nehmen, und das eine Werk, die Idee allein schon, -gebe ich nicht um fünfhundert Rubel. Was meinen Sie, wenn ich es jemand -mitteilen würde, so ein Holzklotz täte vielleicht noch daran zweifeln. -Und was die geschäftlichen Dinge -- Druckerei, Papier, Verkauf -- -anbetrifft, so überlassen Sie dies mir. Ich kenne alle Schliche! Wir -wollen mit kleinem anfangen und großes erreichen; wenigstens ernähren -können wir uns und erhalten in jedem Falle unser Geld zurück.« - -Dunjas Augen leuchteten. - -»Was Sie vorbringen, gefällt mir sehr, Dmitri Prokofjitsch,« sagte sie. - -»Ich verstehe hiervon gar nichts,« sagte Pulcheria Alexandrowna, -»vielleicht ist es auch gut, aber Gott weiß. Es ist neu und unbekannt. -Gewiß müssen wir hierbleiben, wenigstens eine Zeitlang ...« - -Sie blickte Rodja an. - -»Was meinst du, Bruder?« sagte Dunja. - -»Ich meine, daß er einen sehr guten Gedanken hat,« antwortete er. »Von -einer Firma muß man selbstverständlich vorher nicht träumen, aber fünf -oder sechs Bücher kann man tatsächlich mit zweifellosem Erfolg verlegen. -Ich kenne auch selbst ein Werk, das unbedingt gehen wird. Und daß er die -Sache zu leiten versteht, unterliegt keinem Zweifel, -- er versteht die -Sache ... Übrigens habt ihr noch Zeit, euch zu besprechen ...« - -»Hurra!« rief Rasumichin. »Warten Sie, hier im selben Hause und bei -denselben Wirtsleuten ist eine Wohnung frei. Sie ist ganz abgeschlossen, -hat mit diesen Zimmern keine Verbindung und besteht aus drei möblierten -Stuben, der Preis ist mäßig. Die können Sie fürs erste nehmen. Die Uhr -will ich für Sie morgen versetzen und Ihnen das Geld bringen und das -weitere wird sich finden. Die Hauptsache aber ist, daß Sie alle drei -zusammen leben können, auch Rodja mit Ihnen. Wohin willst du denn, -Rodja?« - -»Wie, Rodja, gehst du schon fort?« fragte Pulcheria Alexandrowna -erschreckt. - -»In solch einem Augenblick!« rief Rasumichin. - -Dunja blickte den Bruder mit mißtrauischem Erstaunen an. Er hielt die -Mütze in den Händen und schickte sich an, wegzugehen. - -»Ihr tut ja, als ob ihr mich beerdigen oder auf ewig Abschied nehmen -müßtet,« sagte er eigentümlich. - -Er wollte lächeln, aber dieses Lächeln gelang ihm schlecht. - -»Wer weiß, vielleicht sehen wir uns auch zum letztenmal,« fügte er -unvermutet hinzu. - -Er wollte es bloß denken, doch die Worte entschlüpften ihm. - -»Um Gottes willen, was ist mit dir!« rief die Mutter aus. - -»Wohin willst du gehen, Rodja?« fragte ihn Dunja in angstvollem Tone. - -»Ich muß jetzt fortgehen,« antwortete er unklar, als sei er im Zweifel, -was er sagen wollte. - -In seinem bleichen Gesichte drückte sich eine feste Entschlossenheit -aus. - -»Ich wollte sagen ... als ich hierher ging ... ich wollte Ihnen, Mama -... und dir, Dunja, sagen, daß es besser sei, wenn wir uns für eine -Zeitlang trennen. Ich fühle mich nicht wohl, ich bin unruhig ... ich -will später wiederkommen, ich werde von selbst kommen, wenn ... es mir -möglich sein wird. Ich denke an euch und liebe euch ... Doch laßt mich! -Laßt mich allein! Ich habe es so beschlossen, schon früher ... Ich habe -es bestimmt beschlossen ... Was mit mir auch geschieht, ob ich zugrunde -gehen werde oder nicht, ich will allein sein. Vergeßt mich ganz und gar. -Es ist so am besten. Erkundigt euch auch nicht nach mir. Wenn es nötig -sein wird, komme ich von selbst oder ... ich rufe euch. Vielleicht wird -noch alles gut! ... Jetzt aber sagt euch von mir los, wenn ihr mich -liebt ... Sonst muß ich euch hassen, ich fühle es ... Lebt wohl!« - -»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna. - -Die Mutter und die Schwester waren furchtbar erschrocken; Rasumichin -ebenfalls. - -»Rodja, Rodja! Versöhne dich mit uns, wir wollen wieder wie früher -sein!« rief die arme Mutter aus. - -Er wandte sich langsam der Türe zu und ging langsam hinaus. Dunja holte -ihn ein. - -»Bruder! Was tust du deiner Mutter an!« flüsterte sie, und ihr Blick -leuchtete vor Empörung. - -Er schaute sie schwermütig an. - -»Es hat nichts zu bedeuten, ich komme, ich werde kommen!« murmelte er -halblaut, als ob er sich nicht völlig bewußt sei, was er sagen wollte, -und ging aus dem Zimmer. - -»Gefühlloser, böser Egoist!« rief Dunja. - -»Er ist ver--rückt und nicht gefühllos! Er ist geistesgestört! Sehen Sie -es denn nicht? Sonst sind Sie gefühllos! ...« flüsterte Rasumichin ihr -zu und drückte stark ihre Hand. - -»Ich komme sofort!« wandte er sich an die erstarrte Pulcheria -Alexandrowna und lief aus dem Zimmer. Raskolnikoff erwartete ihn am Ende -des Korridors. - -»Ich wußte, daß du mir nachgehen wirst,« sagte er. »Gehe zu ihnen zurück -und bleibe bei ihnen ... Sei auch morgen bei ihnen ... und stets. Ich -komme ... vielleicht ... wenn ich kann. Leb wohl!« - -Und ohne ihm die Hand zu reichen, ging er weiter. - -»Ja, wohin gehst du? Was ist mit dir? Was ist geschehen? Kann man denn -so! ...« murmelte Rasumichin fassungslos. - -Raskolnikoff blieb noch einmal stehen. - -»Ich sage dir ein für allemal, -- frage mich nicht und über nichts. Ich -habe dir nichts zu antworten ... Komme nicht zu mir. Vielleicht komme -ich selbst hierher ... Laß mich ... sie aber _verlasse nicht_. Verstehst -du?« - -Es war ziemlich dunkel auf dem Korridor, sie standen unter einer -spärlich brennenden Lampe. Eine Minute blickten sie einander schweigend -an. Rasumichin erinnerte sich sein ganzes Leben dieser Minute. Der -brennende und starre Blick Raskolnikoffs schien mit jedem Momente sich -zu verstärken und drang in seine Seele und in sein Bewußtsein. Da zuckte -Rasumichin zusammen. Ein fürchterliches Etwas trat zwischen sie ... Ein -Gedanke, spürbar wie ein Hauch; ein schauerlicher gräßlicher Gedanke von -beiden gedacht, von beiden verstanden ... Rasumichin wurde bleich wie -ein Toter. - -»Verstehst du jetzt?« sagte Raskolnikoff plötzlich mit schmerzlich -verzogenem Gesichte. »Kehre zurück, gehe zu ihnen,« fügte er sofort -hinzu, drehte sich schnell um und verließ das Haus. - -Ich will nicht beschreiben, was an diesem Abend bei Pulcheria -Alexandrowna geschah, wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie -beruhigte, wie er schwur, daß man Rodja in seiner Krankheit Ruhe geben -müsse, wie er schwur, daß Rodja unbedingt kommen würde, daß er jeden Tag -herkommen würde, daß er sehr, sehr aufgeregt sei, daß man ihn nicht -reizen dürfe; wie er, Rasumichin, auf ihn aufpassen werde, ihm einen -guten Arzt, den besten, ein ganzes Konsilium verschaffen werde ... Mit -einem Worte, Rasumichin wurde an diesem Abend ihr Sohn und Bruder. -- - - - IV. - -Raskolnikoff aber ging direkt zu dem Hause am Kanal, wo Ssonja wohnte. -Es war ein dreistöckiges Haus, alt und grün angestrichen. Er suchte den -Hausknecht auf und erhielt von ihm die ungefähre Auskunft, wo der -Schneider Kapernaumoff wohne. Er fand in einer Ecke auf dem Hofe einen -Eingang zu einer schmalen, dunklen Treppe, er stieg zum zweiten Stock -hinauf und kam auf eine Galerie, die das Haus auf der Hofseite umgab. -Während er in der Dunkelheit und voll Ungewißheit, wo der Eingang zu -Kapernaumoff sein könne, herumirrte, öffnete sich plötzlich drei -Schritte von ihm eine Türe; er griff mechanisch nach ihr. - -»Wer ist da?« fragte eine weibliche Stimme ängstlich. - -»Ich bin es ... komme zu Ihnen,« antwortete Raskolnikoff und trat in ein -winziges Vorzimmer ein. Hier brannte auf einem durchgesessenen Stuhle -ein Licht in einem kupfernen Leuchter. - -»Sie sind es! Oh, Gott!« rief Ssonja mit schwacher Stimme und blieb wie -versteinert stehen. - -»Wo geht es in Ihr Zimmer? Hier?« - -Raskolnikoff suchte nicht ihren Blick und ging schnell in ihr Zimmer -hinein. - -Nach einer Minute kam auch Ssonja mit dem Lichte, stellte es hin und -blieb vor ihm stehen, vollkommen verwirrt, in einer unbeschreiblichen -Aufregung und sichtbar erschrocken durch seinen unerwarteten Besuch. -Eine Röte stieg in ihr bleiches Gesicht, und Tränen traten in ihre Augen -... Es war ihr schwer zumute, sie schämte sich auch, und doch war es ihr -lieb ... Raskolnikoff wandte sich schnell von ihr ab und setzte sich auf -einen Stuhl neben dem Tisch. Er fand Zeit, einen flüchtigen Blick auf -das Zimmer zu werfen. - -Es war ein großes Zimmer, aber außerordentlich niedrig, das einzige -Zimmer, das Kapernaumoffs vermieteten; in der Wand links war eine -verschlossene Tür, die zu ihnen führte. Auf der entgegengesetzten Seite, -rechts in der Wand, befand sich noch eine Tür, die immer verschlossen -war. Hinter ihr war eine andere Wohnung unter einer anderen Nummer. -Ssonjas Zimmer glich einer Scheune, hatte die Gestalt eines -unregelmäßigen Vierecks, was ihm etwas Eigentümliches verlieh. Die eine -Wand mit drei Fenstern, die auf den Kanal hinausgingen, durchschnitt das -Zimmer etwas schief, wodurch die eine Ecke sehr spitz war und in der -Tiefe verlief, so daß man bei schwacher Beleuchtung sie nicht gut -überschauen konnte; die andere Ecke war wieder häßlich stumpf. In diesem -ganzen Zimmer waren fast gar keine Möbel. In einer Ecke rechts war ein -Bett, neben ihm näher zur Türe ein Stuhl. An derselben Wand, wo das Bett -war, standen an der Türe gegen die fremde Wohnung ein einfacher Tisch, -bedeckt mit einem blauen Tischtuche und daneben zwei geflochtene Stühle. -An der entgegengesetzten Wand, in der Nähe der spitzen Ecke, befand sich -eine kleine Kommode aus einfachem Holze, verloren wie in einer Wüste. -Das war das ganze Mobiliar. Die gelblichen, abgerissenen und -beschmutzten Tapeten waren an allen Ecken schwarz geworden; im Winter -mußte es hier feucht und dunstig sein. Die Armut war offensichtlich; -selbst am Bette waren keine Gardinen angebracht. - -Ssonja blickte schweigend ihren Besucher an, der so aufmerksam und -ungeniert ihr Zimmer betrachtete und begann vor Angst zu zittern, als -stände sie vor einem Richter, der über ihr Schicksal entscheiden sollte. - -»Ich komme spät ... Es ist wohl schon elf Uhr?« fragte er sie und erhob -noch immer nicht die Augen zu ihr. - -»Ja,« murmelte Ssonja. »Ach, ja, es ist soviel!« beeilte sie sich zu -sagen, als wäre es ein Ausweg, »soeben schlug bei dem Hauswirte die Uhr -... und ich habe die Schläge gezählt ... Es ist soviel.« - -»Ich komme zum letztenmal zu Ihnen,« fuhr Raskolnikoff düster fort, -obwohl es doch zum erstenmal war, daß er hier war, »ich werde Sie -vielleicht nicht mehr sehen ...« - -»Reisen Sie ... fort?« - -»Ich weiß es nicht ... alles hängt von morgen ab ...« - -»Also, Sie werden morgen nicht bei Katerina Iwanowna sein?« bebte -Ssonjas Stimme. - -»Ich weiß es nicht. Alles hängt von morgen früh ab ... Aber darum -handelt es sich nicht, ich bin gekommen, Ihnen ein paar Worte zu sagen -...« - -Er erhob seinen nachdenklichen Blick zu ihr auf und bemerkte jetzt erst, -daß er saß, während sie noch immer vor ihm stand. - -»Warum stehen Sie denn? Setzen Sie sich doch,« sagte er mit veränderter -Stimme leise und weich. - -Sie setzte sich. Er blickte sie freundlich, fast mitleidig eine Minute -an. - -»Wie mager Sie sind! Sehen Sie nur Ihre Hand! Ganz durchsichtig. Diese -Finger, wie bei einer Toten.« - -Er nahm ihre Hand. Ssonja lächelte schwach. - -»Ich war immer so,« sagte sie. - -»Auch, als Sie zu Hause lebten?« - -»Ja.« - -»Ach, selbstverständlich ja!« sagte er abgerissen, und sein -Gesichtsausdruck und der Ton seiner Stimme veränderten sich wieder. - -Er blickte sich noch einmal um. - -»Sie mieteten das Zimmer von Kapernaumoff?« - -»Ja ...« - -»Diese wohnen dort hinter der Türe?« - -»Ja ... Sie haben auch ein solches Zimmer.« - -»Sie leben alle in einem Zimmer?« - -»Ja, in einem Zimmer.« - -»Ich würde mich nachts in Ihrem Zimmer fürchten,« bemerkte er düster. - -»Die Wirtsleute sind sehr gut, sehr freundlich,« antwortete Ssonja, die -immer noch nicht zu sich gekommen schien und seine Bemerkung nicht -verstanden hatte, »und alle Möbel und alles ... alles gehört den -Wirtsleuten. Sie sind sehr gut, und die Kinder kommen auch oft zu mir -...« - -»Die stotternden?« - -»Ja ... Er stottert auch und ist dazu auch lahm. Und die Frau auch ... -Das heißt, sie stottert nicht so sehr, sie spricht bloß nicht alles aus. -Sie ist sehr gut. Er ist früher Leibeigener gewesen. Und sie haben -sieben Kinder ... und bloß der Älteste stottert, die anderen sind nur -immer krank ... stottern nicht ... Woher wissen Sie das aber?« fügte sie -ein wenig verwundert hinzu. - -»Ihr Vater hat es mir damals erzählt. Er hat mir auch alles über Sie -erzählt ... Auch davon, wie Sie um sechs Uhr fortgingen und um neun -zurückkamen, auch, wie Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien -gelegen hat.« - -Ssonja wurde verlegen. - -»Mir schien es, als hätte ich ihn heute gesehen,« flüsterte sie -unentschlossen. - -»Wen?« - -»Den Vater. Ich ging in die Straße dort, nebenan, an der Ecke in der -zehnten Stunde, und er schien vor mir zu gehen, ganz, als wäre er es. -Ich wollte eben zu Katerina Iwanowna hingehen ...« - -»Waren Sie spazieren gegangen?« - -»Ja,« flüsterte Ssonja abgerissen, wurde wieder verlegen und senkte die -Augen. - -»Katerina Iwanowna hat Sie doch wohl geschlagen, als Sie beim Vater -lebten?« - -»Ach nein, wie kommen Sie darauf, nein, nein!« Ssonja blickte ihn voll -Schrecken an. - -»Also, Sie lieben sie?« - -»Sie? Warum denn nicht!« sagte Ssonja klagend und faltete mit leidendem -Ausdruck die Hände. »Ach! Sie ... Wenn Sie nur wüßten. Sie ist ja ganz -wie ein Kind ... Ihr Verstand ist ja wie gestört ... vor lauter Kummer. -Und wie sie klug war ... wie großmütig ... wie gut! Sie wissen nichts, -nichts ... ach!« - -Ssonja sagte dies wie in Verzweiflung, aufgeregt, darunter leidend und -händeringend. Ihre bleichen Wangen erröteten wieder und in ihren Augen -drückte sich eine tiefe Qual aus. Man sah, daß in ihr sehr vieles durch -seine Worte wachgerufen worden war und daß sie gern etwas äußern und -sagen und für Katerina Iwanowna eintreten wollte. Ein _unerschöpfliches_ -Mitleid, wenn man sich so ausdrücken darf, lag in ihrem Gesichte. - -»Sie soll mich geschlagen haben! Ja, wie kommen Sie dazu! Oh, Gott, sie -mich schlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre dabei! -Was wäre dabei! Sie wissen nichts, gar nichts ... Sie ist so -unglücklich, ach, wie unglücklich sie ist! Und sie ist krank ... Sie -sucht Gerechtigkeit ... Sie ist rein. Sie glaubt so daran, daß in allem -Gerechtigkeit sein müsse und verlangt sie ... Und Sie können sie quälen, -sie wird nichts Ungerechtes tun. Sie merkt selbst nicht, wie unmöglich -es ist, daß es unter den Menschen gerecht zugehe und ist reizbar ... Sie -ist wie ein Kind, wie ein Kind! Sie ist gerecht, gerecht!« - -»Und was wird mit Ihnen geschehen?« - -Ssonja blickte ihn fragend an. - -»Die Last ist doch auf Ihren Schultern geblieben. Es ist wahr, auch -früher lag alles auf Ihren Schultern, und der Verstorbene kam auch zu -Ihnen mit seinen Bitten, um zu einem Gläschen zu kommen. Aber was wird -jetzt werden?« - -»Ich weiß es nicht,« erwiderte Ssonja traurig. - -»Werden sie dort bleiben?« - -»Ich weiß nicht, sie sind der Wirtin die Wohnung schuldig; und die -Wirtin hat heute gesagt, ich hörte es, daß sie ihr kündigen will; -Katerina Iwanowna jedoch sagte schon, daß sie auch selbst keinen -Augenblick länger dort bleiben will.« - -»Aus welchem Grunde ist sie denn so tapfer? Hofft sie auf Sie?« - -»Ach, nein, sagen Sie nicht so etwas ... Wir leben zusammen, gehören -zueinander,« Ssonja wurde wieder erregt und selbst gereizt, genau wie -wenn ein Kanarienvogel oder ein anderer kleiner Vogel böse wird. »Ja, -was soll sie denn tun? Was denn, was soll sie tun?« fragte sie, sich -ereifernd und erregt. »Und wie, wie lange sie heute geweint hat! Ihr -Verstand ist gestört, haben Sie es nicht gemerkt? Er ist gestört; bald -regt sie sich wie ein Kind darüber auf, ob morgen auch alles anständig -sei, die Speisen und alles da sei ... bald ringt sie die Hände, speit -Blut, weint und schlägt die Stirne gegen die Wand aus lauter -Verzweiflung. Dann wird sie wieder ruhiger, hofft auf Sie, -- sagt, daß -Sie ihr ein Helfer sein werden und daß sie bei irgend jemand Geld leihen -und nach ihrer Heimatsstadt mit mir reisen wird; sie will dort eine -Pension für junge Mädchen aus guter Familie errichten, mich als -Aufseherin anstellen, und ein ganz neues, schönes Leben soll für uns -beginnen; sie küßt mich, umarmt und tröstet mich und glaubt fest an die -Ausführung ihres Planes. Sie glaubt so stark an diese Träume. Kann man -ihr denn da widersprechen? Und sie wusch, säuberte und besserte heute -den ganzen Tag alles aus; hat selbst mit ihren schwachen Kräften eine -Wanne ins Zimmer hereingeschleppt, geriet dabei außer Atem und fiel auf -das Bett hin. Wir sind heute am frühen Morgen mit ihr in den Läden -gewesen, um Poletschka und Lene Stiefel zu kaufen, denn die ihrigen sind -ganz zerrissen, da reichte das Geld nach der Berechnung nicht aus, es -fehlte noch sehr viel. Und sie hat so hübsche Stiefelchen ausgesucht, -denn sie hat Geschmack, Sie glauben nicht ... Sie fing dort selbst in -dem Laden, in Gegenwart der Verkäufer, zu weinen an, da das Geld nicht -ausreichte ... Ach, wie leid es einem tat, sie zu sehen.« - -»Dann ist es begreiflich, daß Sie ... so leben,« sagte Raskolnikoff mit -bitterem Lächeln. - -»Und tut es Ihnen denn nicht auch leid? Nicht auch weh?« fuhr Ssonja -wieder fort. »Ich weiß doch, Sie haben selbst Ihr letztes abgegeben, -ohne je wieder etwas davon zu sehen. Und wenn Sie erst alles wüßten, oh, -Gott! Und wie oft, wie oft habe ich sie zu Tränen gereizt! In der -vorigen Woche noch! Ach, ich ... Genau eine Woche vor seinem Tode. Ich -habe grausam gehandelt! Und wie oft, wie oft war ich es! Ach, wie es weh -tut, ich wurde heute den ganzen Tag daran erinnert!« - -Ssonja rang in schmerzlicher Erinnerung die Hände, während sie sprach. - -»Sie wollen grausam sein?« - -»Ja, ich, ich bin es! Ich kam damals hin,« fuhr sie weinend fort, »als -der Verstorbene zu mir sagte, >lies mir vor, Ssonja,< sagte er, >mein -Kopf tut mir etwas weh, lies mir vor ... hier ist ein Buch<, er hatte -irgendein Buch von Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff erhalten; er -wohnt auch dort und hat immer solche spaßige Bücher. Und ich sagte, >ich -muß gehen<, wollte ihm also nicht vorlesen. Ich war hauptsächlich zu -ihnen gekommen, um Katerina Iwanowna die Kragen zu zeigen, hübsche, neue -und ausgewählte Kragen und Manschetten, die mir Lisaweta, eine -Händlerin, billig besorgt hatte. Und Katerina Iwanowna gefielen sie -sehr, sie legte einen Kragen um, besah sich im Spiegel, und sie gefielen -ihr sehr. >Schenk sie mir, Ssonja,< sagte sie, >bitte schenk sie mir.< -Sie hatte bitte gesagt, und sie wollte sie so gern haben. Wann soll sie -aber die Kragen umlegen? Sie dachte nur an die frühere, glücklichere -Zeit. Sie sah sich im Spiegel, betrachtete sich mit Wohlgefallen und hat -doch keine passenden Kleider, gar keine Sachen dazu, -- wer weiß, wie -viele Jahre schon! Und niemals wird sie etwas von jemand erbitten, -- -sie ist stolz und gibt eher das letzte fort, nun aber hatte sie mich -gebeten, -- so hatten ihr die Kragen gefallen! Mir aber tat es leid sie -wegzugeben. >Wozu brauchen Sie sie, Katerina Iwanowna<, sagte ich, so -direkt: wozu? Das hätte ich ihr nicht sagen dürfen. Sie blickte mich -schmerzlich an und wurde sehr traurig, daß ich sie ihr abgeschlagen -hatte, und es war so traurig anzusehen ... Nicht der Kragen wegen, -sondern weil ich es ihr abgeschlagen habe, ich hatte doch ... Ihnen ist -dies doch gleichgültig!« - -»Haben Sie diese Händlerin Lisaweta gekannt?« - -»Ja ... Sie auch?« fragte Ssonja ihn mit einigem Erstaunen. - -»Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht im höchsten Grade, sie wird bald -sterben,« sagte Raskolnikoff nach einigem Schweigen, ohne auf ihre Frage -zu antworten. - -»Ach nein, nein, nein!« Und Ssonja ergriff unbewußt seine beiden Hände, -als ob es an ihm läge, dies zu verhindern und als könnte sie das von ihm -erflehen. - -»Es ist doch besser, wenn sie stirbt!« - -»Nein, es ist nicht, es ist gar nicht besser!« wiederholte sie -erschrocken und ohne Überlegung. - -»Und was wird aus den Kindern? Sie werden sie sicher zu sich nehmen?« - -»Ach, ich weiß es nicht!« rief Ssonja fast in Verzweiflung aus und faßte -sich an den Kopf. - -Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Male ihr aufgetaucht war und -daß sie ihn immer wieder abgewiesen hatte. - -»Und wenn Sie noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten krank werden und man -Sie ins Krankenhaus schafft, was dann?« drang er erbarmungslos weiter in -sie. - -»Ach, wie ist es möglich! Das kann doch nicht sein!« und Ssonjas Gesicht -verzog sich in furchtbarem Schrecken. - -»Wieso kann es nicht sein?« fuhr Raskolnikoff mit einem harten Lächeln -fort. »Sie sind doch nicht davor geschützt? Was wird dann mit jenen -geschehen? Sie werden auf die Straße alle zusammen gehen, Katerina -Iwanowna wird husten und betteln und mit der Stirn an die Wand schlagen, -wie heute, und die Kinder werden weinen ... Dann wird sie hinfallen, man -bringt sie zur Wache, nachher ins Krankenhaus, nachher wird sie sterben, -und was wird aus den Kindern ...« - -»Ach nein! ... Gott wird es nicht zulassen!« entrang es sich der -zusammengeschnürten Brust Ssonjas. - -Sie hörte ihm ängstlich zu, blickte ihn flehend an und faltete in -stummer Bitte die Hände, als hinge alles von ihm ab. Raskolnikoff stand -auf und begann im Zimmer auf- und abzugehen. Es vergingen Minuten. -Ssonja stand mit gesenktem Kopfe und herabhängenden Händen da in -unsäglichem Leid. - -»Kann man nicht sparen? Einen Notgroschen sammeln?« fragte er und blieb -vor ihr stehen. - -»Nein,« flüsterte Ssonja. - -»Versteht sich, nein! Haben Sie es aber auch schon versucht?« fragte er -spöttisch. - -»Ich habe es versucht.« - -»Und es gelang nicht! Nun, das ist ja selbstverständlich! Was ist da -noch zu fragen!« - -Und er wanderte wieder im Zimmer auf und nieder. Es verstrich wieder -eine Weile. - -»Sie erhalten nicht jeden Tag Geld?« - -Ssonja wurde noch mehr betreten, und wieder stieg ihr das Blut ins -Gesicht. - -»Nein,« flüsterte sie mit qualvoller Anstrengung. - -»Mit Poletschka wird sicher dasselbe geschehen,« sagte er plötzlich. - -»Nein, nein! Das darf nicht sein, unmöglich!« rief sie laut, vollkommen -verzweifelt, als hätte man ihr einen Stich ins Herz gegeben. »Gott, Gott -wird so was Schreckliches nicht zulassen! ...« - -»Bei Ihnen läßt er es doch zu.« - -»Nein, nein! Gott wird sie schützen! ...« wiederholte sie ganz außer -sich. - -»Ja, vielleicht gibt es gar keinen Gott,« antwortete Raskolnikoff mit -einem Anflug von Schadenfreude, lachte und blickte sie an. Ssonjas -Gesicht verzerrte sich krampfhaft. Mit einem unbeschreiblichen Vorwurf -schaute sie ihn an, wollte etwas sagen, konnte aber nichts -herausbringen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte dann -bitterlich. - -»Sie sagen, Katerina Iwanownas Verstand sei gestört. Ihr eigener ist -auch gestört,« sagte er nach einigem Schweigen. - -Es vergingen wieder etwa fünf Minuten, während er schweigend auf und ab -ging, ohne sie anzublicken. Endlich trat er an sie heran; seine Augen -funkelten. Er packte sie mit beiden Händen an den Schultern und sah in -ihr weinendes Gesicht. Seine Augen hatten einen heißen, trockenen, -durchdringenden Blick, und seine Lippen bebten vor Erregung ... -Plötzlich beugte er sich nieder, warf sich auf den Boden und küßte ihren -Fuß. Ssonja fuhr entsetzt vor ihm zurück, wie vor einem Irrsinnigen. Er -sah wirklich ganz wie ein Irrsinniger aus. - -»Was ist mit Ihnen, was tun Sie? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und -ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. - -Er stand sofort auf. - -»Ich habe mich nicht vor dir verneigt, sondern vor dem ganzen -menschlichen Leiden,« sagte er mit eigentümlichem Ton und ging zum -Fenster hin. »Höre,« setzte er hinzu, als er nach einem Augenblick zu -ihr zurückkam, »ich habe vorhin zu einem bösen Menschen gesagt, daß er -deinen kleinen Finger nicht wert sei ... und daß ich meiner Schwester -heute eine Ehre erwiesen habe, indem ich sie neben dich hingesetzt habe -...« - -»Ach, was haben Sie gesagt! Und in ihrer Gegenwart?« rief Ssonja -erschrocken aus. »Neben mir zu sitzen! Eine Ehre! Ja, ich bin doch ... -ehrlos ... Ach, warum haben Sie das gesagt?« - -»Nicht wegen deiner Ehrlosigkeit und Sünde habe ich es von dir gesagt, -sondern wegen deines großen Leides. Daß du eine große Sünderin bist, ist -wahr,« fügte er fast entzückt hinzu, »und am meisten bist du dadurch -eine Sünderin, weil du dich _umsonst_ getötet und verkauft hast. Ist das -nicht entsetzlich! Ist es nicht entsetzlich, daß du in diesem Schmutze -lebst, den du so haßt und gleichzeitig es selbst weißt, -- man braucht -dir nur die Augen zu öffnen -- daß du niemandem damit hilfst und -niemanden dadurch rettest! Ja, sage mir doch endlich,« fuhr er fast in -Wut fort, »wie kannst du solche Schande und solche Gemeinheit mit deinen -anderen besten und heiligsten Gefühlen in dir vereinigen? Es wäre doch -gerechter, tausendmal gerechter und vernünftiger, sich mit dem Kopfe -voran ins Wasser zu stürzen und allem ein Ende zu machen!« - -»Und was wird mit ihnen allen geschehen?« fragte Ssonja mit schwacher -Stimme, blickte ihn leidend an, zeigte aber über seinen Vorschlag gar -kein Erstaunen. Raskolnikoff blickte sie eigentümlich an. - -Er hatte alles in ihrem Blicke gelesen. Auch sie hatte tatsächlich schon -selbst diesen Gedanken gehabt. Vielleicht hatte sie sich in der -Verzweiflung oft und ernstlich überlegt, dem Leben schneller ein Ende zu -machen, so daß sie jetzt gar nicht über seinen Vorschlag erstaunt war. -Sie hatte selbst die Härte seiner Worte nicht empfunden, auch den Sinn -seiner Vorwürfe und seine besondere Ansicht über ihre Schande hatte sie -nicht erfaßt, das konnte er sehen. Er aber begriff vollkommen, wie -grauenhaft und schmerzlich sie schon seit langem der Gedanke an ihre -ehrlose und schmachvolle Lage gequält hatte. Was aber war es, was konnte -es sein, -- dachte er, -- das ihren Entschluß, mit einem Schlage allem -ein Ende zu machen, aufhielt? Jetzt erst verstand er völlig, was für sie -diese armen, kleinen verwaisten Kinder und diese beklagenswerte -halbverrückte Katerina Iwanowna mit ihrer Schwindsucht und mit ihrer -Verzweiflung bedeuteten. - -Aber ebenso klar war es ihm, daß Ssonja mit ihrem Charakter und ihrer -Bildung, die sie doch immerhin genossen hatte, in keinem Falle weiter in -dieser Lage aushalten konnte. Und dennoch blieb die Frage offen, -- wie -hatte sie so lange, zu lange schon, in dieser Lage aushalten können, -ohne den Verstand zu verlieren, wenn sie nicht die Kraft besaß, sich ins -Wasser zu stürzen? Gewiß, er begriff, daß Ssonjas Lage eine häufige -Erscheinung in der Gesellschaft war, und unglücklicherweise bei weitem -keine einzelne Ausnahme. Aber dieser Umstand selbst, ihre Bildung und -ihr ganzes vorheriges Leben hätten sie doch sofort beim ersten Schritt -auf diesem widerwärtigen Wege töten müssen. Was hielt sie denn? Doch -nicht die Unzucht? Diese ganze Schande hatte sie offenbar nur mechanisch -berührt; die echte Unzucht war noch mit keinem Tropfen in ihr Herz -gedrungen; er sah es; sie stand völlig rein vor ihm da ... - -»Sie hat drei Wege,« dachte er, »entweder sich in den Kanal zu stürzen, -ins Irrenhaus zu kommen oder ... oder sich schließlich wirklich dem -Laster zu ergeben, das den Verstand betäubt und das Herz versteinert«. - -Der letzte Gedanke war ihm am widerwärtigsten; aber er war schon zu sehr -Skeptiker, er war jung, abstrakt und somit grausam, darum mußte er auch -glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt das Laster, am -allerwahrscheinlichsten sei. - -»Aber ist es denn möglich,« rief er innerlich aus, »soll sich auch -dieses Wesen, das sich noch die Reinheit des Herzens bewahrt hat, bewußt -in diesen abscheulichen stinkenden Schlamm hinabziehen lassen? Hat diese -Erniedrigung schon begonnen und konnte sie etwa dieses Leben schon aus -diesem Grunde leben, weil das Laster ihr nicht mehr widerwärtig -erschien? Nein, nein, es kann nicht sein!« rief er bei sich aus, wie -vorhin Ssonja laut gerufen, »nein, vom Wasser hielt sie bis jetzt der -Gedanke an die Sünde zurück und an _jene_ ... Wenn sie aber bis jetzt -den Verstand nicht verloren hat ... aber wer sagt es denn, daß sie den -Verstand noch nicht verloren hat? Ist sie denn bei gesundem Verstande? -Kann man denn so reden, wie sie es tut? Kann man denn bei gesundem -Verstande so urteilen, wie sie es tut? Kann man denn so über dem -Abgrunde, über dem stinkenden Schlamm sitzen und in der Gefahr, jeden -Augenblick hineingezogen zu werden, trotzdem mit den Händen sich gegen -die Mahnungen wehren und sich die Ohren zuhalten? Was, erwartet sie etwa -ein Wunder? Sicher, so ist es. Sind dies nicht Anzeichen von -Geistesstörung?« - -Er blieb hartnäckig bei diesem Gedanken stehen. Dieser Ausweg gefiel ihm -sogar besser, als jeder andere. Er begann sie aufmerksamer zu -betrachten. - -»Also du betest sehr oft zu Gott, Ssonja?« fragte er sie. - -Ssonja schwieg, er stand neben ihr und wartete auf die Antwort. - -»Was wäre ich denn ohne Gott?« flüsterte sie schnell und energisch, -indem sie ihn flüchtig mit funkelnden Augen anblickte und seine Hand -stark drückte. - -»Ja, es ist so, wie ich gedacht!« sagte er zu sich. - -»Und was tut Gott dir dafür?« fragte er sie weiter ausforschend. - -Ssonja schwieg lange, als könnte sie nicht antworten. Ihre schwache -Brust hob und senkte sich in heftiger Aufregung. - -»Schweigen Sie! Fragen Sie nicht! Sie sind es nicht wert ...« rief sie -plötzlich und sah ihn streng und zornig an. - -»Es ist so! Es ist so!« wiederholte er hartnäckig vor sich hin. - -»Alles tut er!« flüsterte sie schnell und schlug wieder die Augen -nieder. - -»Das ist ihr Ausweg! Das ist die Lösung!« entschied er bei sich und -betrachtete sie mit gesteigertem Interesse. - -Mit einem neuen, eigentümlichen, fast krankhaften Gefühle schaute er in -dieses bleiche magere und regelmäßig eckige Gesichtchen, diese sanften -blauen Augen, die mit so einem Feuer, mit so einem strengen energischen -Blick leuchten konnten, diesen kleinen Körper, der vor Empörung und Zorn -noch bebte, und dies alles erschien ihm noch merkwürdiger und -unfaßlicher. - -»Sie ist närrisch! Sie hat den religiösen Wahnsinn!« wiederholte er für -sich. - -Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal, wenn er auf und ab ging, hatte -er es bemerkt; jetzt nahm er es und sah es sich an. Es war das Neue -Testament in russischer Übersetzung. Das Buch, in Leder gebunden, war -alt und viel gebraucht. - -»Woher hast du es?« rief er. Sie stand immer noch auf derselben Stelle, -drei Schritte vom Tische entfernt. - -»Man hat es mir gebracht,« antwortete sie unwillig und ohne ihn -anzublicken. - -»Wer hat es dir gebracht?« - -»Lisaweta hat es gebracht, ich habe sie darum gebeten.« - -»Lisaweta! Wie seltsam!« dachte er. - -Alles erschien ihm bei Ssonja mit jeder Minute merkwürdiger, -wunderlicher. Er holte das Buch zum Lichte und begann darin zu blättern. - -»Wo steht hier die Geschichte vom armen Lazarus?« fragte er. - -Ssonja blickte unverwandt zu Boden und antwortete nicht. Sie stand ein -wenig abgewandt vom Tische. - -»Von der Auferstehung des Lazarus, wo ist es? Suche es mir, Ssonja.« - -Sie sah ihn mit einem Seitenblick an. - -»Nicht dort ... im vierten Evangelium steht es ...« flüsterte sie -streng, ohne sich ihm zu nähern. - -»Suche es und lies es mir vor,« sagte er, setzte sich, stützte die -Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Hand legend, blickte düster zur -Seite und bereitete sich vor zuzuhören. - -»Nach drei Wochen ist sie im städtischen Irrenhause! Ich werde -vielleicht selbst auch dort sein, wenn es nicht noch schlimmer enden -wird,« murmelte er vor sich hin. - -Ssonja trat unschlüssig an den Tisch, nachdem sie das sonderbare -Verlangen Raskolnikoffs mißtrauisch gehört hatte. Sie nahm das Buch. - -»Haben Sie es denn nicht gelesen?« fragte sie und blickte ihn unter der -Stirn hervor an. Ihre Stimme wurde immer ernster und ernster. - -»Vor langer Zeit ... Als ich noch zur Schule ging. Lies!« - -»Und haben Sie es nicht in der Kirche gehört?« - -»Ich ... bin nie in der Kirche gewesen. Gehst du oft hin?« - -»N--nein,« flüsterte Ssonja. - -Raskolnikoff lächelte. - -»Ich verstehe ... Du wirst wohl morgen auch nicht zur Beerdigung des -Vaters hineingehen?« - -»Ich werde hingehen. Ich war auch in der vorigen Woche in der Kirche ... -habe eine Totenmesse halten lassen.« - -»Für wen?« - -»Für Lisaweta. Man hat sie mit einem Beile erschlagen.« - -Seine Nerven wurden immer reizbarer. Der Kopf begann ihm zu schwindeln. - -»Warst du mit Lisaweta befreundet?« - -»Ja ... Sie war gerecht ... sie kam ... selten ... sie konnte nicht. Wir -lasen zusammen und ... sprachen. Sie wird Gott schauen!« - -Eigentümlich klangen für ihn diese Worte aus der Bibel und wieder erfuhr -er eine Neuigkeit, -- sie hatte mit Lisaweta geheimnisvolle -Zusammenkünfte gehabt und beide waren religiös wahnsinnig. - -»Man kann hier selbst geisteskrank werden! Es steckt an!« dachte er. - -»Lies!« rief er plötzlich hartnäckig und gereizt. - -Ssonja war noch immer unentschlossen. Ihr Herz klopfte. Sie wagte nicht -ihm vorzulesen. Er sah mit Qual die »unglückliche Geisteskranke« an. - -»Wozu denn? Sie glauben doch nicht daran? ...« flüsterte sie leise und -mit stockendem Atem. - -»Lies! Ich will es haben!« bestand er. »Du hast doch auch Lisaweta -vorgelesen.« - -Ssonja schlug das Buch auf und suchte die Stelle. Ihre Hände zitterten, -die Stimme versagte. Zweimal begann sie und konnte über das erste Wort -nicht hinwegkommen. - -»Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus, von Bethanien ...« sagte sie -endlich mit Anstrengung, aber bei dem dritten Worte zitterte plötzlich -ihre Stimme und brach ab, wie eine zu straff gespannte Saite. Der Atem -versagte ihr und die Brust schnürte sich zusammen. - -Raskolnikoff begriff zum Teil, warum Ssonja sich nicht entschließen -konnte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so entschiedener -und gereizter bestand er darauf. Er verstand zu gut, wie schwer es ihr -jetzt fiel, alles _eigene_ preiszugeben und zu enthüllen. Er hatte -begriffen, daß diese Gefühle tatsächlich ihr wahres und vielleicht seit -langer Zeit gehegtes _Geheimnis_ bildeten, vielleicht schon seit der -Jugendzeit, schon in der Familie, neben dem unglücklichen Vater und der -vor Kummer wahnsinnig gewordenen Stiefmutter, mitten unter den hungrigen -Kindern, ihrem häßlichen Geschrei und den fortwährenden Vorwürfen. Aber -gleichzeitig erkannte er, und zwar mit Sicherheit, daß sie trotz ihres -Grams und ihrer Furcht, in dem sie jetzt vorzulesen begann, doch gern, -sehr gern es tat und zwar vor ihm, damit er es höre und unbedingt -_jetzt_ -- mochte kommen, was da wolle! ... Er hatte das in ihren Augen -gelesen und es aus ihrer verzückten Erregung entnommen! ... Sie überwand -sich, unterdrückte den Krampf im Halse, der ihr die Stimme am Anfange -benommen hatte, und fuhr fort, aus dem elften Kapitel des Evangeliums -St. Johannis vorzulesen. So kam sie bis zum 19. Vers: »Und viele Juden -waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. -Als Martha nun hörete, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria -aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: Herr, wärest du -hiergewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch, -daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.« - -Hier blieb sie wieder stehn, in schamhafter Vorahnung, daß ihre Stimme -zittern und versagen würde ... »Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll -auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen -wird in der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin -die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob -er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird -nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: (und wie mit -Schmerz atemholend, las Ssonja deutlich und voller Kraft, als lege sie -selbst öffentlich ein Glaubensbekenntnis ab): - ->Herr, ja, ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die -Welt gekommen ist.<« - -Sie hielt einen Moment inne, erhob schnell zu _ihm_ die Augen, überwand -sich aber rasch und las weiter. Raskolnikoff saß und hörte unbeweglich -zu, ohne sich umzuwenden, den Ellbogen auf den Tisch gestützt und zur -Seite blickend. Sie las bis zum 32. Vers: - -»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sahe ihn, fiel sie zu seinen Füßen -und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht -gestorben. Als Jesus sie sahe weinen und die Juden auch weinen, die mit -ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst. Und sprach: -Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und siehe es. -Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er -ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem -Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht -stürbe?« - -Raskolnikoff wandte sich zu ihr um und sah sie mit Erregung an, -- ja, -es ist so! Sie zitterte am ganzen Körper in wahrem, wirklichem Fieber. -Er hatte es erwartet. Sie näherte sich den Worten über das größte und -unerhörte Wunder, und das Gefühl eines großen Triumphes erfaßte sie. -Ihre Stimme wurde klingend wie Metall; Triumph und Freude klangen darin -und stärkten sie. Die Zeilen verwischten sich, weil es vor ihren Augen -dunkel wurde, aber sie kannte auswendig, was sie las. Bei dem letzten -Vers: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat ...« ließ sie die -Stimme sinken und gab heiß und leidenschaftlich den Zweifel, den Vorwurf -und Tadel der ungläubigen, blinden Juden wieder, die gleich darauf, nach -einer Minute, wie vom Donner getroffen, niederfallen, schluchzen und -glauben werden ... »Auch er, er -- ebenfalls verblendet und ungläubig, -wird es gleich hören, auch er wird glauben, ja, ja, gleich, jetzt -gleich,« durchzuckte es sie und sie bebte in freudiger Erwartung. - -»Jesus aber ergrimmete abermals in ihm selbst und kam zum Grabe. Es war -aber eine Kluft und ein Stein daraufgelegt. Jesus sprach: Hebet den -Stein ab. Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, -er stinket schon; denn er ist vier Tage gelegen.« - -Sie betonte energisch das Wort -- _vier_. - -»Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, -du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein ab, da -der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: Vater, -ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich -allezeit erhörest; sondern um des Volkes Willen, das umher stehet, sage -ich es, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, -rief er mit lauter Stimme: Lazare, komme heraus! _Und der Verstorbene -kam heraus_ ...« (Laut und verzückt las sie es, zitternd und fröstelnd, -als sähe sie es mit eigenen Augen.) - -»Gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Angesicht -verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf -und laßt ihn gehen.« - -»_Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus -tat, glaubten an ihn._« - -Weiter las sie nicht und konnte auch nicht lesen, sie schloß das Buch -und stand schnell vom Stuhle auf. »Das ist alles über die Auferstehung -des Lazarus,« flüsterte sie abgerissen und streng und blieb unbeweglich, -zur Seite gekehrt, stehen, ohne zu wagen und als schäme sie sich, die -Augen zu ihm zu erheben. Ihr fieberhaftes Frösteln dauerte noch an. Der -Lichtstumpf begann in dem schiefen Leuchter auszugehen und beleuchtete -trübe in diesem armseligen Zimmer den Mörder und die Dirne, die so -sonderbar beim Lesen des ewigen Buches zusammengekommen waren. Es -vergingen fünf Minuten oder noch mehr. - -»Ich bin gekommen, um über eine Angelegenheit mit dir zu sprechen,« -sagte Raskolnikoff plötzlich laut und mit düsterem Gesichte, stand auf -und trat an Ssonja heran. Sie erhob schweigend die Augen zu ihm. Sein -Blick war besonders streng und drückte eine wilde Entschlossenheit aus. - -»Ich habe heute meine Verwandten verlassen,« sagte er, »meine Mutter und -Schwester. Ich werde nicht mehr zu ihnen gehen. Ich habe mit allem dort -gebrochen.« - -»Warum?« fragte ihn Ssonja bestürzt. Ihre Begegnung mit seiner Mutter -und Schwester hatte in ihr einen ungewöhnlichen, wenn auch ihr selbst -nicht klaren Eindruck hinterlassen. Die Mitteilung von seinem Bruche mit -ihnen hörte sie fast mit Entsetzen. - -»Ich habe jetzt dich allein,« fügte er hinzu. »Gehen wir zusammen ... -Ich bin zu dir gekommen. Wir sind beide verflucht und so wollen wir auch -beide zusammengehen!« - -Seine Augen leuchteten. »Wie ein Wahnsinniger!« dachte Ssonja. - -»Wohin sollen wir gehen?« fragte sie voll Angst und trat unwillkürlich -einen Schritt zurück. - -»Woher soll ich es wissen? Ich weiß nur eins, daß wir einen und -denselben Weg haben, das weiß ich sicher, -- und weiter nichts. Ein und -dasselbe Ziel.« - -Sie blickte ihn an und verstand nichts. Sie begriff nur eins, daß er -furchtbar, grenzenlos unglücklich sei. - -»Niemand von ihnen wird etwas verstehn, wenn du zu ihnen sprechen -wirst,« fuhr er fort, »ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich, -darum bin ich auch zu dir gekommen.« - -»Ich begreife nicht ...« flüsterte Ssonja. - -»Du wirst später begreifen. Hast du denn nicht ebenso gehandelt. Auch du -bist hinüber geschritten ... du hast es vermocht. Du hast Hand an dich -gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... _dein Leben_, das ist -einerlei! Du hättest im Geist und in der Vernunft leben können und wirst -auf dem Heumarkte enden ... Auch du kannst es nicht aushalten, und wenn -du _allein_ bleibst, wirst du den Verstand verlieren, wie ich auch. Du -bist schon jetzt wie geistesgestört; also müssen wir zusammengehen, ein -und denselben Weg! Gehen wir ihn also!« - -»Warum? Warum sagen Sie das?« sagte Ssonja eigentümlich berührt und tief -erregt durch seine Worte. - -»Warum? Weil es so nicht bleiben darf -- das ist der Grund! Man muß doch -endlich ernst und offen es bedenken, und nicht wie ein Kind weinen und -ausrufen, daß Gott es nicht zulassen wird! Nun, was wird geschehen, wenn -man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Die da ist nicht -bei Verstand und hat Schwindsucht, wird bald sterben und was soll aus -den Kindern werden? Wird denn Poletschka nicht auch zugrunde gehen? Hast -du denn nicht hier Kinder an allen Ecken gesehen, die ihre Mütter -betteln schicken? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter leben und in -welcher Umgebung. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist -ein siebenjähriger lasterhaft und ein Dieb. Und die Kinder sind doch -Ebenbilder Christi. >Ihrer ist das Himmelreich.< Er hat geboten, sie zu -achten und zu lieben, sie sind das künftige Menschengeschlecht ...« - -»Was soll, was soll ich denn tun?« wiederholte Ssonja nervös weinend und -händeringend. - -»Was tun? Ein für allemal das, was nötig ist, abbrechen und weiter -nichts, -- und das Leiden auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht? -Du wirst es nachher verstehen ... Freiheit und Macht, hauptsächlich -Macht! Über alle zitternde Kreaturen und über den ganzen Ameisenhaufen! -... Das ist das Ziel! Denk daran! Das ist mein Geleitwort dir auf den -Weg! Vielleicht spreche ich mit dir zum letzten Male. Wenn ich morgen -nicht zu dir komme, wirst du selbst von allem hören, und dann erinnere -dich meiner jetzigen Worte. Und irgendwann, nachher, nach Jahren, mit -der Zeit, wirst du auch vielleicht verstehn, was sie bedeuteten. Wenn -ich aber morgen zu dir komme, will ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet -hat. Leb wohl!« - -Ssonja fuhr vor Schreck zusammen. - -»Ja, wissen Sie denn, wer sie ermordet hat?« fragte sie und erstarrte -vor Entsetzen und blickte ihn wild an. - -»Ich weiß es und will es sagen ... Dir, nur dir allein! Ich habe dich -gewählt. Ich werde nicht kommen zu dir, um Verzeihung zu bitten, ich -will es bloß sagen. Ich habe dich seit langem gewählt, um es dir zu -sagen, damals noch, als dein Vater über dich erzählte, und ich dachte -daran, als Lisaweta noch lebte. Leb wohl. Gib mir nicht die Hand. -Morgen!« - -Er ging hinaus. Ssonja sah ihm wie einem Geistesgestörten nach; aber -auch sie selbst war wie verrückt und fühlte es. Der Kopf schwindelte -ihr. - -»Mein Gott, wie weiß er es, wer Lisaweta ermordet hat? Was bedeuteten -diese Worte? Es ist furchtbar!« - -Aber _ein_ Gedanke kam ihr nicht in den Sinn. Durchaus nicht! ... - -»Oh, er muß furchtbar unglücklich sein! ... Er hat Mutter und Schwester -verlassen. Warum? Was ist vorgefallen? Und was für Absichten hat er? Was -hat er zu ihr gesagt? Er hat ihren Fuß geküßt und gesagt ... gesagt ... -ja, er hat es deutlich gesagt, daß er ohne sie nicht mehr leben kann ... -Oh, Gott!« - -Ssonja verbrachte in Fieber und Träumen die ganze Nacht. Sie sprang -zuweilen auf, weinte, rang die Hände und bald verfiel sie wieder in -Fieberträume und sie träumte von Poletschka, Katerina Iwanowna, -Lisaweta, von Vorlesen aus dem Evangelium und von ihm ... ihm mit dem -bleichen Gesicht, mit den funkelnden Augen ... Er küßt ihr die Füße, -weinte ... Oh, Gott! - -Hinter der Türe rechts, hinter derselben Türe, die das Zimmer Ssonjas -von der Wohnung von Gertrude Karlowna Rößlich abteilte, war ein -Durchgangszimmer, seit langem unbewohnt, das zu der Wohnung der Frau -Rößlich gehörte und das zu vermieten war, worauf die Zettel an dem Tore -und an den Scheiben der Fenster, die zum Kanal hinausgingen, hinwiesen. -Ssonja war seit langem gewöhnt, dieses Zimmer als unbewohnt zu -betrachten. Indessen aber hatte in dem leeren Zimmer die ganze Zeit an -der Türe Herr Sswidrigailoff gestanden und heimlich gelauscht. Als -Raskolnikoff fortgegangen war, blieb er stehn, dachte nach, ging auf den -Fußspitzen in sein Zimmer, das an das leere grenzte, holte dort einen -Stuhl und stellte ihn leise an die Türe, die zu Ssonjas Zimmer führte. -Das Gespräch erschien ihm amüsant und bedeutungsvoll und hatte ihm sehr -gefallen, -- hatte ihm so gefallen, daß er einen Stuhl hinbrachte, um -künftig, zum Beispiel morgen schon, nicht wieder der Unannehmlichkeit -ausgesetzt zu sein, eine ganze Stunde stehen zu müssen, sondern sich's -bequemer zu machen, um in jeder Beziehung völlig befriedigt zu werden. - - - V. - -Als Raskolnikoff am anderen Morgen, punkt elf Uhr, in das Haus des ---schen Polizeireviers, in die Abteilung des Untersuchungsrichters -eingetreten war und gebeten hatte, ihn Porphyri Petrowitsch anzumelden, -war er verwundert, wie lange man ihn warten ließ, -- es vergingen -mindestens zehn Minuten, ehe man ihn rief. Seiner Berechnung nach mußte -man sich sofort auf ihn stürzen. Er stand indessen im Wartezimmer, es -gingen Menschen an ihm vorüber, die offenbar sich gar nicht für ihn -interessierten. In dem anderen Zimmer, das einer Kanzlei glich, saßen -und schrieben einige Schreiber, und es war ersichtlich, daß niemand auch -eine Ahnung davon hatte, -- wer und was Raskolnikoff sei? Mit unruhigem -und mißtrauischem Blicke beobachtete er alles umher, und suchte, -- ob -nicht neben ihm irgendeine Wache stehe, und ob er keinen geheimnisvollen -Wink sähe, bestimmt, auf ihn acht zu geben, daß er nicht entrinne? Aber -nichts von alledem, -- er sah bloß sorgenvolle Kanzleigesichter und -einige andere Leute, und niemand kümmerte sich um sein Kommen und Gehen. -Immer mehr befestigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser -geheimnisvolle Mensch von gestern, dieses Gespenst, das aus der Erde -hervorgestiegen schien, tatsächlich alles wußte und alles gesehen hatte, --- man ihm, Raskolnikoff, nicht erlauben würde, jetzt so dazustehen und -ruhig abzuwarten? Und würde man auf ihn bis elf Uhr gewartet haben, bis -es ihm selbst eingefallen wäre, zu erscheinen? Es zeigte sich also, daß -dieser Mensch entweder noch nichts mitgeteilt hatte, oder ... oder er -einfach nichts wußte und mit seinen eigenen Augen nichts gesehen hatte, --- ja, und wie konnte er es auch gesehen haben? -- und schließlich war -alles, was gestern mit ihm, Raskolnikoff, vorgefallen war, nichts als -eine Wahnerscheinung, die seine gereizte und kranke Einbildung -übertrieben hatte. Diese Vermutung hatte ja gestern schon während der -stärksten Aufregungen und der Verzweiflung in ihm sich zu befestigen -angefangen. Nachdem er sich dies alles jetzt noch einmal überlegt hatte -und sich zu einem neuen Kampfe anschickte, fühlte er plötzlich, daß er -zittre, -- und eine Empörung erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß er aus -Furcht vor dem verhaßten Porphyri Petrowitsch zittere. Am -schrecklichsten für ihn war es, mit diesem Menschen wieder -zusammenzutreffen; er haßte ihn über alle Maßen, grenzenlos, und -fürchtete direkt, seinen Haß irgendwie zu offenbaren. Seine Empörung -über sich selbst war so stark, daß das Zittern sofort aufhörte; er -schickte sich an, mit einer kalten und frechen Miene hineinzugehen und -versprach sich selbst, möglichst viel zu schweigen, zu beobachten und -zuzuhören und dieses Mal um jeden Preis seine krankhafte gereizte Natur -zu überwinden. In diesem Augenblicke rief man ihn zu Porphyri -Petrowitsch hinein. - -Es traf sich, daß in diesem Momente Porphyri Petrowitsch in seinem -Arbeitszimmer allein war. Sein Arbeitszimmer war weder klein, noch groß; -es standen darin ein großer Schreibtisch vor einem Divan, der mit -Wachstuch bezogen war, ein Schrank in einer Ecke und einige Stühle, -- -alles gehörte dem Staate und war aus gelbem poliertem Holze. In einer -Ecke der Hinterwand oder besser gesagt der Scheidewand, war eine -verschlossene Türe, -- also, mußten hinter dieser Wand sich noch andere -Zimmer befinden. Nach Raskolnikoffs Eintritt schloß Porphyri Petrowitsch -sofort die Türe, durch die er eingetreten war, und sie waren allein. Er -begrüßte seinen Besuch mit sichtlich fröhlichstem und freundlichstem -Ausdruck, und erst nach einigen Minuten merkte Raskolnikoff aus einigen -Anzeichen eine gewisse Bestürztheit, als sei er plötzlich aus dem -Konzept gebracht, oder als hatte man ihn auf etwas Verstecktem und -Geheimem ertappt. - -»Ah, Verehrtester! Da sind Sie ja ... in unserer Gegend ...« begann -Porphyri Petrowitsch und streckte ihm beide Hände entgegen. »Nun, nehmen -Sie Platz, Väterchen! Oder vielleicht haben Sie es nicht gern, daß man -Sie Verehrtester und ... Väterchen nennt, -- sozusagen _tout -court_{[7]}? Halten Sie es bitte nicht für familiär ... Bitte, hierher -auf den Divan.« - -Raskolnikoff setzte sich, ohne die Augen von ihm zu wenden. - -»Ja unserer Gegend,« Entschuldigung wegen Familiarität, das französische -»_tout court_{[7]}« und dergleichen mehr, dies alles waren -charakteristische Anzeichen. »Er hat mir beide Hände entgegengestreckt, -hat aber keine Hand gereicht, hat sie rechtzeitig zurückgezogen,« dachte -er mißtrauisch. Beide beobachteten einander, aber kaum begegneten sich -ihre Blicke, als sie beide mit Blitzesschnelle sie voneinander -abwandten. - -»Ich habe Ihnen diese Anmeldung ... über die Uhr gebracht ... hier haben -Sie es. Ist es richtig geschrieben, oder soll ich es umschreiben?« - -»Was? Die Anmeldung? Ja, so ... machen Sie sich keine Sorge, es ist -richtig,« sagte Porphyri Petrowitsch, als hätte er Eile, und erst -nachdem er das gesagt hatte, nahm er das Schriftstück und sah es durch. -»Ja, es ist richtig. Mehr ist auch nicht nötig,« bestätigte er noch -einmal schnell und legte das Papier auf den Tisch. - -Nach einer Minute, als er schon von etwas anderem sprach, nahm er es -wieder in die Hand und legte es in seinen Schreibtisch. - -»Ich glaube, Sie sagten gestern, daß Sie wünschten, mich ... in aller -Form ... über meine Bekanntschaft mit dieser ... Ermordeten zu fragen?« -begann wieder Raskolnikoff. »Nun, warum habe ich >ich glaube< gesagt?« -durchfuhr es ihn. »Warum beunruhige ich mich denn so, daß ich dieses ->ich glaube< hinzugefügt habe?« kam ihm alsbald ein zweiter Gedanke. Und -plötzlich empfand er, daß seine Zweifelsucht, nur bei der Berührung mit -Porphyri Petrowitsch, nur nach zwei Worten, nur von zwei Blicken, in -einem einzigen Augenblick schon ins Ungeheure gestiegen sei ... und daß -dies sehr gefährlich sei, -- seine Nerven wurden gereizt, die Erregung -steigerte sich. »Es ist ein Unglück! Ein Unglück! ... Ich werde mich -wieder versprechen.« -- - -»Ja, ja, ja! Haben Sie keine Sorge! Es hat Zeit, hat Zeit!« murmelte -Porphyri Petrowitsch und ging vor dem Tische auf und ab, wie -absichtslos. Bald eilte er zu dem Fenster, bald zum Schreibtisch, bald -zu dem anderen Tisch, bald mied er den mißtrauischen Blick -Raskolnikoffs, bald blieb er plötzlich stehen und sah ihm unverwandt ins -Gesicht. Sonderbar erschien dabei seine kleine, dicke und runde Gestalt, -die wie ein Gummiball überall hinrollte und sofort von den Wänden und -den Ecken absprang. - -»Wir haben Zeit, wir haben Zeit! ... Rauchen Sie? Haben Sie was zu -rauchen? Bitte, hier ist eine Zigarette,« fuhr er fort und reichte dem -Besucher Zigaretten ... »Wissen Sie, ich empfange Sie hier, meine -Wohnung aber ist hier hinter der Zwischenwand ... freie Dienstwohnung, -ich wohne jetzt noch in meiner alten, eigenen. Man mußte hier einige -kleine Reparaturen vornehmen. Jetzt ist alles fast in Ordnung ... eine -freie Dienstwohnung ist eine schöne Sache? Meinen Sie nicht?« - -»Ja, es ist eine schöne Sache,« antwortete Raskolnikoff und blickte ihn -fast spöttisch an. - -»Eine schöne Sache, eine schöne Sache ...« wiederholte Porphyri -Petrowitsch, als ob er an etwas ganz anderes denke, »ja! eine schöne -Sache!« rief er zum Schlusse laut, erhob plötzlich die Augen zu -Raskolnikoff und blieb zwei Schritte vor ihm stehen. - -Diese fortwährende dumme Wiederholung, daß eine Dienstwohnung eine -schöne Sache sei, widersprach sehr dem ernsten sinnenden und -rätselhaften Blicke, mit dem er jetzt seinen Besuch anstarrte. - -Dies aber reizte noch mehr die Wut Raskolnikoffs, so daß er eine -spöttische und ziemlich unvorsichtige Herausforderung nicht unterdrücken -konnte. - -»Sie wissen doch,« sagte er unerwartet, indem er ihn fast dreist -anblickte, und als empfände er einen Genuß von seiner Dreistigkeit, »daß -es eine juristische Regel, ein juristischer Kniff mancher -Untersuchungsrichter ist, -- zuerst von weitem her mit Kleinigkeiten, -oder auch mit etwas Ernstem aber Fernliegendem zu beginnen, um den zu -Verhörenden sozusagen zu ermutigen, oder besser gesagt, abzulenken, -seine Vorsicht einzuschläfern, um ihn nachher plötzlich und unversehens -mit einer verhängnisvollen und gefährlichen Frage zu betäuben, habe ich -recht? Das wird, glaube ich, in allen Lehrbüchern und Vorschriften bis -heute als unfehlbarer Kunstgriff festgehalten.« - -»Es ist richtig ... und Sie meinen, daß ich es mit der freien -Dienstwohnung bei Ihnen versucht habe ... ah?« - -Als Porphyri Petrowitsch dies gesagt hatte, kniff er die Augen zusammen -und blinzelte ihm zu; etwas Lustiges und Schlaues huschte über sein -Gesicht, die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, die Augen wurden -schmäler, die Gesichtszüge erweiterten sich, und plötzlich brach er in -ein nervöses langandauerndes Lachen aus, das seinen ganzen Körper -erschütterte, dabei sah er Raskolnikoff unentwegt in die Augen. -Raskolnikoff zwang sich in das Lachen einzustimmen. Als aber Porphyri -Petrowitsch sah, daß auch er lache, brach er in ein Gelächter aus, daß -ihm das Blut zu Kopf stieg. Raskolnikoffs Widerwillen überwog seine -Vorsicht, -- er hörte auf zu lachen, sein Gesicht verfinsterte sich und -er sah Porphyri Petrowitsch lange und voll Haß an während dieses -anhaltenden und wie absichtlich nicht aufhörenden Lachens. Übrigens war -die Unvorsichtigkeit beiderseits -- es war doch klar, daß Porphyri -Petrowitsch über seinen Besucher lachte und daß er über dessen -unverhohlenen Mißmut sich nicht im geringsten kümmerte. Das aber war für -Raskolnikoff sehr wichtig -- er hatte begriffen, daß Porphyri -Petrowitsch auch vorhin sich gar nicht verlegen gefühlt hatte, daß im -Gegenteil er, Raskolnikoff, wahrscheinlich in eine Falle geraten sei, -daß es hier etwas gab, was er nicht ahnte, daß vielleicht schon alles -vorbereitet sei, um sich im nächsten Augenblick zu zeigen und ihn zu -überrumpeln ... - -Er ging gerade auf das Ziel los, stand von seinem Platze auf und nahm -seine Mütze. - -»Porphyri Petrowitsch,« begann er gereizt, aber entschlossen, »Sie -äußerten gestern den Wunsch, daß ich zu einem Verhöre herkommen sollte.« -(Er betonte besonders das Wort _Verhör_.) »Ich bin gekommen, und wenn -Sie etwas wünschen, fragen Sie mich, sonst aber gestatten Sie mir, -wegzugehen. Ich habe keine Zeit, denn ich habe zu tun ... Ich muß zu der -Beerdigung eines Beamten, der überfahren worden ist und von dem ... Sie -auch ... schon wissen ...« fügte er hinzu, ärgerte sich aber sofort, daß -er das hinzugefügt hatte und wurde noch gereizter. »Ich bin des Ganzen -überdrüssig, hören Sie, und seit langem schon ... ich bin zum Teil auch -deshalb krank gewesen ... mit einem Worte,« schrie er fast, als er -fühlte, daß die Phrase über seine Krankheit sehr überflüssig war, »mit -einem Worte, -- belieben Sie mich entweder zu fragen oder zu entlassen, -und zwar sofort ... und wenn Sie mich fragen wollen, dann nicht anders, -als nach der gesetzlichen Form! Anders werde ich es nicht erlauben, und -darum sage ich Ihnen einstweilen, leben Sie wohl, da wir jetzt beide -nichts miteinander zu schaffen haben.« - -»Mein Gott! Ja, was ist mit Ihnen? Ja, worüber soll ich Sie denn -fragen,« sagte auf einmal Porphyri Petrowitsch aufgeregt, indem er -sofort den Ton und seine Miene änderte und aufhörte zu lachen, »bitte, -regen Sie sich doch nicht auf,« bemühte er sich um Raskolnikoff, bald -nötigte er ihn, seinen Platz wieder einzunehmen, bald lief er im Zimmer -umher, »es hat Zeit, es hat Zeit und alles sind doch bloß Kleinigkeiten! -Ich bin im Gegenteil so froh, daß Sie endlich zu mir gekommen sind ... -Ich empfange Sie als meinen Gast. Und dieses verfluchte Lachen bitte ich -Sie zu entschuldigen, Väterchen, Rodion Romanowitsch. -- Rodion -Romanowitsch, so ist doch Ihr Vatername, nicht wahr? ... Ich bin ein -nervöser Mensch. Sie haben mich durch Ihre witzige Bemerkung stark zum -Lachen gebracht; zuweilen schüttelt es mich wirklich, als wäre ich aus -Kautschuk, und das dauert manchmal eine halbe Stunde ... Ich neige zum -Lachen. Bei meiner Statur fürchte ich dadurch einmal einen Schlaganfall -zu bekommen. Ja, setzen Sie sich doch, warum stehn Sie? ... Bitte, -setzen Sie sich, Väterchen, sonst denke ich, daß Sie mir böse sind ...« - -Raskolnikoff schwieg, hörte zu und beobachtete ihn, noch immer zornig -und mit düsterem Gesichte. Er nahm Platz, legte aber die Mütze nicht aus -der Hand. - -»Ich will Ihnen, Väterchen Rodion Romanowitsch, von mir selbst etwas -sagen, um Ihnen meinen Charakter sozusagen zu erklären,« fuhr Porphyri -Petrowitsch fort, indem er im Zimmer hin und her eilte und wie vorhin -den Blick seines Gastes zu meiden schien. »Wissen Sie, ich bin ein alter -Junggeselle, ohne weltmännische Art und ohne Beziehungen, außerdem ein -abgetaner Mensch, der schon über die Reife hinaus und in Samen -geschossen ist ... Und Rodion Romanowitsch, haben Sie nicht auch schon -beobachtet, daß bei uns, das heißt bei uns in Rußland, und meistens in -unseren Petersburger Kreisen, wenn zwei kluge Menschen zusammenkommen, -die einander noch nicht gut kennen, aber sich sozusagen gegenseitig -achten, wie wir jetzt zusammengekommen sind, so können sie kaum vor -Ablauf einer halben Stunde ein Gesprächsthema finden, -- sie sitzen, -starren einander an und genieren sich. Alle haben einen Gesprächsstoff, -Damen zum Beispiel ... Leute aus der großen Welt zum Beispiel haben -immer ein Thema zur Unterhaltung, _c'est de rigueur_{[8]}. Die Leute -aber aus den mittleren Schichten, das heißt denkende Menschen, wie wir, --- sind alle verlegen und nicht gesprächig. Woher kommt das, Väterchen? -Haben wir keine gemeinsamen Interessen, oder sind wir zu ehrlich und -wollen einander nicht betrügen, ich weiß es nicht? Ah? Wie meinen Sie? -Legen Sie doch bitte die Mütze fort, es sieht so aus, als wollten Sie -gleich fortgehen, das ist wirklich peinlich ... Ich freue mich im -Gegenteil sehr, daß Sie hier sind ...« - -Raskolnikoff legte die Mütze weg, verhielt sich aber schweigend und -hörte ernst und mit düsterem Gesichte dem leeren und verworrenen -Geschwätz von Porphyri Petrowitsch zu. - -»Will er tatsächlich mit seinem dummen Geschwätz meine Aufmerksamkeit -ablenken?« dachte er. - -»Ich kann Ihnen leider keinen Kaffee anbieten, es geht hier nicht an; -doch warum soll man sich nicht fünf Minuten mit einem guten Bekannten -zerstreuen,« redete Porphyri Petrowitsch ohne Unterbrechung fort, »und -wissen Sie, alle diese dienstlichen Pflichten ... aber seien Sie bitte, -Väterchen, nicht böse, daß ich in einem fort auf und ab gehe; -entschuldigen Sie, Väterchen, ich fürchte sehr, Sie zu kränken, Bewegung -aber tut mir einfach nötig. Ich sitze die ganze Zeit und bin sehr froh, -so fünf Minuten herumgehen zu können ... Hämorrhoiden ... ich will mich -durch Gymnastik behandeln; man erzählt, daß Staatsräte, wirkliche -Staatsräte und sogar Geheimräte, sehr gern ab und zu über die Schnur -springen; ja, ja, die Wissenschaft in unserem Jahrhundert ... leistet -viel ... Und diese dienstlichen Pflichten, Verhöre und diese ganzen -Formalitäten ... Sie erwähnten, Väterchen, soeben etwas von Verhören ... -ja, wissen Sie, Väterchen Rodion Romanowitsch, diese Verhöre verwirren -zuweilen den Verhörer selbst mehr als den zu Verhörenden ... Das haben -Sie, Väterchen, sehr richtig und witzig soeben bemerkt« (Raskolnikoff -hatte gar keine derartige Bemerkung gemacht). -- »Man wird konfus! -Wirklich, man wird konfus, und immer hat man ein und dasselbe, immer ein -und dasselbe, es geht in einer Leier so fort! Die Reform ist im Anzuge, -wir werden wenigstens einen anderen Titel erhalten, he--he--he! Und was -unser Verfahren, über das Sie vorhin so gelungen sprachen, anbetrifft, -so bin ich ganz Ihrer Meinung. Aber, sagen Sie bitte, welcher -Angeklagte, und wäre es der dümmste Bauer, wüßte nicht, daß man zuerst -anfängt, ihn durch nebensächliche Fragen einzuschläfern, wie Sie -treffend bemerkten, um ihn dann plötzlich mit einem Schlage zu betäuben, -he--he--he! ihn zu betäuben, nach Ihrem glücklichen Ausdruck! -He--he--he! Also, Sie dachten tatsächlich, daß ich es bei Ihnen mit der -Dienstwohnung versuchen wollte ... he, he! Sie sind ein spöttischer -Mensch! Also, ich werde nicht mehr darüber reden! Ach ja, beiläufig, das -eine Wort zieht ja das andere nach, und ein Gedanke ruft den andern, -- -Sie haben vorhin auch die gesetzliche Form erwähnt, wissen Sie, in bezug -auf das Verhör ... Wozu denn eine gesetzliche Form? Die Form ist, wissen -Sie, in vielen Fällen ein Unsinn. Manchesmal ist es vorteilhafter, in -aller Freundschaft miteinander zu sprechen. Die Form läuft nie davon, -darin gestatte ich mir Sie zu beruhigen; ja, und was ist eigentlich die -Form, frage ich Sie? Die gesetzliche Form darf nicht bei jedem Schritt -den Untersuchungsrichter hemmen. Die Arbeit eines Untersuchungsrichters -ist doch sozusagen freie Kunst in ihrer Art, oder etwas Ähnliches ... -he! he!« - -Porphyri Petrowitsch machte für einen kurzen Augenblick eine Pause. Er -redete in einem fort, ohne zu ermüden, bald sinnloses und inhaltloses -Zeug, bald machte er plötzlich rätselhafte Anspielungen und verlor sich -von neuem in sinnloses Geschwätz. Er lief schon fast im Zimmer herum und -bewegte immer schneller und schneller seine dicken kurzen Beine; blickte -dabei die ganze Zeit zu Boden, hatte die rechte Hand auf dem Rücken und -machte mit der linken allerhand Bewegungen, die jedesmal nur wenig mit -seinen Worten übereinstimmten. Raskolnikoff bemerkte plötzlich, daß er -ein paarmal neben der Tür stehen blieb und zu lauschen schien ... - -»Wartet er etwa auf etwas?« dachte er. - -»Und Sie sind vollkommen im Rechte,« begann von neuem Porphyri -Petrowitsch und blickte heiter und mit ungewöhnlicher Treuherzigkeit -Raskolnikoff an, was jenen zu vermehrter Achtsamkeit veranlaßte. »Sie -haben tatsächlich recht, daß Sie über die Rechtsformen sich so lustig -machen, he--he! Diese tiefsinnigen psychologischen Kunstgriffe -- einige -natürlich nur -- sind äußerst lächerlich, ja und vielleicht nutzlos, -wenn sie durch die gesetzliche Form zu sehr beschränkt sind. Ja ... ich -komme wieder auf die gesetzliche Form zurück, -- also, wenn ich den -einen oder den anderen sozusagen für den Verbrecher halte, oder besser -gesagt, ihn im Verdacht habe, in irgendeiner mir übertragenen -Angelegenheit ... Sie bereiten sich doch vor, Jurist zu werden, Rodion -Romanowitsch?« - -»Ja, ich wollte es werden ...« - -»Nun, da möchte ich Ihnen sozusagen ein Beispiel für die Zukunft -anführen, -- das heißt, glauben Sie nicht, daß ich es wage, Sie zu -belehren, -- Sie lassen doch selber große Artikel über Verbrechen -drucken! Nein, ich will Ihnen nur, als eine Tatsache, ein Beispiel -erwähnen, -- also falls ich den einen oder den anderen für den -Verbrecher halten sollte, fragt es sich, soll ich ihn vor der Zeit -beunruhigen, wenn ich auch Beweise gegen ihn habe? Den einen muß ich zum -Beispiel schneller verhaften, ein anderer aber hat einen ganz anderen -Charakter, wirklich, -- warum soll man ihm denn nicht gestatten, in der -Stadt herumzuspazieren -- he--he--he! Nein, ich sehe, daß Sie nicht ganz -verstehn, ich will es Ihnen deutlicher erklären, -- wenn ich ihn zum -Beispiel zu früh einsperre, so gebe ich ihm vielleicht dadurch eine -moralische Stütze, sozusagen, he--he! Sie lachen?« (Raskolnikoff dachte -gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Zähnen und -wandte seinen glühenden Blick von den Augen Porphyri Petrowitschs nicht -ab.) »Das kann bei dem einen Subjekt genau das richtige sein, denn die -Menschen sind verschieden, und da muß vor allem die Praxis entscheiden. -Sie werden jetzt einwenden -- und die Beweise! Ja, nehmen wir an, es -sind Beweise da, aber Beweise haben doch meistenteils, Väterchen, zwei -Seiten, und ich bin doch Untersuchungsrichter, also auch nur ein -schwacher Mensch, und ich gestehe, daß ich die Untersuchung sozusagen -mathematisch klarstellen möchte, und solch einen Beweis zu erbringen -wünsche, daß es so klar wäre, wie zweimal zwei vier ist! Daß es einer -klaren unbestreitbaren Tatsache gleiche! Wenn ich ihn aber vor der Zeit -einsperre, -- und wäre ich fest überzeugt, daß er es ist, -- so kann ich -mich selbst vielleicht der Mittel berauben, ihn weiter zu überführen, -und warum? Weil ich ihm sozusagen eine bestimmte Lage gebe, ihn -sozusagen psychologisch bestimme und festlege, und da wird er sich vor -mir in seine Schale verkriechen, -- er wird endlich begreifen, daß er -Gefangener ist. Man erzählt sich, daß kluge Leute in Sebastopol sofort -nach der Schlacht bei Alma schreckliche Angst hatten, daß der Feind -gleich darauf einen offenen Sturm auf Sebastopol machen und die Stadt -einnehmen würde; als sie aber sahen, daß der Feind eine regelrechte -Belagerung vorzog und die erste Parallele zog, da haben sich die klugen -Leute ordentlich gefreut und sich beruhigt, -- die Sache zieht sich -wenigstens noch zwei Monate hin, denn es dauert ein Endchen, ehe sie -durch eine regelrechte Belagerung die Stadt einnehmen können. Sie lachen -wieder, Sie glauben wieder nicht? Sie sind selbstverständlich auch im -Recht. Sie sind im Recht, Sie sind im Recht! Ich bin mit Ihnen -einverstanden, es sind alles Einzelfälle; der angeführte Fall steht -tatsächlich vereinzelt da! Aber sehen Sie, lieber Rodion Romanowitsch, -man muß dabei folgendes nicht außer acht lassen, -- es gibt doch keinen -allgemeinen Fall, einen solchen, auf den alle rechtlichen Formen und -Regeln passen, nach dem sie berechnet und in Bücher eingetragen sind, -aus dem bloßen Grunde, weil jede Tat, jedes Verbrechen, zum Beispiel -sofort, kaum daß es in Wirklichkeit geschehen ist, sich in einen -vollkommenen Einzelfall verwandelt und zuweilen in einen solchen, der -einem früheren ganz und gar nicht ähnlich ist. Zuweilen passieren in -dieser Hinsicht ganz komische Sachen. Wenn ich nun einen Herrn ganz -allein lasse, ihn nicht festnehme und nicht beunruhige, aber er soll -jede Stunde und jeden Augenblick wissen oder wenigstens ahnen, daß ich -alles weiß, sein ganzes Geheimnis, Tag und Nacht ihn beobachten lasse, -über ihn rastlos wache, und wenn er sich bewußt unter ewigem Verdachte -und in ewiger Angst fühlt, -- bei Gott, da wird er nicht aus und ein -wissen, er wird tatsächlich selbst kommen und wird vielleicht noch etwas -tun, was dem Zweimalzwei bestimmt ähnlich sein wird, was sozusagen wie -ein mathematisches Exempel aussieht, -- und das ist sehr angenehm. Das -kann auch mit einem plumpen Bauern geschehen, aber um so mehr mit -unsereinem, einem modern gebildeten und nach einer bestimmten Richtung -entwickelten Menschen! Denn, mein Lieber, es ist sehr wichtig zu wissen, -in welcher Richtung ein Mensch entwickelt ist. Und die Nerven, die -Nerven, die haben Sie ganz vergessen! Die sind doch heutzutage krank, -schlecht und gereizt! ... Und die Galle, -- wieviel Galle sie alle -haben! Das ist ja, will ich Ihnen nur sagen, in manchen Fällen eine -Fundgrube in ihrer Art! Und warum soll ich beunruhigt sein, daß er -ungefesselt in der Stadt herumgeht? Mag er, mag er vorläufig spazieren -gehen; ich weiß auch ohnedem, daß er mein Opfer ist und niemals von mir -fortläuft! Ja, und wohin soll er auch fliehen, he--he! Ins Ausland etwa? -Ein Pole wird ins Ausland fliehen, aber nicht er, um so mehr, da ich ihn -beobachte und Maßregeln ergriffen habe. Soll er ins Innere des -Vaterlandes etwa fliehen? Dort leben aber Bauern, echte, ungewaschene -Russen; da wird ein modern entwickelter Mensch eher das Gefängnis -vorziehen, als mit solchen Ausländern, wie es unsere Bauern sind, leben, -he--he--he! Aber das ist Unsinn, sind reine Äußerlichkeiten. Was heißt, --- er wird fliehen! Das ist formell gemeint, es ist nicht die -Hauptsache; er wird mir nicht entfliehen, nicht, weil er nirgends -hinfliehen könnte, -- er wird mir _psychologisch_ nicht entfliehen, -he--he! Was sagen Sie zu dem Ausdruck? Er wird dem Naturgesetze nach mir -nicht entfliehen, wenn er auch irgendwohin fliehen könnte. Haben Sie -einen Schmetterling vor einem Lichte gesehen? Nun, er wird auch so die -ganze Zeit um mich, wie um ein Licht, herumflattern; die Freiheit wird -ihm unlieb werden, er wird nachdenklich werden, sich verwirren, sich -selbst wie in ein Netz verwickeln und sich zu Tode zappeln! ... Nicht -das allein, -- er wird mir selbst irgendein mathematisches Exempel, wie -Zweimalzwei, bringen, -- wenn ich ihm bloß genügend Zeit dazu lasse ... -Und er wird die ganze Zeit, wird die ganze Zeit mich umkreisen und immer -kleinere und kleinere Kreise ziehen und -- bardautz! Er wird mir direkt -in den Mund fliegen und ich werde ihn verschlucken, und das ist aber -sehr angenehm, he--he--he! Sie glauben nicht?« - -Raskolnikoff antwortete nicht, er saß bleich und unbeweglich und sah die -ganze Zeit Porphyri Petrowitsch starr ins Gesicht. - -»Die Lehre ist gut!« dachte er erschauernd. »Das ist nicht mehr ein -Spiel, wie die Katze mit der Maus, wie es gestern der Fall war. Und er -zeigt mir doch nicht nutzlos seine Macht und ... souffliert mir; er ist -dazu zu klug ... Er verfolgt einen anderen Zweck, aber was für einen? -He, es ist Unsinn, Bruder, du willst mir nur Furcht einjagen und spielst -den Schlauen! Du hast keine Beweise und der Mann von gestern existiert -gar nicht! Du willst mich bloß verwirren, vorzeitig reizen und in diesem -Zustande auf mich losschlagen, aber nein, du schlägst vorbei! Aber -warum, warum souffliert er mir in dieser Weise? ... Rechnet er etwa mit -meinen kranken Nerven! ... Nein, Bruder, das wird dir nicht gelingen, -obwohl du etwas vorbereitet hast ... Nun, wollen wir mal sehen, was du -da vorbereitet hast.« - -Und er nahm alle Kräfte zusammen, um sich auf eine furchtbare und -unbekannte Katastrophe gefaßt zu machen. Zuweilen fühlte er einen -heftigen Drang, sich auf Porphyri Petrowitsch zu stürzen und ihn auf der -Stelle zu erwürgen. Als er hereintrat, fürchtete er sich vor dieser Wut. -Er fühlte, daß seine Lippen trocken waren, sein Herz klopfte und daß der -Schaum vor dem Munde eingetrocknet war. Er beschloß trotzdem zu -schweigen. Er begriff, daß das die beste Taktik in seiner Situation sei, -weil er nicht bloß keine Gelegenheit hatte, sich zu versprechen, sondern -im Gegenteil durch sein Schweigen den Gegner reizen konnte, und jener -vielleicht noch sich selbst verraten würde. Er hoffte wenigstens darauf. - -»Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sie meinen, daß ich Ihnen -unschuldige Späße erzähle,« sagte Porphyri Petrowitsch, indem er -lustiger wurde, vor Vergnügen ununterbrochen kicherte und wieder im -Zimmer herumwanderte. »Sie haben selbstverständlich ein Recht dazu. Gott -hat mir so eine Gestalt verliehen, daß sie nur lächerliche Gedanken bei -anderen erregt; bin der Possenreißer, aber ich will nur eins sagen und -wiederhole noch einmal, entschuldigen Sie mich alten Mann, Väterchen -Rodion Romanowitsch, -- Sie sind noch ein junger Mann, sozusagen in der -Jugendblüte, und schätzen darum am höchsten, wie überhaupt die Jugend, -den menschlichen Verstand. Schärfe des Verstandes und abstrakte -Vernunftschlüsse ziehen Sie an. Das ist genau, wie mit dem früheren -österreichischen Hofkriegsrat, soweit ich über Kriegsereignisse urteilen -kann, -- auf dem Papier hatten sie Napoleon geschlagen und gefangen -genommen, haben in ihrem Arbeitszimmer alles in der scharfsinnigsten -Weise ermessen und berechnet, und zuguterletzt ergibt sich General Mack -mit seiner ganzen Armee, he--he--he! Ich sehe, ich sehe, Väterchen -Rodion Romanowitsch, Sie lachen über mich, daß so ein Zivilist, wie ich, -Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführt. Ja, was soll ich tun, ich -habe einmal diese Schwäche, liebe alles Militärische und lese sehr gern -alle diese Kriegsrelationen ... ich habe entschieden in der Wahl meines -Berufes gefehlt. Ich sollte als Militär dienen, gewiß, zum Napoleon -hätte ich es nicht gebracht, höchstens bis zum Major, he--he--he! Nun, -ich will Ihnen jetzt die volle Wahrheit in bezug auf _den Einzelfall_ -sagen, mein Lieber. Wirklichkeit und Natur, mein Herr, sind wichtige -Dinge und machen zuweilen die allerglänzendste Berechnung zuschanden! -He, hören Sie auf mich, einen alten Mann, ich spreche im Ernst. Rodion -Romanowitsch,« -- (indem er dies sagte, schien der kaum -fünfunddreißigjährige Porphyri Petrowitsch tatsächlich gealtert zu sein, --- sogar seine Stimme hatte sich verändert und sie schien wie verfallen) --- »und außerdem bin ich aufrichtig ... Bin ich nicht aufrichtig? Was -meinen Sie? Mir scheint, ich bin es im vollen Maße, -- teile Ihnen -solche Dinge umsonst mit, und verlange dafür gar keine Belohnung, -he--he--he! Nun, also, ich fahre fort, -- Scharfsinn ist meiner Meinung -nach ein prächtiges Ding; er ist sozusagen eine Zierde der Natur und ein -Trost des Lebens, und kann solche Kunststücke produzieren, daß zuweilen -ein armer Untersuchungsrichter beim besten Willen sie nicht erraten -kann, der zudem von seiner eigenen Phantasie geleitet wird, wie es oft -genug vorkommt, denn er ist auch nur ein Mensch! Aber die Natur hilft -dem armen Untersuchungsrichter, das ist das Unglück! Daran aber denkt -die von ihrem Scharfsinn hingerissene Jugend nicht, >die über alle -Hindernisse hinwegschreitet<, -- wie Sie sich scharfsinnig und trefflich -auszudrücken beliebten. Er wird -- nehmen wir es an -- lügen, das heißt, -der Mensch, _der Einzelfall_, der Inkognito, und wird ausgezeichnet und -in der schlauesten Weise lügen; nun müßte er, sollte man meinen, -triumphieren und die Früchte seines Scharfsinnes genießen, aber es kommt -ein Krach, -- bei der interessantesten, skandalösesten Stelle fällt er -in Ohnmacht. Angenommen, es kann von Krankheit und zuweilen von der -dumpfen Luft in einem Zimmer kommen, aber trotzdem! Trotzdem ist der -Gedanke gegeben! Er hat unvergleichlich gelogen, hat aber nicht -verstanden, mit der Natur zu rechnen. Darin aber lag die Tücke! Ein -anderes Mal läßt er sich von der Lebhaftigkeit seines Scharfsinnes -hinreißen, beginnt einen Menschen, der ihn im Verdacht hat, zum Narren -zu halten, erbleicht, wie absichtlich, wie im Scherze, aber erbleicht -_schon zu natürlich_, so daß es zu sehr wirklichem Erbleichen gleicht, -und wieder ist der Gedanke gegeben! Wenn ihm auch der Betrug zum ersten -Male gelingt, aber über Nacht denkt jener nach und überlegt es sich -anders, wenn er nicht dumm ist. Und so geschieht es auf Schritt und -Tritt! Das ist noch nichts, -- er beginnt sich selbst vorzudrängen, -beginnt sich hineinzumischen, wo man ihn nicht fragt, spricht in einem -fort über Dinge, über die er im Gegenteil schweigen müßte, läßt -allerhand Allegorien vom Stapel, he--he!, kommt selbst und fragt, warum -man ihn so lange nicht festnimmt, he--he--he! und das kann auch mit dem -scharfsinnigsten Menschen, mit einem Psychologen und Literaten, -passieren! Die Natur ist ein Spiegel, der durchsichtigste Spiegel! Sieh -hinein und betrachte dich, ja so ist es! Ja, warum sind Sie so blaß -geworden, Rodion Romanowitsch, ist es für Sie hier zu dumpf, soll ich -nicht das Fenster aufmachen?« - -»Oh, bemühen Sie sich, bitte, nicht,« -- rief Raskolnikoff aus und -lachte plötzlich laut, -- »bitte, bemühen Sie sich nicht.« - -Porphyri Petrowitsch blieb vor ihm stehen, wartete eine Weile und -stimmte dann in das Lachen ein. Raskolnikoff erhob sich vom Diwan und -brach plötzlich seinen Lachanfall ab. - -»Porphyri Petrowitsch!« -- sagte er laut und deutlich, obwohl er kaum -auf den zitternden Füßen stehen konnte, -- »ich sehe endlich klar, daß -Sie mich positiv im Verdacht haben, diese Alte und ihre Schwester -Lisaweta ermordet zu haben. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß ich all -dessen längst überdrüssig bin. Wenn Sie finden, daß Sie ein Recht haben, -mich gesetzlich zu verfolgen, so verfolgen Sie mich, zu arretieren, so -arretieren Sie mich. Aber ich erlaube nicht, daß man mir ins Gesicht -lacht und mich quält ...« - -Seine Lippen zitterten plötzlich, die Augen loderten vor Wut und die bis -jetzt gemäßigte Stimme schwoll an. »Ich erlaube es nicht!« rief er -plötzlich und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch, -- -»hören Sie, Porphyri Petrowitsch? Ich erlaube es nicht!« - -»Ach, mein Gott, was ist Ihnen!« rief Porphyri Petrowitsch, offenbar -völlig erschreckt; -- »Väterchen! Rodion Romanowitsch! Lieber! Was ist -mit Ihnen?« - -»Ich erlaube es nicht!« -- rief Raskolnikoff noch einmal. - -»Leise, Väterchen! Man könnte es hören und herkommen! Und, was wollen -wir ihnen dann sagen, bedenken Sie!« -- flüsterte Porphyri Petrowitsch -entsetzt und näherte sein Gesicht dem Raskolnikoffs. - -»Ich erlaube es nicht, ich erlaube es nicht!« -- wiederholte -Raskolnikoff mechanisch, aber plötzlich ganz leise. - -Porphyri Petrowitsch wandte sich schnell um und lief, um das Fenster zu -öffnen. - -»Frische Luft hereinlassen! und etwas Wasser müssen Sie trinken, mein -Lieber, es ist ja ein Anfall!« -- und er wollte zur Türe stürzen, um -nach Wasser zu schicken, fand jedoch hier selbst in einer Ecke eine -volle Karaffe. - -»Da, Väterchen, trinken Sie,« -- flüsterte er, mit der Karaffe zu ihm -eilend, -- »vielleicht hilft es ...« - -Die Angst und selbst die Teilnahme von Porphyri Petrowitsch waren so -natürlich, daß Raskolnikoff verstummte und mit Neugier ihn betrachtete. -Das Wasser nahm er nicht an. - -»Rodion Romanowitsch! Lieber! Ja, in dieser Weise werden Sie noch den -Verstand verlieren, ich versichere Sie! Ach! Trinken Sie! Trinken Sie -wenigstens etwas!« - -Er zwang ihn doch, das Glas Wasser in die Hand zu nehmen. Raskolnikoff -führte es mechanisch an die Lippen, besann sich aber und stellte es mit -Widerwillen auf den Tisch. - -»Ja, Sie haben einen kleinen Anfall gehabt! In dieser Weise werden Sie, -mein Lieber, wieder, wie früher schon, krank,« -- begann mit -freundschaftlicher Teilnahme Porphyri Petrowitsch, und anscheinend noch -fassungslos. -- »Mein Gott! Ja, wie kann man sich so wenig schonen? -Gestern war Dmitri Prokofjitsch bei mir gewesen, -- ich gebe zu, ich -habe einen schlimmen, böswilligen Charakter, -- aber was sie alles für -Schlüsse daraus ziehen ... Mein Gott! Er kam gestern zu mir, als Sie -fortgegangen waren, wir saßen beim Mittagessen, er redete und redete, -ich staunte bloß ... kam er etwa in Ihrem Auftrage? Ja, so setzen Sie -sich doch, Väterchen, nehmen Sie Platz um Christi willen!« - -»Nein, er kam nicht in meinem Auftrage! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen -gehen und warum er zu Ihnen gehen würde,« -- antwortete Raskolnikoff -scharf. - -»Sie wußten es?« - -»Ich wußte es. Nun, was ist denn dabei?« - -»Ja, Väterchen, Rodion Romanowitsch, ich weiß noch ganz andere Dinge von -Ihnen; ich weiß alles! Ich weiß auch, wie Sie, als es dunkelte, in der -Nacht _eine Wohnung zu mieten_ gingen, an der Glocke klingelten, und -nach dem Blut fragten, und die Arbeiter und die Hausknechte verwirrt -machten. Ich verstehe auch Ihre damalige Seelenstimmung ... aber Sie -werden sich in dieser Weise um den Verstand bringen, bei Gott! Werden -zugrundegehen! Eine starke, edle Entrüstung kocht in Ihnen gegen die -empfangenen Kränkungen, zuerst vom Schicksal, dann von den -Polizeibeamten, darum stürzen Sie auch hierhin und dorthin, um sozusagen -schneller alle zum Sprechen zu bringen, und um allem mit einem Male ein -Ende zu machen, denn dieser Unsinn und dieser ganze Verdacht ist Ihnen -zum Überdruß. Ist es nicht so? Habe ich die Stimmung erraten? ... Und in -dieser Weise werden Sie nicht allein zugrunde gehen, sondern ziehen auch -unseren Rasumichin hinein, er ist doch dafür ein _zu guter_ Mensch, Sie -wissen es ja selbst. Bei Ihnen ist es eine Krankheit, bei ihm Tugend ... -die Krankheit könnte auch ihn anstecken ... Ich will Ihnen, Väterchen, -wenn Sie sich beruhigt haben, etwas erzählen ... aber setzen Sie sich -doch um Christi willen, Väterchen! Bitte, ruhen Sie sich aus, Sie sehen -blaß aus, ja, setzen Sie sich doch!« Raskolnikoff setzte sich hin, das -Zittern ging vorüber, und sein ganzer Körper begann zu glühen. Mit -tiefem Erstaunen und aufmerksam hörte er dem erschrockenen und -freundschaftlich um ihn bemühten Porphyri Petrowitsch zu. Aber er -glaubte keinem einzigen seiner Worte, obwohl er eine seltsame Neigung -empfand zu glauben. Die unerwarteten Worte Porphyri Petrowitsch' über -die Wohnung hatten ihn äußerst bestürzt. -- »Wie, er weiß also von der -Wohnung?« -- dachte er plötzlich, -- »und erzählt es mir selbst!« - -»Ja, in unserer Gerichtspraxis gab es einmal einen fast ähnlichen Fall, -auch einen psychopathischen, krankhaften Fall,« -- fuhr Porphyri -Petrowitsch schnell fort, -- »da hat auch einer einen Mord sich -zugedichtet und wie, -- eine ganze Halluzination führte er an, brachte -Tatsachen, erzählte einzelne Umstände, verwirrte alle und machte jeden -konfus, und aus welchem Grunde? Er selbst war völlig ohne Absicht und -Wissen mit die Ursache an dem Morde, und als er erfuhr, daß er den -Mördern Veranlassung zu ihrer Tat gegeben hatte, wurde er schwermütig -und tiefsinnig, hatte Erscheinungen, verlor ganz den Verstand und -bildete sich ein, daß er selbst der Mörder sei! Aber der Senat klärte -schließlich die Sache auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und -in Pflege gegeben. Dank dem Senate! Ach, ja, ja! Ja, wie soll es mit -Ihnen enden, Väterchen? In dieser Weise kann man leicht an Nervenfieber -erkranken, wenn man solche Anwandlungen hat, seine Nerven zu reizen, -nachts die Klingel zu ziehen und nach Blut zu fragen! Ich habe diese -ganze Psychologie in der Praxis studiert. In dieser Weise packt es einen -Menschen zuweilen, aus dem Fenster oder von einem Turme zu springen, und -es ist eine verführerische Empfindung. Ebenso ist es auch mit dem -Klingelziehen ... Es ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, Sie sind -krank! Sie vernachlässigen Ihre Krankheit zu sehr. Sie sollten zu einem -erfahrenen Arzt hingehen, der Dicke kann Ihnen doch nicht viel nützen! -... Sie haben Fieberwahn! Sie tun alles nur im Fieberwahne! ...« - -Auf einen Augenblick drehte sich alles vor Raskolnikoffs Augen. - -»Ist es möglich,« -- schwirrte es in seinem Kopfe, -- »ist es möglich, -daß er auch jetzt lügt? Es ist undenkbar, unmöglich!« -- er stieß diesen -Gedanken von sich, da er fühlte, in welchen Grad von Zorn und Raserei -ihn derselbe bringen müßte, und daß er vor Wut den Verstand verlieren -könne. - -»Das war nicht im Fieberwahn, das war im wachen Zustande!« -- rief er -aus und spannte alle Kräfte seines Verstandes an, um das Spiel Porphyri -Petrowitsch' zu durchschauen. -- »Im wachen Zustande, bei vollem -Verstande! Hören Sie?« - -»Ja, ich verstehe und höre es! Sie sagten auch gestern, daß es nicht im -Fieberwahne war, Sie betonten sogar, daß es nicht im Fieberwahne war! -Ich begreife alles, was Sie sagen! Ach! ... Hören Sie doch, Rodion -Romanowitsch, mein lieber Mensch, ziehen Sie doch diesen Umstand in -Erwägung. Wenn Sie tatsächlich in dieser verfluchten Sache schuldig oder -irgendwie darin verwickelt wären, würden Sie dann -- ich bitte Sie -- -selbst betonen, daß Sie dies alles nicht im Fieberwahne, sondern im -Gegenteil bei vollem Verstande getan haben? Und es ganz besonders -betonen, mit einer besonderen Hartnäckigkeit es betonen, -- wäre es denn -möglich, wäre es denkbar, ich bitte Sie? Meiner Meinung nach würden Sie -das Gegenteil behaupten. Wenn Sie kein reines Gewissen hätten, so müßten -Sie unbedingt betonen, -- daß Sie es unbedingt im Fieberwahne getan -haben! Ist es nicht so? Meine Annahme ist doch richtig?« - -Etwas Heimtückisches klang in dieser Frage. Raskolnikoff wich vor -Porphyri Petrowitsch zurück, der sich zu ihm gebeugt hatte, und -betrachtete ihn schweigend, starr und voller Zweifel. - -»Oder nehmen wir den Fall mit Rasumichin, das heißt, ob er gestern aus -freien Stücken kam zu sprechen, oder ob Sie ihn dazu gebracht haben? Ja, -Sie müßten unbedingt gesagt haben, daß er aus eigenem Antriebe gekommen -war, und verheimlichen, daß er es in Ihrem Auftrage getan hat! Sie aber -verheimlichen es nicht! Sie betonen gerade, daß er in Ihrem Auftrage -hier gewesen war!« - -Raskolnikoff hatte es niemals betont. Ein Schauer durchzog seinen -Rücken. - -»Sie lügen wieder,« -- sagte er langsam und schwach, und seine Lippen -verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln, -- »Sie wollen mir wieder -zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel kennen und alle meine Antworten im -voraus wissen,« -- sagte er und fühlte selbst nicht, daß er seine Worte -nicht mehr genügend erwog, -- »Sie wollen mir Furcht einjagen ... oder -Sie lachen einfach über mich ...« - -Er fuhr fort, ihn starr anzusehen, als er dies sagte, und wieder -leuchtete eine grenzenlose Wut in seinen Augen auf. - -»Sie lügen alles!« -- rief er aus. -- »Sie wissen selbst ausgezeichnet, -daß der beste Ausweg für einen Verbrecher ist, nach Möglichkeit nichts -zu verheimlichen, was man nicht verheimlichen kann. Ich glaube Ihnen -nicht!« - -»Wie spitzfindig Sie sind!« -- kicherte Porphyri Petrowitsch, -- »man -wird mit Ihnen, Väterchen, nicht fertig; eine Art Monomanie steckt tief -in Ihnen. Also, Sie glauben mir nicht? Ich sage Ihnen aber, daß Sie mir -schon glauben, daß Sie mir schon zu einem Viertel glauben, und ich will -mein Möglichstes tun, daß Sie mir noch ganz und gar glauben werden, denn -ich habe Sie wirklich gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.« - -Raskolnikoffs Lippen bebten. - -»Ja, ich wünsche Ihnen Gutes, sage ich Ihnen noch einmal,« -- fuhr er -fort, und faßte Raskolnikoff leicht und freundschaftlich am Arm, ein -wenig über dem Ellbogen, -- »ich will es Ihnen auch noch einmal sagen, --- achten Sie auf Ihre Krankheit. Außerdem sind auch Ihre allernächsten -Verwandten jetzt angekommen; denken Sie auch an die. Sie sollen sie -pflegen und hüten, und Sie erschrecken sie bloß ...« - -»Was geht das Sie an? Woher wissen Sie es? Warum interessieren Sie sich -in dieser Weise für mich? Also, Sie beobachten mich und wollen es mir -zeigen?« - -»Väterchen! Ich habe es doch von Ihnen, von Ihnen selbst erfahren! Sie -merken nicht mal, daß Sie in Ihrer Erregung mir selbst alles und anderen -auch erzählen. Auch von Dmitri Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern -viele interessante Details erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen, -ich sage aber, daß Sie durch Ihren Argwohn, trotz Ihres ganzen -Scharfsinnes, den gesunden Blick für die Dinge verlieren. Nun, nehmen -wir, zum Beispiel, wieder das Klingelziehen, -- solch eine Krankheit, -diese Tatsache, -- es ist doch eine ganze Tatsache, -- liefere ich Ihnen -ohne weiteres aus, ich, der Untersuchungsrichter! Und Sie sehen darin -gar nichts? Nun, sagen Sie, wenn ich nur einen kleinen Verdacht auf Sie -hätte, würde ich so handeln können? Ich müßte im Gegenteil Ihren Argwohn -zuerst einschläfern und nicht mal zeigen, daß ich diese Tatsache schon -kenne, ich müßte Sie in entgegengesetzter Richtung ablenken, um Sie -plötzlich, wie mit einem Schlage auf den Kopf, mit der Frage zu -betäuben, -- >was suchten Sie -- würde ich fragen, -- um zehn Uhr -abends, oder es kann auch elf Uhr gewesen sein, in der Wohnung der -Ermordeten? Warum haben Sie an der Klingel gezogen? Und warum fragten -Sie nach dem Blute? Warum machten Sie die Hausknechte konfus und -forderten sie auf, auf das Polizeibureau, zum Revieraufseher, -mitzugehen?< Sehen Sie, in dieser Weise müßte ich handeln, wenn ich den -winzigsten Verdacht gegen Sie hätte. Ich müßte Sie in aller Form -verhören, eine Haussuchung bei Ihnen vornehmen und Sie möglicherweise -auch arretieren ... Also kann ich doch keinen Verdacht gegen Sie hegen, -wenn ich anders gehandelt habe! Sie haben aber den gesunden Blick -verloren und sehen gar nichts, wiederhole ich!« - -Raskolnikoff zuckte zusammen, so daß Porphyri Petrowitsch es zu deutlich -bemerkte. - -»Sie lügen alles!« -- rief er aus, -- »ich kenne Ihre Absichten nicht, -aber Sie lügen ... Vorhin haben Sie nicht in diesem Sinne gesprochen und -ich kann mich nicht irren ... Sie lügen!« - -»Ich lüge?« -- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch, sich scheinbar -ereifernd, behielt jedoch das lustigste und spöttischste Aussehen bei, -als kümmerte es ihn wenig, welch eine Meinung Herr Raskolnikoff über ihn -habe. -- »Ich lüge? ... Und wie habe ich vorhin Ihnen gegenüber -gehandelt, ich, der Untersuchungsrichter? Ich habe Ihnen selbst alle -Mittel zur Verteidigung genannt und ausgeliefert, habe selbst Ihnen die -ganze Psychologie erklärt, habe Krankheit, Fieberwahn, Kränkungen, -Melancholie und Polizeibeamte und dergleichen mehr erwähnt! Ah! -He--he--he! Obwohl -- nebenbei gesagt, -- alle diese psychologischen -Mittel zur Verteidigung, Ausflüchte und Ausreden äußerst unstichhaltig -sind und zwei Seiten haben. >Ich war krank, hatte Fieberträume, war im -Wahne, erinnere mich nicht<, -- alle diese Ausreden sind ja richtig, -aber es fragt sich, Väterchen, warum in der Krankheit und im Fieberwahne -immer solche Vorstellungen auftauchen und nicht andere? Es können einem -doch auch andere Vorstellungen erscheinen? Ist es nicht so? He--he--he!« - -Raskolnikoff blickte ihn stolz und voll Verachtung an. - -»Mit einem Worte,« -- sagte er laut und eindringlich, indem er aufstand -und dabei Porphyri Petrowitsch ein wenig zur Seite stieß -- »mit einem -Worte, ich will endgültig wissen, ob Sie mich frei von jedem Verdacht -finden oder _nicht_? Sagen Sie es, Porphyri Petrowitsch, sagen Sie es -mir positiv, endgültig, und schnell, sofort!« - -»Das ist eine Geschichte! Ist das eine Plage mit Ihnen,« -- rief -Porphyri Petrowitsch mit vollkommen lustiger, schlauer und gar nicht -bewegter Miene, -- »ja, wozu wollen Sie es wissen, wozu wollen Sie so -vieles wissen, wenn man noch nicht einmal begonnen hat, Sie in -irgendeiner Weise zu belästigen? Sie sind wie ein Kind, dem man Feuer in -die Hand geben soll! Warum beuunruhigen Sie sich in dieser Weise? Warum -drängen Sie sich uns auf, aus welchen Gründen? Ah? He--he--he!« - -»Ich wiederhole Ihnen,« -- rief Raskolnikoff in blinder Wut, -- »daß ich -es länger nicht ertragen kann ...« - -»Was denn? Die Ungewißheit?« -- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch. - -»Höhnen Sie nicht! Ich will es nicht haben! Ich sage Ihnen, ich will es -nicht! ... Ich kann und will es nicht! ... Hören Sie! Hören Sie!« -- -rief er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch. - -»Stiller, leiser! Man könnte es hören! Ich warne Sie in allem Ernst, -- -schonen Sie sich. Ich scherze nicht!« -- sagte Porphyri Petrowitsch im -Flüstertone, aber diesmal lag in seinem Gesichte nicht mehr der frühere -weibisch gutmütige und erschrockene Ausdruck; im Gegenteil, er _befahl_ -es streng, mit zusammengezogenen Augenbrauen und ließ alle -Geheimnistuerei und Zweideutigkeit fallen. Das dauerte jedoch nur einen -kurzen Augenblick. Der bestürzte Raskolnikoff geriet in die höchste Wut, -und doch, merkwürdig, -- wie hypnotisiert gehorchte er wieder dem -Befehle, leiser zu sprechen. - -»Ich lasse mich nicht quälen!« -- flüsterte er, wie vorhin, indem er -sofort voll Schmerz und Haß einsah, daß er dem Befehle gehorchen mußte, -und geriet bei diesem Gedanken in immer größere Wut, -- »arretieren Sie -mich, lassen Sie bei mir Haussuchung halten, aber handeln Sie nach -gesetzlicher Form und spielen Sie nicht mit mir! Wagen Sie es nicht ...« - -»So regen Sie sich doch nicht wieder wegen der gesetzlichen Form auf,« --- unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch mit dem früheren schlauen Lächeln -und betrachtete scheinbar Raskolnikoff mit Vergnügen, -- »Väterchen, ich -habe Sie doch in aller Gemütlichkeit, in aller Freundschaft eingeladen!« - -»Ich will nicht Ihre Freundschaft, ich pfeife darauf! Hören Sie? Und -jetzt nehme ich meine Mütze und gehe fort. Nun, was willst du jetzt -sagen, wenn du mich arretieren willst?« - -Er nahm seine Mütze und ging zu der Türe. - -»Wollen Sie nicht noch die Überraschung sehen, die ich für Sie habe?« -kicherte Porphyri Petrowitsch, faßte ihn wieder am Arme und hielt ihn an -der Türe zurück. Er wurde sichtlich wieder lustiger und lebhafter, was -Raskolnikoff ganz außer sich brachte. - -»Was für eine Überraschung? Was ist es?« -- fragte er, stehen bleibend -und Porphyri Petrowitsch erschreckt anblickend. - -»Die Überraschung sitzt hier hinter der Türe, he--he--he!« -- er zeigte -mit dem Finger auf die verschlossene Tür in der Scheidewand, die in -seine Amtswohnung führte. -- »Ich habe sie dort eingeschlossen, damit -sie nicht fortläuft.« - -»Was sagen Sie? Wo? Was? ...« -- Raskolnikoff trat an die Türe und -wollte sie öffnen, jedoch sie war verschlossen. - -»Sie ist verschlossen, den Schlüssel habe ich!« - -Und er zog aus seiner Tasche einen Schlüssel hervor und zeigte ihn ihm. - -»Du lügst!« -- schrie Raskolnikoff, ohne sich noch einen weiteren Zwang -aufzuerlegen,-- »du lügst, verfluchter Hanswurst!« Er stürzte sich auf -Porphyri Petrowitsch, der sich zwar zur Türe zurückgezogen hatte, aber -keineswegs aus Furcht. - -»Ich merke alle deine Absichten, alle! -- Du lügst und neckst mich, -damit ich mich verraten soll.« - -»Ja, mehr kann man sich doch nicht verraten, als Sie es tun, Väterchen -Rodion Romanowitsch. -- Sie haben ja einen Anfall von Tobsucht. Schreien -Sie nicht so, ich rufe sonst nach Hilfe.« - -»Du lügst, nichts wird geschehen! Rufe deine Leute! Du weißt, daß ich -krank bin und willst mich wütend machen, damit ich mich verraten soll, -das ist deine Absicht! Nein, zeige mir Tatsachen! Ich habe alles -begriffen! Ich weiß, du hast keine Tatsachen, du hast bloß elende, -nichtige Vermutungen von Sametoff! ... Du kanntest meinen Charakter, -wolltest mich in rasende Wut bringen, und dann mich plötzlich mit -Priestern und Delegierten überrumpeln ... Du wartest auf sie? Ah! Was -wartest du? Wo? komm doch mit ihnen!« - -»Was für Delegierte sollte ich haben, Väterchen? Was dem Menschen nicht -alles einfällt! In dieser Weise kann man doch gar nicht nach der -gesetzlichen Form handeln, wie Sie meinen, Sie kennen diesen -gesetzlichen Weg überhaupt nicht, mein Lieber ... Die gesetzliche Form -läuft nicht davon, Sie werden es noch selbst sehen ... --« murmelte -Porphyri Petrowitsch und lauschte an der Türe. - -In diesem Augenblicke hörte man wirklich im anderen Zimmer in der Nähe -der Türe einen Lärm. - -»Ah, sie kommen!« -- rief Raskolnikoff aus, -- »du hast nach ihnen -geschickt! ... Die hast du erwartet! Hast auf sie gerechnet ... Nun, -komme mit ihnen allen, mit den Delegierten, Zeugen ... komme mit was du -willst! Ich bin bereit! Bin bereit!« - -Aber in diesem Momente trat ein merkwürdiges Ereignis ein, für den -gewöhnlichen Gang der Dinge so unerwartet, daß weder Raskolnikoff noch -Porphyri Petrowitsch einen solchen Ausgang erwartet hatte. - - - VI. - -Raskolnikoffs Erinnerung an diesen Moment war in späterer Zeit folgende: - -Das Geräusch hinter der Türe verstärkte sich und die Türe wurde ein -wenig geöffnet. - -»Was soll das?« -- rief Porphyri Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch -gesagt ...« - -Einen kurzen Augenblick erfolgte keine Antwort, jedoch man merkte, daß -hinter der Türe einige Leute standen, die jemanden zurückzuhalten -schienen. - -»Was ist denn los?« -- wiederholte Porphyri Petrowitsch beunruhigt. - -»Man hat den Arrestanten Nikolai gebracht,« -- ertönte eine Stimme. - -»Es ist nicht nötig! Fort mit ihm! Soll warten! ... Weshalb hat man ihn -hierher gebracht? Was ist das für eine Unordnung!« -- rief Porphyri -Petrowitsch, zur Türe stürzend. - -»Ja, er ...,« -- begann dieselbe Stimme und brach plötzlich ab. - -Nicht länger als zwei Sekunden währte ein regelrechter Kampf, als jemand -mit aller Kraft zurückgestoßen wurde, und darauf ein sehr bleicher Mann -direkt in das Arbeitszimmer von Porphyri Petrowitsch eintrat. - -Dieser Mensch sah sehr eigentümlich aus. Er blickte vor sich hin, ohne -von seiner Umgebung etwas zu merken. In seinen Augen funkelte eine -Entschlossenheit, Totenblässe bedeckte sein Gesicht, als hätte man ihn -zum Schafott gebracht. Seine blutleeren Lippen zuckten. - -Er war gekleidet wie ein Mann aus dem Volke, war noch sehr jung, von -mittlerem Wuchse, hager, mit rund beschnittenen Haaren und feinen, -herben Gesichtszügen. Der von ihm unerwartet Zurückgestoßene, ein -Gefängniswärter, stürzte als erster ihm ins Zimmer nach und packte ihn -an den Schultern. Nikolai zog seinen Arm zurück und riß sich abermals -von ihm los. - -In der Türe drängten sich die Neugierigen. Manche von ihnen wollten -eintreten. Alles das geschah in einem Augenblick. - -»Fort, es ist zu früh! Warte, bis ich dich rufen lasse! ... Warum hat -man ihn schon jetzt hergebracht?« murmelte ärgerlich Porphyri -Petrowitsch, ganz außer sich. - -Da warf sich Nikolai auf die Knie nieder. - -»Was ist mir dir?« -- rief Porphyri Petrowitsch erstaunt. - -»Ich bin schuldig! Ich bin der Sünder! Ich bin der Mörder!« -- sagte -plötzlich Nikolai, stockend, aber mit ziemlich lauter Stimme. - -Ein Schweigen, als wären alle erstarrt, trat ein; der eskortierende -Soldat wich zurück und trat nicht mehr an Nikolai heran, er ging -mechanisch zur Türe und blieb dort unbeweglich stehen. - -»Was sagst du?« -- rief Porphyri Petrowitsch, aus seiner Erstarrung -erwachend. - -»Ich ... bin der Mörder ...,« -- wiederholte Nikolai nach kurzem -Schweigen. - -»Wie ... du ... wie ... Wen hast du ermordet?« - -Porphyri Petrowitsch war sichtbar betreten. - -Nach einer kurzen Pause antwortete Nikolai wieder. - -»Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna habe ich ... mit -dem Beile ... erschlagen. Eine Verblendung kam über mich ... --« fügte -er plötzlich hinzu und verstummte von neuem, immer noch auf den Knien -liegend. - -Porphyri Petrowitsch stand nachdenklich da; als er wieder zu sich kam, -winkte er mit den Händen den ungebetenen Zeugen, fortzugehen. Sie -verschwanden sogleich und die Türe wurde zugemacht. Dann blickte er -Raskolnikoff an, der in einer Ecke stand und Nikolai verstört ansah, er -ging auf ihn zu, blieb jedoch auf halbem Wege wieder stehen, betrachtete -ihn nochmals, wandte dann seinen Blick Nikolai zu, und so besah er beide -abwechselnd, bis er sich plötzlich auf Nikolai stürzte, von einem -Gedanken gepackt. - -»Was kommst du mir mit deiner Verblendung daher?« -- rief er ihm wütend -zu. -- »Ich habe doch noch gar nicht gefragt, ob eine Verblendung über -dich gekommen ist oder nicht ... sage mir, hast du gemordet?« - -»Ich bin der Mörder ... ich mache das Bekenntnis ...« -- sagte Nikolai. - -»Ach was! Und womit hast du gemordet?« - -»Mit einem Beile. Ich hatte es mir vorher besorgt.« - -»Nur langsam, nicht so schnell! Du allein?« - -Nikolai verstand die Frage nicht. - -»Hast du allein gemordet?« - -»Allein. Dmitri ist unschuldig und ganz unbeteiligt.« - -»Eile nicht so mit Dmitri! ...« - -»Wie bist du denn damals die Treppe hinuntergelaufen? Die Hausknechte -haben doch euch beide zusammen gesehen?« - -»Ich bin absichtlich ... damals ... mit Dmitri hinuntergelaufen,« -- -antwortete Nikolai schnell als hätte er sich vorher vorbereitet. - -»Ja, da haben wir's wieder!« rief Porphyri Petrowitsch wütend aus, -- -»er glaubt selbst nicht, was er sagt!« -- murmelte er scheinbar vor sich -hin und bemerkte im selben Augenblick Raskolnikoff wieder. - -Er war so stark mit Nikolai beschäftigt, daß er für eine kurze Zeit die -Anwesenheit Raskolnikoffs offenbar vergessen hatte. Er wurde verlegen -... - -»Rodion Romanowitsch, Väterchen! Entschuldigen Sie mich, es geht nicht -an ... bitte ... Sie haben hier nichts zu tun ... ich bin auch selbst -... Sie sehen, welch eine Überraschung! ... Bitte! ...« - -Er nahm ihn bei der Hand und zeigte auf die Türe. - -»Das haben Sie nicht erwartet?« -- sagte Raskolnikoff, der die Sache -selbst noch nicht begriff, jedoch seine Fassung wiedergefunden hatte. - -»Auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Wie Ihre Hand zittert! -He--he--he!« - -»Auch Sie zittern, Porphyri Petrowitsch.« - -»Ja, ich zittere auch; hätte das nie für möglich gehalten! ...« - -Sie standen beide schon an der Türe. Porphyri Petrowitsch wartete mit -Ungeduld auf Raskolnikoffs Hinausgehen. - -»Und Ihre Überraschung, wollen Sie sie mir nicht zeigen?« -- sagte -Raskolnikoff höhnisch. - -»Sie fangen schon wieder so an, während Ihnen die Zähne noch ordentlich -klappern, he--he! Sie sind ein eigener Mensch! Nun, auf Wiedersehen.« - -»Es wäre besser, _Lebewohl_ zu sagen!« - -»So Gott will, so Gott will!« -- murmelte Porphyri Petrowitsch mit einem -schiefen Lächeln. - -Als Raskolnikoff durch die Kanzlei ging, bemerkte er, daß viele ihn -aufmerksam anblickten. Im Vorzimmer sah er unter der Menge die beiden -Hausknechte aus _jenem_ Hause, die er damals in der Nacht mit zum -Polizeiaufseher gehen hieß. Sie standen und warteten. Kaum hatte er die -Treppe erreicht, als er die Stimme Porphyri Petrowitschs hinter sich -vernahm. Er kehrte sich um und bemerkte, daß dieser ihm ganz außer Atem -nachkam. - -»Nur ein Wort noch, Rodion Romanowitsch, über die Sache ... nun, wie -Gott will! aber dennoch muß ich Sie über einiges der Form wegen fragen -... so sehen wir uns noch, nicht wahr?« - -Und Porphyri Petrowitsch blieb lächelnd vor ihm stehen. - -»Nicht wahr?« -- fügte er noch einmal hinzu. - -Man hatte den Eindruck, daß er noch etwas sagen wollte, aber es erfolgte -nichts. - -»Ich bitte Sie, Porphyri Petrowitsch, mich zu entschuldigen wegen des -vorhin Vorgefallenen ... ich habe mich hinreißen lassen,« -- begann -Raskolnikoff, vollkommen gefaßt und dem unwiderstehlichen Wunsche -nachgebend, sich wichtig zu tun. - -»Hat nichts zu sagen, hat nichts auf sich,« -- fiel Porphyri Petrowitsch -fast freudig ein. -- »Auch ich selbst ... ich habe einen gehässigen -Charakter, ich gebe es zu, ich gebe es zu! Wir werden uns ja -wiedersehen. Wenn Gott will, werden wir uns sehr bald wiedersehen! ...« - -»Und dann einander endgültig kennenlernen?« -- fiel Raskolnikoff ein. - -»Und dann einander endgültig kennenlernen,« -- pflichtete ihm Porphyri -Petrowitsch bei, kniff die Augen zusammen und sah ihn durchdringend an. --- »Jetzt eilen Sie zum Namenstage?« - -»Zur Beerdigung.« - -»Ja, richtig, zur Beerdigung! Schonen Sie Ihre Gesundheit vor allem, -Ihre Gesundheit ...« - -»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen meinerseits wünschen soll!« -- -fiel Raskolnikoff ein, der schon die Treppe hinabstieg und sich wieder -zu Porphyri Petrowitsch umwandte, -- »ich möchte Ihnen >guten Erfolg< -wünschen, aber Ihr Amt ist zu eigenartig!« - -»Wieso denn, eigenartig?« -- Porphyri Petrowitsch spitzte die Ohren, -obwohl er sich schon umgekehrt hatte, um fortzugehen. - -»Warum denn nicht; diesen armen Nikolai haben Sie wahrscheinlich auch -ordentlich psychologisch in Ihrer Weise gequält und gemartert, bis er -gestanden hat; haben ihm wahrscheinlich Tag und Nacht vorinspiriert, -- ->du bist der Mörder, du bist der Mörder ...<, und jetzt, wo er es -eingestanden hat, werden Sie ihn wieder anders vorkriegen. Jetzt heißt -es: >Du lügst, du bist nicht der Mörder! Du kannst es nicht sein! Du -glaubst nicht an deine eigenen Worte!< Nun, ist Ihr Amt nicht komisch?« - -»He--he--he! Sie haben es also gehört, daß ich zu Nikolai gesagt habe, -er glaube nicht an seine eigenen Worte?« - -»Warum sollte ich es nicht gehört haben?« - -»He--he! Sie sind scharfsinnig, sehr scharfsinnig! Sie bemerken alles! -Sie haben einen ausgezeichneten lebhaften Verstand! Und erwischen immer -die komischeste Seite ... he--he! Sagt man nicht, von den -Schriftstellern hatte Gogol am ausgeprägtesten diese Eigenschaft.« - -»Ja, Gogol.« - -»Ja, Gogol ... Auf angenehmes Wiedersehen!« - -»Auf angenehmes Wiedersehen!« - -Raskolnikoff ging direkt nach Hause. Er war zuletzt so verwirrt und -konfus geworden, daß er, als er nach Hause kam, sich auf das Sofa warf -und erst eine Viertelstunde ausruhen mußte, ehe er versuchen konnte, -seine Gedanken einigermaßen zu sammeln. Den Fall mit Nikolai wollte er -gar nicht einmal erörtern, er fühlte eine mächtige Erregung in sich, und -fühlte, daß in dem Geständnis Nikolais etwas Unerklärliches und -Seltsames war; er war jetzt noch nicht imstande, dies alles zu fassen. -Das Geständnis Nikolais war eine unbestreitbare Tatsache. Die Folgen -dieser Tatsache wurden ihm sofort klar, -- die Lüge mußte sich -offenbaren und dann nahm man _ihn_ wieder vor. Aber bis dahin war er -wenigstens frei, er muß nun unbedingt irgend etwas für sich tun, denn -die Gefahr war unvermeidlich. - -Jedoch, in welcher Weise? Die Lage begann sich zu klären. Während er -sich im allgemeinen des ganzen Auftrittes bei Porphyri Petrowitsch -entsann, durchlief es ihn eiskalt. Gewiß kannte er noch nicht alle -Absichten Porphyri Petrowitschs, konnte alle seine Berechnungen vorhin -nicht enträtseln. Doch ein Teil des Spieles war offenbar; -selbstverständlich konnte niemand besser als er selbst verstehen, wie -schrecklich für ihn dieser »Schachzug« im Spiele Porphyri Petrowitschs -sei. Noch ein wenig, und er hätte sich vollkommen verraten. Indem -Porphyri Petrowitsch die Empfindlichkeit seines Charakters erkannt hatte -und vom ersten Augenblick richtig eingeschätzt und durchschaut hatte, -handelte er sehr entschlossen, und fast mit sicherem Erfolge. Es war -nicht zu bestreiten, daß Raskolnikoff sich schon stark kompromittiert -hatte, doch bis zu _Tatsachen_ war es noch nicht gekommen; dies alles -war nur relativ. Faßte er jedoch jetzt auch alles richtig auf? Irrte er -sich nicht? Zu welchem Resultate wollte heute Porphyri Petrowitsch -kommen? Hatte er heute wirklich etwas vorbereitet? Und was war es? -Wartete er wirklich auf etwas oder nicht? Wie würden sie sich heute -getrennt haben, wenn der unerwartete Vorfall mit Nikolai nicht -eingetreten wäre? - -Porphyri Petrowitsch hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt; es war -selbstverständlich von ihm riskiert, aber er hatte es doch getan, und -- -hatte alles aufgedeckt, wie es Raskolnikoff schien, -- wenn Porphyri -Petrowitsch wirklich mehr gehabt hätte, würde er es auch aufgedeckt -haben. Was war nur diese »Überraschung«? War es etwa Fopperei? Hatte sie -eine Bedeutung oder nicht? Konnte sich darunter etwas, das einer -Tatsache, einem positiven Beweis glich, verbergen? Vielleicht der Mann -von gestern? Wo ist er hinverschwunden? Wo war er heute? Wenn Porphyri -Petrowitsch etwas Positives hatte, so hing es sicher mit dem Manne von -gestern zusammen ... Er saß auf dem Sofa, hatte den Kopf tief sinken -lassen, stützte sich auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit beiden -Händen. Ein nervöses Zittern durchlief immer noch seinen ganzen Körper. -Schließlich stand er auf, nahm seine Mütze in die Hand, dachte eine -Weile nach und ging zur Türe. - -Ein Gefühl, daß er wenigstens heute sich in Sicherheit fühlen könne, -rief fast Freude in seinem Herzen wach, -- er wollte jetzt schnell zu -Katerina Iwanowna gehen. Zur Beerdigung kam er selbstverständlich zu -spät, zum Essen langte es noch und er würde dort Ssonja sehen. - -Er blieb stehen, sann nach und ein schmerzliches Lächeln zeigte sich auf -seinen Lippen. - -»Heute! Heute!« -- wiederholte er vor sich, -- »ja, heute noch! Es muß -so sein ...« - -Er wollte gerade die Türe öffnen, als sie auch schon von außen geöffnet -wurde. Er erzitterte und sprang zurück. Sie öffnete sich langsam und -leise, und die Gestalt -- des Mannes von gestern kam zum Vorschein. - -Der Mann blieb auf der Schwelle stehen, sah Raskolnikoff schweigend an -und machte einen Schritt in das Zimmer. Er war genau wie gestern -gekleidet, er hatte die gleiche gebückte Gestalt, nur in seinem Gesicht -und im Blick war eine große Veränderung vorgegangen, -- er sah traurig -drein, und nachdem er eine Weile dagestanden hatte, seufzte er tief. Es -fehlte bloß, daß er die Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur -Seite beugte, um völlig einem Weibe zu ähneln. - -»Was wünschen Sie?« -- fragte Raskolnikoff. - -Der Mann schwieg und verneigte sich auf einmal tief, so tief, daß er mit -einem Finger der rechten Hand den Boden berührte. - -»Was ist mit Ihnen?« -- rief Raskolnikoff aus. - -»Verzeihen Sie,« -- sagte leise der Mann. - -»Was soll ich verzeihen?« - -»Meine bösen Gedanken.« - -Sie blickten einander an. - -»Es quälte mich. Als Sie damals kamen, vielleicht berauscht, und die -Hausknechte aufforderten, mit auf die Polizei zu gehen und nach dem Blut -fragten, quälte es mich, daß man die Sache so ohne weiteres ließ und Sie -für einen Betrunkenen ansah. Und es quälte mich so stark, daß ich den -Schlaf verlor. Und da ich mich Ihrer Adresse erinnerte, bin ich gestern -hierher gekommen und habe den Hausknecht gefragt ...« - -»Wer ist hergekommen?« -- unterbrach ihn Raskolnikoff und da erinnerte -er sich wieder. - -»Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.« - -»Also, Sie sind aus jenem Hause?« - -»Ja, ich stand damals mit den anderen am Tore, erinnern Sie sich nicht? -Ich habe dort seit langem eine Werkstatt. Ich bin Kürschner, -Kleinbürger, arbeite zu Hause ... Am meisten aber quälte es mich ...« - -Und Raskolnikoff erinnerte sich auf einmal klar der ganzen Szene von -vorgestern am Tore; er entsann sich, daß außer den Hausknechten dort -noch einige Menschen, darunter auch Frauen, gestanden hatten. Er -erinnerte sich einer Stimme, die vorschlug, ihn auf die Polizei zu -bringen. Auf das Gesicht des Sprechenden konnte er sich nicht entsinnen -und erkannte ihn auch jetzt nicht, aber er wußte noch, daß er ihm damals -geantwortet und sich nach ihm umgewandt habe ... - -Also, das war die Lösung des ganzes Schreckens von gestern. Am -furchtbarsten war ihm der Gedanke, daß er dadurch fast zugrunde gegangen -wäre, eines solch _nichtigen_ Verhängnisses wegen sich fast zugrunde -gerichtet hätte. Also, außer des Besuches in der Wohnung und des -Gespräches über das Blut konnte dieser Mensch gar nichts erzählen. So -hatte auch Porphyri Petrowitsch gar nichts, keine Tatsachen, nichts -Positives, nichts außer diesem _Fieberwahn_, und außer der -_Psychologie_, die ihre _zwei Seiten_ hat. Wenn keine Tatsachen mehr -auftauchen -- und sie dürfen nicht mehr auftauchen, dürfen, dürfen -nicht, -- was ... was kann man ihm anhaben? Wodurch kann man ihn denn -endgültig überführen, selbst wenn sie ihn auch arretieren würden? So hat -Porphyri Petrowitsch erst jetzt, soeben erst von der Wohnung erfahren, -und vorher nichts davon gewußt. - -»Haben Sie es heute Porphyri Petrowitsch gesagt ... daß ich dort gewesen -war?« -- rief er aus, von einer neuen Idee überrascht. - -»Was für einem Porphyri Petrowitsch?« - -»Dem Untersuchungsrichter.« - -»Ja, ich habe es gesagt. Die Hausknechte gingen damals nicht hin, und da -ging ich denn.« - -»Heute?« - -»Ich war einen Augenblick früher da, als Sie kamen. Ich habe alles mit -angehört, alles, und wie er Sie peinigte.« - -»Wo? Was? Wann?« - -»Ich saß die ganze Zeit bei ihm hinter der Wand.« - -»Wie? Also Sie waren die Überraschung? Ja, wie konnte es denn zugehen? -Erlauben Sie!« - -»Als ich sah,« -- begann der Kleinbürger, -- »daß die Hausknechte trotz -meiner Worte nicht hingehen wollten, weil es, wie sie sagten, schon spät -sei und er vielleicht böse würde, daß sie in so später Stunde noch -daherkämen, quälte es mich, ich verlor den Schlaf und begann mich zu -erkundigen. Und nachdem ich mich gestern erkundigt hatte, ging ich heute -hin. Als ich zum erstenmal kam, war er noch nicht da, als ich nach einer -Stunde wieder kam, empfing er mich nicht, und als ich zum drittenmal da -war, -- ließ man mich zu ihm. Ich erzählte ihm alles, wie es war, er -lief im Zimmer herum und schlug sich mit der Faust vor die Brust. >Was -macht ihr mit mir,< -- sagte er, -- >ihr Räuber? Hätte ich das gewußt, -ich würde ihn mit einer Eskorte geholt haben!< Dann lief er aus dem -Zimmer, rief jemand und begann in einer Ecke mit ihm zu sprechen, dann -kam er wieder zu mir, frug mich aus, schimpfte mich und machte auch sich -Vorwürfe. Ich teilte ihm alles mit, sagte auch, daß Sie gestern nicht -gewagt hätten, mir auf meine Worte zu antworten, und daß Sie mich nicht -erkannt hätten. Da begann er wieder herumzulaufen, sich vor die Brust zu -schlagen und zu ärgern. Als man aber Sie anmeldete, sagte er, -- >nun, -krieche hinter die Wand, sitze dort, rühr dich nicht, was du auch hören -solltest<, und brachte mir selbst einen Stuhl dorthin und schloß mich -ein; >vielleicht werde ich dich noch ausfragen<, sagte er. Als man aber -Nikolai hineingeführt hatte, ließ er mich hinaus, nachdem Sie gegangen -waren. >Ich werde noch einmal nach dir schicken,< sagte er >und werde -dich fragen ...<« - -»Und hat er Nikolai in deiner Gegenwart verhört?« - -»Als er Sie hinausgeleitet und mich hinausgelassen hatte, begann er -Nikolai zu verhören.« - -Der Kleinbürger hielt inne und verneigte sich plötzlich noch einmal tief -und berührte wieder mit einem Finger den Boden. - -»Verzeihen Sie mir die Beschuldigung und meine Bosheit.« - -»Gott vergebe dir,« -- antwortete Raskolnikoff, und kaum hatte er es -gesagt, verneigte sich der Kleinbürger wieder vor ihm, aber diesmal -nicht bis zum Boden, drehte sich um und verließ das Zimmer. - -»Alles hat zwei Seiten, jetzt hat alles zwei Seiten,« -- wiederholte -Raskolnikoff und ging mutiger als je aus dem Zimmer. - -»Ha, jetzt wollen wir noch kämpfen!« -- sagte er mit einem bösen -Lächeln, als er die Treppe hinabstieg. Das böse Lächeln war für ihn -selbst bestimmt; er erinnerte sich seines »Kleinmutes« mit Verachtung -und Beschämung. - - - - - Fünfter Teil - - - I. - -Der Morgen, der auf die für Peter Petrowitsch Luschin verhängnisvolle -Erklärung mit Dunetschka und Pulcheria Alexandrowna folgte, verfehlte -seine ernüchternde Wirkung auch auf Luschin nicht. Er mußte zu seinem -größten Leidwesen allmählich das Ereignis als eine vollzogene und -unwiderrufliche Tatsache ansehen, das ihm noch gestern als Phantom, als -Unmöglichkeit erschienen war. Die schwarze Schlange der verletzten -Eigenliebe hatte die ganze Nacht an seinem Herzen genagt. Nachdem er das -Bett verlassen hatte, besah er sich sofort im Spiegel. Er fürchtete, daß -die Galle ihm übergelaufen sei. Aber es war alles vorläufig in bester -Ordnung, und als Peter Petrowitsch sein edles, weißes und in der letzten -Zeit voller gewordenes Antlitz erblickte, tröstete er sich für einen -Augenblick in der festen Überzeugung, irgendwo anders eine Braut, und -vielleicht eine noch bessere, zu finden. Er wies den Gedanken alsbald -von sich und spie energisch aus, wodurch er ein stilles, aber -sarkastisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Stubengenossen -Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff hervorrief. Peter Petrowitsch -bemerkte dieses Lächeln und beschloß sofort, es seinem jungen Freunde -heimzuzahlen. Es hatte sich in letzter Zeit noch mehr angesammelt. Seine -Wut vergrößerte sich, als es ihm noch bewußt wurde, daß es ganz unnötig -gewesen war, Andrei Ssemenowitsch sein gestriges Erlebnis mitzuteilen. -Das war der zweite Fehler, den er gestern im Eifer, in überflüssiger -Aufregung, in Gereiztheit gemacht hatte ... Zudem folgte nun diesen -ganzen Morgen, wie absichtlich, eine Unannehmlichkeit der anderen. Sogar -im Senate hatte er einen Mißerfolg in der Sache, die er vertrat. Ganz -besonders aber hatte ihn der Hauswirt gereizt, von dem er in Anbetracht -seiner baldigen Heirat eine Wohnung gemietet hatte und die er auf eigene -Rechnung reparieren ließ. Dieser Wirt, irgendein reichgewordener -deutscher Handwerker, weigerte sich, den soeben abgeschlossenen Vertrag -rückgängig zu machen und verlangte die volle Bezahlung der im Vertrage -genannten Entschädigungssumme, obgleich ihm Peter Petrowitsch eine -nahezu völlig renovierte Wohnung zurückgab. Ebenso wollte man auch in -dem Möbelgeschäfte keinen einzigen Rubel von der Anzahlungssumme für die -gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückgeben. -»Ich kann mich doch nicht der Möbel wegen verheiraten!« -- knirschte -Peter Petrowitsch mit den Zähnen, und gleichzeitig durchfuhr ihn noch -einmal eine verzweifelte Hoffnung. -- »Ja, ist denn wirklich alles -unwiderruflich verloren und abgetan? Kann man es denn nicht noch einmal -versuchen?« Der Gedanke an Dunetschka traf verführerisch sein Herz. Es -war ihm ein Augenblick voller Qual, und hätte jetzt gleich der bloße -Wunsch Raskolnikoff töten können, Peter Petrowitsch hätte unverzüglich -diesen Wunsch geäußert. - -»Mein Fehler war auch der, daß ich ihnen kein Geld gab,« -- dachte er, -als er traurig in die Stube von Lebesjätnikoff zurückkehrte, -- »und -warum bin ich, zum Kuckuck, so ein Jude geworden? Hier war es nicht -angebracht! Ich dachte sie in Not zu halten und sie so weit zu bringen, -daß sie mich als ihre Vorsehung betrachten müßten, und es kam so anders -... Pfui! ... Nein, ich hätte ihnen während dieser Zeit, sagen wir, -anderthalbtausend zur Aussteuer geben müssen, allerhand Geschenke, -Nähkästchen, Necessaires, Stoffe und anderen Schund, und die Sache war -gut, war sicher! Man hätte mir nicht so leicht absagen können! Sie -gehören zu den Leuten, die es unbedingt für ihre Pflicht gehalten -hätten, im Falle einer Aufhebung der Verlobung die Geschenke und das -Geld zurückzugeben; und das würde ihnen schwer gefallen sein und hätte -ihnen leid getan! Auch das Gewissen würde sie geplagt haben; wie kann -man, hätten sie sich gesagt, plötzlich einen Menschen verjagen, der bis -jetzt so freigebig und zartfühlend war? ... Ich habe einen schweren -Fehler begangen!« Peter Petrowitsch knirschte mit den Zähnen und nannte -sich einen Dummkopf, -- selbstverständlich nur bei sich. Als er zu -dieser Folgerung gekommen war, kehrte er noch wütender und gereizter -nach Hause zurück, als er fortgegangen war. Die Vorbereitungen für das -Essen in Katerina Iwanownas Zimmer zum Angedenken an den Verstorbenen -nahmen teilweise seine Neugier in Anspruch. Er hatte schon gestern -einiges über dieses Essen gehört; es schwebte ihm selbst vor, als hätte -man auch ihn eingeladen; allein bei seinen eigenen Sorgen hatte er all -dem keine Beachtung geschenkt. Er beeilte sich, sich bei Frau -Lippewechsel näher zu erkundigen, die während der Anwesenheit Katerina -Iwanownas auf dem Friedhofe für das Arrangement sorgte, und erfuhr, daß -das Gedächtnismahl feierlich sein würde. Fast alle Mitbewohner, sogar -auch solche, die der Verstorbene nicht gekannt hatte, waren eingeladen; -Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff war auch, ungeachtet seines -kürzlichen Streites mit Katerina Iwanowna, eingeladen. Auch er selbst, -Peter Petrowitsch, sei geladen und würde mit großer Ungeduld erwartet, -weil er der vornehmste Gast von allen sei. Amalie Iwanowna war -ebenfalls, trotz aller vorgefallenen Unannehmlichkeiten, mit großer Ehre -eingeladen, und mühte sich jetzt selbst ab, um alle häuslichen -Anordnungen zu treffen; sie fühlte sich sehr wichtig dabei, sie war -festlich geputzt, wennschon in Trauer, sie hatte ein ganz neues seidenes -Kleid an und war nicht wenig stolz darauf. Alle diese Tatsachen und -Mitteilungen brachten Peter Petrowitsch auf einen Gedanken; etwas -nachdenklich ging er in sein, das heißt in Andrei Ssemenowitsch -Lebesjätnikoffs Zimmer. Unter anderem hatte er erfahren, daß unter den -Eingeladenen auch Raskolnikoff sei. - -Andrei Ssemenowitsch blieb diesen ganzen Morgen aus einem bestimmten -Grunde zu Hause. Zwischen diesem Herrn und Peter Petrowitsch herrschten -eigentümliche, teilweise auch natürliche Beziehungen, -- Peter -Petrowitsch verachtete und haßte ihn von dem Tage an, als er sich bei -ihm einquartierte, über alle Maßen, gleichzeitig ihn ein wenig -fürchtend. Er war bei ihm nach seiner Ankunft in Petersburg nicht bloß -aus übertriebener Sparsamkeit abgestiegen; obwohl dies wohl der -Hauptgrund war, gab es noch eine andere Ursache. Schon in der Provinz -hatte er von Andrei Ssemenowitsch, seinem früheren Zögling, gehört, als -einem der ersten jungen Progressisten, der sogar eine bedeutende Rolle -in gewissen interessanten und vielbesprochenen Kreisen spiele. Das -überraschte Peter Petrowitsch. Diese mächtigen, alles wissenden, alles -verachtenden und alle entlarvenden Kreise jagten schon lange Peter -Petrowitsch einen besonderen, wenn auch ganz unbestimmten Schrecken ein. -Er selbst konnte sich, zumal er in der Provinz lebte, in keiner Weise -einen annähernd genauen Begriff davon machen. Er hatte, wie viele -andere, gehört, daß es besonders in Petersburg Progressisten, -Nihilisten, Enthüller und dergleichen mehr gebe, aber er übertrieb -gleich vielen, und verdrehte den Sinn und die Bedeutung dieser -Benennungen bis ins Absurde. Am meisten fürchtete er, schon seit einigen -Jahren, _Enthüllungen_, und dies war die hauptsächliche Ursache seiner -beständigen übertriebenen Unruhe, besonders wenn er daran dachte, seine -Tätigkeit nach Petersburg zu verlegen. In dieser Hinsicht war er, wie -man sagt, _verschreckt_, wie zuweilen kleine Kinder verschreckt sind. -Vor einigen Jahren in der Provinz, als er eben seine Laufbahn begonnen -hatte, erlebte er zwei Fälle schlimmer Enthüllungen für zwei ziemlich -bedeutende Persönlichkeiten der Gouvernementsbehörde, zu denen er sich -bis dahin gehalten und die ihn protegierten. Der eine Fall endete für -den Kompromittierten mit besonderem Eklat, der zweite wäre fast noch -schlimmer abgelaufen. Aus diesem Grunde hatte Peter Petrowitsch -beschlossen, sich sofort nach der Ankunft in Petersburg zu erkundigen, -wie die Sache eigentlich sei, und falls nötig, vorzubeugen und sich bei -»unserer jungen Generation« einzuschmeicheln. Dabei rechnete er auf -Andrei Ssemenowitsch, und er hatte schon gelernt, wie beim Besuche -Raskolnikoffs, bestimmte Phrasen aus fremder Quelle wiederzugeben ... - -Gewiß, es gelang ihm bald, Andrei Ssemenowitsch als einen -außerordentlich flachen, einfältigen und unbedeutenden Menschen zu -erkennen. Dies hatte aber keineswegs den Glauben Peter Petrowitschs -erschüttert oder ihn sicherer gemacht. Selbst wenn er sich überzeugt -hätte, daß alle Progressisten eben solche Dummköpfe wären, auch dann -würde sich seine Unruhe nicht gelegt haben. Alle Lehren, Gedanken, -Systeme, mit denen Andrei Ssemenowitsch sich sofort auf ihn gestürzt -hatte, interessierten ihn ganz und gar nicht. Er hatte sein eigenes -Ziel. Er wollte bloß schnell, unverzüglich erfahren, was _hier_ vorginge -und wie? Hatten _diese Leute_ einen Einfluß oder nicht? Würden sie ihn -kompromittieren, wenn er dies oder jenes unternähme, oder nicht? Und -wenn sie einen kompromittierten, fragt es sich, was würden sie dabei im -Auge haben? Worauf richteten sich jetzt eigentlich die Enthüllungen? Und -weiter, -- konnte man sich nicht ihnen in irgendeiner Weise anschließen -und sie irreführen, wenn sie tatsächlich Einfluß haben sollten? Sollte -man es tun oder nicht? Könnte man nicht, zum Beispiel, durch ihre -Vermittlung seine Karriere fördern? Mit einem Worte, es standen hunderte -von Fragen vor ihm. - -Andrei Ssemenowitsch war ein kraftloser und skrophulöser Mann von -kleinem Wuchse, der bei irgend jemand bedienstet war; er war auffallend -blond und hatte einen Kotelettenbart, auf den er sehr stolz war. Seine -Augen waren fast immer entzündet. Er hatte ein ziemlich weiches Herz, in -seinen Reden lag etwas sehr Selbstbewußtes, ja zuweilen etwas -außerordentlich Herausforderndes -- was im Vergleiche zu seiner kleinen -Gestalt fast stets lächerlich wirkte. Amalie Iwanowna rechnete auch ihn -zu ihren angesehensten Mietern, da er nicht trank und sein Zimmer -pünktlich bezahlte. Alles in allem war Andrei Ssemenowitsch wirklich -etwas dumm. Er hatte sich den Progressisten und »unserer jungen -Generation« leidenschaftlich zugesellt. Es war einer aus der bunt -zusammengesetzten Legion flacher Menschen, verfehlter Existenzen und -Halbgebildeten, die nichts ordentliches gelernt hatten, die sich an die -modernste gangbarste Idee heranmachen, um sie sofort zu verflachen und -um alles in einem Nu zu verzerren, auch wenn sie selbst in der -aufrichtigsten Weise ihr dienen. - -Übrigens konnte Lebesjätnikoff, ungeachtet seiner Gutmütigkeit, seinen -Stubengenossen und früheren Vormund Peter Petrowitsch nicht leiden. Es -kam das wie von ungefähr und beruhte auf Gegenseitigkeit. Trotz seiner -Beschränktheit begann Andrei Ssemenowitsch allmählich zu merken, daß ihn -Peter Petrowitsch beschwindelte und im geheimen verachtete, und daß er -nicht der »Rechte« war. Er versuchte, ihm Fouriers System und Darwins -Theorie darzulegen, aber Peter Petrowitsch begann, besonders in der -letzten Zeit, sarkastisch zuzuhören und sogar zu schelten. Peter -Petrowitsch fühlte instinktiv heraus, daß Lebesjätnikoff nicht bloß ein -flacher und ziemlich beschränkter Mensch, sondern auch ein Prahlhans -sei, und daß er keine bedeutenden Verbindungen in seinem eigenen Kreise -hatte, sondern sich nur mit fremden Federn schmückte; mehr noch, -- daß -er nicht mal seine eigene Sache, _die Propaganda_, ordentlich verstand, -weil er zu konfus redete, und ein solcher konnte doch kein Ankläger -sein! Nebenbei wollen wir noch bemerken, daß Peter Petrowitsch in diesen -anderthalb Wochen, besonders aber im Anfange, sehr gern die -merkwürdigsten Absichten von Andrei Ssemenowitsch sich beilegen ließ, -das heißt, er wies sie nicht zurück und erwiderte auch nichts, z. B., -wenn Andrei Ssemenowitsch ihm die Bereitwilligkeit zuschrieb, die -künftige und baldige Gründung einer neuen »_Kommune_« irgendwo in der -nächsten Nähe zu fördern, oder z. B. Dunetschka nicht hinderlich zu -sein, wenn es ihr im ersten Monate nach der Hochzeit einfallen sollte, -sich einen Geliebten anzuschaffen, oder auch seine künftigen Kinder -nicht taufen zu lassen und dergleichen mehr. Peter Petrowitsch -widersprach nicht, seiner Gewohnheit nach, wenn ihm diese Eigenschaften -zugeschrieben wurden, und ließ es zu, daß man ihn dafür lobte, -- so -angenehm war ihm jedes Lob. - -Peter Petrowitsch, der an diesem Morgen einige fünfprozentige -Staatspapiere gewechselt hatte, saß am Tische und zählte das Papiergeld -und die Kupons nach. Andrei Ssemenowitsch, der fast nie Geld hatte, ging -im Zimmer auf und ab und gab sich den Anschein, als betrachte er diesen -Haufen Geld gleichgültig und geringschätzig. Peter Petrowitsch konnte um -nichts in der Welt glauben, daß Andrei Ssemenowitsch so viel Geld -gleichgültig war, und jener wiederum dachte voll Bitterkeit, daß Peter -Petrowitsch wirklich fähig sei, in dieser Weise von ihm zu denken, und -sich möglicherweise freue, ihn, seinen jungen Freund, mit den -aufgebauten Päckchen von Papiergeld zu reizen und zu verhöhnen, indem er -ihn an seine Unbedeutendheit und den zwischen ihnen bestehenden Abstand -erinnerte. - -Andrei Ssemenowitsch fand ihn heute ungewöhnlich gereizt und -unaufmerksam, trotzdem er ihm sein Lieblingsthema über die Errichtung -einer neuen eigenartigen »Kommune« auseinandergesetzt hatte. Die kurzen -Erwiderungen und Bemerkungen, die Peter Petrowitsch inmitten seiner -Berechnungen machte, zeugten von einer sehr deutlichen und beabsichtigt -spöttischen Unhöflichkeit. Aber der »humane« Andrei Ssemenowitsch -schrieb die Stimmung von Peter Petrowitsch dem gestrigen Bruche mit -Dunetschka zu und brannte vor Verlangen, schneller dieses Thema zu -berühren, -- er hätte etwas Fortschrittliches und Propagandistisches für -ihn, was seinen ehrenwerten Freund trösten und »sicher« seiner weiteren -Entwicklung von Nutzen sein müßte. - -»Was ist das für ein Gedächtnismahl, das diese ... die Witwe da -arrangiert?« -- fragte plötzlich Peter Petrowitsch, Andrei Ssemenowitsch -bei der interessantesten Stelle unterbrechend. - -»Als ob Sie das nicht selbst wüßten; ich habe doch gestern mit Ihnen -über dieses Thema gesprochen und Ihnen meine Gedanken über all diese -Gebräuche entwickelt ... Sie hat Sie ja auch eingeladen, ich habe es -gehört, als Sie gestern selbst mit ihr sprachen ...« - -»Ich hätte keineswegs erwartet, daß diese bettelarme, dumme Person all -das Geld zu einem Gedächtnismahl verplempern wird, das sie von diesem -andern Dummkopf ... Raskolnikoff erhalten hat. Ich war erstaunt, als ich -beim Durchgehen sah, -- was für Vorbereitungen gemacht sind ... Wein ist -aufgestellt! ... Es sind allerhand Menschen geladen, -- weiß der Teufel, -was das bedeuten soll!« -- fuhr Peter Petrowitsch fort, der absichtlich -dieses Gespräch anfing. -- »Was? Sie sagen, man hatte auch mich -geladen?« -- fügte er plötzlich hinzu und erhob den Kopf. -- »Wann war -denn das? Ich erinnere mich gar nicht. Ich will übrigens nicht hingehen. -Was soll ich dort? Ich habe mit ihr gestern bloß im Vorbeigehen über die -Möglichkeit gesprochen, daß sie, als die arme Witwe eines Beamten, -seinen Jahresgehalt als eine einmalige Unterstützung erhalten könnte. -Sollte sie mich deswegen vielleicht eingeladen haben? He--he!« - -»Ich habe auch nicht die Absicht hinzugehen,« -- sagte Lebesjätnikoff. - -»Das fehlte noch, wo Sie sie eigenhändig verprügelt haben. Das ist doch -begreiflich, Sie müßten sich schämen, he--he--he!« - -»Wer hat verprügelt und wen?« -- fragte Lebesjätnikoff aufgebracht und -errötete. - -»Sie, Sie haben doch Katerina Iwanowna vor einem Monat verprügelt! Ich -habe es gestern gehört ... Da haben wir die Prinzipien! ... Also die -Frauenfrage hinkt auch. He--he!« - -Und Peter Petrowitsch setzte wie getröstet seine Berechnungen fort. - -»Das ist alles Unsinn und Verleumdung!« -- brauste Lebesjätnikoff auf, -der ungern an diese Geschichte erinnert wurde, -- »das war gar nicht der -Fall! Es war ganz anders ... Sie haben es nicht richtig gehört; alles -ist Klatscherei! Ich habe mich damals nur verteidigt. Sie stürzte sich -zuerst auf mich ... Sie hat mir fast meinen Backenbart ausgerissen ... -ich hoffe denn doch, daß jedem Menschen erlaubt ist, seine Person zu -verteidigen. Außerdem gestatte ich niemand, mir Gewalt anzutun ... Aus -Prinzip. Denn das ist schon Despotismus. Was sollte ich denn tun, -- -etwa alles ruhig mir gefallen lassen? Ich habe sie bloß zurückgestoßen -...« - -»He--he--he!« kicherte Luschin boshaft weiter. - -»Sie sticheln mich nur, weil Sie selbst geärgert wurden und nun böse -darüber sind ... Das ist doch Unsinn und hat gar nichts, rein gar nichts -mit der Frauenfrage zu tun! Sie haben das nicht richtig aufgefaßt; ich -denke sogar, wenn man annimmt, daß die Frau in allem dem Manne gleich -sei, selbst in der physischen Kraft, wie man schon behauptet, so muß -hier erst recht Gleichheit herrschen. Gewiß, ich habe es mir nachher -überlegt, daß es so eine Frage überhaupt nicht geben soll, weil -Prügeleien sowieso nicht stattfinden sollen. In der künftigen -Gesellschaft wird dies undenkbar sein ... es wäre doch sonderbar, eine -Gleichberechtigung zum Prügeln anzustreben. So dumm bin ich nicht ... -obwohl Prügeleien übrigens auch vorkommen können ... ich will sagen, -nachher nicht vorkommen werden, jetzt aber noch vorkommen ... pfui! zum -Teufel! Mit Ihnen wird man ganz konfus! Ich gehe nicht zu diesem Essen, -nicht weil diese Unannehmlichkeit passiert ist, ich gehe vielmehr aus -Prinzip nicht hin, um nicht bei einem so schändlichen Brauch wie einer -Gedächtnisfeier mitzutun; ja, das ist der Grund! Man könnte eigentlich -hingehen, um sich darüber lustig zu machen ... Nur schade, daß keine -Priester da sein werden. Sonst würde ich unbedingt hingehen.« - -»Mit anderen Worten: Gastliches Salz und Brot essen und gleich darauf es -ebenso beschimpfen wie die, die Sie eingeladen haben. So ist es doch -gemeint?« - -»Durchaus nicht beschimpfen, nur protestieren. Ich gehe mit bester -Absicht hin. Ich kann indirekt die Entwicklung und die Propaganda -fördern. Jeder Mensch ist verpflichtet, andere zu fördern und auf sie zu -wirken, je kräftiger er es tut, desto besser ist es vielleicht. Ich kann -eine Idee bringen, einen Samen ausstreuen ... Aus diesem Samen wird eine -Tat entstehen. Womit hätte ich da gekränkt? Anfangs fühlen sie sich -vielleicht gekränkt, nachher aber werden sie selbst einsehen, daß es -ihnen nur von Nutzen war. Bei uns beschuldigte man eine Zeitlang -Terebjewa, -- dieselbe, die jetzt in der Kommune ist, -- weil sie, als -sie sich von ihrer Familie lossagte und ... sich einem hingab, ihrer -Mutter und ihrem Vater geschrieben hatte, sie wolle nicht mehr in -Vorurteilen leben und gehe eine illegale Ehe ein; man fand es -rücksichtslos, so mit den Eltern umzugehen, und meinte, sie hätte es -ihnen schonender und milder beibringen sollen. Meiner Ansicht nach ist -dies alles Unsinn, man soll gar nicht so mild sein, im Gegenteil, ganz -im Gegenteil, man soll erst recht scharf protestieren. Nehmen wir zum -Beispiel die Warentz; sie hat sieben Jahre mit ihrem Manne -zusammengelebt, hat ihn und ihre zwei Kinder verlassen und ihrem Manne -in einem Briefe die Wahrheit gesagt. -- >Ich habe eingesehen, daß ich -mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde Ihnen nie vergeben, daß -Sie mich betrogen haben, indem Sie mir verheimlichten, daß noch eine -andere gesellschaftliche Einrichtung, nämlich die Kommune existiert. Ich -habe es vor kurzem durch einen großmütigen Mann erfahren, dem ich mich -auch hingegeben habe, und mit ihm zusammen begründe ich eine Kommune. -Ich sage Ihnen dies offen, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu -betrügen. Tun Sie, was Sie für gut halten. Hoffen Sie nicht, mich -zurückzuerobern, es ist zu spät. Ich wünsche Ihnen alles Glück.< So muß -man schreiben!« - -»Nicht wahr, diese Terebjewa ist doch die, von der Sie erzählten, daß -sie in der dritten illegalen Ehe lebe?« - -»Richtig betrachtet, erst in der zweiten! Aber mag sie auch in der -vierten oder fünfzehnten Ehe leben, was ist dabei! Und wenn ich jemals -bedauerte, daß mein Vater und meine Mutter gestorben sind, so ist es -sicher jetzt der Fall. Ich habe schon ein paarmal gedacht, wie ich sie -mit meinem Protest aufrütteln würde, wenn sie noch am Leben wären! Ich -hätte absichtlich alles so eingerichtet ... Ich hätte es ihnen gezeigt! -Ich hätte sie staunen gemacht! Es ist wirklich schade, daß ich niemanden -habe!« - -»Um ihn erstaunen zu machen? He--he! Nun, gut!« -- unterbrach ihn Peter -Petrowitsch, -- »sagen Sie mir lieber, Sie kennen doch die Tochter des -Verstorbenen, ein zartes, unbedeutendes Ding! Ist es wahr, was man von -ihr erzählt, hm?« - -»Und was wäre dabei? Meiner Meinung, das heißt meiner persönlichen -Überzeugung nach ist es die normale Lage der Frau. Warum denn nicht? Das -heißt _distinguons_{[9]}. In der gegenwärtigen Gesellschaft gilt das -nicht als normal, weil es eine gezwungene Lage ist, in der künftigen -Gesellschaft ist sie vollkommen normal, weil sie freiwillig sein wird. -Ja, auch jetzt hatte sie das Recht dazu, -- sie litt Not und das war ihr -Fond, sozusagen ihr Kapital, über das sie vollkommenes Recht hat zu -verfügen. Selbstverständlich werden in der künftigen Gesellschaft keine -Fonds mehr nötig sein, ihre Rolle wird in anderer Hinsicht bestimmt, -harmonisch und vernünftig bedingt sein. Was Ssofja Ssemenowna persönlich -anbetrifft, so betrachte ich ihre Handlungen als einen energischen und -personifizierten Protest gegen die gesellschaftliche Einrichtung und -achte sie deswegen um so höher, ja ich freue mich ihrer Handlungsweise!« - -»Man hat mir aber doch erzählt, daß gerade Sie sie gezwungen haben, von -hier auszuziehen!« - -Lebesjätnikoff wurde wütend. - -»Das ist wieder eine Klatscherei!« -- schrie er. -- »Die Sache verhält -sich ganz und gar nicht so! Das ist absolut nicht so gewesen! Katerina -Iwanowna hat damals alles geschwindelt, weil sie nichts davon verstanden -hat! Ich habe mich gar nicht an Ssofja Ssemenowna herangemacht! Ich habe -sie bloß gefördert, vollkommen ohne Hintergedanken, und versuchte in ihr -den Protest zu erwecken ... Mir war es bloß um den Protest zu tun, und -außerdem konnte Ssofja Ssemenowna sowieso nicht mehr hier bleiben!« - -»Luden Sie sie in die Kommune ein?« - -»Sie machen sich immer lustig über mich, doch ohne Erfolg, erlaube ich -mir zu bemerken. Sie verstehen gar nichts davon. Solche Rollen gibt es -in einer Kommune nicht. Darum wird gerade eine Kommune gegründet, damit -solche nicht mehr existieren sollen. In einer Kommune wird ihr Stand -sein jetziges Wesen völlig verändern, und was hier dumm ist, wird dort -vernünftig sein, was jetzt bei den gegenwärtigen Verhältnissen -unnatürlich ist, wird dort vollkommen natürlich sein. Alles hängt davon -ab, in welcher Umgebung und in welcher Gesellschaft ein Mensch lebt. Der -Mensch selbst ist nichts. Mit Ssofja Ssemenowna stehe ich noch jetzt auf -gutem Fuße, was Ihnen als Beweis dienen kann, daß sie mich nie als ihren -Feind und Beleidiger angesehen hat. Ja! Ich schlage ihr jetzt vor, in -eine Kommune einzutreten, aber auf einer ganz anderen Basis! Was -erscheint Ihnen wieder lächerlich? Wir wollen eine eigene Kommune, eine -besondere Kommune auf viel breiteren Grundlagen begründen, als alle -früheren. Wir sind in unseren Überzeugungen weiter gegangen. Wir -negieren mehr! Wenn Dobroljuboff[10] aus dem Grabe steigen würde, möchte -ich mit ihm diskutieren! Und Belinski[11] würde ich übel zurichten! -Vorläufig aber fahre ich fort, Ssofja Ssemenowna zu fördern! Sie ist -eine herrliche, herrliche Natur!« - -»Nun, und Sie benutzen auch die herrliche Natur, ah? He--he!« - -»Nein, nein! Oh, nein! Im Gegenteil!« - -»Nun, nun im Gegenteil! He--he--he! Was Sie nicht sagen!« - -»Glauben Sie mir doch! Warum soll ich es vor Ihnen verheimlichen, ich -bitte Sie? Im Gegenteil, mir erscheint es selbst merkwürdig, -- sie ist -mir gegenüber besonders ängstlich, keusch und schamhaft!« - -»Und Sie fördern sie selbstverständlich ... he--he! Beweisen ihr, daß -diese ganze Schamhaftigkeit Unsinn ist? ...« - -»Gott bewahre, durchaus nicht! Oh, wie gemein, wie dumm -- verzeihen Sie -es mir -- Sie das Wort >Förderung< verstehen! Nichts, rein gar nichts -verstehen Sie! Oh, mein Gott, wie Sie noch ... unreif sind! Wir -erstreben Freiheit für die Frau, und Sie haben bloß das eine im Sinn ... -Ich lasse die Frage über Keuschheit und weibliche Schamhaftigkeit -vollkommen beiseite, als Dinge, die an und für sich nutzlos und voller -Vorurteile sind, aber ich verstehe sie vollkommen und lasse ihre -Keuschheit mir gegenüber gelten, weil darin -- ihr Wille, ihr ganzes -Recht besteht. Wenn sie selbst zu mir sagen würde: -- >Ich will dich -haben<, -- könnte ich mich eines großen Erfolges rühmen, weil das -Mädchen mir sehr gefällt. Gegenwärtig behandelt sie gewiß niemand -höflicher und zuvorkommender und mit größerer Achtung ihrer Würde, als -ich ... Ich warte und hoffe -- und weiter nichts!« - -»Schenken Sie ihr besser etwas. Ich wette, daß Sie daran noch nicht -gedacht haben.« - -»Sie verstehen nichts, gar nichts; ich habe es Ihnen schon oft gesagt! -Gewiß, ihre Lage ist derart, aber hier ist noch eine andere Frage! Eine -ganz andere Frage! Sie verachten sie einfach. Wenn Sie eine Tatsache -sehen, die Sie irrtümlicherweise für verachtungswürdig halten, -verweigern Sie einem menschlichen Wesen eine humane Betrachtung. Sie -wissen noch gar nicht, was sie für eine Natur ist! Mir tut es nur sehr -leid, daß sie in der letzten Zeit fast gänzlich aufgehört hat zu lesen -und keine Bücher von mir mehr nimmt. Früher hat sie sich öfters Bücher -geholt. Es ist auch schade, daß sie trotz ihrer Energie und -Entschlossenheit, zu protestieren, -- die sie schon einmal bewiesen hat, -immer noch wenig Selbständigkeit, sozusagen Unabhängigkeit, wenig -Verneinung besitzt, um sich endgültig von einigen Vorurteilen und ... -Dummheiten loszureißen. Und ungeachtet dessen, daß sie manche Fragen -ausgezeichnet begreift. Sie hat z. B. glänzend die Frage über das -Handküssen verstanden, das heißt, daß der Mann das Gesetz der Gleichheit -mit der Frau überschreitet, wenn er ihr die Hand küßt. Über diese Frage -wurde bei uns debattiert und ich habe es ihr sofort mitgeteilt. Auch für -Assoziationen der Arbeiter in Frankreich zeigt sie Interesse. Jetzt -erörterte ich mit ihr die Frage des ungehinderten Zutritts in alle -Wohnungen der künftigen Gesellschaft.« - -»Was ist das?« - -»In letzter Zeit wurde über die Frage debattiert, ob ein Mitglied der -Kommune das Recht habe, zu jeder Zeit in das Zimmer eines anderen -Mitgliedes, sei es ein Mann oder eine Frau, eintreten darf ..., und es -wurde beschlossen, daß er das Recht dazu habe ...« - -»Wenn aber der oder die in diesem Augenblicke mit einem natürlichen -Bedürfnisse beschäftigt ist, he--he!« - -Andrei Ssemenowitsch wurde böse. - -»Sie reden immer über dasselbe, über die verfluchten >Bedürfnisse<!« -- -rief er voll Haß aus, -- »pfui, wie ärgere ich mich, wie bin ich wütend, -daß ich damals, als ich Ihnen das System erklärte, so vorzeitig diese -verfluchten Bedürfnisse erwähnte! Zum Teufel! Das ist immer der Stein -des Anstoßes für Ihresgleichen, am schlimmsten ist es, daß sie es zur -Zielscheibe ihrer Witzeleien machen, ehe sie erfahren, wie die Sache -ist! Als wären sie im Rechte! Als könnten Sie sich etwas darauf -einbilden! Pfui! Ich habe immer behauptet, daß man diese ganze Frage -Neulingen erst am Schlusse darstellen kann, wenn sie schon von dem -System überzeugt sind, wenn sie schon entwickelt und auf dem richtigen -Wege sich befinden. Ja, und sagen Sie mir bitte, was finden Sie -Häßliches und Verachtungswürdiges, z. B. an einer Mistgrube? Ich bin der -erste, der bereit ist, alle beliebigen Mistgruben zu reinigen! Da ist -noch nicht mal etwas Selbstaufopferndes dabei. Es ist einfach eine -Arbeit, eine edle, für die Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder -andern wert ist, nur bedeutend höher steht, als zum Beispiel die -Tätigkeit irgendeines Rafael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.« - -»Und edler vor allem, edler ist, -- he--he!« - -»Was heißt edel? Ich verstehe solche Ausdrücke bei der Feststellung von -menschlicher Tätigkeit nicht. >Edel<, >großmütig< -- Unsinn, Dummheiten, -alte Worte voller Vorurteile, die ich verneine! Alles, was der -Menschheit _von Nutzen_ ist, ist auch edel. Ich verstehe nur das eine -Wort, -- _nützlich_! Kichern Sie, soviel Sie wollen, es ist doch so!« - -Peter Petrowitsch lachte laut. Er hatte seine Berechnungen abgeschlossen -und das Geld eingesteckt. Ein Teil davon blieb noch auf dem Tische -liegen. Die Frage »über Mistgruben« hatte schon ein paarmal, trotz ihrer -ganzen Flachheit, zur Folge gehabt, daß es zwischen Peter Petrowitsch -und seinem jungen Freunde zu Mißverständnissen und Uneinigkeiten -gekommen war. Die ganze Dummheit war, daß Andrei Ssemenowitsch sich -tatsächlich ärgerte. Luschin fand nur eine Zerstreuung darin, heute -jedoch wollte er Lebesjätnikoff ärgern. - -»Sie sind wegen Ihres gestrigen Mißerfolges wütend und suchen Streit,« --- platzte endlich Lebesjätnikoff heraus, der trotz seiner -»Unabhängigkeit« und aller seiner »Proteste« nicht wagte, Peter -Petrowitsch entgegenzutreten und noch immer aus früheren Jahren her -gewohnt war, Respekt zu beobachten. - -»Sagen Sie mir lieber,« -- unterbrach ihn Peter Petrowitsch hochmütig -und ärgerlich, -- »können Sie ... oder besser gesagt, sind Sie -tatsächlich so gut mit der erwähnten jungen Person bekannt, daß Sie sie -sofort, auf einen Augenblick, in dieses Zimmer bitten können? Ich -glaube, sie sind schon alle vom Friedhofe zurückgekehrt ... Ich höre -Schritte ... Ich möchte diese Person einen Augenblick sehen.« - -»Wozu denn?« fragte verwundert Lebesjätnikoff. - -»Ich möchte sie sehen. Heute oder morgen verlasse ich diese Wohnung und -möchte ihr noch etwas mitteilen ... Ich bitte Sie übrigens, während der -Unterredung hier zu bleiben. Es ist besser. Sonst könnten Sie, Gott weiß -noch was, denken.« - -»Ich denke mir gar nichts dabei ... Ich habe nur gefragt, und wenn Sie -etwas vorhaben, so gibt's nichts Leichteres, als sie hierher zu bitten. -Ich will sofort hingehen. Und ich will Sie, seien Sie überzeugt, nicht -stören.« - -Und wirklich, nach etwa fünf Minuten kehrte Lebesjätnikoff mit -Ssonjetschka zurück. Sie trat äußerst verwundert und schüchtern ein. In -solchen Fällen war sie stets schüchtern und fürchtete neue Gesichter und -neue Bekanntschaften, schon als Kind fürchtete sie sich davor und -wieviel mehr noch jetzt ... Peter Petrowitsch begrüßte sie »freundlich -und höflich,« und mit einem Anflug von Vertraulichkeit, die bei solch -einem ehrenwerten und soliden Menschen, wie er, einem jungen und in -gewissem Sinne _interessanten_ Wesen gegenüber, seiner Meinung nach, gut -angebracht war. Er beeilte sich, sie »zu ermutigen,« und bot ihr einen -Platz ihm gegenüber am Tische an. Ssonja setzte sich hin, sah sich um, --- sah Lebesjätnikoff an, das auf dem Tisch liegende Geld, blickte -wieder zu Peter Petrowitsch und wandte die Augen nicht mehr von ihm ab. -Lebesjätnikoff ging zur Türe, Peter Petrowitsch aber stand auf, gab -Ssonja ein Zeichen, sitzen zu bleiben und hielt Lebesjätnikoff zurück. - -»Ist Raskolnikoff dort? Ist er gekommen?« fragte er ihn im Flüstertone. - -»Raskolnikoff? Er ist da. Warum? Ja, er ist da ... Er ist soeben -gekommen, ich habe ihn gesehen ... Was ist mit ihm?« - -»Nun, dann bitte ich Sie inständig, hier bei uns zu bleiben und mich -nicht allein mit diesem ... Fräulein zu lassen. Es ist eine ganz -unbedeutende Sache, aber man kann, weiß Gott, was daraus schließen. Ich -will nicht, daß es Raskolnikoff _dort_ erzählt ... Verstehen Sie, was -ich meine?« - -»Ich verstehe, ich verstehe!« -- begriff plötzlich Lebesjätnikoff. -- -»Ja, Sie haben recht ... Nach meiner persönlichen Überzeugung gehen Sie -in Ihren Befürchtungen zu weit, aber ... Sie haben dennoch recht. Bitte, -ich bleibe. Ich will mich hier ans Fenster stellen und will Sie nicht -stören ... Meiner Ansicht nach haben Sie recht ...« - -Peter Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, setzte sich Ssonja gegenüber, -blickte sie aufmerksam an und gab sich ein außergewöhnlich solides und -sogar ein wenig strenges Aussehen, als möchte er dadurch sagen, -- »du -sollst dir nichts dabei denken, Verehrteste.« Ssonja wurde ganz -verlegen. - -»Zuerst bitte ich Sie, Ssofja Ssemenowna, mich bei Ihrer verehrten Frau -Mutter zu entschuldigen ... Es ist doch richtig? Katerina Iwanowna nimmt -die Stelle einer Mutter bei Ihnen ein?« -- begann er sehr würdevoll und -ziemlich freundlich. - -Man merkte, daß er die freundschaftlichsten Absichten hatte. - -»Ja, sie vertritt mir die Mutter,« -- antwortete Ssonja hastig und -ängstlich. - -»Nun, also entschuldigen Sie mich bei ihr, daß ich durch -unvorhergesehene Umstände gezwungen bin, abzusagen und zu dem Essen -nicht erscheinen kann, trotz der angenehmen Einladung Ihrer Frau -Mutter.« - -»Ich will es sagen; ihr sofort sagen,« -- und Ssonjetschka sprang hastig -vom Stuhle auf. - -»Das ist _noch_ nicht alles,« -- hielt sie Peter Petrowitsch zurück und -lächelte über ihre Einfalt und Unkenntnis von Anstand, -- »Sie kennen -mich wenig, liebe Ssofja Ssemenowna, wenn Sie meinen, daß ich wegen -dieser unbedeutenden, mich allein angehenden Ursache jemanden wie Sie -persönlich bemüht und gebeten hätte, zu mir zu kommen. Ich habe noch ein -anderes Anliegen.« - -Ssonja setzte sich wieder hastig hin. Die bunten Banknoten, die auf dem -Tische lagen, flimmerten wieder vor ihren Augen, sie wandte schnell ihr -Gesicht von ihnen ab und erhob die Augen zu Peter Petrowitsch; es kam -ihr auf einmal höchst unanständig vor, besonders weil _sie_ es war, -fremdes Geld anzublicken. Sie heftete ihren Blick auf den goldenen -Kneifer in der linken Hand Peter Petrowitschs, und auf den großen, -massiven, wertvollen Ring mit einem gelben Stein an seinem Mittelfinger, --- aber schnell wandte sie die Augen auch davon ab, und da sie nicht -wußte, wohin sie sehen sollte, blickte sie wieder Peter Petrowitsch -unverwandt ins Gesicht. Nachdem er noch würdevoller, als vorhin, eine -Weile geschwiegen hatte, fuhr er fort: - -»Es traf sich, daß ich gestern im Vorübergehen einige Worte mit der -unglücklichen Katerina Iwanowna wechselte. Ein paar Worte genügten, um -zu erfahren, daß sie sich in einem -- unnatürlichen Zustande befindet, --- wenn man sich so ausdrücken kann ...« - -»Ja ... in einem unnatürlichen,« -- pflichtete Ssonja hastig ihm bei. - -»Oder einfacher und verständlicher gesagt, -- in einem kranken -Zustande.« - -»Ja, einfacher und verständ... ja, sie ist krank.« - -»Nicht wahr, das stimmt. Aus dem Gefühle der Humanität, und ... und -sozusagen, des Mitleides möchte ich meinerseits, ihr unvermeidliches und -unglückliches Schicksal voraussehend, irgendwie ihr nützlich sein. Es -scheint mir, daß die ganze arme Familie jetzt auf Ihnen allein lastet.« - -»Erlauben Sie mir zu fragen,« -- stand Ssonja plötzlich auf, -- »was -haben Sie ihr gestern von der Möglichkeit einer Pension gesagt? Sie -sagte mir, daß Sie es übernommen hätten, ihr eine Pension zu bewirken. -Ist das wahr?« - -»Keineswegs, und sogar in gewisser Beziehung ein Unsinn. Ich habe nur -von einer einmaligen Unterstützung, als der Witwe eines im Dienste -gestorbenen Beamten, erwähnt, -- wenn Protektion da sei, -- aber wie mir -scheint, hat Ihr verstorbener Vater nicht nur die gesetzliche Frist -nicht ausgedient, sondern hatte in der letzten Zeit gar nicht im -staatlichen Dienste gestanden. Mit einem Worte, es konnte Hoffnung, wenn -auch eine ziemlich zweifelhafte, da sein, denn im Grunde genommen, gibt -es in diesem Falle keine Rechte auf eine Unterstützung, sondern im -Gegenteil ... So, sie dachte schon an eine Pension, he--he--he! Eine -flinke Dame!« - -»Ja, an eine Pension ... Sie ist leichtgläubig und gut, und aus Güte -glaubt sie alles und ... und ... sie hat so einen Verstand ... Ja ... -entschuldigen Sie,« -- sagte Ssonja und stand wieder auf, um -fortzugehen. - -»Erlauben Sie, Sie haben mich nicht zu Ende gehört.« - -»Ja, ich habe nicht zu Ende gehört,« -- murmelte Ssonja. - -»Also, setzen Sie sich.« - -Ssonja wurde furchtbar verlegen und setzte sich, zum dritten Male. - -»Nachdem ich ihre Lage mit den unglücklichen kleinen Kindern sehe, -möchte ich, -- wie ich schon gesagt habe -- irgendwie nach meinen -Kräften nützlich sein, das heißt, was man nach Kräften nennt, nicht -mehr. Man könnte zum Beispiel eine Sammlung veranstalten oder sozusagen -eine Verlosung ... oder etwas dieser Art, -- wie es auch stets in -ähnlichen Fällen von den Nächststehenden oder auch Fremden, überhaupt -von Menschen, die helfen möchten, arrangiert wird. Darüber hatte ich die -Absicht, mit Ihnen zu reden. Man könnte es tun.« - -»Ja, es wäre gut ... Gott wird Sie dafür ...« stammelte Ssonja und -blickte Peter Petrowitsch unverwandt an. - -»Man könnte es, aber ... darüber können wir nachher ... das heißt, man -könnte gleich heute den Anfang machen. Wir wollen uns noch einmal am -Abend sehen, es besprechen und sozusagen die Grundlagen festsetzen. -Kommen Sie so gegen sieben Uhr zu mir. Ich hoffe, daß Andrei -Ssemenowitsch sich daran beteiligen wird ... Aber ... hier gibt es einen -Umstand, der vorher und genau erwähnt werden muß. Deshalb habe ich Sie, -Ssofja Ssemenowna, auch hierher bemüht. Meine Ansicht geht nämlich -dahin, daß man Katerina Iwanowna selbst kein Geld in die Hände geben -darf, ja daß es gefährlich ist; der Beweis dafür liegt in dem heutigen -Gedächtnismahl. Ohne eine trockene Rinde Brot zu morgen und ... Stiefel, -und andere nötigen Dinge zu haben, -- wird heute Rum und Madeira und ... -Kaffee eingekauft. Ich habe es im Vorbeigehen gesehen. Morgen hängt -wieder alles bis auf das letzte Stück Brot an Ihnen, und das ist -unsinnig. Darum muß die Sammlung nach meiner persönlichen Ansicht so vor -sich gehen, daß die unglückliche Witwe von dem Gelde nichts wissen darf, -nur Sie allein würden es zu wissen bekommen. Ist das nicht richtiger?« - -»Ich weiß es nicht. Sie ist nur heute so ... nur einmal im Leben ... sie -wollte so gern sein Gedächtnis feiern, ihm die Ehre erweisen ... Sie ist -sonst sehr klug. Aber, wie Sie wollen, und ich werde Ihnen sehr, sehr, -sehr ... und sie werden Ihnen sehr ... Gott wird Ihnen ... und die -Waisen ...« - -Ssonja sprach nicht zu Ende und weinte. - -»So. Nun, also behalten Sie es im Auge, jetzt aber belieben Sie zur -Unterstützung Ihrer Verwandten fürs erste eine meinen Kräften -angemessene Summe von mir entgegenzunehmen. Ich möchte ausdrücklich -wünschen, daß mein Name dabei nicht genannt wird. Bitte ... da ich -sozusagen selbst Sorgen habe, bin ich nicht imstande, mehr ...« - -Und Peter Petrowitsch streckte Ssonja einen Zehnrubelschein entgegen, -wobei er ihn peinlich aufrollte. Ssonja nahm den Schein in Empfang, -errötete, sprang auf, murmelte etwas und begann sich eilig zu -verabschieden. Peter Petrowitsch begleitete sie feierlich bis zur Türe. -Sie sprang aus dem Zimmer, ganz erregt und abgequält und kehrte zu -Katerina Iwanowna in größter Verlegenheit zurück. - -Während dieses Vorganges stand Andrei Ssemenowitsch bald am Fenster, -bald ging er im Zimmer herum und wollte das Gespräch nicht unterbrechen. -Als Ssonja fortgegangen war, trat er auf Peter Petrowitsch zu und -reichte ihm feierlich die Hand. - -»Ich habe alles gehört und alles _gesehen_,« sagte er und betonte -besonders das letzte Wort. »Das ist edel, das heißt, ich wollte sagen, -human! Sie wollten keinen Dank, ich habe es gesehen! Und obwohl ich, -offen gestanden, prinzipiell mit der privaten Wohltätigkeit nicht -sympathisieren kann, weil sie nicht bloß das Übel nicht vertilgt, -sondern es nur noch mehr stärkt, muß ich gestehn, daß ich Ihre Handlung -mit Vergnügen gesehen habe, -- ja, ja, mir gefällt es.« - -»Oh, das ist Unsinn!« murmelte Peter Petrowitsch ein wenig erregt und -blickte aufmerksam Lebesjätnikoff an. - -»Nein, es ist kein Unsinn! Ein Mann, der wie Sie durch den gestrigen -Vorfall beleidigt und geärgert ist, und gleichzeitig fähig ist, an das -Unglück von anderen zu denken, -- ein solcher Mensch ist ... obwohl er -durch seine Handlungen einen sozialen Fehler begeht, -- dennoch ... der -Achtung würdig! Ich habe es sogar von Ihnen, Peter Petrowitsch, nicht -erwartet, um so mehr, nach Ihren Begriffen ... oh, wie Ihre Begriffe -Ihnen noch hinderlich sind! Wie Sie, zum Beispiel, dieser gestrige -Mißerfolg aufregt!« rief der gute kleine Andrei Ssemenowitsch aus und -fühlte wieder eine stärkere Sympathie für Peter Petrowitsch, »und wozu, -wozu brauchen Sie unbedingt diese Ehe, diese _gesetzliche_ Ehe, lieber, -edler Peter Petrowitsch? Warum brauchen Sie unbedingt diese -_Gesetzlichkeit_ in der Ehe? Nun, wenn Sie wollen, schlagen Sie mich, -aber ich freue mich, freue mich, daß diese Ehe nicht zustande gekommen -ist, daß Sie frei sind, daß Sie noch nicht ganz für die Menschheit -verloren sind, ich freue mich ... So, jetzt habe ich mich -ausgesprochen!« - -»Weil ich in Ihrer illegalen Ehe keine Hörner tragen und fremde Kinder -züchten will, aus diesem Grunde brauche ich die gesetzliche Ehe,« sagte -Luschin, nur um etwas zu sagen. - -Er war besonders besorgt und nachdenklich. - -»Kinder? Sie sagen Kinder?« fuhr Andrei Ssemenowitsch auf wie ein -Kampfroß, das das Signal gehört hatte, »Kinder -- das ist eine soziale -Frage und eine Frage von größter Wichtigkeit, das gebe ich zu, aber die -Kinderfrage wird sich anders lösen. Einige verwerfen vollkommen die -Kinder, wie alles, was mit Familie zu tun hat. Wir wollen über die -Kinder nachher reden und wollen uns jetzt mit den Hörnern beschäftigen. -Ich muß Ihnen gestehen, daß das mein schwacher Punkt ist. Dieser üble -Husarenausdruck, der Ausdruck eines Puschkins ist im künftigen Lexikon -undenkbar. Ja, und was sind Hörner? Oh, welch eine Verirrung! Was für -Hörner? Wozu Hörner? Welch ein Unsinn! Im Gegenteil, in der illegalen -Ehe können sie gar nicht existieren! Die Hörner sind nur die natürliche -Folge jeder gesetzlichen Ehe, sozusagen, ihre Korrektur, ein Protest, so -daß sie in diesem Sinne keineswegs erniedrigend sind ... Und wenn ich -irgendwann, -- diesen Unsinn einmal angenommen, -- gesetzlich -verheiratet sein sollte, so würde ich mich sogar über diese verfluchten -Hörner freuen; ich würde dann meiner Frau sagen, -- >mein Freund, ich -habe dich bis jetzt bloß geliebt, jetzt aber achte ich dich auch, weil -du verstanden hast, zu protestieren!< Sie lachen! Das kommt davon, weil -Sie nicht imstande sind, sich von den Vorurteilen loszureißen! Zum -Teufel, ich begreife doch, worin gerade die Unannehmlichkeit besteht, -wenn man in gesetzlicher Ehe betrogen wird, -- aber das ist doch bloß -eine niederträchtige Folge einer niederträchtigen Tatsache, wo beide -Teile erniedrigt sind. Wenn aber die Hörner einem offen aufgesetzt -werden, wie in der illegalen Ehe, dann existieren sie nicht mehr, sie -sind undenkbar und verlieren sogar die Benennung Hörner. Im Gegenteil, -Ihre Frau wird Ihnen bloß beweisen, wie sie Sie schätzt, indem sie Sie -für unfähig hält, ihrem Glücke im Wege zu sein und Sie für so reif -betrachtet, daß Sie wegen ihres neuen Mannes an ihr keine Rache nehmen -werden. Zum Teufel, ich träume zuweilen, daß, wenn ich mich verheiraten -würde, pfui! wenn ich heiraten würde, -- ob illegal, ob gesetzlich, das -ist einerlei, -- würde ich selbst zu meiner Frau einen Liebhaber -bringen, wenn sie sich noch keinen angeschafft hätte, und würde ihr -sagen, -- >mein Freund, ich liebe dich, aber ich wünsche auch, daß du -mich achtest, -- bitte, hier hast du ihn!< Ist das nicht das Richtige?« - -Peter Petrowitsch hörte zu und lachte, aber ohne besondere Begeisterung. -Er hörte fast nicht zu. Er überlegte sich etwas ganz anderes, und -Lebesjätnikoff merkte es auch schließlich. Peter Petrowitsch war -aufgeregt, rieb sich die Hände und dachte nach. Das alles kam Andrei -Ssemenowitsch später erst zum Bewußtsein. - - - II. - -Es würde schwer fallen, genau die Gründe anzuführen, aus welchen die -Idee dieses sinnlosen Gedächtnismahles in dem verstörten Gehirn von -Katerina Iwanowna entstanden war. Es waren beinahe zehn Rubel von dem -Gelde daraufgegangen, das ihr Raskolnikoff eigentlich zur Beerdigung -Marmeladoffs gegeben hatte. Vielleicht hielt sich Katerina Iwanowna dem -Verstorbenen gegenüber verpflichtet, sein Andenken »wie es sich gehört« -zu ehren, damit alle Mitbewohner und besonders Amalie Iwanowna wissen -sollten, daß er »nicht nur gar nicht schlechter als sie, vielleicht weit -besser war,« und daß niemand von ihnen das Recht hatte, sich über ihn zu -stellen. Vielleicht hatte hierzu jener besondere _Stolz der Armen_ am -meisten beigetragen, aus dem viele bei gewissen gesellschaftlichen -Gebräuchen, die, wie es einmal ist, für alle und jeden verbindlich sind, -ihre letzten Kräfte anspannen und die letzten Spargroschen ausgeben, um -bloß »nicht schlechter, als andere« zu sein, und damit die anderen nicht -darüber »reden« können. Es war auch sehr möglich, daß Katerina Iwanowna -das Verlangen hatte, gerade in diesem Falle, namentlich in dem -Augenblicke, wo sie scheinbar von aller Welt verlassen war, allen diesen -»unbedeutenden und schlimmen Mietern« zu zeigen, daß sie nicht nur -Lebensart hatte und sich auf Empfänge verstand, sondern daß sie gar -nicht zu solch einem Lose bestimmt war, daß sie »in einem feinen, ja in -dem aristokratischen Hause eines Obersten« erzogen war, und daß sie -durchaus nicht dazu erzogen war, die Diele selbst zu fegen und des -Nachts Kinderlumpen zu waschen. Diese Anfälle von Stolz und Eitelkeit -suchen zuweilen die ärmlichsten und unterdrücktesten Menschen heim und -verwandeln sich oft bei ihnen in ein gereiztes, unüberwindliches -Bedürfnis. Katerina Iwanowna gehörte eigentlich nicht zu den -Unterdrückten, man konnte sie durch Umstände töten, aber sie moralisch -_unterdrücken_, das heißt, sie einschüchtern und ihren Willen -unterwerfen, -- konnte man nicht. Außerdem sagte Ssonjetschka mit gutem -Grunde, daß ihr Verstand verstört sei. Man konnte es freilich nicht -positiv und endgültig sagen, doch in letzter Zeit, in dem letzten Jahre, -wurde ihr armer Kopf zu stark gequält, als daß er nicht zum Teil -gelitten hätte. Und eine stark fortgeschrittene Schwindsucht trägt auch, -wie die Ärzte sagen, zu einer Geistesstörung bei. - -_Weine_ in Mehrzahl und verschiedene Sorten gab es freilich nicht, -ebenso fehlte auch _Madeira_, -- das war übertrieben, Wein war aber da. -Es gab Branntwein, Rum und Lissaboner, alles von der schlechtesten -Sorte, aber in genügender Menge. Von Speisen waren außer Kutje drei oder -vier Gerichte vorhanden, alles aus der Küche von Amalie Iwanowna, dazu -wurden zwei Samowars aufgestellt für Tee und Punsch, die nach dem Essen -gereicht werden sollten. Katerina Iwanowna hatte alles selbst -eingekauft, als Hilfe hatte sie einen Mieter mitgehabt, einen kläglichen -Polen, der weiß Gott warum bei Frau Lippewechsel wohnte. Er hatte sich -sofort zu Katerina Iwanownas Verfügung gestellt, lief den ganzen -gestrigen Tag und den ganzen heutigen Morgen Hals über Kopf und mit -heraushängender Zunge herum und war besonders bemüht, daß man dies auch -bemerken solle. Wegen jeder Kleinigkeit kam er zu Katerina Iwanowna -gelaufen, war ihr sogar in die Kaufläden nachgegangen, nannte sie -fortwährend »Pani Chorunschina« und wurde ihr zuletzt bis zum Überdrusse -langweilig, obwohl sie zuerst behauptet hatte, daß sie ohne diesen -»bereitwilligen und großmütigen« Menschen vollkommen verloren wäre. -Katerina Iwanowna hatte die Eigenschaft in ihrem Charakter, den ersten -Besten, der ihr in den Weg lief, mit den hellsten und schönsten Farben -zu schmücken, ihn so zu loben, daß mancher sich schämte, allerhand -Umstände, die gar nicht existierten, zu seinem Preise zu erfinden, -selbst daran vollkommen aufrichtig und ehrlich zu glauben, und dann -plötzlich, mit einem Male, sich enttäuscht zu fühlen, alles abzubrechen, -den Menschen zu beschimpfen und hinauszuschmeißen, den sie noch vor -einigen Stunden buchstäblich angebetet hatte. Von Natur aus hatte sie -einen heiteren, fröhlichen und friedfertigen Charakter, infolge des -ununterbrochenen Unglücks und Mißerfolges begann sie geradezu _rasend_ -zu wünschen und zu verlangen, daß alle in Frieden und Freude leben -sollten und anders _nicht leben dürfen_, und der geringste Mißklang im -Leben, die allerkleinsten Mißerfolge brachten sie sofort in Wut, und sie -fing an, unmittelbar nach den stärksten Hoffnungen und Phantasien ihr -Schicksal zu verfluchen, alles, was ihr unter die Hände geriet, zu -zerreißen und fortzuwerfen und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. -Amalie Iwanowna hatte plötzlich in Katerina Iwanownas Augen eine -ungewöhnliche Bedeutung und außergewöhnliche Achtung errungen, -vielleicht einzig aus dem Grunde, weil dieses Gedächtnismahl vorbereitet -wurde und weil Amalie Iwanowna von ganzem Herzen bereit war, an allen -Besorgungen teilzunehmen. Sie hatte es übernommen, den Tisch zu decken, -die Wäsche, das Geschirr und alles übrige herzugeben und in ihrer Küche -das Essen zuzubereiten. Katerina Iwanowna überließ ihr alles und ging -auf den Friedhof. Und wirklich war alles aufs beste hergerichtet, -- der -Tisch war ziemlich reinlich gedeckt, das Geschirr, Gabeln, Messer, -Gläser, Weingläser, Tassen -- all dieses paßte nicht zusammen, war von -den verschiedenen Mietern zusammengeborgt, aber alles stand zur -bestimmten Stunde auf seinem Platze, und Amalie Iwanowna, im Vollgefühle -ihrer gut besorgten Aufgabe, begrüßte die Zurückkehrenden mit einem -gewissen Stolze; sie war sehr geputzt in einer Haube mit neuen -Trauerbändern und im schwarzen Kleide. Dieser Stolz, obwohl berechtigt, -mißfiel aus irgendeinem Grunde Katerina Iwanowna, »als hätte man in der -Tat ohne Amalie Iwanowna nicht verstanden, den Tisch zu decken«! Auch -die Haube mit den neuen Bändern erregte ihr Mißfallen, -- -»möglicherweise ist diese dumme Deutsche noch darauf stolz, daß sie die -Wirtin ist und sich aus Gnade bereit erklärt hat, den armen Mietern zu -helfen? Aus Gnade? Bitte sehr! Bei Katerina Iwanownas Papa, der Oberst -und beinahe Gouverneur war, wurde zuweilen der Tisch für vierzig -Personen gedeckt, so daß irgend eine Amalie Iwanowna oder besser gesagt -Ludwigowna, dort nicht mal in die Küche zugelassen worden wäre ...« -Katerina Iwanowna beschloß aber, ihre Gefühle nicht vor der Zeit zu -äußern, obgleich sie sich im Herzen fest vorgenommen hatte, Amalie -Iwanowna heute noch unbedingt abzutrumpfen und sie an ihren richtigen -Platz zu erinnern, sonst würde die sich Gott weiß was einbilden; -vorläufig behandelte sie sie bloß kalt. Eine andere Unannehmlichkeit -hatte auch teilweise zu der Gereiztheit von Katerina Iwanowna -beigetragen, -- zu der Beerdigung war, außer dem Polen, von den -Geladenen fast niemand erschienen, der aber hatte Zeit genug, auf den -Friedhof zu laufen; zu dem Gedächtnismahle dagegen waren nur die -Unansehnlichsten und Armen gekommen, viele sogar nicht ganz nüchtern, -sozusagen das Pack. Die älteren und angesehensten waren, wie -absichtlich, ferngeblieben, als hätten sie sich alle verabredet. Peter -Petrowitsch Luschin zum Beispiel, man kann sagen, der solideste von -allen Mietern, war nicht erschienen, während Katerina Iwanowna schon -gestern aller Welt, das heißt Amalie Iwanowna, Poletschka, Ssonjetschka -und dem Polen, erzählt hatte, daß dieser edelste und großmütigste Mann -mit besten Verbindungen und von sehr großem Vermögen, ein früherer -Freund ihres ersten Mannes, der in dem Hause ihres Vaters verkehrt habe, -ihr versprochen hätte, alle Mittel in Bewegung zu setzen, um ihr eine -bedeutende Pension zu verschaffen. Wir wollen hierbei bemerken, daß, -wenn Katerina Iwanowna mit Verbindungen und Vermögen anderer Leute -prahlte, sie es vollkommen uneigennützig, sozusagen aus übervollem -Herzen tat, nur aus dem Vergnügen allein, den Gelobten noch mehr zu -preisen und ihm einen größeren Wert zu verleihen. Nächst Luschin und -wahrscheinlich »seinem Beispiele folgend« war auch »dieser üble, -schändliche Lebesjätnikoff« nicht erschienen. Was bildet sich denn -dieser ein? Man hatte ihn bloß aus Gnade und weil er in einem Zimmer mit -Peter Petrowitsch lebte und sein Bekannter war, eingeladen; es wäre -peinlich für ihn gewesen, nicht eingeladen zu sein. Auch eine feine Dame -mit ihrer Tochter, »einer überreifen alten Jungfer,« die erst seit zwei -Wochen bei Amalie Iwanowna lebten, waren nicht erschienen; sie hatten -sich trotz ihres kurzen Aufenthaltes hier schon einige Male über den -Lärm und das Geschrei in Marmeladoffs Zimmer, besonders, wenn der -Verstorbene betrunken nach Hause gekommen war, beklagt. Das hatte -Katerina Iwanowna durch Amalie Iwanowna erfahren, wenn diese sich mit -Katerina Iwanowna zankte, ihr drohte, sie und die ganze Familie -hinauszujagen, und dabei aus vollem Halse schrie, daß sie »anständige -Mieter, deren Fußtritt Sie nicht mal wert sind,« beunruhige. Katerina -Iwanowna hatte absichtlich beschlossen, diese Dame und ihre Tochter, -deren »Fußtritt sie angeblich nicht wert sei,« einzuladen, und um so -mehr, weil jene bei zufälligen Begegnungen sich hochmütig abwandte, -- -damit sie wisse, daß man hier »edler denkt und fühlt und sie, ohne sich -des Bösen zu erinnern, einlade,« und damit sie sehen sollten, daß -Katerina Iwanowna nicht gewohnt sei, in solchen Verhältnissen zu leben. -Es war unbedingt vorausgesetzt, ihnen allen bei Tische zu erklären und -zu erwähnen, daß ihr verstorbener Vater beinahe Gouverneur gewesen sei, -und gleichzeitig indirekt zu verstehen zu geben, daß es überflüssig -wäre, sich bei Begegnungen abzuwenden, und daß es äußerst dumm wäre. -Ebenso war der dicke Oberstleutnant, eigentlich war er Stabskapitän -außer Dienst, nicht erschienen, es stellte sich heraus, daß er seit dem -gestrigen Morgen vor Trunkenheit »ohne Hinterbeine« war. Mit einem -Worte: es waren bloß erschienen, -- der Pole, dann ein häßlicher -schweigsamer Kanzlist, in einem stark glänzenden Frack, mit Finnen im -Gesichte und einem widerlichen Geruche und noch ein tauber und fast -erblindeter alter Mann, der einst in einem Postamt gedient hatte und den -jemand seit undenkbaren Zeiten und aus unbekannten Gründen bei Amalie -Iwanowna untergebracht hatte. Es war auch ein betrunkener -verabschiedeter Leutnant, eigentlich ein Proviantmeister, erschienen mit -einem höchst unanständigen lauten Lachen, und: »stellen Sie sich vor,« -ohne Weste! Einer von den Gästen setzte sich direkt an den Tisch, ohne -sogar Katerina Iwanowna zu begrüßen, und zuguterletzt tauchte eine -Person im Schlafrocke auf, da sie keine Kleider besaß, aber das war so -unanständig, daß es den Bemühungen von Amalie Iwanowna und dem Polen -gelang, ihn hinauszuexpedieren. Der Pole hatte übrigens noch zwei andere -Polen mitgebracht, die niemals bei Amalie Iwanowna gewohnt hatten, und -die niemand vorher in ihrem Hause gesehen hatte. Dies alles reizte -Katerina Iwanowna in höchstem Grade. »Für wen waren schließlich denn -alle Vorbereitungen getroffen?« Man hatte sogar die Kinder, um an Platz -zu gewinnen, nicht am Tische untergebracht, der das ganze Zimmer -einnahm, sondern für sie in der hinteren Ecke auf einem Kasten gedeckt, -wobei die beiden kleineren auf einer Bank saßen, Poletschka aber, als -die Erwachsene, mußte auf sie aufpassen, sie füttern und ihnen »wie -Kindern aus feinem Hause« die Näschen putzen. Mit einem Worte, Katerina -Iwanowna glaubte alle mit doppelter Würde und sogar mit Hochmut begrüßen -zu müssen. Manche blickte sie besonders streng an und bat sie von oben -herab, sich an den Tisch zu setzen. Da sie aber aus irgendeinem Grunde -meinte, Amalie Iwanowna für alle Nichterschienenen verantwortlich machen -zu müssen, begann sie plötzlich, sie äußerst nachlässig zu behandeln, -was jene sofort merkte und dadurch sehr pikiert wurde. Solch ein Anfang -deutete auf kein gutes Ende. Endlich hatten alle Platz genommen. -Raskolnikoff trat fast in demselben Augenblick ein, als sie von dem -Friedhofe zurückkehrten. Katerina Iwanowna war überaus erfreut, ihn zu -sehen, erstens, weil er der einzige »gebildete« von allen Gästen war und -»wie bekannt, nach zwei Jahren in der hiesigen Universität einen -Lehrstuhl einnehmen werde,« und zweitens, weil er sofort und ehrerbietig -sich entschuldigte, daß er trotz seines Wunsches zu der Beerdigung nicht -hatte kommen können. Sie stürzte sich buchstäblich auf ihn, setzte ihn -bei Tisch neben sich zur linken Hand, zur rechten saß Amalie Iwanowna, -und wandte sich ununterbrochen an Raskolnikoff, trotz ihrer beständigen -Unruhe und Sorge, daß das Essen auch richtig herumgereicht wurde und -alle erhielten, trotz des qualvollen Hustens, der sie alle Augenblicke -unterbrach und peinigte, und der sich in diesen letzten zwei Tagen -besonders verstärkt zu haben schien. Sie beeilte sich, ihm halb -flüsternd alle angesammelten Gefühle und ihre ganze gerechte Entrüstung -über das mißlungene Gedächtnismahl mitzuteilen, wobei die Entrüstung oft -unabsichtlich und ohne jede Berechnung, einem ausgelassenen Lachen über -die versammelten Gäste, besonders aber über die Wirtin, Platz machte. - -»An allem ist dieser Kuckuck schuld. Sie wissen, wen ich meine, -- die -dort, dort!« und Katerina Iwanowna wies mit dem Kopfe auf die Wirtin. -»Sehen Sie sie an, -- sie hat die Augen aufgesperrt, fühlt, daß wir über -sie reden, kann aber nichts verstehn. Pfui, so eine Eule! Ha--ha--ha! -... Kche--kche--kche!« hustete sie. »Und was will sie mit ihrer Haube! -Kche--kche--kche! Haben Sie gemerkt, sie möchte gern, daß alle Gäste -meinen sollen, sie beschütze mich und erweise mir mit ihrem Hiersein -eine Ehre. Ich habe sie gebeten, wie man eine anständige Person bittet, -bessere Leute, und zwar die Bekannten des Verstorbenen, einzuladen, und -sehen Sie, wen sie hergebracht hat, -- allerhand Narren! Schmutzfinke! -Sehen Sie nur diesen da mit dem unreinen Teint, -- das ist doch eine -Rotznase auf zwei Beinen! Und diese Polen ... ha--ha--ha! -Kche--kche--kche! Niemand, niemand hat sie vorher hier gesehen, auch ich -nicht. Wozu sind die gekommen, frage ich Sie? Wie hübsch sie sitzen, -nebeneinander. -- Pan, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen zu, -»haben Sie genug vorgelegt? Nehmen Sie noch? Trinken Sie Bier! Wollen -Sie nicht Schnaps? Sehen Sie, -- er ist aufgesprungen und verbeugt sich, -sehen Sie, sehen Sie, -- sie sind wahrscheinlich sehr hungrig, die -Armen! Tut nichts, mögen sie essen! Sie lärmen wenigstens nicht, aber -... aber ich fürchte ... für die silbernen Löffel der Wirtin! ... Amalie -Iwanowna!« wandte sie sich plötzlich an die Wirtin laut, »ich sage Ihnen -im voraus, falls Ihre Löffel gestohlen werden, übernehme ich keine -Verantwortung! Ha--ha--ha!« lachte sie, wandte sich wieder an -Raskolnikoff, wies wieder auf die Wirtin und freute sich über ihre -Bemerkung. »Sie hat es nicht verstanden, sie hat wieder nichts -verstanden! Sehen Sie, wie sie mit aufgesperrtem Munde dasitzt, -- wie -eine echte Eule, eine Eule mit neuen Bändern, ha--ha--ha!« - -Das Lachen verwandelte sich von neuem in einen unerträglichen Husten, -der minutenlang anhielt. Auf ihrem Taschentuch zeigte sich Blut, und -Schweißtropfen traten auf die Stirne. Sie zeigte Raskolnikoff schweigend -das Blut, und kaum hatte sie sich erholt, flüsterte sie mit roten -Flecken auf den Wangen ihm lebhaft wieder zu. - -»Sehen Sie, ich habe ihr einen sehr heiklen Auftrag gegeben, diese Dame -und ihre Tochter einzuladen. Sie wissen doch, von wem ich spreche? Hier -mußte man in der zartesten Weise, in der geschicktesten Art handeln, sie -war aber so ungeschickt, daß diese angereiste dumme Person, dieses -aufgeblasene Geschöpf, diese unbedeutende Provinzmadam, sie die Witwe -irgendeines Majors, die sich hier um eine Pension bemüht und bei den -Behörden deswegen herumläuft ... und die mit ihren fünfundfünfzig Jahren -sich schminkt und färbt ... was allgemein bekannt ist ... daß dieses -Geschöpf nicht nur sich für zu gut hielt, hier zu erscheinen, sondern -sich nicht einmal entschuldigen ließ, wie es in diesen Fällen doch die -gewöhnlichste Höflichkeit verlangt! Ich kann nicht begreifen, warum auch -Peter Petrowitsch nicht gekommen ist? Und wo ist Ssonja? Wo ist sie nur -hingegangen? Ah, da ist sie ja! Ssonja, wo warst du? Merkwürdig, daß du -sogar am Beerdigungstage deines Vaters so unpünktlich bist. Rodion -Romanowitsch, sie soll sich neben Sie setzen. Hier ist dein Platz, -Ssonjetschka ... nimm, was dir gefällt. Nimm von dem Fisch, er ist gut. -Hat man den Kindern auch etwas gegeben? Poletschka, habt ihr alles? -Kche--kche--kche! Nun, gut. Sei ein artiges Kind, Lene und du, Kolja, -zapple nicht mit den Beinen, sitz, wie ein anständiges Kind sitzen muß. -Was sagst du, Ssonjetschka?« - -Ssonja beeilte sich sofort, ihr die Entschuldigung von Peter Petrowitsch -mitzuteilen und versuchte so laut zu sprechen, daß es alle hören -konnten, gebrauchte gewählte und ehrerbietige Ausdrücke, die sie -absichtlich Peter Petrowitsch andichtete. Sie fügte hinzu, daß Peter -Petrowitsch sie besonders gebeten habe, mitzuteilen, daß er -unverzüglich, sobald es ihm nur möglich sei, herkommen würde, um in -_geschäftlichen Angelegenheiten_ allein mit Katerina Iwanowna zu -sprechen und zu verabreden, was man jetzt und künftig unternehmen könnte -und dergleichen mehr. - -Ssonja wußte, daß dies Katerina Iwanowna friedlicher stimmen und -beruhigen würde, sie würde sich dadurch geschmeichelt fühlen und ihr -Stolz würde befriedigt sein. Sie setzte sich neben Raskolnikoff, den sie -hastig begrüßte und flüchtig, doch voll Interesse anblickte. Während der -folgenden Zeit vermied sie aber ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen. -Sie war zerstreut, obwohl sie die ganze Zeit Katerina Iwanowna im Auge -behielt, um ihre Wünsche zu erraten. Weder sie, noch Katerina Iwanowna -waren in Trauer, da sie keine Kleider hatten; Ssonja hatte ein -dunkelbraunes Kleid an und Katerina Iwanowna ihr einziges, ein -dunkelgestreiftes Kattunkleid. Die Mitteilung über Peter Petrowitsch -verbreitete sich rasch. Als Katerina Iwanowna mit Würde Ssonja angehört -hatte, erkundigte sie sich ebenso würdevoll, wie es Peter Petrowitsch -gehe? Dann _flüsterte_ sie hörbar Raskolnikoff zu, daß es für einen -angesehenen und soliden Menschen, wie Peter Petrowitsch, unmöglich -gewesen wäre, in solch eine »ungewöhnliche Gesellschaft« zu kommen, -trotz der großen Anhänglichkeit an ihre Familie und der alten -Freundschaft mit ihrem Papa. - -»Sehen Sie, darum bin ich auch Ihnen, Rodion Romanowitsch, so sehr -dankbar, daß Sie trotz solcher Umgebung Salz und Brot von mir nicht -verschmäht haben,« fügte sie fast laut hinzu, »übrigens bin ich -überzeugt, daß nur die besondere Freundschaft zu meinem armen -Verstorbenen Sie veranlaßt hat, Ihr Wort zu halten.« - -Sie blickte noch einmal voll Stolz und Würde ihre Gäste an und -erkundigte sich plötzlich mit besonderer Fürsorge laut über den Tisch -hinüber bei dem tauben alten Manne, »ob er nicht mehr vom Braten nehmen -möchte und ob er Lissaboner bekommen habe?« Der Alte antwortete nicht -und konnte lange nicht begreifen, wonach man ihn frage, obwohl seine -Nachbarn aus Scherz ihn anzustoßen begannen. Er blickte nur mit offenem -Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch mehr -hervorrief. - -»Ist das ein Holzklotz! Sehen Sie doch nur! Wozu hat man den hierher -gebracht? Was Peter Petrowitsch anbetrifft, so war ich stets seiner -sicher,« fuhr Katerina Iwanowna fort, Raskolnikoff zu erzählen, »so -gleicht er selbstverständlich nicht ...« wandte sie sich laut und scharf -und mit äußerst strenger Miene zu Amalie Iwanowna, daß sie darüber -erschrak, »so gleicht er nicht jenen aufgedonnerten Madams mit ihren -Schleppen, die bei meinem Papa nicht mal als Köchinnen ihren Dienst -verrichten gedurft hätten, und denen mein verstorbener Mann nur deshalb -die Ehre erwiesen hatte, sie zu empfangen, weil er eine unerschöpfliche -Güte hatte.« - -»Ja, er liebte eins zu trinken, ja, er liebte es und trank auch!« rief -plötzlich der verabschiedete Proviantmeister und leerte das zwölfte Glas -Schnaps. - -»Mein verstorbener Mann hatte diese Schwäche, das wissen alle,« stürzte -sich Katerina Iwanowna plötzlich auf ihn, »aber er war ein guter und -edler Mensch, der seine Familie liebte und achtete; nur das eine war -schlimm, daß er in seiner Güte allerhand verdorbenen Leuten zu sehr -traute und weißgott mit wem trank, sogar mit solchen, die seine -Stiefelsohle nicht wert waren! Stellen Sie sich vor, Rodion -Romanowitsch, man fand in seiner Tasche einen Pfefferkuchenhahn, -- er -ging total betrunken heim, und dachte doch an seine Kinder.« - -»Einen Ha--hn? Sie belieben zu sagen -- ei--nen Hahn?« rief der -Proviantmeister. - -Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie dachte über etwas -nach und seufzte. - -»Sie meinen auch sicher, wie alle, daß ich zu streng zu ihm war,« fuhr -sie fort, sich an Raskolnikoff wendend. »Das ist nicht richtig! Er hat -mich geachtet, er hat mich sehr, sehr geachtet! Er war eine gute Seele. -Und zuweilen tat er mir so leid! Er saß manchmal in der Ecke und sah -mich an, da tat er mir so leid, ich wollte zu ihm freundlich sein, -dachte mir aber, wenn ich jetzt freundlich zu ihm bin, betrinkt er sich -wieder. Nur mit Strenge konnte man ihn einigermaßen davon zurückhalten.« - -»Ja, es ist vorgekommen, daß er an den Haaren gezerrt wurde, es ist -vorgekommen, öfters,« brüllte wieder der Proviantmeister und leerte noch -ein Glas. - -»Es wäre angebracht, manche Dummköpfe nicht nur an den Haaren zu zerren, -sondern mit einem Besenstiel zu verprügeln. Ich rede jetzt nicht von dem -Verstorbenen!« trumpfte Katerina Iwanowna den Proviantmeister ab. - -Die roten Flecken auf ihren Wangen traten immer stärker hervor und ihre -Brust hob sich. Nur wenig fehlte und ein Skandal begann. Viele -kicherten; das wäre ihnen offenbar sehr angenehm gewesen. Man begann den -Proviantmeister zu stoßen und ihm etwas zuzuflüstern. Man wollte beide -aufeinander hetzen. - -»Erlau--ben Sie mir zu fragen, wen Sie damit meinten,« begann der -Proviantmeister wieder, »wessen Ehre ... haben Sie soeben ... Übrigens, -es ist unnötig! Unsinn! Eine Witwe! Eine arme Witwe! Ich verzeihe ... -Ich passe!« und er goß sich wieder Schnaps ein. - -Raskolnikoff hörte schweigend, voll Widerwillen zu. Er nahm nur aus -Höflichkeit, rührte kaum die Stücke an, die ihm Katerina Iwanowna alle -Augenblicke auf den Teller legte und aß bloß, um sie nicht zu kränken. -Er blickte Ssonja aufmerksam an. Ssonja aber wurde immer unruhiger und -besorgter; sie ahnte, daß das Gedächtnismahl kein friedliches Ende -nehmen werde und beobachtete voll Angst die sich steigernde Gereiztheit -von Katerina Iwanowna. Sie wußte, daß sie der Hauptgrund war, warum die -beiden zugereisten Damen so verachtungsvoll mit der Einladung Katerina -Iwanownas umgegangen waren. Sie hatte von Amalie Iwanowna selbst gehört, -daß die Mutter allein schon durch die Einladung beleidigt worden war und -die Frage gestellt hatte, »wie sie es verantworten könne, ihre Tochter -neben _diese Person_ zu setzen?« Ssonja ahnte, daß Katerina Iwanowna -dies irgendwie erfahren habe, und eine Kränkung Ssonjas bedeutete für -Katerina Iwanowna mehr, als eine persönliche, mehr als eine Kränkung -ihrer Kinder, ihres Papas, mit einem Worte, es war für sie eine tödliche -Beleidigung, und Ssonja wußte, daß Katerina Iwanowna sich nicht eher -beruhigen werde, »bis sie diesen geputzten Krähen bewiesen hätte, daß -sie beide ...« und dergleichen mehr. Wie absichtlich, hatte in diesem -Augenblicke jemand vom anderen Ende des Tisches Ssonja einen Teller -zugesandt, worauf zwei Herzen, durchbohrt mit einem Pfeile, aus Brot -geknetet waren. Katerina Iwanowna flammte auf und bemerkte sofort laut -über den ganzen Tisch weg, daß der Absender sicher »ein betrunkener -Esel« sei. Amalie Iwanowna, die auch etwas Schlimmes ahnte, und -gleichzeitig durch den Hochmut Katerina Iwanownas im tiefsten Innern -gekränkt war, begann ohne jede Veranlassung, nur um die unangenehme -Stimmung der Gesellschaft abzulenken und gleichzeitig um ihr Ansehen in -aller Augen zu heben, zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr »Karl aus -der Apotheke« eines Nachts in einer Droschke nach Hause fuhr und der -Kutscher ihn ermorden wollte, daß Karl ihn sehr, sehr gebeten habe, ihn -nicht zu ermorden, »die Hände gefaltet und geweint hätte und so -erschrocken wäre und daß die Angst sein Herz durchbohrt hätte«. Katerina -Iwanowna bemerkte aber lächelnd, daß Amalie Iwanowna keine russischen -Anekdoten erzählen solle. Jene fühlte sich dadurch noch mehr gekränkt -und erwiderte, daß ihr Vater in Berlin ein sehr, sehr bedeutender Mann -gewesen sei und daß er »immer die Hände in die Taschen steckte«. Die -lachlustige Katerina Iwanowna konnte ein lautes Lachen nicht -unterdrücken, so daß Amalie Iwanowna die letzte Geduld verlor und kaum -mehr sich beherrschen konnte. - -»Das ist mal eine Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna Raskolnikoff zu und -wurde fast heiter gestimmt, »sie wollte sagen, daß er die Hände in den -Taschen hatte, sie brachte es aber so heraus, als ob er ein Langfinger -gewesen wäre, ha--ha! Haben Sie auch schon bemerkt, daß alle diese -Ausländer in Petersburg, hauptsächlich aber die Deutschen, die -irgendwoher zu uns kommen, dümmer sind, als wir? Sie müssen doch -zugeben, daß man nicht erzählen kann, daß >Karls Herz aus Angst -durchbohrt sei,< und daß er -- so eine Memme! -- anstatt den Kutscher zu -knebeln, die >Hände gefaltet, geweint und sehr gebeten hat<. Ach, so ein -Holzklotz! Und sie glaubt noch, daß dies sehr rührend sei und ahnt -nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist dieser betrunkene -Proviantmeister noch bei weitem klüger als sie; man sieht, daß er ein -Bruder Liederlich ist und das bißchen Verstand vertrunken hat, diese -andere aber tut so ordentlich, sitzt ernst da ... Sehen Sie nur, wie sie -nun die Augen aufreißt. Sie ist böse! Ärgert sich! Ha--ha--ha! -Kche--kche--kche!« - -Als Katerina Iwanowna so lustig geworden war, kam sie auf allerhand -Dinge und erzählte plötzlich, wie sie mit Hilfe der in Aussicht -gestellten Pension unbedingt in ihrer Heimatsstadt T... eine Anstalt für -junge Mädchen aus besseren Ständen errichten werde. Katerina Iwanowna -hatte dies Raskolnikoff noch nicht selbst mitgeteilt und sie ließ sich -auf sehr ausführliche, verlockende Einzelheiten ein. Auf rätselhafte -Weise tauchte plötzlich in ihren Händen dasselbe »Ehrendiplom« auf, von -dem der verstorbene Marmeladoff in der Schenke Raskolnikoff schon -erzählt und dabei erwähnt hatte, daß Katerina Iwanowna, seine Gattin, -bei der Entlassung aus dem Stift mit einem Shawl »vor dem Gouverneur und -den übrigen hohen Personen« getanzt habe. Dieses Ehrendiplom mußte -offenbar Katerina Iwanowna jetzt als Zeugnis dienen, daß sie auch ein -Recht dazu habe, eine Erziehungsanstalt zu gründen, es war hauptsächlich -mit der Absicht hervorgeholt und in der Nähe aufbewahrt worden, um -endgültig »den beiden aufgedonnerten Krähen,« wenn sie zu dem -Gedächtnismahle gekommen wären, den Hochmut zu nehmen, und um ihnen -deutlich zu beweisen, daß Katerina Iwanowna aus einem sehr feinen Hause -stamme, »man kann sogar sagen, aus einem aristokratischen Hause« und die -Tochter eines Obersten und sicher mehr sei, als manche Abenteurerin, die -in der letzten Zeit so überhand nahmen. Das Ehrendiplom ging sofort von -Hand zu Hand unter den betrunkenen Gästen, was Katerina Iwanowna nicht -hinderte, weil darin tatsächlich _en toutes lettres_{[10]} bemerkt war, -daß sie die Tochter eines Hofrats und Ritters pp. sei, folglich in der -Tat beinahe die Tochter eines Obersten. Katerina Iwanowna, einmal -entflammt, begann unverzüglich über alle Einzelheiten des künftigen -schönen und ruhigen Lebens in T... sich zu verbreiten, -- über die -Gymnasiallehrer, die sie auffordern würde, in ihrer Anstalt Unterricht -zu geben, über einen ehrenwerten, alten Herrn, einen Franzosen Mangot, -der Katerina Iwanowna noch im Stifte in französischer Sprache -unterwiesen hatte, und der jetzt in T... sein Leben beschloß und sicher -für einen angemessenen Preis zu ihr kommen werde. Endlich kam sie auch -auf Ssonja zu sprechen, »die zusammen mit Katerina Iwanowna nach T... -reisen und dort in allem ihr behilflich sein solle«. Aber hier prustete -jemand am andern Ende des Tisches vor Lachen. Katerina Iwanowna gab sich -sofort den Anschein, als beachte sie nicht das Lachen am anderen Ende -des Tisches, erhob absichtlich die Stimme und begann mit Begeisterung -über die unzweifelhaften Vorzüge von Ssofja Ssemenowna als ihrer Stütze -zu reden, »über ihre Sanftmut, Geduld, Selbstaufopferung, edlen Sinn und -ihre Bildung,« wobei sie Ssonja auf die Wange tätschelte, aufstand und -sie ein paarmal innig küßte. Ssonja errötete und Katerina Iwanowna brach -plötzlich in Weinen aus, nannte sich selbst »eine nervenschwache dumme -Person, die ziemlich angegriffen sei, und daß es Zeit sei, ein Ende zu -machen, da alle gegessen hätten und daß jetzt Tee kommen könne«. Da -riskierte Amalie Iwanowna, gänzlich verschnupft, daß sie an der ganzen -Unterhaltung nicht den geringsten Anteil genommen hatte, und daß man sie -gar nicht angehört hatte, den letzten Versuch und erlaubte sich mit -unterdrücktem Ärger, Katerina Iwanowna eine äußerst sachliche und -tiefsinnige Bemerkung zu machen, daß man nämlich in der künftigen -Pensionsanstalt besonders auf die reine Wäsche der jüngeren Mädchen -achthaben müsse, und daß unbedingt eine tüchtige Dame da sein müsse, um -darauf aufzupassen, und zweitens darauf, daß die jungen Mädchen heimlich -in der Nacht keine Romane lesen könnten. Katerina Iwanowna, wirklich -angegriffen und sehr müde, und des Gedächtnismahls überdrüssig, schnitt -Amalie Iwanowna schroff das Wort mit der Bemerkung ab, daß sie »Unsinn -quatsche« und nichts verstehe; daß die Sorge um die Wäsche Sache der -Kastellanin sei und nicht der Vorsteherin einer Anstalt für junge -Mädchen aus besseren Ständen, und was das Lesen von Romanen anbetrifft, -sei ihre Bemerkung einfach unanständig, und sie bitte sie endlich zu -schweigen. Amalie Iwanowna ward rot und antwortete geärgert, daß sie es -nur gut gemeint hätte, und daß sie für die Wohnung schon lange kein Geld -erhalten habe. Katerina Iwanowna zeigte ihr sofort den ihr zukommenden -Platz, indem sie sagte, daß Amalie Iwanowna lüge, wenn sie behaupte, es -nur gut gemeint zu haben, weil sie schon gestern, als der Verstorbene -noch auf der Bahre lag, sie wegen der Wohnungsmiete gequält habe. Darauf -erwiderte Amalie Iwanowna mit großartiger Konsequenz, daß sie jene Damen -eingeladen hätte, aber daß die Damen darum nicht gekommen seien, weil -sie feine Damen seien und zu unfeinen Damen nicht gehen könnten. -Katerina Iwanowna hielt ihr sofort unter die Nase, daß sie, solch ein -Schmutzfink, gar nicht beurteilen könne, was in Wahrheit fein sei. -Amalie Iwanowna konnte das nicht vertragen und erklärte sofort, daß »ihr -Vater aus Berlin ein sehr, sehr wichtiger Mann gewesen sei, beide Hände -in die Taschen gesteckt habe und immer nur -- puff! puff! gemacht habe«! -Und um ihren Vater augenscheinlicher vorzustellen, sprang Amalie -Iwanowna vom Stuhle auf, steckte ihre beiden Hände in die Taschen, blies -die Wangen auf und begann mit dem Munde unbestimmte Töne, die -- puff! -puff! ähnelten, hervorzubringen, unter lautem Lachen von allen Mietern, -die Amalie Iwanowna absichtlich durch ihren Beifall reizten, weil sie -eine Prügelei voraussahen. Jenes nun konnte wiederum Katerina Iwanowna -nicht vertragen und sie sagte unverzüglich und laut, daß Amalie Iwanowna -vielleicht nie einen Vater gehabt habe, daß Amalie Iwanowna einfach eine -betrunkene Estin aus Petersburg sei und sicher irgendwo früher als -Köchin gedient habe, vielleicht aber auch etwas schlimmeres gewesen sei. -Amalie Iwanowna wurde krebsrot und kreischte, daß Katerina Iwanowna -vielleicht keinen Vater gehabt habe, daß sie aber einen Vater aus Berlin -gehabt und er einen langen Rock getragen und immer -- puff! puff! -- -gemacht habe! Katerina Iwanowna bemerkte mit Verachtung, daß ihre -Herkunft allen bekannt sei, und daß in diesem Ehrendiplom gedruckt sei, -daß ihr Vater Oberst war, daß aber der Vater von Amalie Iwanowna -- wenn -sie überhaupt einen Vater gehabt habe -- sicher ein Este aus Petersburg -war und Milch verkauft habe; am wahrscheinlichsten aber sei, daß sie gar -keinen Vater gehabt habe, weil es bis jetzt noch nicht festzustellen -sei, wie der Vatername von Amalie Iwanowna laute, ob Iwanowna oder -Ludwigowna? Da geriet Amalie Iwanowna ganz außer sich, schlug mit der -Faust auf den Tisch, fing an zu kreischen, daß sie Amalie Iwanowna und -nicht Ludwigowna heiße, daß der Name ihres Vaters Johann sei und daß er -Dorfschulze gewesen war und daß der Vater von Katerina Iwanowna niemals -Dorfschulze gewesen sei. Katerina Iwanowna erhob sich von ihrem Stuhle -und bemerkte streng, scheinbar mit ruhiger Stimme, -- obwohl sie ganz -bleich war und ihre Brust schwer atmete, -- daß, wenn sie noch einmal -wagen werde, ihren dreckigen Vater mit ihrem Papa auf gleiche Stufe zu -stellen, sie ihr die Haube von ihrem Kopfe herunterreißen und mit den -Füßen zertreten werde. Als Amalie Iwanowna das hörte, begann sie im -Zimmer herumzulaufen und schrie aus allen Kräften, daß sie die Wirtin -sei und daß Katerina Iwanowna sofort das Zimmer räumen solle; dann -raffte sie die silbernen Löffel vom Tische zusammen. Es erhob sich ein -Lärm und Getöse; die Kinder weinten. Ssonja stürzte zu Katerina Iwanowna -hin, um sie zurückzuhalten, als aber Amalie Iwanowna etwas von -»Sittenkontrolle« schrie, stieß Katerina Iwanowna Ssonja von sich, eilte -auf Amalie Iwanowna zu, um ihre Drohung bezüglich der Haube sofort wahr -zu machen. In diesem Augenblicke öffnete sich die innere Tür und auf der -Schwelle erschien Peter Petrowitsch Luschin. Er blieb stehen und warf -einen strengen und aufmerksamen Blick auf die ganze Gesellschaft. -Katerina Iwanowna stürzte zu ihm hin. - - - III. - -»Peter Petrowitsch!« rief sie. »Schützen Sie mich! Sagen Sie dieser -dummen Kreatur, daß sie eine gebildete Dame im Unglück nicht in dieser -Weise behandeln dürfe, daß es ein Gericht gibt ... ich werde zu dem -Generalgouverneur gehen ... Sie wird zur Verantwortung gezogen werden -... Gedenken Sie der Gastfreundschaft bei meinem Vater, schützen Sie die -Waisen!« - -»Erlauben Sie, meine Dame ... Erlauben Sie, erlauben Sie,« wehrte Peter -Petrowitsch ab. »Ich hatte gar nicht die Ehre, Ihren Herrn Vater gekannt -zu haben, wie Sie wohl wissen werden ... erlauben Sie, meine Dame!« -Jemand lachte laut. »Und an Ihren ewigen Zänkereien mit Amalie Iwanowna -teilzunehmen, habe ich nicht die Absicht ... Ich bin in eigener -Angelegenheit hergekommen ... und möchte sofort mit Ihrer Stieftochter, -Ssofja ... Iwanowna ... nicht wahr, so heißt sie ... sprechen. Erlauben -Sie, daß ich zu ihr gehe ...« - -Und Peter Petrowitsch machte einen kleinen Bogen um Katerina Iwanowna -und ging in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Ssonja befand. - -Katerina Iwanowna blieb auf demselben Fleck stehen, wie vom Donner -gerührt. Sie konnte nicht begreifen, wie Peter Petrowitsch die -Gastfreundschaft ihres Papas leugnen konnte. Nachdem sie sich einmal -dies in den Kopf gesetzt hatte, glaubte sie auch schon selber heilig und -fest daran. Auch der geschäftliche, trockene Ton Peter Petrowitschs ... -in dem Verachtung, ja etwas Drohendes lag, machte sie bestürzt. Bei -seinem Erscheinen waren alle allmählich stiller geworden. Abgesehen -davon, daß dieser »nüchterne und ernste« Mensch von der ganzen -Versammlung scharf abstach, merkte man, daß er aus einem wichtigen -Anlasse hergekommen war, daß eine ungewöhnliche Ursache ihn solch eine -Gesellschaft aufzusuchen veranlaßt hatte, und daß es jetzt wohl etwas -geben werde. Raskolnikoff, der neben Ssonja stand, wich zur Seite, um -Peter Petrowitsch vorbei zu lassen; Luschin schien ihn gar nicht bemerkt -zu haben. Nach einem Augenblick erschien Lebesjätnikoff auf der -Schwelle; er trat nicht in das Zimmer herein, sondern blieb mit einem -besonderen Interesse dort stehen; er hörte zu, wie einer, der etwas -nicht begreift. - -»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber es ist eine wichtige -Angelegenheit,« bemerkte Peter Petrowitsch im allgemeinen, »ich freue -mich, ein größeres Publikum zu haben. Amalie Iwanowna, ich bitte Sie -sehr, als Wirtin dieser Wohnung, mein folgendes Gespräch mit Ssofja -Iwanowna aufmerksam anzuhören. Ssofja Iwanowna,« fuhr er fort, sich -direkt an die äußerst erstaunte und im voraus erschrockene Ssonja -wendend, »von meinem Tische, in dem Zimmer meines Freundes Andrei -Ssemenowitsch Lebesjätnikoff ist mit Ihrem Weggehen eine Reichsbanknote -im Werte von hundert Rubel, die mir gehörte, verschwunden. Wenn Sie auf -irgendeine Weise es wissen und uns zeigen, wo die Banknote sich jetzt -befindet, so versichere ich Ihnen mit meinem Ehrenworte und rufe alle -als Zeugen auf, daß die Sache damit erledigt sein wird. Im -entgegengesetzten Falle werde ich gezwungen sein, sehr ernste Maßregeln -zu ergreifen, und dann ... klagen Sie sich selbst an.« - -Ein peinliches Schweigen trat im Zimmer ein. Sogar die weinenden Kinder -verstummten. Ssonja stand totenblaß da, sah Luschin an und konnte nichts -antworten. Sie schien ihn immer noch nicht zu verstehen. Es vergingen -einige Sekunden. - -»Nun, wie ist's?« fragte Luschin und blickte sie scharf an. - -»Ich weiß nicht ... Ich weiß nichts ...« sagte endlich Ssonja mit -schwacher Stimme. - -»Nicht? Sie wissen nichts?« fragte Luschin sie noch einmal und schwieg -wieder. »Denken Sie nach, Mademoiselle,« begann er dann streng, aber als -rede er ihr immer noch im Guten zu, »überlegen Sie es sich, ich bin -bereit, Ihnen noch einige Zeit zum Überlegen zu geben. Sehen Sie, -- -wenn ich nicht so fest überzeugt wäre, so hätte ich selbstverständlich -bei meiner Erfahrenheit nicht riskiert, Sie in dieser direkten Weise zu -beschuldigen; denn für eine solche öffentliche und direkte, aber falsche -oder nur auch irrtümliche Beschuldigung kann ich selbst zur -Verantwortung gezogen werden. Ich weiß es. Heute Morgen wechselte ich, -zu meinen eigenen Zwecken, einige fünfprozentige Staatspapiere in der -nominellen Summe von dreitausend Rubel. Die Berechnung ist in meinem -Notizbuche eingetragen. Nach Hause gekommen, begann ich, -- mein Zeuge -ist Andrei Ssemenowitsch, -- das Geld zu zählen, und nachdem ich -zweitausend und dreihundert Rubel aufgezählt hatte, steckte ich sie in -meine Brieftasche und die Brieftasche in die Seitentasche meines Rockes. -Auf dem Tische blieben fünfhundert Rubel in Banknoten liegen und unter -ihnen drei Noten zu je hundert Rubel. In diesem Augenblick kamen Sie -- -auf meine Bitte hin -- und die ganze Zeit waren Sie äußerst verlegen, so -daß Sie dreimal mitten im Gespräch aufstanden und sich aus irgendeinem -Grunde beeilten, fortzugehen, obgleich unsere Unterredung noch nicht -beendet war. Andrei Ssemenowitsch kann dies alles bestätigen. -Wahrscheinlich werden Sie selbst, Mademoiselle, nicht ablehnen, -zuzugeben, daß ich Sie durch Andrei Ssemenowitsch nur aus dem einzigen -Grunde rufen ließ, um mit Ihnen über die schlimme und hilflose Lage -Ihrer Verwandten Katerina Iwanowna, zu der ich zum Gedächtnismahl nicht -kommen konnte, zu sprechen und Ihnen vorzuschlagen, wie es von Nutzen -wäre, zu ihren Gunsten irgend etwas, wie eine Sammlung, eine Verlosung -oder ähnliches, zu veranstalten. Sie haben mir gedankt und sogar Tränen -vergossen -- ich erzähle alles, wie es war, um Sie erstens an alles zu -erinnern, und zweitens, um Ihnen zu zeigen, daß meinem Gedächtnisse -nicht das Geringste entschwunden ist. Darauf nahm ich vom Tische einen -Zehnrubelschein und überreichte ihn Ihnen, als vorläufige Unterstützung -für Ihre Verwandten. Das alles hat Andrei Ssemenowitsch gesehen. Dann -begleitete ich Sie zur Türe, -- Sie waren immer noch sehr verlegen. Ich -blieb mit Andrei Ssemenowitsch allein, unterhielt mich mit ihm etwa zehn -Minuten, und Andrei Ssemenowitsch ging bald hinaus. Ich wandte mich von -neuem zu dem Tische, wo das Geld lag, mit der Absicht, es nachzuzählen -und es, wie ich vorher schon beschlossen hatte, gesondert aufzuheben. Zu -meiner Verwunderung fehlte von den übrigen eine Banknote von hundert -Rubel. Bitte, überlegen Sie es sich, -- Andrei Ssemenowitsch kann ich in -keinem Falle in Verdacht haben, ich würde mich selbst bei diesem -Gedanken schämen. Bei der Berechnung konnte ich mich auch nicht irren, -denn eine Minute vor Ihrem Kommen hatte ich alles nachgezählt und die -Summe richtig gefunden. Sie müssen selbst zugeben, daß, wenn ich Ihrer -Verlegenheit, Ihrer Eile wegzugehen und des Umstandes denke, daß Sie die -Hände eine Weile auf dem Tische hatten, und wenn ich schließlich Ihre -gesellschaftliche Lage und die mit ihr verknüpften Gewohnheiten in -Betracht zog, ich sozusagen zu meinem Entsetzen und gegen meinen Willen -_gezwungen_ war, bei diesem Verdachte stehen zu bleiben, -- der sicher -grausam, aber -- gerechtfertigt ist! Ich füge hinzu und wiederhole, -- -daß trotz meiner ganzen _klaren_ Überzeugung ich vollkommen verstehe, -daß dennoch in meiner jetzigen Beschuldigung ein gewisses Risiko für -mich liegt. Aber, ich habe es nicht unterlassen; ich bin gegen Sie -aufgetreten und will Ihnen auch sagen warum, -- einzig und allein, meine -Dame, auf Grund Ihres schwärzesten Undankes! Wie? Ich fordere Sie aus -Interesse für Ihre ärmste Verwandte auf, ich überlasse Ihnen eine meinen -Kräften entsprechende Gabe von zehn Rubel, und Sie danken mir gleich -darauf, auf der Stelle, für alles mit dieser Handlung! Nein, das ist -nicht mehr schön! Eine Lehre ist notwendig! Denken Sie nach; noch mehr, -ich bitte Sie, als Ihr aufrichtiger Freund, -- denn einen besseren -Freund können Sie in diesem Augenblicke nicht haben, -- besinnen Sie -sich! Sonst werde ich unbarmherzig sein! Nun, also!« - -»Ich habe nichts von Ihnen genommen,« -- flüsterte Ssonja entsetzt, -- -»Sie gaben mir zehn Rubel, bitte, nehmen Sie sie wieder, hier.« - -Ssonja zog ihr Taschentuch aus der Tasche hervor, suchte den Knoten, -löste ihn, nahm einen Zehnrubelschein heraus und streckte ihn Luschin -entgegen. - -»Und die übrigen hundert Rubel wollen Sie nicht gestehen?« -- sagte er -vorwurfsvoll und eindringlich, ohne den Schein zu nehmen. - -Ssonja blickte ringsum. Alle schauten sie mit schrecklichen, strengen, -spöttischen und haßerfüllten Gesichtern an. Sie blickte Raskolnikoff an -... er stand mit gekreuzten Armen an der Wand und sah sie mit einem -brennenden Blick an. - -»Oh, Gott!« -- entrang es Ssonja. - -»Amalie Iwanowna, man muß die Polizei benachrichtigen, und darum bitte -ich Sie sehr, vorläufig nach dem Hausknecht zu schicken,« -- sagte -Luschin leise und freundlich. - -»Gott der Barmherzige! Ich wußte, daß sie es gestohlen hat!« -- schlug -Amalie Iwanowna die Hände zusammen. - -»Sie wußten es?« -- fiel Luschin ein, -- »also hatten Sie auch früher -wenigstens gewisse Gründe, solches zu glauben. Ich bitte Sie, -verehrteste Amalie Iwanowna, sich an Ihre Worte zu erinnern, die -übrigens in Gegenwart von Zeugen ausgesprochen sind.« - -Von allen Seiten erhob sich plötzlich lautes Reden. Alle rührten sich. - -»Wie -- wie!« -- rief plötzlich Katerina Iwanowna, zu sich gekommen, und -stürzte zu Luschin, -- »wie! Sie beschuldigen sie des Diebstahls? -Ssonja? Ach, ihr Schufte, ihr Schufte!« - -Und sie eilte zu Ssonja und umarmte sie fest mit ihren hageren Armen. - -»Ssonja! Wie durftest du von ihm zehn Rubel nehmen! Oh, du Dumme! Gib -sie her! Gib mir sofort diese zehn Rubel -- da haben Sie sie!« - -Katerina Iwanowna entriß Ssonja das Papier, zerknüllte es und warf es -direkt Luschin ins Gesicht. Der Papierknäuel traf ihn ins Auge und fiel -auf die Diele nieder. Amalie Iwanowna beeilte sich, das Geld aufzuheben. -Peter Petrowitsch wurde böse. - -»Halten Sie diese Verrückte!« -- rief er. - -In diesem Augenblicke erschienen in der Türe neben Lebesjätnikoff noch -einige Gesichter, zwischen denen auch die der beiden zugereisten Damen -hervorguckten. - -»Wie! Verrückt? Ich soll verrückt sein? Dummkopf!« -- schrie Katerina -Iwanowna. -- »Du bist selbst ein Dummkopf, du Rechtsverdreher, -niederträchtiger Mensch! Ssonja, Ssonja soll von ihm Geld genommen -haben! Ssonja soll eine Diebin sein! Sie wird dir noch Geld geben, -Dummkopf!« -- Und Katerina Iwanowna lachte hysterisch. -- »Habt ihr -schon so einen dummen Kerl gesehen?« -- wandte sie sich nach allen -Seiten und zeigte auf Luschin. -- »Wie! Auch du!« -- sie erblickte die -Wirtin, -- »auch du, Wurstmacherin, bestätigst, daß sie gestohlen hat, -du gemeines preußisches Hühnerbein in Krinoline! Ach, ihr! Ach, ihr! Ja, -sie hat das Zimmer nicht verlassen, und als sie von dir, Schuft, -zurückkam, hatte sie sich hier neben Rodion Romanowitsch hingesetzt! ... -Untersucht sie doch! Wenn sie nirgendwo hingegangen war, muß doch das -Geld bei ihr sein! Suche, suche, suche doch! Wenn du aber nichts -findest, dann, lieber Freund, wirst du bestraft! Zu Seiner Majestät, zu -Seiner Majestät, zum Zaren selbst laufe ich hin, werfe mich dem -Barmherzigen zu Füßen, sofort, heute noch! Ich bin verwaist! Man wird -mich zulassen! Du denkst, man wird mich nicht zu ihm lassen? Du lügst, -ich komme hin! Ich komme zu ihm hin! Du hast darauf gerechnet, daß sie -schüchtern ist? Du hast darauf gehofft? Ich aber, Bruder, bin dafür -kühn! Du wirst dein Spiel verlieren! Suche doch! Suche, suche, nun suche -doch!« - -Und Katerina Iwanowna zerrte Luschin in Wut zu Ssonja. - -»Ich bin bereit und trage die Verantwortung ... aber nehmen Sie sich -zusammen, meine Dame, nehmen Sie sich zusammen. Ich sehe zu gut, daß Sie -kühn sind! ... Das ... das ... das geht nicht an!« -- murmelte Luschin, --- »das muß in Gegenwart der Polizei ... obwohl, übrigens, auch jetzt -genügend Zeugen vorhanden sind ... Ich bin bereit ... Aber in jedem -Falle ist es für einen Mann peinlich ... des Geschlechtes wegen ... Wenn -Amalie Iwanowna helfen würde ... obwohl, übrigens, die Sache nicht so -gehandhabt wird ... Das geht nicht an!« - -»Wenn Sie wünschen! Mag wer da will sie untersuchen!« -- schrie Katerina -Iwanowna. -- »Ssonja, wende deine Taschen um! Da! da! Sieh, Scheusal, -diese Tasche ist leer, hier lag das Taschentuch, die Tasche ist leer, -siehst du! Da ist die andere Tasche, da, da! Siehst du! Siehst du!« - -Und Katerina Iwanowna wandte, nein besser gesagt, riß die beiden -Taschen, eine nach der anderen mit dem Futter hervor. Aber aus der -zweiten, rechten Tasche sprang plötzlich ein Stück Papier hervor, -beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel zu den Füßen Luschins hin. -Alle hatten es gesehen, manche schrien. Peter Petrowitsch bückte sich, -hob das Stück Papier mit zwei Fingern von der Diele auf, hielt es so, -daß alle sehen konnten und faltete es auseinander. Es war ein -Hundertrubelschein, dreimal zusammengefaltet. Peter Petrowitsch -umschrieb mit seiner Hand einen Bogen und zeigte allen den Schein. - -»Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!« -- heulte Amalie -Iwanowna, -- »Sie müssen nach Sibirien! Hinaus!« - -Von allen Seiten ertönten Ausrufe. Raskolnikoff schwieg, ohne die Augen -von Ssonja abzuwenden, nur selten und schnell blickte er Luschin an. -Ssonja stand auf derselben Stelle, wie bewußtlos, -- sie schien nicht -einmal verwundert zu sein. Plötzlich aber überzog eine Röte ihr ganzes -Gesicht; sie schrie auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen. - -»Nein, ich war es nicht! Ich habe nichts genommen! Ich weiß von nichts!« --- rief sie mit einem herzzerreißenden Schrei und stürzte zu Katerina -Iwanowna. - -Jene umfaßte sie und preßte sie fest an sich, als wolle sie mit eigener -Brust sie vor allen schützen. - -»Ssonja! Ssonja! Ich glaube es nicht! Siehst du, ich glaube es nicht!« --- rief Katerina Iwanowna, trotz des Augenscheins, und schüttelte sie in -ihren Armen, wie ein Kind, küßte sie unzählige Male, erfaßte ihre Hände -und küßte sie inbrünstig. -- »Du sollst es genommen haben? Ja, wie dumm -die Menschen sind! Oh, Gott! Ihr dummen, dummen Leute!« -- rief sie, -sich an alle wendend, -- »ja, ihr wißt noch gar nicht, ihr wißt nicht, -was das für ein Herz, was das für ein Mädchen ist! Sie soll es genommen -haben, sie! Ja, sie wird barfüßig gehen, sie wird ihr letztes Kleid -ausziehen und es verkaufen, und euch es abgeben, wenn ihr es braucht, -- -so ist sie! Sie hat den gelben Schein genommen, weil meine, meine Kinder -vor Hunger umkamen, sie hat sich unseretwegen verkauft! ... Ach, der -Verstorbene, der Verstorbene! Siehst du? Siehst du? Da hast du deine -Gedächtnisfeier! Oh, Gott! Ja, schützt sie doch, was steht ihr alle! -Rodion Romanowitsch! Warum treten Sie nicht für sie ein? Glauben Sie -auch etwa daran? Ihr seid ihres kleinen Fingers nicht wert, ihr alle, -alle, alle! Oh, Gott! Schütze du sie doch endlich!« - -Das Weinen der armen, schwindsüchtigen, verlassenen Katerina Iwanowna -schien einen starken Eindruck auf alle Anwesenden gemacht zu haben. Es -war so viel Klägliches, so viel Leidendes in diesem vor Schmerz -verzogenen, eingetrockneten, schwindsüchtigen Gesichte, in diesen -geborstenen, blutbedeckten Lippen, in dieser heiser schreienden Stimme, -in diesem Schluchzen und Weinen, das dem Weinen von Kindern glich, in -diesem vertrauensvollen, kindlichen und gleichzeitig verzweifelten -Flehen um Schutz, daß alle die Unglückliche zu bedauern schienen. Sogar -Peter Petrowitsch schien es sofort leid zu tun. - -»Meine Dame! Meine Dame!« -- rief er mit eindringlicher Stimme, -- »Sie -berührt diese Tatsache nicht! Niemand wird es wagen, Sie der Absicht -oder der Teilnahme zu beschuldigen, um so mehr, als Sie es selbst -entdeckt haben, indem Sie die Tasche umwandten, -- Sie haben dies nicht -vorausgesehen. Ich bin bereit, es sehr, sehr zu bedauern, sollte die -äußerste Armut Ssofja Ssemenowna dazu bewogen haben, aber warum wollten -Sie, Mademoiselle, es nicht eingestehen? Fürchten Sie die Schande? Der -erste Schritt? Sie sind wahrscheinlich bestürzt? Es ist begreiflich, -sehr begreiflich ... Aber warum läßt man sich auf solche Sachen ein! -Meine Herrschaften!« wandte er sich an alle Anwesenden, -- »meine -Herrschaften! Weil ich Bedauern und Mitleid habe, bin ich bereit, es -sogar jetzt, trotz der empfangenen persönlichen Beleidigungen, zu -verzeihen. Möge Ihnen, Mademoiselle, die jetzige Schande als eine Lehre -für die Zukunft dienen,« -- wandte er sich an Ssonja, -- »ich aber -unterlasse alle weiteren Schritte und erledige hiermit die Sache. -Genug!« - -Peter Petrowitsch blickte Raskolnikoff von der Seite an. Ihre Blicke -trafen sich. Der flammende Blick Raskolnikoffs wollte ihn zu Asche -verbrennen. Katerina Iwanowna schien nichts mehr gehört zu haben, sie -umarmte und küßte Ssonja wie wahnsinnig. Auch die Kinder hatten Ssonja -von allen Seiten mit ihren Händchen umfaßt und Poletschka, die nicht -ganz verstand, was vor sich ging, schien vollkommen in Tränen zu -ertrinken, sie krümmte sich vor lauter Schluchzen und verbarg ihr -hübsches, von Tränen geschwollenes Gesichtchen an Ssonjas Schulter. - -»Ist das gemein!« -- ertönte plötzlich eine laute Stimme in der Türe. - -Peter Petrowitsch blickte sich schnell um. - -»Welch eine Gemeinheit!« -- wiederholte Lebesjätnikoff und blickte ihm -unverwandt in die Augen. Peter Petrowitsch zuckte zusammen. Alle hatten -es bemerkt. Nachher erinnerten sie sich dessen. Lebesjätnikoff trat in -das Zimmer. - -»Und Sie haben es gewagt, mich als Zeugen anzurufen?« -- sagte er und -trat an Peter Petrowitsch heran. - -»Was bedeutet das, Andrei Ssemenowitsch? Worüber sprechen Sie?« -- -murmelte Luschin. - -»Das bedeutet, daß Sie ... ein Verleumder sind, das bedeuten meine -Worte!« -- sagte Lebesjätnikoff eifrig und blickte ihn streng mit seinen -kurzsichtigen, kleinen Augen an. - -Er war furchtbar böse. Raskolnikoff starrte ihn an, als fange er jedes -Wort auf. Wieder trat ein Schweigen ein. Peter Petrowitsch war bestürzt, -besonders im ersten Momente. - -»Wenn Sie mir ...« -- begann er stotternd, -- »ja, was ist mit Ihnen? -Sind Sie bei Verstand?« - -»Ich bin bei Verstand, Sie aber sind ... ein Gauner! Ach, wie ist das -gemein! Ich hörte die ganze Zeit zu, ich wartete immer absichtlich, um -alles zu verstehen, denn offen gestanden, alles ist mir bis jetzt noch -nicht ganz klar ... Aber warum haben Sie dies alles getan -- ich -verstehe es nicht!« - -»Ja, was habe ich denn getan? Hören Sie doch auf, in Ihren unsinnigen -Rätseln zu sprechen! Oder haben Sie vielleicht zu viel getrunken?« - -»Sie gemeiner Mensch, Sie trinken vielleicht, ich nicht. Ich trinke -nicht mal Schnaps, weil es gegen meine Überzeugungen ist. Denken Sie -sich, _er selbst_ hat mit eigenen Händen diesen Hundertrubelschein -Ssofja Ssemenowna gegeben, -- ich habe es gesehen, war Zeuge, ich kann -es beschwören! Er, er hat es getan!« -- wiederholte Lebesjätnikoff, sich -an alle und jeden einzelnen wendend. - -»Sind Sie verrückt geworden oder nicht, Sie Milchbart?« -- kreischte -Luschin, -- »sie hat doch selbst in Ihrer Gegenwart ... sie hat doch -selbst soeben in Gegenwart aller bestätigt, -- daß sie außer den zehn -Rubel nichts von mir erhalten hat. Wie konnte ich es denn ihr -überreichen?« - -»Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!« -- rief Lebesjätnikoff, -- -»und obwohl es gegen meine Überzeugungen ist, bin ich doch bereit, -gleich vor Gericht jeden beliebigen Eid zu leisten, denn ich habe es -gesehen, wie er ihn ihr heimlich zusteckte! Ich Dummkopf aber dachte, -daß Sie es ihr aus gutem Herzen zusteckten! Während Sie sich von ihr an -der Türe verabschiedeten, als sie sich umwandte und Sie ihr die eine -Hand reichten, steckten Sie mit der anderen, mit der linken Hand ihr -heimlich das Papier in die Tasche hinein. Ich habe es gesehen! Ich habe -es gesehen!« - -Luschin erbleichte. - -»Was lügen Sie da vor!« -- rief er ihm frech zu, -- »ja, und wie konnten -Sie vom Fenster aus das Papier bemerken! Sie haben es geträumt ... Sie, -mit Ihren kurzsichtigen Augen. Sie phantasieren!« - -»Nein, ich habe es nicht geträumt! Und obwohl ich weit stand, habe ich -alles, alles gesehen, und obgleich man vom Fenster aus tatsächlich -schwer ein Stück Papier unterscheiden kann, -- hier sagen Sie die -Wahrheit, -- wußte ich doch bestimmt, daß es ein Hundertrubelschein war, -denn als Sie Ssofja Ssemenowna den Zehnrubelschein gaben, -- ich habe es -selbst gesehen, -- nahmen Sie gleichzeitig vom Tische einen -Hundertrubelschein. Ich habe es gesehen, weil ich in diesem Augenblicke -in der Nähe war und weil mir sofort dabei ein Gedanke durch den Sinn -fuhr, weiß ich genau, daß Sie diesen Schein in der Hand hielten. Sie -haben ihn zusammengefaltet und hielten ihn die ganze Zeit in der Faust. -Ich vergaß es später, als Sie aber aufstanden, legten Sie den Schein aus -der rechten in die linke Hand und ließen ihn beinahe fallen; da besann -ich mich darauf, weil mir wieder derselbe Gedanke durch den Sinn fuhr, -und zwar, daß Sie heimlich ihr eine Wohltat erweisen wollen. Sie können -sich vorstellen, wie ich nun beobachtete, -- und da sah ich auch, wie es -Ihnen glückte, ihn in ihre Tasche zu stecken. Ich habe es gesehen, habe -es gesehen und werde schwören!« Lebesjätnikoff geriet fast außer Atem. -Von allen Seiten ertönten allerhand Ausrufe, die meistens Erstaunen -bedeuteten, aber in manchen brach auch ein drohender Ton durch. Alle -drängten sich um Peter Petrowitsch. Katerina Iwanowna stürzte zu -Lebesjätnikoff hin. - -»Andrei Ssemenowitsch! Ich habe mich in Ihnen geirrt! Schützen Sie sie! -Sie allein treten für sie ein! Sie ist eine Waise, Gott hat Sie gesandt! -Andrei Ssemenowitsch, mein Lieber, Väterchen!« - -Und Katerina Iwanowna, fast ganz außer sich, warf sich vor ihm auf die -Knie hin. - -»Blödes Zeug!« -- brüllte Luschin, rasend vor Wut, -- »Sie reden blödes -Zeug, mein Herr ... >Ich vergaß es, besann mich, vergaß< -- was soll das -heißen! Also, ich soll ihr den Schein absichtlich zugesteckt haben? -Wozu? Zu welchem Zwecke? Was habe ich gemein mit dieser ...« - -»Wozu? Das ist es ja, was ich selbst nicht begreife, das aber ist -sicher, daß ich die Wahrheit erzähle! Ich irre mich nicht, Sie -niederträchtiger Mensch, Sie Verbrecher; ich entsinne mich, daß mir -sofort damals die Frage in den Sinn kam, und zwar, als ich Ihnen dankte -und Ihnen die Hand drückte. Warum haben Sie es ihr heimlich in die -Tasche gesteckt? Das heißt warum heimlich? Vielleicht bloß aus dem -Grunde, weil Sie es vor mir verbergen wollten, da Sie wissen, daß ich -entgegengesetzter Ansicht bin und die Privatwohltätigkeit, als nicht -radikal heilend, verneine? Nun, und ich kam zu der Überzeugung, daß Sie -sich in der Tat vor mir schämen, solch einen Haufen Geld fortzugeben, -und außerdem meinte ich, daß Sie ihr vielleicht eine Überraschung -bereiten und sie in Staunen setzen wollten, wenn sie in ihrer Tasche -volle hundert Rubel finden wird. Denn manche Wohltäter lieben es sehr, -ihre Wohltaten so anzubringen, -- das weiß ich. Ich dachte auch, daß Sie -sie auf die Probe stellen wollen, das heißt, ob sie, wenn sie es -gefunden hat, kommen würde, um sich zu bedanken! Ich hatte auch den -Gedanken, daß Sie jeden Dank vermeiden möchten, damit ... nun, wie man -es sagt ... damit die rechte Hand nicht wüßte ... kurz, wie man es sagt -... Nun, mir kamen so viele Gedanken in den Sinn, daß ich beschloß, mir -alles nachher genauer zu überlegen, ich hielt es auch für unzart, Ihnen -zu zeigen, daß ich Ihr Geheimnis kenne. Mir kam aber der Gedanke, daß -Ssofja Ssemenowna möglicherweise das Geld verlieren könnte, ehe sie es -selbst bemerkt hat. Darum beschloß ich, hierher zu kommen, sie -herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß man ihr einen Hundertrubelschein -in ihre Tasche gesteckt hat. Auf dem Wege hierher ging ich zuerst in das -Zimmer der Damen Kobyljätnikoff hinein, um ihnen die >allgemeinen -Ergebnisse der positiven Methode< zu überbringen und ihnen besonders den -Artikel von Piderit -- übrigens auch von Wagner -- zu empfehlen. Ich kam -dann hierher, und hier ist diese schlimme Geschichte passiert. Sagen -Sie, konnte ich, konnte ich alle diese Gedanken und Erwägungen gehabt -haben, wenn ich tatsächlich nicht gesehen hätte, daß Sie ihr hundert -Rubel in die Tasche gesteckt haben?« - -Als Andrei Ssemenowitsch seine langatmige Rede mit so einem logischen -Abschluß beendet hatte, war er furchtbar ermüdet, und von seinem -Gesichte rann der Schweiß. Er konnte nicht einmal ordentlich russisch -sprechen, -- ohne jedoch eine andere Sprache zu kennen, -- so daß er mit -einem Male vollkommen erschöpft und nach seiner Advokatentat ganz bleich -war. Trotzdem hatte seine Rede eine außerordentliche Wirkung. Er hatte -mit solch einer Heftigkeit und solch einer Überzeugung gesprochen, daß -ihm alle offensichtlich glaubten. Peter Petrowitsch fühlte, daß seine -Sache schlecht stehe. - -»Was geht es mich an, daß Ihnen allerhand dumme Fragen in den Kopf -gekommen sind,« -- rief er aus. -- »Das ist kein Beweis! Sie konnten -dies alles im Schlafe geträumt haben, das ist das ganze! Und ich sage -Ihnen, daß Sie lügen, mein Herr! Sie lügen und verleumden mich aus Wut, -und zwar aus Ärger, weil ich nicht bereit war, auf Ihre freigeistigen -und gottlosen sozialen Ideen einzugehen, das ist es!« - -Aber diese Ausrede nützte Peter Petrowitsch nicht. Im Gegenteil, von -allen Seiten vernahm man mißbilligendes Gemurmel. - -»Ah, damit kommst du!« -- rief Lebesjätnikoff. -- »Du lügst! Laß die -Polizei holen, ich werde schwören! Eins kann ich bloß nicht begreifen, --- warum hat er so eine gemeine Handlung riskiert! Oh, gemeiner, -niederträchtiger Mensch!« - -»Ich kann es erklären, warum er diese Handlung riskiert hat, und wenn es -nötig ist, werde auch ich einen Eid ablegen!« -- sagte endlich -Raskolnikoff mit fester Stimme und trat hervor. - -Er schien fest und ruhig. Allen wurde es klar bei seinem Anblicke, daß -er tatsächlich wußte, um was es sich handle, und daß es zu einer Lösung -gekommen war. - -»Jetzt ist mir alles vollkommen klar,« -- fuhr Raskolnikoff fort und -wandte sich an Lebesjätnikoff. -- »Gleich am Anfange der Geschichte -hatte ich den Verdacht, daß irgendein gemeiner Kniff dahinter stecke; -ich schöpfte ihn infolge gewisser besonderer Umstände, die nur mir -allein bekannt sind, und die ich sogleich allen erklären will, -- um sie -dreht sich auch die ganze Sache. Sie, Andrei Ssemenowitsch, haben durch -Ihr wertvolles Zeugnis mir alles endgültig erklärt. Ich bitte alle, alle -zuzuhören. Dieser Herr,« -- er zeigte auf Luschin, -- »freite vor kurzem -um ein junges Mädchen, und zwar um meine Schwester, Awdotja Romanowna -Raskolnikowa. Nach seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich vorgestern -bei unserem ersten Zusammentreffen mit mir überworfen, und ich habe ihn -hinausgejagt, ich habe zwei Zeugen dafür. Dieser Mensch ist sehr boshaft -... Vorgestern wußte ich noch gar nicht, daß er hier bei Ihnen, Andrei -Ssemenowitsch, lebt, und daß er an demselben Tage, wo wir uns überworfen -hatten, das heißt vorgestern, Zeuge war, wie ich, als Freund des -verstorbenen Herrn Marmeladoff, seiner Gattin Katerina Iwanowna etwas -Geld zur Beerdigung übergab. Er schrieb sofort an meine Mutter einen -Brief und teilte ihr mit, daß ich das Geld nicht Katerina Iwanowna, -sondern Ssofja Ssemenowna abgegeben hätte, wobei er in den -niederträchtigsten Ausdrücken über ... über den Charakter Ssofja -Ssemenownas sich äußerte, das heißt über die Art meiner Beziehungen zu -Ssofja Ssemenowna. Dies alles tat er, wie Sie verstehen, in der Absicht, -mich mit meiner Mutter und Schwester zu entzweien, indem er ihnen -glaubhaft zu machen suchte, daß ich zu unanständigen Zwecken ihr letztes -Geld, mit dem sie mich unterstützten, verprasse. Gestern abend stellte -ich, in Gegenwart meiner Mutter und Schwester und in seiner Anwesenheit, -die Wahrheit fest, ich bewies, daß ich das Geld Katerina Iwanowna zur -Beerdigung und nicht Ssofja Ssemenowna überreicht habe, und daß ich -vorgestern mit Ssofja Ssemenowna noch nicht bekannt war und sie sogar -zum erstenmal gesehen habe. Dabei fügte ich hinzu, daß er, Peter -Petrowitsch Luschin, mit allen seinen Vorzügen nicht mal des kleinen -Fingers von Ssofja Ssemenowna, über die er sich so schlecht geäußert -habe, wert sei. Auf seine Frage, ob ich Ssofja Ssemenowna neben meine -Schwester hinsetzen würde, -- antwortete ich, daß ich es bereits am -selben Tage getan hätte. Da er darüber böse wurde, daß meine Mutter und -Schwester auf seine Verleumdungen hin sich mit mir nicht überwerfen -wollten, begann er ihnen unverzeihliche Frechheiten zu sagen. Es kam zu -einem endgültigen Bruche und man jagte ihn aus dem Hause. Dies alles war -gestern abend vorgefallen. Ich bitte Sie jetzt um besondere -Aufmerksamkeit, -- stellen Sie sich vor, wäre es ihm jetzt gelungen, -Ssofja Ssemenowna des Diebstahls zu überführen, so hätte er doch damit -meiner Schwester und Mutter bewiesen, erstens, daß er recht hatte mit -seinen Verdächtigungen; zweitens, daß er mit vollkommenem Rechte darüber -böse wurde, weil ich meine Schwester und Ssofja Ssemenowna auf gleiche -Stufe gestellt habe, und drittens, daß er mit seinem Angriffe auf mich -die Ehre meiner Schwester und seiner Braut verteidigte und in Schutz -nahm. Mit einem Worte, er konnte mich durch dieses alles mit meinen -Verwandten entzweien, und hoffte sicher, dadurch wieder bei ihnen zu -Gnaden zu kommen. Ich rede schon gar nicht davon, daß er zugleich an mir -persönlich Rache nahm, weil er Gründe hat anzunehmen, daß die Ehre und -das Glück Ssofja Ssemenownas mir teuer sind. Das war seine ganze -Berechnung! In dieser Weise fasse ich die Sache auf. Das ist der ganze -Grund, und einen anderen kann es nicht geben!« - -So etwa schloß Raskolnikoff seine Rede, oft durch Ausrufe der Anwesenden -unterbrochen, die sehr aufmerksam zuhörten. Aber trotz der -Unterbrechungen sprach er scharf, ruhig, genau, klar und entschlossen. -Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein strenges Gesicht -machten auf alle einen ungewöhnlichen Eindruck. - -»Ja, so wird es gewesen sein, ja, so ist es!« -- pflichtete -Lebesjätnikoff entzückt bei. -- »Es muß richtig sein, denn er hat mich -gerade gefragt, als Ssofja Ssemenowna zu uns ins Zimmer eintrat, -- ob -Sie hier wären? Ob ich Sie unter den Gästen von Katerina Iwanowna nicht -gesehen hätte? Er rief mich aus diesem Grunde zum Fenster und fragte -mich dort leise. Also war es für ihn von Wichtigkeit, daß Sie da sind! -Das ist richtig, das stimmt!« - -Luschin schwieg und lächelte verächtlich. Er war aber sehr blaß -geworden. Es schien, als überlege er sich, wie er sich aus der Affäre -ziehen könne. Er hätte vielleicht gern alles mit Vergnügen im Stiche -gelassen und wäre fortgegangen, aber es war unmöglich; es wäre -gleichbedeutend gewesen mit einer Anerkennung der Wahrheit der -angeführten Beschuldigung, daß er Ssofja Ssemenowna verleumdet hatte. -Die Anwesenden waren zudem etwas angetrunken und zu erregt. Der -Proviantmeister, der zwar nicht alles verstanden hatte, schrie am -meisten und schlug einige für Luschin ziemlich peinliche Maßregeln vor. -Es waren aber auch nicht Angetrunkene darunter; aus allen Zimmern hatten -sich Menschen eingefunden. Die drei Polen waren furchtbar aufgebracht -und riefen in einem fort »Pane Strolch!« ihm zu, wobei sie noch einige -Drohungen in polnischer Sprache murmelten. Ssonja hörte mit Anstrengung -zu, aber sie schien nicht alles zu begreifen, es war, als erwache sie -aus einer Ohnmacht. Sie wendete ihre Augen nicht von Raskolnikoff ab, -sie fühlte, daß er ihr einziger Schutz war. Katerina Iwanowna atmete -schwer und heiser und schien schrecklich erschöpft zu sein. Am -allerdümmsten stand Amalie Iwanowna da mit offenem Munde und begriff gar -nichts. Sie begriff bloß, daß Peter Petrowitsch irgendwie ertappt sei. -Raskolnikoff bat wieder ums Wort, aber man ließ ihn nicht zu Ende reden, --- alle schrien und drängten sich mit Geschimpfe und Drohungen um -Luschin. Ihm aber wurde nicht bange. Als er sah, daß die Sache mit der -Beschuldigung Ssonjas vollständig verspielt sei, ergriff er seine -Zuflucht zur Dreistigkeit. - -»Erlauben Sie, meine Herrschaften, erlauben Sie, drängen Sie nicht so, -lassen Sie mich durchgehen!« -- sagte er und zwängte sich durch die -Menge hindurch, -- »und tun Sie mir den Gefallen und drohen Sie nicht. -Ich versichere Sie, daß daraus nichts wird, daß Sie nichts tun werden, -ich bin nicht von den Ängstlichen, im Gegenteil, meine Herrschaften, Sie -werden noch zur Verantwortung gezogen dafür, daß Sie durch Gewalt eine -Kriminalsache vertuscht haben. Die Diebin ist mehr als überführt, und -ich werde sie gerichtlich belangen. Im Gerichte ist man nicht so blind -und ... nicht betrunken, und wird nicht gleich zwei abgefeimten -Gottesleugnern, Aufrührern und Freigeistern glauben, die mich aus -persönlicher Rache beschuldigen, was sie selbst in ihrer Dummheit -zugeben ... Erlauben Sie!« - -»Scheren Sie sich aus meinem Zimmer, ziehen Sie sofort aus. Zwischen uns -ist alles aus! Und wenn ich denke, wie ich mich angestrengt und bemüht -habe, ihm alles erklärt habe ... volle zwei Wochen ...« - -»Ich habe Ihnen, Andrei Ssemenowitsch, doch vorhin selbst gesagt, daß -ich ausziehe, als Sie mich noch baten zu bleiben. Jetzt will ich bloß -hinzufügen, daß Sie ein dummer Kerl sind. Ich wünsche Ihnen Ihren -Verstand und Ihre halbblinden Augen zu kurieren. Erlauben Sie, meine -Herrschaften!« - -Er drängte sich durch, aber der Proviantmeister wollte ihn nicht so -leichten Kaufes, bloß mit Schimpfwörtern, herauslassen, -- er ergriff -vom Tische ein Glas, holte aus und schleuderte es gegen Peter -Petrowitsch, doch das Glas traf Amalie Iwanowna. Sie kreischte auf, der -Proviantmeister verlor das Gleichgewicht und fiel schwer unter den -Tisch. Peter Petrowitsch ging in sein Zimmer, und nach einer halben -Stunde hatte er das Haus verlassen. Ssonja, schüchtern von Natur, wußte -es längst, daß man sie leichter als jeden anderen zugrunde richten -konnte, und daß jeder sie fast straflos beleidigen durfte. Trotzdem aber -glaubte sie bis zu diesem Augenblick, daß man einem Unglück irgendwie, -durch Vorsicht, Sanftmut, Nachgiebigkeit allen und jedem einzelnen -gegenüber entgehen konnte. Ihre Enttäuschung war zu schwer. Sie konnte -gewiß mit Geduld und ohne zu murren alles, -- auch dies letzte ertragen. -Aber im ersten Augenblicke war es ihr doch zu schwer gefallen. Trotz -ihres Triumphes und ihrer Rechtfertigung, -- als der erste Schreck und -die erste Erstarrung vorüber waren, als sie alles deutlich und klar -verstanden hatte, -- schnürte das Gefühl der Hilflosigkeit und Kränkung -ihr qualvoll das Herz zusammen. Sie bekam einen nervösen Anfall und -hielt es nicht länger aus, stürzte aus dem Zimmer und lief nach Hause. -Das geschah fast unmittelbar, nachdem Luschin fortgegangen war. Als -Amalie Iwanowna unter lautem Lachen der Anwesenden von dem Glase -getroffen wurde, -- hatte sie genug davon, nur für andere zu büßen. Mit -Gekreisch stürzte sie wie wahnsinnig auf Katerina Iwanowna zu und maß -ihr die Schuld an allem bei. - -»Hinaus aus der Wohnung! Sofort! Marsch!« -- und mit diesen Worten -begann sie alles, was ihr von den Sachen Katerina Iwanownas unter die -Hände kam, auf die Diele zu werfen. - -Katerina Iwanowna, ohnedem fast halbtot und einer Ohnmacht nahe, sprang -vom Bette, auf das sie in völliger Ermattung hingesunken war, -schweratmend und bleich auf und stürzte sich auf Amalie Iwanowna. Der -Kampf aber war zu ungleich; die letztere stieß sie, wie eine Feder, von -sich. - -»Wie! Nicht genug, daß man mich gottlos verleumdet hat, -- auch diese -Kreatur ist gegen mich! Wie! Am Tage der Beerdigung meines Mannes jagt -man mich, nach meinem Festmahl, mit den Waisen auf die Straße hinaus! -Ja, wohin soll ich denn!« -- sagte die arme Frau mit Schluchzen und -beinahe erstickend. -- »Oh, Gott!« -- rief sie plötzlich mit funkelnden -Augen, -- »gibt es denn keine Gerechtigkeit! Wen sollst Du denn -schützen, wenn nicht uns verlassene Waisen? Aber wir wollen mal sehen? -Es gibt noch in der Welt Recht und Wahrheit, es gibt sie noch, und ich -will sie finden! Warte, du gottlose Kreatur! Poletschka, bleibe bei den -Kindern, ich komme bald zurück. Wartet auf mich, meinetwegen auf der -Straße! Wir wollen sehen, ob es in der Welt Gerechtigkeit gibt!« - -Katerina Iwanowna warf dasselbe grüne große Umlegetuch über den Kopf, -das der verstorbene Marmeladoff in seiner Erzählung erwähnt hatte, -drängte sich durch die unordentliche und betrunkene Menge der Mieter, -die noch immer das Zimmer anfüllten, und lief mit Geheul und unter -Tränen auf die Straße hinaus, -- mit der unbedingten Absicht, irgendwo -sofort, unverzüglich und um jeden Preis Gerechtigkeit zu finden. -Poletschka verkroch sich voller Angst mit den Kindern in einer Ecke; sie -umschlang, am ganzen Körper zitternd, die beiden Kleinen und begann die -Rückkehr der Mutter zu erwarten. Amalie Iwanowna lief aufgeregt im -Zimmer herum, kreischte, klagte, schleuderte alles, was ihr in den Weg -kam, auf die Diele und lärmte. Die Mieter schrien durcheinander, -- -einige besprachen das Geschehene, wie sie es verstanden, andere zankten -sich und schimpften, einige wieder stimmten ein Lied an ... - -»Jetzt muß ich auch gehen!« -- dachte Raskolnikoff. -- »Nun, Ssofja -Ssemenowna, wir wollen sehen, was Sie jetzt sagen werden!« - -Und er ging nach Ssonjas Wohnung. - - - IV. - -Raskolnikoff war ein tüchtiger und mutiger Fürsprecher Ssonjas gegen -Luschin gewesen, trotzdem so viel eigener Schrecken und eigenes Leid auf -seiner Seele lasteten. Weil er aber am Morgen so stark gelitten hatte, -so war er gewissermaßen froh, seine Eindrücke, die ihm unerträglich -wurden, zu ändern, ganz abgesehen davon, wieviel Persönliches und -Herzliches in seinem Bestreben lag, für Ssonja einzutreten. Außerdem -ging ihm die bevorstehende Zusammenkunft mit Ssonja nicht aus dem Sinn -und beunruhigte ihn in manchen Augenblicken furchtbar, -- er _mußte_ ihr -sagen, wer Lisaweta ermordet hat, fühlte die schreckliche Qual im voraus -und suchte sich ihrer zu erwehren. Als er die Wohnung Katerina Iwanownas -verließ und ausrief: -- »Nun, was werden Sie jetzt sagen, Ssofja -Ssemenowna?« -- da befand er sich offenbar noch in einem äußerlich -erregten Zustande der Rüstigkeit und Kampflust, der Freude über den eben -errungenen Sieg. Aber das hielt nicht vor. Als er die Wohnung von -Kapernaumoff erreicht hatte, empfand er eine plötzliche Erschlaffung und -Furcht. Er blieb in Gedanken vor der Türe stehen und legte sich die -sonderbare Frage vor, -- »muß ich denn sagen, wer Lisaweta ermordet -hat?« Die Frage war sonderbar, denn er fühlte doch zugleich, daß es -gesagt werden müsse, und jetzt gleich ohne den geringsten Aufschub. Er -wußte selber nicht, warum; aber er _fühlte_ es, und dieses qualvolle -Bewußtsein seiner Schwäche der Notwendigkeit gegenüber erdrückte ihn -fast. Um nicht mehr zu überlegen und sich nicht mehr zu quälen, öffnete -er schnell die Türe und schaute Ssonja von der Schwelle aus an. Sie saß -auf den Tisch gestützt und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt; als -sie Raskolnikoff erblickte, stand sie schnell auf und ging ihm entgegen, -als hätte sie ihn erwartet. - -»Was wäre aus mir geworden ohne Sie!« -- sagte sie hastig, als sie in -der Mitte des Zimmers mit ihm zusammentraf. - -Offenbar hatte sie ihn erwartet, um ihm dies zu sagen. - -Raskolnikoff ging zu dem Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem -sie soeben aufgestanden war. Sie blieb zwei Schritte vor ihm stehen, -genau wie gestern. - -»Nicht wahr, Ssonja?« -- sagte er und fühlte plötzlich, daß seine Stimme -zittere, -- »die ganze Sache beruhte doch auf >der gesellschaftlichen -Lage und auf den damit zusammenhängenden Gewohnheiten<. Haben Sie es -vorhin verstanden?« - -Tiefes Leid zeigte sich auf ihrem Gesichte. - -»Sprechen Sie nicht mit mir, wie gestern!« -- unterbrach sie ihn. -- -»Bitte, fangen Sie nicht an. Es ist schon genug Qual ...« - -Sie lächelte schnell, aus Angst, daß ihm vielleicht der Vorwurf -mißfallen könnte. - -»Es war dumm von mir, von dort wegzugehen. Was mag jetzt dort geschehen? -Ich wollte soeben wieder hingehen, aber ich dachte, daß Sie vielleicht -... kommen werden.« - -Er erzählte ihr, daß Amalie Iwanowna sie aus der Wohnung jage, und daß -Katerina Iwanowna fortgelaufen sei, »Gerechtigkeit zu suchen«. - -»Ach, mein Gott!« -- erschrak Ssonja, -- »gehen wir schnell hin ...« - -Und sie ergriff ihre Mantille. - -»Ewig ein und dasselbe!« -- rief Raskolnikoff gereizt, -- »Sie denken -bloß immer an die! Bleiben Sie bei mir.« - -»Und ... Katerina Iwanowna?« - -»Katerina Iwanowna wird Ihnen sicher nicht entgehen, sie wird selbst zu -Ihnen kommen, wenn sie schon einmal das Haus verlassen hat,« -- fügte er -mürrisch hinzu. -- »Wenn sie Sie nicht zu Hause antrifft, werden Sie -doch wieder daran schuld sein ...« - -Ssonja setzte sich in qualvoller Unentschlossenheit auf einen Stuhl. -Raskolnikoff schwieg, blickte zu Boden und überlegte. - -»Angenommen, Luschin habe es jetzt nicht gewollt,« -- begann er, ohne -Ssonja anzublicken. -- »Wie, wenn er es gewollt hätte oder wenn es -irgendwie in seinen Absichten gelegen wäre, -- so hätte er Sie ins -Gefängnis gebracht, wenn nicht ich und Lebesjätnikoff zufällig dagewesen -wären! Nicht?« - -»Ja,« -- antwortete sie mit schwacher Stimme, -- »ja!« -- wiederholte -sie zerstreut und voll Unruhe. - -»Ich konnte doch wirklich verhindert sein! Und Lebesjätnikoff kam ganz -zufällig hinzu.« - -Ssonja schwieg. - -»Nun, und wenn Sie ins Gefängnis gekommen wären, was dann? Erinnern Sie -sich, was ich gestern sagte?« - -Sie antwortete wieder nicht. Raskolnikoff wartete eine Weile. - -»Ich dachte, Sie würden wieder schreien, -- >ach, sprechen Sie nicht, -hören Sie auf!<« -- lachte Raskolnikoff, scheinbar gezwungen. -- »Was, -Sie schweigen wieder?« -- fragte er nach einem Augenblick. -- »Man muß -doch über etwas reden! Mir wäre es interessant zu erfahren, wie Sie -jetzt eine >Frage<, wie Lebesjätnikoff sagt, lösen würden.« -- Er schien -den Faden zu verlieren. -- »Nein, ich spreche in allem Ernst. Stellen -Sie sich vor, Ssonja, daß Sie alle Absichten Luschins im voraus gewußt -hätten, Sie hätten gewußt, daß dadurch Katerina Iwanowna und auch die -Kinder völlig zugrunde gehen würden, auch Sie, als Dreingabe, -- Sie -selber rechnen sich ja nicht, drum sage ich als _Dreingabe_ zu jenen. -Poletschka ebenfalls ... denn ihr steht derselbe Weg bevor. Nun, also, --- wenn man Ihnen plötzlich dies alles zur Entscheidung übergeben hätte, --- soll er oder sollen jene am Leben bleiben, das heißt, soll Luschin am -Leben bleiben und Scheußlichkeiten vollziehen oder soll Katerina -Iwanowna sterben? Wie würden Sie entscheiden, wer von den beiden sollte -sterben? Ich frage Sie!« - -Ssonja blickte ihn unruhig an, -- sie ahnte etwas besonderes in dieser -unsicheren, weit ausgeholten Rede. - -»Ich hatte ein Vorgefühl, daß Sie so etwas fragen werden,« -- sagte sie -und sah ihn forschend an. - -»Gut; mag sein, aber, wie soll es entschieden werden?« - -»Warum fragen Sie, was unmöglich zu beantworten ist?« -- sagte Ssonja -mit Widerwillen. - -»Also, es ist besser, daß Luschin weiterlebt und Scheußlichkeiten -verübt! Auch dieses haben Sie nicht gewagt zu entscheiden?« - -»Ja, ich kenne doch die Vorsehung Gottes nicht ... Und warum fragen Sie, -was man nicht fragen darf? Wozu solche leere Fragen? Wie kann es -vorkommen, daß dieses von meiner Entscheidung abhängen soll? Und wer hat -mich hier zum Richter bestellt, wer leben soll und wer nicht leben -soll?« - -»Wenn Gottes Vorsehung schon mitredet, da ist freilich nichts zu -machen,« -- brummte Raskolnikoff finster. - -»Sagen Sie besser offen, was Sie wollen!« -- rief Ssonja gramvoll aus. --- »Sie haben wieder etwas im Sinn ... Sind Sie etwa nur gekommen, um -mich zu quälen?« - -Sie hielt es nicht aus und weinte plötzlich bitter. Er sah sie mit -düsterer Schwermut an. Es verging eine geraume Weile. - -»Du hast recht, Ssonja,« -- sagte er endlich leise. - -Er war plötzlich verändert; der gemachte dreiste und kraftlos -herausfordernde Ton war verschwunden. Selbst seine Stimme war schwächer -geworden. »Ich habe dir selbst gestern gesagt, daß ich kommen werde, -nicht um Verzeihung zu bitten, habe aber beinahe schon damit begonnen -... Von Luschin und Gottes Vorsehung habe ich meinetwegen gesprochen ... -Ich habe damit um Verzeihung bitten wollen, Ssonja ...« - -Er wollte lächeln, aber er brachte es nur zu einem kraftlosen und wehen -Versuch. Er ließ den Kopf sinken und bedeckte das Gesicht mit den -Händen. - -Da zog in sein Herz ein eigentümliches Gefühl, wie das eines brennenden -Hasses gegen Ssonja. Selber betroffen und erschrocken über dieses -Gefühl, erhob er plötzlich den Kopf und blickte sie aufmerksam an, aber -er begegnete ihrem unruhigen und qualvoll besorgten Blicke; und vor der -Liebe in diesem Blick verschwand sein Haß wie ein Gespenst. Es war nicht -also das; er hatte das eine Gefühl für das andere gehalten. Das -bedeutete bloß, daß _der_ Augenblick gekommen war. - -Wieder bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und senkte den Kopf. -Plötzlich erbleichte er, stand vom Stuhle auf, sah Ssonja an und setzte -sich, ohne ein Wort gesagt zu haben, mechanisch auf ihr Bett hin. - -Dieser Moment war in seiner Empfindung jenem schrecklich ähnlich, als er -hinter der Alten stand, das Beil aus der Schlinge schon hervorgezogen -hatte und fühlte, daß »kein Augenblick mehr zu verlieren sei«. - -»Was ist Ihnen?« -- fragte Ssonja erschreckt. - -Er brachte kein Wort hervor. So hatte er sich das Geständnis nicht -vorgestellt und begriff selbst nicht, was mit ihm jetzt vorging. Sie -ging leise zu ihm hin, setzte sich neben ihn auf das Bett hin und -wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Ihr Herz klopfte und -stockte. Es wurde unerträglich; er wandte sein totenblasses Gesicht zu -ihr; seine Lippen verzogen sich kraftlos in der Bemühung, etwas -auszusprechen. Und Entsetzen drang in Ssonjas Herz. - -»Was ist Ihnen?« -- sagte sie und wich ein wenig von ihm zurück. - -»Nichts, Ssonja. Ängstige dich nicht ... Unsinn! Wirklich, wenn man es -sich überlegt, -- ist es Unsinn,« -- murmelte er mit dem Aussehen eines -besinnungslosen Fieberkranken. -- »Warum bin ich bloß gekommen, um dich -zu quälen?« -- fügte er plötzlich hinzu, sie anblickend. -- »Wirklich. -Wozu? Ich lege mir immer diese Frage vor, Ssonja ...« - -Er hatte sich vielleicht diese Frage vor einer Viertelstunde vorgelegt, -jetzt aber sagte er es in völliger Kraftlosigkeit, kaum sich selber -bewußt, und fühlte ein ständiges Frösteln im ganzen Körper. - -»Ach, wie Sie sich quälen!« -- sagte sie mit ihm leidend und betrachtete -ihn. - -»Alles ist Unsinn! ... Höre, Ssonja,« -- er lächelte plötzlich, aber -bleich und schwach, einen kurzen Moment -- »erinnerst du dich, was ich -dir gestern sagen wollte?« - -Ssonja wartete voll Unruhe. -- - -»Ich sagte, als ich fortging, daß ich vielleicht für immer von dir -Abschied nehme, aber wenn ich heute käme, so wollte ich dir sagen ... -wer Lisaweta ermordet hat.« - -Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper. - -»Nun, ich bin jetzt gekommen, es dir zu sagen.« - -»Haben Sie gestern tatsächlich es ...,« -- flüsterte Ssonja mit Mühe, -- -»woher wissen Sie es denn?« -- fragte sie ihn schnell, als wäre sie -plötzlich zur Besinnung gekommen. - -Ssonja begann schwer zu atmen. Ihr Gesicht wurde immer bleicher und -bleicher. - -»Ich weiß es.« - -Sie schwieg einen Augenblick. - -»Hat man _ihn_ gefunden?« -- fragte sie zaghaft. - -»Nein, man hat ihn nicht gefunden.« - -»Wie wissen Sie _es_ denn?« -- fragte sie wieder kaum hörbar und nach -einem fast minutenlangen Schweigen. - -Er wandte sich zu ihr um und blickte sie scharf und unverwandt an. - -»Errate es,« -- sagte er mit dem früheren wehen und kraftlosen Lächeln. - -Ihren ganzen Körper schienen Krämpfe zu durchziehen. »Ja, Sie ... mich -... warum ... ängstigen Sie mich so?« -- fragte sie, lächelnd, wie ein -Kind. - -»Ich war doch wohl mit _ihm_ sehr gut bekannt ... wenn ich es weiß,« -- -fuhr Raskolnikoff fort und blickte ihr in einem fort ins Gesicht, als -wäre er nicht imstande, die Augen abzuwenden, -- »er wollte diese -Lisaweta ... nicht ermorden ... Er hat sie ... zufällig ermordet ... Er -wollte die Alte ermorden ... wenn sie allein war ... und kam hin ... Da -trat aber Lisaweta ein ... Er hat sie dann ... auch ermordet.« - -Wieder eine furchtbare Pause. Beide blickten die ganze Zeit einander an. - -»Also, du kannst es nicht erraten?« -- sagte er plötzlich mit einem -Gefühle, als stürze er sich von einem Turme hinab. - -»N--nein,« flüsterte Ssonja kaum hörbar. - -»Sieh mal ordentlich her.« - -Und kaum hatte er es gesagt, als eine schon einmal gehabte Empfindung -seine Seele erstarren ließ, -- er sah sie an und ihm war plötzlich, als -erblickte er in ihrem Gesichte Lisawetas Ausdruck. So hatte sie -ausgesehen, als er sich damals ihr mit dem Beile näherte und sie vor ihm -mit vorgestreckter Hand, eine völlig kindliche Angst im Gesichte, -zurückwich, genau, wie wenn kleine Kinder vor irgend etwas Angst -bekommen, und unbeweglich und unruhig den sie ängstigenden Gegenstand -anblicken, zurückweichen, die Händchen nach vorne strecken und sich -anschicken, zu weinen. Fast dasselbe geschah jetzt auch mit Ssonja, -- -ebenso kraftlos, mit derselben Angst sah sie eine Weile ihn an, -plötzlich streckte sie die linke Hand vor, stieß ihn ganz leicht mit den -Fingern an die Brust, begann langsam vom Bette aufzustehen, wich immer -mehr und mehr vor ihm zurück und ihr auf ihn gerichteter Blick wurde -immer unbeweglicher. Ihr Entsetzen teilte sich plötzlich auch ihm mit, --- dieselbe Angst erschien auch in seinem Gesichte, -- er begann sie -ebenso anzusehen und sogar fast mit demselben Lächeln eines geängsteten -Kindes. - -»Hast du es erraten?« -- flüsterte er endlich. - -»Oh, Gott!« -- entrang sich ein furchtbarer Schrei ihrer Brust. - -Sie fiel kraftlos auf das Bett mit dem Gesichte auf das Kopfkissen hin. -Aber nach einem Augenblicke erhob sie sich schnell, rückte zu ihm hin, -erfaßte seine beiden Hände, drückte sie stark mit ihren dünnen Fingern -und begann von neuem ihm unbeweglich, wie fest gebannt, ins Gesicht zu -blicken. Mit diesem letzten verzweifelten Blick wollte sie die winzigste -letzte Hoffnung für sich herauslesen und erspähen. Aber es war keine -Hoffnung; kein Zweifel blieb nach, alles war _so_! Nachher sogar, wenn -sie sich an diesen Augenblick entsann, war es ihr seltsam und -merkwürdig, -- woraus hatte sie damals _sofort_ gesehen, daß es keinen -Zweifel mehr gab? Es war doch keine Rede davon, daß sie z. B. ein -Vorgefühl von etwas derartigem gehabt hatte? Nun aber schien es ihr, -nachdem er es ihr kaum gesagt hatte, als habe sie wirklich _das_ alles -geahnt. - -»Genug, Ssonja, genug! Quäle mich nicht!« -- bat er mit einem Ausdrucke -schweren Leidens. - -Er hatte gar nicht, ganz und gar nicht gedacht, ihr in dieser Weise es -zu sagen, aber es war so gekommen. - -Sie sprang, wie außer sich, auf, rang die Hände und ging bis zur Mitte -des Zimmers, aber sie wandte sich schnell um, setzte sich wieder neben -ihn hin, so daß ihre Schultern sich fast berührten. Plötzlich fuhr sie, -wie durchbohrt, zusammen, schrie auf und stürzte, ohne zu wissen, was -sie tat, vor ihm auf die Knie hin. - -»Was haben Sie, was haben Sie sich angetan!« -- sagte sie voll -Verzweiflung, sprang von den Knien auf, warf sich ihm um den Hals, -umarmte ihn und preßte ihn stark an sich. - -Raskolnikoff wich zurück und blickte sie mit einem traurigen Lächeln an. - -»Wie du sonderbar bist, Ssonja, -- du umarmst und küßt mich, nachdem ich -dir _dieses_ gesagt habe. Du bist deiner selbst nicht bewußt.« - -»Nein, es gibt jetzt niemand in der ganzen Welt, der unglücklicher ist, -als du!« -- rief sie, wie in Verzückung, ohne seine Bemerkung gehört zu -haben, und dann weinte sie laut und krankhaft. - -Ein ihm seit langem unbekanntes Gefühl überflutete seine Seele und -machte sie erweichen. Er sträubte sich nicht dagegen, -- zwei Tränen -rollten aus seinen Augen und blieben an den Wimpern hängen. - -»Du wirst mich also nicht verlassen, Ssonja?« -- sagte er und blickte -sie fast mit Hoffnung an. - -»Nein, nein. Nie und nimmer!« -- rief Ssonja aus, -- »ich werde dir -folgen, ich werde dir überall hin folgen! Oh, Gott! ... Ach, ich -Unglückliche! ... Und warum, warum habe ich dich nicht früher gekannt! -Warum bist du nicht früher gekommen? Oh, Gott!« - -»Ich _bin_ doch gekommen.« - -»Jetzt! Oh, was ist jetzt zu tun! ... Zusammen, zusammen!« -- -wiederholte sie, wie bewußtlos, und umarmte ihn von neuem, -- »ich werde -mit dir in die Zwangsarbeit nach Sibirien gehen!« - -Er zuckte zusammen, das frühere haßerfüllte und fast hochmütige Lächeln -zeigte sich auf seinen Lippen. - -»Ich will vielleicht nicht einmal in die Zwangsarbeit gehen, Ssonja,« -- -sagte er. - -Ssonja blickte ihn schnell an. - -Nach dem ersten leidenschaftlichen und qualvollen Ausbruche des -Mitgefühles für den Unglücklichen erschütterte sie wieder der -schreckliche Gedanke an den Mord. In dem veränderten Tone seiner Worte -spürte sie den Mörder. Sie blickte ihn erstaunt an. Sie wußte noch gar -nichts, weder warum, noch wie, noch zu welchem Zwecke es geschehen war. -Jetzt tauchten alle diese Fragen mit einem Male in ihrem Bewußtsein auf. -Und wieder glaubte sie nicht, -- »er, er ein Mörder! Ja, ist es denn -möglich?« - -»Was ist denn? Wo stehe ich denn?« -- sagte sie in tiefem Zweifel, als -wäre sie noch nicht zu sich gekommen, -- »wie konnten, wie konnten Sie, -_solch ein Mensch_ ... sich dazu entschließen ... Was war es denn!« - -»Doch wohl, um zu rauben. Höre auf, Ssonja!« -- antwortete er müde und -fast ärgerlich. - -Ssonja stand wie betäubt, plötzlich aber rief sie aus: »Du warst -hungrig! Du ... um der Mutter zu helfen? Ja?« - -»Nein, Ssonja, nein,« -- murmelte er, sich abwendend und ließ den Kopf -sinken, -- »ich war nicht so hungrig ... ich wollte wohl der Mutter -helfen, aber ... auch das ist nicht ganz richtig ... quäl mich nicht, -Ssonja!« - -Ssonja schlug die Hände zusammen. - -»Ist es wirklich, ist es wirklich wahr! Oh, Gott, was ist das für eine -Wahrheit? Wer kann denn daran glauben? ... Und wie, gaben Sie nicht -selbst das Letzte fort, und haben ermordet, um zu rauben! Ah! ...« -- -rief sie plötzlich, -- »das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben -haben ... dieses Geld ... oh, Gott, ist auch dieses Geld ...« - -»Nein, Ssonja,« -- unterbrach er sie hastig, -- »dieses Geld war nicht -von dort, beruhige dich! Dieses Geld hat mir meine Mutter durch einen -Kaufmann geschickt, und ich habe es erhalten, als ich krank war, am -selben Tage, als ich es fortgegeben habe ... Rasumichin hat es gesehen -... er hat es für mich empfangen ... dieses Geld war mein eigenes, -gehörte wirklich mir.« - -Ssonja hörte ihm unentschlossen zu und versuchte mit allen Kräften etwas -zu begreifen. - -»Und _jenes_ Geld ... ich weiß übrigens nicht mal, ob auch Geld da war,« --- fügte er leise und wie sinnend hinzu, -- »ich habe ihr damals einen -Beutel aus Sämischleder vom Halse genommen ... einen dicken, -vollgestopften Beutel ... ich habe aber nicht hineingeblickt; -wahrscheinlich hatte ich keine Zeit ... Nun, und die Sachen, allerhand -Manschettenknöpfe und Ketten, -- alle diese Sachen und den Beutel habe -ich auf einem fremden Hofe, am W--schen Prospekt, unter einem Steine -versteckt ... am andern Morgen noch ... Alles liegt jetzt noch dort ...« - -Ssonja hörte angestrengt zu. - -»Warum denn ... wenn Sie selbst sagten, um zu rauben, haben Sie doch -nichts genommen?« -- fragte sie ihn schnell, nach einem letzten -Strohhalme greifend. - -»Ich weiß es nicht ... ich habe mich noch nicht entschlossen, -- ob ich -dieses Geld nehmen soll oder nicht,« -- sagte er wieder, wie sinnend, -und plötzlich lächelte er schnell und kurz, -- »ach, welch eine Dummheit -habe ich soeben gesagt!« - -Ssonja durchfuhr ein Gedanke, -- »ist er etwa verrückt?« Aber sie ließ -ihn sofort fallen, -- »nein, hier ist etwas anderes«. Aber sie begriff -gar nichts, rein gar nichts! - -»Weißt du, Ssonja,« -- sagte er plötzlich, wie in einer Eingebung, -- -»weißt du, was ich dir sagen will, -- wenn ich bloß darum ermordet -hätte, weil ich hungrig war,« -- fuhr er fort, betonte jedes Wort und -blickte sie rätselhaft, aber aufrichtig an, -- »so würde ich jetzt ... -_glücklich_ sein! Das sollst du wissen!« - -»Und was läge, was läge dir daran,« -- rief er nach einem Augenblicke -verzweifelt, -- »nun, was läge dir daran, wenn ich sofort zugeben würde, -daß ich schlecht gehandelt habe! Nun, was liegt dir an diesem dummen -Triumphe über mich? Ach, Ssonja, bin ich etwa deswegen jetzt zu dir -gekommen?« - -Ssonja wollte etwas sagen, aber schwieg. - -»Darum bat ich dich auch gestern mit mir zu gehen, weil ich jetzt dich -nur allein habe.« - -»Wohin gehen?« -- fragte Ssonja schüchtern. - -»Nicht um zu stehlen und um zu morden, gewiß, nicht dazu,« -- lächelte -er mit Spott, -- »wir sind zu verschieden ... Und weißt du, Ssonja, ich -habe erst jetzt, erst soeben begriffen, -- _wohin_ ich dich gestern rief -mitzugehen! Gestern aber, als ich dich bat, wußte ich selbst nicht, -wohin. Nur deshalb habe ich dich gebeten, nur deshalb bin ich gekommen, --- daß du mich nicht verlassest. Wirst du mich verlassen, Ssonja?« - -Sie drückte ihm fest die Hand. - -»Und warum, warum habe ich es ihr gesagt, warum habe ich es ihr -mitgeteilt,« -- rief er nach einem Augenblick voll Verzweiflung aus und -sah sie mit grenzenloser Qual an, -- »nun, erwartest du Erklärungen von -mir, Ssonja, du sitzest und wartest, ich sehe es, -- und was soll ich -dir sagen? Du wirst doch nichts davon verstehen und bloß ganz vor Leid -vergehen ... meinetwegen! Nun weinst du und umarmst mich wieder, -- -warum umarmst du mich? Weil ich es selbst nicht ertrug und gekommen bin, -es auf einen andern abzuwälzen, -- >leide auch du, mir wird es leichter -sein!< Und kannst du solch einen Schuft lieben?« - -»Quälst du dich nicht auch?« -- rief Ssonja aus. - -Wieder überkam seine Seele das Gefühl von vorhin und machte sie auf -einen Augenblick weich. - -»Ssonja, ich habe ein böses Herz, merk es dir, -- dadurch kann man -vieles erklären. Ich bin auch darum hergekommen, weil ich böse bin. Es -gibt solche, die nicht hergekommen wären. Ich aber bin ein Feigling und -... ein Schuft! Aber ... mag sein! Dies alles ist nicht das ... Jetzt -gilt es zu reden, ich weiß aber nicht, wo anfangen ...« - -Er hielt inne und sann nach. - -»Ach, wir sind beide zu verschiedene Leute!« -- rief er wieder aus, -- -»passen nicht zueinander. Und warum, warum bin ich hergekommen! Ich -werde es mir nie verzeihen.« - -»Nein, nein, es ist gut, daß du gekommen bist!« -- rief Ssonja, -- »es -ist besser, daß ich es weiß! Viel besser!« - -Er sah sie voll Schmerz an. - -»So war es tatsächlich!« -- sagte er, als hätte er überlegt. -- »Es war -doch so! Siehst du, -- ich wollte ein Napoleon werden, und darum habe -ich ermordet ... begreifst du es jetzt?« - -»N--nein,« -- flüsterte Ssonja naiv und schüchtern, -- »sprich nur ... -sprich! Ich werde es verstehen, ich werde _für mich_ alles verstehen!« --- bat sie ihn. - -»Du wirst verstehen? Nun, gut, wir wollen sehen!« - -Er schwieg und überlegte lange. - -»Siehst du, -- ich habe mir einmal folgende Frage vorgelegt, -- wenn zum -Beispiel an meiner Stelle Napoleon gewesen wäre, und wenn er, um seine -Karriere zu beginnen, weder Toulon, noch Ägypten, noch den Übergang über -den Montblanc gehabt hätte, wenn aber statt aller schönen und -monumentalen Dinge eine lächerliche Alte, die Witwe eines kleinen -Beamten gewesen wäre, die man zudem noch ermorden mußte, um aus ihrem -Koffer Geld zu stehlen -- der Karriere wegen, verstehst du? -- hätte er -sich dazu entschlossen, wenn es keinen anderen Ausweg gegeben hätte? -Wäre er nicht schokiert gewesen, weil es zu wenig monumental und ... -weil es sündhaft war? Ich sage dir, daß ich mich über diese >Frage< -schrecklich lange abgequält habe, so daß ich mich furchtbar schämte, als -ich endlich auf den Gedanken kam -- ganz plötzlich kam ich darauf --, -daß es ihn nicht bloß nicht schokiert hätte, sondern ihm nicht einmal in -den Sinn gekommen wäre, daß dies nicht monumental sei ... _er_ hätte gar -nicht begriffen, warum man dabei schokiert sein sollte? Und wenn er -keinen anderen Ausweg gehabt hätte, so würde er, aber ohne daß sie -gemuckst hätte, gemordet haben, ohne langes Nachdenken! Nun, und da ließ -ich ... das Beil fallen ... mordete ... nach diesem Beispiel ... Genau -so ist es vor sich gegangen! Dir erscheint es lächerlich? Ja, Ssonja, -das Lächerlichste ist dabei, daß es vielleicht genau so vorgefallen war -...« - -Ssonja war es nicht lächerlich. - -»Sagen Sie es mir lieber ... ohne Beispiele,« -- bat sie noch -schüchterner und leiser. - -Er wandte sich zu ihr um, blickte sie traurig an und ergriff ihre Hände. - -»Du hast wieder recht, Ssonja. Das ist alles Unsinn, ist leeres -Geschwätz! Siehst du, -- du weißt doch, daß meine Mutter fast nichts -hat. Meine Schwester hat zufällig eine Erziehung erhalten und ist -verurteilt, sich als Gouvernante ihr Leben lang durchzuschlagen. All -ihre Hoffnung war ich allein. Ich studierte, fand aber nicht genügenden -Unterhalt und war gezwungen, zeitweilig die Universität zu verlassen. -Und selbst wenn es sich weiter hingezogen hätte, konnte ich etwa in zehn -oder zwölf Jahren -- und vorausgesetzt, daß meine Verhältnisse sich -verbesserten, -- hoffen, Lehrer oder Beamter mit tausend Rubel Gehalt zu -werden ...« -- Er sprach, als hätte er es auswendig gelernt. -- »Bis -dahin wäre meine Mutter vor Sorgen und Kummer verkommen, und mir wäre es -nicht gelungen, ihr ein ruhiges Leben zu schaffen, und meine Schwester -... nun, mit der Schwester konnte noch Schlimmeres passiert sein! ... -Ja, und was für ein Vergnügen ist es, das ganze Leben an allem -vorbeigehen und von allem sich abwenden zu müssen, die Mutter zu -vergessen und die Beleidigung der Schwester zum Beispiel, demütig zu -ertragen? Wozu? Um sich andere anzuschaffen, nachdem man sie beerdigt -hat, -- Frau und Kinder, um auch sie nachher ohne einen Groschen und -ohne ein Stück Brot zu hinterlassen? So ... nun, da beschloß ich, mich -des Geldes der Alten zu bemächtigen, es zu meinem Unterhalte an der -Universität, ohne die Mutter mehr quälen zu müssen, und zu meinen ersten -Schritten nach Beendigung des Studiums zu benutzen, -- und dies alles -gleich groß und radikal auszuführen, um eine vollkommen neue Laufbahn -beginnen und einen neuen unabhängigen Weg betreten zu können ... das ist -alles ... selbstverständlich, schlecht war, daß ich die Alte ermordet -habe ... und jetzt genug davon!« - -Völlig erschöpft schloß er seinen Bericht und ließ den Kopf sinken. - -»Ach, es war nicht das, nicht das,« -- rief Ssonja gramvoll aus, -- -»kann man denn so ... nein, es ist nicht richtig, es ist nicht so!« - -»Jetzt siehst du selbst, daß es nicht so war! ... Und ich habe doch -aufrichtig berichtet, habe die Wahrheit gesagt!« - -»Was ist denn das für eine Wahrheit! Oh, Gott!« - -»Ich habe doch, Ssonja, bloß eine unnütze, häßliche, bösartige Laus -ermordet.« - -»Wie, ein Mensch ist eine Laus?« - -»Ich weiß es auch selbst, daß es keine Laus ist,« -- antwortete er und -blickte sie eigentümlich an. -- »Aber ich lüge, Ssonja,« -- fügte er -hinzu, »es ist alles gelogen ... Es war nicht das; du sagst die -Wahrheit. Es waren ganz andere, vollkommen andere Gründe! ... Ich habe -seit langem mit niemand gesprochen, Ssonja ... Der Kopf tut mir jetzt so -weh.« - -Seine Augen brannten in fieberhaftem Glanze. Er begann fast zu -phantasieren; ein unruhiges Lächeln irrte um seine Lippen. Die ungeheure -Erregung verbarg kaum die äußerste Schwäche. Ssonja begriff seine -Selbstqual. Auch ihr begann der Kopf zu schwindeln. Und wie sonderbar er -sprach, als sei alles selbstverständlich ... »aber wie denn ... Wie war -es nur möglich? Oh, Gott!« Und sie rang in Verzweiflung die Hände. - -»Nein, Ssonja, es war nicht das!« -- begann er wieder, erhob plötzlich -den Kopf, als hätte ihn eine andere Wendung der Gedanken überrascht und -von neuem angeregt, -- »es war nicht das! Besser ... du stellst dir vor -... ja! es ist wirklich besser! ... stell dir vor, daß ich ehrgeizig, -neidisch, böse, niederträchtig, rachsüchtig bin ... nun ... und -meinetwegen zum Irrsinn neige ... Mag alles gleich mitgerechnet werden! -Davon, daß ich verrückt sei, sprach man schon früher, ich habe es wohl -gemerkt! Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich auf der Universität selber -meinen Unterhalt nicht finden konnte. Weißt du aber, daß ich es -vielleicht doch hätte ermöglichen können? Meine Mutter hätte mir das -Nötige fürs Studium geschickt, und Stiefel, Kleider und Essen hätte ich -selbst verdient, sicher sogar! Es fanden sich Unterrichtsstunden für -mich; man bot fünfzig Kopeken. Rasumichin arbeitet doch auch! Aber ich -wurde böse und wollte es nicht. _Ich wurde böse_ -- das ist ein guter -Ausdruck! Ich verkroch mich dann, wie eine Spinne, in meine Ecke. Du -warst doch in meinem elenden Loche, hast es gesehen ... Aber weißt du -auch, Ssonja, daß niedrige Decken und enge Zimmer die Seele und den -Verstand bedrücken? Oh, wie ich dieses elende Loch haßte! Dennoch wollte -ich nicht heraus! Ich wollte es absichtlich nicht! Tagelang ging ich -nicht aus und wollte nicht arbeiten, wollte nicht mal essen und lag die -ganze Zeit. Wenn mir Nastasja etwas brachte, -- aß ich, wenn sie nichts -brachte, -- verging auch so der Tag; absichtlich, aus Bosheit, bat ich -um nichts! Wenn ich nachts kein Licht hatte, lag ich im Dunkel, wollte -aber nicht arbeiten, um ein Licht kaufen zu können. Ich mußte studieren, --- habe aber die Bücher verkauft; auf dem Tische bei mir, auf den -Kollegheften und Notizen liegt jetzt fingerdick der Staub. Ich zog es -vor, zu liegen und zu grübeln. Und ich dachte die ganze Zeit ... immer -hatte ich solche Träume, allerhand seltsame Träume, es lohnt sich nicht, -von ihnen zu sprechen! Dann aber begann es mir vorzuschweben, daß ... -Nein, es ist nicht richtig! Ich erzähle wieder nicht in der richtigen -Weise! Siehst du, -- ich fragte mich damals immer, warum bin ich so -dumm, daß, wenn andere dumm sind, und wenn ich es sicher weiß, daß sie -dumm sind, ich selbst nicht klüger sein will? Ich erkannte später, -Ssonja, daß es zu lange dauern wird, wollte man warten, bis alle klug -werden ... Ich erkannte auch, daß es niemals der Fall sein wird, daß die -Menschen sich nicht verändern, daß niemand sie ändern kann, und daß es -sich der Mühe nicht lohnt! Ja, es ist so! Das ist ihr Gesetz ... Das -Gesetz, Ssonja! Es ist so! ... Und ich weiß jetzt, Ssonja, daß wer an -Verstand und Geist stark und kräftig ist, der auch der Herrscher über -sie ist! Wer viel wagt, der ist bei ihnen im Rechte! Wer auf das größere -pfeifen kann, der ist bei ihnen auch Gesetzgeber, wer aber am meisten -von allen wagen kann, der ist mehr im Rechte, als alle! In dieser Weise -ist es bis jetzt vor sich gegangen und so wird es immer bleiben! Nur ein -Blinder merkt es nicht!« - -Während Raskolnikoff dies sagte, sah er wohl Ssonja an, aber er kümmerte -sich nicht mehr darum, ob sie ihn verstehen würde oder nicht. Das Fieber -hatte ihn völlig gepackt. Er war in einem finstern Enthusiasmus. Er -hatte in der Tat zu lange mit niemand gesprochen. Und Ssonja verstand, -daß dieser finstere Katechismus sein Glaube und sein Gesetz geworden -war. - -»Ich kam damals darauf, Ssonja,« -- fuhr er immer noch enthusiastisch -fort, -- »daß die Macht bloß demjenigen gegeben wird, der es wagt, sich -zu bücken und sie zu nehmen. Das ist das einzige, nur das allein, -- man -muß wagen! Mir kam damals ein Gedanke, zum erstenmal im Leben, den -niemand je vor mir gedacht hat. Niemand! Klar wie die Sonne erschien mir -plötzlich der Gedanke: Warum hat bis jetzt kein einziger gewagt und wagt -es nicht, wenn er an diesem ganzen Unsinn vorbeigeht, alles einfach am -Schwanze zu packen und es zum Teufel zu werfen! Ich ... ich wollte _es -wagen_ und tötete ... ich wollte bloß wagen, Ssonja, das ist der ganze -Grund!« - -»Oh, schweigen Sie, schweigen Sie!« -- rief Ssonja und schlug die Hände -zusammen. -- »Sie haben Gott verlassen und Gott hat Sie gestraft, hat -Sie dem Teufel überliefert! ...« - -»Ja, Ssonja, -- als ich damals in der Dunkelheit lag und mir all das -vorschwebte, da hat mich der Teufel versucht? Nicht wahr?« - -»Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslästerer; nichts, nichts -begreifen Sie! Oh, Gott! Er wird nichts, nichts verstehen!« - -»Schweig, Ssonja, ich lache gar nicht, ich weiß es auch selbst, daß mich -der Teufel zog. Schweig, Ssonja, schweig!« -- wiederholte er düster und -beharrlich. -- »Ich weiß alles. Ich habe mir dies alles überlegt und -zugeflüstert, als ich damals im Dunkeln lag ... Ich habe über dies alles -mit mir selbst bis zum kleinsten Punkt gestritten und weiß alles, alles! -Und mir war dies ganze Geschwätz damals so zum Überdruß, so zum -Überdruß! Ich wollte alles vergessen und von neuem anfangen, Ssonja, und -aufhören zu schwatzen! Und denkst du etwa, daß ich, wie ein Dummkopf, -blindlings hingegangen bin? Ich bin, wie ein Kluger, hingegangen, und -das hat mich auch zugrunde gerichtet! Und meinst du etwa, ich hätte zum -Beispiel nicht gewußt, daß, _wenn_ ich überhaupt damit anfing, mich zu -fragen und auszuhorchen, -- ob ich ein Recht auf Macht habe, -- ich -schon deswegen dies Recht auf Macht _nicht_ hatte. Oder wenn ich mir die -Frage vorlegte, -- ist der Mensch eine Laus? -- da war schon der Mensch -_für mich_ keine Laus mehr, sondern war es eben für denjenigen, dem -diese Frage _nicht_ in den Sinn kam, und der ohne Fragen auf sein Ziel -losgeht ... Als ich mich soviel Tage abquälte, ob Napoleon es getan -hätte oder nicht, -- da fühlte ich es doch deutlich, daß ich kein -Napoleon war ... Ich habe die ganze Qual dieses ganzen Geschwätzes -ertragen, Ssonja, und wollte sie ganz und gar von mir abschütteln, -- -ich wollte, Ssonja, ohne Kasuistik töten, meinetwegen, für mich allein -töten! Ich wollte es nicht mal mir selbst vorlügen! Ich habe nicht darum -getötet, um meiner Mutter zu helfen, -- das ist Unsinn! Ich habe nicht -darum getötet, um Mittel und Macht zu erhalten, und dann ein Wohltäter -der Menschheit zu werden. Unsinn! Ich habe einfach getötet; für mich, -für mich ganz allein habe ich getötet; ob ich aber irgend wessen -Wohltäter geworden wäre, oder ob ich mein ganzes Leben, wie eine Spinne, -alle in mein Gewebe eingefangen und aus allen die Lebenssäfte ausgesaugt -hätte, -- mußte mir in jenem Augenblicke vollkommen gleichgültig sein! -... Und nicht um das Geld war es mir in erster Linie zu tun, Ssonja, als -ich tötete; nicht das Geld war mir so wichtig, es war etwas ganz anderes -... Ich weiß jetzt alles ... Verstehe mich, -- wenn ich vielleicht -denselben Weg weitergegangen wäre, würde ich niemals mehr einen Mord -begangen haben. Ich mußte etwas anderes erfahren, etwas anderes trieb -mich dazu, -- ich mußte damals und schleunigst erfahren, ob ich eine -Laus bin, wie alle, oder ein Mann? Bin ich imstande, hinwegzuschreiten -oder nicht? Werde ich es wagen, mich zu bücken und die Macht aufzuheben -oder nicht? Bin ich eine zitternde Kreatur oder habe ich _ein Recht_ -...« - -»Zu töten? Ein Recht zu töten?« -- schlug Ssonja die Hände zusammen. - -»Ach, Ssonja!« -- rief er gereizt aus, wollte ihr etwas erwidern, -schwieg aber verächtlich. -- »Unterbrich mich nicht, Ssonja! Ich wollte -mir bloß beweisen, -- daß der Teufel mich damals hinschleppte, mir aber -nachher erklärte, daß ich kein Recht hatte, dort hinzugehen, weil ich -eben so eine Laus bin, wie alle! Er hat seinen Spott mit mir getrieben, -nun bin ich zu dir gekommen! Nimm den Gast auf! Wenn ich nicht eine Laus -wäre, würde ich dann zu dir gekommen sein? Höre, -- als ich damals zu -der Alten hinging, ging ich bloß, es _zu versuchen_ ... Nun weißt du -es!« - -»Und haben getötet! Haben getötet!« - -»Wie habe ich getötet? Ermordet man denn in dieser Weise? Geht man denn -so hin zu töten, wie ich damals ging! Ich will dir einmal erzählen, wie -ich hinging ... Habe ich denn die Alte getötet? Ich habe mich getötet, -und nicht die Alte! Da habe ich mich mit einem Schlage auf ewig -getroffen! ... Und diese Alte hat der Teufel getötet, aber nicht ich ... -Genug, genug, Ssonja, genug! Laß mich,« -- rief er plötzlich in -krankhaftem Grame, -- »laß mich!« - -Er stützte sich auf seine Knie und umklammerte mit beiden Händen den -Kopf. - -»Wie Sie leiden!« -- entrang sich Ssonja ein qualvoller Schrei. - -»Was soll ich jetzt tun, sprich!« -- fragte er, erhob plötzlich den Kopf -und blickte sie mit einem vor Verzweiflung schrecklich verzerrten -Gesichte an. - -»Was tun!« -- rief sie aus, sprang von ihrem Platze auf, und ihre Augen, -die bis jetzt voll Tränen waren, funkelten plötzlich. -- »Steh auf!« -- -Sie packte ihn an den Schultern; er erhob sich und sah sie fast -verwundert an. -- »Geh sofort, gleich, stell dich auf einen Kreuzweg -hin, beuge dich, küß zuerst die Erde, die du besudelt hast, dann beuge -dich vor der ganzen Welt, in allen vier Richtungen und sage allen laut: --- >ich habe getötet!< Dann wird dir Gott wieder Leben senden. Willst du -gehen? Willst du gehen?« -- fragte sie ihn, am ganzen Körper zitternd, -wie in einem Anfall, und faßte dabei seine beiden Hände und drückte sie -stark und sah ihn mit feurigen Blicken an. - -Er war erstaunt, ja, durch ihre plötzliche Begeisterung bestürzt. - -»Du meinst die Zwangsarbeit, Sibirien, Ssonja? Daß ich mich selbst -anzeigen soll?« -- fragte er finster. - -»Das Leiden auf sich nehmen und dadurch Erlösung finden, das sollst du.« - -»Nein! Ich gehe nicht zu ihnen, Ssonja.« - -»Wie wirst du aber leben, leben? Wie wirst du weiterleben?« -- rief -Ssonja. -- »Ist es denn jetzt möglich? Und wie wirst du mit deiner -Mutter sprechen? Oh, was wird, was wird jetzt mit ihnen geschehen! Ja, -was sage ich! Du hast ja schon deine Mutter und Schwester verlassen. Du -hast sie doch verlassen, sie verlassen. Oh, Gott!« -- rief sie, -- »er -weiß ja alles selbst! Nun, wie kann man denn ohne einen Menschen -weiterleben! Was wird jetzt mit dir werden!« - -»Sei kein Kind, Ssonja,« -- sagte er leise. -- »Welche Schuld habe ich -vor ihnen? Wozu soll ich hingehen? Was soll ich ihnen sagen? Das sind -alles bloß Gespenster ... Sie vertilgen selbst Millionen von Menschen -und halten es noch für eine Tugend. Sie sind Gauner und Schufte, Ssonja! -... Ich gehe nicht. Und was soll ich sagen, -- daß ich getötet und nicht -gewagt habe, das Geld zu nehmen, daß ich es unter einem Stein versteckt -habe?« -- fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. -- »Sie werden doch -selbst über mich lachen, werden sagen, -- er ist ein Dummkopf, daß er es -nicht genommen hat. Ein Feigling und ein Dummkopf! Sie werden nichts, -gar nichts verstehen, Ssonja, und sie sind nicht wert, es zu verstehen. -Wozu soll ich hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Ssonja ...« - -»Du wirst dich zu Tode quälen, zu Tode quälen,« -- wiederholte sie und -streckte ihm in verzweifeltem Flehen die Hände entgegen. - -»Ich habe mich vielleicht _bloß_ verleumdet,« -- bemerkte er finster, -wie sinnend, -- »vielleicht bin ich _doch_ ein Mensch und keine Laus, -vielleicht habe ich mich übereilt verurteilt ... Ich will _noch_ -kämpfen.« - -Ein hochmütiges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. - -»Solche Qual zu tragen! Und das ganze, ganze Leben hindurch! ...« - -»Ich werde mich gewöhnen ...,« -- sagte er düster und nachdenklich. -- -»Höre,« -- begann er nach einer Weile, -- »es ist genug geweint, jetzt -ist Zeit, die Sache zu bedenken, -- ich bin gekommen, dir zu sagen, daß -man mich jetzt sucht, mir nachstellt ...« - -»Ach!« -- rief Ssonja erschrocken aus. - -»Nun, warum schreist du? Du willst doch selbst, daß ich nach Sibirien -gehe, jetzt aber erschrakst du? Eins aber will ich sagen, -- ich ergebe -mich ihnen nicht. Ich will mit ihnen noch kämpfen, und sie werden mir -nichts tun können. Sie haben keine wirklichen Beweise. Gestern war ich -in großer Gefahr und dachte, daß ich schon verloren sei; heute hat es -sich verbessert. Alle ihre Beweise haben zwei Seiten, das will sagen, -- -ich kann ihre Beschuldigungen zu meinen Gunsten verwenden, verstehst du? -Und ich werde sie zu meinen Gunsten verwenden, denn ich habe es jetzt -gelernt ... Ins Gefängnis aber wird man mich sicher sperren. Wenn nicht -ein Zufall hinzugekommen wäre, hätte man mich vielleicht schon heute -geholt; vielleicht geschieht es heute _noch_ ... Aber das tut nichts, -Ssonja, -- ich werde eine Zeitlang sitzen und man wird mich freilassen -... denn sie haben keinen einzigen wirklichen Beweis und werden ihn auch -nicht bekommen, ich gebe mein Wort darauf. Mit dem aber, was sie -besitzen, kann man einen Menschen nicht verurteilen. Nun, genug ... Ich -sagte es bloß, damit du es weißt ... Mit meiner Mutter und Schwester -will ich es so einzurichten versuchen, daß sie nicht daran glauben, -damit sie nicht erschrecken ... Meine Schwester ist jetzt übrigens, wie -es scheint, versorgt ... also auch meine Mutter ... Nun, das ist alles. -Sei übrigens vorsichtig. Willst du zu mir ins Gefängnis kommen, wenn ich -dort sein werde?« - -»Oh, ich werde, werde kommen!« - -Sie saßen nebeneinander, traurig und niedergeschlagen, als wären sie -nach einem Sturme allein an einen einsamen Strand geschleudert worden. -Er sah Ssonja an und fühlte ihre große Liebe, und seltsam, es fiel ihm -plötzlich schwer und schmerzlich aufs Herz, daß er so geliebt wurde. Es -war ein seltsames und furchtbares Gefühl! Als er zu Ssonja ging, empfand -er, daß in ihr seine ganze Hoffnung und sein letzter Ausweg liege; er -glaubte wenigstens einen Teil seiner Qualen abzuwälzen und jetzt, wo ihr -ganzes Herz sich ihm zugewandt hatte, fühlte und erkannte er, daß er um -vieles unglücklicher geworden war. - -»Ssonja,« -- sagte er, -- »komm lieber nicht zu mir, wenn ich im -Gefängnis sein werde.« - -Ssonja antwortete nicht, sie weinte. Es vergingen ein paar Minuten. - -»Hast du ein Kreuz?« -- fragte sie plötzlich unerwartet, als sei es ihr -eben eingefallen. - -Er verstand zuerst die Frage nicht. - -»Nein, du hast keins? -- Hier, nimm dieses Kreuz aus Zypressenholz. Ich -habe ein anderes, kupfernes von Lisaweta. Ich habe mit Lisaweta -getauscht, -- sie hat mir ihr Kreuz gegeben und ich ihr mein -Heiligenbildchen. Ich will jetzt das Kreuz von Lisaweta tragen, dieses -aber gebe ich dir. Nimm ... es gehört doch mir! Es ist doch mein Kreuz!« --- bat sie ihn, -- »wir werden doch zusammen gehen und leiden, also -wollen wir auch zusammen das Kreuz tragen! ...« - -»Gib her!« sagte Raskolnikoff. - -Er wollte sie nicht betrüben, zog aber gleich wieder die Hand zurück, -die er nach dem Kreuze ausgestreckt hatte. - -»Nicht jetzt, Ssonja. Lieber später,« -- fügte er hinzu, um sie zu -beruhigen. - -»Ja, ja, es ist besser, es ist besser,« -- pflichtete sie ihm mit -Begeisterung bei, -- »wenn du gehst, um das Leiden auf dich zu nehmen, -dann legst du es um. Du kommst dann zu mir, ich werde es dir umhängen, -wir wollen dann beten und beide gehen.« - -In diesem Augenblicke klopfte jemand dreimal an die Türe. - -»Ssofja Ssemenowna, kann ich hereinkommen?« -- ertönte eine sehr -bekannte höfliche Stimme. - -Ssonja stürzte erschrocken zur Türe. Herr Lebesjätnikoff blickte in das -Zimmer hinein. - - - V. - -Lebesjätnikoff sah aufgeregt aus. - -»Ich komme zu Ihnen, Ssofja Ssemenowna. Entschuldigen Sie ... Ich dachte -mir, daß ich auch Sie treffen werde,« -- wandte er sich schnell an -Raskolnikoff, -- »das heißt, ich dachte nichts ... in dieser Hinsicht -... aber ich dachte ... Dort bei uns ist Katerina Iwanowna verrückt -geworden,« -- schloß er plötzlich, zu Ssonja gewandt. - -Ssonja schrie auf. - -»Das heißt, es scheint wenigstens so ... Wir wissen nicht, was wir tun -sollen, das ist es! Sie kam zurück ... man scheint sie irgendwo -hinausgejagt, vielleicht auch geschlagen zu haben ... es scheint -wenigstens so ... Sie war zu dem Vorgesetzten des verstorbenen Ssemjon -Sacharytsch gelaufen, hatte ihn nicht zu Hause getroffen; er war bei -einem anderen General zu Mittag geladen ... Und stellen Sie sich vor, -sie lief dann dorthin, ... zu diesem anderen General, stellen Sie sich -vor, -- sie bestand auf ihrem Verlangen, den Vorgesetzten von Ssemjon -Sacharytsch zu sehen, und sie hat, wie es scheint, ihn von der Tafel -rufen lassen. Sie können sich denken, was passiert ist. Man jagte sie -selbstverständlich hinaus; sie erzählte, daß sie den General beschimpft -und ihm sogar etwas ins Gesicht geschleudert habe. Das kann man ihr -schon glauben ..., daß man sie nicht zur Polizei gebracht hat, -- -verstehe ich nicht! Jetzt erzählt sie es allen, auch Amalie Iwanowna, -doch es ist schwer zu verstehen, was sie meint, denn sie schreit und -wirft sich dabei mit dem Kopfe an die Wand ... Ach ja -- sie sagt und -schreit, da sie jetzt von allen verlassen sei, jetzt wolle sie mit den -Kindern auf die Straße gehen, die einen Leierkasten tragen sollen, die -Kinder müßten singen und tanzen, auch sie würde singen und Geld -einsammeln, und Tag für Tag wolle sie vor den Fenstern des Generals -stehen ... >Mögen alle sehen,< sagt sie, >wie die edlen Kinder eines -angesehenen Beamten als Bettler in den Straßen herumgehen müssen!< Sie -schlägt die weinenden Kinder, Lene lehrt sie ein Lied singen, den Knaben -tanzen und Poletschka ebenfalls; reißt alle Kleider entzwei; macht ihnen -Mützen, wie die Gaukler sie haben; sie selbst will ein Becken tragen, -darauf schlagen, an Stelle der Musik ... Uns will sie gar nicht anhören -... Stellen Sie sich vor, wie soll das werden? Das geht doch nicht an!« - -Lebesjätnikoff hätte noch weiter gesprochen, aber Ssonja, die ihm mit -angehaltenem Atem zugehört hatte, griff rasch nach ihrer Mantille und -ihrem Hut, lief aus dem Zimmer und kleidete sich im Gehen an. -Raskolnikoff ging ihr nach und Lebesjätnikoff folgte ihm. - -»Sie ist ganz gewiß verrückt geworden!« -- sagte er zu Raskolnikoff und -trat mit ihm auf die Straße, -- »ich wollte nur Ssofja Ssemenowna nicht -so erschrecken und sagte deshalb -- >es scheint<, aber es kann keinen -Zweifel darüber geben. Man hört oft, daß bei Schwindsucht im Gehirn -solche Knollen entstehen; schade, daß ich nicht Medizin studiert habe. -Ich versuchte übrigens, sie zu überzeugen, aber sie will nichts hören.« - -»Haben Sie ihr von diesen Knollen gesprochen?« - -»Das heißt, eigentlich nicht von den Knollen. Sie würde es doch nicht -verstanden haben. Ich sage aber, -- wenn man einen Menschen logisch -überzeugen kann, daß er eigentlich keinen Grund hat, zu weinen, so hört -er auch auf zu weinen. Das ist klar. Oder meinen Sie, daß er nicht -aufhören wird?« - -»Dann wäre das Leben leicht,« -- antwortete Raskolnikoff. - -»Erlauben Sie, erlauben Sie bitte; gewiß, bei Katerina Iwanowna würde es -ziemlich schwer fallen, sie verstände es nicht. Aber ist Ihnen nicht -bekannt, daß in Paris schon ernste Versuche gemacht worden sind über die -Möglichkeit, durch Anwendung von logischer Überredung Wahnsinnige zu -heilen? Ein Professor dort, der vor kurzem gestorben ist, ein großer -Gelehrter, hat sich ausgedacht, daß man sie in dieser Weise heilen kann. -Sein Grundgedanke ist, daß bei den Wahnsinnigen eine besondere Störung -im Organismus nicht vorgeht, und daß der Wahnsinn sozusagen ein -logischer Fehler, ein Fehler der Urteilsfähigkeit, eine falsche Ansicht -von Dingen ist. Er widerlegte allmählich den Kranken, und denken Sie -sich, er soll Erfolge erzielt haben. Da er außerdem auch Duschen -anwandte, so wurden die Erfolge dieser Behandlung bezweifelt ... Es -scheint wenigstens so ...« - -Raskolnikoff hörte ihm längst nicht mehr zu. Als er an seinem Hause -ankam, nickte er mit dem Kopfe Lebesjätnikoff zu und bog in den Torweg -ein. Lebesjätnikoff kam zu sich, blickte sich um und lief weiter. - -Raskolnikoff trat in seine Kammer und blieb mitten darin stehen. Warum -war er hierher zurückgekehrt? Er sah diese gelblichen, abgerissenen -Tapeten, diesen Staub, sein Sofa an ... Vom Hofe drang ein hartes -ununterbrochenes Klopfen; man schien Nägel einzuschlagen ... Er trat an -das Fenster, hob sich auf den Zehen und blickte lange mit -außerordentlicher Aufmerksamkeit im Hofe umher. Der Hof aber war leer -und man sah die Klopfenden nicht. Links, im Seitengebäude war hie und da -ein geöffnetes Fenster; auf den Fensterbrettern standen kleine Töpfe mit -schwächlichen Geranien. Vor den Fenstern hing Wäsche ... Das ganze Bild -kannte er auswendig. Er wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa. -Noch nie, nie hatte er sich so furchtbar einsam gefühlt! - -Ja, er fühlte es noch einmal, daß er vielleicht Ssonja hassen werde, und -zwar jetzt, wo er sie unglücklicher gemacht hatte. - -Warum war er zu ihr hingegangen? Um um ihre Tränen zu bitten? Warum -mußte er so unbedingt ihr Leben verkümmern? Oh, welche Gemeinheit. - -»Ich bleibe allein!« -- sagte er plötzlich entschlossen, -- »und sie -soll nicht ins Gefängnis zu mir kommen!« - -Nach etwa fünf Minuten erhob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Es -war ein merkwürdiger Gedanke: -- »Vielleicht ist es in Sibirien -tatsächlich besser.« - -Er erinnerte sich nicht, wie lange er in seinem Zimmer sich mit den -einstürmenden unklaren Gedanken abgegeben hatte. Da öffnete sich -plötzlich die Türe und Awdotja Romanowna trat herein. Sie blieb zuerst -stehen und blickte ihn von der Schwelle an, so wie er gestern Ssonja -angeblickt hatte; kam dann herein und setzte sich auf einen Stuhl, auf -ihren gestrigen Platz, ihm gegenüber. Er sah sie schweigend und -augenscheinlich gedankenlos an. - -»Sei mir nicht böse, Bruder, ich komme nur auf einen Augenblick,« -- -sagte Dunja. - -Der Ausdruck ihres Gesichtes war nachdenklich, aber nicht streng. Der -Blick war klar und still. Er sah, daß auch sie mit Liebe zu ihm gekommen -war. - -»Bruder, ich weiß jetzt alles, _alles_. Mir hat Dmitri Prokofjitsch -alles erklärt und erzählt. Man verfolgt und quält dich mit einem dummen -und schändlichen Verdacht! ... Dmitri Prokofjitsch hat mir gesagt, daß -für dich keine Gefahr vorhanden sei, daß du dich unnütz mit solch einem -Schrecken befassest. Ich denke nicht, wie er, ich _verstehe vollkommen_, -wie alles in dir empört sein muß, und daß diese Empörung in dir für -immer Spuren hinterlassen kann. Davor habe ich Angst. Ich verurteile -dich nicht und darf dich nicht verurteilen, daß du uns verlassen hast, -verzeih mir, daß ich dir dies vorgeworfen habe. Ich weiß selbst, daß -auch ich von allen fortgehen würde, wenn ich solch einen großen Kummer -hätte. Ich werde der Mutter _davon_ nichts sagen, will aber mit ihr -immer über dich sprechen, und will in deinem Namen sagen, daß du sehr -bald kommen wirst. Quäle dich nicht ihretwegen; _ich_ werde sie -beruhigen; aber quäle auch sie nicht zu sehr, -- komm wenigstens noch -einmal zu ihr; erinnere dich, daß sie unsere Mutter ist! Ich bin nur -gekommen, um zu sagen,« -- Dunja stand auf, -- »daß, falls du irgendwie -mich brauchen solltest und wenn es ... mein Leben gälte ... so rufe -mich, ich werde kommen. Leb wohl!« - -Sie wandte sich schnell um und ging zur Türe. - -»Dunja!« -- rief Raskolnikoff, stand auf und ging zu ihr, -- »dieser -Dmitri Prokofjitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.« - -Dunja errötete ein wenig. - -»Nun!« -- fragte sie nach einer Weile. - -»Er ist ein tüchtiger, fleißiger, ehrlicher Mensch und ist starker Liebe -fähig ... Leb wohl, Dunja.« - -Dunja errötete, dann wurde sie unruhig. - -»Was ist dir, Bruder, trennen wir uns denn wirklich für immer, daß du -mir ... solch ein Vermächtnis machst?« - -»Wie dem auch sei ... leb wohl ...« - -Er kehrte sich um und ging zum Fenster. Sie blieb eine Weile stehen, sah -ihn sorgenvoll an und ging mit dem Gefühle der Angst hinaus. - -Er war ihr gegenüber nicht kälter! Es hatte einen Augenblick, in letzter -Minute, gegeben, wo er die größte Lust verspürte, sie innig zu umarmen, -von ihr _Abschied zu nehmen_ und ihr alles zu _sagen_, aber er wagte ihr -nicht einmal die Hand zu reichen. - -»Sie würde vielleicht später noch erschauern bei dem Gedanken, daß ich -sie umarmt habe, und würde sagen, daß ich ihr einen Kuß gestohlen -hätte!« - -»Würde sie dies ertragen können oder nicht?« -- fügte er nach einigen -Minuten hinzu. -- »Nein, sie würde es nicht ertragen können; eine -_solche Natur_ nicht ...« - -Er dachte an Ssonja. - -Vom Fenster kam eine kühle Luft. Draußen war es nicht mehr hell. Er nahm -seine Mütze und ging hinaus. - -Er konnte und wollte nicht auf seinen krankhaften Zustand achten. Aber -diese ununterbrochenen Aufregungen und diese seelischen Erschütterungen -konnten nicht ohne Folgen bleiben. Und wenn er noch nicht an einem -heftigen Fieber daniederlag, so war es vielleicht darum, weil diese -inneren ununterbrochenen Aufregungen ihn vorläufig noch aufrecht und bei -Bewußtsein hielten. - -Er irrte ziellos herum. Die Sonne ging unter. Eine eigenartige Angst -begann in der letzten Zeit seiner Seele sich zu bemächtigen. Es war kein -bohrender oder brennender Schmerz; etwas Beständiges oder Bleibendes -aber ging von ihm aus; die Ahnung einer Reihe endloser kalter, toter -Jahre lag darinnen, einer Ewigkeit auf dem »ellenbreiten Raume«. In den -Abendstunden war dieses Gefühl stärker und peinvoller. - -»Und mit diesen dummen, rein physischen Schwächen, die vom -Sonnenuntergang abhängen konnten, soll man sich vor Dummheiten hüten! Da -läuft man dann nicht bloß zu Ssonja hin, auch zu Dunja!« -- murmelte er -haßerfüllt vor sich hin. Man rief ihn beim Namen. Er blickte sich um; -Lebesjätnikoff eilte auf ihn zu. - -»Denken Sie, ich war bei Ihnen, ich suchte Sie. Stellen Sie sich vor, -sie hat wirklich ihre Absicht ausgeführt und die Kinder mitgenommen. Ich -habe sie mit Ssofja Ssemenowna nur mit Mühe gefunden. Sie selbst schlägt -auf eine Pfanne, und läßt die Kinder tanzen. Die Kinder weinen. Sie -bleiben an Straßenecken und vor Läden stehen. Das dumme Volk läuft ihnen -nach. Wir wollen hingehen!« - -»Und Ssonja?« -- fragte Raskolnikoff unruhig und eilte Lebesjätnikoff -nach. - -»Sie ist ganz außer sich. Nicht Ssofja Ssemenowna, sondern Katerina -Iwanowna ist außer sich; aber auch Ssofja Ssemenowna ist außer sich. -Katerina Iwanowna ist aber ganz und gar aufgelöst. Ich sage Ihnen, sie -ist vollkommen verrückt. Man wird sie noch zur Polizei bringen. Sie -können sich vorstellen, wie das erst auf sie wirken wird ... Jetzt sind -sie am Kanal bei der N.schen Brücke, gar nicht weit von Ssofja -Ssemenownas Wohnung.« - -Am Kanal, nicht weit von der Brücke und zwei Häuser von der Wohnung -Ssonjas entfernt, hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt. -Besonders Knaben und Mädchen liefen hin. Von der Brücke aus konnte man -die heisere, überanstrengte Stimme von Katerina Iwanowna hören. Es war -ein merkwürdiges Schauspiel, fähig, das Straßenpublikum zu fesseln. -Katerina Iwanowna hatte ihr altes, abgetragenes Kleid an, einen Schal -umgelegt und einen zerrissenen Strohhut auf; sie war tatsächlich ganz -außer sich. Dabei war sie müde und rang nach Atem. Ihr abgehärmtes -schwindsüchtiges Gesicht sah noch leidender aus; außerdem sieht ein -Schwindsüchtiger draußen im Sonnenlicht stets kränklicher und mehr -entstellt aus als zu Hause, -- ihr aufgeregter Zustand nahm kein Ende, -sie wurde mit jedem Augenblicke gereizter. Bald stürzte sie sich auf die -Kinder, schrie sie an, redete ihnen zu, lehrte sie auf der Straße in -Gegenwart aller, wie sie tanzen und was sie singen sollten, begann ihnen -zu erklären, warum dies nötig sei, geriet in Verzweiflung, daß sie nicht -begreifen wollten, und schlug sie ... Dann stürzte sie wieder ins -Publikum, -- wenn sie einen einigermaßen besser gekleideten Menschen -entdeckte, der stehen blieb, um sich die Sache anzusehen, beeilte sie -sich sofort, ihm zu erklären, daß es so weit, -- mit -- den Kindern »aus -einem feinen, man kann sogar sagen aristokratischen Hause,« gekommen -war. Wenn sie unter den Zuschauern Lachen oder ein freches Wort hörte, -wandte sie sich sofort an die Dreisten und begann sie zu schelten. -Einige lachten darüber, andere wieder schüttelten die Köpfe; aber allen -war es interessant, die Wahnsinnige mit ihren erschrockenen Kindern -anzusehen. Die Pfanne, die Lebesjätnikoff erwähnt hatte, war nicht da; -Raskolnikoff sah sie wenigstens nicht. Katerina Iwanowna schlug den Takt -nicht auf einer Pfanne, sondern mit ihren mageren Händen, wenn sie -Poletschka zum singen und Lene und Kolja zum tanzen veranlaßte. Sie fing -selbst an mitzusingen, wurde jedoch jedesmal beim zweiten Tone von einem -quälenden Husten unterbrochen; dann wurde sie von neuem verzweifelt, -fluchte ihrem Husten und weinte sogar. Am meisten brachte sie das Weinen -und die Angst Koljas und Lenes auseinander. Sie hatte wirklich den -Versuch gemacht, die Kinder aufzuputzen, wie Straßentänzer und Gaukler. -Der Knabe hatte einen Turban aus rotem und weißem Stoff, damit er einem -Türken ähnle. Für Lene reichte es zu einem Kostüm nicht aus; sie hatte -nur ein rotes, gestricktes Käppchen des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch -auf dem Kopfe und an dieses Käppchen war eine abgebrochene Straußfeder -befestigt worden, die noch der Großmutter von Katerina Iwanowna gehört -hatte und die bis jetzt, als ein altes Familienstück, im Koffer -aufbewahrt wurde. Poletschka war in ihrem gewöhnlichen Kleidchen. Sie -blickte schüchtern und weltvergessen die Mutter an, wich nicht von ihrer -Seite, verbarg die Tränen, ahnend, daß die Mutter wahnsinnig geworden -sei, und sah unruhig um sich. Die Straße und die Menschenmenge hatten -sie äußerst erschreckt. Ssonja wich keinen Schritt von Katerina -Iwanowna, weinte und flehte sie an, nach Hause zurückzukehren. Katerina -Iwanowna aber blieb unerbittlich. - -»Höre auf, Ssonja, höre auf!« -- schrie sie hastig, außer Atem und -hustend. -- »Du weißt selbst nicht, was du bittest, du bist wie ein -Kind! Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich zu dieser vertrunkenen -Deutschen nicht zurückkehren will. Mögen alle, ganz Petersburg sehen, -wie die Kinder eines edlen Vaters, der sein ganzes Leben treu und -redlich gedient hat, und man kann sagen, im Dienste gestorben ist, -betteln gehen müssen.« -- Katerina Iwanowna hing schon an dieser -Erfindung eigener Phantasie mit blindem Glauben. -- »Mag es nur dieser -schändliche Kerl von einem General sehen. Ja, du bist dumm, Ssonja, -- -was sollen wir denn essen, sage mir? Wir haben dich genug gepeinigt, ich -will es nicht mehr! Ach, Rodion Romanowitsch, Sie sind es!« -- rief sie -aus, als sie Raskolnikoff erblickte, und stürzte zu ihm hin, -- -»erklären Sie bitte dieser dummen kleinen Person, daß wir nichts -klügeres tun konnten! Sogar Leierkastenmänner verdienen, bei uns aber -werden alle bemerken und erfahren, daß wir eine arme feine Familie und -Waisen sind, die an den Bettelstab gebracht wurden, und dieser Kerl von -einem General wird seine Stelle verlieren. Sie werden es sehen! Wir -werden jeden Tag vor seinen Fenstern stehen, und wenn der Kaiser -vorbeifahren wird, will ich mich auf die Knie werfen und auf die Kinder -will ich zeigen und sagen: -- >Schütze sie, Vater!< Er ist der Vater -aller Waisen, er ist barmherzig, er wird sie schützen, Sie werden es -sehen, und diesen Kerl von einem General ... Lene! _Tenez vous -droite!_{[11]} Du, Kolja, wirst sofort wieder tanzen. Was heulst du? Er -heult wieder! Nun, warum fürchtest du dich, Dummköpfchen! Oh, Gott! Was -soll ich mit ihnen tun, Rodion Romanowitsch! Wenn Sie wüßten, wie -unvernünftig sie sind! Was soll man mit ihnen tun! ...« - -Und sie zeigte, fast weinend, was sie jedoch nicht hinderte, -ununterbrochen und unaufhörlich zu reden, -- auf die schluchzenden -Kinder. Raskolnikoff versuchte sie zu überreden, nach Hause zu gehen und -sagte ihr sogar, in der Meinung auf ihre Eigenliebe zu wirken, daß es -für sie unpassend sei, wie Leierkastenleute in den Straßen -umherzuziehen, weil sie doch beabsichtigte, die Vorsteherin einer -Pension für junge Mädchen aus besseren Ständen ... - -»Einer Pension für junge Mädchen, ha! ha! ha! Was weit herkommt, hat gut -lügen -- sagt das Sprichwort!« -- rief Katerina Iwanowna aus; nach dem -Lachen überfiel sie ein starker Husten, -- »nein, Rodion Romanowitsch, -der Traum ist vorüber! Alle haben uns verlassen! ... Und dieser Kerl von -einem General ... Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, ich habe ihm ein -Tintenfaß an den Kopf geworfen, -- es stand gerade eins da, im -Vorzimmer, neben dem Buche, wo alle ihre Namen eintragen, auch ich habe -mich eingetragen, ich warf ihm das Tintenfaß an den Kopf und lief davon. -Oh, gemeine, niederträchtige Menschen! Ich pfeife auf sie alle, ich will -selbst die da füttern, will niemanden mehr anbetteln! Wir haben sie -genug gequält!« -- und sie wies auf Ssonja. -- »Poletschka, wieviel -haben wir eingesammelt, zeige mir mal! Wie? Bloß zwei Kopeken? Oh, -schändliche Menschen! Sie geben nichts, laufen uns bloß mit -ausgestreckter Zunge nach! Nun, was lacht dieser Holzklotz?« -- sie -zeigte auf einen in der Menge. -- »Das kommt alles daher, weil Kolja so -einfältig ist, man hat nur Schererei mit ihm! Was willst du, Poletschka? -Sprich mit mir französisch, _parlez moi français_{[12]}. Ich habe dich -doch gelehrt, du kennst doch einige Sätze! ... Wie kann man denn -erkennen, daß ihr aus feiner Familie, wohlerzogene Kinder seid und keine -Leierkastenleute. Wir machen doch kein Kasperletheater auf den Straßen, -wir wollen eine schöne feine Romanze singen ... Ach ja! Was sollen wir -denn singen? Ihr unterbrecht mich in einem fort, wir sind ... sehen Sie, -Rodion Romanowitsch, wir sind hier stehen geblieben, um auszusuchen, was -wir singen sollen, -- etwas, was auch Kolja vortanzen kann ... denn -alles machen wir, Sie können es sich vorstellen, ohne Vorbereitungen. -Wir wollen uns besprechen, um alles ordentlich durchzunehmen, dann gehen -wir auf den Newski Prospekt, wo es bedeutend mehr Menschen aus der -höchsten Gesellschaft gibt, die uns sofort bemerken werden. Lene kennt -das Lied >Die Troika< ... Aber das kann man doch nicht immerwährend -singen, die ganze Welt singt es ja! Wir müssen etwas viel Besseres -singen ... Nun, was meinst du, Poletschka, du könntest doch der Mutter -helfen! Ich erinnere mich an nichts mehr, ich habe alles vergessen! Ach, -wollen wir doch französisch >_Cinq sous_<{[13]} singen! Ich habe es euch -doch gelehrt! Und da es französisch ist, werden alle sofort sehen, daß -ihr adlige Kinder seid, und das ist bedeutend rührender ... Wir könnten -sogar >_Malbrough s'en va-t-en guerre!_{[14]}< singen, da es ein -ausgesprochenes Kinderlied ist und in allen aristokratischen Häusern -gesungen wird, wenn die Kinder zum Schlafen gebracht werden.« - - _Malbrough s'en va-t-en guerre_ - _Ne sait quand reviendra ..._{[14]} - -begann sie zu singen ... »Nein, es ist besser >_Cinq sous!_{[13]}< Nun, -Kolja, stemme die Händchen in die Seiten, aber schneller, und du Lene, -drehe dich in entgegengesetzter Richtung, ich werde mit Poletschka -singen und in die Hände klatschen! - - _Cinq sous, cinq sous_ - _Pour monter notre ménage ..._{[15]} - -Kche--kche--kche!« (Und sie krümmte sich vor Husten.) »Bring dein Kleid -in Ordnung, Poletschka, die Schultern sind entblößt,« bemerkte sie, -zwischen dem Husten atemholend. -- »Ihr müßt euch jetzt besonders -anständig und in feinem Tone benehmen, damit es alle sehen, daß ihr -adlige Kinder seid. Ich habe damals gesagt, daß man die Taille länger -und in doppelter Breite zuschneiden soll. Du kamst aber mit deinen -Ratschlägen, Ssonja, -- es kürzer und kürzer zu machen, nun jetzt siehst -du, ist das Kind völlig verunstaltet ... Ihr weint wieder! Ja, warum -weint ihr Dummen! Kolja, fang schneller an, schneller, -- ach, wie dies -Kind unerträglich ist! ... - - _Cinq sous, cinq sous --_{[13]} - -Wieder ein Schutzmann! Nun, was willst du?« - -Es drängte sich ein Schutzmann durch die Menge. Gleichzeitig näherte -sich ihr ein Herr im Dienstrocke und Mantel, ein höherer Beamter, mit -einem Orden am Halsbande -- dieser Umstand war Katerina Iwanowna sehr -erwünscht und hatte selbst Einfluß auf den Schutzmann, -- und -überreichte ihr schweigend einen grünen Dreirubelschein. Sein Gesicht -drückte aufrichtiges Mitleid aus. Katerina Iwanowna nahm das Geld und -verbeugte sich höflich, fast förmlich. - -»Ich danke Ihnen, mein Herr,« begann sie von oben herab, »die Gründe, -die uns gezwungen haben ... nimm das Geld, Poletschka. Du siehst, es -gibt noch edle und großmütige Menschen, die sofort bereit sind, einer -armen adligen Dame im Unglücke zu helfen. Sie sehen adlige Waisen vor -sich, mein Herr, man kann sogar sagen, mit aristokratischsten -Verbindungen ... Und dieser Kerl von einem General saß am Tische und aß -Haselhühner ... stampfte mit den Füßen, weil ich ihn gestört habe ... ->Eure Exzellenz,< sagte ich, >schützen Sie die Waisen, da Sie den -verstorbenen Ssemjon Sacharytsch gut kannten,< sagte ich, >und weil der -gemeinste aller Schufte seine leibliche Tochter an seinem Todestage -verleumdet hat ...< Wieder kommt dieser Schutzmann! Schützen Sie mich!« -rief sie dem Beamten zu, -- »was will dieser Schutzmann von mir? Wir -sind schon vor einem weggelaufen ... Nun, was geht es dich an, -Dummkopf!« - -»Es ist in den Straßen verboten. Machen Sie keinen Skandal!« - -»Du bist selbst ein Skandalmacher! Ich gehe herum, wie jeder -Leierkastenmann, was geht es dich an?« - -»Zu einem Leierkasten muß man eine Erlaubnis haben. Sie sammeln aber in -dieser Weise das Volk an. Wo wohnen Sie?« - -»Wie, Erlaubnis,« schrie Katerina Iwanowna. -- »Ich habe heute meinen -Mann beerdigt, was ist da für eine Erlaubnis nötig!« - -»Bitte, beruhigen Sie sich, Madame,« begann der vornehme Beamte, »kommen -Sie, ich will Sie begleiten ... Hier unter den Leuten ist es unpassend -... Sie sind krank ...« - -»Mein Herr, mein Herr, Sie wissen gar nicht!« schrie Katerina Iwanowna, -»wir wollen auf den Newski Prospekt gehen ... Ssonja, Ssonja! Wo ist sie -denn? Sie weint auch! Was ist denn mit euch allen! ... Kolja, Lene, -wohin geht ihr denn?« rief sie plötzlich im Schreck, »oh, die dummen -Kinder! Kolja, Lene, ja, wohin laufen sie denn? ...« - -Als Kolja und Lene, bis aufs äußerste von der Menschenmenge und von der -wahnsinnigen Mutter erschreckt, den Schutzmann erblickten, der sie -nehmen und irgendwohin führen wollte, faßten sie einander wie auf -Verabredung an den Händchen und liefen davon. Mit Geschrei und Weinen -stürzte die arme Katerina Iwanowna ihnen nach, um sie einzuholen. Es war -widerwärtig und traurig zu sehen, wie sie weinend und keuchend lief. -Ssonja und Poletschka eilten ihr nach. - -»Bring sie zurück, bring sie zurück, Ssonja! Oh, die dummen, undankbaren -Kinder! ... Polja! Fange sie ein ... Ich habe es doch für euch ...« - -Sie stolperte im vollen Laufe und fiel hin. - -»Sie hat sich blutig geschlagen! Oh, Gott!« rief Ssonja aus, sich über -sie beugend. - -Alle liefen hin und drängten sich um sie. Raskolnikoff und -Lebesjätnikoff waren als die ersten zur Stelle, der Beamte eilte auch -hinzu und ihm folgte der Schutzmann, der etwas wie »Ach ja!« brummte und -den Kopf schüttelte, in der Vorahnung, daß die Sache ihm viel zu -schaffen machen würde. - -»Geht weiter, geht!« er jagte die Menschen, die umherstanden, -auseinander. - -»Sie stirbt!« rief jemand. - -»Sie hat den Verstand verloren!« sagte ein anderer. - -»Gott schütze sie!« bemerkte eine Frau und schlug ein Kreuz. -- »Hat man -den Jungen und das Mädel gekriegt? Ja, da bringt man sie, die älteste -hat sie eingeholt ... Was ihnen nur einfiel!« - -Als man aber Katerina Iwanowna näher betrachtet hatte, sah man, daß sie -sich gar nicht an den Steinen blutig geschlagen hatte, wie Ssonja -angenommen, sondern daß das Blut, das den Fahrdamm besudelte, aus Brust -und Mund kam. - -»Das kenne ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte leise zu Raskolnikoff -und Lebesjätnikoff, »das ist Schwindsucht; das Blut stürzt hervor und -man erstickt. Einer Verwandten von mir ist es jüngst ähnlich gegangen, -ich habe es selbst gesehen, ein halbes Glas kam ... und so plötzlich ... -Was soll man tun, sie wird gleich sterben.« - -»Bringt sie zu mir, hier in der Nähe!« flehte Ssonja, »ich wohne hier -... in dem Hause, das zweite von hier ... Schnell, schnell! ...« wandte -sie sich aufgeregt an alle. »Holt einen Arzt ... Oh Gott!« - -Dank der Bemühungen des Beamten ging die Sache glatt vor sich, sogar der -Schutzmann half Katerina Iwanowna hinübertragen. Man brachte sie fast -tot in Ssonjas Zimmer und legte sie auf das Bett. Das Blut hörte noch -nicht auf zu fließen, aber Katerina Iwanowna kam langsam zu sich. In das -Zimmer traten gleichzeitig außer Ssonja, Raskolnikoff und -Lebesjätnikoff, der Beamte und der Schutzmann, nachdem er vorher die -Menge auseinandergejagt hatte, von der einige bis zur Türe gefolgt -waren. Poletschka kam auch mit Kolja und Lene, die zitterten und -weinten; sie hielt sie an den Händen. Auch von Kapernaumoff kamen Leute, -er selbst, lahm und krumm, von seltsamem Aussehen mit borstigen Haaren -und Backenbart; seine Frau, die immer ein erschrockenes Aussehen hatte -und einige ihrer Kinder mit offenem Munde und immer erstauntem, -hölzernem Gesichtsausdruck. Unter diesem Publikum befand sich auch -Sswidrigailoff. Raskolnikoff blickte ihn verwundert an, ohne zu -begreifen, wie er hierher gekommen sei, da er sich seiner unter der -Menge nicht entsann. Man sprach davon, einen Arzt und einen Priester -holen zu lassen. Obwohl der Beamte Raskolnikoff auch zugeflüstert hatte, -daß ein Arzt, wie es ihm schien, jetzt wohl überflüssig sei, sandte man -doch nach ihm. Kapernaumoff lief selbst fort. - -Unterdessen war Katerina Iwanowna zu sich gekommen und das Blut hörte -für eine Weile auf zu fließen. Sie sah unverwandt mit einem -schmerzlichen und durchdringenden Blick auf die bleiche und bebende -Ssonja, die ihr mit einem Taschentuche die Schweißtropfen auf der Stirn -abtrocknete; schließlich bat sie, man möge sie aufrichten. Man setzte -sie auf und stützte sie von beiden Seiten. - -»Wo sind die Kinder?« fragte sie mit schwacher Stimme. -- »Hast du sie -gebracht, Polja? Oh, ihr dummen ... Warum lieft ihr fort ... Ach!« - -Blut bedeckte noch ihre trockenen Lippen. Sie blickte sich um. - -»Also, hier lebst du, Ssonja! Ich war nie bei dir gewesen ... jetzt erst -bin ich dazu gekommen ...« - -Sie blickte sie unendlich traurig an. - -»Wir haben dich ausgesaugt, Ssonja ... Polja, Lene, Kolja, kommt her ... -Da sind sie alle, Ssonja, nimm sie ... aus meiner Hand ... ich bin -fertig! ... Das Fest ist aus! H--a ... Legt mich nieder und laßt mich -wenigstens ruhig sterben ...« - -Man legte sie wieder auf die Kissen zurück. - -»Was? Einen Priester? ... Ist nicht nötig. Habt ihr einen überflüssigen -Rubel? ... Ich habe keine Sünden! ... Gott muß mir auch ohnedem vergeben -... Er weiß, wie ich gelitten habe! ... Und wenn er nicht vergibt, so -ist es auch gut! ...« - -Ein unruhiges Phantasieren bemächtigte sich ihrer mehr und mehr. -Zuweilen fuhr sie auf, blickte um sich, erkannte alle auf einen -Augenblick, und das Bewußtsein schwand wieder. Sie atmete schwer und -röchelnd. - -»Ich sagte ihm: >Ew. Exzellenz!< ...!« rief sie und holte nach jedem -Worte Atem, »diese Amalie Ludwigowna ... ach! Lene, Kolja! Die Händchen -in die Hüften, schneller, schneller, _glissez, glissez, pas de -basque_!{[16]} Stampf mit den Füßchen ... Sei ein graziöses Kind. - - Du hast Diamanten und Perlen ... - -Wie geht es weiter? Das sollten wir singen ... - - Du hast die schönsten Augen - Mädchen, was willst du noch mehr? ... - -Das ist nicht ganz richtig! Was willst du noch mehr -- was sich dieser -Holzklotz dabei gedacht hat? ... -- Ach ja, oder ein anderes Lied - - In mittäglicher Glut ... - -Ach, wie ich es liebte ... Ich habe dieses Lied sehr geliebt, -Poletschka! ... - - In mittäglicher Glut im Tale Daghestans ... - -Weißt du, dein Vater sang es ... als Bräutigam noch ... Oh, die Tage! -... Das sollten wir singen! Nun, wie heißt es denn ... ich habe es -vergessen ... helft mir doch dabei ... wie heißt es denn?« -- Sie war in -furchtbarer Erregung und versuchte aufzustehen. Mit schrecklicher, -heiserer und überschnappender Stimme, bei jedem Worte außer Atem, -schreiend und mit einer sich steigernden Angst begann sie zu singen: - - »In mittäglicher Glut ... im Tale ... Daghestans ... - Mit Blei in der Brust ... - -Ew. Exzellenz!« schrie sie plötzlich herzzerreißend und in Tränen -ausbrechend, »schützen Sie die Waisen! Eingedenk der Gastfreundschaft -des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch! ... Man kann sogar sagen, aus -einem aristokratischen ... Ha--a!« fuhr sie auf, zur Besinnung kommend -und betrachtete alle mit Entsetzen, erkannte aber sofort Ssonja. -- -»Ssonja, Ssonja!« sagte sie sanft und freundlich, als wäre sie erstaunt, -sie vor sich zu sehen, »Ssonja, liebe Ssonja, du bist auch hier?« - -Man richtete sie wieder auf. - -»Genug! ... Es ist Zeit! ... Lebwohl, Armselige! ... Die Stute ist -abgehetzt! ... Zu Tode gehetzt!« rief sie verzweifelt und haßerfüllt aus -und fiel mit dem Kopfe auf das Kissen zurück. - -Sie verlor von neuem das Bewußtsein, und ohne es wieder erlangt zu -haben, fiel ihr blaßgelbes abgemagertes Gesicht nach hinten, der Mund -öffnete sich, die Füße streckten sich krampfhaft aus. Sie stöhnte tief -auf und starb. - -Ssonja warf sich auf die Leiche, faßte sie mit den Händen, lehnte den -Kopf an die magere Brust der Verstorbenen und verharrte so lange. -Poletschka fiel zu den Füßen der Mutter nieder und küßte sie laut -schluchzend. Kolja und Lene, die noch nicht verstanden hatten, was -geschehen war, aber etwas Schreckliches ahnten, faßten einander mit -beiden Händen an den Schultern, starrten einander in die Augen und -begannen zu schreien. Beide waren noch aufgeputzt, -- er im Turban, sie -in dem Käppchen mit der Straußenfeder. - -Und wie kam das Ehrendiplom auf das Bett neben Katerina Iwanowna hin? Es -lag neben dem Kissen, Raskolnikoff hatte es gesehen. - -Er ging zum Fenster. Lebesjätnikoff kam eilig zu ihm. - -»Sie ist gestorben!« sagte Lebesjätnikoff. - -»Rodion Romanowitsch, ich muß Ihnen ein paar wichtige Worte sagen,« trat -Sswidrigailoff heran. - -Lebesjätnikoff trat ihm sofort seinen Platz ab und verschwand -zartfühlend. Sswidrigailoff führte den erstaunten Raskolnikoff in eine -abgelegene Ecke hin. - -»Diese ganze Schererei, das heißt die Beerdigung und alles übrige nehme -ich auf mich. Wissen Sie, es kommt doch bloß auf das Geld an, und ich -habe Ihnen doch gesagt, daß ich überflüssiges habe. Diese zwei -Sprößlinge und diese Poletschka will ich in einer besseren Anstalt für -Waisenkinder unterbringen und will für jeden bis zur Volljährigkeit -fünfzehnhundert Rubel in eine Bank einzahlen, so daß Ssofja Ssemenowna -vollkommen unbesorgt sein kann. Auch sie will ich aus dem Pfuhle -herausziehen, denn sie ist ein gutes Mädchen, nicht wahr? Und so teilen -Sie Awdotja Romanowna mit, daß ich ihre zehntausend in dieser Weise -verbraucht habe.« - -»Welche Absichten verfolgen Sie bei diesen übergroßen Guttaten?« fragte -Raskolnikoff. - -»Ach! Sie mißtrauischer Mensch!« lachte Sswidrigailoff. -- »Ich habe -doch gesagt, daß dieses Geld bei mir überflüssig liegt. Einfach aus -Menschlichkeit, das lassen Sie bei mir nicht gelten? Sie war doch keine ->Laus< gewesen -- (er zeigte mit dem Finger auf die Ecke, wo die -Verstorbene lag) -- wie irgendeine alte Wucherin. Gestehen Sie doch -selbst, -- >soll Luschin tatsächlich weiterleben und Scheußlichkeiten -verüben, oder sie sterben?< Und wenn ich nicht helfe, so muß doch -Poletschka den nämlichen Weg gehen ...« - -Er sagte es spöttisch mit zugekniffenen Augen und ohne den Blick von -Raskolnikoff abzuwenden. Raskolnikoff erbleichte, es durchzog ihn ein -Schauer, als er seine eigenen Worte wieder hörte, die er zu Ssonja -gesprochen hatte. Er fuhr zurück und blickte Sswidrigailoff fassungslos -an. - -»Wo--woher ... wissen Sie?« flüsterte er, kaum atmend. - -»Ich wohne ja hier, hinter der Wand bei Madame Rößlich. Hier wohnt -Kapernaumoff und dort Madame Rößlich, eine alte und sehr ergebene -Bekannte von mir. Ich bin ihr Nachbar.« - -»Sie?« - -»Ja, ich,« fuhr Sswidrigailoff fort, sich vor Lachen schüttelnd, »und -ich kann Sie auf Ehre versichern, lieber Rodion Romanowitsch, daß Sie -mich kolossal interessiert haben. Ich habe doch gesagt, daß wir einander -näher kommen werden, ich habe es Ihnen vorausgesagt, -- nun sind wir -auch einander näher gekommen. Und Sie werden sehen, wie verträglich ich -bin. Sie werden sehen, daß es sich mit mir noch leben läßt ...« - - - - - Sechster Teil - - - I. - -Für Raskolnikoff war eine merkwürdige Zeit angebrochen. -- Es war, als -wäre plötzlich ein schwerer Nebel auf ihn herabgesunken und hätte für -ihn eine undurchdringliche und tiefe Einsamkeit beschlossen. Als er -später, lange nachher, sich dieser Zeit entsann, dachte er es sich so, -daß sein Bewußtsein zeitweise sich verdunkelte und daß dies mit wenigen -Unterbrechungen bis zur endgültigen Katastrophe gedauert hatte. Er war -vollkommen überzeugt, daß er sich damals öfters geirrt haben müsse, zum -Beispiel in der Zeit und der Dauer verschiedener Ereignisse. Wenigstens, -als er sich späterhin auf dies oder jenes besinnen wollte und sich das -Erinnerte zu erklären versuchte, erfuhr er vieles über sich selbst, -indem er sich nach den Mitteilungen richtete, die er von anderen -erhalten. So verwechselte er ein Ereignis z. B. mit einem anderen; ein -anderes hielt er für die Folge eines Vorfalls, der nur in seiner -Einbildung existierte. Zuweilen erfaßte ihn eine qualvolle Unruhe, die -sich zu einem panischen Schrecken steigern konnte. Er entsann sich auch, -daß es Minuten, Stunden, vielleicht sogar ganze Tage gab, die er im -Gegensatz zu der Angst, in völliger Apathie verbrachte, -- eine Apathie, -die dem schmerzhaft gleichgültigen Zustand Sterbender ähnlich war. -Überhaupt trieb es ihn in diesen letzten Tagen, einem klaren und vollen -Verständnis seiner Lage aus dem Wege zu gehen; alltägliche Dinge, die -eine unverzügliche Erledigung verlangten, lasteten auf ihm; wie froh -wäre er dagegen gewesen, von manchen Sorgen sich befreien und loslösen -zu können, die im Falle ihrer Vernachlässigung ihm den völligen, -unvermeidlichen Untergang bringen mußten. - -Am meisten beunruhigte ihn Sswidrigailoff, -- ja, man konnte sagen, daß -Sswidrigailoff seine einzige Sorge war. Seit der Zeit, als er von -Sswidrigailoff in Ssonjas Zimmer, in Katerina Iwanownas Todesstunde die -drohenden und unzweideutigen Worte gehört hatte, schien der gewöhnliche -Fluß seiner Gedanken gestört zu sein. Und obgleich ihn diese neue -Tatsache äußerst beunruhigte, beeilte sich Raskolnikoff nicht, die Sache -aufzuklären. Zuweilen, wenn er sich irgendwo in einem abgelegenen und -menschenleeren Stadtteile, in einem kläglichen Restaurant an einem -Tische allein in Gedanken versunken vorfand und sich kaum entsann, wie -er hierher gekommen war, fiel ihm mit einem Male Sswidrigailoff ein, -- -er sah nur zu deutlich ein, daß er sich möglichst schnell mit diesem -Menschen verständigen und zu einem Ende mit ihm kommen müsse. Einmal, -als er vor die Stadt geraten war, bildete er sich sogar ein, daß er hier -Sswidrigailoff erwarte, daß sie hier eine Zusammenkunft verabredet -hätten. Ein anderes Mal erwachte er vor Tagesanbruch irgendwo auf der -Erde im Gebüsch und begriff nicht, wie er hierhergekommen war. In den -zwei, drei auf Katerina Iwanownas Tode folgenden Tagen hatte er ein -paarmal Sswidrigailoff getroffen, fast immer in der Wohnung Ssonjas, -wohin er ziellos, stets aber nur einen kurzen Augenblick gegangen war. -Sie wechselten stets einige kurze Worte und berührten kein einziges Mal -den Hauptpunkt, als wäre es zwischen ihnen so verabredet worden, -vorläufig darüber zu schweigen. Die Leiche von Katerina Iwanowna lag -noch im offenen Sarge. Sswidrigailoff gab die Anordnungen für die -Beerdigung und sorgte für alles. Ssonja war auch sehr in Anspruch -genommen. Bei der letzten Begegnung hatte Sswidrigailoff ihm mitgeteilt, -daß er die Frage bezüglich der Kinder Katerina Iwanownas gelöst habe und -sehr glücklich sei, daß dank einiger Verbindungen alle drei Waisen -sofort in sehr anständige Anstalten untergebracht werden könnten und daß -das für sie deponierte Geld viel dazu beigetragen habe, weil wohlhabende -Waisen leichter als arme unterzubringen seien. Er redete auch über -Ssonja, versprach Raskolnikoff in den nächsten Tagen selbst aufzusuchen, -um sich mit ihm zu beraten, da in dieser Angelegenheit Notwendiges zu -besprechen sei. - -Das Gespräch fand im Korridor, an der Treppe statt. Sswidrigailoff sah -unverwandt Raskolnikoff in die Augen und fragte ihn nach einigem -Schweigen mit gesenkter Stimme. - -»Was ist mit Ihnen, Rodion Romanowitsch, Sie sind so vollkommen -verändert? Wirklich! Sie hören zu und schauen einen dabei an, scheinen -aber nichts zu verstehen. Geben Sie acht auf sich. Wir wollen einmal -miteinander sprechen; schade nur, daß ich jetzt so viel für andere und -für mich selbst zu tun habe ... Ach, Rodion Romanowitsch,« fügte er -unmittelbar hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft ... Vor -allen Dingen!« - -Er trat zur Seite, um den eben heraufkommenden Priester und den Küster -vorbeizulassen. Sie kamen, die Totenmesse zu halten. Sswidrigailoff -hatte angeordnet, daß pünktlich zweimal am Tage Totenmessen abgehalten -würden. Sswidrigailoff ging seinen Angelegenheiten nach und Raskolnikoff -blieb eine Weile stehen, dachte nach und folgte dann dem Priester in -Ssonjas Wohnung. - -Er blieb an der Türe stehen. Der Gottesdienst begann leise, andächtig, -traurig. In dem Bewußtsein, sterben zu müssen und in der Empfindung der -Gegenwart des Todes lag für ihn stets, von früher Kindheit an, etwas -Schweres, Drückendes und Mystisches, und er hatte seit langem keiner -Totenmesse mehr beigewohnt. Außerdem peinigte ihn noch ein anderes -Gefühl. Er sah auf die Kinder, -- sie lagen alle vor dem Sarge auf den -Knien und Poletschka weinte. Hinter ihnen stand Ssonja, still und -schüchtern weinend und betete. - -»Sie hat mich in diesen Tagen kein einziges Mal angeblickt und mir noch -kein Wort gesagt,« dachte Raskolnikoff. Die Sonne beleuchtete hell das -Zimmer; der Weihrauch stieg in feinen Wolken empor; der Priester las -»Gott schenke dir Ruhe ...« Raskolnikoff blieb während des ganzen -Gottesdienstes. Als der Priester den Segen erteilte und sich -verabschiedete, blickte er sich eigentümlich um. Nach Beendigung der -Messe trat Raskolnikoff an Ssonja heran. Sie nahm plötzlich seine beiden -Hände und lehnte den Kopf an seine Schulter. Diese kurze Bewegung -überraschte ihn. Wie? war es möglich? -- Nicht der geringste Widerwille, -nicht der geringste Ekel ihm gegenüber, nicht das leiseste Beben ihrer -Hand. War das nicht eine grenzenlose Demütigung seines eigenen Ichs. In -dieser Weise faßte er es auf. Ssonja sagte nichts und Raskolnikoff -drückte ihr nur die Hand und ging fort. Ihm war schwer zumute. Hätte er -in diesem Augenblicke irgendwohin gehen können, um völlig allein zu -bleiben, und selbst fürs ganze Leben, er würde sich glücklich gepriesen -haben. Trotzdem er in der letzten Zeit fast immer allein war, war er -nicht imstande, ein Fürsichsein zu empfinden. Er ging öfters außerhalb -der Stadt auf Landwegen herum, einmal sogar war er in einen Wald -geraten, aber je einsamer der Ort war, desto stärker empfand er die -beunruhigende Nähe von irgend etwas, das wohl nichts furchterweckendes, -wohl aber etwas belästigendes war, so daß er jedesmal schneller in die -Stadt zurückkehrte, sich unter die Menschen mischte, in Restaurants oder -Schenken ging, den Trödelmarkt oder den Heumarkt aufsuchte. Hier ward es -ihm leichter und hier fühlte er sich allein. Eines Tages war er in einer -Schenke, wo man kurz vor Abend zu singen begann; er blieb eine ganze -Stunde sitzen, hörte zu und erinnerte sich, daß ihm dies wohlgetan -hatte. Zum Schluß aber wurde er wieder unruhig, als ob sein Gewissen -wach würde. »Ich sitze hier und höre zu, wie gesungen wird, habe ich -denn nichts anderes zu tun!« dachte er mit einemmale. Es wurde ihm bald -klar, daß nicht dieser Umstand ihn allein beunruhige; es gab etwas -anderes, das eine unverzügliche Lösung verlangte, was er aber sich weder -klar vorstellen, noch durch Worte wiedergeben konnte. Alles verwickelte -sich zu einem Knäuel. »Nein, es ist doch besser, einen Kampf zu führen! -Mag Porphyri Petrowitsch wieder auftreten ... oder Sswidrigailoff ... -Mag nun wieder eine Herausforderung, ein Angriff erfolgen ... Ja! Ja!« --- Er verließ die Schenke und lief fast nach Hause. Der Gedanke an Dunja -und die Mutter jagte ihm plötzlich eine panische Angst ein. - -Es war in der Nacht, aber der Morgen graute schon, als er auf der -Krestowski-Insel im Gebüsch fröstelnd vor Fieber erwachte; er ging nach -Hause. Nach einigen Stunden Schlaf war das Fieber vorüber, er erwachte -sehr spät, -- es war zwei Uhr nachmittags. - -Es kam ihm wieder in Erinnerung, daß Katerina Iwanowna heute beerdigt -werden sollte, und er war froh, daß er nicht zugegen sein mußte. -Nastasja brachte ihm etwas zu essen; er aß und trank mit großem Appetit, -fast mit einem Heißhunger. Sein Kopf wurde frischer, er selbst ruhiger, -als in diesen letzten drei Tagen. Er wunderte sich sogar flüchtig über -die früheren Anfälle seiner panischen Angst. Da öffnete sich die Türe -und Rasumichin trat herein. - -»Ah! Du ißt, so bist du auch nicht krank!« sagte Rasumichin, nahm einen -Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikoff gegenüber. Er war -aufgeregt und versuchte nicht, es zu verbergen und sprach mit sichtbarem -Ärger, aber ohne sich zu überhasten und ohne die Stimme besonders zu -erheben. Man konnte denken, daß ihn eine ganz bestimmte Absicht -herführe. »Höre,« begann er entschlossen, »ich kehre mich den Teufel um -euch alle und zwar, weil ich jetzt sehe, deutlich sehe, daß ich nichts -davon verstehen kann; bitte, glaube nicht, daß ich gekommen bin, dich -auszufragen. Ich pfeife darauf! Ich will es gar nicht wissen! Und wenn -du mir jetzt selbst alles anvertrauen, alle eure Geheimnisse entdecken -wolltest, ich würde sie vielleicht nicht mal anhören, ich pfeife auf -alles und gehe fort. Ich bin nur gekommen, um persönlich und endgültig -zu erfahren, ob es wahr ist, daß du verrückt bist? Siehst du, es besteht -die Meinung über dich, -- irgendwo, das ist ja einerlei -- daß du -möglicherweise verrückt bist, jedenfalls aber starke Anlagen dazu -habest. Ich muß dir gestehen, ich selbst war stark geneigt, diese -Meinung zu teilen, erstens wegen deiner dummen und zum Teil schmählichen -Handlungen, die durch nichts erklärt werden können, und zweitens wegen -deines kürzlichen Benehmens deiner Mutter und Schwester gegenüber. Nur -ein Scheusal und ein Schuft, oder ein Wahnsinniger konnte sie in dieser -Weise behandeln, wie du sie behandelt hast; folglich bist du wahnsinnig -...« - -»Hast du sie lange nicht gesehen?« - -»Ich war soeben bei ihnen. Und du hast sie seit dieser Zeit nicht mehr -gesehen? Sage mir bitte, wo treibst du dich herum, ich bin schon dreimal -bei dir gewesen. Deine Mutter ist seit gestern ernstlich erkrankt. Sie -wollte zu dir gehen; Awdotja Romanowna hielt sie davon ab; doch sie -wollte auf nichts hören. >Wenn er krank ist,< sagte sie, >wenn sein -Geist gestört ist, wer soll ihm denn helfen, wenn nicht die eigene -Mutter?< So kamen wir alle hierher, denn wir konnten sie doch nicht -allein gehen lassen. Bis zu deiner Tür haben wir sie gebeten, sich zu -beruhigen. Wir traten in dein Zimmer, da warst du nicht da; hier, auf -diesem Platz, hat sie gesessen. Sie saß über zehn Minuten da, wir -standen schweigend in ihrer Nähe. Sie stand dann auf und sagte, -- >wenn -er ausgeht, ist er gesund und hat die Mutter vergessen; es ist unpassend -und eine Schande für eine Mutter, weiter noch an der Schwelle zu stehen -und um Liebkosung, wie um ein Almosen zu betteln<. Sie kehrte nach Hause -zurück, mußte sich zu Bett legen und liegt jetzt im Fieber. >Ich sehe,< -sagte sie, >für die _Seine_ hat er Zeit.< Sie meinte mit der _Seinen_ -Ssofja Ssemenowna, deine Braut oder deine Geliebte, ich weiß es nicht. -Ich ging sofort zu Ssofja Ssemenowna, denn ich wollte alles erfahren, -Bruder; ich komme hin und sehe, -- ein Sarg steht dort, die Kinder -weinen, Ssofja Ssemenowna probiert ihnen Trauerkleider an, du bist aber -nicht da. Ich sah das alles an, entschuldigte mich und ging fort und -habe Awdotja Romanowna alles erzählt. Alles ist Unsinn und es gibt gar -keine >_Seine_,< also ist es ganz Wahnsinn. Doch jetzt sitzest du hier -und frißt gekochtes Fleisch, als hättest du drei Tage nichts gegessen. -Es ist wahr, Wahnsinnige essen auch und du hast kein Wort mit mir -gesprochen, du bist aber ... nicht verrückt. Das kann ich beschwören. -Unter keinen Umständen verrückt. Also, hol euch alle der Teufel, es -steckt etwas dahinter, es gibt irgendein Geheimnis, und ich habe keine -Lust, über eure Geheimnisse mir den Kopf zu zerbrechen. Ich bin bloß -gekommen, zu schimpfen,« schloß er und stand auf, »mir Luft zu machen -und nun weiß ich, was ich zu tun habe!« - -»Was willst du jetzt tun?« - -»Was geht es dich an, was ich jetzt tun will?« - -»Gib acht, du fängst zu trinken an!« - -»Woher ... woher weißt du das?« - -»Das ist leicht zu erraten!« - -Rasumichin schwieg eine Weile. - -»Du warst immer ein sehr vernünftiger Mensch und nie, niemals warst du -verrückt,« bemerkte er plötzlich voll Eifer. »Das stimmt, -- ich werde -anfangen zu trinken! Lebwohl!« - -Und er schickte sich an zu gehen. - -»Vorgestern, glaube ich, habe ich von dir mit der Schwester gesprochen, -Rasumichin.« - -»Von mir! Ja ... wo konntest du sie denn vorgestern gesehen haben?« -Rasumichin blieb stehen und wurde ein wenig blaß. - -Man konnte bemerken, wie sein Herzschlag langsamer und schwerer ging. - -»Sie war hierhergekommen, allein, saß hier und sprach mit mir.« - -»Sie!« - -»Ja, sie!« - -»Was hast du denn gesprochen ... ich will sagen, -- von mir?« - -»Ich sagte ihr, daß du ein sehr guter, ehrlicher und arbeitsamer Mensch -seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, denn das weiß sie -selbst.« - -»Sie weiß es selbst?« - -»Nun, und ob! Wohin ich auch reisen mag, was mit mir auch geschehen mag, --- du würdest bei ihnen, als ihre Vorsehung, bleiben. Ich übergab sie -beide deiner Obhut, Rasumichin. Ich sage es, weil ich sehr gut weiß, wie -du sie liebst und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt -bin. Ich weiß auch, daß auch sie dich lieben kann und vielleicht sogar -schon liebt. Jetzt beschließe selbst, wie es dir am besten erscheint, -- -ob du trinken willst oder nicht?« - -»Rodja ... Siehst du ... Nun ... Ach, Teufel! Wohin willst du aber -gehen? Siehst du, wenn es ein Geheimnis ist, laß es! Aber ich ... ich -werde das Geheimnis erfahren ... Und bin überzeugt, daß es sicher -irgendein Unsinn und eine lächerliche Kleinigkeit ist, und daß du allein -dir alles andere eingebrockt hast. Im übrigen aber bist du ein -ausgezeichneter Mensch! Ein ausgezeichneter Mensch! ...« - -»Und ich wollte gerade hinzufügen, da hast du mich aber unterbrochen, -daß du vorhin sehr gut und richtig geäußert hast, diese Geheimnisse -nicht erfahren zu wollen. Laß es vorläufig sein, rege dich nicht auf. Du -wirst alles rechtzeitig zu wissen bekommen und dann, wenn es nötig sein -wird. Gestern hat ein Mann zu mir gesagt, daß die Menschen Luft -brauchen, Luft, Luft! Ich will gleich zu ihm hingehen und erfahren, was -er darunter versteht.« - -Rasumichin stand in Gedanken versunken, aufgeregt schien er über etwas -nachzudenken. - -»Er ist ein politischer Verschwörer! Sicher! Und er steht vor einem -entscheidenden Schritt, -- das ist auch sicher! Anders kann es nicht -sein und ... Dunja weiß es ...« dachte er. - -»Also zu dir kommt Awdotja Romanowna,« sagte er und betonte jedes Wort, -»und du selbst willst einen Menschen treffen, der da sagt, daß mehr Luft -nötig sei, mehr Luft und ... und, also hängt auch dieser Brief ... -irgendwie damit zusammen.« - -»Was für ein Brief?« - -»Sie hat einen Brief erhalten, heute; der hat sie sehr aufgeregt. Sehr. -Fast zu sehr ... Als ich von dir zu sprechen anfing, -- bat sie mich zu -schweigen. Dann ... dann sagte sie, daß wir uns vielleicht sehr bald -trennen müßten, und begann mir für etwas heiß zu danken; ging darauf in -ihr Zimmer und schloß sich ein.« - -»Sie hat einen Brief erhalten?« wiederholte Raskolnikoff nachdenklich. - -»Ja, einen Brief, und du weißt nichts davon? Hm!« Beide schwiegen eine -Weile. - -»Lebwohl, Rodion. Ich, Bruder ... es gab eine Zeit ... übrigens aber, -lebwohl; siehst du, es gab eine Zeit ... Nun, lebwohl! Ich muß auch -gehen. Ich werde nicht trinken. Jetzt ist es nicht mehr nötig ... wird -nicht gemacht!« - -Er hatte Eile, aber als er schon draußen war und die Türe fast -geschlossen hatte, öffnete er sie plötzlich wieder und sagte, indem er -zur Seite blickte: - -»Apropos! Erinnerst du dich dieses Mordes, der Sache, die Porphyri -Petrowitsch führt, -- der Ermordung der Alten? Nun, du sollst wissen, -daß der Mörder gefunden ist, er hat alles eingestanden und alle Beweise -geliefert. Stell dir vor, es ist einer von denselben Arbeitern, den -Anstreichern, die ich -- erinnerst du dich -- noch bei dir im Zimmer -verteidigte. Kannst du es glauben, er hat diese ganze Szene mit der -Schlägerei und dem Lachanfall auf der Treppe mit seinem Kameraden, als -der Hausknecht und die zwei Zeugen hinaufgingen, -- absichtlich -vorgeführt und zwar um jeden Verdacht von sich abzulenken. Welch eine -Schlauheit, welch eine Geistesgegenwart in so einem jungen Hunde steckt! -Es ist schwer zu glauben; er hat aber selbst die Sache aufgeklärt, alles -selbst eingestanden! Und wie ich hereingefallen bin! Nun, meiner Ansicht -nach ist er bloß ein Genie der Verstellung und Geschicklichkeit, ein -Genie gegenüber juristischer Verhörskunst, -- folglich ist hier nichts -staunenswertes! Kann es denn nicht auch solche Genies geben? Und weil er -es nicht bis zu Ende durchgeführt, sondern eingestanden hat, aus dem -Grunde glaube ich ihm noch mehr. Es ist überzeugender! ... Aber wie ich -damals hereingefallen bin! Ich kletterte ja um ihretwillen an die Wände -hinauf!« - -»Sage mir bitte, woher hast du es erfahren, und warum interessiert es -dich so sehr?« fragte ihn Raskolnikoff sichtbar erregt. - -»Nun, was frägst du bloß! Warum sollte es mich nicht interessieren! Das -ist auch eine Frage! ... Ich habe es unter anderem von Porphyri -Petrowitsch erfahren. Übrigens, ich habe fast alles durch ihn erfahren.« - -»Von Porphyri Petrowitsch?« - -»Ja, von Porphyri Petrowitsch.« - -»Was ... was meint er?« fragte Raskolnikoff angstvoll. - -»Er hat es mir ausgezeichnet erklärt. Psychologisch erklärt, auf seine -Weise.« - -»Er hat es dir erklärt? Er hat es dir selbst erklärt?« - -»Ja, selbst, selbst; lebwohl! Ich will dir später noch mehr erzählen, -jetzt aber habe ich zu tun. Ja ... es gab eine Zeit, wo ich glaubte ... -Nun, was ist da zu reden ... später davon ... Warum soll ich jetzt -anfangen zu trinken. Du hast mich auch ohne Wein betrunken gemacht. Ich -bin ja betrunken, Rodja! Ohne Wein bin ich betrunken; nun, aber lebwohl! -Ich komme zu dir. Sehr bald.« - -Er ging hinaus. - -»Er ist, er ist ein politischer Verschwörer, das ist sicher, das steht -fest!« sagte sich Rasumichin endgültig, indem er langsam die Treppe -hinabstieg. »Und die Schwester hat er auch hineingezogen; das ist sehr, -sehr begreiflich bei dem Charakter von Awdotja Romanowna. Sie haben -Zusammenkünfte ... Und sie hat es mir auch angedeutet. Aus vielen ihrer -Worte ... und Andeutungen ... und Anspielungen ergibt sich dies alles! -Ja, wie kann man denn sonst diesen ganzen Wirrwarr erklären? Hm! Und ich -dachte ... Oh, Gott, was ich gemeint habe. Ja, das war eine Verblendung -und ich habe gefehlt vor ihm! Damals bei der Lampe im Korridor hat er -mich verwirrt und verblendet! Pfui! Welch ein häßlicher, roher, gemeiner -Gedanke von mir! Nikolai ist ein braver Bursche, daß er es eingestanden -hat ... Und wie sich jetzt alles Vorhergegangene leicht erklären läßt! -Seine Krankheit damals, alle seine sonderbaren Handlungen, auch früher -schon, in der Universität noch, als er immer so düster und verschlossen -war ... Aber was bedeutet jetzt dieser Brief? Hier steckt vielleicht -auch etwas dahinter. Von wem ist dieser Brief? Ich habe einen Verdacht -... Hm! Nein, ich will alles erfahren.« - -Da erinnerte er sich an Dunetschka, und sein Herz blieb ihm fast -stillstehen. Er riß sich von seinen Gedanken los und lief weiter. - - * * * * * - -Kaum war Rasumichin fortgegangen, so stand Raskolnikoff auf, wandte sich -zum Fenster, ging von einer Ecke in die andere, als hätte er die Enge -seiner Kammer vergessen, und ... setzte sich wieder auf das Sofa hin. Er -schien ganz wie ausgewechselt zu sein; wieder -- hatte sich ein Ausweg -gefunden! - -Ja, es hat sich ein Ausweg gefunden! sagte er sich. Alles war schon zu -vollgestopft, es hatte angefangen, ihn qualvoll zu drücken, ein -förmlicher Taumel hatte ihn überfallen. Seit dem Auftritte mit Nikolai -bei Porphyri Petrowitsch vermeinte er, ohne einen Ausweg ersticken zu -müssen. Nach Nikolai folgte am selben Tage der Auftritt bei Ssonja; er -hatte ihn nicht so, wie er's sich vorgenommen, begonnen und durchgeführt -... also hatte ihn die Schwäche plötzlich und vollständig übermannt! Mit -einemmale! Er war ja doch damals mit Ssonja einverstanden, aus vollem -Herzen einverstanden, daß er mit solch einer Sache auf der Seele allein -nicht leben könne! Und Sswidrigailoff? Sswidrigailoff ist ein Rätsel ... -Sswidrigailoff beunruhigt ihn, das ist wahr, aber nicht nach dieser -Richtung hin. Mit Sswidrigailoff steht vielleicht auch ein Kampf bevor. -Mit Sswidrigailoff gibt es vielleicht auch einen Ausweg, mit Porphyri -Petrowitsch -- das ist freilich eine andere Sache. - -Aber Porphyri Petrowitsch hat selbst Rasumichin alles erklärt, -_psychologisch_ ihm erklärt! Wieder fängt er mit seiner verfluchten -Psychologie an! Porphyri Petrowitsch? Was, Porphyri Petrowitsch soll -auch nur einen Augenblick geglaubt haben, daß Nikolai schuldig sei, -- -nach allem, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war, vor Nikolais -Erscheinen, nach jenem Auftritt, Auge in Auge, für den man keine andere -Erklärung finden konnte, außer _einer einzigen_? -- (Raskolnikoff war -einigemal in diesen Tagen dieser Auftritt mit Porphyri Petrowitsch in -der Erinnerung stückweise vorgeschwebt; sich des Auftritts in seiner -ganzen Bedeutung zu erinnern, hätte er nicht ertragen können.) -- -Während dieser Szene hatten sie beide Worte gewechselt, waren Bewegungen -und Gesten vorgekommen, Blicke getauscht, war einiges in einem Tone -gesagt worden, und die ganze Szene hatte einen Charakter angenommen, daß -auf keinen Fall ein Nikolai, -- den Porphyri Petrowitsch doch sofort -beim ersten Worte und bei der ersten Bewegung richtig erkannt hatte, -- -die Grundlage seiner Überzeugung erschüttern konnte. - -Wie weit war es aber auch schon gekommen! Sogar Rasumichin hatte -begonnen, Verdacht zu schöpfen! Die Szene im Korridor bei der Lampe ist -an ihm nicht spurlos vorübergeglitten. Er ist doch zu Porphyri -Petrowitsch hingelaufen ... Aber aus welchem Grunde will jener ihn -irreführen? Was hat er für einen Zweck, Rasumichin auf Nikolai zu -bringen? Er hat unbedingt etwas vor; er verfolgt damit bestimmte Zwecke, -aber welcher Art sind sie? Es ist wahr, seit diesem Morgen ist viel Zeit -vergangen, -- viel zu viel Zeit und von Porphyri Petrowitsch habe ich -weder etwas gehört, noch gesehen. Das ist sicher kein gutes Zeichen ... - -Raskolnikoff nahm seine Mütze, versank in Gedanken und schickte sich an, -das Zimmer zu verlassen. Es war der erste Tag, während dieser ganzen -Zeit, daß er sich wenigstens bei gesundem Bewußtsein fühlte. »Ich muß -dieser Sache mit Sswidrigailoff ein Ende machen,« -- dachte er, -- »um -jeden Preis und möglichst schnell; er scheint zu erwarten, daß ich -selbst zu ihm komme.« -- In diesem Augenblicke entstand in seinem -bedrückten Herzen ein wilder Haß, daß er einen von beiden, -- -Sswidrigailoff oder Porphyri Petrowitsch hätte ermorden können. Er -fühlte wenigstens, daß er, wenn nicht jetzt, so später, imstande sei, es -zu tun. -- »Wir wollen sehen, wir wollen sehen,« wiederholte er vor -sich. -- - -Als er aber gerade die Türe zur Treppe öffnete, stieß er mit Porphyri -Petrowitsch zusammen. Der kam zu ihm. Raskolnikoff war im ersten -Augenblick erstarrt. Aber sonderbar, sein Staunen über Porphyris -Erscheinen und sein Schrecken waren gering. Er zuckte bloß zusammen, -sammelte sich aber sofort augenblicklich. »Vielleicht ist es die Lösung! -Aber wie leise er gekommen war, wie eine Katze, ich habe ihn nicht -gehört! Hat er etwa gelauscht?« - -»Sie haben diesen Besuch nicht erwartet, Rodion Romanowitsch,« rief -Porphyri Petrowitsch lachend. »Wollte schon lange Sie aufsuchen; ging -nun vorbei und dachte mir, -- warum soll ich nicht auf fünf Minuten -hinaufgehen. Sie wollen ausgehen? Ich will Sie nicht aufhalten. Bloß auf -eine Zigarette, wenn Sie gestatten.« - -»Ja, nehmen Sie Platz, Porphyri Petrowitsch, nehmen Sie bitte Platz,« -Raskolnikoff bot seinem Besuche mit solch einer sichtlich zufriedenen -und freundschaftlichen Miene einen Platz an, daß er über sich selbst -verwundert gewesen wäre, wenn er sich hätte sehen können. - -Es war auch der letzte Rest seiner Kraft. So hegt ein Mensch eine halbe -Stunde lang tödliche Angst vor dem Räuber, wenn aber das Messer ihm -endgiltig an die Kehle gesetzt wird, schwindet die Angst. Er setzte sich -Porphyri Petrowitsch gegenüber und blickte ihn, ohne die Augen für einen -Moment abzuwenden, an. Porphyri Petrowitsch kniff die Augen zusammen und -steckte sich eine Zigarette an. - -»Nun, sprich, sprich doch,« schien es aus dem Herzen Raskolnikoffs -herauszurufen. -- »Nun, warum redest, warum redest du nicht?« - - - II. - -»Nehmen wir einmal die Zigaretten!« sagte endlich Porphyri Petrowitsch, -nachdem er die Zigarette angesteckt und Atem geholt hatte, »sie sind -schädlich, ganz und gar schädlich, ich kann sie aber nicht lassen! Ich -huste, im Halse beginnt es zu kratzen und ich leide an Atemnot. Wissen -Sie, ich bin ängstlich, war vor ein paar Tagen bei B. gewesen, -- er -untersucht jeden Kranken, minimum, eine halbe Stunde; er lachte, als er -mich sah, -- dann hat er mich beklopft und ausgehorcht und sagte unter -anderem, daß Tabak für mich nicht gut sei, meine Lungen seien erweitert. -Und, wie kann ich das Rauchen lassen? Wodurch soll ich es ersetzen? Ich -trinke nicht, das ist das ganze Unglück, he--he--he, es ist ein Unglück, -daß ich nicht trinke! Alles ist doch wie man's nimmt, Rodion -Romanowitsch, wie man's nimmt!« - -»Was fängt er wieder mit seinem alten Kram an?« dachte Raskolnikoff voll -Widerwillen. Die ganze letzte Szene stieg vor ihm auf und dasselbe -Gefühl wie damals überflutete wie eine Welle sein Herz. - -»Ich war schon einmal bei Ihnen, vorgestern abend. Sie wissen es nicht?« -fuhr Porphyri Petrowitsch fort und blickte sich im Zimmer um, »ich war -in demselben Zimmer gewesen. Ich ging ebenso, wie heute, vorbei und -dachte, -- ich will ihm mal eine Gegenvisite machen. Komme hierher, das -Zimmer steht weit offen; ich sah mich um, wartete eine Weile, habe mich -nicht mal Ihrem Dienstmädchen gemeldet -- und ging wieder fort. Sie -schließen das Zimmer nicht ab?« - -Raskolnikoffs Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Porphyri Petrowitsch -schien seine Gedanken zu erraten. »Ich bin gekommen, lieber Rodion -Romanowitsch, Ihnen eine Erklärung zu geben. Ich bin Ihnen eine solche -schuldig,« fuhr er mit einem Lächeln fort und schlug ihm mit der Hand -leicht auf das Knie, aber zu gleicher Zeit nahm sein Gesicht einen -ernsten und besorgten Ausdruck an, es schien, zu Raskolnikoffs -Erstaunen, wie mit Trauer umflort. Er hatte noch nie bei Porphyri -Petrowitsch solch einen Ausdruck gesehen und ihn auch nicht bei ihm -vermutet. -- »Eine merkwürdige Szene hat sich das letzte Mal zwischen -uns abgespielt, Rodion Romanowitsch. Ich gestehe, daß es vielleicht auch -bei unserer ersten Zusammenkunft sonderbar hergegangen ist, aber damals -... Nun, jetzt kommt es auf dasselbe hinaus! Hören Sie, ich habe eine -große Schuld Ihnen gegenüber, ich fühle es. Erinnern Sie sich, wie wir -uns trennten, -- bei Ihnen vibrierten die Nerven und zitterten die Knie, -auch bei mir vibrierten die Nerven und zitterten die Knie. Und wissen -Sie, es war auch zwischen uns damals nicht ganz anständig, nicht -gentlemanlike zugegangen. Wir sind aber doch Gentlemen, das heißt in -jedem Falle und vor allen Dingen Gentlemen; das ist im Auge zu behalten. -Sie erinnern sich doch, wie weit es kam ... geradezu unanständig.« - -»Was ist mit ihm, für wen hält er mich denn?« fragte sich Raskolnikoff -verwundert, indem er den Kopf erhob und Porphyri Petrowitsch aufmerksam -anblickte. - -»Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß es besser für uns ist, jetzt in -aller Offenheit zu verhandeln,« fuhr Porphyri Petrowitsch fort, seinen -Kopf ein wenig zurückwerfend und die Augen senkend, als wünsche er nicht -mehr durch seinen Blick sein früheres Opfer zu verwirren, und als -verschmähe er seine frühere Methode und seine Kniffe; -- »ja, solche -Verdächtigungen und solche Szenen dürfen nicht andauern. Uns hat damals -Nikolai erlöst, sonst wüßte ich nicht, was alles zwischen uns passiert -wäre. Dieser verfluchte Kleinbürger saß damals die ganze Zeit bei mir -hinter der Scheidewand, -- können Sie es sich vorstellen? Sie wissen es -sicher schon; es ist mir bekannt, daß er später bei Ihnen gewesen ist; -das aber, was Sie damals annahmen, war nicht der Fall, -- ich hatte nach -keinem Menschen geschickt und hatte damals auch keine Anordnungen -getroffen! Sie werden mich fragen, warum ich keine Anordnungen getroffen -hatte? Ja, wie soll ich es sagen, -- mich selbst hat dieses alles damals -überfallen. Ich hatte kaum Zeit gefunden, die Hausknechte holen zu -lassen, -- Sie haben die Hausknechte wahrscheinlich bemerkt, als Sie -durch das Vorzimmer gingen. -- Ein Gedanke durchfuhr mich damals, wie -ein Blitz, -- ich war, sehen Sie, Rodion Romanowitsch, damals so gut wie -überzeugt. Warte, dachte ich mir, -- wenn ich auch vorläufig das eine -versäume, so packe ich dafür das andere am Schwanz, -- will jedenfalls -das meinige nicht versäumen. Sie sind von Natur aus sehr reizbar, Rodion -Romanowitsch, sogar übermäßig reizbar bei allen anderen Grundzügen Ihres -Charakters und Herzens, die ich mir schmeichle teilweise erkannt zu -haben. Selbstverständlich konnte ich mir auch damals schon sagen, daß es -nicht oft der Fall sei, daß ein Mensch plötzlich aufsteht und sein -ganzes Geheimnis ausplaudert. Das kommt wohl vor, besonders, wenn einem -Menschen die letzte Geduld reißt, aber jedenfalls immerhin selten. Ja, -das konnte ich mir sagen. Ich dachte, wenn ich bloß ein Zipfelchen -erwische! Meinetwegen ein ganz winziges Endchen, nur ein einziges, aber -ein derartiges, daß man es fassen kann, daß es ein Ding ist und nicht -immer bloß diese Psychologie. Dann dachte ich mir, wenn ein Mensch -schuldig ist, so kann man jedenfalls etwas wesentliches von ihm -erwarten; es ist selbst statthaft, auch auf ein ganz unerwartetes -Resultat zu rechnen. Ich habe damals mit Ihrem Charakter gerechnet, -Rodion Romanowitsch, am meisten mit Ihrem Charakter! Ich hoffte damals -zu stark auf Sie selbst.« - -»Aber ... aber warum sprechen Sie jetzt in dieser Weise,« murmelte -Raskolnikoff endlich, ohne seine eigene Frage sich zu überlegen. -- -»Worüber spricht er,« verlor er sich in Mutmaßungen, »hält er mich -tatsächlich für unschuldig?« - -»Warum ich in dieser Weise spreche? Ich bin gekommen, Ihnen Erklärungen -zu geben, halte es für meine heilige Pflicht. Ich will Ihnen alles bis -aufs haarkleinste erzählen, wie alles war, diese ganze Geschichte der -damaligen Verblendung. Ich habe Ihnen viel Leid zugefügt, habe Sie stark -leiden lassen, Rodion Romanowitsch. Ich bin kein so großes Scheusal. Ich -begreife auch, was es für einen niedergedrückten, aber stolzen, -eigenartigen und ungeduldigen, besonders ungeduldigen Menschen heißt, -dies alles ertragen zu müssen. Ich halte Sie in jedem Falle für einen -edlen Menschen, mit großmütiger Veranlagung, obgleich ich nicht mit -allen Ihren Überzeugungen einverstanden bin und ich halte es für meine -Pflicht im voraus, offen und aufrichtig Ihnen das zu sagen, ich will Sie -nicht betrügen. Nachdem ich Sie erkannt hatte, fühlte ich eine Neigung -zu Ihnen. Sie werden wohl über meine Worte lachen? Und Sie haben ein -Recht dazu. Ich weiß, daß Sie mich auf den ersten Blick schon nicht -leiden konnten, und im Grunde genommen ist auch nichts an mir, warum man -mich gern haben könnte. Fassen Sie es jedoch auf, wie Sie wollen, ich -wünsche meinerseits mit allen Mitteln, diesen Eindruck von mir zu -verwischen und Ihnen zu beweisen, daß auch ich ein Mensch mit einem -Herzen und einem Gewissen bin. Und dies sage ich aufrichtig.« - -Porphyri Petrowitsch hielt würdevoll inne. Raskolnikoff fühlte den -Andrang eines neuen Schreckens. Der Gedanke, daß Porphyri Petrowitsch -ihn für unschuldig hielt, begann ihn zu peinigen. - -»Ich denke, es ist unnötig und überflüssig, alles der Reihenfolge nach -zu erzählen, wie es damals begonnen hatte,« fuhr Porphyri Petrowitsch -fort. »Ja, und es ist fraglich, ob ich imstande bin, es zu tun. Denn, -wie soll man es genau erklären? Im Anfange tauchten Gerüchte auf. -Darüber, was es für Gerüchte waren, und von wem sie stammten, und wann -... und aus welchem Anlaß eigentlich Sie hineingezogen wurden, -- ist -auch, denke ich, überflüssig zu erwähnen. Bei mir persönlich fing es mit -einer Zufälligkeit, mit einer völlig unvorgesehenen Zufälligkeit an, die -ebenso gut sein wie nicht sein konnte, -- was es aber war? Hm, ich -denke, dies ist auch nicht zu erwähnen. Dies alles, wie die Gerüchte, so -auch die Zufälligkeiten, schmolzen sich bei mir zu einem Gedanken -zusammen. Ich muß offen gestehen, denn, wenn man schon einmal -eingesteht, soll es auch alles sein, -- ich war der erste, der auf Sie -damals kam. Die Vermerke der Alten auf den versetzten Sachen und -dergleichen mehr sind, ich gebe es zu, alles Unsinn. In dieser Weise -kann man hundert solche Dinge aufzählen. Ich hatte auch damals die -Gelegenheit, die Szene auf dem Polizeibureau in allen ihren Einzelheiten -zu erfahren, ebenfalls zufällig und nicht sozusagen im Vorbeigehen, -sondern von einem besonders zuverlässigen Erzähler, der ohne es selbst -zu ahnen, diese Szene vortrefflich aufgefaßt hatte. So reihte sich alles -eins ans andere, gesellte sich eins zu dem andern, lieber Rodion -Romanowitsch! Und wie sollte man da sich nicht nach einer bestimmten -Richtung wenden? Aus hundert Kaninchen wird nie ein Pferd, aus hundert -Verdachtsgründen kommt nie ein Beweis heraus, -- so lautet ein -englisches Sprichwort, aber da rechnet man bloß mit dem Intellekte, man -soll jedoch auch mit den Leidenschaften rechnen, denn ein -Untersuchungsrichter ist doch auch nur ein Mensch. Ich erinnerte mich -auch Ihrer Abhandlung in der Zeitschrift, über die ich mit Ihnen -- -erinnern Sie sich -- bei Ihrem ersten Besuch eingehend sprach. Ich habe -damals gespottet, aber nur um von Ihnen mehr herauszulocken. Ich -wiederhole, Sie sind ungeduldig und sehr krank, Rodion Romanowitsch. Daß -Sie kühn, herausfordernd, ernst sind und ... vieles durchgedacht, vieles -durchgedacht haben, das alles wußte ich längst. Alle diese Empfindungen -kenne ich, und Ihre kleine Abhandlung habe ich wie etwas Wohlvertrautes -gelesen. In schlaflosen Nächten und in Aufregungen mit wogendem und -klopfendem Herzen, mit unterdrücktem Enthusiasmus ist diese Arbeit -entstanden. Aber dieser unterdrückte, stolze Enthusiasmus in jungen -Jahren ist gefährlich! Ich habe damals gespottet, will Ihnen aber jetzt -sagen, daß ich überhaupt solche ersten, jugendlichen, hitzigen Versuche -mit der Feder über alles das gewissermaßen als Amateur liebe. Ein Rauch, -ein Nebel ist es, und im Nebel klingt eine Saite. Ihr Artikel ist -unsinnig und phantastisch, aber darin schimmert solch eine -Aufrichtigkeit, darin steckt ein jugendlicher und unbestechlicher Stolz, -eine Kühnheit der Verzweiflung; es ist ein finsterer Artikel, und das -ist seine Stärke. Ich las Ihren Artikel und legte ihn beiseite, und ... -als ich ihn beiseite gelegt hatte, dachte ich schon damals, >nun, mit -diesem Menschen geht es nicht so weiter!< Nun, sagen Sie mir jetzt, wie -sollte man sich da nach all dem Vorangegangenen von dem Darauffolgenden -nicht hinreißen lassen! Ach, mein Gott! Was sage ich denn jetzt? -Behaupte ich denn jetzt etwas? Ich habe es mir damals bloß gemerkt. Was -ist denn alles dabei, -- dachte ich? Es ist ja nichts, rein gar nichts, -und vielleicht im höchsten Grade ein Nichts. Ja, und es ziemt sich ganz -und garnicht für mich, den Untersuchungsrichter, mich so hinreißen zu -lassen, -- ich habe doch Nikolai in den Händen, und mit Beweisen, -- es -ist gleichgiltig, wie man darüber denkt, Beweise sind es in jedem Fall. -Und er hat auch seine Psychologie; ich muß mich mit ihm beschäftigen, -denn es handelt sich hier um Tod und Leben. Wozu erkläre ich Ihnen jetzt -dies alles? Damit Sie es wissen und mich mit Ihrem Verstande und Herzen -wegen meines damaligen bösen Benehmens nicht anklagen sollen. Es war -nicht böse gemeint, ich sage es aufrichtig, he--he--he! Meinen Sie etwa, -daß ich keine Haussuchung bei Ihnen vorgenommen hätte? Ich habe es -getan, habe es getan, he--he--he, habe sie vorgenommen, als Sie krank im -Bett lagen. Es war nicht offiziell und nicht von mir persönlich, aber in -jedem Fall, sie wurde vorgenommen. Bis aufs letzte Haar wurde bei Ihnen -in der Wohnung alles, sogar nach frischen Spuren, besehen, -- aber -umsonst. Da dachte ich, -- jetzt kommt dieser Mensch zu mir, kommt -selbst und sehr bald zu mir; wenn er schuldig ist, wird er unbedingt -kommen. Ein anderer würde nicht kommen, dieser aber unbedingt. Und -erinnern Sie sich, wie Herr Rasumichin sich Ihnen gegenüber zu -versprechen begann? Das haben wir arrangiert, um Sie aufzuregen, darum -haben wir absichtlich auch das Gerücht verbreitet, damit er sich Ihnen -gegenüber verspreche, Herr Rasumichin aber ist so ein Mensch, der keine -Entrüstung bei sich behalten kann. Herrn Sametoff fiel zuerst Ihr Zorn -und Ihre offene Kühnheit auf; wie kann einer in einem Restaurant -plötzlich herausplatzen, -- >ich habe ermordet!< Es ist zu kühn, es ist -zu frech und wenn er schuldig ist, -- dachte ich, -- so ist er ein -furchtbarer Gegner! In dieser Weise habe ich damals gedacht. Ich wartete -auf Sie! Wartete mit größter Ungeduld, Sametoff haben Sie damals einfach -niedergeschmettert und ... das ist ja das Fatale, daß diese ganze -Psychologie zwei Seiten hat! Nun, ich erwarte also Sie und siehe, Gott -schickt Sie selbst, -- Sie kommen! Mein Herz klopfte stark! Ach! Nun, -warum mußten Sie damals kommen? Ihr Lachen, Ihr Lachen damals, als Sie -hereinkamen, -- erinnern Sie sich -- ich erriet sofort alles, als sähe -ich durch ein Glas; hätte ich aber auf Sie in dieser besonderen Art -nicht gewartet, würde ich auch in Ihrem Lachen nichts gemerkt haben. -Sehen Sie, was es heißt, in Stimmung zu sein. Und Herr Rasumichin -damals, -- ach! und der Stein, der Stein, -- erinnern Sie sich -- der -Stein, unter dem noch die Sachen versteckt sind? Mir war es, als sähe -ich ihn irgendwo in einem Gemüsegarten. -- Sie hatten doch Sametoff -schon davon erzählt und erwähnten ihn dann bei mir zum zweiten Male! Als -Sie aber damals begannen, Ihren Artikel bis aufs einzelne durchzunehmen, -als Sie sich näher darüber ausließen, -- da faßte ich jedes Ihrer Worte -doppelt auf, als stecke noch ein anderes darunter! Nun, sehen Sie, -Rodion Romanowitsch, in dieser Weise kam ich auch bis zu den letzten -Schranken, und erst als ich mit der Stirn dagegen rannte, kam ich zur -Besinnung. Nein, -- sagte ich mir -- was ist mit dir? Wenn man will, -- -sagte ich mir -- kann man dies alles bis zum letzten Punkte auf andere -Weise erklären, und es wird immer noch natürlicher erscheinen. Es war -eine Qual! Nein, -- dachte ich, -- wenn ich doch nur ein Zipfelchen -erwischen könnte! ... Und als ich gar von diesem Klingelzeichen hörte, -erstarrte ich, ein Frösteln packte mich. -- Jetzt ist das Zipfelchen da! -dachte ich. Ich habe es! Da überlegte ich nicht mehr, wollte es einfach -nicht mehr tun. Tausend Rubel hätte ich in diesem Augenblicke aus meiner -eigenen Tasche hingegeben, um nur Sie _mit meinen eigenen Augen_ gesehen -zu haben, -- wie Sie damals hundert Schritte neben dem Kleinbürger -hingingen, nachdem er Ihnen ins Gesicht >Mörder!< gesagt hatte, und Sie -nicht gewagt hatten, ihn irgend etwas, ganze hundert Schritte lang, zu -fragen! ... Nun, und dieses Gefühl von Kälte im Rückenmark? War dieses -Klingelzeichen auch im kranken Zustande, im halbbewußten Fieberwahne? -Und da müssen Sie sich, Rodion Romanowitsch, nach alldem auch nicht -wundern, daß ich damals mit Ihnen solche Scherze getrieben habe. Und -warum kamen Sie selbst im selben Augenblicke? Es war, als hätte Sie -jemand gestoßen, zu kommen, bei Gott, und wenn uns Nikolai nicht -auseinander gebracht hätte, so ... erinnern Sie sich an Nikolai damals? -Erinnern Sie sich seiner gut? Er kam, wie ein Blitz aus heiterm Himmel. -Nun, und wie empfing ich ihn? Dem Blitze glaubte ich nicht das -geringste, Sie geruhten es selbst zu sehen! Und noch mehr! Als Sie schon -fortgegangen waren, und als er begann, sehr, sehr vernünftig manche -Punkte zu beantworten, so daß ich selbst verwundert war, auch dann -glaubte ich ihm noch nicht das geringste! Sehen Sie, was es heißt, -felsenfest überzeugt zu sein. Nein -- dachte ich -- daran ist nichts zu -machen! Nikolai ändert daran garnichts!« - -»Mir erzählte soeben Rasumichin, daß Sie auch jetzt Nikolai -beschuldigen, und daß Sie Rasumichin selbst davon überzeugt hätten ...« - -Der Atem stockte ihm, und er beendete den Satz nicht. Er hörte mit -unbeschreiblicher Erregung zu, wie ein Mensch, der ihn vollkommen -durchschaut hatte, sich vor sich selbst verleugnete. -- Er fürchtete -daran zu glauben und glaubte nicht. In den zweideutigen Worten suchte er -gierig und haschte nach etwas Bestimmterem und Genauerem. - -»Herr Rasumichin!« rief Porphyri Petrowitsch wie erfreut über die Frage -Raskolnikoffs, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. -- »He--he--he! Ja, -Herrn Rasumichin mußte man auch abschieben, -- zu zweit ist es ein -Vergnügen, der dritte soll wegbleiben. Herr Rasumichin soll aus dem -Spiele bleiben, und ist außerdem ein fremder Mensch; er kam zu mir ganz -blaß gelaufen ... Nun, Gott sei mit ihm, wozu sollen wir ihn in die -Sache hereinbringen! ... Und was Nikolai betrifft, -- so sollen Sie -wissen, was das für ein Subjekt ist, das heißt, wie ich ihn auffasse. -Vor allen Dingen ist er noch das reine Kind, und nicht etwa eine -ängstliche Natur, sondern er ist eine Art Künstler. Sie sollen sich -nicht darüber lustig machen, daß ich ihn so darstelle. Er ist ein -unschuldiger, reiner und für alles empfänglicher Mensch. Hat ein Herz, -ist ein Phantast. Man sagt, daß er singen und tanzen kann und Märchen so -zu erzählen versteht, daß Leute aus anderen Orten sich versammeln, um -ihn zu hören. Auch zur Schule, zu den Abendkursen geht er, kann sich -krank lachen, wenn man ihm den Finger zeigt, kann sich bewußtlos -betrinken, nicht etwa aus Verdorbenheit, sondern gelegentlich, wenn man -ihm zu trinken gibt, alles in kindlicher Weise. Er hat damals gestohlen, -weiß es aber selbst nicht, denn nach seiner Ansicht -- >ist es doch kein -Diebstahl, wenn er etwas auf der Erde gefunden hat?< Wissen Sie aber, -daß er zu den Altgläubigen gehört, nein, eigentlich ist er kein -Altgläubiger, sondern ein Sektierer; aus seiner Familie gehörten einige -der Sekte >Bewegung< an, auch er selbst hat vor kurzem noch zwei Jahre -auf dem Lande bei einem gottesfürchtigen Greis gelebt, um sich in den -Grundsätzen der Religion zu festigen. Das alles habe ich von Nikolai und -seinen Nachbarn aus dem Dorfe erfahren. Noch mehr! Er wollte Einsiedler -werden! Er hatte die feste Absicht, betete nächtelang zu Gott, las in -den alten >echten, wahren<[12] Büchern und hat vor lauter Lesen den -Verstand verloren. Petersburg hat auf ihn einen starken Eindruck -gemacht, besonders das weibliche Geschlecht, nun, und auch der Wein. Er -ist empfänglich, hat den gottesfürchtigen Greis und alles vergessen. Ich -habe erfahren, daß ihn hier ein Künstler lieb gewonnen hat, er ging zu -ihm zu Besuch, da kam aber diese Geschichte dazwischen. Nun, er bekam -Angst, -- und wollte sich erhängen! Wollte davonlaufen! Was soll man da -tun bei dem Begriffe, den das Volk nun einmal von unserer Rechtspflege -besitzt! Manchen erschrickt schon das Wort >vors Gericht gestellt zu -werden<. Wer ist daran schuld! Wir wollen sehen, wie die Gerichtsreform -wirken wird. Ach, möge es Gott bald geben! Nun, also, -- im Gefängnisse -erinnerte er sich offenbar wieder des gottesfürchtigen Greises; auch die -Bibel erschien wieder. Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, was es bei -manchen von diesen Leuten bedeutet, >das Leiden auf sich zu nehmen<? Das -bedeutet nicht etwa, für jemand anderen zu leiden, sondern einfach man -soll >Leiden auf sich nehmen< und besonders gilt das, wenn die Behörden -im Spiele sind. Zu meiner Dienstzeit noch saß im Gefängnisse ein ganzes -Jahr ein äußerst stiller, ruhiger Arrestant, er las nächtelang auf dem -Ofen liegend die Bibel, und verlor vor lauter Lesen den Verstand, wissen -Sie, verlor ihn ganz und gar, so daß er eines schönen Tages ohne jede -Veranlassung, ohne jeden Grund einen Ziegelstein packte und ihn auf den -Vorgesetzten schleuderte. Ja, und wie tat er es, -- absichtlich -schleuderte er den Stein eine Elle vorbei, um dem Vorgesetzten bloß -keinen Schaden anzufügen! Nun, es ist ja bekannt, was mit einem -Arrestanten geschieht, der bewaffneten Widerstand gegen seinen -Vorgesetzten leistet, -- und da hatte er also >das Leiden auf sich -genommen<! Ich habe nun den Verdacht, daß Nikolai auch >das Leiden auf -sich nehmen< oder etwas derartiges tun will. Das weiß ich sicher, aus -Tatsachen. Er weiß bloß selbst nicht, daß ich es weiß. Was -- geben Sie -es etwa nicht zu, daß aus solch einem Volke phantastische Menschen -hervortreten? Aber sicher auf Schritt und Tritt. Der gottesfürchtige -Greis hat jetzt wieder bei ihm zu wirken begonnen, ist ihm besonders -nach dem Selbstmordversuch in Erinnerung gekommen. Übrigens aber, er -wird mir selbst alles erzählen, er wird zu mir kommen. Sie glauben, er -wird es bis zu Ende aushalten können? Warten Sie nur, er wird seine -Aussage noch zurücknehmen! Ich warte stündlich, daß er kommen wird, um -seine Aussage zurückzunehmen. Ich habe diesen Nikolai liebgewonnen und -will ihn genau ergründen. Und können Sie sich denken! He--he--he! Manche -Punkte hat er mir ziemlich vernünftig beantwortet, hat offenbar die -nötigen Mitteilungen erhalten und sich gut vorbereitet; nun, und bei -anderen Punkten blamierte er sich mordsmäßig, wußte rein gar nichts, -hatte keine Ahnung, und weiß selbst nicht mal, daß er nichts ahnt! Nein, -Väterchen, Rodion Romanowitsch, mit dieser Sache hat Nikolai nichts zu -tun! Es ist eine phantastische, finstere Sache, eine moderne Sache, ein -Fall unserer Zeit, wo das menschliche Herz sich getrübt hat -- wo die -Phrase zitiert wird, daß Blutvergießen >erfrischt<, wo von einem Leben -in Komfort gepredigt wird. Hier -- sind Ideen aus Büchern, hier spricht -ein durch Theorien gereiztes Herz, hier sieht man eine Entschlossenheit -zum ersten Schritt, aber eine Entschlossenheit besonderer Art, -- er hat -sich dazu entschlossen, wie man sich entschließt, von einem Felsen oder -von einem Turme sich herabzustürzen, und ist zu dem Verbrechen nicht wie -auf eigenen Füßen geschritten. Er hatte vergessen, die Türe hinter sich -zu schließen und hat getötet, zwei Menschen getötet, nach der Theorie. -Er hat getötet, aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen, was er aber -zusammengerafft hat, steckte er unter einen Stein. Es genügte ihm nicht, -daß er eine Qual durchgemacht hatte, als er hinter der Tür stand und an -der Tür gerüttelt und an der Klingel gerissen wurde, -- nein, er geht -noch einmal nachher in die leere Wohnung in halbbewußtem Zustande, um -sich dieses Läuten in Erinnerung zu bringen, es verlangt ihn wieder, -diese Kälte im Rücken zu spüren ... Nun ja, dies ist im kranken Zustande -geschehen, aber noch eins, -- er hat ermordet, hält sich aber für einen -ehrlichen Menschen, verachtet alle Leute, wandert als bleicher Engel -herum, -- nein, was hat Nikolai damit zu tun, lieber Rodion -Romanowitsch, nein, Nikolai ist es nicht!« - -Diese letzten Worte waren nach allem vorher Gesagten, das einem Aufgeben -des früher Angenommenen so ähnlich war, zu unerwartet gekommen. -Raskolnikoff erzitterte am ganzen Körper, wie vom Blitze getroffen. - -»Wer hat sie denn ... getötet ...« fragte er mit erstickender Stimme, -ohne doch die Frage zurückhalten zu können. Porphyri Petrowitsch warf -sich gegen die Stuhllehne zurück, wie aufs äußerste überrascht und -erstaunt über diese Frage. - -»Wie, wer sie getötet hat? ...« wiederholte er, als traue er seinen -Ohren nicht. -- »Ja, _Sie_ haben getötet, Rodion Romanowitsch! Sie haben -getötet ...« fügte er fast im Flüstertone, aber bestimmt hinzu. - -Raskolnikoff sprang vom Sofa auf, stand einige Sekunden und setzte sich -wieder, ohne ein Wort zu sagen. Über sein Gesicht ging ein krampfhaftes -Zucken. - -»Die Lippe bebt wieder bei Ihnen, wie damals,« murmelte scheinbar voll -Teilnahme Porphyri Petrowitsch. -- »Sie haben, Rodion Romanowitsch, mich -nicht richtig verstanden,« fügte er nach einigem Schweigen hinzu, »darum -sind Sie auch so überrascht. Ich bin gerade darum gekommen, um Ihnen -alles zu sagen und die Sache offen mit Ihnen zu behandeln.« - -»Ich habe nicht getötet,« flüsterte Raskolnikoff, genau wie ein Kind im -Schreck, wenn es auf frischer Tat ertappt wurde. - -»Nein, Sie haben es getan, Rodion Romanowitsch, Sie und niemand anders,« -flüsterte Porphyri Petrowitsch streng und fest. - -Sie schwiegen beide und das Schweigen dauerte merkwürdig lange, etwa -zehn Minuten. Raskolnikoff hatte sich auf den Tisch gestützt und fuhr -schweigend mit den Fingern durch die Haare. Porphyri Petrowitsch saß -still und wartete. Plötzlich blickte Raskolnikoff Porphyri Petrowitsch -verächtlich an. - -»Sie kommen wieder mit der alten Weise, Porphyri Petrowitsch! Immer Ihre -alte Taktik, -- wird es Ihnen in der Tat nicht langweilig?« - -»Ach, lassen Sie doch, was soll es denn für eine Taktik sein! Ja, wenn -Zeugen zur Stelle wären; wir sprechen aber doch Auge in Auge. Sie sehen -selbst, ich bin nicht dazu hergekommen, um Sie zu hetzen und zu -umgarnen, wie ein flüchtiges Wild. Ob Sie gestehen oder nicht, -- in -diesem Augenblicke ist es mir einerlei. Für meine Person bin ich auch -ohne das überzeugt.« - -»Wenn die Sache so steht, warum sind Sie denn gekommen?« fragte -Raskolnikoff gereizt. -- »Ich stelle Ihnen die frühere Frage, -- wenn -Sie mich für den Schuldigen halten, warum sperren Sie mich nicht ins -Gefängnis?« - -»Das ist doch einmal ein Wort! Darum will ich Ihnen diese Frage genau -beantworten, -- erstens, Sie einfach ins Gefängnis zu sperren, ist für -mich unvorteilhaft.« - -»Wieso unvorteilhaft? Wenn Sie überzeugt sind, so müssen Sie sogar ...« - -»Ach, was hat es denn zu sagen, daß ich überzeugt bin? Alles ist doch -vorläufig ein Gedanke von mir, eine Einbildung. Ja und warum soll ich -Sie dort _zur Ruhe_ setzen? Sie wissen das selbst, wenn Sie darauf -drängen. Ich bringe zum Beispiel den Kleinbürger hin, um Sie zu -überführen, Sie werden ihm aber sagen, -- bist du betrunken oder nicht? -Wer hat dich mit mir zusammen gesehen? Ich habe dich einfach für einen -Betrunkenen gehalten, und du warst es auch, -- was soll ich Ihnen darauf -erwidern, umsomehr, als Ihre Worte überzeugender sind als seine, denn in -seiner Aussage steckt nur eine psychologische Mutmaßung, -- das paßt -aber zu seiner Fratze nicht mal, -- Sie aber treffen den Kernpunkt, denn -der gemeine Kerl trinkt sehr stark und ist dafür bekannt. Und ich habe -selbst Ihnen offen schon einigemal gesagt, daß diese Psychologie zwei -Seiten hat, und daß die zweite Seite die größere Wahrscheinlichkeit für -sich hat, und habe hinzugefügt, daß ich außer diesem vorläufig gar -nichts gegen Sie in den Händen habe. Und obwohl ich Sie einsperren -werde, und sogar selbst gekommen bin -- (was doch sicher nicht gang und -gäbe ist) -- Ihnen im voraus alles mitzuteilen, trotzdem sage ich Ihnen -offen -- (was wieder nicht gang und gäbe ist) -- daß dies für mich -unvorteilhaft sein wird. Und zweitens, bin ich darum zu Ihnen gekommen -...« - -»Und zweitens?« Raskolnikoff rang immer noch nach Atem. - -»Weil ich mich, wie ich Ihnen schon vorhin erklärte, für verpflichtet -halte, Ihnen eine Erklärung abzugeben. Ich will nicht, daß Sie mich für -ein Scheusal ansehen sollen, umsomehr, als ich zu Ihnen eine aufrichtige -Neigung gefaßt habe, ob Sie mir glauben oder nicht. Und deswegen bin -ich, drittens, gekommen, Ihnen den offenen und direkten Vorschlag zu -machen -- sich selbst anzuzeigen und ein Geständnis abzulegen. Das ist -für Sie das Gescheiteste, und auch für mich am vorteilhaftesten, -- dann -bin ich die Sache los. Nun, war ich meinerseits offen oder nicht?« - -Raskolnikoff dachte einen Augenblick nach. - -»Hören Sie, Porphyri Petrowitsch, Sie sagen doch selbst, -- es ist nur -auf Psychologie begründet, indessen aber ziehen Sie die Mathematik -herein. Nun wie, wenn Sie sich selbst irren?« - -»Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe ein Endchen in -der Hand. Das Endchen hatte ich auch damals erwischt; Gott hat es mir -geschenkt!« - -»Was für ein Endchen?« - -»Das sage ich nicht, Rodion Romanowitsch. In jedem Falle aber habe ich -jetzt nicht mehr das Recht, es hinauszuschieben; ich werde Sie -verhaften. Also ziehen Sie dies in Betracht, -- für mich ist _es jetzt_ -gleichgültig, folglich tue ich es bloß um Ihretwillen. Bei Gott, es wird -für Sie besser sein, Rodion Romanowitsch!« - -Raskolnikoff lächelte boshaft. - -»Es ist doch nicht bloß lächerlich, es ist unverschämt. Und mag ich -schuldig sein, -- was ich noch gar nicht sage, -- nun, warum soll ich -denn zu Ihnen mit einem freiwilligen Geständnis kommen, wenn Sie schon -selbst sagen, daß ich dort bei Ihnen mich _zur Ruhe_ setzen werde?« - -»Ach, Rodion Romanowitsch, trauen Sie nicht ganz den Worten; vielleicht -wird es auch nicht ganz >_zur Ruhe_< sein! Es ist doch bloß eine Theorie -und zudem noch meine eigene, was für eine Autorität aber bin ich für -Sie? Vielleicht verheimliche ich auch jetzt noch irgend etwas vor Ihnen. -Ich kann Ihnen doch nicht alles offenbaren und zeigen. He--he! Außerdem, -Sie fragen, welchen Vorteil Sie haben werden? Ja, wissen Sie auch, welch -eine Strafermäßigung Sie erhalten werden? Wann werden Sie kommen, in -welchem Augenblick? Überlegen Sie es sich doch bloß! In dem Momente, wo -schon ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze -Angelegenheit verwirrt hat! Und ich will, -- so wahr ein Gott ist -- -alles >dort< so einrichten und arrangieren, daß Ihr Geständnis wie -vollkommen unerwartet erscheinen wird. Diese ganze Psychologie wollen -wir ganz vernichten, allen Verdacht will ich in nichts verwandeln, so -daß Ihr Verbrechen, wie eine Art Verblendung erscheinen wird, denn -- -offen gestanden, -- es war auch eine Verblendung. Ich bin ein ehrlicher -Mensch, Rodion Romanowitsch, und werde mein Wort halten.« - -Raskolnikoff schwieg traurig und ließ den Kopf sinken; er dachte lange -nach, plötzlich lächelte er wieder, aber sein Lächeln war diesmal schon -sanft und traurig. - -»Ach, es ist nicht nötig!« sagte er, als ob er sich gar nicht mehr vor -Porphyri Petrowitsch verberge. -- »Es lohnt sich nicht! Ich brauche gar -nicht Ihre Strafermäßigung!« - -»Das fürchtete ich gerade!« rief Porphyri Petrowitsch innig und -unwillkürlich, -- »das fürchtete ich gerade, daß Sie unsere Ermäßigung -nicht brauchen.« - -Raskolnikoff blickte ihn traurig und eindringlich an. - -»Hören Sie, verschmähen Sie das Leben nicht!« fuhr Porphyri Petrowitsch -fort. -- »Sie haben noch viel von ihm zu erwarten. Warum ist eine -Strafermäßigung nicht nötig, warum nicht? Sie ungeduldiger Mensch!« - -»Was habe ich denn noch viel vor?« - -»Zu leben! Was sind Sie für ein Prophet, wissen Sie denn wie viel? -Suchet und ihr werdet finden. Vielleicht hat Sie Gott hier geprüft. Ja, -und nicht ewig wird doch die Kette angelegt ...« - -»Eine Ermäßigung wird sein ...« lachte Raskolnikoff. - -»Haben Sie etwa Furcht vor der Bourgeoisschande? Das ist wohl möglich, -daß Sie dieses schreckt, und Sie wissen es vielleicht selbst nicht, -- -denn Sie sind noch jung! Aber Sie sollten sich wenigstens doch nicht -fürchten oder etwa schämen, ein Geständnis abzulegen.« - -»Ach, ich pfeife darauf!« flüsterte Raskolnikoff verächtlich und mit -Widerwillen, als ob er darüber auch nicht mehr reden wolle. Er war -wieder aufgestanden, als ob er irgendwohin gehen wollte, setzte sich -aber von neuem in sichtlicher Verzweiflung. - -»Da haben wir es -- ich pfeife darauf! Sie haben den Glauben verloren, -und meinen auch, daß ich Ihnen grob schmeichle; haben Sie denn so lange -gelebt? Verstehen Sie denn so viel davon? Haben sich eine Theorie -ausgedacht, und schämen sich nun, daß nichts daraus wurde, und daß es zu -wenig originell herauskam. Es nahm ein gemeines Ende, das ist wahr, aber -Sie sind doch kein hoffnungsloser Schuft! Sie haben sich wenigstens -nicht lange Sand in die Augen gestreut, Sie sind mit einem bis zu den -äußersten Grenzen gegangen. Für wen halte ich Sie denn? Ich halte Sie -für einen von der Sorte Menschen, denen man den Leib aufschlitzen kann, -die aber ruhig dastehen und mit einem Lächeln auf ihre Peiniger blicken, --- wenn sie nur einen Glauben oder einen Gott gefunden haben. Nun, gehen -Sie und finden Sie es und Sie werden leben. Außerdem müssen Sie schon -längst eine Luftveränderung haben. Was, das Leiden ist auch eine gute -Sache. Leiden Sie eine Zeit. Nikolai hat vielleicht auch recht, daß er -Leiden sucht. Ich weiß, daß Sie noch nicht glauben können, -- grübeln -Sie aber nicht zu viel; geben Sie sich einfach, ohne viel zu überlegen, -dem Leben hin; seien Sie sicher, -- es bringt Sie an das Ufer und stellt -Sie auf die Beine. An was für ein Ufer weiß ich nicht. Woher soll ich es -auch wissen? Ich glaube nur daran, daß Sie noch viel zu leben haben. Ich -weiß auch, daß Sie meine Worte jetzt wie eine auswendig gelernte Predigt -auffassen; aber vielleicht werden Sie sich ihrer einmal später erinnern -und sie werden Ihnen von Nutzen sein können. Aus diesem Grunde spreche -ich auch. Es ist gut, daß Sie nur diese Alte ermordet haben. Wenn Sie -aber sich eine andere Theorie ausgedacht hätten, so würden Sie -vielleicht eine um hundert Millionen schlimmere Sache vollbracht haben! -Man muß vielleicht noch Gott danken; woher wissen Sie es? Vielleicht -behütet Sie Gott aus irgend einem Grunde. Sie sollten aber ein großes -Herz haben und sich weniger fürchten. Ihnen ist bange vor der Größe -dessen, was jetzt zu geschehen hat? Nein, in diesem Falle muß man sich -schämen, bange zu sein. Wenn Sie einen solchen Schritt getan haben, so -nehmen Sie sich auch jetzt zusammen. Darin liegt die ausgleichende -Gerechtigkeit. Erfüllen Sie nun mal, was die Gerechtigkeit verlangt. Ich -weiß, daß Sie nicht glauben, aber -- bei Gott -- das Leben wird Ihnen zu -weiterem verhelfen. Nachher werden Sie es selbst gern haben. Sie -brauchen jetzt bloß Luft, Luft und Luft!« - -Raskolnikoff zuckte zusammen. - -»Ja, wer sind Sie denn?« rief er aus. -- »Sind Sie etwa ein Prophet? -Woher haben Sie diese hohe majestätische Ruhe, um mir superkluge -Prophezeiungen vorzuorakeln?« - -»Wer ich bin? Ich bin ein abgetaner Mensch, mehr nicht. Ein Mensch, der -vielleicht empfindet und Mitgefühl besitzt, vielleicht auch etwas weiß, -aber schon vollkommen abgetan ist. Sie aber -- mit Ihnen steht es -anders; Ihnen hat Gott das Leben vorbehalten; wer weiß, vielleicht geht -bei Ihnen alles wie ein Dunst vorüber, nichts wird zurückbleiben. Nun, -was ist denn dabei, daß Sie in eine andere Gattung von Menschen -übergehen werden? Sie mit Ihrem Herzen sollten doch nicht den Komfort -bedauern? Was ist denn dabei, daß man Sie vielleicht lange nicht mehr -sehen wird? Hier handelt es sich nicht um die Zeit, sondern um Sie -selbst. Werden Sie eine Sonne, und alle werden Sie sehen. Eine Sonne muß -vor allen Dingen eine Sonne sein. Warum lächeln Sie wieder, -- daß ich -solch ein Schiller bin? Und ich gehe eine Wette ein, Sie meinen, daß ich -mich an Sie heranschmeichle! Nun, vielleicht schmeichle ich mich auch -tatsächlich heran, he--he--he! Sie brauchen mir, Rodion Romanowitsch, -meinetwegen kein Wort zu glauben, meinetwegen, glauben Sie auch niemals, --- ich habe schon so eine Art, gebe es zu; aber eins füge ich hinzu, -- -ob ich ein gemeiner und wie weit ich ein ehrlicher Mensch bin, können -Sie, glaube ich, selbst beurteilen!« - -»Wann denken Sie mich zu verhaften?« - -»Nun, anderthalb oder zwei Tage kann ich Sie noch frei herumgehen -lassen. Denken Sie nach, mein Lieber, beten Sie zu Gott. Ja, es ist -vorteilhafter, -- bei Gott -- vorteilhafter.« - -»Wenn ich aber fliehen werde?« fragte Raskolnikoff mit einem sonderbaren -Lächeln. - -»Nein, Sie werden nicht fliehen. Ein Bauer wird davonlaufen, ein -moderner Sektierer wird fliehen -- ein Lakai, der von fremden Gedanken -zehrt, dem man bloß eine Fingerspitze zu zeigen braucht und der an -alles, was Sie wollen, sein Lebelang glauben wird. Sie aber glauben doch -nicht mehr an Ihre Theorie, -- warum wollen Sie fliehen? Ja, und was -wollen Sie in einem freiwilligen Exil? Im Exil ist es häßlich und -schwer, Sie aber brauchen vor allen Dingen Leben und eine bestimmte -Lage, eine entsprechende Luft, und gibt es für Sie im Exil die nötige -Luft? Wenn Sie fliehen werden, kehren Sie selbst zurück. _Ohne uns -können Sie nicht auskommen._ Und wenn ich Sie ins Gefängnis setze, -- -nun, Sie werden einen Monat sitzen, meinetwegen auch zwei oder drei, und -dann werden Sie plötzlich, -- denken Sie an meine Worte, -- selbst zu -mir kommen und gestehen, und möglicherweise für Sie selbst unerwartet. -Sie werden selbst noch eine Stunde vorher nicht wissen, daß Sie ein -Geständnis ablegen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie auf den -Gedanken kommen werden, das Leiden auf sich zu nehmen. Sie glauben mir -jetzt nicht auf mein bloßes Wort hin, Sie werden selbst aber darauf -verfallen. Denn das Leiden, Rodion Romanowitsch, ist ein großes Ding; -lassen Sie außer acht, daß ich fett und dick geworden bin, das tut -nichts, ich weiß es dennoch; lachen Sie nicht darüber, -- im Leiden -liegt eine tiefe Idee. Nikolai hat recht. Nein, Sie werden nicht -davonlaufen, Rodion Romanowitsch.« - -Raskolnikoff stand von seinem Platz auf und nahm seine Mütze. Porphyri -Petrowitsch erhob sich auch. - -»Sie wollen spazieren gehen? Der Abend wird schön werden, es möge nur -kein Gewitter kommen. Es wäre zwar besser, wenn es frischer würde ...« - -Er nahm auch seine Mütze. - -»Porphyri Petrowitsch,« sagte Raskolnikoff mit strenger -Eindringlichkeit, »bitte, setzen Sie sich nicht in den Kopf, daß ich -Ihnen heute gestanden habe. Sie sind ein sonderbarer Mensch und ich habe -Ihnen aus bloßer Neugier zugehört. Ich habe Ihnen aber nichts -eingestanden ... Vergessen Sie es nicht.« - -»Nun gut, ich werde es nicht vergessen, -- sehen Sie nur, wie Sie -zittern. Seien Sie ruhig, mein Lieber; Ihren Willen sollen Sie haben. -Gehen Sie ein wenig spazieren; zu viel aber sollen Sie nicht gehen. Ich -habe an Sie für jeden Fall noch eine kleine Bitte,« fügte er mit -gesenkter Stimme hinzu, -- »eine peinliche, aber wichtige Bitte, -- wenn -Sie, das heißt, für jeden Fall ... woran ich übrigens nicht glaube und -Sie zu ähnlichem für ganz und gar nicht fähig halte, ... falls -- ich -sage es bloß für jeden Fall -- Sie in diesen vierzig oder fünfzig -Stunden Lust verspüren sollten, die Sache irgendwie anders, in einer -phantastischen Weise aus der Welt zu schaffen, -- sagen wir, Hand an -sich legen zu wollen ... es ist ja eine unsinnige Annahme, entschuldigen -Sie bitte, -- hinterlassen Sie dann eine kurze aber genaue Mitteilung. -Es brauchen bloß zwei Zeilen, zwei kurze Zeilen zu sein und erwähnen Sie -auch den Stein; das wird anständiger sein. Nun, auf Wiedersehen ... Ich -wünsche Ihnen gute Gedanken und die rechten Vorsätze!« - -Porphyri Petrowitsch ging gebückt hinaus, und vermied es, Raskolnikoff -anzublicken. -- Raskolnikoff trat an das Fenster und wartete gereizt und -ungeduldig, bis jener auf der Straße sein konnte und weitergegangen war. -Dann verließ auch er selbst schnell das Zimmer. - - - III. - -Er eilte zu Sswidrigailoff. Was er von diesem Menschen erwartete, -- -wußte er selbst nicht. Er wußte nur das eine, daß der eine Macht über -ihn hatte. Nachdem er dies einmal eingesehen hatte, konnte er sich nicht -länger mehr beunruhigen und außerdem war jetzt die richtige Zeit -gekommen. -- Auf dem Wege quälte ihn besonders die eine Frage, -- war -Sswidrigailoff bei Porphyri Petrowitsch gewesen? - -Soweit er beurteilen konnte, und er hätte darauf schwören mögen, -- war -er nicht dort gewesen! Er dachte wiederholt nach, rief den ganzen Besuch -Porphyri Petrowitschs in seine Erinnerung zurück und überlegte: -- nein, -er war nicht bei ihm gewesen, ganz gewiß nicht! - -Aber wenn er noch nicht dort gewesen war, würde er oder würde er nicht -zu Porphyri Petrowitsch hingehen? - -Vorläufig schien es Raskolnikoff, als ob er nicht hingehen würde. Warum? -Er konnte sich selber dies nicht erklären, aber wenn er es auch gekonnt -hätte, so wollte er sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dies -alles quälte ihn, und doch hatte er zugleich für etwas anderes -Interesse. Es war erstaunlich und niemand würde es vielleicht geglaubt -haben, -- um sein jetziges unumgängliches Schicksal war er wenig -besorgt, er dachte nur zerstreut daran. Ihn quälte etwas anderes, -anscheinend Wichtigeres, etwas Außergewöhnliches, -- das nur ihn selbst -und niemand anderen betraf. Außerdem empfand er eine grenzenlose -seelische Erschlaffung, obgleich sein Verstand an diesem Morgen besser -arbeitete, als in allen diesen letzten Tagen. - -Und war es der Mühe wert, nach alledem, was vorgefallen war, diese neuen -winzigen Bedrängnisse zu überwinden? War es der Mühe wert, zum Beispiel, -zu intrigieren, damit Sswidrigailoff nicht zu Porphyri Petrowitsch -hingehe; ihn zu studieren, auszukundschaften und Zeit zu verlieren für -einen Sswidrigailoff? - -Oh, wie ihm dies alles langweilig war! - -Indessen eilte er aber doch zu Sswidrigailoff; erwartete er etwa von ihm -etwas _neues_, oder Fingerzeige oder einen Ausweg? Man greift in der Not -auch nach einem Strohhalm! Führte sie etwa jetzt das Schicksal oder ein -Instinkt zusammen? Vielleicht war es bloß Müdigkeit, Verzweiflung, -vielleicht brauchte er gar nicht Sswidrigailoff, sondern jemand anderen, -und Sswidrigailoff war ihm nur in den Weg gelaufen. Ssonja? Ja, wozu -sollte er jetzt zu Ssonja gehen? Wieder um ihre Tränen betteln? Ssonja -war ihm jetzt schrecklich. In Ssonja stellte er sich ein unerbittliches -Urteil, einen unwandelbaren Entschluß vor. Hier aber handelte es sich -darum, entweder ihr oder sein Weg. Besonders im gegenwärtigen -Augenblicke war er außerstande, sie zu sehen. Nein, es wäre besser, -Sswidrigailoff auszuforschen, -- was wäre dabei? Er konnte sich nicht -innerlich eingestehen, daß er tatsächlich jenen schon längst zu irgend -etwas gebrauchte. - -Aber was konnte es zwischen ihnen beiden gemeinsames geben? Selbst eine -Freveltat konnte sie beide nicht auf gleiche Stufe bringen. Dieser -Mensch war ihm sehr unangenehm, offenbar äußerst verdorben, sicher aber -schlau und unzuverlässig, und vielleicht auch bösartig. Von ihm wurde -allerhand erzählt. Es war ja richtig, er hat sich der Kinder Katerina -Iwanownas angenommen; aber wer weiß, zu welchem Zwecke und was es noch -auf sich hatte? Dieser Mensch hatte stets seine Absichten und Pläne. - -In all diesen Tagen schwebte ständig Raskolnikoff noch ein Gedanke vor -und beunruhigte ihn sehr, obwohl er ihn stets von sich zu weisen suchte; -so schwer lastete dieser Gedanke auf ihm! Er dachte -- Sswidrigailoff -hat die ganze Zeit sich mit ihm beschäftigt; Sswidrigailoff hat sein -Geheimnis erfahren und hatte schon böse Absichten gegenüber Dunja. Man -könnte doch fast mit Bestimmtheit sagen, daß _er sie noch haben_ werde. -Und wenn er jetzt, nachdem er sein Geheimnis erfahren und so über ihn -eine Macht erhalten hätte, sie als eine Waffe gegen Dunja benutzen -wollte? - -Dieser Gedanke quälte ihn sogar im Traume, aber noch nie war er ihm so -deutlich gekommen, wie jetzt. Und dieser Gedanke allein versetzte ihn in -die äußerste Wut. Dann würde sich alles verändern, sogar seine eigene -Lage, -- er muß dann sofort sein Geheimnis Dunetschka mitteilen. Er -mußte sich vielleicht selbst verraten, um Dunetschka von einem -unvorsichtigen Schritt abzuhalten. Und der Brief? Heute früh hatte -Dunetschka einen Brief erhalten! Von wem in Petersburg kann sie Briefe -empfangen? Etwa von Luschin? Es ist ja wahr, dort paßt Rasumichin auf, -aber Rasumichin weiß doch nichts von alldem. Vielleicht muß er sich auch -Rasumichin anvertrauen. Raskolnikoff dachte mit Widerwillen an diese -Möglichkeit. - -Er beschloß endgültig, Sswidrigailoff in jedem Falle möglichst bald -aufzusuchen. Gott sei Dank, hier handelt es sich nicht so sehr um die -Einzelheiten, als um den Kernpunkt der Sache, -- aber wenn er, wenn er -schon fähig war ... wenn Sswidrigailoff irgend etwas gegen Dunja -vorhatte, -- so ... - -Raskolnikoff war während dieser ganzen Zeit, während dieses ganzen -Monats so abgespannt geworden, daß er jetzt ähnliche Fragen nicht anders -mehr lösen konnte, als bloß durch das eine, -- »dann töte ich ihn!« Das -dachte er auch in diesem Augenblicke mit kalter Verzweiflung. Schwer -bedrückte es sein Herz; er blieb mitten auf der Straße stehen und begann -sich umzusehen, -- welchen Weg er ging und wohin er gekommen war? Er -befand sich auf dem N.schen Prospekt, dreißig oder vierzig Schritte vom -Heumarkt entfernt, den er passiert hatte. Der ganze zweite Stock eines -Hauses linker Hand war von einem Restaurant eingenommen. Alle Fenster -waren weit geöffnet; das Restaurant war, nach den vielen an den Fenstern -sich bewegenden Gestalten zu urteilen, stark besetzt. Im Saale sang ein -Chor, Lieder, Klarinetten und Geigen tönten und eine türkische Trommel -lärmte. Man hörte auch das Gekreische einiger Weiber. Er wollte umkehren -und begriff gar nicht, wie er auf den N.schen Prospekt gekommen war, als -er plötzlich in einem der letzten offenen Fenster des Restaurants -Sswidrigailoff erblickte, der dort hinter einem Teetisch mit einer -Pfeife im Munde saß. Er erschrak, und sein Schrecken ward zum Entsetzen. -Sswidrigailoff blickte ihn an und beobachtete ihn schweigend und wollte --- was Raskolnikoff ebenfalls betroffen machte, wie es schien, -aufstehen, um leise und unbemerkt fortzugehen. Raskolnikoff gab sich -sofort den Anschein, als hätte auch er ihn nicht bemerkt, und blickte in -Gedanken versunken zur Seite, ohne aber ihn ganz aus dem Auge zu lassen. -Sein Herz klopfte unruhig. Es war richtig, -- Sswidrigailoff wollte -offenbar nicht gesehen werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und -wollte sich verbergen; als er aber aufstand und den Stuhl zur Seite -schob, hatte er wahrscheinlich gemerkt, daß Raskolnikoff auch ihn -gesehen und beobachtet hatte. Es war etwas, was der Szene ihres ersten -Zusammentreffens bei Raskolnikoff, während seines Schlafes, glich. Ein -spöttisches Lächeln zeigte sich auf dem Gesichte Sswidrigailoffs. Beide -wußten, daß sie einander gesehen und beobachtet hatten. Zuletzt lachte -Sswidrigailoff laut auf. - -»Nun! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie wollen; ich bin hier!« rief er -ihm aus dem Fenster zu. - -Raskolnikoff ging in das Restaurant hinauf. Er fand ihn in einem sehr -kleinen Hinterzimmer mit einem Fenster, das an den großen Saal anstieß, -in dem an etwa zwanzig kleinen Tischen beim greulichen Gebrüll eines -Sängerchores Kaufleute, Beamte und andere Leute Tee tranken. Aus einer -anderen Ecke vernahm man das Anprallen von Billardkugeln. Auf dem Tische -vor Sswidrigailoff stand eine angebrochene Flasche Champagner und ein -Glas, zur Hälfte mit Wein gefüllt. In dem kleinen Zimmer befanden sich -außerdem ein Knabe, der eine kleine Drehorgel hatte, und ein kräftiges -rotwangiges Mädchen, in einem gestreiften aufgebauschten Rocke und einem -Tiroler Hütchen mit Bändern. Es war eine Sängerin, etwa achtzehn Jahre -alt, die, trotz des Chorgesanges in dem anderen Zimmer, unter Begleitung -der Drehorgel einen Gassenhauer mit ziemlich heiserer Kontrealtstimme -sang ... - -»Nun, genug!« unterbrach Sswidrigailoff sie beim Eintritt Raskolnikoffs. - -Das Mädchen brach sofort ab und blieb in ehrerbietiger Erwartung stehen. -Auch ihren Gassenhauer hatte sie mit einem ehrerbietigen und ernsten -Ausdrucke im Gesichte gesungen. - -»He, Philipp, ein Glas!« rief Sswidrigailoff. - -»Ich werde keinen Wein trinken,« sagte Raskolnikoff. - -»Wie Sie wollen, aber ich habe das Glas nicht Ihretwegen bestellt. -Trink, Katja! Heute brauche ich euch nicht mehr, geht!« -- Er goß ihr -ein volles Glas Wein ein und legte einen Rubelschein für sie auf den -Tisch. - -Katja leerte das Glas mit einem Male, wie die Frauen Wein trinken, das -heißt, ohne das Glas abzusetzen und zwanzigmal schluckend, sie nahm dann -den Schein, küßte Sswidrigailoff die Hand, was er sehr ernst zuließ und -verließ das Zimmer, ihr folgte der Knabe mit der Drehorgel. Man hatte -beide von der Straße heraufgeholt. Sswidrigailoff wohnte noch nicht -einmal eine Woche in Petersburg und alles verkehrte schon mit ihm auf -recht patriarchalischem Fuße. Auch der Kellner Philipp kannte ihn schon -und bediente ihn unterwürfigst. Die Tür zum Saale wurde geschlossen, -Sswidrigailoff war in diesem Zimmer wie bei sich zu Hause und verbrachte -hier jedenfalls ganze Tage. Das Restaurant war schmutzig, schlecht und -nicht einmal von mittlerer Sorte. - -»Ich wollte zu Ihnen gehen und suchte Sie,« begann Raskolnikoff, »bog -aber unversehens vom Heumarkte zu dem N.schen Prospekt ab! Ich gehe nie -diesen Weg und komme nie hierher. Ich nehme vom Heumarkte immer den Weg -zur rechten Hand. Auch der Weg zu Ihnen führt hier nicht vorbei. Doch -kaum als ich einbog, erblickte ich Sie sofort. Das ist seltsam!« - -»Warum sagen Sie nicht offen heraus, -- das ist ein Wunder!« - -»Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.« - -»Wie sonderbar all diese Leute beschaffen sind!« lachte Sswidrigailoff, -»Sie wollen es nicht eingestehen, wenn Sie auch innerlich selbst an -Wunder glauben! Sie sagen doch selbst, daß es -- >vielleicht< -- bloß -ein Zufall ist. Und wie sie alle hier feig sind, eine eigene Meinung zu -haben, können Sie sich gar nicht vorstellen, Rodion Romanowitsch. Ich -meine nicht Sie. Sie haben eine eigene Meinung und fürchten sich nicht, -sie zu haben. Darum haben Sie auch mein Interesse gefesselt.« - -»Sonst durch nichts?« - -»Aber das genügt doch.« - -Sswidrigailoff war offenbar in erregtem Zustande, doch nur ein klein -wenig; von dem Wein hatte er nur ein halbes Glas getrunken. - -»Mir scheint es, Sie kamen schon zu mir, ehe Sie erfuhren, daß ich fähig -bin, das zu haben, was Sie eine eigene Meinung nennen,« bemerkte -Raskolnikoff. - -»Nun, damals war es eine andere Sache. Jeder hat seine eigenen Wege. Was -aber das Wunder anbetrifft, muß ich Ihnen sagen, daß Sie anscheinend -diese letzten zwei oder drei Tage verschlafen haben. Ich habe Ihnen -selbst dieses Restaurant angegeben, und es war gar kein Wunder, daß Sie -hierher kamen; ich habe Ihnen selbst den ganzen Weg beschrieben und -Ihnen den Ort und die Stunden gesagt, wann man mich hier treffen kann. -Erinnern Sie sich?« - -»Ich habe es vergessen,« antwortete Raskolnikoff verwundert. - -»Es scheint so. Zweimal habe ich es Ihnen gesagt. Die Adresse hat sich -Ihrem Gedächtnisse mechanisch eingeprägt. Sie schlugen auch diesen Weg -mechanisch ein, indessen streng der Adresse folgend, ohne es selbst zu -wissen. Als ich es Ihnen damals sagte, glaubte ich nicht, daß Sie mich -verstanden hatten. Sie verraten sich zu sehr, Rodion Romanowitsch. Noch -eins: -- ich bin überzeugt, daß es in Petersburg viele Leute gibt, die -im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist eine Stadt von Halbverrückten. -Wenn wir die Wissenschaften mehr pflegten, so könnten Mediziner, -Juristen und Philosophen, jeder auf seinem Spezialgebiete die -wertvollsten Untersuchungen über Petersburg anstellen. Selten findet man -so viel finstere, tiefeinschneidende und eigentümliche Einflüsse auf die -Seele eines Menschen vor, wie in Petersburg. Was allein sind die -klimatischen Einflüsse wert! Indessen ist es das administrative Zentrum -von ganz Rußland, und sein Charakter muß sich in allem geltend machen. -Aber es handelt sich jetzt nicht darum, sondern, daß ich Sie ein paarmal -schon heimlich beobachtet habe. Sie verlassen Ihre Wohnung -- halten den -Kopf nach oben. Nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn schon sinken und -die Hände legen Sie auf den Rücken. Sie blicken vor sich und sehen -offenbar weder vor sich etwas, noch neben sich. Schließlich beginnen Sie -die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie -zuweilen die eine Hand frei machen und deklamieren, endlich bleiben Sie -mitten auf dem Wege lange stehen. Das ist nicht gut. Vielleicht -beobachtet jemand Sie außer mir, und das ist nicht vorteilhaft. Mir ist -es im Grunde genommen gleichgültig, und ich werde Sie nicht heilen, aber -Sie verstehen mich sicher.« - -»Wissen Sie es, daß man mich beobachtet?« fragte Raskolnikoff und -blickte ihn forschend an. - -»Nein, ich weiß nichts davon,« antwortete Sswidrigailoff, wie -verwundert. - -»Nun, lassen wir meine Person aus dem Spiel,« murmelte Raskolnikoff mit -verdüstertem Gesichte. - -»Gut, lassen wir Sie aus dem Spiel.« - -»Sagen Sie mir lieber, -- wenn Sie hierher gehen zu trinken und mir -selbst diesen Ort zweimal genannt haben, damit ich hierher zu Ihnen -kommen soll, warum versteckten Sie sich denn und wollten weggehen, als -ich Sie von der Straße aus am Fenster sah? Ich habe es sehr gut -gemerkt.« - -»He--he! Warum lagen Sie auf Ihrem Sofa mit geschlossenen Augen und -stellten sich schlafend, während Sie doch gar nicht schliefen, als ich -damals bei Ihnen auf der Schwelle stand? Ich habe es sehr gut bemerkt.« - -»Ich konnte ... Gründe haben ... Sie wissen es selbst.« - -»Auch ich konnte meine Gründe haben, obwohl Sie sie nicht erfahren -werden.« - -Raskolnikoff setzte den rechten Ellenbogen auf den Tisch, stützte mit -den Fingern der rechten Hand sein Kinn und starrte unverwandt -Sswidrigailoff an. Er betrachtete eine Weile sein Gesicht, das auch -früher ihn stets in Staunen gesetzt hatte. Es war ein auffallendes -Gesicht, das einer Maske zu gleichen schien, -- weiß, rotwangig, mit -roten, purpurroten Lippen, mit einem hellblonden Barte und noch ziemlich -dichten hellblonden Haaren. Die Augen waren zu blau und ihr Blick zu -schwer und unbeweglich. Es lag etwas äußerst Unangenehmes in diesem -hübschen und für sein Alter viel zu jugendlichen Gesichte. -Sswidrigailoffs Kleidung war elegant, leicht, sommerlich; besonders -elegant war seine Wäsche. An einem Finger hatte er einen großen Ring mit -einem kostbaren Stein. - -»Ja, soll ich mich denn auch mit Ihnen abgeben,« sagte Raskolnikoff -plötzlich, indem er mit krampfhafter Ungeduld auf sein Ziel losging, -»obgleich Sie vielleicht der gefährlichste Mensch sind, wenn Sie Lust -bekommen sollten, mir zu schaden, aber ich will mich nicht mehr -verstellen und Komödie spielen. Ich will Ihnen gleich zeigen, daß ich -gar keinen großen Wert auf meine Person lege, wie Sie wahrscheinlich -annehmen. Wissen Sie, ich bin gekommen, Ihnen offen zu erklären, wenn -Sie noch Ihre frühere Absicht gegenüber meiner Schwester hegen, und wenn -Sie zu diesem Zwecke irgend etwas von dem, was Ihnen in der letzten Zeit -bekannt geworden ist, zu benutzen gedenken, -- ich Sie eher töten werde, -bevor Sie mich ins Gefängnis bringen. Mein Wort ist sicher, -- Sie -wissen, daß ich es zu halten imstande bin. Zweitens, wenn Sie mir irgend -etwas zu sagen haben, -- denn es schien mir die ganze Zeit, als wollten -Sie mir etwas mitteilen, -- tun Sie es schnell, denn die Zeit ist -kostbar, und vielleicht ist es sehr bald zu spät.« - -»Was haben Sie denn für eine Eile?« fragte Sswidrigailoff und blickte -ihn neugierig an. - -»Jeder hat seine eigenen Wege,« sagte Raskolnikoff finster und -ungeduldig. - -»Sie haben mich selbst soeben gebeten, offen zu sein, und die erste -Frage lehnen Sie schon ab, zu beantworten,« bemerkte Sswidrigailoff mit -einem Lächeln. - -»Ihnen scheint es immer, daß ich irgend welche Zwecke verfolgen muß und -darum betrachten Sie mich argwöhnisch. Nun, das ist in Ihrer Lage -vollkommen begreiflich. Aber wie sehr ich auch wünsche, mit Ihnen in -nähere Beziehungen zu kommen, werde ich mir doch nicht die Mühe machen, -Sie vom Gegenteile zu überzeugen. Bei Gott, es ist nicht der Mühe wert, -und ich hatte gar nicht die Absicht, mit Ihnen über irgend etwas -besonderes zu sprechen.« - -»Wozu brauchten Sie mich dann? Sie scharwenzelten doch um mich herum?« - -»Ganz einfach, als ein interessantes Beobachtungsobjekt. Mir gefielen -Sie durch das Phantastische Ihrer Lage, -- das ist der Grund. Außerdem -sind Sie der Bruder einer Persönlichkeit, die mich sehr interessierte, -und schließlich habe ich seinerzeit von derselben Persönlichkeit sehr -viel und oft über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie einen großen -Einfluß auf die Dame haben; ist denn das nicht genügend Grund? -He--he--he! Ich muß übrigens gestehen, Ihre Frage ist für mich sehr -kompliziert, und es fällt mir etwas schwer, Ihnen darauf zu antworten. -Nun, zum Beispiel jetzt, -- Sie sind zu mir nicht bloß wegen der einen -Angelegenheit gekommen, sondern auch wegen etwas ganz neuem? Es stimmt -doch? Nicht wahr?« sagte Sswidrigailoff mit einem spöttischen Lächeln. --- »Nun, stellen Sie sich vor, daß ich selbst, noch auf der Reise -hierher im Eisenbahnwagen, auf Sie rechnete, daß Sie mir auch etwas -_neues_ sagen würden, und daß es mir gelingen würde, etwas von Ihnen zu -entlehnen! Sehen Sie, wie reich wir sind!« - -»Was denn entlehnen?« - -»Ja, was soll ich Ihnen sagen? Weiß ich etwa, -- was es ist? Sehen Sie, -in was für einem Restaurant ich die ganze Zeit hocke, und das ist mir -höchst unangenehm, das heißt, eigentlich nicht, aber ich muß mich doch -irgendwo hinhocken. Nun, und diese arme Katja -- haben Sie sie gesehen? -... Wäre ich wenigstens ein Vielfresser oder ein Feinschmecker, Sie -sehen aber selbst, was ich esse. -- (Er zeigte mit dem Finger in eine -Ecke, wo auf einem Tischchen das Überbleibsel von einem entsetzlichen -Beefsteak mit Kartoffeln stand.) -- Apropos, haben Sie zu Mittag -gegessen? Ich habe etwas zu mir genommen und möchte nichts mehr. Wein, -z. B., trinke ich gar nicht. Außer Champagner gar keinen Wein, und davon -trinke ich auch den ganzen Abend ein einziges Glas, davon tut mir schon -der Kopf weh. Ich habe ihn bloß bestellt, um mir auf die Beine zu -helfen, denn ich will irgendwohin gehen, Sie sehen mich in einer -besonderen Stimmung. Ich habe mich darum auch vorhin wie ein Schulbube -versteckt, weil ich meinte, daß Sie mich stören werden; aber ich glaube --- (er zog seine Uhr hervor) -- ich kann mit Ihnen noch eine Stunde -zusammen sein; es ist jetzt halb fünf. Glauben Sie mir, wenn ich -wenigstens etwas wäre, sagen wir, Gutsbesitzer, Landwirt, oder Vater, -ein Ulan, Photograph oder Journalist ... Aber nichts, ich habe gar keine -Spezialität! Zuweilen ist mir das langweilig. Wirklich, ich glaubte, von -Ihnen etwas neues zu hören.« - -»Ja, wer sind Sie denn eigentlich und warum sind Sie hierher gereist?« - -»Wer ich bin? Sie wissen doch, -- bin vom Adel, habe zwei Jahre in der -Kavallerie gedient, mich dann hier in Petersburg herumgetrieben, habe -Marfa Petrowna geheiratet und auf dem Lande gelebt. Da haben Sie meine -Lebensbeschreibung!« - -»Sie sind wohl ein Spieler?« - -»Nein, ich bin kein Spieler. Ein Falschspieler ist kein Spieler.« - -»Waren Sie denn Falschspieler?« - -»Ja, ich war Falschspieler.« - -»Hat man Sie auch gefaßt?« - -»Es ist auch vorgekommen. Was ist dabei?« - -»Nun, Sie konnten doch gefordert werden ... Das bringt doch auch mehr -Leben ins Dasein.« - -»Ich widerspreche Ihnen nicht und bin außerdem kein Meister im -Philosophieren. Ich will Ihnen gestehen, daß ich mehr der Weiber wegen -hierher gekommen bin.« - -»Nachdem Sie kaum Marfa Petrowna beerdigt hatten?« - -»Nun ja,« lächelte Sswidrigailoff mit einer frappanten Offenheit. -- -»Was ist dabei? Mir scheint, Sie finden etwas schlechtes darin, daß ich -über die Weiber so rede.« - -»Das will wohl sagen, ob ich etwas schlechtes in der Unsittlichkeit -finde oder nicht?« - -»In der Unsittlichkeit! Nun, Sie gehen zu weit! Übrigens aber will ich -Ihnen zuerst im allgemeinen über die Frauen antworten. Wissen Sie, ich -liebe gerade jetzt zu plaudern. Sagen Sie mir, wozu soll ich mich -enthalten? Warum soll ich die Frauen lassen, wenn ich ein großer Freund -davon bin? Sie sind doch wenigstens eine Beschäftigung.« - -»Also Sie rechnen hier bloß auf die Unsittlichkeit?« - -»Was ist dabei, ja, meinetwegen auf Unsittlichkeit. Wie Sie sich darauf -versessen haben. Ich liebe aber wenigstens eine offene Frage. In dieser -Unsittlichkeit ist etwas beständiges, in der Natur begründetes und der -Phantasie nicht unterworfenes, etwas, das stets wie eine feurige Glut im -Blute steckt, ewig anfeuert und das man lange nicht, auch mit den Jahren -vielleicht nicht, so schnell auslöschen kann. Geben Sie doch selbst zu, -ist das nicht eine Art von Beschäftigung?« - -»Wie soll man sich dabei freuen? Es ist eine Krankheit, und eine -gefährliche.« - -»Ah, Sie kommen _damit_! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, wie -auch alles, was über das Maß hinausgeht, -- und hier wird man unbedingt -das Maß überschreiten, -- aber das ist doch, erstens, bei dem einen so, -bei dem anderen anders, und zweitens, muß man eben wie in allem Maß -einhalten; es ist Berechnung und eine gemeine dazu, aber was soll man -tun? Wenn es dies nicht gäbe, müßte man sich möglicherweise erschießen. -Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch verpflichtet ist, sich lieber zu -langweilen, aber dennoch ...« - -»Könnten Sie sich erschießen?« - -»Aber, hören Sie!« erwiderte Sswidrigailoff mit Widerwillen. »Tun Sie -mir den Gefallen und sprechen Sie nicht davon,« fügte er hastig hinzu -und ohne jegliche Großtuerei, die sich in allen seinen früheren Worten -ausprägte. Sogar sein Gesicht schien sich verändert zu haben. -- »Ich -gestehe diese unverzeihliche Schwäche ein, aber was soll ich tun, -- ich -fürchte den Tod und liebe nicht, daß man darüber spricht. Wissen Sie, -ich bin teilweise Mystiker?« - -»Ah! Die Erscheinungen von Marfa Petrowna! Wie, kommt sie noch immer?« - -»Ach, erinnern Sie mich nicht daran; in Petersburg ist es noch nicht -vorgekommen; und hol der Teufel die Erscheinungen!« rief er mit -gereizter Miene aus. -- »Nein, wir wollen lieber über ... ja übrigens -... Hm! Ach, ich habe zu wenig Zeit, kann nicht lange bei Ihnen bleiben, -es ist schade! Ich hätte Ihnen etwas mitzuteilen.« - -»Was, ist es eine Frau, die Sie erwartet?« - -»Ja, eine Frau, ein ganz unerwarteter Zufall ... nein, ich meine nicht -das.« - -»Nun, und die Schändlichkeit dieser ganzen Umgebung wirkt schon nicht -mehr auf Sie? Sie haben schon die Kraft verloren, zu stoppen?« - -»Sie machen auch Ansprüche an Kraft? He--he! Sie haben mich soeben -überrascht, Rodion Romanowitsch, obwohl ich im voraus wußte, daß es so -kommen werde. Sie reden mit mir über Unsittlichkeit und über Ästhetik! -Sie -- ein Schiller, Sie -- ein Idealist! Dies alles muß natürlich so -sein, und man müßte erstaunt sein, wenn es anders wäre, aber trotzdem -ist etwas merkwürdiges vor der Wirklichkeit ... Ach, schade, daß ich so -wenig Zeit habe, Sie sind ein äußerst interessantes Subjekt! Ja, -nebenbei gefragt, lieben Sie Schiller? Ich liebe ihn außerordentlich.« - -»Was Sie aber für ein Großtuer sind!« sagte Raskolnikoff mit einem -gewissen Abscheu. - -»Ich bin es nicht, bei Gott!« antwortete Sswidrigailoff mit lautem -Lachen, »aber ich will es nicht bestreiten, mag ich ein Großtuer sein; -doch warum soll man auch nicht wichtigtun, wenn es harmlos ist. Ich habe -sieben Jahre auf dem Lande bei Marfa Petrowna gelebt, schon darum freue -ich mich zu plaudern, nachdem ich jetzt auf einen klugen Menschen wie -Sie, -- auf einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen -gestoßen bin, und außerdem habe ich dieses halbe Glas Wein getrunken und -es ist mir ein bißchen zu Kopfe gestiegen. Die Hauptsache aber ist, daß -es einen Umstand gibt, der mich sehr aufgerüttelt hat, den ich aber ... -verschweigen werde. Wohin gehen Sie denn?« fragte Sswidrigailoff -plötzlich erschrocken. - -Raskolnikoff machte Miene, sich zu erheben. Ihm wurde es schwer, -beengend und peinlich, daß er hierher gekommen war. Von Sswidrigailoff -hatte er die feste Meinung gewonnen, daß er der unbedeutendste und -inhaltloseste Bösewicht der Welt sei. - -»Ach! Setzen Sie sich, bleiben Sie noch,« bat Sswidrigailoff, »und -bestellen Sie sich doch wenigstens Tee. Bleiben Sie sitzen, ich will -keinen Unsinn mehr, das heißt, über mich schwatzen. Ich will Ihnen etwas -erzählen. Wollen Sie? Ich werde Ihnen erzählen, wie mich eine Frau, um -in Ihrem Stile zu reden, >retten wollte<? Das wird sogar eine Antwort -auf Ihre erste Frage sein, weil diese Dame -- Ihre Schwester ist. Darf -ich erzählen? Wir schlagen auch die Zeit damit tot.« - -»Erzählen Sie, aber ich hoffe, Sie ...« - -»Oh, seien Sie ruhig! Außerdem kann Awdotja Romanowna sogar bei solch -einem schlimmen und oberflächlichen Menschen, wie ich, bloß die höchste -Achtung hervorrufen.« - - - IV. - -»Sie wissen vielleicht, -- ich habe es Ihnen übrigens selbst erzählt,« -begann Sswidrigailoff, »daß ich hier im Schuldgefängnis wegen ungeheurer -Schulden saß, ohne die geringste Aussicht, sie zu tilgen. Es lohnt sich -nicht, die Einzelheiten zu erwähnen, wie mich damals Marfa Petrowna -loskaufte; wissen Sie, bis zu welcher Bewußtlosigkeit eine Frau sich -zuweilen verlieben kann? Sie war eine ehrliche, ziemlich kluge, obwohl -vollkommen ungebildete Frau. Stellen Sie sich vor, daß diese -eifersüchtige und ehrliche Frau nach vielen schrecklichen Wutausbrüchen -und Vorwürfen sich entschlossen hatte, mit mir sozusagen einen Vertrag -abzumachen, den sie während unserer Verheiratung erfüllte. Die Sache war -die, daß sie bedeutend älter war als ich, und außerdem ständig eine -Gewürznelke im Munde hatte. Ich hatte in meiner Seele trotz aller -Gemeinheit so viel Ehrlichkeit, ihr offen zu erklären, daß ich ihr -vollkommene Treue nicht halten könne. Dieses Geständnis versetzte sie in -Wut, aber meine grobe Offenheit schien ihr in gewisser Weise gefallen zu -haben. >Er will also selbst nicht betrügen,< dachte sie, >wenn er im -voraus es in dieser Weise erklärt,< -- nun, und für eine eifersüchtige -Frau ist es das wichtigste. Nach vielen Tränen kam zwischen uns -folgender mündlicher Vertrag zustande, -- erster Punkt, ich werde Marfa -Petrowna nie verlassen und stets ihr Mann bleiben; zweitens, ohne ihre -Erlaubnis werde ich nirgendwohin verreisen; drittens, eine ständige -Geliebte werde ich mir nie anschaffen; viertens, dagegen gestattet mir -Marfa Petrowna, mir zuweilen eine von den Stubenmädchen auszusuchen, -jedoch nicht anders, als mit ihrem geheimen Wissen; fünftens, Gott soll -mich behüten, daß ich mich in eine Frau aus unserem Stande verliebe; -sechstens, falls aber, was Gott verhüte, mich irgend eine große und -ernste Leidenschaft heimsuchen sollte, muß ich mich Marfa Petrowna -anvertrauen. In Bezug auf den letzten Punkt war Marfa Petrowna übrigens -die ganze Zeit ziemlich ruhig; sie war eine kluge Frau, und folglich -konnte sie mich nicht anders, als für einen liederlichen und -lasterhaften Menschen, betrachten, der nicht imstande ist, sich -ernstlich zu verlieben. Aber eine kluge Frau und eine eifersüchtige Frau -sind zwei verschiedene Dinge, und das ist ein Unglück. Übrigens, um -unparteiisch über einige Menschen urteilen zu können, muß man sich -vorher von manchen voreingenommenen Ansichten und von der alltäglichen -Gewöhnung an die uns umgebenden Menschen und Gegenstände lossagen. Ich -habe ein Recht, auf Ihr Urteil mehr, als von jemanden anderen, zu -hoffen. Vielleicht haben Sie schon sehr viel lächerliches und unsinniges -über Marfa Petrowna gehört. In der Tat, sie hatte manche lächerliche -Angewohnheit, aber ich will Ihnen offen sagen, daß ich die zahllosen -Bekümmernisse, die ich ihr verursacht habe, aufrichtig bedauere. Das -scheint für einen sehr anständigen _Oraison funèbre_{[17]} der -zärtlichsten Frau von dem zärtlichsten Manne zu genügen. Bei unseren -Streitigkeiten schwieg ich meistenteils und war nicht gereizt, und -dieses gentlemanlike Benehmen erreichte fast stets das Ziel; es wirkte -auf sie und gefiel ihr sogar; es gab auch Fälle, wo sie sogar auf mich -stolz war. Aber Ihr Fräulein Schwester hat sie trotzdem nicht ertragen. -Und wie war es möglich, daß sie riskiert hatte, solch eine Schönheit in -ihr Haus als Gouvernante zu nehmen! Ich erkläre es mir dadurch, daß -Marfa Petrowna eine feurige und empfängliche Frau war, und daß sie sich -ganz einfach selbst in Ihre Schwester verliebt, -- buchstäblich verliebt -hatte. Nun, und Awdotja Romanowna hat selbst den ersten Schritt getan, --- ob Sie mir glauben oder nicht? Können Sie sich denken, daß Marfa -Petrowna sogar zuerst auf mich wegen meines ständigen Schweigens über -Ihre Schwester böse wurde, weil ich mich gegen ihre ewigen und -verliebten Lobsprüche auf Awdotja Romanowna gleichgültig verhielt? Ich -begreife selbst nicht, was sie eigentlich wollte! Und selbstverständlich -erzählte Marfa Petrowna alles, meine ganze Vergangenheit Awdotja -Romanowna. Sie hatte die unglückliche Eigenschaft, allen unsere ganzen -Familiengeheimnisse zu erzählen und vor allen ständig über mich zu -klagen; wie sollte sie da solch eine neue und schöne Freundin damit -verschonen? Ich nehme selbst an, daß zwischen ihnen kein anderes -Gespräch geführt wurde, als über mich, und zweifellos bekam Awdotja -Romanowna alle diese finsteren geheimnisvollen Märchen zu hören, die -über mich im Umlauf sind ... Ich wette, daß Sie auch irgend etwas -derartiges schon gehört haben.« - -»Ich habe etwas gehört. Luschin beschuldigte Sie, daß Sie sogar die -Ursache des Todes eines Kindes waren. Ist es wahr?« - -»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich mit allen diesen -Abgeschmacktheiten in Ruhe,« sagte Sswidrigailoff mit Abscheu und Ekel, -»wenn Sie unbedingt wünschen, über diesen ganzen Unsinn näheres zu -erfahren, will ich es Ihnen einmal erzählen, jetzt aber ...« - -»Man sprach auch von einem Diener auf Ihrem Gute und daß Sie angeblich -auch die Ursache ...« - -»Tun Sie mir den Gefallen, genug davon!« unterbrach ihn Sswidrigailoff -von neuem mit sichtbarer Ungeduld. - -»Ist das nicht derselbe Diener, der Ihnen nach seinem Tode die Pfeife -stopfen wollte ... Sie haben mir noch selbst davon erzählt?« fuhr -Raskolnikoff immer gereizter fort. - -Sswidrigailoff blickte Raskolnikoff aufmerksam an, und jenem schien es, -daß in diesem Blicke, gleich einem Blitze, ein boshaftes Lächeln -aufzuckte, Sswidrigailoff aber bemeisterte sich und antwortete sehr -höflich: - -»Es ist derselbe. Ich sehe, daß auch dies alles Sie außerordentlich -interessiert, und werde es für meine Pflicht halten, bei der ersten -besten Gelegenheit Ihre Neugier in allen Punkten zu befriedigen. Zum -Teufel! Ich sehe, daß ich tatsächlich jemand als eine romantische Person -erscheinen kann. Beurteilen Sie selbst, wie dankbar ich der verstorbenen -Marfa Petrowna sein muß, daß sie Ihrem Fräulein Schwester so viel -Geheimnisvolles und Interessantes über mich erzählt hatte. Ich nehme mir -nicht die Freiheit, über den Eindruck zu urteilen, aber in jedem Falle -war es für mich vorteilhaft. Bei dem ganzen natürlichen Widerwillen -Awdotja Romanownas gegen mich und trotz meines ständigen finsteren und -abstoßenden Aussehens -- tat ich ihr endlich leid, tat ihr der verlorene -Mensch leid. Wenn aber dem Herzen eines jungen Mädchens etwas _leid -tut_, ist dies selbstverständlich für sie am gefährlichsten. Da bekommt -man unbedingt Lust >zu retten<, aufzurütteln, zu überzeugen, zu edleren -Zielen zu rufen und zu neuem Leben und neuer Tätigkeit zu erwecken, -- -nun, es ist bekannt, was man in dieser Art zusammenträumen kann. Ich -habe sofort gemerkt, daß das Vögelchen selbst ins Netz fliegt, und habe -mich meinerseits vorbereitet. Sie scheinen mir das Gesicht zu verziehen, -Rodion Romanowitsch? Hat nichts auf sich, die Sache hat, wie Sie wissen, -mit Kleinigkeiten geendet. -- Zum Teufel, wie viel Wein ich heute -trinke! -- Wissen Sie, ich bedauerte immer von Anfang an, daß es Ihrer -Schwester nicht vergönnt war, im zweiten oder dritten Jahrhundert -unserer Zeitrechnung irgendwo als Tochter eines kleinen regierenden -Fürsten oder eines Regenten oder eines Prokonsuls in Kleinasien zur Welt -zu kommen. Sie würde zweifellos eine von jenen gewesen sein, die das -Martyrium erduldet haben, und sie hätte sicher gelächelt, wenn man ihr -die Brust mit glühenden Zangen gebrannt hätte. Sie hätte dies -absichtlich auf sich genommen, im vierten oder fünften Jahrhundert aber -würde sie in eine Wüste von Ägypten gegangen sein, hätte dort dreißig -Jahre gelebt und sich von Wurzeln, Verzückung und Erscheinungen genährt. -Sie dürstet bloß und verlangt darnach, irgend eine Marter für jemand auf -sich zu nehmen, wenn man ihr aber diese Marter nicht geben wird, so -springt sie möglicherweise zum Fenster hinaus. Ich habe etwas von einem -Herrn Rasumichin gehört. Man sagt, er sei ein vernünftiger Bursche, -worauf auch sein Familienname deutet, wahrscheinlich aus dem geistlichen -Stande, nun mag er Ihre Schwester hüten. Mit einem Worte, mir scheint -es, ich habe sie verstanden, was ich auch mir als eine Ehre anrechne. -Damals aber, das heißt am Anfang der Bekanntschaft, wie Sie selbst -wissen, ist man immer leichtsinniger und dümmer, sieht vieles im -falschen Lichte, sieht nicht das richtige. Zum Teufel, warum ist sie -auch so schön? Ich habe keine Schuld! Mit einem Worte, es begann bei mir -mit einer sehr starken wollüstigen Neigung. Awdotja Romanowna ist -unbeschreiblich und unerhört keusch. Merken Sie sich, ich teile Ihnen -dieses als eine Tatsache über Ihre Schwester mit. Sie ist vielleicht bis -zur Krankhaftigkeit keusch, trotz ihres ganzen großen Verstandes, und -das wird ihr schaden. Bei uns tauchte ein Mädchen Parascha, die -schwarzäugige Parascha auf, die man soeben von einem anderen Gute zu uns -gebracht hatte, als Stubenmädchen, und die ich vorher nie gesehen hatte, --- sie war sehr hübsch, aber unglaublich dumm, -- sie weinte, erhob über -den ganzen Hof ein Geheul und es passierte ein Skandal. Eines Tages -suchte Awdotja Romanowna nach dem Essen mich absichtlich allein in einer -Allee im Garten auf und _verlangte_ von mir mit blitzenden Augen, daß -ich die arme Parascha in Ruhe lassen sollte. Das war beinahe unser -erstes Gespräch zu zweien. Ich hielt es selbstverständlich für eine -Ehre, ihrem Wunsche nachzukommen, versuchte mich überrascht, beschämt zu -stellen, nun, mit einem Worte, ich spielte meine Rolle nicht übel. Es -begannen Beziehungen, geheimnisvolle Gespräche, Moralpredigten, Bitten, -Flehen, sogar Tränen, -- können Sie es glauben, sogar Tränen! Sehen Sie, -wie stark und weit bei manchen jungen Mädchen die Leidenschaft -Propaganda machen geht! Ich schob selbstverständlich alles auf mein -Schicksal, stellte mich hin als einen nach Erleuchtung Hungernden und -Dürstenden, und schließlich machte ich von dem größten und -unerschütterlichen Mittel, Frauenherzen zu erobern, Gebrauch, von dem -Mittel, das nie und nimmer trügt und das entschieden auf alle, ohne jede -Ausnahme, wirkt. Es ist ein bekanntes Mittel -- die Schmeichelei. Es -gibt nichts schwereres in der Welt, als offener Freimut, und nichts -leichteres, als Schmeichelei. Wenn im Freimut bloß ein hundertster Teil -des Tones falsch ist, so tritt sofort eine Dissonanz und nach ihr -- ein -Skandal ein. Wenn aber in der Schmeichelei alles, bis zum geringsten -Tone falsch ist, auch dann ist sie angenehm und wird mit Vergnügen -angehört, und wenn auch mit grobem Vergnügen, so doch mit Vergnügen. Und -mag die Schmeichelei noch so derb sein, so wird doch unbedingt -wenigstens die Hälfte als Wahrheit geglaubt. Und das gilt für alle -Entwicklungsstufen und Schichten der Gesellschaft. Sogar eine Vestalin -kann man durch Schmeichelei verführen. Von gewöhnlichen Menschen lohnt -sich nicht mal zu reden. Ich kann mich nicht ohne Lachen daran erinnern, -wie ich einmal eine Dame, die ihrem Manne, ihren Kindern und ihren -Tugenden ergeben war, verführt habe. Wie amüsant es war und wie wenig -Arbeit es mir machte! Die Dame war tatsächlich tugendhaft, wenigstens in -ihrer Art. Meine ganze Taktik bestand darin, daß ich jeden Augenblick -von ihrer Keuschheit einfach erdrückt war und mich davor in den Staub -warf. Ich schmeichelte ihr gottlos und kaum, wenn ich von ihr einen -Händedruck, selbst einen Blick erhaschte, machte ich mir Vorwürfe, daß -ich dies ihr mit Gewalt abgenötigt habe, daß sie sich dem widersetzt, -sich dem so widersetzt habe, daß ich sicher nie etwas von ihr erlangt -hätte, wenn ich selbst nicht so verdorben wäre, daß sie in ihrer -Unschuld meine Arglist nicht vorgesehen habe und unabsichtlich, ohne es -selbst zu wissen und zu ahnen, mir entgegengekommen wäre, und -dergleichen mehr. Mit einem Worte, ich erreichte alles, meine Dame aber -blieb im höchsten Grade davon überzeugt, daß sie unschuldig und keusch -wäre und alle Pflichten und Schuldigkeiten erfüllt habe, daß sie aber -zufällig gefallen war. Und wie böse wurde sie auf mich, als ich ihr zu -guter Letzt erklärte, daß meiner aufrichtigen Überzeugung nach, sie -ebenso, wie ich, einen Genuß gesucht habe. Die arme Marfa Petrowna war -auch schrecklich empfänglich für Schmeichelei, wenn ich nur gewollt -hätte, so hätte sie sicher ihr ganzes Vermögen auf meinen Namen noch bei -ihren Lebzeiten umgeschrieben. -- Jedoch, ich trinke viel Wein und -schwatze. -- Ich hoffe, Sie werden nicht böse werden, wenn ich jetzt -erwähne, daß sich auch bei Awdotja Romanowna dasselbe Resultat zu zeigen -begann. Ich war aber selbst dumm und ungeduldig und habe die ganze Sache -verdorben. Awdotja Romanowna mißfiel furchtbar der Ausdruck meiner -Augen, schon einige Male vorher, -- das eine Mal aber ganz besonders, -- -glauben Sie es? Mit einem Worte, in meinen Augen leuchtete immer stärker -und unvorsichtiger ein gewisses Feuer, das sie bange machte und ihr -schließlich verhaßt wurde. Die Einzelheiten lohnen sich nicht zu -erzählen, aber wir kamen auseinander. Da machte ich wieder eine -Dummheit. Ich begann in der gröbsten Weise alle diese Propaganda und -Bekehrungen zu verhöhnen; Parascha erschien wieder auf der Bildfläche, -und nicht allein sie, -- mit einem Worte, es begann ein Sodom. Ach, -Rodion Romanowitsch, wenn Sie nur ein einziges Mal im Leben die Augen -Ihrer Schwester gesehen hätten, wie sie zuweilen zu blitzen verstehen! -Es tut nichts, daß ich jetzt betrunken bin und schon ein ganzes Glas -Wein getrunken habe, ich sage die Wahrheit; ich versichere Sie, daß ich -von diesem Blicke träumte; ich konnte schließlich nicht mehr das -Rauschen ihres Kleides ertragen. Ich dachte in der Tat, daß ich die -Fallsucht bekomme, nie habe ich es mir träumen lassen, daß ich so außer -mir geraten könne. Mit einem Worte, es war notwendig Frieden zu -schließen, aber es war schon unmöglich. Und stellen Sie sich vor, was -ich dann tat? Bis zu welchem Stumpfsinn die rasende Wut einen Menschen -bringen kann! Unternehmen Sie niemals etwas in rasender Wut, Rodion -Romanowitsch. In der Annahme, daß Awdotja Romanowna im Grunde genommen -bettelarm ist -- (ach, entschuldigen Sie, ich wollte nicht das sagen ... -ist es aber nicht einerlei, wenn es nur einen Begriff wiedergibt?) -- -mit einem Worte, daß sie von ihrer Hände Arbeit lebt, -- daß sie ihre -Mutter und Sie unterhalten muß -- (ach, zum Teufel, Sie verziehen wieder -Ihr Gesicht ...) -- beschloß ich ihr mein ganzes Geld anzubieten, -- ich -konnte damals etwa dreißigtausend realisieren, -- damit sie mit mir -- -nun, meinetwegen, -- hierher nach Petersburg fliehen solle. Es versteht -sich, daß ich ihr dabei ewige Liebe, Seligkeit und dergleichen mehr -geschworen habe. Können Sie mir glauben, daß ich damals so von ihr -benommen war, daß, hätte sie zu mir gesagt, -- ermorde oder vergifte -Marfa Petrowna und heirate mich, -- ich es sofort getan hätte! Alles -aber endete mit der Ihnen schon bekannten Katastrophe, und Sie können -sich selbst ausmalen, in was für eine Wut ich geriet, als ich erfuhr, -daß Marfa Petrowna damals diese gemeine Schreiberseele Luschin -aufgegabelt und beinahe die Heirat zustande gebracht hatte, -- was im -Grunde genommen dasselbe gewesen wäre, was auch ich anbot. Ist es etwa -nicht so? Ist es nicht dasselbe? Nicht wahr, es ist dasselbe? Ich merke, -daß Sie mir zu aufmerksam zuhören ... interessierter junger Mann ...« - -Sswidrigailoff schlug voll Ungeduld mit der Faust auf den Tisch. Er war -rot geworden. Raskolnikoff sah deutlich, daß das eine oder die -anderthalb Glas Champagner, den er unmerklich in kleinen Schlucken -getrunken hatte, krankhaft auf ihn gewirkt hatten, -- und beschloß diese -Gelegenheit wahrzunehmen. Sswidrigailoff erschien ihm sehr verdächtig. - -»Nach all dem Gesagten bin ich völlig überzeugt, daß Sie auch hierher -gereist sind, weil Sie meine Schwester im Auge haben,« sagte er zu -Sswidrigailoff offen und ohne sich zu verstellen, um ihn nur noch mehr -zu reizen. - -»Ach, lassen Sie es,« Sswidrigailoff schien sich plötzlich -zusammenzunehmen, »ich habe Ihnen schon gesagt ... und außerdem kann -Ihre Schwester mich gar nicht leiden.« - -»Ja, davon bin ich auch überzeugt, daß sie es nicht kann, aber es -handelt sich jetzt nicht darum.« - -»Sind Sie wirklich überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?« -Sswidrigailoff kniff die Augen zusammen und lächelte spöttisch. -- »Sie -haben recht, sie liebt mich nicht, aber übernehmen Sie nie eine -Gewährleistung in Dingen, die zwischen einem Manne und einer Frau oder -zwischen einem Liebhaber und seiner Geliebten vorgefallen sind. Es gibt -hier stets einen Winkel, der immer der ganzen Welt verborgen bleibt, und -der nur den beiden bekannt ist. Übernehmen Sie die Gewährleistung, daß -Awdotja Romanowna mich stets mit Widerwillen angeschaut hat?« - -»Ich merke aus einigen Ihrer Worte und Andeutungen während Ihrer -Erzählung, daß Sie auch jetzt noch unbedingt Absichten gegen Dunja -haben, und selbstverständlich gemeiner Natur.« - -»Wie! Mir sollten solche Worte und Andeutungen entschlüpft sein?« sagte -erschreckt Sswidrigailoff und in der naivsten Weise, ohne dem Epitheton, -der seinen Absichten beigelegt worden war, die geringste Beachtung zu -schenken. - -»Auch jetzt entschlüpften sie Ihnen. Warum fürchten Sie sich so? Worüber -erschraken Sie jetzt plötzlich?« - -»Ich soll mich fürchten und erschrocken sein? Soll ich etwa vor Ihnen -erschrocken sein? Eher haben Sie Grund, mich zu fürchten, _cher -ami_{[18]}. Ach, was für Unsinn ... Ich bin berauscht, ich sehe es; -beinahe hätte ich mich wieder versprochen. Der Teufel soll den Wein -holen! Heda, Wasser!« - -Er packte die Flasche und schleuderte sie ohne viel Federlesens zum -Fenster hinaus. Philipp brachte ihm Wasser. - -»Dies alles ist Unsinn,« sagte Sswidrigailoff, indem er ein Handtuch -anfeuchtete und es an den Kopf hielt, -- »ich kann Sie aber mit einem -einzigen Worte zurückweisen und Ihren ganzen Verdacht zunichte machen. -Wissen Sie zum Beispiel, daß ich heirate?« - -»Sie haben es mir schon erzählt!« - -»Habe ich es? Das hatte ich vergessen. Damals aber konnte ich es noch -nicht mit Bestimmtheit sagen, denn ich hatte die Braut gar nicht -gesehen; ich hatte bloß die Absicht. Jetzt aber habe ich schon eine -Braut und die Sache ist beschlossen, und wenn ich bloß nicht etwas -Unaufschiebbares zu tun hätte, würde ich Sie unbedingt und sofort zu -einem Besuche dort mitnehmen, -- denn ich möchte Sie um Rat fragen. Ach, -zum Teufel! Ich habe bloß zehn Minuten übrig. Sie sehen selbst nach der -Uhr; ich will es Ihnen übrigens erzählen, denn meine Heirat ist auch -eine interessante Sache, in ihrer Art, versteht sich, -- wohin wollen -Sie? Wollen Sie wieder fortgehen?« - -»Nein, jetzt gehe ich schon nicht mehr fort.« - -»Sie wollen gar nicht fortgehen? Nun, wir wollen es sehen! Ich werde Sie -mitnehmen und Ihnen die Braut zeigen, das ist wahr, aber bloß nicht -jetzt; es ist bald Zeit für Sie zu gehen. Sie gehen nach rechts und ich -nach links. Kennen Sie diese Rößlich? Ich meine, dieselbe Rößlich, bei -der ich jetzt wohne, -- ah? Hören Sie? Nein, denken Sie sich, ich meine -dieselbe, von der man erzählt, daß das kleine Mädchen damals im Winter -... Nun, hören Sie! Hören Sie? Sie ist es auch, die mir diese Geschichte -arrangiert hat; du langweilst dich, -- sagte sie, -- zerstreue dich ein -wenig. Ich bin aber ein finsterer, langweiliger Mensch. Sie meinen, ich -sei fröhlich? Nein, ich bin finster, -- ich füge niemandem Schaden zu, -sitze in der Ecke, und zuweilen kann man mich drei Tage nicht zum Reden -bringen. Die Rößlich ist eine Spitzbübin, sage ich Ihnen; sie hat dabei -folgendes im Sinn, -- mir wird es überdrüssig werden, ich werde meine -Frau verlassen und fortreisen, meine Frau wird dann ihr zufallen, und -sie wird sie in unseren Kreisen und höher hinauf in Umsatz bringen. Sie -sagte mir, -- es gibt solch einen gelähmten Vater, einen verabschiedeten -Beamten, der im Sessel sitzt und das dritte Jahr die Beine nicht rühren -kann; auch eine Mutter ist da, eine sehr vernünftige Dame; der Sohn -dient irgendwo in der Provinz, hilft ihr aber nicht; die eine Tochter -ist verheiratet, sucht aber die Eltern nicht mehr auf; die Eltern haben -für zwei kleine Neffen zu sorgen -- da sie an ihren eigenen Sorgen nicht -genug hatten, -- und haben ihre letzte Tochter, ohne daß sie den Kursus -absolviert hat, aus der Schule genommen; sie werde nach einem Monat erst -sechzehn Jahre alt, also könnte man sie auch nach einem Monat -verheiraten. Ich sollte sie also heiraten. Wir fuhren hin; wie bei ihnen -alles lächerlich zuging; ich stellte mich vor, -- Gutsbesitzer, Witwer, -aus bekannter Familie, mit den und den Verbindungen, vermögend, -- nun, -was ist dabei, daß ich fünfzig Jahre alt bin und jene nicht mal -sechzehn? Wer achtet darauf? Nun, es ist doch verlockend, ah? Nicht -wahr, es ist verlockend, ha! ha! ha! Sie sollten mich gesehen haben, wie -ich mich mit dem Papa und der Mama unterhalten habe! Man müßte etwas -dafür bezahlen, um mich nur damals gesehen zu haben. Sie kommt endlich, -macht einen Knicks, nun, können Sie sich vorstellen, sie war noch in -kurzem Kleidchen, eine noch unaufgebrochene Knospe, sie errötete, -flammte wie die Morgenröte auf -- man hat ihr selbstverständlich alles -mitgeteilt. Ich weiß nicht, wie Sie sich zu Frauengesichtern stellen, -aber meiner Ansicht nach sind diese sechzehn Jahre, diese noch -kindlichen Augen, diese Verlegenheit und Tränen der Beschämtheit -- -besser als jede Schönheit, und sie ist außerdem wie ein Bild. Hellblonde -Haare, in kleinen Locken gekräuselt, volle, rote kleine Lippen, Füßchen --- mit einem Worte reizend! ... Nun, ich wurde also dort bekannt, -erklärte, daß ich es infolge häuslicher Angelegenheiten eilig habe, und -am anderen Tage, also vorgestern, erhielten wir den Segen. Seit dem -Tage, wenn ich bloß hinkomme, nehme ich sie sofort auf meinen Schoß und -lasse sie nicht herunter ... Nun, sie errötet, ich aber küsse sie alle -Augenblicke; die Mama sagt ihr selbstverständlich, daß ich ihr Mann sei -und daß es sich so gehöre, mit einem Worte, ich habe es dort -ausgezeichnet. Und meine jetzige Lage als Bräutigam ist vielleicht auch -besser, als die eines verheirateten Mannes. Hier ist, was man _la nature -et la vérité_{[19]} nennt! Ha! Ha! Ich habe mich mit ihr ein paarmal -unterhalten, -- das Mädel ist gar nicht dumm; zuweilen blickt sie mich -so verstohlen an, -- daß es mich einfach durchschauert. Wissen Sie, sie -hat ein Gesicht wie die Madonna von Raphael. Die Sixtinische Madonna hat -doch ein phantastisches Gesicht, das Gesicht einer leidenden, im -heiligen Wahne befangenen, ist Ihnen das nicht aufgefallen? Nun, sie hat -ein Gesicht von dieser Art. Kaum hatte man uns den Segen erteilt, als -ich am anderen Tage ihr für anderthalb Tausend Geschenke mitbrachte, -- -einen Brillantenschmuck, ein Perlenhalsband und einen silbernen -Toilettenkasten für Damen -- von dieser Größe, mit allerhand Dingen -darin, so daß ihr Gesichtchen, das Madonnengesichtchen, errötete. Ich -setzte sie gestern auf meinen Schoß hin, habe es aber wahrscheinlich zu -ungeniert getan, -- sie errötete ganz und gar und Tränen kamen zum -Vorschein, sie wollte sich aber nicht verraten und brannte wie im -Fieber. Alle gingen auf einen Augenblick, ich blieb mit ihr ganz allein -zurück, plötzlich fiel sie mir -- zum ersten Male von selbst -- um den -Hals, umarmte mich mit ihren Händchen, küßte mich und schwur, daß sie -mir eine folgsame, treue und gute Frau sein werde, daß sie mich -glücklich machen wolle, daß sie ihr ganzes Leben, jeden Augenblick ihres -Lebens dazu verwenden und alles, alles opfern werde, dafür wünscht sie -bloß _meine Achtung allein_ zu besitzen und weiter, -- sagte sie ->brauche ich nichts, gar nichts, keine Geschenke.< Geben Sie selbst zu, -daß ein derartiges Geständnis unter vier Augen von solch einem -sechzehnjährigen Engel mit jungfräulicher Schamröte und enthusiastischen -Tränen in den Augen anzuhören, -- ziemlich verlockend ist? Nicht wahr, -es ist verlockend? Es ist doch etwas wert, ah? Nicht wahr? Nun ... nun -hören Sie ... fahren wir zu meiner Braut hin ... aber nicht sofort!« - -»Mit einem Worte, dieser unerhörte Unterschied im Alter und in der -Entwicklung erregt gerade in Ihnen die Wollust! Und Sie wollen sie -tatsächlich heiraten?« - -»Wieso? Ich heirate sie unbedingt. Jeder sorgt für sich selbst, und am -lustigsten von allen lebt der, welcher es am besten von allen versteht, -sich selbst zu betrügen. Ha! ha! Haben Sie sich in die Tugend denn ganz -vernarrt? Erbarmen Sie sich meiner, Väterchen, ich bin ein sündhafter -Mensch. He! he! he!« - -»Sie haben doch die Kinder von Katerina Iwanowna untergebracht und -versorgt. Übrigens ... übrigens Sie hatten dazu Ihre Gründe ... ich -begreife jetzt alles.« - -»Kinder habe ich überhaupt gern, ich liebe Kinder sehr,« lachte -Sswidrigailoff. -- »In dieser Hinsicht kann ich Ihnen sogar ein sehr -interessantes Erlebnis erzählen, das auch jetzt noch nicht zu Ende ist. -Am ersten Tage nach meiner Ankunft ging ich in all diesen Kloaken herum, -nun -- nach sieben Jahren stürzte ich mich hinein. Sie haben -wahrscheinlich gemerkt, daß ich keine Eile habe, den Verkehr mit den -früheren Freunden und Bekannten aufzunehmen. Und ich will noch möglichst -lange ohne sie auskommen. Wissen Sie, -- bei Marfa Petrowna auf dem -Lande haben mich die Erinnerungen an alle diese geheimnisvollen Orte und -Winkel, in denen einer vieles finden kann, der es kennt, bis zu Tode -gequält. Hol der Teufel! Das Volk säuft, die gebildete Jugend geht vor -Nichtstun in unmöglichen Träumen und Phantasien auf, wird vor lauter -Theorien zum Krüppel; irgendwoher sind Juden herbeigeströmt und sammeln -Geld, alles übrige aber ergibt sich der Unzucht. Von den ersten Stunden -an wehte mich auch von dieser Stadt ein bekannter Geruch an. Ich geriet -zu einem sogenannten Tanzabend, -- in einer entsetzlichen Kloake -- ich -liebe aber gerade die Kloaken mit etwas Schmutz, -- und -selbstverständlich wurde kankaniert, wie man eigentlich nirgends -kankaniert, und wie man es zu meiner Zeit noch nicht tat. Ja, darin ist -Fortschritt. Plötzlich sehe ich ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren, -sehr nett angezogen, wie sie mit einem Subjekt tanzt; ein anderer, als -ihr vis-a-vis. An der Wand auf einem Stuhle sitzt ihre Mutter. Sie -können sich vorstellen, wie kankaniert wurde! Das Mädchen wurde -beschämt, verlegen, errötete, schließlich faßte sie es als Kränkung auf -und begann zu weinen. Das Subjekt erfaßt sie, fängt an sie -herumzuschwenken und vor ihr zu tanzen, ringsum lachen alle und -- ich -habe das Publikum in solchen Augenblicken gern, mag es auch ein -kankanierendes Publikum sein, -- schreien, -- >Geschieht mit Recht! Man -soll keine Kinder hierherbringen!< Nun, ich pfiff darauf und mich ging -es auch nichts an, ob sie sich logisch oder unlogisch, diese Menschen -da, trösteten! Ich hatte mir meinen Plan sofort zurechtgelegt, setzte -mich neben die Mutter hin und begann damit, daß ich auch fremd wäre, daß -hier alle so unerzogen wären, daß sie nicht verstünden, wahre Vorzüge zu -unterscheiden und die gebührende Achtung zu bewahren. Ich gab zu -verstehen, daß ich viel Geld hätte, schlug vor, in meinem Wagen sie nach -Hause zu bringen. Ich geleitete sie nach Hause und wurde mit ihnen -bekannt, sie sind soeben angekommen und leben in einem kleinen -möblierten Zimmer. Man teilte mir mit, daß sie meine Bekanntschaft, wie -sie, so auch die Tochter bloß als eine große Ehre auffassen könnten; ich -erfuhr, daß sie weder Haus noch Hof haben, und daß sie gekommen sind, um -in irgend einer Behörde eine Sache durchzuführen; ich bot ihnen meine -Dienste und Geld an; ich erfuhr auch, daß sie irrtümlicherweise zu -diesem Tanzabend hingefahren sind, in der Annahme, daß man dort -tatsächlich tanzen lehre. Ich bot meinerseits an, zu der Erziehung des -jungen Mädchens beizutragen, sie französischen Unterricht und -Tanzstunden nehmen zu lassen. Man nimmt es mit Begeisterung auf, hält es -für eine Ehre, und ich verkehre bei ihnen noch immer. -- Wollen Sie mit -mir zu ihnen hinfahren? -- Aber nicht gleich.« - -»Lassen Sie, lassen Sie Ihre niederträchtigen, gemeinen Anekdoten, Sie -verdorbener, gemeiner, wollüstiger Mensch!« - -»Sehen Sie mal den Schiller, unsern Schiller! _Où va-t-elle la vertu se -nicher?_{[20]} Wissen Sie, ich will Ihnen absichtlich solche Dinge -erzählen, um Sie aufschreien zu hören. Es ist ein Genuß!« - -»Und ob, bin ich mir denn jetzt nicht selbst lächerlich?« murmelte -Raskolnikoff voll Wut. - -Sswidrigailoff lachte aus vollem Halse; schließlich rief er Philipp, -bezahlte seine Rechnung und begann sich fertig zu machen. - -»Ich bin jetzt betrunken, _assez causé_!« sagte er, »es ist ein Genuß!« - -»Das glaube ich,« rief Raskolnikoff aus, sich auch erhebend, »ist es -denn für einen abgebrühten Wüstling kein Genuß, von solchen Erlebnissen -zu erzählen, -- wobei er sich schon wieder mit unerhörten Absichten von -derselben Art trägt, -- außerdem unter diesen Umständen und vor solch -einem Menschen, wie ich es bin, ... das muß ein Genuß sein ... Es muß -ihn förmlich heiß machen.« - -»Und wenn die Sache so ist,« antwortete Sswidrigailoff ein wenig -verwundert und betrachtete Raskolnikoff, »wenn dem so ist, so sind Sie -auch selbst ein großer Zyniker. Sie enthalten wenigstens in sich ein -ungeheures Material dazu. Sie können vieles verstehen, vieles ... und, -Sie können auch vieles tun. Jedoch, genug darüber. Ich bedauere -aufrichtig, daß ich mich nicht länger mit Ihnen unterhalten kann, aber -Sie entgehen mir nicht ... Warten Sie nur ...« - -Sswidrigailoff verließ das Restaurant. Raskolnikoff folgte ihm. -Sswidrigailoff war nicht sehr stark berauscht; der Wein war ihm bloß auf -einen Augenblick zu Kopf gestiegen und der Rausch verschwand mit jedem -Augenblick mehr. Er hatte etwas äußerst wichtiges vor und sein Gesicht -verfinsterte sich. Eine Erwartung regte ihn augenscheinlich auf und -beunruhigte ihn. In den letzten Minuten ihres Zusammenseins wurde er -plötzlich gegen Raskolnikoff gröber und spöttischer. Raskolnikoff hatte -alles gemerkt und war auch in Unruhe geraten. Sswidrigailoff schien ihm -sehr verdächtig; er beschloß ihm nachzugehen. - -Sie gelangten auf das Trottoir. - -»Sie müssen nach rechts, ich aber nach links, oder vielleicht auch -umgekehrt, also -- _adieu bon plaisir_{[21]}, auf freudiges -Wiedersehen!« - -Und er ging nach rechts dem Heumarkte zu. - - - V. - -Raskolnikoff folgte ihm. - -»Was ist das!« rief Sswidrigailoff, »ich habe Ihnen doch gesagt ...« - -»Das bedeutet, daß ich Ihnen jetzt folgen werde.« - -»Wa--as?« - -Beide blieben stehen und blickten einander eine Minute lang an, als ob -sie sich messen wollten. - -»Aus allen Ihren halbbetrunkenen Erzählungen,« sagte Raskolnikoff -scharf, »habe ich eins _positiv_ entnommen, daß Sie nicht bloß Ihre -niederträchtigen Pläne gegen meine Schwester nicht aufgegeben haben, -sondern daß Sie sich mehr als je damit abgeben. Ich weiß, daß meine -Schwester heute früh einen Brief empfangen hat. Sie konnten die ganze -Zeit nicht ruhig sitzen ... Sie konnten gewiß irgend eine Frau auf der -Straße aufgegabelt haben, aber das hat nichts zu sagen. Ich will mich -persönlich überzeugen ...« - -Raskolnikoff hätte schwerlich sagen können, was er jetzt wünschte, und -wovon er sich persönlich überzeugen wollte. - -»So! Wollen Sie, ich werde sofort die Polizei rufen?« - -»Rufen Sie die Polizei!« - -Wieder standen sie eine Minute lang einander gegenüber. Schließlich -veränderte sich das Gesicht Sswidrigailoffs. Nachdem er sich überzeugt -hatte, daß Raskolnikoff seine Drohung nicht fürchtete, nahm er plötzlich -eine sehr lustige und freundliche Miene an. - -»Wie sonderbar Sie sind! Ich habe absichtlich mit Ihnen kein Wort über -Ihre Sache gesprochen, obwohl mich selbstverständlich die Neugier plagt. -Es ist eine phantastische Geschichte. Ich hätte es bis auf ein andermal -verschoben, aber wirklich, Sie sind fähig, einen Toten zu reizen ... -Nun, gehen wir, ich sage Ihnen aber im voraus, -- ich gehe jetzt bloß -auf einen Augenblick nach Hause, um Geld zu holen; dann schließe ich die -Wohnung ab, nehme eine Droschke und fahre für den ganzen Abend auf die -Insel. Wollen Sie mir da folgen?« - -»Ich gehe vorläufig in die Wohnung mit, und auch nicht zu Ihnen, sondern -zu Ssofja Ssemenowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht beim -Begräbnis war.« - -»Tun Sie, wie Sie wünschen, aber Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause. -Sie ist mit allen Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer sehr -vornehmen alten Dame, zu einer alten Bekannten von mir aus früheren -Zeiten, die Vorstandsmitglied von einigen Waisenanstalten ist. Ich habe -diese Dame bezaubert, indem ich für alle drei Sprößlinge von Katerina -Iwanowna Geld deponierte und außerdem den Anstalten eine Schenkung -machte; schließlich erzählte ich ihr die Geschichte von Ssofja -Ssemenowna, mit all ihren Einzelheiten, ohne etwas zu verheimlichen. Das -machte einen unbeschreiblichen Eindruck. Darum wurde auch Ssofja -Ssemenowna für heute noch in das --sche Hotel bestellt, wo, aus der -Sommerfrische kommend, meine Dame einstweilen abgestiegen ist.« - -»Tut nichts, ich werde doch zu ihr gehen.« - -»Wie Sie wollen, ich bin Ihnen bloß kein Weggenosse; mir ist's einerlei. -Wir sind gleich da. Sagen Sie mir, ich bin überzeugt, daß Sie mich aus -dem Grunde so argwöhnisch betrachten, weil ich selbst so zartfühlend war -und Sie bis jetzt mit Fragen nicht belästigt habe ... Sie verstehen -mich? Ihnen erschien dies ungewöhnlich; ich gehe eine Wette ein, daß es -so ist! Nun, da soll man noch zartfühlend sein.« - -»Und an der Türe horchen!« - -»Ah, Sie meinen damals!« lachte Sswidrigailoff, »ja, ich würde erstaunt -sein, wenn Sie nach all dem vorher Gesagten dieses nicht erwähnt hätten. -Ha! ha! Ich habe wohl einiges davon verstanden, was Sie damals ... dort -... losgelassen und Ssofja Ssemenowna selbst erzählt haben, aber was ist -es denn eigentlich? Ich bin vielleicht ein vollkommen zurückgebliebener -Mensch und kann schon nichts mehr begreifen. Erklären Sie es mir um -Gotteswillen, mein Lieber! Erleuchten Sie mich mit den allerneuesten -Ideen!« - -»Sie konnten nichts gehört haben, Sie lügen!« - -»Ja, ich meine gar nicht dies, -- obwohl ich übrigens einiges auch -gehört habe, -- nein, ich meine, daß Sie immer ächzen und stöhnen! Der -Schiller in Ihnen wird alle Augenblicke rebellisch. Jetzt sagen Sie -auch, man soll nicht an fremden Türen lauschen. Wenn das Ihre Meinung -ist, so gehen Sie doch und sagen den Behörden, daß mit Ihnen solch ein -Kasus geschehen ist, -- in der Theorie nur ist ein kleiner Irrtum -unterlaufen. Wenn Sie aber überzeugt sind, daß man bei fremden Türen -nicht lauschen darf, aber alte Weiber zu seinem Vergnügen umbringen -kann, so fahren Sie schnell irgendwohin nach Amerika! Fliehen Sie, -junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit dazu. Ich sage es Ihnen -aufrichtig. Haben Sie etwa kein Geld? Ich will Ihnen zur Reise geben.« - -»Ich denke gar nicht daran,« unterbrach ihn Raskolnikoff mit -Widerwillen. - -»Ich verstehe Sie; Sie brauchen sich übrigens keine Mühe zu geben, -- -wenn Sie nicht wollen, sprechen Sie doch nicht. Ich verstehe, was für -Fragen in Ihnen auftauchen, -- etwa moralische? Die Bedenken eines -Staatsbürgers und Menschen? Lassen Sie sie lieber fallen; wozu brauchen -Sie jetzt diese Fragen und Bedenken? He--he--he! Darum, weil Sie immer -noch Staatsbürger und Mensch sind? Wenn das der Fall ist, so sollten Sie -sich auch nicht hineingemischt haben; Sie sollten dann auch so etwas -nicht unternommen haben. Nun, erschießen Sie sich; was, oder Sie haben -keine Lust dazu?« - -»Sie wollen mich, wie es mir scheint, absichtlich reizen, damit Sie mich -jetzt loswerden ...« - -»Sie sind ein komischer Kauz, wir sind ja schon da, bitte steigen Sie -die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Ssofja Ssemenowna, -Sie sehen, es ist niemand da! Sie glauben nicht? Fragen Sie -Kapernaumoff, sie gibt ihnen den Schlüssel ab. Da ist auch Madame de -Kapernaumoff selbst. Was? Sie ist ein wenig taub. Ist fortgegangen? -Wohin? Nun, Sie haben es jetzt gehört! Sie wird erst vielleicht spät am -Abend zurückkehren. Nun, kommen Sie jetzt zu mir. Sie wollen doch auch -zu mir kommen? Wir sind da. Madame Rößlich ist nicht zu Hause. Diese -Frau hat ewig etwas vor, aber sie ist eine gute Frau, ich versichere Sie -... sie würde Ihnen vielleicht von Nutzen sein, wenn Sie ein wenig -vernünftig sein würden. Nun, Sie sehen, -- ich nehme aus dem -Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier, -- sehen Sie, wie viel -ich noch übrig habe! -- und dieses wandert heute noch zu einem Bankier. -Haben Sie gesehen? Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Der -Schreibtisch wird abgeschlossen, die Wohnung ebenfalls, und wir sind -wieder auf der Treppe. Wollen wir eine Droschke nehmen? Ich fahre doch -hinaus auf die Insel. Wollen Sie nicht ein Stück spazieren fahren? Ich -nehme diese Droschke zur Jelagin-Insel, was? Sie wollen nicht? Haben -doch nicht bis zu Ende ausgehalten? Fahren Sie mit, tut nichts. Es -scheint, ein Regen zieht auf, tut nichts, wir lassen das Verdeck herab -...« - -Sswidrigailoff saß schon im Wagen. Raskolnikoff kam zu der Überzeugung, -daß sein Verdacht wenigstens in diesem Augenblicke ungerecht sei. Ohne -ein Wort zu sagen, drehte er sich um und ging in der Richtung zum -Heumarkte zurück. Hätte er sich wenigstens ein einziges Mal umgedreht, -so würde er gesehen haben, wie Sswidrigailoff nach etwa hundert -Schritten die Droschke fortschickte und sich auf dem Trottoir befand. -Aber er konnte schon nichts mehr sehen und war um die Ecke eingebogen. -Ein tiefer Abscheu zog ihn von Sswidrigailoff fort. »Und ich konnte nur -einen Augenblick irgend etwas von diesem rohen Bösewicht, von diesem -ekelhaften Wüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich aus. -Freilich, Raskolnikoffs Urteil war übereilt und leichtsinnig. Es war -etwas in der ganzen Art Sswidrigailoffs, was ihm wenigstens eine gewisse -Originalität, wenn nicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine -Schwester betraf, war Raskolnikoff dennoch fest überzeugt, daß -Sswidrigailoff sie nicht in Ruhe lassen würde. Aber es wurde ihm jetzt -zu schwer und unerträglich, an dies alles zu denken und es sich zu -überlegen! - -Nach seiner Gewohnheit war er, als er allein geblieben war, schon nach -den ersten zwanzig Schritten in tiefes Nachdenken versunken. Als er die -Brücke betrat, blieb er plötzlich an dem Geländer stehen und begann in -das Wasser zu blicken. Plötzlich stand Awdotja Romanowna hinter ihm. - -Er war ihr am Brückeneingange begegnet, war aber vorbeigegangen, ohne -sie zu sehen. Dunetschka hatte ihn noch nie in dieser Weise auf der -Straße gesehen und war sehr überrascht. Sie blieb stehen und wußte -nicht, ob sie ihn anrufen solle oder nicht? Da bemerkte sie -Sswidrigailoff, der eilig aus der Richtung des Heumarktes kam. - -Er schien sich ihr geheimnisvoll und vorsichtig zu nähern. Er betrat -nicht die Brücke, sondern blieb seitwärts auf dem Fußsteig stehen und -gab sich alle Mühe, daß Raskolnikoff ihn nicht bemerke. Dunja hatte er -schon lange bemerkt und begann ihr Zeichen zu geben. Ihr schien es, als -bäte er sie mit seinen Zeichen, den Bruder nicht anzurufen und ihn in -Ruhe zu lassen. - -Dunja tat auch so. Sie ging still um den Bruder herum und näherte sich -Sswidrigailoff. - -»Gehen wir schneller,« flüsterte ihr Sswidrigailoff zu. »Ich möchte -nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft wisse. Ich sage -Ihnen im voraus, daß ich mit ihm unweit von hier in einem Restaurant -gesessen habe, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und ich wurde ihn mit -Mühe los. Er weiß aus irgend einem Grunde von meinem Briefe an Sie und -argwöhnt etwas. Sie haben ihm sicher nichts gesagt? Wenn Sie es aber -nicht gesagt haben, wer dann?« - -»Jetzt sind wir schon um die Ecke,« unterbrach ihn Dunja, »jetzt kann -mein Bruder uns nicht sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich mit Ihnen nicht -weiter gehen werde. Sagen Sie mir alles gleich hier; man kann das alles -auch auf der Straße sagen.« - -»Erstens kann man dies auf keinen Fall auf der Straße sagen; zweitens, -müssen Sie auch Ssofja Ssemenowna anhören; drittens, will ich Ihnen -einige Dokumente zeigen ... Nun und schließlich, wenn Sie nicht -einverstanden sind, zu mir zu kommen, so weigere ich mich, irgend welche -Erklärungen zu geben und gehe sofort weg. Dabei bitte ich Sie, nicht zu -vergessen, daß das sehr interessante Geheimnis Ihres geliebten Bruders -sich vollkommen in meinen Händen befindet.« - -Dunja blieb unentschlossen stehen und sah Sswidrigailoff mit einem -durchbohrenden Blicke an. - -»Was fürchten Sie,« bemerkte er ruhig, »eine Stadt ist kein Dorf. Und im -Dorfe schon haben Sie mir mehr Schaden, als ich Ihnen, zugefügt, hier -aber ...« - -»Ist Ssofja Ssemenowna benachrichtigt?« - -»Nein, ich habe ihr kein Wort darüber gesagt und bin auch nicht ganz -sicher, ob sie jetzt zu Hause ist. Sie ist aber wahrscheinlich zu Hause. -Sie hat heute ihre Stiefmutter beerdigt, -- das ist kein Tag, an dem man -Besuche macht. Vorläufig will ich mit niemanden über diese Sache reden -und bereue sogar teilweise, daß ich Ihnen davon mitgeteilt habe. Die -geringste Unvorsichtigkeit ist in diesem Falle einer Denunzierung -gleich. Ich wohne hier in diesem Hause da, wir nähern uns schon meiner -Wohnung. Das ist der Hausknecht von unserem Hause; der Hausknecht kennt -mich sehr gut; da grüßt er auch; er sieht, daß ich mit einer Dame komme -und hat sicher sich schon Ihr Gesicht gemerkt, das aber kann Ihnen von -Nutzen sein, falls Sie sich sehr fürchten und mir mißtrauen. -Entschuldigen Sie, daß ich so derb rede. Ich habe mir ein paar möblierte -Zimmer gemietet. Ssofja Ssemenowna wohnt Wand an Wand neben mir, auch in -einem möblierten Zimmer. Der ganze Stock ist bewohnt. Warum sollen Sie -sich denn fürchten, wie ein Kind? Oder bin ich so furchterregend?« - -Sswidrigailoffs Gesicht verzog sich zu einem herablassenden Lächeln, -aber es war ihm nicht lächerlich zumute. Sein Herz klopfte und der Atem -stockte ihm in der Brust. Er sprach absichtlich lauter, um seine -steigende Erregung zu verbergen, Dunja hatte gar nicht diese besondere -Erregung bemerkt; sie war zu sehr durch seine Bemerkung gereizt, daß sie -ihn fürchte wie ein Kind und daß er ihr so furchtbar sei. - -»Obwohl ich weiß, daß Sie ein Mensch ... ohne Ehre sind, fürchte ich -mich doch gar nicht vor Ihnen. Gehen Sie voran,« sagte sie scheinbar -ruhig, aber mit bleichem Gesichte. - -Sswidrigailoff blieb an Ssonjas Wohnung stehen. - -»Erlauben Sie mir, mich zu erkundigen, ob sie zu Hause ist ... Sie ist -nicht da. Das ist ein Mißgeschick. Aber ich weiß, daß sie sehr bald -zurückkehren wird. Wenn sie ausgegangen ist, so ist sie höchstens zu -einer Dame wegen der Waisen. Ihre Mutter ist gestorben. Ich habe mich -hier hineingemischt und Anordnungen getroffen. Wenn Ssofja Ssemenowna -nach zehn Minuten nicht zurückkehren sollte, so schicke ich sie selbst -zu Ihnen hin, wenn Sie wünschen, noch heute; und nun, das ist meine -Wohnung. Das sind meine zwei Zimmer. Hinter der Türe wohnt meine Wirtin, -Frau Rößlich. Jetzt blicken Sie bitte hierher, ich will Ihnen meine -Hauptdokumente zeigen, -- aus meinem Schlafzimmer führt diese Tür in -zwei vollkommen leere Zimmer, die zu vermieten sind. Das sind sie ... -dieses müssen Sie etwas aufmerksam betrachten ...« - -Sswidrigailoff bewohnte zwei möblierte ziemlich geräumige Zimmer. -Dunetschka sah mißtrauisch um sich, aber bemerkte nichts besonderes, -weder in der Ausstattung noch in der Lage der Zimmer, obgleich man schon -etwas bemerken konnte, zum Beispiel, daß Sswidrigailoffs Wohnung -zwischen zwei anderen fast unbewohnten Wohnungen lag. Der Eingang zu ihm -war nicht direkt vom Korridor aus, sondern durch zwei fast leere Zimmer -der Wirtin. Vom Schlafzimmer aus zeigte Sswidrigailoff Dunetschka, -nachdem er eine verschlossene Türe geöffnet hatte, eine andere leere -Wohnung, die zu vermieten war. Dunetschka blieb auf der Schwelle stehen, -ohne zu verstehen, warum man sie aufforderte, das anzusehen, aber -Sswidrigailoff beeilte sich, eine Erklärung abzugeben. - -»Sehen Sie dieses zweite große Zimmer. Merken Sie sich diese Türe, sie -ist verschlossen. Neben der Türe steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in -beiden Zimmern. Ich habe ihn aus meiner Wohnung hierher gebracht, um -bequemer zuzuhören. Gleich hinter dieser Tür steht der Tisch von Ssofja -Ssemenowna; dort saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Ich aber -lauschte hier, auf dem Stuhl sitzend, zwei Abende nacheinander und beide -Male gegen zwei Stunden, -- und selbstverständlich konnte ich einiges -erfahren, was meinen Sie?« - -»Sie haben gelauscht?« - -»Ja, ich habe gelauscht, jetzt wollen wir zu mir gehen; hier kann ich -Ihnen keinen Platz anbieten.« - -Er führte Awdotja Romanowna in das erste Zimmer zurück, das ihm als -Salon diente, und bat sie, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich ans -andere Ende des Tisches hin, wenigstens zwei Meter von ihr entfernt, -doch in seinen Augen leuchtete schon dasselbe Feuer, das einst -Dunetschka so erschreckt hatte. Sie zuckte zusammen und blickte sich -noch einmal mißtrauisch um. Ihre Bewegung war unwillkürlich; sie wollte -offenbar ihr Mißtrauen nicht zeigen. Aber die Lage von Sswidrigailoffs -Wohnung hatte sie schließlich überrascht. Sie wollte ihn fragen, ob -wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, aber sie frug ... aus Stolz nicht. -Außerdem war in ihrem Herzen ein anderer unermeßlich größerer Kummer, -als die Angst für sich. Sie litt unerträglich. - -»Hier haben Sie Ihren Brief,« begann sie und legte den Brief auf den -Tisch. -- »Ist es denn möglich, was Sie schreiben? Sie deuten ein -Verbrechen an, das angeblich mein Bruder verübt hat. Sie deuten es zu -klar an, Sie dürfen jetzt keine Ausreden gebrauchen. Sie sollen auch -wissen, daß ich vor Ihnen schon von diesem dummen Märchen gehört habe, -und keinem einzigen Worte davon glaube. Es ist ein niederträchtiger und -lächerlicher Verdacht. Ich kenne die Geschichte, und wie und warum sie -entstanden ist. Sie können keine Beweise haben. Sie haben versprochen, -es mir zu beweisen, -- reden Sie doch! Aber Sie sollen im voraus wissen, -daß ich Ihnen nicht glaube! Ich glaube nicht!« - -Dunetschka sagte dies sehr schnell, und auf einen Augenblick stieg ihr -das Blut ins Gesicht. - -»Wenn Sie nicht glauben würden, könnte es denn passiert sein, daß Sie es -riskiert hätten, allein zu mir herzukommen? Warum sind Sie denn -gekommen? Aus bloßer Neugier?« - -»Quälen Sie mich nicht, sprechen Sie, sprechen Sie!« - -»Es ist nicht zu leugnen, daß Sie ein tapferes Mädchen sind. Bei Gott, -ich dachte, daß Sie Herrn Rasumichin bitten werden, Sie hierher zu -begleiten. Aber er war weder mit Ihnen noch in Ihrer Nähe, ich habe mich -umgesehen, -- das ist kühn; Sie wollten also Rodion Romanowitsch -schonen. Ach, alles ist an Ihnen göttlich ... Was Ihren Bruder -anbetrifft, was soll ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn soeben selbst -gesehen. Wie er aussieht?« - -»Ihre Gründe ruhen doch nicht darauf allein?« - -»Nein, nicht darauf, sondern auf seinen eigenen Worten. Er war zweimal -nacheinander hierher zu Ssofja Ssemenowna gekommen. Ich habe Ihnen -gezeigt, wo sie gesessen haben. Er hat ihr eine volle Beichte abgelegt. -Er ist ein Mörder. Er hat eine alte Beamtenwitwe, eine Wucherin -ermordet, bei der er auch selbst Sachen versetzt hatte; er hat auch ihre -Schwester, eine Händlerin, dem Namen nach Lisaweta, ermordet, die -zufällig während der Ermordung der Schwester eingetreten war. Er hat sie -beide mit einem Beile, das er mitgebracht hatte, erschlagen. Er hatte -sie getötet, um sie zu berauben, und hat auch geraubt, -- er hat Geld -und einige Sachen genommen ... Er hat das alles selbst Wort für Wort -Ssofja Ssemenowna mitgeteilt, die allein auch sein Geheimnis kennt, die -aber an dem Morde weder durch Tat noch Wort teilgenommen hat und die im -Gegenteil ebenso sich entsetzte, wie auch Sie jetzt. Seien Sie ruhig, -sie wird ihn nicht verraten.« - -»Das kann nicht sein!« murmelte Dunetschka mit blassen trockenen Lippen; -sie rang nach Atem, »es kann nicht sein, es gibt keinen, nicht den -geringsten Grund, keinen Anlaß ... Das ist Lüge! Eine Lüge!« - -»Er hat geraubt, das ist der ganze Grund. Er hat Geld und Sachen -genommen. Es ist wahr, er hat nach seinem eigenen Geständnis weder vom -Gelde, noch von den Sachen einen Gebrauch gemacht, sondern sie irgendwo -unter einem Stein versteckt, wo sie auch jetzt noch liegen. Aber -deshalb, weil er nicht wagte, davon Gebrauch zu machen.« - -»Ja, ist es denn zu glauben, daß er stehlen, rauben konnte. Daß er bloß -daran denken konnte?« rief Dunja und sprang von ihrem Stuhle auf. -- -»Sie kennen ihn doch, haben ihn gesehen? Kann er denn ein Dieb sein?« - -Es war, als flehe sie Sswidrigailoff an; sie hatte ihre ganze Furcht -vergessen. - -»Hier gibt es, Awdotja Romanowna, tausende und Millionen von -Kombinationen und Arten. Ein Dieb stiehlt, er weiß dafür auch selbst, -daß er ein Schuft ist; ich hörte aber zum Beispiel von einem sehr -anständigen Herrn, der die Post beraubt hatte; wer weiß, vielleicht -glaubte er auch tatsächlich, daß er eine anständige Sache getan hat. -Selbstverständlich hätte ich es auch selbst nicht geglaubt, ebenso wenig -wie Sie, wenn es mir andere gesagt hätten. Meinen eigenen Ohren aber -habe ich geglaubt. Er hat Ssofja Ssemenowna auch alle Gründe erklärt; -aber auch sie hatte zuerst ihren Ohren nicht getraut, jedoch den Augen, -ihren eigenen Augen hatte sie schließlich glauben müssen. Er hat ihr es -doch persönlich mitgeteilt.« - -»Was waren es für ... Gründe?« - -»Es ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es spielt hierbei, wie -soll ich es Ihnen erklären, eine Art Theorie mit, es ist dasselbe, warum -ich zum Beispiel finde, daß eine einzelne Freveltat erlaubt ist, wenn -der Hauptzweck gut ist. Ein einziges böses und hundert gute Werke! Es -ist auch sicher für einen jungen Mann mit Vorzügen und unermeßlichem -Ehrgeiz kränkend, zu wissen, daß seine ganze Karriere, die ganze -Zukunft, seine Lebensziele sich anders gestalten würden, wenn er bloß -dreitausend hätte; aber er hat sie eben nicht. Fügen Sie dazu, was ihn -reizen mußte: der Hunger, die enge Wohnung, seine Lumpen, das starke -Bewußtsein seiner großen sozialen Not und gleichzeitig die Lage seiner -Schwester und Mutter. Am meisten aber Eitelkeit und Stolz, übrigens aber -Gott weiß, vielleicht auch gute Eigenschaften ... Ich klage ihn nicht -an, glauben Sie; ja und mich geht es auch nichts an. Er hatte auch -hierbei eine eigene Theorie, -- eine annehmbare Theorie, -- nach der die -Menschen in Material und besondere Menschen eingeteilt werden, d. h. -solche Menschen, für die das Gesetz, dank ihrer hohen Veranlagung, nicht -geschrieben ist, die vielmehr selbst Gesetze für die übrigen Menschen, -für das Material, für den Kehricht geben. Es ist nicht übel, eine -passable Theorie, -- _une théorie comme une autre_{[22]}. Vor allem hat -ihn Napoleon begeistert, d. h., eigentlich noch mehr der Umstand, daß es -genialen Menschen auf eine einzelne böse Tat nicht ankam, sondern daß -sie ohne groß nachzudenken, darüber hinwegkamen. Es scheint mir, er hat -sich eingebildet, auch ein genialer Mensch zu sein, -- das will sagen, -er war davon eine Zeitlang überzeugt. Er hat sehr viel gelitten und -leidet jetzt unter dem Gedanken, daß er verstanden hatte, sich eine -Theorie auszudenken, aber nicht imstande war, ohne Nachdenken darüber -hinwegzukommen und somit kein genialer Mensch sei. Und das ist für einen -jungen Mann voll Ehrgeiz erniedrigend genug, in unserem Zeitalter -besonders ...« - -»Und Gewissensbisse? Sie sprechen ihm also jedes sittliche Gefühl ab? -Ja, ist es denn so?« - -»Ach, Awdotja Romanowna, jetzt hat sich bei ihm alles getrübt, d. h., er -war übrigens wohl nie in völliger Ordnung. Die Russen sind überhaupt -großangelegte Naturen, Awdotja Romanowna, sie sind ebenso großangelegt, -wie ihr Land und haben eine äußerst starke Neigung zum Phantastischen, -Extravaganten; es ist aber ein Unglück, großangelegt zu sein, ohne -wirklich genial zu sein. Erinnern Sie sich, wie viel wir in dieser Art -und über dieses Thema gesprochen haben, wenn wir Abends auf der Terrasse -im Garten jedesmal nach dem Essen saßen. Sie haben mir auch dieses -Großangelegtsein vorgeworfen. Wer weiß, vielleicht sprachen wir gerade -in der Zeit darüber, als er hier lag und über dasselbe grübelte. Bei uns -in der gebildeten Gesellschaft gibt es doch keine besonders heiligen -Überlieferungen, Awdotja Romanowna, -- kommt wohl vor, daß sich jemand -irgendwie es aus den Büchern zusammenstellt ... oder etwas aus alten -Chroniken hervorholt. Aber das sind doch meistenteils Gelehrte und, -wissen Sie, in ihrer Art alle Schlafmützen, so daß es sogar für einen -Mann aus der Gesellschaft unpassend ist. Übrigens, meine Ansichten -kennen Sie im allgemeinen, ich klage entschieden niemand an. Ich bin -selbst Nichtstuer und halte mich daran. Wir haben ja mehr als einmal -darüber gesprochen. Ich hatte sogar das Glück, Sie für meine Meinungen -zu interessieren ... Sie sind sehr blaß, Awdotja Romanowna!« - -»Ich kenne seine Theorie. Ich habe seinen Artikel in der Zeitschrift -über Menschen, denen alles erlaubt ist, gelesen ... Rasumichin hat ihn -mir gebracht ...« - -»Herr Rasumichin? Den Artikel Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Gibt -es solch einen Artikel? Ich wußte es nicht. Das ist interessant! Aber -wohin wollen Sie denn, Awdotja Romanowna!« - -»Ich will Ssofja Ssemenowna sehen,« sagte Dunetschka mit schwacher -Stimme. -- »Wie kann ich zu ihr kommen? Sie ist vielleicht -zurückgekommen; ich will sie unbedingt sofort sehen. Mag sie ...« - -Awdotja Romanowna konnte nicht zu Ende sprechen; der Atem verging ihr -buchstäblich. - -»Ssofja Ssemenowna wird vor Anbruch der Nacht nicht zurückkehren. Ich -nehme es an. Sie mußte gleich zurückkommen, sonst kommt sie sehr spät -...« - -»Ah, also du lügst! Ich sehe ... du hast gelogen ... du hast alles -gelogen! ... Ich glaube dir nicht! Ich glaube nicht! Ich glaube nicht!« -schrie Dunetschka in wahrer Wut und verlor vollkommen den Kopf. - -Sie fiel fast ohnmächtig auf einen Stuhl hin, den Sswidrigailoff sich -beeilte, ihr unterzuschieben. - -»Awdotja Romanowna, was ist mit Ihnen, kommen Sie zu sich! Hier ist -Wasser! Trinken Sie einen Schluck ...« - -Er bespritzte sie mit Wasser. Dunetschka fuhr zusammen und kam zu sich. - -»Es hat stark gewirkt!« murmelte Sswidrigailoff vor sich hin und sein -Gesicht verdüsterte sich. -- »Awdotja Romanowna, beruhigen Sie sich! -Vergessen Sie nicht, daß er Freunde hat. Wir werden ihn retten, -herausreißen. Wenn Sie es wollen, bringe ich ihn ins Ausland? Ich habe -Geld; in drei Tagen verschaffe ich einen Reisepaß. Und was das -anbetrifft, daß er getötet hat, so wird er noch so viel Gutes tun, so -daß dies alles sich ausgleichen wird; beruhigen Sie sich. Er kann noch -ein großer Mann werden. Wie geht's mit Ihnen? Wie fühlen Sie sich?« - -»Sie böser Mensch! Er verspottet es noch. Lassen Sie mich ...« - -»Wohin? Wohin wollen Sie?« - -»Zu ihm. Wo ist er? Sie wissen es? Warum ist diese Tür verschlossen? Wir -sind durch diese Tür hereingekommen und jetzt ist sie verschlossen. Wann -haben Sie sie abschließen können?« - -»Man konnte doch nicht durch alle Zimmer schreien, was wir hier -sprachen. Ich spotte gar nicht; ich bin bloß überdrüssig, diese Sprache -zu führen. Nun, wohin wollen Sie in diesem Zustande gehen? Oder wollen -Sie ihn verraten? Sie bringen ihn in Wut und er wird sich selbst -anzeigen. Sie sollen wissen, daß man ihn schon verfolgt, daß man auf -seine Spur gekommen ist. Sie werden ihn bloß verraten. Warten Sie, -- -ich habe ihn gesehen und mit ihm soeben gesprochen; man kann ihn noch -retten. Warten Sie, setzen Sie sich, überlegen wir es zusammen. Ich habe -Sie auch darum gerufen, um mit Ihnen allein darüber zu sprechen und -alles gut zu überlegen. Ja, setzen Sie sich doch!« - -»Wie können Sie ihn retten? Kann man ihn denn retten?« - -Dunja setzte sich. Sswidrigailoff setzte sich neben sie. - -»Das alles hängt von Ihnen ab, von Ihnen, von Ihnen allein,« begann er -mit funkelnden Augen, fast im Flüstertone, verwirrt und manche Worte vor -Erregung nicht aussprechend. - -Dunja wich erschrocken vor ihm zurück. Er zitterte auch am ganzen -Körper. - -»Sie ... ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet! Ich ... ich -werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich werde ihn sofort ins -Ausland senden, ich selbst nehme den Reisepaß, zwei Reisepässe. Den -einen für ihn, den anderen für mich. Ich habe Freunde; ich habe -Geschäftsleute an der Hand ... Wollen Sie? Ich will auch für Sie einen -Reisepaß nehmen ... für Ihre Mutter ... wozu brauchen Sie Rasumichin? -Ich liebe Sie auch ... Ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den -Saum Ihres Kleides küssen, lassen Sie mich! Lassen Sie mich! Ich kann -nicht hören, wie es rauscht. Sagen Sie zu mir, -- tue das, und ich will -es tun! Ich will alles tun! Ich will das Unmöglichste tun! Woran Sie -glauben, will ich auch glauben! Ich will alles, alles tun! Sehen Sie -mich, sehen Sie mich nicht so an! Wissen Sie es auch, daß Sie mich töten -...« - -Er fing selbst an zu phantasieren. Mit ihm war plötzlich etwas -geschehen, als wäre es ihm zu Kopfe gestiegen. Dunja sprang auf und -stürzte zur Türe. - -»Öffnen Sie! Öffnen Sie!« schrie sie durch die Türe, als riefe sie -jemand zu Hilfe und rüttelte an der Türe. -- »Öffnen Sie doch! Ist denn -niemand da!« - -Sswidrigailoff war aufgestanden und zur Besinnung gekommen. Ein -boshaftes und spöttisches Lächeln zeigte sich langsam auf seinen noch -bebenden Lippen. - -»Niemand ist dort zu Hause,« sagte er leise und mit Nachdruck, »die -Wirtin ist fortgegangen, und es ist unnütze Mühe, so zu schreien, -- Sie -regen sich bloß unnütz auf.« - -»Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Türe, sofort, du gemeiner -Mensch!« - -»Ich habe den Schlüssel verloren und kann ihn nicht finden.« - -»Ah! Also das ist Gewalt!« rief Dunja aus, erblaßte wie der Tod und -stürzte in eine Ecke, wo sie sich schleunigst mit einem Tischchen -schützte, das ihr in die Hand fiel. Sie schrie nicht, aber sie bohrte -sich mit den Blicken an ihren Peiniger fest und verfolgte scharf jede -seiner Bewegungen. Sswidrigailoff rührte sich auch nicht vom Fleck und -stand ihr gegenüber am anderen Ende des Zimmers. Er hatte sich gefaßt, -wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war, wie früher, bleich. Ein -spöttisches Lächeln verließ es nicht. - -»Sie sagten soeben >Gewalt<, Awdotja Romanowna. Wenn es Gewalt ist, so -können Sie selbst begreifen, daß ich die nötigen Maßregeln getroffen -habe. Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause; bis zu Kapernaumoffs ist es -sehr weit, fünf leere Zimmer liegen dazwischen. Schließlich bin ich -wenigstens doppelt so stark, als Sie, und außerdem brauche ich nichts zu -befürchten, denn Sie können auch nachher sich nicht beklagen, -- Sie -werden doch nicht Ihren Bruder verraten wollen? Ja, und Ihnen wird auch -niemand glauben, -- warum ist denn ein junges Mädchen allein zu einem -alleinstehenden Herrn gegangen? Wenn Sie also auch Ihren Bruder opfern, -so beweisen Sie noch lange nichts, -- eine Gewalttat ist schwer zu -beweisen, Awdotja Romanowna.« - -»Schuft!« flüsterte Dunja empört. - -»Wie Sie wünschen, merken Sie sich, ich habe es bloß als eine Mutmaßung -ausgesprochen. Meiner persönlichen Überzeugung nach aber haben Sie -vollkommen recht, -- eine Gewalttat ist eine Schändlichkeit. Ich sagte -es bloß, um zu beweisen, daß Ihr Gewissen nichts verliert, wenn Sie ... -wenn Sie sich sogar entschließen sollten, Ihren Bruder freiwillig zu -retten, wie ich es Ihnen angeboten habe. Sie haben sich bloß den -Umständen gefügt, meinetwegen auch der Gewalt nachgegeben, wenn es sich -ohne dieses Wort nicht auskommen läßt. Denken Sie darüber nach; das -Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter liegt in Ihren Händen. Ich will -aber Ihr Sklave sein ... mein ganzes Leben ... ich will hier Ihre -Entscheidung erwarten ...« - -Sswidrigailoff setzte sich auf das Sofa hin, etwa acht Schritte von -Dunja entfernt. Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel an seinem -unerschütterlichen Entschlusse. Außerdem kannte sie ihn ... - -Plötzlich holte sie aus ihrer Tasche einen Revolver hervor, spannte den -Hahn und ließ die Hand mit dem Revolver auf den Tisch sinken. -Sswidrigailoff sprang von seinem Platz auf. - -»Aha! So ist die Geschichte!« rief er verwundert aus und lächelte -hämisch. »Nun, das ändert vollkommen die Sache! Sie erleichtern mir -wesentlich die Sache, Awdotja Romanowna! Ja, woher haben Sie sich diesen -Revolver verschafft? Etwa von Herrn Rasumichin? Bah! Der Revolver gehört -ja mir! Ein alter Bekannter von mir! Und ich habe ihn damals so gesucht! -... Unser Schießunterricht auf dem Lande, den ich die Ehre hatte, zu -erteilen, ist nicht unnütz gewesen.« - -»Es ist nicht dein Revolver, sondern Marfa Petrownas, die du ermordet -hast, du Bösewicht! Du hattest nichts eigenes in ihrem Hause. Ich nahm -ihn, als ich zu ahnen begann, wozu du fähig bist. Wage bloß einen -Schritt zu machen und ich schwöre dir, -- ich erschieße dich!« - -Dunja war außer sich. Den Revolver hielt sie bereit. - -»Nun, und Ihr Bruder? Ich frage aus Neugier?« sagte Sswidrigailoff und -stand immer noch auf derselben Stelle. - -»Zeige ihn an, wenn du willst! Nicht vom Platze! Rühr dich nicht! Ich -werde schießen! Du hast deine Frau vergiftet, ich weiß es, du bist -selbst ein Mörder!« - -»Sind Sie fest davon überzeugt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?« - -»Du hast! Du hast mir es selbst angedeutet; du hast mir von Gift -gesprochen ... ich weiß, du hast dir Gift verschafft ... Du hattest -alles vorbereitet ... Du hast es unbedingt getan ... Schuft!« - -»Wenn es auch wahr wäre, so habe ich es doch deinetwegen ... du warst -doch die Ursache!« - -»Du lügst! Ich habe dich stets, stets gehaßt ...« - -»Na, Awdotja Romanowna! Sie scheinen vergessen zu haben, wie Sie in der -Hitze der Propaganda geneigter wurden und dahinschmolzen ... Ich habe es -an den Augen gemerkt, erinnern Sie sich eines Abends, der Mond schien -und eine Nachtigall trillerte?« - -»Du lügst!« in Dunjas Augen funkelte Wut, »du lügst, Verleumder!« - -»Ich lüge? Nun, meinetwegen, ich lüge. Ich habe gelogen. Frauen soll man -an diese Dinge nicht erinnern.« -- Er lächelte halb. -- »Ich weiß, daß -du schießen wirst, du schönes, wildes Tier! Nun, schieße doch!« - -Dunja erhob den Revolver und sah ihn totenblaß, mit kreidebleichen -bebenden Lippen, mit großen schwarzen, feurig funkelnden Augen -entschlossen an und wartete die erste Bewegung von ihm ab. Noch niemals -hatte er sie so schön gesehen. Das Feuer, das in ihren Augen in dem -Augenblick aufleuchtete, als sie den Revolver erhob, schien ihn -verbrannt zu haben, und sein Herz zog sich schmerzlicher zusammen. Er -tat einen Schritt und ein Schuß knallte. Die Kugel streifte seine Haare -und traf die Wand hinter ihm. Er blieb stehen und lachte leise. - -»Eine Wespe hat gestochen! Sie zielt auf den Kopf ... Was ist das? -Blut!« -- Er zog ein Taschentuch hervor, um das Blut abzuwischen, das -ganz fein an seiner rechten Schläfe herunterrann; wahrscheinlich hatte -die Kugel die Haut seines Schädels geritzt. Dunja ließ den Revolver -sinken und sah Sswidrigailoff nicht etwa erschreckt, sondern stutzig an. -Es war, als begreife sie selbst nicht, was sie getan hatte und was -vorgegangen war! - -»Nun, das ging vorbei! Schießen Sie noch einmal, ich warte,« sagte -Sswidrigailoff leise, finster lächelnd. »So kann ich Sie packen, ehe Sie -den Hahn noch einmal aufspannen!« - -Dunetschka fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und erhob wieder den -Revolver. - -»Lassen Sie mich!« sagte sie voll Verzweiflung. »Ich schwöre es Ihnen, -ich werde von neuem schießen ... Ich ... werde Sie erschießen! ...« - -»Nun was ... auf drei Schritte muß man auch treffen können. Nun, wenn -Sie aber mich nicht erschießen ... dann ...« -- Seine Augen funkelten -und er trat noch zwei Schritte näher. - -Dunetschka drückte ab, -- die Waffe versagte! - -»Sie haben nicht gut geladen. Tut nichts! Sie haben noch eine Patrone -drin. Bringen Sie es in Ordnung, ich will warten.« - -Er stand zwei Schritte vor ihr, wartete und sah sie voll wilder -Entschlossenheit mit einem leidenschaftlichen und schweren Blicke an. -Dunja begriff, daß er eher sterben würde, als daß er sie losließ. »Und -sie ... wird ihn jetzt sicher auf zwei Schritte Entfernung töten! ...« - -Plötzlich schleuderte sie den Revolver fort. - -»Hat ihn fortgeworfen!« sagte Sswidrigailoff und holte tief Atem. Etwas -schien mit einem Male sich von seinem Herzen losgelöst zu haben, und es -war vielleicht nicht bloß die Last der Todesangst, -- es war auch -fraglich, ob er sie in diesem Augenblicke empfunden hatte. Es war eine -Erlösung von einem anderen, mehr kummervollen und düsteren Gefühle, das -er selbst nicht in seiner ganzen Macht definieren konnte. - -Er trat an Dunja heran und legte still seinen Arm um ihre Taille. Sie -widersetzte sich ihm nicht, aber sie blickte ihn, am ganzen Körper wie -ein Blatt bebend, mit flehenden Augen an. Er wollte etwas sagen, seine -Lippen aber verzogen sich bloß und er konnte nichts sprechen. - -»Laß mich!« sagte Dunja flehend. - -Sswidrigailoff zuckte zusammen, -- dieses _du_ war in einer anderen -Weise, als vorhin, gesagt. - -»Also du liebst mich nicht?« fragte er leise. - -Dunja schüttelte verneinend den Kopf. - -»Und ... kannst auch nicht? ... Niemals?« flüsterte er verzweifelt. - -»Niemals!« antwortete Dunja im Flüstertone. - -Es war der Moment eines schrecklichen stummen Kampfes in Sswidrigailoffs -Seele. Mit einem unaussprechlichen Blicke sah er sie an. Plötzlich zog -er seine Hand zurück, wandte sich ab, ging schnell zum Fenster und -stellte sich dort hin. - -Noch ein Augenblick verging. - -»Hier ist der Schlüssel zur Türe!« er nahm ihn aus der linken Tasche -seines Mantels hervor und legte ihn auf den Tisch hinter sich, ohne -Dunja anzublicken und ohne sich umzudrehen. -- »Nehmen Sie ihn; gehen -Sie schnell fort! ...« - -Er sah starr zum Fenster hinaus. - -Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen. - -»Schneller! Schneller!« wiederholte Sswidrigailoff, ohne sich zu rühren -und umzudrehen. Aber in diesem »schneller« klang deutlich ein -schrecklicher Ton hindurch. - -Dunja begriff, erfaßte den Schlüssel, stürzte zur Türe, schloß sie eilig -auf und sprang aus dem Zimmer. Nach einer Minute lief sie schon, wie -wahnsinnig, ganz außer sich den Kanal entlang in der Richtung zu der -X-schen Brücke. - -Sswidrigailoff blieb am Fenster noch etwa drei Minuten stehen, wandte -sich endlich langsam um, warf einen Blick ins Zimmer und fuhr sich leise -mit der Hand über die Stirn. Ein merkwürdiges Lächeln verzog sein -Gesicht; es war ein klägliches, trauriges, schwaches Lächeln, ein -Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das schon einzutrocknen begann, -hatte seine Hand beschmutzt; er blickte das Blut zornig an; dann machte -er ein Handtuch naß und wusch sich die Schläfe ab. Der Revolver, den -Dunja von sich geworfen hatte und der zur Türe geflogen war, fiel ihm -plötzlich in die Augen. Er hob ihn auf und besah ihn. Es war ein kleiner -dreiläufiger Taschenrevolver alten Systems; es steckten noch zwei -Patronen darin und eine Kapsel. Einmal konnte man noch daraus schießen. -Er sann eine Weile nach, steckte den Revolver in die Tasche, nahm seinen -Hut und ging hinaus. - - - VI. - -Diesen ganzen Abend bis zehn Uhr zog er in allerhand Wirtshäusern und -Spelunken umher. Irgendwo traf er auch Katja, die einen anderen -Gassenhauer sang, von einem »Schuft und Tyrannen,« der - - »Fing Katja an zu küssen«. - -Sswidrigailoff gab Katja und dem Leiermann, den Chorsängern, den -Kellnern und zwei Schreibern zu trinken. Diese Schreiber hatte er -eigentlich bloß aufgefordert, weil sie beide schiefe Nasen besaßen, -- -die Nase des einen stand nach rechts, die des anderen nach links. Das -hatte Sswidrigailoffs Aufmerksamkeit erregt. Zuletzt schleppten sie ihn -in eine Gartenwirtschaft mit, wo er für sie das Eintrittsgeld bezahlen -mußte. Dieser Garten bestand aus einer dünnen dreijährigen Tanne und -drei Sträuchern. Das Restaurant war im Grunde genommen nur ein -Ausschank, man konnte aber auch Tee erhalten und es standen einige grüne -Tische und Stühle dort. Ein Chor minderwertiger Sänger und ein -betrunkener Deutscher aus München, eine Art Clown, mit roter Nase, der -aber aus irgend einem Grunde sehr niedergeschlagen war, amüsierten das -Publikum. Die Schreiber fingen mit einigen anderen Schreibern einen -Streit an und schickten sich schon an, handgreiflich zu werden. -Sswidrigailoff wurde von ihnen zum Schiedsrichter gewählt. Er waltete -über eine Viertelstunde seines Amtes, aber sie schrien derartig, daß es -nicht die geringste Möglichkeit gab, irgend etwas zu verstehen. Am -wahrscheinlichsten war die Sache so -- einer von ihnen hatte etwas -gestohlen und hatte Zeit gefunden, es sofort an Ort und Stelle einem -Juden zu verkaufen, der sich zufällig eingefunden hatte, aber er wollte -das Geld mit seinem Kameraden nicht teilen; es ergab sich schließlich, -daß der verkaufte Gegenstand ein Teelöffel war, der dem Restaurant -gehörte; man vermißte dort den Löffel und die Sache begann eine -unangenehme Wendung zu nehmen. Sswidrigailoff bezahlte den Löffel, erhob -sich und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte -während der ganzen Zeit keinen einzigen Tropfen Wein getrunken und hatte -in der Gartenwirtschaft sich nur Tee bestellt, und das nur, um überhaupt -etwas zu nehmen. Der Abend war schwül und düster. Gegen zehn Uhr hatte -sich der Himmel mit dunklen Wolken überzogen; es fing an zu donnern und -der Regen strömte nieder. Das Wasser fiel nicht in Tropfen, sondern -peitschte in ganzen Strömen die Erde. Es folgte Blitz auf Blitz. Ganz -durchnäßt kam Sswidrigailoff nach Hause, schloß sich ein, öffnete seinen -Schreibtisch, nahm sein ganzes Geld an sich und zerriß einige Papiere. -Er steckte darauf das Geld in die Tasche, wollte seine Kleider wechseln, -aber nachdem er zum Fenster hinausgeblickt und dem Gewitter und dem -Regen gelauscht hatte, tat er es doch nicht, ergriff seinen Hut und ohne -seine Wohnung abzuschließen, ging er hinaus und direkt zu Ssonja. Sie -war zu Hause. - -Sie war nicht allein; sie hatte die vier Kinder von Kapernaumoff um -sich. Ssofja Ssemenowna gab ihnen Tee zu trinken. Sie begrüßte -Sswidrigailoff schweigend und ehrerbietig, warf einen erstaunten Blick -auf seine durchnäßten Kleider, sagte aber kein Wort. Die Kinder liefen -sofort in unbeschreiblicher Furcht davon. - -Sswidrigailoff setzte sich an den Tisch und bat Ssonja, neben ihm Platz -zu nehmen. Sie schickte sich schüchtern an, ihm zuzuhören. - -»Ssofja Ssemenowna, ich reise vielleicht nach Amerika,« sagte -Sswidrigailoff, »und da wir uns wahrscheinlich zum letzten Male sehen, -bin ich gekommen, einige Anordnungen zu treffen. Haben Sie heute diese -Dame gesehen? Ich weiß, was sie Ihnen gesagt hat, Sie brauchen es mir -nicht zu erzählen,« -- (Ssonja machte eine Bewegung und errötete.) -- -»Diese Leute haben eine bestimmte Manier. Was Ihre Schwestern und Ihren -Bruder anbetrifft, so sind sie untergebracht und das ihnen zukommende -Geld habe ich für jeden gegen Quittung in sicherer Hand deponiert. -Nehmen Sie übrigens diese Quittungen für jeden Fall an sich. Nehmen Sie -sie! Das ist also erledigt. Hier sind drei fünfprozentige Obligationen, -im ganzen dreitausend Rubel. Nehmen Sie das für sich, für sich ganz -allein, und mag es unter uns bleiben, damit niemand etwas davon erfährt. -Das Geld wird Ihnen von Nutzen sein, denn, Ssofja Ssemenowna, ein Leben, -wie Sie es bisher lebten, ist schlimm und Sie haben es nicht nötig.« - -»Sie haben mich mit so vielen Wohltaten überschüttet; auch die Waisen -und die Verstorbene,« stammelte Ssonja, »wenn ich Ihnen bis jetzt so -wenig gedankt habe, so ... halten Sie es nicht ...« - -»Aber bitte, es ist nicht der Rede wert.« - -»Und für dieses Geld danke ich Ihnen sehr, Arkadi Iwanowitsch, aber ich -brauche es jetzt wirklich nicht. Ich kann immer für mich allein sorgen, -halten Sie es nicht für Undank, -- wenn Sie schon gütig sind, so soll -dieses Geld ...« - -»Ihnen, Ssofja Ssemenowna, Ihnen soll es gehören, und bitte ohne viele -Worte, denn ich habe auch keine Zeit dazu. Es wird Ihnen sehr von Nutzen -sein. Rodion Romanowitsch hat zwei Auswege, -- entweder eine Kugel durch -den Kopf oder Sibirien.« -- (Ssonja blickte ihn wild an und erbebte.) -- -»Seien Sie ruhig, ich weiß alles von ihm selbst und bin kein Schwätzer; -werde es niemand sagen. Sie haben gut daran getan, indem Sie ihm -vorschlugen, -- er möge hingehen und sich selbst anzeigen. Das wird ihm -bedeutend nützlicher sein. Nun, wenn der Ausweg Sibirien sein wird, -werden Sie ihm doch folgen? Nicht wahr? Nicht wahr? Und dann wird Ihnen -auch das Geld von Nutzen sein. Für ihn selbst werden Sie es brauchen, -verstehen Sie? Indem ich es Ihnen überreiche, gebe ich es damit doch -ihm. Außerdem haben Sie versprochen, auch die frühere Wirtin Amalie -Iwanowna zu bezahlen; ich habe es gehört. Warum übernehmen Sie immer, -Ssofja Ssemenowna, unüberlegt solche Verpflichtungen? Katerina Iwanowna -war es doch dieser Deutschen schuldig geblieben, und nicht Sie, also -sollten Sie auf die Deutsche pfeifen. In dieser Weise kann man auf der -Welt nicht weiterkommen. Und wenn jemand morgen oder übermorgen nach mir -fragen sollte, -- und man wird sich an Sie wenden, -- so erwähnen Sie -nicht, daß ich jetzt bei Ihnen gewesen bin, und zeigen Sie in keinem -Falle das Geld und sagen Sie niemandem, daß ich es Ihnen gegeben habe. -Und jetzt auf Wiedersehen.« -- Er stand auf. -- »Grüßen Sie Rodion -Romanowitsch. Nebenbei gesagt, -- übergeben Sie vorläufig das Geld -meinetwegen Herrn Rasumichin zur Aufbewahrung. Kennen Sie Herrn -Rasumichin? Sie kennen ihn sicher. Das ist ein kluger Bursche. Bringen -Sie das Geld ihm morgen oder ... wenn Sie Zeit haben, hin. Vorläufig -verstecken Sie es gut.« Er erhob sich. - -Ssonja sprang ebenfalls vom Stuhle auf und blickte ihn erschrocken an. -Sie wollte etwas sagen, etwas fragen, aber sie wagte es nicht gleich und -wußte auch nicht, wie sie es anfangen sollte. - -»... Wie, wollen Sie denn jetzt in solchem Regen ausgehen?« - -»Nun, ich will nach Amerika reisen und soll mich vor einem Regen -fürchten, he! he! Leben Sie wohl, liebe Ssofja Ssemenowna! Leben Sie und -leben Sie lange, Sie werden anderen von Nutzen sein. Ja ... sagen Sie -bitte Herrn Rasumichin, daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie ihm, -- -Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff läßt Sie grüßen, -- mit diesen Worten -sagen Sie es ihm. Sagen Sie es unbedingt.« - -Er ging fort und hinterließ Ssonja erstaunt und erschrocken in einer -unklaren und drückenden Ahnung zurück. - -Man erfuhr später, daß er am selben Abend, in der zwölften Stunde, noch -einen sehr exzentrischen und unerwarteten Besuch gemacht hatte. Der -Regen hatte noch immer nicht aufgehört. Ganz durchnäßt, trat er zwanzig -Minuten nach elf in die kleine Wohnung der Eltern seiner Braut ein. Mit -großer Mühe hatte er sich Einlaß verschafft und zuerst alle in große -Aufregung versetzt; aber Arkadi Iwanowitsch konnte, wenn er wollte, ein -Mann von bezauberndem Benehmen sein, so daß die ursprüngliche, übrigens -sehr naheliegende Annahme der Eltern der Braut, daß Arkadi Iwanowitsch -wahrscheinlich sich irgendwo stark berauscht habe und seiner selbst -nicht mächtig sei, -- von selbst zunichte wurde. Den gelähmten Vater -rollte in einem Sessel die mitleidige Mutter der Braut selbst zu Arkadi -Iwanowitsch herein und begann nach ihrer Gewohnheit mit weitausholenden -Fragen. Diese Frau stellte nie direkte Fragen, sondern lächelte und rieb -sich die Hände zuerst, dann aber, wenn sie etwas unbedingt erfahren -wollte, wie z. B., -- wann Arkadi Iwanowitsch den Wunsch habe, die -Hochzeit zu bestimmen, so begann sie mit den neugierigsten Fragen über -Paris und das dortige Hofleben, um schließlich langsam bis zu ihrer -Wohnung in Petersburg zu gelangen. Zu anderer Stunde wurde dies alles -ruhig hingenommen, aber jetzt war Arkadi Iwanowitsch zu ungeduldig und -wünschte kategorisch seine Braut zu sehen, obgleich man ihm schon bei -seinem Eintritt erklärt hatte, daß sie schon schlafe. Die Braut erschien -selbstverständlich, und Arkadi Iwanowitsch teilte ihr sofort mit, daß er -wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit auf eine Zeit lang Petersburg -verlassen müsse, und aus diesem Grunde ihr fünfzehntausend Rubel in -allerhand Papieren mitgebracht habe; er bat sie, dies als ein Geschenk -von ihm anzunehmen, da er schon längst die Absicht gehabt habe, ihr -diese Kleinigkeit schon vor der Hochzeit zu überreichen. Ein besonderer -logischer Zusammenhang zwischen dem Geschenk und der unverzüglichen -Abreise und der Notwendigkeit, deswegen in der Nacht bei Regen -herzukommen, zeigte sich in keiner Weise bei seinen Erklärungen, jedoch -es verlief alles sehr gut. Sogar die unvermeidlichen Ausrufe von »ach« -und »wie,« das Fragen und Staunen wurden rasch gemäßigt und -zurückgehalten; dafür aber wurde eine überströmende Dankbarkeit an den -Tag gelegt und sogar von den Tränen der vernünftigsten aller Mütter -unterstützt. Arkadi Iwanowitsch stand auf, lachte, küßte die Braut, -streichelte ihre Wangen, wiederholte noch einmal, daß er bald -zurückkommen werde, und als er in ihren Augen eine zwar kindliche -Neugier, aber zugleich eine sehr ernste stumme Frage bemerkte, sann er -eine Weile nach, küßte sie zum zweitenmal und ärgerte sich darüber, daß -das Geschenk unverzüglich zur Aufbewahrung der vernünftigsten aller -Mütter übergeben werden würde. Er ging fort und hinterließ alle in einer -ungewöhnlichen Aufregung. Aber die gutherzige Mama löste sofort im -Flüstertone einige sehr wichtige Bedenken, und zwar, daß Arkadi -Iwanowitsch ein Mann der großen Welt, ein Mann mit Unternehmungen und -großen Verbindungen, ein reicher Mann sei; weiß Gott, was in seinem -Kopfe vorgehe, er habe plötzlich den Entschluß gefaßt, abzureisen, habe -eben plötzlich den Gedanken bekommen, das Geld gegeben, man soll sich -nicht darüber wundern. Gewiß sei es merkwürdig, daß er ganz durchnäßt -war, aber die Engländer seien z. B. noch exzentrischer, überhaupt alle -Menschen aus der höchsten Gesellschaft achteten nicht darauf, was man -von ihnen sagen werde, und genierten sich nicht. Vielleicht gehe er -absichtlich in dieser Weise herum, um zu zeigen, daß er nichts fürchte. -Die Hauptsache aber sei, niemand ein Wort davon zu sagen, denn Gott -weiß, was dabei noch herauskommen könne, das Geld müsse sofort -eingeschlossen werden, und sicher sei es das beste, daß das Mädchen in -der Küche war und nichts gesehen habe, noch wichtiger sei es aber, -nichts, gar nichts dieser Spitzbübin, dieser Rößlich davon zu sagen, und -so ging es in gleicher Weise fort. Sie blieben bis zwei Uhr sitzen und -flüsterten die ganze Zeit. Nur die Braut ging etwas früher schlafen, -über die ganze Sache verwundert und ein wenig traurig. - -Sswidrigailoff wanderte indessen punkt zwölf Uhr über die K.sche Brücke -in der Richtung nach dem --schen Stadtteil. Es hatte zu regnen -aufgehört, jedoch der Wind wehte noch stark. Sswidrigailoff begann zu -zittern, und einen Augenblick sah er mit einer auffallenden Neugier und -fragend das schwarze Wasser der Kleinen Newa an. Als er so über das -Wasser geneigt dastand, fühlte er auf einmal ein unangenehmes -Kältegefühl, er drehte sich um und ging den X.schen Prospekt entlang. Er -wanderte lange, fast eine halbe Stunde, durch diesen endlosen Prospekt, -stolperte ein paarmal in der Dunkelheit auf dem hölzernen Trottoir und -hörte nicht auf, etwas auf der rechten Seite der Straße aufmerksam zu -suchen. Er hatte hier, fast am Ende des Prospekts kürzlich im -Vorbeifahren ein hölzernes, aber geräumiges Gasthaus bemerkt, und sein -Name, soweit er sich erinnern konnte, hatte etwas mit »Adrianopel« zu -tun. Er hatte sich nicht getäuscht, -- dieses Gasthaus in dieser -abgelegenen Gegend war so auffallend, daß es selbst in der Dunkelheit -unmöglich übersehen werden konnte. Es war ein langes hölzernes, -schwarzgewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunde noch Lichter -brannten und ein gewisses Leben zu bemerken war. Er trat ein und fragte -einen im Korridor stehenden, zerlumpten Kerl nach einem Zimmer. Der warf -einen Blick auf Sswidrigailoff, nahm sich zusammen und führte ihn in ein -dumpfes, enges Zimmer, das am Ende des Korridors an einer Ecke unter der -Treppe lag. »Es ist kein anderes da, alle Zimmer sind besetzt.« Der Kerl -blickte ihn fragend an. - -»Gibt es Tee?« fragte Sswidrigailoff. - -»Kann besorgt werden.« - -»Was gibt es noch?« - -»Kalbfleisch, Schnaps, Aufschnitt.« - -»Bring mir Kalbfleisch und Tee.« - -»Sonst keine Wünsche?« fragte der Kerl erstaunt. - -»Nichts mehr.« - -Der Kerl verschwand, ganz verwundert. - -»Das muß ein guter Ort sein,« dachte Sswidrigailoff, »wie kam mir das -nicht in den Sinn. Ich habe wahrscheinlich auch das Aussehen eines -Menschen, der irgendwo aus einem Café chantant kommt und auf dem Wege -schon etwas erlebt hat. Es wäre interessant, zu erfahren, wer hier alles -absteigt und übernachtet.« - -Er zündete ein Licht an und besah sich das Zimmer genauer. Es war eine -ganz kleine Kammer, so niedrig, daß Sswidrigailoff beinahe an die Decke -stieß, mit einem Fenster; ein sehr schmutziges Bett, ein einfacher, -gestrichener Tisch und ein Stuhl nahmen fast den ganzen Raum ein. Die -Wände hatten das Aussehen, als wären sie aus Brettern zusammengeschlagen -und mit alten abgerissenen Tapeten beklebt worden, die so staubig und -beschmutzt waren, daß man ihre Farbe, ursprünglich gelb, erraten mußte, -das Muster aber nicht mehr unterscheiden konnte. Der eine Teil der Wand -und der Decke war schräg abgeschnitten, wie man es gewöhnlich in -Mansarden sieht, hier aber war es wegen der Treppe. Sswidrigailoff -stellte das Licht auf den Tisch, setzte sich auf das Bett und versank in -Gedanken. Aber ein eigentümliches und ununterbrochenes Flüstern im -Nebenzimmer, das zuweilen fast in ein Schreien überging, lenkte seine -Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Flüstern hatte seit dem Augenblicke, als -er im Zimmer eingetreten war, nicht aufgehört. Er begann zu lauschen, -- -jemand schimpfte und machte einem anderen fast weinend Vorwürfe, man -hörte nur eine Stimme; Sswidrigailoff stand auf, verdeckte mit der einen -Hand das Licht und an der Wand zeigte sich sofort eine Ritze; er trat -drauf zu und begann hindurchzusehen. In dem Zimmer, das ein wenig größer -war, als das seine, befanden sich zwei Menschen. Einer von ihnen ohne -Rock, mit einem lockigen Kopfe und rotem erregten Gesichte, stand in -Rednerpose; er hatte die Beine auseinandergespreizt, um das -Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich vor die Brust und warf dem -anderen pathetisch vor, daß er ein Bettler sei und daß er nicht mal -einen Rang habe, daß er ihn aus dem Schmutz herausgezogen habe, und daß -er ihn, wenn er wolle, fortjagen könne und dies alles sehe der Finger -Gottes allein. Der angeschnauzte Genosse saß auf einem Stuhl und hatte -das Aussehen eines Menschen, der sehr gern niesen möchte, aber es -absolut nicht fertig brachte. Er sah zuweilen mit einem trüben -Schafsblicke den Redenden an, aber augenscheinlich hatte er keinen -Begriff davon, worüber jener sprach und höchstwahrscheinlich hörte er es -nicht einmal. Auf dem Tische brannte der Rest eines Lichtes, und eine -fast leere Karaffe Branntwein mit Gläsern, Brot, Gurken und ein -Teegeschirr standen darauf. Nachdem Sswidrigailoff dieses Bild -aufmerksam betrachtet hatte, verließ er teilnahmslos die Ritze in der -Wand und setzte sich wieder auf das Bett hin. - -Der Kerl, der mit Kalbfleisch und Tee gekommen war, konnte sich nicht -enthalten, noch einmal zu fragen, ob nichts weiter gewünscht würde, und -nachdem er wieder eine verneinende Antwort erhalten hatte, ging er -endgültig aus dem Zimmer. Sswidrigailoff stürzte sich über den Tee, um -sich zu erwärmen, und leerte ein Glas, essen konnte er nichts, da er den -Appetit völlig verloren hatte. Er begann sichtlich zu fiebern. Er nahm -seinen Mantel und Jacke ab, hüllte sich in die Decke ein und legte sich -auf das Bett. Er ärgerte sich, -- »es wäre diesmal doch besser, gesund -zu sein,« dachte er und lächelte bitter. Es war im Zimmer dumpf, das -Licht brannte trübe, draußen heulte der Wind, irgendwo in einer Ecke -nagte eine Maus, im ganzen Zimmer überhaupt roch es nach Mäusen und nach -Leder. Er lag und träumte, -- ein Gedanke löste den anderen ab. Es -schien, als wolle er seiner Phantasie eine bestimmte Richtung geben. -»Hinter dem Fenster muß ein Garten sein,« -- dachte er, -- »Bäume -rauschen; was ich in der Nacht nicht liebe, im Sturme und in der -Dunkelheit bringt das Rauschen der Bäume ein unangenehmes Gefühl -hervor!« Und er erinnerte sich, wie er vorhin im Vorbeigehen mit -Widerwillen an den Petrowski-Park gedacht hatte. Dann tauchte in seiner -Erinnerung auch die K.sche Brücke und die Kleine Newa auf, und wieder -überrieselte es ihn kalt, wie vorhin, als er über das Wasser geneigt -stand. - -»Ich habe niemals im Leben das Wasser, nicht mal auf Bildern, geliebt,« -dachte er und lächelte über einen sonderbaren Gedanken. »Jetzt müßte mir -doch diese ganze Ästhetik und der Komfort gleichgültig sein, aber nein, -jetzt gerade werde ich wählerisch, wie ein Tier, das sich seine Stelle -... in ähnlichem Falle aussucht. Ich sollte vorhin in den Petrowski-Park -einbiegen! Ist mir aber zu dunkel, zu kalt erschienen, he! he! Als -suchte ich angenehme Gefühle dabei! ... Ja, warum lösche ich das Licht -nicht aus?« Und er löschte das Licht. »Meine Nachbarn haben sich auch -schlafen gelegt,« dachte er, als er keinen Schein mehr durch die Ritze -sah. -- »Nun, Marfa Petrowna, jetzt wäre es Zeit für Sie, zu erscheinen, --- es ist dunkel, der Ort sehr passend und ein origineller Augenblick. -Jetzt werden Sie sicher nicht kommen ...« - -Es kam ihm auch in den Sinn, daß er vorhin, eine Stunde bevor Dunja in -seiner Wohnung war, Raskolnikoff empfohlen hatte, sie der Obhut -Rasumichins anzuvertrauen. »Ich habe es damals wirklich mehr gesagt, um -mich selbst zu reizen, was Raskolnikoff auch erraten hat. Dieser -Raskolnikoff ist ein feiner Kopf. Er hat vieles durchgemacht und kann -mit der Zeit etwas Großes werden, wenn der Unsinn in ihm vergangen sein -wird, jetzt aber hat er noch ein _zu großes_ Verlangen zu leben. In -diesem Punkte sind alle diese Leute -- Feiglinge. Nun, mag ihn der -Teufel holen, mag er tun, was er will, was geht es mich an.« - -Er konnte immer noch nicht einschlafen. Allmählich begann vor ihm das -Bild von Dunetschka aufzutauchen, wie sie vorhin aussah, und ein Zittern -fuhr durch seinen Körper. -- »Nein, das muß man jetzt schon lassen,« -dachte er zu sich kommend, »ich muß an etwas anderes denken. Es ist -sonderbar und lächerlich, -- ich habe niemals jemand stark gehaßt, habe -auch niemals besonders gewünscht, an jemand Rache zu nehmen, das ist -doch ein schlimmes Zeichen, ein schlimmes Zeichen! Habe auch nicht -geliebt, mich herumzustreiten und war nie heftig gewesen, -- ist auch -ein schlechtes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin versprochen, -- -pfui, Teufel! Sie hätte aus mir doch etwas machen können! ...« - -Er verstummte wieder und preßte die Zähne aufeinander, -- wieder -erschien ihm Dunetschkas Bild, wie sie nach dem ersten Schuß erschrocken -war, den Revolver sinken ließ und leichenblaß ihn ansah, so daß er sie -zweimal hätte greifen können, ohne daß sie die Hand zur Gegenwehr hätte -erheben können, wenn er selbst sie nicht daran erinnert hätte. Er -erinnerte sich, wie sie ihm in diesem Augenblicke so leid tat, und wie -sich sein Herz zusammengeschnürt hatte ... »Ah! Zum Teufel! Wieder diese -Gedanken, man muß sie alle fallen lassen, ja, fallen lassen!« - -Er verfiel wieder in Schlaf, -- das fieberhafte Zittern ließ nach; da -schien etwas unter der Decke über seine Hand und seinen Fuß zu laufen. -Er zuckte zusammen, -- »pfui, Teufel, das ist ja eine Maus!« dachte er, -»ich habe das Fleisch auf dem Tische stehen gelassen ...« Er wollte -nicht die Decke abwerfen, aufstehen und frieren, da stach ihn schon -wieder etwas am Fuße; er riß die Decke von sich und zündete das Licht -an. Zitternd vor fieberhafter Kälte, bückte er sich, um im Bette -nachzusuchen, -- es war nichts da; er schüttelte die Decke und plötzlich -sprang eine Maus auf das Bettlaken. Er wollte sie fangen; die Maus aber -sprang vom Bette nicht herunter, sondern lief im Zickzack nach allen -Seiten hin, glitt ihm durch die Finger, lief über seine Hand und -verschwand plötzlich unter dem Kissen; er warf das Kissen herunter und -fühlte sogleich, wie sie ihm unter das Hemd sprang und auf seinem Rücken -herumkrabbelte. Er erbebte nervös und erwachte. Im Zimmer war es dunkel, -er lag wie vorhin in der Decke eingewickelt auf dem Bette, hinter dem -Fenster heulte der Wind. »Wie schaurig!« dachte er ärgerlich. Er stand -auf und setzte sich mit dem Rücken gegen das Fenster auf das Bett. -»Lieber schlafe ich gar nicht,« beschloß er. Vom Fenster kam Kälte und -Feuchtigkeit herein; ohne aufzustehen zog er die Decke über sich und -hüllte sich ein. Das Licht steckte er nicht an. Er dachte an nichts und -wollte auch an nichts denken; doch ein Phantasiegebilde nach dem andern -stand vor ihm auf, abgerissene Gedanken ohne Anfang und Ende und ohne -Zusammenhang schwebten ihm vor. Er verfiel in einen Halbschlummer. War -es die Kälte oder die Dunkelheit, war es die Feuchtigkeit oder der Wind, -der hinter dem Fenster heulte und die Bäume rüttelte, -- die in ihm eine -hartnäckige phantastische Neigung und den Wunsch nach Blumen -hervorriefen, -- mit Blumen beschäftigte sich seine Phantasie -ausschließlich. Ihm schwebte ein reizendes Bild vor, -- ein lichter, -warmer, beinahe heißer Tag, ein Festtag, ein Pfingsttag; ein reiches -prachtvolles Landhaus, im englischen Geschmack, bewachsen mit duftenden -Blumen, und umgeben von Blumenbeeten, die um das Haus sich herumzogen, -eine Treppe, umrankt von Schlingpflanzen und umringt von Rosenbüschen; -eine lichte kühle Treppe, bedeckt mit einem prächtigen Teppich und -ringsum geziert mit seltenen Blumen in chinesischen Vasen. Er hatte auf -den Fenstern Sträuße von weißen und zarten Narzissen in Glasvasen, -gefüllt mit Wasser, bemerkt, die auf ihren hellgrünen, dicken und langen -Stengeln starken aromatischen Duft verbreiteten. Er wollte sich gar -nicht mehr von ihnen trennen, endlich stieg er aber doch die Treppe -hinauf und trat in einen großen hohen Saal, und wieder standen hier -überall auf den Fenstern, an der geöffneten Türe nach der Terrasse, auf -der Terrasse selbst, Blumen über Blumen. Die Diele war mit frisch -gemähtem, duftendem Heu bestreut, die Fenster waren geöffnet, eine -frische leichte kühle Luft drang in das Zimmer, Vögel zwitscherten unter -den Fenstern, und mitten im Saale auf einem mit weißem Atlas bezogenen -Tische stand ein Sarg. Dieser Sarg war mit weißem Taft ausgeschlagen und -mit weißen dichten Rüschen benäht. Girlanden aus Blumen umrankten ihn -auf allen Seiten. Ganz in Blumen gebettet lag ein kleines Mädchen in -weißem Tüllkleide; ihre wie aus Marmor gemeißelten Hände waren gefaltet -und an die Brust gepreßt. Ihr aufgelöstes Haar, ein helles Blondhaar, -war naß; ein Kranz aus Rosen umgab ihren Kopf. Das strenge und schon -erstarrte Profil ihres Gesichts war auch wie aus Marmor gemeißelt, in -dem Lächeln auf ihren blassen Lippen lag ein nicht kindliches -grenzenloses Weh, eine stille, herzzerreißende Klage. Sswidrigailoff -kannte dieses Mädchen; weder ein Gottesbild noch brennende Kerzen -standen an diesem Sarge und man vernahm keine Gebete. Das kleine Mädchen -war eine Selbstmörderin, -- sie hatte sich ertränkt. Sie war erst -vierzehn Jahre alt und hatte schon ein gebrochenes Herz, sie war -zugrunde gerichtet durch eine schändliche Tat, die dieses junge -kindliche Bewußtsein mit Entsetzen erfüllt und überfallen, die ihre -engelreine Seele mit unverdienter Schmach bedeckt hatte, und die ihr -einen letzten Schrei der Verzweiflung entriß, der nicht erhört, sondern -mit kaltem Herzen und harter Hand in einer dunklen Nacht, in tiefer -Finsternis, in Kälte, in feuchtem Tauwetter unterdrückt wurde, als der -Wind heulte. - -Sswidrigailoff kam zu sich, stand auf und trat an das Fenster. Er fand -tastend den Riegel und öffnete es. Der Wind stürmte mit aller Kraft in -sein enges Zimmer hinein und bedeckte mit einem Frosthauch sein Gesicht -und die nur mit dem Hemde bedeckte Brust. Hinter dem Fenster war -wirklich ein Garten und zwar ein Vergnügungsetablissement; am Tage -traten wohl hier Sänger auf und es wurde an Tischen Tee serviert. Jetzt -flogen Regentropfen von den Bäumen und Sträuchern zum Fenster herein, -und es war eine Dunkelheit wie in einem Keller, so daß man kaum einige -dunkle Flecken, die Gegenstände vorstellten, unterscheiden konnte. -Sswidrigailoff hatte die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt und -sich hinausgebeugt, und blickte nun schon fünf Minuten, ohne sich -losreißen zu können, in diese Finsternis. Da ertönte in die Nacht hinein -ein Kanonenschuß, ihm folgte ein zweiter. »Ah, das Signal! Das Wasser -steigt!« dachte er. -- »Gegen Morgen wird das Wasser die Straßen -überfluten und die Kellerwohnungen und die Gewölbe überschwemmen, die -Kellerratten werden aus ihren Schlupfwinkeln hervorschwimmen und die -Menschen werden in Wind und Regen, durchnäßt und schimpfend, ihren Kram -in die oberen Stockwerke schleppen ... Um welche Zeit ist es nun?« -- -Und kaum hatte er so gedacht, als aus der Nähe, tickend und wie sich -mächtig beeilend, eine Wanduhr drei Uhr schlug. -- »Aha, nach einer -Stunde wird es schon hell werden! Warum soll ich länger warten? Ich will -lieber sofort hier fort und direkt in den Petrowski-Park gehen; dort -will ich mir ein großes Gebüsch aussuchen, mit Regentropfen so benetzt, -daß, wenn man nur mit einer Schulter drankommt, Millionen von Tropfen -den ganzen Kopf mir überströmen werden ...« Er trat vom Fenster zurück, -schloß es, zündete das Licht an, zog seine Weste und den Mantel an, -setzte den Hut auf und ging mit dem Lichte auf den Korridor hinaus, um -in einer Kammer zwischen allerhand Kram und Lichtstumpfen den -schlafenden Kerl aufzusuchen, ihm das Zimmer zu bezahlen und dann das -Gasthaus zu verlassen. -- »Es ist der beste Augenblick, man könnte ihn -nicht besser wählen!« - -Er ging lange in dem schmalen und langen Korridor herum, ohne jemand zu -finden und wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen -Ecke, zwischen einem alten Schrank und einer Türe, einen sonderbaren -Gegenstand, anscheinend etwas Lebendes, erblickte. Er beugte sich mit -dem Lichte darüber und sah ein Kind, -- ein kleines Kind, -- ein kleines -Mädchen, nicht älter als fünf Jahre, in einem völlig durchnäßten -Kleidchen, zitternd und weinend, daliegen. Sie schien vor Sswidrigailoff -keine Furcht zu haben, blickte ihn mit ihren großen schwarzen Äuglein -voll stillen Staunens an und schluchzte ab und zu, wie Kinder, die lange -geweint, doch aufhören und sich getröstet haben. Das kleine Gesicht des -Mädchens war bleich und abgemagert; sie war vor Kälte fast erstarrt, -aber -- »wie war sie hierher gekommen? Sie mußte sich hier versteckt und -die ganze Nacht nicht geschlafen haben?« Er begann sie auszufragen. Das -Kind wurde plötzlich lebhaft und stammelte etwas sehr schnell in seiner -kindlichen Sprache. Es kam darin etwas von »Mamachen« und das »Mama -Ruten geben wird,« von einer Tasse, die sie zerschlagen habe, vor. Das -Mädchen sprach ununterbrochen; einiges konnte man aus ihrer ganzen -Erzählung herausfinden, -- daß sie nicht geliebt werde, daß ihre Mutter, -eine ewig betrunkene Köchin, wahrscheinlich im Gartenhause selbst, sie -zumeist prügele und ihr Schrecken eingejagt habe; daß das Mädchen der -Mutter eine Tasse zerschlagen habe und so erschrocken wäre, daß sie seit -gestern Abend weggelaufen sei; wahrscheinlich hatte sie sich lange auf -dem Hofe im Regen versteckt, endlich sich ins Haus hineingeschlichen, -sich hinter dem Schrank verkrochen und hatte hier in der Ecke, weinend -und in Nässe, Dunkelheit und Angst davor zitternd, daß man sie tüchtig -verprügeln würde, die ganze Nacht gesessen. Sswidrigailoff nahm sie auf -die Arme, ging in sein Zimmer, setzte sie auf das Bett hin und begann -sie auszukleiden. Ihre zerlöcherten Stiefel auf die nackten Füße -angezogen, waren so feucht, als hätten sie die ganze Nacht in einer -Pfütze gelegen. Nachdem er sie entkleidet hatte, legte er sie ins Bett, -bedeckte und hüllte sie ganz bis zum Kopfe in die Decke. Sie schlief -sofort ein. Nachdem er damit fertig war, versank er wieder in sein -düsteres Nachdenken. - -»Was fällt mir auch ein, mich damit abzugeben!« dachte er plötzlich mit -einem schweren und bitteren Gefühl. -- »Was für ein Unsinn!« Voll Ärger -nahm er das Licht, um hinauszugehen und um jeden Preis den Kerl zu -finden und schneller von hier wegzukommen. -- »Ach, so ein Mädel!« -dachte er fluchend und öffnete schon die Türe, als er sich umkehrte, um -noch einmal zu sehen, ob das Mädchen schlafe und wie sie schlafe? Er hob -vorsichtig die Decke auf. Das Mädchen lag im festen und seligen Schlafe. -Sie war unter der Decke warm geworden, und das Blut war wieder in ihre -blassen Wangen gestiegen. Aber sonderbar, -- diese Röte war greller und -auffallender, als sonst bei Kindern. »Das ist eine fieberhafte Röte,« -dachte Sswidrigailoff, »das ist die Röte nach Weingenuß, es ist, als -hätte man ihr ein ganzes Glas zu trinken gegeben. Ihre roten Lippen -brennen, scheinen zu flammen, aber was ist das?« Ihm schien es -plötzlich, als ob ihre langen schwarzen Wimpern zuckten und blinzelten, -als ob sie sich erhöben, als ob unter ihnen ein schelmisches, scharfes, -nicht in kindlicher Weise zwinkerndes Auge hervorblickte, als ob das -Mädchen nicht schliefe, sich nur so anstelle. Ja, es war auch so, -- -ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, die Mundwinkel zucken, es -ist, als ob sie das Lächeln noch zurückhalten wollte. Nun aber hört sie -auf, sich zurückzuhalten, sie lacht schon, sie lacht deutlich; etwas -Freches und Herausforderndes leuchtet in diesem gar nicht kindlichen -Gesichte; das ist das Laster; das ist das Gesicht einer Kokotte, das -freche Gesicht einer verkäuflichen französischen Kokotte. Jetzt öffnen -sich, ohne jede Verstellung, die beiden Augen, -- sie ruhen auf ihm mit -einem feurigen und schamlosen Blick, sie locken ihn, sie lachen ... -Etwas unendlich Widerliches und Beleidigendes lag in diesem Lachen, in -diesen Augen, in diesem ganzen schamlosen Gesichte des Kindes. »Wie! -Eine fünfjährige!« flüsterte Sswidrigailoff mit wahrem Entsetzen. -- -»Was ... was ist denn das?« -- Nun wendet sie sich ihm mit dem -brennenden Gesichtchen ganz zu, streckt die Arme aus ... »Ah, -Verfluchte!« rief Sswidrigailoff voll Entsetzen und holte seine Hand zum -Schlage aus ... Aber im selben Augenblick erwachte er. - -Er lag im Bette, eingehüllt in die Decke; das Licht war nicht angezündet -und durch das Fenster leuchtete der volle Tag hinein. - -»Ein Albdrücken die ganze Nacht!« Er erhob sich zornig und fühlte, daß -er ganz zerschlagen war; seine Knochen schmerzten ihn. Draußen war ein -dichter Nebel und man konnte nichts unterscheiden. Die Uhr ging auf -fünf; er hatte sich verschlafen! Er stand auf und zog seine Jacke und -den Mantel an, die beide noch feucht waren. Er fühlte in der Tasche nach -dem Revolver, zog ihn heraus und setzte die Kapsel zurecht; dann setzte -er sich hin, nahm aus der Tasche ein Notizbuch hervor und schrieb auf -der ersten Seite mit großer Schrift ein paar Zeilen. Er las sie nochmals -durch, stützte sich auf den Tisch und sann nach. Der Revolver und das -Notizbuch lagen neben seinem Ellbogen. Die erwachten Fliegen krochen auf -den Kalbfleischstücken herum, die er nicht angerührt hatte und die auf -dem Tische standen. Er schaute den Fliegen lange zu und versuchte mit -der freien rechten Hand eine zu fangen. Er bemühte sich lange, konnte -sie aber nicht kriegen. Als er sich zuletzt bei dieser interessanten -Beschäftigung ertappte, kam er zu sich, fuhr zusammen, stand auf und -ging entschlossen aus dem Zimmer. Nach einer Minute war er schon auf der -Straße. - -Ein weißer dichter Nebel lag über der Stadt. Sswidrigailoff ging die -klebrige schmutzige Straße in der Richtung der Kleinen Newa zu. Ihm -schwebten das über Nacht stark gestiegene Wasser der Kleinen Newa, der -Petrowski-Park, nasse Wege, feuchtes Gras, feuchte Bäume und Sträucher, -und schließlich _jenes_ Gebüsch vor ... Voll Ärger begann er die Häuser -zu betrachten, um an etwas anderes zu denken. Weder einen Menschen, noch -eine Droschke traf er auf dem Wege. Trostlos und schmutzig sahen ihn die -grellgelben hölzernen Häuschen mit den geschlossenen Fensterläden an. -Kälte und Feuchtigkeit durchzogen seinen ganzen Körper und ihn begann zu -frösteln. Zuweilen fiel sein Blick auf die Schilder der Kaufläden und -Gemüsekeller, er las jedes aufmerksam. Der hölzerne Fußsteg war schon zu -Ende. Er ging an einem großen steinernen Hause vorbei. Ein schmutziger -durchfrorener Hund mit eingezogenem Schwanze lief ihm über den Weg. Ein -total betrunkener Mann in einem Uniformmantel lag mit dem Gesichte nach -unten quer über den Fußweg. Er betrachtete ihn und ging weiter. Ein -hoher Feuerwehrturm zeigte sich linker Hand. -- »Bah!« dachte er, »das -ist die beste Stelle, wozu der Petrowski-Park? Es geschieht wenigstens -in Gegenwart eines offiziellen Zeugen ...« Er lächelte bei diesem neuen -Gedanken und bog in die N.sche Straße ein. Hier stand ein großes Haus -mit dem Turm. An dem mächtigen verschlossenen Tore des Hauses stand mit -der Schulter daran gelehnt ein kleines Menschenkind in einen grauen -Soldatenmantel eingehüllt und mit einem glänzenden Helm. Es schielte mit -schlaftrunkenem Blick den herantretenden Sswidrigailoff an. Auf seinem -Gesichte sah man den ewigen verdrießlichen Kummer, der sich ausnahmslos -auf allen Gesichtern des jüdischen Volkes eingeprägt hat. Beide, -Sswidrigailoff und der Soldat, betrachteten einander schweigend eine -Weile. Dem Soldaten erschien es schließlich nicht in der Ordnung zu -sein, daß ein Mann nicht betrunken drei Schritte vor ihm stehen blieb, -ihn unverwandt anblickte und nichts sagte. - -»Was wollen Sie denn hier?« sagte er, ohne sich zu rühren und seine -Stellung zu verändern. - -»Ja, nichts, Bruder, guten Tag!« antwortete Sswidrigailoff. - -»Hier ist kein Platz, stehen zu bleiben.« - -»Ich reise, Bruder, ins Ausland.« - -»Ins Ausland?« - -»Nach Amerika.« - -»Nach Amerika?« - -Sswidrigailoff zog den Revolver heraus und spannte den Hahn. Der Soldat -zog die Augenbrauen nach oben. - -»Was, solche Scherze sind hier nicht am Platze!« - -»Warum denn nicht?« - -»Weil das kein Ort dazu ist.« - -»Nun, Bruder, das ist einerlei. Der Ort ist gut; wenn man dich fragen -wird, antworte bloß, daß ich nach Amerika gereist bin.« - -Er legte den Revolver an seine rechte Schläfe an. - -»Man darf das nicht, hier ist nicht der Ort!« sagte der Soldat, und -seine Augen erweiterten sich immer mehr. - -Sswidrigailoff drückte den Hahn ab. - - - VII. - -Am selben Tage um sieben Uhr näherte sich Raskolnikoff der Wohnung -seiner Mutter und Schwester, -- jener Wohnung im Hause von Bakalejeff, -wo sie Rasumichin untergebracht hatte. Der Treppeneingang war von der -Straße aus. Je näher Raskolnikoff kam, desto mehr verlangsamte er seine -Schritte, wie unschlüssig, ob er hineingehen solle oder nicht. Er wäre -jedoch um keinen Preis umgekehrt; sein Entschluß war gefaßt. -- -»Außerdem ist es einerlei, sie wissen ja noch nichts,« dachte er, »und -haben sich schon gewöhnt, mich als einen närrischen Kauz anzusehen ...« -Seine Kleidung war schrecklich, -- ganz beschmutzt, zerrissen und -zerknittert, weil er die ganze Nacht im Regen verbracht hatte. Sein -Gesicht war vor Müdigkeit, durch das schlechte Wetter, aus physischer -Ermattung und infolge eines beinahe vierundzwanzigstündigen Kampfes mit -sich selbst ganz entstellt. Wo er diese ganze Nacht verbracht hatte, -wußte Gott allein; aber sie hatte wenigstens seinen Entschluß -herbeigeführt. - -Er klopfte an die Türe; die Mutter öffnete ihm. Dunetschka war nicht zu -Hause. Auch das Dienstmädchen war um diese Zeit nicht da. Pulcheria -Alexandrowna war zuerst ganz stumm vor freudigem Erstaunen, dann ergriff -sie seine Hand und zog ihn ins Zimmer. - -»Nun, da bist du!« begann sie, und stockte vor Freude. -- »Sei nicht -böse auf mich, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße, -- mit Tränen; ich -lache ja und weine nicht. Du denkst, ich weine? Nein, ich freue mich, -habe aber bloß so eine dumme Angewohnheit, daß mir dann die Tränen -fließen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters, ich weine bei jeder -Gelegenheit. Setz dich doch, mein Lieber, du bist wahrscheinlich müde, -ich sehe es. Ach, wie du beschmutzt bist.« - -»Ich war gestern im Regen fort, Mama ...« begann Raskolnikoff. - -»Aber nein, nein!« unterbrach ihn Pulcheria Alexandrowna eifrig, »du -meinst, ich will dich sofort ausfragen, nach meiner früheren -weiberhaften Gepflogenheit, sei darüber beruhigt. Ich begreife doch, ich -begreife alles, habe mich jetzt an die hiesigen Gebräuche gewöhnt, und -sehe wirklich selbst ein, daß man hier gescheiter ist. Ich habe mir ein -für allemal gesagt, wie kann ich deine Entschlüsse verstehen und von dir -Rechenschaft verlangen? Du hast vielleicht Gott weiß was für Dinge und -Pläne im Kopfe und dir kommen allerhand Gedanken; soll ich dich da immer -anstoßen und fragen, worüber denkst du nach? Ich habe ... Ach, mein -Gott, Ja, was laufe ich denn herum wie eine Besessene ... Just lese ich -deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum dritten Male, Rodja; mir hat -ihn Dmitri Prokofjitsch gebracht. Ich war sehr überrascht, als ich ihn -las; so dumm bin ich, dachte ich, damit gibt er sich also ab, das ist -die Lösung der Dinge. Er hat vielleicht neue Gedanken im Kopfe, er -überlegt sie sich, ich aber quäle ihn und störe ihn. Ich lese den -Artikel, mein Freund, und verstehe selbstverständlich nicht viel; es muß -auch übrigens so sein, -- wie kann ich es auch verstehen.« - -»Zeigen Sie ihn mir, Mama.« - -Raskolnikoff nahm den Artikel in die Hand und blickte ihn flüchtig an. -Wie sehr es auch seiner Lage und seinem Zustande widersprach, empfand er -doch jenes eigentümliche und prickelnde süße Gefühl, das ein Verfasser, -der sich zum ersten Male gedruckt sieht, empfindet, dazu sprachen auch -seine dreiundzwanzig Jahre mit. Es dauerte einen Augenblick. Nachdem er -einige Zeilen gelesen hatte, verdüsterte sich sein Gesicht und ein -furchtbarer Gram preßte sein Herz zusammen. Sein ganzer seelischer Kampf -in den letzten Monaten kam ihm mit einem Male ins Gedächtnis. Er warf -mit Widerwillen und voll Ärger die Zeitung auf den Tisch. - -»Aber Rodja, wie dumm ich auch sein mag, ich kann doch verstehen, daß du -sehr bald einer von den Ersten, wenn nicht der Erste unter unseren -Gelehrten, sein wirst. Und man wagte zu denken, daß du den Verstand -verloren hättest. Ha! ha! ha! Du weißt es nicht, aber man meinte es -wirklich! Ach, dieses niedrige Gewürm, woher sollen sie auch begreifen, -was Verstand haben heißt! Und Dunetschka glaubte auch fast daran -- was -sagst du dazu! Dein verstorbener Vater hat ein paarmal etliches in -Zeitschriften eingeschickt, -- zuerst Gedichte (ich habe noch das Heft -der Gedichte, ich will es dir einmal zeigen) -- und nachher eine ganze -Novelle, -- (ich hatte ihn gebeten, sie ins Reine schreiben zu dürfen) --- und trotzdem wir beide beteten, daß es angenommen würde, -- nahmen -sie es doch nicht an! Rodja, vor sechs oder sieben Tagen, als ich deine -Kleidung sah, wie du wohnst, was du ißt und wie du herumgehst, war ich -ganz niedergeschlagen. Jetzt sehe ich, daß ich wieder einmal dumm war, -denn wenn du Lust hast, kannst du dir alles auf einmal durch deinen -Verstand und dein Talent verschaffen. Du willst es bloß vorläufig nicht -und bist mit bedeutend wichtigeren Dingen beschäftigt ...« - -»Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?« - -»Nein, Rodja. Sie ist jetzt sehr oft nicht zu Hause, läßt mich viel -allein. Dmitri Prokofjitsch kommt öfters zu mir, um zu plaudern und -spricht immer von dir, ich bin ihm sehr dankbar dafür. Er liebt dich -sehr und schätzt dich, mein Freund. Ich kann von deiner Schwester nicht -gerade sagen, daß sie zu mir unehrerbietig wäre. Ich klage nicht. Sie -hat ihren Charakter, wie ich den meinen; sie hat allerhand Geheimnisse -vor mir; und ich habe vor euch keine Geheimnisse. Gewiß, ich bin fest -überzeugt, daß Dunja klug ist und außerdem auch mich und dich liebt ... -aber ich weiß wirklich nicht, wohin dies alles führen wird. Du hast mich -glücklich gemacht, Rodja, weil du mich jetzt besucht hast, sie aber hat -das versäumt; wenn sie zurückkommt, will ich auch ihr sagen, -- dein -Bruder war hier, wo hast aber du die Zeit verbracht? Du sollst mich, -Rodja, nicht verwöhnen; wenn du kannst, komm zu mir, wenn nicht, -- dann -läßt sich eben nichts tun als warten. Ich werde trotzdem wissen, daß du -mich liebst, und das genügt mir. Ich werde deine Schriften lesen, werde -von allen über dich hören, und dann wirst du schon wieder einmal zu mir -kommen und was kann ich mir besseres wünschen? Du bist doch jetzt auch -gekommen, um die Mutter zu erfreuen, ich sehe es ...« - -Hier weinte plötzlich Pulcheria Alexandrowna. - -»Schon wieder weine ich! Achte nicht auf mich dumme Person! Ach, mein -Gott, was sitze ich hier,« rief sie aus und fuhr von ihrem Platze auf, -»ich habe doch Kaffee und biete dir nichts an! Siehst du, wie groß der -Egoismus einer alten Frau ist. Sofort, sofort!« - -»Mama, lassen Sie es, ich will gleich wieder fortgehen. Ich bin nicht -deswegen gekommen. Bitte, hören Sie mich an.« - -Pulcheria Alexandrowna trat schüchtern zu ihm. - -»Mama, was auch geschehen sollte, was Sie auch über mich hören sollten, -was man Ihnen auch über mich sagen sollte, -- werden Sie mich dennoch -ebenso lieben, wie jetzt?« fragte er sie aus vollem Herzen, als bedenke -er seine Worte nicht und erwäge sie nicht. - -»Rodja, Rodja, was ist mit dir? Ja, wie kannst du nur so etwas fragen? -Ja, wer wird mir denn etwas über dich sagen? Ich werde auch niemand -glauben, mag kommen, wer da will, ich werde ihn hinausjagen.« - -»Ich bin gekommen, Ihnen zu sagen, daß ich Sie geliebt habe, und ich bin -jetzt froh, daß wir allein sind, bin sogar froh, daß Dunetschka nicht zu -Hause ist,« fuhr er in derselben Aufwallung fort, -- »ich bin gekommen, -Ihnen offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich sein werden, Sie -doch wissen sollen, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr liebt, als sich selbst, -und daß alles, was Sie über mich gedacht haben, daß ich grausam sei und -Sie nicht mehr liebe, alles nicht richtig ist. Ich werde nie aufhören, -Sie zu lieben ... Nun, und genug; mir schien es, daß ich das sagen und -damit beginnen müßte ...« - -Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn schweigend, preßte ihn an ihre Brust -und weinte still. - -»Was mit dir ist, Rodja, weiß ich nicht,« sagte sie schließlich, »ich -dachte die ganze Zeit, wir langweilen dich, jetzt aber sehe ich in -meiner Weise, daß dir ein großer Kummer bevorsteht, worüber du dich -grämst. Ich habe es schon lange gesehen, Rodja. Verzeih mir, daß ich -darüber spreche; ich denke immer daran und schlafe des Nachts nicht. -Diese Nacht hat auch deine Schwester die ganze Nacht in unruhigem -Phantasieren verbracht und immer dich genannt. Ich habe einiges gehört, -aber nichts verstanden. Den ganzen Morgen ging sie wie ein zu Tode -Verurteilter herum, erwartete immer etwas, hatte Vorahnungen und nun ist -es gekommen! Rodja, Rodja, wohin gehst du? Verreisest du etwa und -wohin?« - -»Ich verreise.« - -»Ich dachte es mir! Ich kann doch mit dir reisen, wenn es nötig ist. -Auch Dunja, sie liebt dich, sie liebt dich sehr, auch Ssofja Ssemenowna -soll meinetwegen mit uns gehen, wenn es nötig ist; ich will sie gern an -Tochterstatt aufnehmen, siehst du. Dmitri Prokofjitsch wird uns bei der -Abreise helfen ... aber ... wohin ... reisest du?« - -»Leben Sie wohl, Mama.« - -»Wie! Heute schon!« rief sie in einem Ton aus, als verliere sie ihn auf -ewig. - -»Ich kann nicht anders, es ist Zeit für mich, ich muß ...« - -»Und ich darf nicht mit dir gehen?« - -»Nein, knien Sie aber nieder und beten Sie für mich. Ihr Gebet wird -vielleicht erhört.« - -»Laß mich dich bekreuzen, dich segnen! So, so! Oh, Gott, was tun wir!« - -Ja, er war froh, er war sehr froh, daß niemand da war, daß er mit der -Mutter allein war. Es war, als wäre seit dieser ganzen schrecklichen -Zeit sein Herz mit einem Male weich geworden. Er sank vor ihr hin, küßte -ihre Füße und beide weinten, einander umarmend. Und sie wunderte sich -nicht und fragte ihn nichts. Sie hatte schon lange begriffen, daß mit -ihrem Sohne etwas Furchtbares vorgehe, und daß jetzt der schreckliche -Augenblick für ihn gekommen war. - -»Rodja, mein Lieber, mein Erstgeborener,« sagte sie schluchzend, »du -bist jetzt ebenso zu mir gekommen, wie du es als kleiner Junge tatest; -hast mich umarmt und geküßt; als wir noch mit Vater lebten und uns -kümmerlich durchschlugen, war es schon ein Trost für uns, daß du bei uns -warst, als ich aber deinen Vater beerdigt hatte, -- wie oft haben wir -uns da umarmt, genau so wie jetzt, und haben an seinem Grabe geweint. -Daß ich aber lange schon weine, kommt davon, weil das Mutterherz dein -Unglück ahnte. Als ich das erste Mal dich damals am Abend sah, -- -erinnerst du dich, -- als wir hier ankamen, habe ich alles an deinem -Blicke allein erraten und mein Herz zuckte zusammen, heute aber, als ich -dir öffnete und dich anblickte, dachte ich mir sofort, -- nun ist die -Schicksalsstunde gekommen. Rodja, Rodja, du reisest doch nicht sofort -ab?« - -»Nein.« - -»Du wirst noch einmal herkommen?« - -»Ja ... ich werde herkommen.« - -»Rodja, sei mir nicht böse, ich darf dich nicht ausfragen. Ich weiß, daß -ich es nicht darf, aber sag mir bloß, nur zwei kleine Worte sage mir: -Ist es weit, wohin du reist?« - -»Sehr weit.« - -»Was, hast du eine Anstellung dort oder ist es für deine Karriere -wichtig?« - -»Was Gott gibt ... beten Sie nur für mich ...« - -Raskolnikoff ging zur Türe, aber sie hielt sich an ihm fest und sah ihm -mit einem verzweifelten Blick in die Augen. Ihr Gesicht war vor -Entsetzen entstellt. - -»Genug, Mama,« sagte Raskolnikoff und bereute tief, daß er auf den -Gedanken gekommen war, herzukommen. - -»Es ist doch nicht für immer? Nicht für ewig? Du wirst doch noch -herkommen, wirst du morgen kommen?« - -»Ich werde kommen, werde kommen, leben Sie wohl!« - -Er riß sich endlich los. - -Der Abend war frisch, warm und klar; das Wetter war seit dem Morgen -schön geworden. Raskolnikoff ging eilig nach Hause. Er wollte allem bis -zu Sonnenuntergang ein Ende machen. Bis dahin sollte ihn niemand sehen. -Als er zu seiner Wohnung hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja sich vom -Samowar abwandte, ihn unverwandt beobachtete und mit den Augen -verfolgte. »Sollte etwa jemand bei mir sein?« dachte er. Voll -Widerwillen dachte er an Porphyri Petrowitsch. Als er aber sein Zimmer -erreicht und die Türe geöffnet hatte, erblickte er Dunetschka. Sie saß -mutterseelenallein in tiefem Nachdenken und schien schon lange auf ihn -zu warten. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschreckt -vom Sofa und blieb aufgerichtet vor ihm stehen. Ihr Blick, unverwandt an -ihm haftend, drückte Entsetzen und einen untilgbaren Kummer aus. Und an -diesem Blicke merkte er sofort, daß sie alles wußte. - -»Soll ich zu dir hineinkommen oder fortgehen?« fragte er mißtrauisch. - -»Ich habe den ganzen Tag bei Ssofja Ssemenowna gesessen; wir haben dich -beide erwartet. Wir dachten, daß du unbedingt dorthin kommen würdest.« - -Raskolnikoff trat in das Zimmer und setzte sich ermattet auf einen -Stuhl. - -»Ich bin etwas schwach, Dunja; ich bin zu müde; ich möchte aber -wenigstens in diesem Augenblicke mich völlig beherrschen.« - -Er warf ihr einen schnellen mißtrauischen Blick zu. - -»Wo warst du denn die ganze Nacht?« - -»Ich erinnere mich dessen nicht gut; siehst du, Schwester, ich wollte zu -einem endgültigen Entschluß kommen und bin mehrere Male an der Newa hin- -und hergegangen; dessen erinnere ich mich. Ich wollte dort ein Ende -machen, aber ... konnte mich nicht entschließen ...« flüsterte er und -blickte Dunja wieder mißtrauisch an. - -»Gott sei Dank! Und wie wir das fürchteten, -- ich und Ssofja -Ssemenowna! Also, du glaubst noch ans Leben, -- Gott sei Dank, Gott sei -Dank!« - -Raskolnikoff lächelte bitter. - -»Ich glaubte nicht daran, soeben aber habe ich die Mutter umarmt und mit -ihr zusammen geweint; ich glaube nicht daran, aber ich habe sie gebeten, -für mich zu Gott zu beten. Gott weiß, wie das alles vor sich geht, -Dunetschka und ich begreife nichts.« - -»Du warst bei der Mutter? Du hast ihr es selbst gesagt?« rief Dunja -entsetzt aus. -- »Hast du es gewagt, ihr zu sagen?« - -»Nein, ich habe ihr nichts ... mit Worten gesagt, aber sie hat vieles -begriffen. Sie hat in der Nacht gehört, wie du phantasiert hast. Ich bin -überzeugt, daß sie die Hälfte schon versteht. Ich habe vielleicht -schlecht daran getan, daß ich zu ihr ging. Ich weiß auch nicht mal, -warum ich zu ihr hingegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.« - -»Du ein gemeiner Mensch und bist doch bereit, das Leiden auf dich zu -nehmen! Du gehst doch um zu leiden?« - -»Ich gehe. Sofort. Ja, um dieser Schande zu entgehen, wollte ich mich -auch ins Wasser stürzen, Dunja, aber ich dachte, als ich schon über dem -Wasser stand, wenn ich mich bisher für stark gehalten habe, so soll ich -mich jetzt auch nicht vor der Schande fürchten,« sagte er. »Das ist der -Stolz, Dunja?« - -»Ja, das ist der Stolz, Rodja.« - -Wie ein Feuer leuchtete es in seinen trüben Augen auf; ihm schien es -eine Freude zu sein, daß er noch stolz sein konnte. - -»Meinst du aber nicht, Schwester, daß mir einfach vor dem Wasser bange -war,« fragte er mit einem bitteren Lächeln und blickte ihr ins Gesicht. - -»Oh, Rodja, höre damit auf!« rief Dunja bitter aus. - -Etwa zwei Minuten dauerte das Schweigen. Er saß mit gesenktem Kopfe und -sah zu Boden; Dunetschka stand am anderen Ende des Tisches und blickte -ihn voll innerer Qual an. - -Plötzlich stand er auf. - -»Es ist spät, es ist Zeit. Ich gehe jetzt, mich anzuzeigen. Aber ich -weiß nicht, warum ich gehe, mich anzuzeigen.« - -Große Tränen rollten über ihre Wangen. - -»Du weinst, Schwester, kannst du mir noch die Hand reichen?« - -»Und du hast daran zweifeln können?« - -Sie umarmte ihn innig. - -»Büßest du nicht schon zur Hälfte dein Verbrechen mit deinem Leid?« rief -sie aus, drückte ihn fest an sich und küßte ihn. - -»Verbrechen? Was für ein Verbrechen?« rief er plötzlich in einem Anfalle -von Wut, »etwa, weil ich eine scheußliche, bösartige Laus, eine alte -Wucherin ermordet habe, die niemand braucht, für deren Ermordung einem -vierzig Sünden vergeben werden müssen, die den Armen den letzten -Blutstropfen aussaugte, -- und das soll ein Verbrechen sein? Ich denke -gar nicht daran und denke nicht daran, es tilgen zu wollen. Und was -kommen sie mir alle mit diesem Wort >Verbrechen, Verbrechen!< Jetzt erst -sehe ich den ganzen Unsinn meiner Kleinmütigkeit klar, jetzt erst, wo -ich mich schon entschlossen habe, diese unnötige Schande auf mich zu -nehmen! Bloß aus Gemeinheit und aus Untauglichkeit habe ich mich dazu -entschlossen, ja vielleicht auch aus Berechnung, wie dieser ... Porphyri -Petrowitsch mir vorgeschlagen hat! ...« - -»Bruder, Bruder, was sagst du! Du hast aber doch Blut vergossen!« rief -Dunja verzweifelt aus. - -»Das alle vergießen,« fiel er fast rasend ein, »das in der Welt wie ein -Wasserfall fließt und immer geflossen ist, das wie Champagner vergossen -wird, und für das man im Kapitol gekrönt und nachher Wohltäter der -Menschheit genannt wird. Schau doch bloß näher zu und sieh es! Ich -selbst wollte den Menschen Gutes und hätte hunderte, tausende gute Werke -vollbracht, anstatt dieser einzigen Dummheit, die sogar keine Dummheit, -sondern bloß eine Ungeschicktheit war, weil der gesamte Gedanke gar -nicht so dumm war, wie er jetzt nach dem Mißlingen erscheint ... Beim -Mißlingen erscheint alles dumm! ... Mit dieser Dummheit wollte ich mich -bloß in eine unabhängige Stellung bringen, den ersten Schritt tun, die -Mittel erhalten, und nachher würde alles durch einen verhältnismäßig -unermeßlichen Nutzen ausgeglichen worden sein ... Aber ich, ich habe -auch nicht mal den ersten Schritt ausgehalten, weil ich -- ein Schuft -bin! Siehst du, so steht die Sache! Und dennoch kann ich eure Ansicht -nicht teilen, -- wäre es mir gelungen, so würde man mich gekrönt haben, -jetzt aber muß ich in die Falle!« - -»Aber das ist es doch nicht, ganz und gar nicht! Bruder, was sagst du -nur!« - -»Ah! Nicht die richtige Form, die Form ist nicht ästhetisch genug! Nun, -ich begreife entschieden nicht, -- warum es eine angesehenere Form sein -soll auf die Menschen Bomben zu werfen, eine regelrechte Belagerung zu -führen? Die Furcht vor dem Unästhetischen ist das erste Zeichen von -Schwäche! ... Niemals, niemals habe ich es klarer als jetzt empfunden, -und mehr als je begreife ich jetzt mein Verbrechen! Niemals, niemals war -ich stärker und überzeugter, als jetzt!« - -Das Blut war in sein blasses, abgehärmtes Gesicht gestiegen. Als er die -letzten Worte aussprach, begegnete zufällig sein Blick den Augen Dunjas -und er sah darin soviel, soviel Qual seinetwegen, daß er unwillkürlich -zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er trotz alledem diese zwei armen -Frauen unglücklich gemacht hatte. Er war trotz alledem noch die Ursache -dazu ... - -»Dunja, liebe Dunja! Wenn ich Schuld habe, vergib mir, obwohl man mir -nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe. Lebwohl! Wir wollen uns nicht -streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe -dich an, ich muß noch zu jemandem hingehen ... Gehe sofort zur Mutter -und setze dich zu ihr hin. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte -größte Bitte an dich. Verlaß sie in dieser Zeit nicht; ich habe sie in -Unruhe hinterlassen, die sie kaum überstehen wird, -- entweder stirbt -sie oder sie verliert den Verstand. Bleib bei ihr! Rasumichin wird euch -zur Seite stehen; ich habe es ihm gesagt ... Weine nicht um mich, -- ich -werde versuchen, mutig und ehrlich das ganze Leben zu sein, obwohl ich -ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde -euch keine Schande machen, du wirst sehen; ich will noch beweisen ... -jetzt, vorläufig auf Wiedersehen,« beeilte er sich zu sagen, als er in -den Augen Dunjas wieder einen sonderbaren Ausdruck bei seinen letzten -Worten und Versprechungen bemerkte. -- »Warum weinst du denn so? Weine -nicht, weine nicht; wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach, ja! -Warte, ich habe etwas vergessen! ...« - -Er trat an den Tisch, nahm ein dickes verstaubtes Buch, öffnete es und -nahm ein kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der -Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben -war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das in ein Kloster gehen -wollte. Eine Weile blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte -Gesicht an, küßte das Bild und überreichte es Dunetschka. - -»Mit ihr habe ich viel _darüber_ gesprochen, mit ihr allein,« sagte er -sinnend, »ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was nachher -sich in so häßlicher Weise erfüllt hatte. Sei ruhig,« wandte er sich an -Dunetschka, »sie war mit mir nicht einverstanden, so wenig wie du, und -ich bin froh, daß sie nicht mehr lebt. Die Hauptsache, die Hauptsache -ist, daß alles jetzt neu anhebt, daß alles entzwei brechen wird,« rief -er plötzlich aus, wieder in seinen Gram zurückfallend, »alles, alles, -bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es auch selbst? Man sagt, es sei -nötig zu meiner Prüfung! Wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen? -Wozu sind sie, werde ich etwa dann erdrückt von Qual und Stumpfheit in -greisenhafter Schwäche nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit es besser -empfinden, als ich es jetzt tue, und wozu soll ich dann noch leben? -Warum gehe ich jetzt darauf ein, so zu leben? Oh, ich wußte, daß ich ein -Schuft bin, als ich heute bei Tagesanbruch an der Newa stand!« - -Beide gingen schließlich hinaus. Es war Dunja schwül, aber sie liebte -ihn! Sie ging von ihm, aber als sie etwa fünfzig Schritte gegangen war, -wandte sie sich noch einmal um, um ihm nachzuschauen. Man konnte ihn -noch sehen. Als er an die Ecke kam, wandte er sich ebenfalls um; zum -letzten Male trafen sich ihre Blicke; als er aber bemerkte, daß sie ihm -nachblickte, winkte er ihr ungeduldig und ärgerlich mit der Hand, daß -sie weitergehen solle, und bog selbst schnell um die Ecke. - -»Ich bin böse, ich merke es,« dachte er und schämte sich seiner -ärgerlichen Handbewegung. -- »Aber warum lieben sie mich so, wenn ich -ihrer Liebe nicht wert bin! Oh, wäre ich allein und hätte mich niemand -lieb, und hätte ich selbst niemals jemand geliebt! _Alles dieses wäre -nicht gewesen!_ Ich gäbe viel darum, wenn ich wüßte, ob nach diesen -kommenden fünfzehn, zwanzig Jahren meine Seele so gedemütigt sein wird, -daß ich voll Ehrfurcht vor Menschen ächzen und klagen und mich bei jedem -Worte Räuber nennen werde? Ja, es wird so kommen, wird kommen! Darum -schicken sie mich auch jetzt nach Sibirien, sie wollen es haben ... Da -laufen sie nun alle in den Straßen herum, und jeder unter ihnen ist -schon seiner Natur nach ein Schuft und Räuber; schlimmer noch -- ein -Idiot! Sollte man aber mich mit Sibirien verschonen, so würden sie alle -vor edler Empörung überschäumen! Oh, wie ich sie alle hasse!« - -Er sann darüber nach, -- »auf welche Weise es kommen müsse, damit er -zuletzt, ohne mit sich in Widerspruch zu geraten, demütiger würde! Warum -denn auch nicht? Sicher wird es so werden. Werden ihn die zwanzig Jahre -ununterbrochener Unterdrückung nicht endgültig brechen? Steter Tropfen -höhlt den Stein. Und warum, wozu nach alledem noch leben, wozu gehe ich -jetzt hin, wenn ich selbst weiß, daß alles genau so kommen wird, und -nicht anders?« - -Er legte sich diese Frage vielleicht schon zum hundertsten Male seit -gestern Abend vor, aber dennoch ging er hin. - - - VIII. - -Als er zu Ssonja eintrat, begann es schon zu dämmern. Ssonja hatte den -ganzen Tag in schrecklicher Aufregung auf ihn gewartet; schon mit Dunja -zusammen. Dunja war am frühen Morgen zu ihr gekommen, als sie sich der -Worte von Sswidrigailoff erinnerte, daß Ssonja »darüber alles weiß«. -- -Wir wollen der Einzelheiten der Unterhaltung zwischen den beiden Frauen, -ihrer Tränen und dessen, wie weit sie einander näher gekommen waren, -nicht gedenken. Dunja hatte bei dieser Zusammenkunft wenigstens den -Trost gefunden, daß ihr Bruder nicht allein sein werde -- zu ihr, zu -Ssonja, war er zuerst mit seiner Beichte gegangen; in ihr hatte er einen -Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; sie würde ihm auch -überall folgen, wohin das Schicksal ihn führen sollte. Sie fragte auch -nicht, aber sie wußte, daß es so kommen werde. Sie begegnete Ssonja -sogar mit Ehrfurcht und machte sie zuerst dadurch ganz verwirrt. Ssonja -war anfangs nahe daran, zu weinen; sie hielt sich für unwürdig, Dunja -nur anzublicken. Das Bild Dunjas, als sie sich so aufmerksam und -achtungsvoll bei ihrem ersten Zusammentreffen in Raskolnikoffs Wohnung -von ihr verabschiedet, hatte sich seitdem für immer in ihrer Seele -eingegraben, als einer der schönsten und höchsten Augenblicke in ihrem -Leben. - -Dunetschka hatte es schließlich nicht mehr ausgehalten, sie war von -Ssonja gegangen, um den Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie -glaubte, daß er dorthin schließlich zuerst gehen würde. Als Ssonja -allein geblieben war, begann sie sich mit dem Gedanken, daß er wirklich -ein Leid sich antun würde, zu quälen. Dasselbe fürchtete auch Dunja. -Aber beide übertrafen sich den ganzen Tag in dem Bestreben, einander zu -überzeugen, daß es nicht der Fall sein könne, und waren ruhiger, solange -sie beisammen waren. Jetzt aber, wo sie getrennt waren, dachte die eine -wie die andere nur noch daran. Ssonja erinnerte sich, daß Sswidrigailoff -ihr gestern gesagt hatte, Raskolnikoff habe nur zwei Wege, -- entweder -Sibirien, oder ... Sie kannte zudem seinen Ehrgeiz, seinen Stolz, seine -Eigenliebe und seinen Unglauben. - -»Kann nur der Kleinmut und die Furcht vor dem Tode ihn zwingen, zu -leben?« dachte sie schließlich in Verzweiflung. Und die Sonne ging schon -unter. Sie stand traurig vor dem Fenster und blickte unverwandt hinaus, --- aber man sah hier bloß die ungeweißte Grundmauer des Nachbarhauses. -Als sie schon von dem Tode des Unglücklichen völlig überzeugt war, -- -trat er in ihr Zimmer. - -Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Aber als sie aufmerksam -sein Gesicht ansah, erbleichte sie sofort. - -»Nun, ja!« sagte Raskolnikoff mit bitterem Lächeln, »ich komme, mir dein -Kreuz zu holen, Ssonja. Du hast mich doch selbst auf den Kreuzweg -geschickt; was, bist du etwa bange geworden, da es zur Ausführung -kommt?« - -Ssonja blickte ihn fassungslos an. Dieser Ton erschien ihr merkwürdig, --- ein kaltes Frösteln durchzog ihren Körper, nach einer Minute aber -erriet sie, daß der Ton, wie auch die Worte nur angenommen waren. Er -sprach auch mit ihr so sonderbar, indem er zur Seite blickte und -vermied, ihr ins Gesicht zu sehen. - -»Ich habe, -- siehst du, Ssonja, -- eingesehen, daß es in dieser Weise -auch vielleicht vorteilhafter sein wird. Es gibt hier einen Umstand ... -Es ist lange zu erzählen und lohnt sich auch nicht. Weißt du, was mich -bloß ärgert? Mir ist es ärgerlich, daß alle diese dummen tierischen -Fratzen mich gleich umringen, mich anglotzen, mir ihre dumme Frage -vorlegen werden, die man beantworten muß, -- und daß man auf mich mit -Fingern zeigen wird ... Pfui! Weißt du, ich will nicht zu Porphyri -Petrowitsch gehen; er langweilt mich. Ich gehe lieber zu meinem Freunde -Pulver, der wird erstaunen, da werde ich einen Effekt in seiner Art -erringen. Man müßte kaltblütiger sein; ich bin in der letzten Zeit zu -erbittert geworden. Glaubst du mir, -- ich habe soeben meiner Schwester -fast mit der Faust gedroht und bloß aus dem Grunde, weil sie sich -umwandte, um mich zum letzten Male zu sehen. So ein Zustand ist eine -Schweinerei! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Nun, wo ist das -Kreuz?« - -Er war wie ausgewechselt. Er konnte nicht mal einen Augenblick auf einem -Flecke ruhig stehen, konnte seine Aufmerksamkeit auf keinen Gegenstand -konzentrieren, seine Gedanken übersprangen einander, er redete wirr; -seine Hände zitterten leicht. - -Ssonja nahm schweigend aus einem Kasten zwei Kreuze -- eins aus -Zypressenholz und das andere aus Kupfer; sie bekreuzte sich selbst, -bekreuzte ihn und legte um seinen Hals das Kreuzlein aus Zypressenholz. - -»Das ist also ein Symbol, daß ich das Kreuz auf mich nehme, he! he! Als -hätte ich bis jetzt wenig gelitten! Aus Zypressenholz, also wie das Volk -es trägt; das kupferne, das von Lisaweta, nimmst du, zeige mir. Also sie -hatte es ... in dem Augenblicke um? Ich kenne auch zwei ähnliche Kreuze, -ein silbernes und ein Heiligenbildchen. Ich warf sie damals der Alten -auf die Brust. -- Die würden jetzt passen, wirklich, die sollte ich auch -umlegen ... übrigens, ich lüge die ganze Zeit, vergesse immer die -Angelegenheit, die mich herführte, ich bin ein wenig zerstreut ... -Siehst du, Ssonja, -- ich bin eigentlich gekommen, um dir es vorher zu -sagen, damit du es weißt ... Das ist auch alles ... Ich bin bloß -deswegen gekommen. Hm! ich dachte übrigens, daß ich dir mehr sagen werde -... Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun, jetzt werde ich im -Gefängnis sitzen und dein Wunsch wird erfüllt sein. Warum weinst du -denn? Auch du weinst? Höre auf, laß es, ach, wie schwer mir alles ist!« - -Eine weichere Empfindung überkam ihn doch; sein Herz schnürte sich bei -ihrem Anblicke zusammen. -- »Warum weint sie denn?« dachte er, »was bin -ich ihr? Warum weint sie, warum nimmt sie von mir Abschied, wie meine -Mutter oder Dunja? Sie wird mein Kindermädchen sein!« - -»Bekreuze dich, bete wenigstens einmal,« bat ihn Ssonja mit zitternder, -schüchterner Stimme. - -»Oh, bitte, soviel du wünschst! Und ich tue es mit aufrichtigem Herzen, -Ssonja, mit aufrichtigem Herzen ...« - -Er wollte etwas ganz anderes sagen. - -Er bekreuzte sich einige Male. Ssonja nahm ein Tuch und warf es um die -Schulter. Es war ein großes grünes Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von -dem Marmeladoff damals gesprochen hatte. Raskolnikoff kam der Gedanke, -aber er fragte nicht danach. Er begann in der Tat selbst zu fühlen, daß -er schrecklich zerstreut und eigentümlich beunruhigt war. Er erschrak -darüber. Es setzte ihn auch plötzlich in Erstaunen, daß Ssonja mit ihm -gehen wolle. - -»Was ist? Wohin willst du? Bleibe, bleibe zu Hause! Ich gehe allein,« -rief er in kleinmütigem Ärger und ging beinahe erzürnt zu der Türe. -- -»Und wozu ein ganzes Gefolge!« murmelte er hinaustretend. - -Ssonja blieb mitten im Zimmer stehen. Er hatte nicht mal Abschied von -ihr genommen, er hatte sie schon vergessen; ein brennender und sich -empörender Zweifel wogte in seiner Seele. - -»Ist es auch das Richtige, ist auch alles richtig?« dachte er wieder, -als er die Treppe hinunterging, »kann man denn nicht stehen bleiben und -alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen?« - -Er ging aber doch den Weg. Er sagte sich endgültig, daß es sich nicht -lohne, weitere Fragen an sich zu stellen. Auf der Straße fiel es ihm -ein, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im -Zimmer in ihrem grünen Tuche stehen geblieben war, ohne zu wagen, sich -zu rühren, als er sie angeschrien hatte, -- und er blieb eine Weile -stehen. Im selben Augenblick durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke, -- -als hätte er nur gewartet, um ihn vollständig verwirrt zu machen. - -»Wozu, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr, -- in einer -Angelegenheit; was war es für eine Angelegenheit? Es war absolut nichts! -Um ihr mitzuteilen, daß ich _hingehe_; was ist denn dabei? War es -notwendig, das ihr zu sagen? Liebe ich sie etwa? Nein, doch gar nicht? -Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich -etwa ihre Kreuze? Oh, wie tief ich gesunken bin! Nein, -- ich brauchte -ihre Tränen, ich mußte ihr Erschrecken sehen, ich mußte sehen, wie ihr -das Herz schmerzt und sie sich quält! Ich mußte mich an irgend etwas -anklammern, es in die Länge ziehen, einen Menschen sehen! Und ich habe -es gewagt, so auf mich zu hoffen, so von mir zu träumen, ich Bettler, -ich unbedeutender Schuft, Schuft!« - -Er ging am Kanale entlang und hatte nicht mehr weit. Als er aber bis zur -Brücke kam, blieb er einen Augenblick stehen, bog dann zur Seite ab und -ging über die Brücke zum Heumarkte. - -Er blickte neugierig rechts und links um sich, betrachtete aufmerksam -jeden Gegenstand und konnte auf nichts die Aufmerksamkeit konzentrieren; -alles entglitt ihm. -- »Nach einer Woche, nach einem Monat wird man mich -in einem Gefängniswagen irgendwohin über diese Brücke führen, wie werde -ich dann diesen Kanal ansehen, -- ich müßte es mir merken,« durchfuhr es -ihn. »Dieses Aushängeschild dort, -- wie werde ich dann diese Buchstaben -lesen? Da steht geschrieben -- _Genossenschaft_, -- nun, ich sollte mir -dieses >o<, diesen Buchstaben o merken, und nach einem Monat dieses o -ansehen, -- wie werde ich es dann ansehen? Was werde ich dann empfinden -und denken? ... Mein Gott, wie dies alles gemein sein muß, alle meine -jetzigen ... Sorgen! Gewiß, dies alles muß interessant ... in seiner Art -sein ... ha! ha! ha! ... worüber ich bloß denke! Ich werde wie ein Kind, -ich spiele mit mir selbst; nun, warum halte ich mir dieses vor? Pfui, -wie sie stoßen! Dieser Dicke da, -- wahrscheinlich ein Deutscher, -- der -mich soeben gestoßen hat; nun, weiß er, wen er gestoßen hat? Eine Frau -mit einem Kinde bettelt, es ist amüsant, daß sie mich für glücklicher -als sich selbst hält. Was, sollte ich der Kuriosität wegen ihr auch ein -Almosen geben? Bah, ich habe ja volle fünf Kopeken in der Tasche, woher -bloß? Na ... nimm es, Mütterchen!« - -»Gott schütze dich!« ertönte die weinerliche Stimme der Bettlerin. - -Er trat auf den Heumarkt. Ihm war es unangenehm, sehr unangenehm sogar, -mit Leuten zusammenzukommen, er ging aber gerade dorthin, wo man am -meisten Menschen sah. Er hätte alles in der Welt hingegeben, um allein -zu bleiben, aber er fühlte selbst, daß er keinen einzigen Augenblick -allein sein konnte. In einer Menge trieb ein Betrunkener sein Wesen, er -wollte die ganze Zeit tanzen, fiel aber immer hin. Man hatte ihn -umringt. Raskolnikoff drängte sich durch die Menge hindurch, blickte -einige Augenblicke den Betrunkenen an und lachte plötzlich kurz und -abgerissen auf. Nach einer Minute hatte er ihn schon vergessen, bemerkte -ihn nicht mehr, obwohl er ihn noch anblickte. Er ging schließlich -zurück, ohne sich zu erinnern, wo er sich befand; als er aber bis zur -Mitte des Platzes gekommen war, vollzog sich mit ihm plötzlich eine -Veränderung, eine Empfindung packte ihn mit einem Male, nahm ihn -vollständig körperlich und seelisch -- gefangen. - -Er erinnerte sich plötzlich der Worte von Ssonja, »geh zu einem -Kreuzweg, verneige dich vor den Menschen, küsse die Erde, weil du vor -ihr gesündigt hast, und sage laut der ganzen Welt: -- Ich bin ein -Mörder!« - -Er zitterte am ganzen Körper, als er sich daran erinnerte. Und so stark -hatte ihn schon der aussichtslose Gram und die Unruhe der ganzen Zeit, -besonders aber der letzten Stunden erdrückt, daß er sich dieser neuen -Empfindung vollkommen und ungeteilt hingab. Wie ein Anfall war es -plötzlich über ihn gekommen; durch einen Funken entzündete es sich in -seiner Seele und erfaßte ihn mit einem Male, wie ein Feuer, ganz und -gar. Alles wurde in ihm weich und Tränen stürzten hervor. Wie er stand, -so fiel er auch zu Boden ... - -Er kniete mitten auf dem Platze nieder, verneigte sich bis zur Erde und -küßte diese schmutzige Erde voll Genuß und Glück. Er stand auf und -verneigte sich zum zweiten Male ... - -»Sieh, wie der sich vollgesoffen hat!« bemerkte ein Bursche in seiner -Nähe. - -Lachen ertönte. - -»Er geht nach Jerusalem, nimmt Abschied von seinen Kindern, seiner -Heimat, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt -Sankt Petersburg und seinen Boden,« fügte ein betrunkener Kleinbürger -hinzu. - -»Er ist noch jung, der Bursche!« bemerkte ein dritter. - -»Einer von den Adeligen!« sagte jemand mit gesetzter Stimme. - -»Heutzutage erkennt man nicht mehr, wer von Adel ist, und wer nicht.« - -Alle diese Zurufe und Bemerkungen hielten Raskolnikoff zurück, und das -Bekenntnis »ich habe getötet!,« das er abzulegen bereit war, unterblieb. -Die Zurufe nahm er in Ruhe hin, ging ohne sich umzusehen, durch eine -Gasse zum Polizeibureau. Unterwegs bemerkte er, daß ihm jemand folgte, -aber er war darüber nicht erstaunt; er hatte es geahnt. Als er auf dem -Heumarkte sich zum zweiten Male bis zur Erde verneigte und sich links -wandte, erblickte er fünfzig Schritte entfernt Ssonja. Sie verbarg sich -vor ihm hinter einer der hölzernen Buden, die auf dem Markte standen, -also hatte sie ihn auf seinem ganzen Leidensweg begleitet. Raskolnikoff -fühlte und begriff in diesem Augenblicke ein für allemal, daß Ssonja -ewig bei ihm sein und ihm bis ans Ende der Welt folgen werde, was ihm -das Schicksal auch senden würde. Und sein Herz wandte sich ... aber, -- -er war schon an der verhängnisvollen Stelle angelangt ... - -Ziemlich sicher trat er in den Hof. Er mußte in den dritten Stock. -- -»Es dauert noch eine Weile, bis ich hinaufkomme,« dachte er. Überhaupt -schien es ihm, als wäre es noch weit bis zu dem entscheidenden -Augenblicke, als hätte er noch viel Zeit und könne sich vieles noch -überlegen. - -Wieder derselbe Schmutz, dieselben Schalen auf der sich windenden -Treppe, wieder waren die Türen zu den Wohnungen weit offen, wieder -dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank herausdrang. Raskolnikoff -war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine erstarben und -knickten zusammen, aber sie trugen ihn vorwärts. Er blieb einen -Augenblick stehen, um Atem zu holen, um sich in Ordnung zu bringen, um -als _Mensch_ einzutreten. - -»Wozu aber? Warum?« dachte er plötzlich, als er seiner Bewegung gewahr -wurde. -- »Wenn man schon diesen Kelch leeren muß, ist dann nicht alles -gleichgültig? Je häßlicher, um so besser!« - -In seiner Erinnerung tauchte in diesem Momente die Gestalt von Ilja -Petrowitsch Pulver auf. »Soll ich tatsächlich zu ihm gehen? Kann ich -nicht zu einem anderen? Nicht zu Nikodim Fomitsch? Oder sofort umkehren -und zum Kommissar selbst in seine Wohnung gehen? Alles wird wenigstens -dann in angenehmerer Weise ... Nein, nein! Zu Pulver, zu Pulver! Wenn -ich ihn schon leeren soll, so alles auf einmal ...« - -Erstarrt vor Kälte und kaum seiner mächtig, öffnete er die Türe zum -Polizeibureau. Diesmal waren sehr wenig Leute da, ein Hausknecht und -noch ein Mann. Der Wächter schaute nicht einmal aus seiner Kammer -heraus. Raskolnikoff ging in das andere Zimmer. -- »Vielleicht läßt es -sich noch vermeiden,« schwirrte es ihm durch den Kopf. In diesem Zimmer -begann gerade irgend ein Schreiber in Zivilkleidung etwas auf seinem -Pulte zu schreiben. In einer Ecke setzte sich ein anderer Schreiber hin. -Sametoff war nicht da. Nikodim Fomitsch selbstverständlich auch nicht. - -»Ist niemand da?« fragte Raskolnikoff, sich an den Schreiber am Pulte -wendend. - -»Wen wünschen Sie?« - -»Ah -- ah! Man hört nichts, man sieht nichts, bloß der russische Geist -... wie heißt es doch in jenem Märchen ... habe es vergessen! M--m--mein -Kompliment!« rief plötzlich eine bekannte Stimme. - -Raskolnikoff erbebte. Vor ihm stand Pulver; er war unbemerkt aus dem -dritten Zimmer eingetreten. - -»Das ist das Schicksal,« dachte Raskolnikoff, »warum ist er hier?« - -»Zu uns? In welcher Angelegenheit?« rief Ilja Petrowitsch aus. (Er war -offenbar in ausgezeichneter und sogar ein wenig erregter Stimmung.) -»Wenn Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit kommen, so ist es dazu -noch zu früh. Ich selbst bin nur zufälligerweise hier ... Übrigens stehe -ich zu Ihren Diensten. Ich muß gestehen ... Wie? Wie? Entschuldigen Sie -...« - -»Raskolnikoff.« - -»Aha, Raskolnikoff? Konnten Sie glauben, daß ich Ihren Namen vergessen -habe! Bitte, halten Sie mich nicht für so einen ... Rodion Ro... Ro... -Rodionytsch, nicht wahr, es ist doch richtig?« - -»Rodion Romanowitsch.« - -»Ja, ja, ja! Rodion Romanowitsch, Rodion Romanowitsch! Das wollte ich -gerade wissen. Habe mich sogar mehrere Male nach Ihnen erkundigt. Ich -muß Ihnen gestehen, seit der Zeit war ich aufrichtig betrübt, als wir -damals mit Ihnen so ... man hat mir nachher alles erklärt, ich erfuhr, -daß Sie ein junger Literat und sogar Gelehrter ... und sozusagen, die -ersten Schritte ... oh, mein Gott! Ja, wer von den Literaten und -Gelehrten hat im Anfange nicht originelle Schritte getan! Ich und meine -Frau, -- wir beide schätzen die Literatur, meine Frau sogar -leidenschaftlich! ... Literatur und Kunst! Wenn einer nur anständig ist, -alles übrige aber kann er durch Talent, Wissen, Verstand, Genie -erwerben! Ein Hut -- nun, was bedeutet z. B. ein Hut? Ein Hut ist ein -Deckel, ich kann ihn im besten Laden kaufen; was aber unter dem Hute -steckt und mit dem Hute verdeckt wird, das kann ich nicht kaufen! ... -Ich muß gestehen, wollte sogar zu Ihnen kommen, Ihnen eine Erklärung -abgeben, aber ich dachte, daß Sie vielleicht ... Jedoch ich vergesse -ganz, Sie zu fragen, -- brauchen Sie tatsächlich etwas von uns? Man -sagte mir, Sie haben Besuch von Ihren Verwandten?« - -»Ja, meine Mutter und Schwester.« - -»Ich hatte sogar die Ehre und das Glück, Ihre Schwester zu treffen, -- -eine gebildete und reizende Dame. Ich muß gestehen, ich bedauerte sehr, -daß wir damals beide so hitzig wurden. Ein Zufall! Und daß ich Sie -damals infolge Ihrer Ohnmacht, mit einem gewissen Blicke ansah, -- das -hat sich doch sofort in glänzendster Weise aufgeklärt! Grausamkeit und -Fanatismus! Ich begreife Ihre Entrüstung. Sie werden wohl infolge der -Ankunft Ihrer Familie in eine andere Wohnung ziehen und wollen uns wohl -das anmelden?« - -»N--nein, ich bin bloß ... Ich bin gekommen, zu fragen ... ich dachte, -daß ich Herrn Sametoff hier antreffen werde.« - -»Ach, ja! Sie sind ja Freunde geworden; ich habe davon gehört. Nein, -Sametoff ist nicht bei uns, -- den haben Sie verfehlt. Wir haben Herrn -Sametoff verloren! Seit gestern ist er nicht mehr bei uns; er ist in -einen anderen Dienst übergetreten ... und hat sich zum Abschied mit -allen gezankt ... er war zuletzt noch sehr unhöflich ... Er war ein -leichtsinniger Junge, mehr nichts; er berechtigte wohl zu Hoffnungen; -ja, aber so geht es mit unserer glänzenden Jugend! Er will ein Examen -ablegen, wir kennen das, -- sind bloß Redensarten, Wichtigtuerei und das -wird das ganze Examen sein. Es ist doch nicht, wie bei Ihnen z. B. der -Fall oder bei Herrn Rasumichin, Ihrem Freunde! Ihre Karriere ist die -eines Gelehrten, und Mißerfolge werden Sie nicht verstimmen. Für Sie -sind dies alles Reize des Lebens -- nihil. Sie sind ein Asket, ein -Mönch, ein Einsiedler! ... für Sie hat nur ein Buch Bedeutung, die -Feder, die Gelehrten und Untersuchungen, -- darin schwelgt Ihr Geist! -Ich bin teilweise selbst so ... Haben Sie das Buch von Livingstone -gelesen?« - -»Nein.« - -»Ich habe es gelesen. Heutzutage gibt es übrigens viel zu viel -Nihilisten; es ist auch begreiflich; die Zeiten sind auch danach, nicht -wahr? Übrigens ich ... Sie sind doch selbstverständlich kein Nihilist! -Sagen Sie es mir aufrichtig, ganz offen.« - -»N--nein ...« - -»Nein, ach, seien Sie doch mir gegenüber ganz offen, genieren Sie sich -nicht, tun Sie, als wären Sie allein mit sich! Der Dienst ist ein Ding -für sich, ein anderes Ding ... Sie meinten, ich wollte _Freundschaft_ -sagen, nein, Sie haben es nicht erraten! Nicht Freundschaft, sondern das -Gefühl eines Mitbürgers und Mitmenschen, das Gefühl der Humanität und -der Liebe zum Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Stellung und ein -Amt einnehmen, aber ich bin dennoch verpflichtet, den Bürger und -Menschen in mir stets zu fühlen, und muß mir darüber Rechenschaft -abgeben ... Sie beliebten Sametoff zu erwähnen. Sametoff ist imstande, -auf französische Art, in einem unanständigen Lokale beim Glas Champagner -oder moussierendem Wein loszulegen, -- sehen Sie, das ist Ihr Sametoff! -Ich aber bin sozusagen in Ergebenheit und hohen Gefühlen ganz -aufgegangen, habe außerdem einen Rang, eine Position, bekleide ein Amt! -Bin verheiratet und habe Kinder. Ich erfülle meine Pflichten als Bürger -und Mensch, wer aber ist er, gestatten Sie mir die Frage? Ich wende mich -an Sie, als einen durch Bildung geadelten Menschen. Sehen Sie, auch sehr -viel gelehrte Hebammen haben wir in letzter Zeit.« - -Raskolnikoff zog fragend die Augenbrauen empor. Die Worte von Ilja -Petrowitsch, der anscheinend vor kurzem erst vom Mittagstische -aufgestanden war, schwirrten an seinem Ohre vorbei! Einen kleinen Teil -davon hatte er wohl aufgefangen. Er blickte ihn fragend an und wußte -nicht, wo er hinaus wollte. - -»Ich spreche von diesen kurzgeschorenen Mädchen,« fuhr der redselige -Ilja Petrowitsch fort, »ich habe sie selbst gelehrte Hebammen benannt -und finde, daß diese Benennung sehr treffend ist. He! he! Sie kriechen -in die medizinische Akademie, lernen Anatomie; und, sagen Sie mir, -glauben Sie, wenn ich krank werde, daß ich mir etwa ein solches Mädchen -hole ließe, daß sie mich behandele? He! he!« - -Ilja Petrowitsch lachte, sehr zufrieden mit seinen eigenen Witzen. - -»Es ist wohl wahr, der Durst nach Bildung ist grenzenlos; aber nachdem -einer sich gebildet hat, muß es für ihn genug sein. Warum denn es -mißbrauchen? Warum denn ehrenhafte Personen beleidigen, wie es dieser -Schurke Sametoff tut? Warum hat er mich beleidigt, frage ich Sie? Und -wie die Selbstmorde jetzt zunehmen, -- Sie können es sich gar nicht -vorstellen. Alle verprassen ihr letztes Geld und töten sich dann. Kleine -Mädchen, Jungen, Greise ... Heute früh noch erhielten wir Mitteilung -über einen vor kurzem zugereisten Herrn Nil Pawlytsch, ah, Nil -Pawlytsch! Wie hieß doch dieser Gentleman, der sich erschossen hat, über -den wir die Mitteilung vorhin erhielten?« - -»Sswidrigailoff,« antwortete jemand aus dem anderen Zimmer laut und -teilnahmslos. - -Raskolnikoff zuckte zusammen. - -»Sswidrigailoff! Sswidrigailoff hat sich erschossen?« rief er aus. - -»Wie! Sie kannten Sswidrigailoff?« - -»Ja ... ich kannte ihn ... Er war vor kurzem hierher gekommen ...« - -»Nun, ja, er ist vor kurzem zugereist, hat seine Frau verloren, führte -ein ausschweifendes Leben, und hat sich plötzlich erschossen, und so -skandalös, daß man es sich nicht vorstellen kann ... hat in seinem -Notizbuche ein paar Worte hingeschrieben, daß er bei vollem Verstande -sterbe, und bittet, niemanden wegen seines Todes zu beschuldigen. Er -hatte Geld, sagt man. Wie haben Sie ihn denn kennengelernt?« - -»Ich ... kannte ihn ... meine Schwester war in seinem Hause als -Gouvernante ...« - -»Ah ... Sie können uns also über ihn einiges mitteilen. Sie ahnten gar -nichts davon?« - -»Ich habe ihn gestern gesehen ... er ... trank Wein ... ich ahnte -nichts.« - -Raskolnikoff fühlte sich so niedergeschmettert, als wäre etwas auf ihn -heruntergefallen und drücke ihn zu Boden. - -»Sie sind blaß geworden. Bei uns ist die Luft sehr stickig ...« - -»Ja, es ist für mich Zeit zu gehen,« murmelte Raskolnikoff, -- -»entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe ...« - -»Oh, bitte sehr! Es war mir ein Vergnügen und ich bin froh, Ihnen zu -sagen ...« - -Ilja Petrowitsch reichte ihm die Hand. - -»Ich wollte bloß ... zu Sametoff ...« - -»Ich begreife, begreife. Es war mir ein Vergnügen.« - -»Ich ... freue mich sehr ... auf Wiedersehen ...« lächelte Raskolnikoff. - -Er ging hinaus; schwankend. Der Kopf schwindelte ihm. Er fühlte seine -Füße nicht mehr. Langsam begann er die Treppe hinabzusteigen und stützte -sich dabei mit der rechten Hand an der Wand. Es schien ihm, daß ein -Hausknecht mit einem Buche in der Hand ihn gestoßen habe, daß ein Hund -im unteren Stockwerke ununterbrochen belle und daß ein Weib ein -Holzscheit nach dem Hunde werfe und ihn anschreie. Er ging die Treppe -hinunter und trat in den Hof. Hier auf dem Hofe, unweit vom Ausgange, -stand Ssonja, totenbleich, starr, und sah ihn fassungslos an. Er blieb -vor ihr stehen. Ihr Gesicht zeigte einen schmerzlichen, abgequälten, -verzweifelten Ausdruck. Sie schlug die Hände zusammen. Ein bitteres, -verlorenes Lächeln erschien für einen Moment auf seinen Lippen. Eine -Weile blieb er stehen, betrachtete sie und ging dann wieder hinauf in -das Polizeibureau. - -Ilja Petrowitsch hatte sich gesetzt und wühlte in allerhand Papieren. -Vor ihm stand derselbe Mann, der vorhin Raskolnikoff gestoßen hatte. - -»Ah! Sie sind es wieder! Haben Sie etwas vergessen? ... Aber was ist mit -Ihnen?« - -Raskolnikoff näherte sich ihm mit blassen Lippen, mit verglasten Augen, -langsam trat er an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand darauf, -wollte etwas sagen, aber konnte nicht; man hörte bloß unzusammenhängende -Töne. - -»Ihnen ist schlecht, ein Stuhl! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl, -setzen Sie sich! Wasser!« - -Raskolnikoff ließ sich auf den Stuhl nieder, wandte aber die Augen von -dem Gesichte des äußerst unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch nicht -ab. Beide blickten eine Minute lang einander an und warteten. Das Wasser -wurde gebracht. - -»Ich habe ...« begann Raskolnikoff. - -»Trinken Sie Wasser.« - -Raskolnikoff wehrte mit der Hand das Wasser ab und sagte leise mit -Pausen, aber deutlich: - -»_Ich habe damals die alte Beamtenwitwe ... und ihre Schwester Lisaweta -... mit dem Beile erschlagen ... und beraubt._« - -Ilja Petrowitsch öffnete den Mund vor Staunen. Von allen Seiten kamen -die Menschen gelaufen. - -Raskolnikoff wiederholte sein Geständnis. - - - - - Epilog - - - I. - -Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Flusses steht eine Stadt, eine von -den administrativen Zentren Rußlands; in der Stadt befindet sich eine -Festung, in der Festung ein Gefängnis. Im Gefängnisse sitzt schon neun -Monate der Zwangsarbeiter der zweiten Kategorie Rodion Raskolnikoff. -Seit dem Tage seiner Tat sind fast anderthalb Jahre vergangen. - -Das Verfahren gegen ihn verlief ohne besondere Schwierigkeiten. Der -Verbrecher hielt sein Geständnis aufrecht, bestimmt und klar, ohne die -Sache zu verwirren, ohne etwas zu beschönigen, ohne die Tatsachen zu -verzerren und ohne die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er hatte -bis zum letzten Punkt den ganzen Vorgang der Ermordung erzählt, hatte -das Geheimnis _des Versatzobjekts_ (des Stückes Holzes mit einem -Streifen aus Metall), das man in den Händen der ermordeten Alten -gefunden hatte, erklärt; er hatte umständlich erzählt, wie er die -Schlüssel von der Getöteten genommen hatte, beschrieb die Schlüssel, die -Truhe und womit sie angefüllt war; er hatte sogar einige von den -einzelnen Gegenständen, die darin lagen, aufgezählt; hatte das Rätsel -der Ermordung von Lisaweta erklärt; hatte erzählt, wie Koch gekommen war -und geklopft hatte, wie der Student nach ihm gekommen war, und hatte -alles, was sie untereinander gesprochen hatten, wiedergegeben; hatte -auch erzählt, wie er, der Verbrecher, nachher die Treppe -hinuntergelaufen war und das Kreischen von Nikolai und Dmitri gehört -hatte, wie er sich in der leerstehenden Wohnung versteckt hatte, nach -Hause gekommen war, und zum Schluß gab er den Stein auf dem Hofe am -Wosnesensky-Prospekt hinter dem Tore an, unter dem man auch die Sachen -und den Beutel fand. Mit einem Worte, die Sache war klar. Die -Untersuchungsrichter und die Richter waren unter anderem darüber sehr -erstaunt, daß er den Beutel und die Sachen, ohne sie zu verwenden, unter -einem Steine versteckt hatte, mehr aber darüber, daß er sich aller -Gegenstände, die er eigentlich geraubt hatte, nicht im einzelnen -erinnerte, sondern sich sogar in ihrer Zahl geirrt hatte. Der Umstand -schon, daß er kein einziges Mal den Beutel geöffnet und nicht mal wußte, -wie viel an Geld darin lag, erschien unglaublich; im Beutel waren, -wie sich herausstellte, dreihundertsiebzehn Rubel und drei -Zwanzig-Kopekenstücke; von dem langen Liegen unter dem Steine waren -einige größere Scheine, die zu oberst lagen, stark verdorben. Man mühte -sich lange ab, zu erforschen, warum der Angeklagte gerade in diesem -einzigen Punkte log, wo er doch in allem übrigen ein freiwilliges und -aufrichtiges Geständnis ablegte? Schließlich kamen einige, besonders die -Psychologen, zu der möglichen Annahme, daß er in der Tat keinen Blick in -den Beutel geworfen habe, daher auch nicht gewußt habe, was er enthielt, -und ohne es zu wissen, den Beutel einfach unter den Stein gelegt habe; -sie zogen aber auch sofort daraus die Folgerung, daß das Verbrechen -selbst nicht anders ausgeführt sein könnte, als bei gewisser -zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit, unter einer krankhaften Manie, zu -morden und zu rauben, ohne weitere Zwecke und Berechnungen. Hierzu -gesellte sich noch die neueste moderne Theorie von zeitweiliger -Geistesgestörtheit, die man in unserer Zeit so oft versucht, bei manchen -Verbrechern anzuwenden. Außerdem wurde der hypochondrische Zustand -Raskolnikoffs seit langer Zeit genau von vielen Zeugen, dem Arzte -Sossimoff, seinen früheren Kameraden, seiner Wirtin und deren -Dienstboten bestätigt. Dies alles half sehr zu der Annahme, daß -Raskolnikoff einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe nicht -gleichzusetzen sei, daß etwas ganz anderes vorliege. Zum größten Verdruß -derer, die diese Ansicht vertraten, versuchte der Verbrecher selbst sich -fast gar nicht zu verteidigen; auf die endgültigen Fragen, -- was ihn -zum Morde bewogen haben konnte, und was ihn den Raub zu vollziehen -angetrieben habe, -- antwortete er sehr klar, mit der gröbsten -Offenheit, daß die ganze Ursache seine schlechte Lage, seine Armut und -Hilflosigkeit und der Wunsch gewesen war, -- die ersten Schritte seiner -Laufbahn mit Hilfe von wenigstens dreitausend Rubel zu sichern, die er -bei der Ermordeten zu finden gehofft habe. Er habe sich zum Morde -infolge seines leichtsinnigen und kleinmütigen Charakters entschlossen, -der außerdem durch Entbehrungen und Mißerfolge gereizt war. Auf die -Frage aber, was ihn veranlaßt habe, ein Geständnis abzulegen, antwortete -er offen, daß es aufrichtige Reue gewesen sei. -- Dies alles war schon -fast grob ... - -Das Urteil fiel milder aus, als man erwarten konnte, vielleicht auch -deshalb, weil man bei der Straffestsetzung auch den Umstand in Betracht -zog, daß der Verbrecher nicht bloß auf alle Selbstverteidigung -verzichtete, sondern offenbar den Wunsch zeigte, sich selbst noch mehr -zu belasten. Alle eigentümlichen und besonderen Umstände der -Angelegenheit wurden in Erwägung gezogen. Der krankhafte und notleidende -Zustand des Verbrechers vor Ausführung der Tat wurde nicht dem -geringsten Zweifel unterzogen. Der Umstand, daß er von dem Geraubten -keinen Nutzen gezogen hatte, wurde teilweise der erwachten Reue, -teilweise dem nicht ganz gesunden Zustande seiner Geistesfähigkeiten -während der Ausführung der Tat zugeschrieben. Die zufällige Ermordung -von Lisaweta diente sogar als Umstand, der die letzte Annahme -bestätigte, -- ein Mensch vollzieht zwei Morde und vergißt gleichzeitig, -daß die Türe nicht verschlossen war! Schließlich, das freiwillige -Geständnis gerade in dem Momente, wo die Sache ungewöhnlich verwickelt -wurde, infolge der falschen Selbstanklage eines niedergeschlagenen -Phantasten (Nikolai), und außerdem, wo nicht nur keine klaren Beweise, -sondern fast kein Verdacht gegen den tatsächlichen Verbrecher vorgelegen -hatte, -- (Porphyri Petrowitsch hatte sein Wort vollkommen gehalten) -- -dies alles zusammen verhalf dem Angeklagten zu einer milderen -Bestrafung. - -Außerdem erschienen völlig unerwartet auch andere Umstände, die stark zu -seinen Gunsten ins Gewicht fielen. Der frühere Student Rasumichin hatte -irgendwo Mitteilungen erhalten und sie durch Beweise erhärtet, daß der -Verbrecher Raskolnikoff, als er noch auf der Universität war, aus seinen -letzten Mitteln einem armen und schwindsüchtigen Kameraden geholfen und -ihn ein halbes Jahr hindurch fast gänzlich unterhalten hatte. Als der -Kamerad gestorben war, übernahm er die Sorge um dessen alten und -gelähmten Vater, den sein Kamerad durch seiner Hände Arbeit fast seit -seinem dreizehnten Lebensjahre ernährt und unterstützt hatte, -schließlich hatte Raskolnikoff den alten Vater in einem Krankenhaus -untergebracht und, als auch er starb, ihn beerdigen lassen. Alle diese -Mitteilungen hatten einen gewissen Einfluß auf das Schicksal von -Raskolnikoff. Seine frühere Wirtin, die Mutter seiner verstorbenen -Braut, die Witwe Sarnitzin, legte auch ein Zeugnis ab, daß Raskolnikoff, -als sie noch in einem anderen Hause wohnten, während einer Feuersbrunst -in der Nacht aus einer Wohnung, die schon brannte, zwei kleine Kinder -gerettet habe und dabei selbst Brandwunden davontrug. Diese Tatsache -wurde genau untersucht und auch durch andere Zeugen bestätigt. Mit einem -Worte, es endete damit, daß der Verbrecher zur Zwangsarbeit der zweiten -Kategorie, im ganzen nur zu acht Jahren verurteilt wurde, infolge seines -freiwilligen Geständnisses und mehrerer mildernder Umstände. - -Noch beim Beginn des Prozesses wurde Raskolnikoffs Mutter krank. Dunja -und Rasumichin fanden es für ratsam, sie während der ganzen -Gerichtsverhandlung aus Petersburg fortzuschaffen. Rasumichin wählte -eine Stadt an der Eisenbahn und in der Nähe von Petersburg, um die -Möglichkeit zu haben, allen Phasen des Prozesses genau zu folgen und -gleichzeitig möglichst oft Awdotja Romanowna zu sehen. Pulcheria -Alexandrownas Leiden war eine eigentümliche Nervenerkrankung und wurde -durch eine, wenn auch nicht völlige, so doch zeitweilige Geistesstörung -kompliziert. Dunja fand ihre Mutter, als sie von ihrer letzten -Zusammenkunft mit dem Bruder zurückkehrte, vollständig krank, in Fieber -und Wahnvorstellungen. Am selben Abend noch kam sie mit Rasumichin -darüber überein, was man der Mutter auf ihre Fragen nach dem Sohne -antworten solle, und hatte sogar mit ihm zusammen für die Mutter eine -ganze Geschichte erdichtet, daß Raskolnikoff sehr weit an die Grenze -Rußlands in einem privaten Auftrage gereist sei, der ihm endlich Geld -und Berühmtheit eintragen werde. Sie waren aber überrascht, daß -Pulcheria Alexandrowna selbst weder damals, noch späterhin sie irgend -etwas frug. Im Gegenteil, es zeigte sich, daß sie selbst eine ganze -Geschichte über die plötzliche Abreise des Sohnes wußte; sie erzählte -mit Tränen, wie er zu ihr gekommen war, um von ihr Abschied zu nehmen; -deutete dabei an, daß nur sie allein viele, sehr wichtige und -geheimnisvolle Umstände kenne, und daß Rodja sehr viele einflußreiche -Feinde habe, so daß er sich verbergen müsse. Was seine künftige Karriere -anbetraf, schien sie ihr auch unzweifelhaft und glänzend zu sein, -- -wenn gewisse unbequeme Umstände beseitigt wären; sie versicherte -Rasumichin, daß ihr Sohn mit der Zeit sogar ein bedeutender Staatsmann -würde, wofür sein Artikel und sein glänzendes literarisches Talent -zeugten. Immer las sie seinen Artikel, las ihn zuweilen laut vor und -legte sich fast mit ihm zu Bett, trotzdem aber fragte sie fast nie, wo -sich jetzt Rodja befinde, ungeachtet dessen, daß man augenscheinlich -vermied, mit ihr darüber zu sprechen, -- was doch allein schon Argwohn -bei ihr hätte erwecken müssen. Man begann endlich, sich über dieses -merkwürdige Schweigen von Pulcheria Alexandrowna in Bezug auf manche -Punkte zu ängstigen. Sie klagte z. B. nicht einmal darüber, daß sie von -ihm keine Briefe erhalte, wogegen sie früher, als sie noch in ihrem -Heimatsstädtchen wohnte, bloß von der Hoffnung und in der Erwartung -lebte, bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu erhalten. Der -letzte Umstand war zu unerklärlich und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam -der Gedanke, daß die Mutter möglicherweise etwas Schreckliches im Leben -ihres Sohnes ahne und sich fürchtete, zu fragen, um nicht etwas noch -entsetzlicheres zu erfahren. In jedem Falle aber sah Dunja klar, daß -Pulcheria Alexandrowna nicht bei gesundem Verstande war. - -Ein paarmal war es vorgekommen, daß sie selbst das Gespräch so führte, -daß es unmöglich war, bei Beantwortung ihrer Fragen nicht zu erwähnen, -wo sich Rodja jetzt aufhielt; als aber die Antworten natürlich -ungenügend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich traurig, düster -und schweigsam, und das dauerte eine ziemlich lange Zeit an. Dunja sah -schließlich ein, daß es schwer war, ihr etwas vorzulügen und zu -erdichten, und kam zu dem endgültigen Entschlusse, besser über bestimmte -Punkte vollkommen zu schweigen; aber es wurde immer deutlicher und -klarer, daß die arme Mutter etwas Schreckliches ahnte. Dunja entsann -sich unter anderem auch der Worte ihres Bruders, daß die Mutter ihre -Reden im Traume in der Nacht vor dem letzten schicksalsschweren Tage, -nach der Szene mit Sswidrigailoff vernommen habe. -- Sollte sie damals -etwas gehört und verstanden haben? Oft wurde die Kranke, zuweilen nach -Tagen und Wochen eines düsteren, finsteren Schweigens und wortloser -Tränen, von aufgeregter Lebhaftigkeit ergriffen und begann plötzlich -laut und unaufhörlich von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen, von der -Zukunft zu sprechen ... ihre Phantasien waren manchmal sehr sonderbar. -Man tröstete sie, man stimmte ihr bei; sie merkte vielleicht selbst, daß -man ihr beistimmte, sie bloß tröstete, aber dennoch redete sie ... - -Fünf Monate, nachdem sich der Verbrecher selbst gestellt hatte, erfolgte -das Urteil. Rasumichin besuchte ihn so oft im Gefängnis, als es nur -möglich war. Auch Ssonja kam zu ihm. Schließlich kam die Trennung; Dunja -schwur dem Bruder, daß diese Trennung nicht ewig währen würde; -Rasumichin tat dasselbe. In Rasumichins jungem und feurigem Kopfe war -unerschütterlich der Plan entstanden, -- in den nächsten drei, vier -Jahren möglichst den Grundstock zu einem Vermögen zu legen, wenigstens -etwas Geld zu ersparen und nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in -jeder Hinsicht reich war, aber wenig tatkräftige Menschen mit Kapital -existierten; dort in derselben Stadt, wo Rodja sein werde, sich -anzusiedeln und ... für alle zusammen ein neues Leben zu beginnen ... -Als der Abschied kam, weinten alle. Raskolnikoff war in den allerletzten -Tagen sehr nachdenklich, fragte viel nach der Mutter und war ihretwegen -in ständiger Unruhe. Er quälte sich sehr um sie, was Dunja wiederum -beunruhigte. Als er die Einzelheiten über den krankhaften Zustand der -Mutter erfahren hatte, wurde er sehr finster. Zu Ssonja war er in der -ganzen Zeit aus irgendeinem Grunde auffallend wortkarg. Ssonja hatte -sich schon längst mit Hilfe des Geldes, das ihr Sswidrigailoff gegeben -hatte, zur Reise vorbereitet und machte sich bereit, der Abteilung von -Sträflingen, mit denen er verschickt werden sollte, zu folgen. Darüber -war zwischen ihr und Raskolnikoff niemals ein Wort gewechselt worden, -doch beide wußten, daß es so sein werde. Beim letzten Abschiede lächelte -er eigen bei den heißen Beteuerungen der Schwester und Rasumichins über -ihrer aller glückliche Zukunft, sobald er die Zwangsarbeit abgebüßt -habe, und sagte im voraus, daß der krankhafte Zustand der Mutter bald -mit einem Unglücke enden würde. Er und Ssonja traten den Weg nach -Sibirien an. - -Zwei Monate nachher heiratete Dunetschka Rasumichin. Die Hochzeit war -traurig und still. Unter den Gästen waren auch Porphyri Petrowitsch und -Sossimoff. In der letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines fest -entschlossenen Menschen gewonnen. Dunja glaubte bestimmt, daß er alle -seine Pläne verwirklichen werde und mußte daran glauben, -- in diesem -Menschen steckte ein eiserner Wille. Unter anderem begann er wieder die -Vorlesungen in der Universität zu besuchen, um sein Studium -abzuschließen. Beide bauten immer Pläne für die Zukunft; beide rechneten -fest darauf, nach fünf Jahren nach Sibirien übersiedeln zu können. Bis -dahin hofften sie auf Ssonja ... - -Pulcheria Alexandrowna gab mit Freude der Tochter ihren Segen zur -Hochzeit mit Rasumichin; nach der Hochzeit aber wurde sie scheinbar noch -trauriger und sorgenvoller. Um ihr eine Freude zu machen, teilte ihr -Rasumichin unter anderem auch die Geschichte von dem Studenten und -seinem greisen Vater mit und auch, daß Rodja sich verbrannt habe und -sogar krank war, als er im vorigen Jahre zwei Kinder vor dem Flammentode -gerettet hatte. Beide Mitteilungen versetzten die verstörte Pulcheria -Alexandrowna fast in einen verzückten Zustand. Sie redete ununterbrochen -darüber, knüpfte Gespräche auf der Straße an, obwohl Dunja sie ständig -begleitete. In Omnibussen und in Läden, wenn sie bloß einen Zuhörer -fand, brachte sie das Gespräch auf ihren Sohn, auf seinen Artikel und -darauf, wie er einem Studenten geholfen habe, wie er bei der -Feuersbrunst Brandwunden erhalten habe und dergleichen mehr. Dunetschka -wußte nicht mehr, wie sie sie davon abhalten konnte. Abgesehen von der -Gefahr solch eines verrückten krankhaften Zustandes, drohte auch das -Unglück, daß jemand sich auf den Namen Raskolnikoff aus der -Gerichtsverhandlung besinnen und darüber etwas sagen konnte. Pulcheria -Alexandrowna hatte sogar die Adresse der Mutter von den zwei bei der -Feuersbrunst geretteten Kindern erfahren und wollte sie unbedingt -aufsuchen. Schließlich stieg ihre Unruhe bis aufs äußerste. Sie fing -zuweilen plötzlich an zu weinen, wurde oft bettlägerig und phantasierte -im Fieber. Eines Morgens erklärte sie, daß nach ihrer Berechnung Rodja -bald zurückkehren müsse, daß sie sich erinnere, wie er beim Abschiede -selbst erwähnt habe, daß man ihn nach neun Monaten erwarten solle. Sie -begann alles in der Wohnung in Ordnung zu bringen und Vorbereitungen zu -seinem Empfange zu machen, begann das für ihn bestimmte Zimmer, -- ihr -eigenes, -- zu schmücken, die Möbel zu putzen, Vorhänge zu waschen und -aufzuhängen und dergleichen mehr. Dunja wurde sehr unruhig, schwieg aber -und half ihr sogar, das Zimmer für den Bruder instand zu setzen. Nach -einem unruhigen Tage, der in ständigen Phantasien, in freudigen Träumen -und Tränen verging, erkrankte sie in der Nacht und lag am anderen Morgen -in Fieber und Fieberphantasien. Eine Nervenkrisis war ausgebrochen. Nach -zwei Wochen starb sie. In Fieberphantasien entrangen sich ihr Worte, aus -denen man annehmen mußte, daß sie bedeutend mehr über das schreckliche -Schicksal ihres Sohnes ahnte, als man geglaubt hatte. - -Raskolnikoff erfuhr lange nicht den Tod seiner Mutter, obwohl er mit -Petersburg schon seit dem Anfang seiner Übersiedlung nach Sibirien in -Briefwechsel stand. Ssonja vermittelte die Briefe und empfing auch -pünktlich jeden Monat eine Antwort aus Petersburg. Ssonjas Briefe -erschienen Dunja und Rasumichin zuerst etwas trocken und unbefriedigend; -aber beide fanden bald, daß man nicht besser schreiben konnte, denn aus -diesen Briefen empfing man doch zu guter Letzt eine ganz genaue und -klare Vorstellung von dem Schicksal ihres unglücklichen Bruders. Ssonjas -Briefe waren mit der alltäglichsten Wirklichkeit, mit der einfachsten -und klarsten Darstellung der ganzen Umgebung Raskolnikoffs in der -Zwangsarbeit angefüllt. Es gab dabei weder eine Darstellung ihrer -eigenen Hoffnungen, noch Träume um die Zukunft, noch Beschreibungen -ihrer Gefühle. Anstatt zu versuchen, seinen seelischen Zustand und -überhaupt sein ganzes Seelenleben zu erklären, beschränkte sie sich auf -Tatsachen, d. h. auf seine eigenen Worte, genaue Mitteilungen über -seinen Gesundheitszustand, seine Wünsche bei ihren Besuchen, seine -Aufträge und dergleichen mehr. Alle diese Nachrichten wurden mit der -äußersten Genauigkeit wiedergegeben. Das Bild des unglücklichen Bruders -trat schließlich hervor, zeichnete sich deutlich und klar ab; hier -konnte es keine Irrtümer geben, denn alles waren sichere Tatsachen. - -Aber wenig erfreuliches konnten Dunja und ihr Mann aus diesen -Nachrichten, besonders im Anfang, schöpfen. Ssonja teilte immer nur mit, -daß er ständig düster, wenig gesprächig sei und sich fast gar nicht für -die Nachrichten interessiere, die sie ihm jedesmal aus den von ihr -empfangenen Briefen überbrachte; daß er zuweilen nach der Mutter frage, -und als sie ihm schließlich ihren Tod mitteilte, nachdem sie gemerkt -hatte, daß er die Wahrheit ahne, da schien -- zu ihrer Verwunderung -- -auch die Nachricht von dem Tode der Mutter auf ihn keinen starken -Eindruck gemacht zu haben, wenigstens es schien ihr so nach seinem -Äußeren. Sie teilte auch unter anderem mit, daß er bei aller -Selbstversunkenheit und Verschlossenheit -- sich zu seinem neuen Leben -offen und schlicht verhalte; er begreife klar seine Lage, erwarte in der -nächsten Zeit nichts besseres, habe keine leichtsinnigen Hoffnungen, was -doch so verständlich in seiner Lage wäre, und wundere sich fast über -nichts in seiner neuen Umgebung, die so wenig Ähnlichkeit mit seinem -früheren Leben habe; seine Gesundheit sei befriedigend. Er gehe zur -Arbeit, der er nicht ausweiche und um die er nicht bitte. Dem Essen -gegenüber sei er fast gleichgültig, aber das Essen sei, außer an Sonn- -und Feiertagen, so schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Ssonja, -etwas Geld genommen habe, um seinen eigenen Tee sich zu halten; wegen -des übrigen habe er sie gebeten, sich nicht zu beunruhigen, und sie -versicherte, daß alle diese Sorgen um seine Person ihn bloß verdrießlich -machten. Weiterhin teilte Ssonja mit, daß er im Gefängnis in einem Raume -mit den anderen untergebracht sei; die inneren Räume und Kasernen habe -sie nicht gesehen, aber nehme an, daß sie eng, häßlich und ungesund -seien; er schlafe auf einer Pritsche, brauche, als Unterlage, Filz und -wolle nichts anderes haben. Er lebe aber so schlecht und ärmlich, nicht -aus einem bestimmten Plane oder absichtlich, sondern aus Unachtsamkeit -und äußerster Gleichgültigkeit gegen sein Schicksal. Ssonja machte kein -Hehl daraus, daß er, besonders im Anfang, sich nicht bloß für ihre -Besuche nicht interessierte, sondern über sie fast ungehalten war, wenig -mit ihr sprach, ja grob zu ihr war, daß aber schließlich diese -Zusammenkünfte ihm zur Gewohnheit und fast zum Bedürfnis geworden waren, -so daß er sich sogar grämte, wenn sie einige Tage krank war und ihn -nicht besuchen konnte. Sie sehe ihn an Sonntagen am Gefängnistore oder -im Wachthause, wohin man ihn auf einige Minuten zu ihr rufe; an -Werktagen sehe sie ihn bei der Arbeit, entweder in den Werkstätten oder -in der Ziegelei oder in den Scheunen am Ufer des Irtysch. Über sich -selbst teilte Ssonja mit, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt einige -Bekanntschaften anzuknüpfen und Protektion zu finden, daß sie sich mit -Nähen beschäftige, und da in der Stadt es fast keine Schneiderin gebe, -so sei sie in vielen Häusern ganz unentbehrlich geworden; aber sie -erwähnte nicht, daß durch sie auch Raskolnikoff Protektion bei seinen -Behörden gefunden habe, daß ihm leichtere Arbeiten zugeteilt wurden und -dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht -- (Dunja hatte in den -letzten Briefen eine besondere Aufregung und Unruhe herausgefühlt) --, -daß er alle meide, daß die Sträflinge ihn nicht gern hätten, daß er -tagelang schweige und sehr blaß werde. Plötzlich schrieb Ssonja in ihrem -letzten Briefe, daß er ernstlich erkrankt sei und im Hospital in der -Arrestantenabteilung liege ... - - - II. - -Er war schon lange vorher krank, aber nicht die Schrecken der -Zwangsarbeit, nicht die physische Arbeit, nicht die Nahrung, noch der -abrasierte Kopf, noch die gezeichnete Kleidung hatten ihn gebrochen, -- -oh! was gingen ihn alle diese Qualen und Martern an! Im Gegenteil, er -war über die Arbeit sogar froh, -- wenn er sich körperlich geplagt -hatte, erwarb er sich wenigstens dadurch einige Stunden ruhigen -Schlafes. Und was bedeutete ihm das Essen, -- diese fleischlose -Kohlsuppe mit Schwaben? Als er noch Student war, im früheren Leben, -hatte er oft auch das nicht mal gehabt. Seine Kleidung war warm und für -seine Lebensweise berechnet. Ketten fühlte er fast gar nicht. Sollte er -sich etwa seines rasierten Kopfes und der markierten Joppe schämen? Aber -vor wem denn? Etwa vor Ssonja? Ssonja fürchtete ihn, und sollte er sich -etwa vor ihr schämen? Was denn sonst? Er schämte sich freilich vor -Ssonja, die er durch seine verächtliche und grobe Behandlung quälte. -Aber er schämte sich nicht des rasierten Kopfes und der Ketten, -- sein -Stolz war verletzt; und er erkrankte an verwundetem Stolze. Oh, wie -glücklich wäre er, wenn er sich selbst anklagen könnte! Er würde dann -alles, sogar die Schande und die Schmach ertragen! Er saß aber streng -mit sich zu Gerichte, und sein erbittertes Gewissen hatte in seiner -Vergangenheit keine besondere Schuld gefunden, außer einem einfachen -_Irrtum_, der jedem passieren kann. Er schämte sich hauptsächlich -deswegen, daß er, Raskolnikoff, so blind, hoffnungslos, still und dumm, -infolge eines Spruches des blinden Schicksals, zugrunde gegangen war, -und daß er sich vor der »Sinnlosigkeit« eines Urteils beugen und -unterwerfen mußte, um einigermaßen zur Ruhe zu kommen. - -Eine gegenstandslose und zwecklose Unruhe in der Gegenwart und ein -ununterbrochenes Opfer in der Zukunft, durch das man nichts gewann, -- -das stand ihm in der Welt bevor. Und was lag daran, daß er nach acht -Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt war und von neuem zu leben beginnen -konnte? Wozu soll er leben? Was soll er in Aussicht haben? Wozu streben? -Zu leben, um zu existieren? Aber er war auch früher tausendmal bereit, -sein Leben für eine Idee, für eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie -hinzugeben. Das Leben allein war ihm stets wenig gewesen; er wollte -immer Größeres haben. Vielleicht hatte er sich auch damals, bloß nach -der Kraft seiner Wünsche, für einen Menschen, dem mehr, als einem -anderen erlaubt sei, gehalten. - -Wenn doch das Schicksal ihm Reue senden würde, -- eine brennende Reue, -die das Herz bricht, die den Schlaf verjagt, solch eine Reue, bei deren -schrecklichen Qualen einem die Schlinge und Wasser, wo es am tiefsten -ist, vorschwebt! Oh, er würde sich darüber freuen! Qualen und Tränen -- -das ist doch Leben. Aber er bereute nicht sein Verbrechen. - -Könnte er sich wenigstens über seine Dummheit ärgern, wie er sich früher -über die abscheulichen und dummen Handlungen geärgert hatte, die ihn -nach Sibirien gebracht hatten. Jetzt aber, im Gefängnisse, _in -Freiheit_, überlegte er und dachte über alle seine früheren Handlungen -nach und fand sie gar nicht so dumm und abscheulich, wie sie ihm früher -in der verhängnisvollen Zeit vorgekommen waren. - -»Wodurch, wodurch,« dachte er, »ist meine Idee dümmer, als die anderen -Ideen und Theorien, die in der Welt, solange diese Welt besteht, -herumschwirren und aneinanderprallen? Man braucht bloß die Sache von -einem völlig unabhängigen, weiten und von den alltäglichen Einflüssen -losgelösten Standpunkte zu betrachten, und da erscheint, sicher, mein -Gedanke gar nicht so ... sonderbar. Oh, ihr Verneiner und Weisen, von -einem Groschen Werte, warum bleibt ihr auf dem halben Wege stehen!« - -»Warum erscheint ihnen meine Handlung so abscheulich?« sagte er sich. -»Weil es eine böse Tat ist? Was bedeutet das Wort >böse Tat<? Mein -Gewissen ist ruhig. Gewiß, es ist ein Kriminalverbrechen geschehen; -gewiß, der Buchstabe des Gesetzes ist übertreten und Blut ist vergossen, -nun, nehmt da, für den Buchstaben des Gesetzes, meinen Kopf ... und -genug! Gewiß, in diesem Falle müßten viele Wohltäter der Menschheit, die -die Macht nicht geerbt, sondern selbst an sich gerissen haben, bei ihren -allerersten Schritten hingerichtet worden sein. Jene Menschen aber -ertrugen ihre Schritte und darum _sind sie im Rechte_, ich aber habe es -nicht ertragen, und also hatte ich nicht das Recht, mir diesen Schritt -zu gestatten.« - -Nur in diesem Punkte erkannte er sein Verbrechen, -- nur darin allein, -daß er es nicht ertragen und sich freiwillig gestellt hatte. - -Er litt auch unter dem Gedanken, daß er sich damals nicht das Leben -genommen hatte. Warum hatte er damals am Flusse gestanden und das -Geständnis vorgezogen? Steckt denn tatsächlich so eine Macht in diesem -Wunsche zu leben, und ist sie so schwer zu überwinden? Sswidrigailoff, -der sich vor dem Tode fürchtete, hatte es doch überwunden? - -Er stellte sich voller Qual diese Frage und konnte nicht verstehen, daß -er vielleicht schon damals, als er am Wasser stand, in sich selbst und -seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge geahnt hatte. Er verstand nicht, -daß diese Vorahnung eine künftige Umwälzung in seinem Leben, seine -einstige Auferstehung, eine neue Anschauung vom Leben bedeutete. - -Er ließ hierbei bloß den stumpfen Instinkt gelten, den er nicht imstande -war, zu brechen, und über den er wiederum nicht imstande war -- aus -Schwäche und Unbedeutendheit -- hinwegzuschreiten. Er betrachtete seine -Kameraden im Gefängnis und wunderte sich, -- wie auch sie alle das Leben -liebten und wie sie daran hingen! Ihm schien es sogar, daß man im -Gefängnisse noch mehr das Leben liebte und schätzte und mehr daran hing, -als in der Freiheit. Welche schrecklichen Qualen und Martern haben -manche von ihnen, wie zum Beispiel die Landstreicher, ertragen! Bedeutet -für diese Menschen wirklich soviel ein Sonnenstrahl, ein düsterer Wald, -oder eine kühle Quelle irgendwo im unbekannten Dickicht, die einer vor -ein paar Jahren gefunden und sich gemerkt hat, nach der er sich wie nach -einer Geliebten sehnt, und von der er träumt, die er im Traume, umgeben -von grünem Grase, sieht und hört, wie ein Vogel im Gebüsch singt? Indem -er seine Mitgefangenen betrachtete, fand er noch mehr unerklärliche -Beispiele dafür. -- Im Gefängnis, in seiner nächsten Umgebung, bemerkte -er selbstverständlich vieles nicht, und wollte auch nichts bemerken. Er -lebte wie mit geschlossenen Augen; es war ihm widerlich und unerträglich -zu sehen. Aber schließlich machte ihn doch vieles staunen und er begann -fast gegen seinen Willen einiges zu bemerken, was er früher nicht mal -geahnt hatte. Überhaupt und am meisten begann ihn jener furchtbare, -jener unüberbrückbare Abgrund zu verwundern, der zwischen ihm und allen -diesen Menschen lag. Es schien, als gehörten er und sie zu verschiedenen -Nationen. Er und sie betrachteten einander mißtrauisch und feindselig. -Er kannte und verstand die allgemeinen Ursachen solch eines -Getrenntseins; aber niemals hätte er früher zugegeben, daß diese -Ursachen in der Tat so tief und stark waren. Im Gefängnisse waren auch -verbannte Polen, politische Verbrecher. Jene betrachteten alle diese -Menschen als Ungebildete und Sklaven, und verachteten sie; Raskolnikoff -aber konnte sie in dieser Weise nicht betrachten, -- er sah deutlich, -daß diese Ungebildeten in vielen Dingen bedeutend klüger als diese Polen -waren. Es waren auch Russen da, die diese Leute ebenfalls zu stark -verachteten, -- da waren ein früherer Offizier und zwei Seminaristen. -Raskolnikoff sah auch klar ihren Irrtum. Ihn selbst aber liebten alle -nicht und gingen ihm aus dem Wege. Man begann sogar ihn schließlich zu -hassen. -- Warum? Er wußte es nicht. Man verachtete ihn, lachte über -ihn, und über sein Verbrechen machten sich jene lustig, die bedeutend -größere Verbrecher als er waren. - -»Du bist ein Herr!« sagte man ihm. »Schickte es sich für dich, mit einem -Beile zu gehen; das ist gar keine Arbeit für Herren!« - -In der zweiten Woche der großen Fastenzeit war seine Kaserne an der -Reihe, sich zum Abendmahle vorzubereiten. Er ging in die Kirche mit den -anderen. Eines Tages kam es zu einem Streit, -- er wußte selbst nicht, -aus welchem Grunde; alle stürzten sich plötzlich wütend über ihn. - -»Du bist ein Gottloser! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie. »Man -müßte dich umbringen.« - -Er hatte niemals mit ihnen über Gott und über Glauben gesprochen, aber -sie wollten ihn, als einen Gottlosen, töten; er schwieg und erwiderte -ihnen nichts. Ein Sträfling stürzte sich auf ihn in rasender Wut; -Raskolnikoff erwartete ihn ruhig und schweigend; seine Augenbraue zuckte -nicht mal, kein Zug seines Gesichtes rührte sich. Der Wachtsoldat -stellte sich noch rechtzeitig zwischen ihn und den Angreifer, -- sonst -wäre Blut geflossen. - -Für ihn war noch eins unerklärlich, -- warum hatten sie alle Ssonja so -lieb? Sie hatte sich bei ihnen nicht eingeschmeichelt; sie trafen sie -selten, bloß zuweilen bei den Arbeiten, wenn sie zu ihm auf einen -Augenblick kam, um ihn zu sprechen. Indessen aber kannten sie Ssonja -alle schon, wußten auch, daß sie _ihm_ gefolgt sei, wußten, wie sie -lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht, erwies ihnen auch -keine besonderen Dienste. Einmal bloß zu Weihnachten brachte sie für das -ganze Gefängnis eingesammelte Geschenke, -- Pasteten und Brezeln. Aber -allmählich hatte sich zwischen ihnen und Ssonja ein näheres Verhältnis -entwickelt, -- sie schrieb für sie Briefe an ihre Verwandten und sandte -sie mit der Post ab. Ihre Verwandten, die zur Stadt kamen, hinterließen -Ssonja auf deren Geheiß Sachen für sie und sogar Geld. Ihre Frauen und -Geliebten kannten Ssonja und besuchten sie. Und wenn sie zu Raskolnikoff -zur Arbeit kam oder einer Partie Sträflinge, die zur Arbeit gingen, -begegnete, -- nahmen alle die Mützen ab, alle grüßten sie, -- -»Mütterchen Ssofja Ssemenowna, du unsere zärtliche, liebe Mutter!« -sagten diese groben gebrandmarkten Zwangsarbeiter zu diesem kleinen und -mageren Geschöpfe. Sie lächelte ihnen zu. Sie liebten sogar ihren Gang, -sie wandten sich um, um ihr nachzusehen, wie sie ging, und lobten sie; -sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten nicht mehr, -wofür sie sie bloß loben sollten. Zu ihr kamen sogar Leute, sich von ihr -kurieren zu lassen. - -Raskolnikoff verbrachte die Fastenzeit und Ostern im Krankenhause. -Während er schon genas, erinnerte er sich seiner Träume, als er noch im -Fieber gelegen hatte. Er träumte in der Krankheit, daß die ganze Welt -einer schrecklichen, unerhörten und nie dagewesenen Pest, die aus den -Tiefen Asiens über Europa kam, zum Opfer fallen sollte. Alle sollten -zugrunde gehen, außer einigen sehr wenigen Auserwählten. Es waren neue -Trichinen erschienen, mikroskopische Wesen, die sich in die Körper von -Menschen einnisteten. Aber diese Wesen waren Geister, ausgerüstet mit -Verstand und Willen. Die Menschen, in denen sie sich eingenistet hatten, -wurden sofort wie Besessene und wahnsinnig. Aber noch niemals hielten -sich die Menschen für so klug und unerschütterlich in ihrer Weisheit, -als es die Angesteckten taten. Niemals hielten sie ihre Urteile, ihre -wissenschaftlichen Ergebnisse, ihre sittlichen Überzeugungen und ihren -Glauben für unerschütterlicher, als jetzt. Ganze Dörfer, ganze Städte -und Völker wurden angesteckt und gebärdeten sich wie wahnsinnig. Alle -waren in Unruhe und verstanden einander nicht, jeder meinte, daß er -allein bloß die Weisheit kenne, und verging vor Qual beim Anblick der -anderen, schlug sich an die Brust, weinte und rang die Hände. Man wußte -nicht, wen und wie man richten sollte, man konnte nicht übereinkommen, -was als Böses und was als Gutes anzusehen war. Man wußte nicht, wen man -anklagen, wen man freisprechen solle. Die Menschen töteten einander in -einer sinnlosen Wut. Ganze Armeen sammelten sie gegeneinander, aber die -Armeen begannen schon auf dem Marsche plötzlich sich selbst zu -bekriegen, die Reihen zerstörten sich, die Soldaten stürzten sich -aufeinander, stachen und töteten, bissen und fraßen einander auf. In den -Städten läutete den ganzen Tag die Sturmglocke, -- man rief alle -zusammen, aber wer und warum er rief, wußte niemand, alle aber waren in -größter Unruhe. Man ließ das gewöhnliche Handwerk fallen, denn jeder kam -mit seinen Gedanken, mit seinen Verbesserungen, und man konnte sich -nicht einigen; der Ackerbau stockte. Hie und da liefen Menschen -zusammen, einigten sich über etwas, schwuren einander nicht zu -verlassen, -- aber sofort begannen sie etwas ganz anderes zu tun als -das, was sie soeben beschlossen hatten, fingen an einander zu -beschuldigen, prügelten sich und mordeten sich. Feuersbrünste -entstanden, Hungersnot trat ein. Alle und alles ging zugrunde. Die Pest -schwoll an und verbreitete sich immer weiter und weiter. In der ganzen -Welt konnten sich bloß einige Menschen retten; das waren Unschuldige und -Auserwählte, die bestimmt waren, ein neues Menschengeschlecht und ein -neues Leben zu begründen, die Erde zu erneuern und zu säubern, aber -niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte -und Stimme gehört. - -Raskolnikoff quälte es, daß dieser sinnlose Traum so traurig und -schmerzlich sein Gedächtnis belastete, daß der Eindruck dieses -Fiebertraumes so lange nicht verschwinde. Die zweite Woche nach Ostern -hatte schon begonnen; es waren warme, klare Frühlingstage; in der -Arrestantenabteilung des Hospitals hatte man die vergitterten Fenster, -unter denen ein Wachposten auf- und abging, geöffnet. Ssonja konnte ihn -während seiner ganzen Krankheit bloß zweimal besuchen; man mußte -jedesmal eine Erlaubnis auswirken, und das war sehr schwer. Aber sie war -oft auf den Hof des Hospitals, besonders gegen Abend, unter sein Fenster -gekommen, zuweilen aber auch bloß, um einen Augenblick auf dem Hofe -stehen zu bleiben und wenigstens von weitem die Fenster seiner Abteilung -zu sehen. Eines Tages war Raskolnikoff, der fast genesen war, gegen -Abend eingeschlafen; als er erwachte, trat er zufällig an das Fenster -und erblickte plötzlich fern am Tore Ssonja. Sie stand dort und schien -auf etwas zu warten. In diesem Augenblicke war es ihm, als würde sein -Herz durchbohrt; er zuckte zusammen und ging schnell vom Fenster weg. Am -anderen Tage erschien Ssonja nicht, ebenfalls nicht am nächstfolgenden -Tage; er merkte, daß er sie voll Unruhe erwarte. Endlich entließ man ihn -aus dem Hospital. Als er ins Gefängnis kam, erfuhr er von den -Sträflingen, daß Ssonja Ssemenowna krank sei, zu Hause liege und nicht -ausgehe. - -Er war sehr beunruhigt und ließ sich nach ihr erkundigen. Er erfuhr -bald, daß ihre Krankheit nicht gefährlich sei. Als Ssonja ihrerseits -hörte, daß er sich so um sie grämte und sorgte, schickte sie ihm ein mit -Bleistift geschriebenes Zettelchen und teilte ihm mit, daß es ihr besser -gehe, daß sie eine leichte Erkältung habe und daß sie bald, sehr bald zu -ihm kommen werde. Als er diesen Zettel las, schlug sein Herz stark und -schmerzhaft. - -Es war wieder ein klarer und warmer Tag. Am frühen Morgen, um sechs Uhr, -ging er zur Arbeit an den Fluß, wo am Ufer in einer Scheune ein Ofen zum -Alabasterbrennen eingerichtet war, und wo der Alabaster gestoßen wurde. -Dorthin gingen bloß drei Arbeiter. Der eine Sträfling war mit dem -Wachtposten in die Festung nach einem Instrument gegangen; der andere -holte Holz und legte es in den Ofen. Raskolnikoff trat aus der Scheune, -ging an das Ufer, setzte sich auf aufgestapelte Balken hin und blickte -lange auf den breiten und öden Fluß. Von dem hohen Ufer aus zeigte sich -die weite Umgebung. Von dem anderen entlegenen Ufer klang kaum hörbar -ein Lied herüber. Dort in der unübersehbaren Steppe, übergossen von der -Sonne, zeigten sich in kaum merklichen dunklen Punkten die Zelte eines -Wandervolkes. Dort lag Freiheit, dort lebten andere Menschen, die den -hiesigen gar nicht ähnelten, dort schien die Zeit stehen geblieben zu -sein, als wäre das Jahrhundert Abrahams und seiner Herden noch nicht -vorüber. Raskolnikoff saß und blickte unverwandt hinüber, ohne sich -losreißen zu können; sein Gedanke verwandelte sich in einen Traum; er -dachte an nichts, aber eine tiefe Schwermut lag auf ihm und quälte ihn. - -Plötzlich trat Ssonja neben ihn. Sie war leise herangekommen und setzte -sich zu ihm. Es war noch sehr früh, die Morgenkälte war noch nicht -verschwunden. Sie hatte ihren alten ärmlichen kleinen Pelz an und das -grüne Tuch. Ihr Gesicht trug noch die Spuren von Krankheit, war magerer, -blasser und eingefallen. Sie lächelte ihm freudig und freundlich zu, -aber reichte ihm schüchtern, wie immer, ihre Hand. - -Sie reichte ihm stets die Hand so schüchtern, zuweilen gar nicht, als -fürchte sie, daß er sie von sich stoßen würde. Er nahm auch stets ihre -Hand wie mit Widerwillen, begrüßte sie stets wie verdrießlich, zuweilen -schwieg er hartnäckig die ganze Zeit während ihres Besuches. Es kam vor, -daß sie zitternd und in tiefem Kummer fortging. Jetzt aber lösten sich -ihre Hände nicht; er blickte sie schnell und flüchtig an, sagte nichts -und schlug seine Augen nieder. Sie waren allein, niemand sah sie. Der -Wachtposten hatte sich gerade umgedreht. - -Wie es gekommen war, wußte er selbst nicht, aber plötzlich schien ihn -etwas zu packen und zu ihren Füßen zu ziehen. Er weinte und umfaßte ihre -Knie. Im ersten Augenblicke erschrak sie heftig und ihr Gesicht war -totenblaß. Sie sprang zitternd auf und sah ihn an. Aber sie begriff im -Nu alles. In ihren Augen leuchtete ein grenzenloses Glück; sie hatte -verstanden und es gab für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebte, -grenzenlos liebte, und daß endlich dieser Augenblick gekommen war ... - -Sie wollten sprechen, aber konnten nicht. Tränen standen in ihrer beider -Augen. Beide waren sie bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und -bleichen Gesichtern leuchtete schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, -der völligen Auferstehung zu neuem Leben. Die Liebe hatte sie erweckt, -das Herz des einen enthielt eine unerschöpfliche Lebensquelle für das -Herz des anderen. - -Sie beschlossen zu warten und zu dulden. Sieben Jahre hatten sie noch zu -warten; bis dahin soviel unerträgliche Qual und soviel grenzenloses -Glück! Aber er war aufgestanden und er wußte es, fühlte es ganz und gar -mit seinem neuen Wesen, sie aber -- sie lebte ja doch bloß in ihm! - -Am Abend desselben Tages, als die Kasernen schon geschlossen waren, lag -Raskolnikoff auf seiner Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage -schien es ihm, als ob alle Sträflinge, seine früheren Feinde, ihn mit -anderen Augen ansahen. Er fing selbst mit ihnen zu sprechen an und man -antwortete ihm freundlich. Er erinnerte sich an all dies jetzt, aber es -mußte doch wohl so kommen, -- _mußte_ sich denn nicht jetzt alles -ändern? - -Er dachte an sie. Er erinnerte sich, wie er sie immer gequält und ihr -Herz gepeinigt hatte; erinnerte sich ihres blassen, mageren -Gesichtchens, aber sie quälten ihn jetzt nicht, diese Erinnerungen, -- -er wußte, mit welcher unendlichen Liebe er jetzt alle ihre Leiden sühnen -würde. - -Und was waren alle diese Qualen der Vergangenheit! Alles, sogar sein -Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung erschienen ihm jetzt in -der ersten Aufwallung als etwas äußerliches, fremdes, als etwas, das -nicht ihm passiert sei. Er konnte an diesem Abend gar nicht lange und -ständig an etwas denken, seine Gedanken auf etwas konzentrieren; er -hätte jetzt nichts bewußt beschließen können; er _fühlte_ bloß. An -Stelle der Dialektik war das Leben getreten, und in seinem Bewußtsein -begann sich etwas ganz anderes herauszuarbeiten. - -Unter seinem Kopfkissen lag das Neue Testament. Er nahm es mechanisch -hervor. Dieses Buch gehörte ihr, es war dasselbe, aus dem sie ihm über -die Erweckung des Lazarus vorgelesen hatte. Im Anfang seiner Verbannung -fürchtete er, daß sie mit der Religion ihn zu Tode quälen würde, daß sie -über das Evangelium sprechen und ihm Bücher verschaffen würde. Aber zu -seinem größten Staunen hatte sie nie darüber gesprochen, ihm nie das -Evangelium angeboten. Er hatte sie selbst kurz vor seiner Krankheit -darum gebeten, und sie brachte ihm schweigend das Buch. Bis jetzt hatte -er es noch nicht aufgeschlagen. - -Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke kam ihm, -- »müssen -denn ihre Überzeugungen jetzt nicht auch meine Überzeugungen sein? Ihre -Gefühle, ihr Streben, wenigstens ...« - -Sie war auch diesen ganzen Tag in großer Erregung, und in der Nacht -wurde sie sogar wieder krank. Aber sie war so glücklich, daß sie fast -erschrak vor ihrem Glücke. Sieben Jahre, _bloß_ sieben Jahre! Im Anfange -ihres Glückes, in manchen Augenblicken, waren sie beide bereit, diese -sieben Jahre als sieben Tage zu betrachten. Er dachte nicht einmal -daran, daß ein neues Leben sich ihm nicht umsonst biete, daß er es noch -teurer erkaufen müsse, dafür mit einer großen künftigen Tat bezahlen -müsse ... - -Aber hier fängt schon eine neue Geschichte an, die Geschichte der -allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner -allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus einer Welt in -die andere, der Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig -unbekannt gewesenen Wirklichkeit. Das könnte das Thema zu einer neuen -Geschichte abgeben, -- unsere jetzige aber ist zu Ende. - - - - - Fußnoten - - -[1] Die drei ersten Helden Puschkinscher Werke, die zwei letzten -Lermontoffscher. E. K. R. - -[2] Herrman, der Held in Puschkins »Pique Dame«. E. K. R. - -[3] Anspielung auf das Petersburger Denkmal Peters des Großen. E. K. R. - -[4] Ein Platz im Kreml zu Moskau, auf dem früher die Hinrichtungen -stattfanden. E. K. R. - -[5] Die sogen. Raskolniki, von denen es seit der Kirchenspaltung (1666) -mehrere Sekten gibt. E. K. R. - -[6] Dieser Schein wird von der Polizei den Prostituierten ausgestellt. - -[7] Ein Reisgericht, das zur Seelenmesse für die Toten in die Kirche -mitgenommen wird, vom Priester geweiht und dann mit Andacht verzehrt -wird. - -[8] Ein kleines gitarrenähnliches Instrument. - -[9] Radischtscheff hat zu Katherinas II. Zeiten ein Buch »Die Reise nach -Moskau« veröffentlicht; er beschrieb den traurigen Zustand des Landes, -geißelte die Leibeigenschaft; sein Buch wurde von der Freundin Voltaires -verbrannt, war lange Zeit nachher noch verboten; der Verfasser wurde -nach Sibirien verbannt. - -[10] Dobroljuboff war ein führender Kritiker und Publizist in den -sechziger Jahren. - -[11] Der größte Kritiker und Publizist der vierziger Jahre. - -[12] Echte, wahre Bücher werden bei den Altgläubigen und einigen -Sektierern das Alte und Neue Testament, die Lebensbeschreibungen der -Heiligen und der Märtyrer, benannt, wenn sie nach den Originalen vor der -Zeit des Patriarchen Oikon (1652) gedruckt sind; um diese Zeit wurden -die Texte revidiert und seit dieser Zeit existiert die sogenannte -»altgläubige Kirche«. - - - - - Übersetzung französischer Textstellen - - -{[1]} es lebe der ewige Krieg - -{[2]} Genug geredet! - -{[3]} friß oder stirb (wörtlich: Ihr Hunde sollt sterben, wenn es euch -nicht paßt) - -{[4]} nur legitim - -{[5]} vom Wein bekomme ich schlechte Laune - -{[6]} Ihnen zuliebe - -{[7]} ganz einfach - -{[8]} das ist unerläßlich - -{[9]} differenziert - -{[10]} wörtlich - -{[11]} Steh gerade! - -{[12]} sprich französisch mit mir - -{[13]} Fünf Sous - -{[14]} Marlborough zog in den Krieg / Keiner wusste wie lang - -{[15]} Fünf Sous, fünf Sous / Zur Gründung unseres Heims - -{[16]} gleiten, gleiten, im Baskenschritt! - -{[17]} Grabrede - -{[18]} lieber Freund - -{[19]} Natur und Wahrheit - -{[20]} Wo hat sie diese Tugenden versteckt? - -{[21]} viel Glück - -{[22]} eine Theorie unter vielen - - - Anmerkungen zur Transkription - -Die »Sämtlichen Werke« erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen -Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und -Ausgaben 1906--1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert -nach: - - F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. - Erste Abteilung: Erster Band. - Erste Abteilung: Zweiter Band. - Rodion Raskolnikow (Schuld und Sühne). - R. Piper & Co. Verlag, München, 1922. - 23.--35. Tausend. - -Für diese ebook-Ausgabe wurden der erste und der zweite Band vereinigt. - -Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der »Sämtlichen -Werke« vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den -ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, -Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt -nach der Titelseite eingefügt. - -Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. - -Die Bearbeiter haben diesem Text Übersetzungen der französischen -Textstellen in Form von Fußnoten hinzugefügt und der _public domain_ zur -Verfügung gestellt. - -Diese zusätzlichen Fußnoten sind mit { } markiert. - -Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen -(»«) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von -Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (><) eingeschlossen. - -Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der -Buchstabe »ä« (oder aouh "jä") steht für den kyrillischen Buchstaben -»ja«. Die Schreibweise häufig vorkommender russischer Namen wurde -vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): - - Afanassi (Afanasi, Afanassji) - Aljona (Aljena, Alena) - Bakalejeff (Bakaljeff) - Lebesjätnikoff (Lebesjatnikoff) - Louisa (Luisa, Louise) - Poletschka (Poljetschka) - Polja (Polje) - Porphyri (Porfirij, Porphiri) - Ssemjon (Ssemen) - Ssofja (Ssofje) - Ssonja (Ssonje) - -Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere -Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des -russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher): - - [S. 207]: - ... »Sicher ich es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch ... - ... »Sicher ist es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch ... - - [S. 237]: - ... volle Minute gedauert hatte und daß sie sich solange einander ... - ... volle Minute gedauert hatte und daß sie solange einander ... - - [S. 247]: - ... »Hast du ihn gesehen.« ... - ... »Hast du ihn gesehen?« ... - - [S. 307]: - ... seiner schämte, und er schleunigst anderen, alltäglichen - Sorgen ... - ... seiner schämte, und er sich schleunigst anderen, alltäglichen - Sorgen ... - - [S. 313]: - ... eingeladen, mit ihnen die Tee zu trinken, -- sie hatten in ... - ... eingeladen, mit ihnen den Tee zu trinken, -- sie hatten in ... - - [S. 320]: - ... Bitte aussprechen, daß bei unserer gemeinsamen ... - ... Bitte auszusprechen, daß bei unserer gemeinsamen ... - - [S. 367]: - ... Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß geschienen, ... - ... Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß so geschienen, ... - - [S. 426]: - ... »Erscheinen bei Ihnen etwa?« ... - ... »Erscheinen sie bei Ihnen etwa?« ... - - [S. 475]: - ... Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Mal ihr - aufgetaucht ... - ... Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Male ihr - aufgetaucht ... - - [S. 505]: - ... irgendein mathematisches Exempel, wie Zwiemalzwei, bringen, ... - ... irgendein mathematisches Exempel, wie Zweimalzwei, bringen, ... - - [S. 526]: - ... Mörder, du bist Mörder ...<, und jetzt, wo er es eingestanden ... - ... Mörder, du bist der Mörder ...<, und jetzt, wo er es - eingestanden ... - - [S. 537]: - ... war, kehrte er noch wütender und gereizter nach Hause, ... - ... war, kehrte er noch wütender und gereizter nach Hause zurück, ... - - [S. 541]: - ... aufrichtigsten Weise ihm dienen. ... - ... aufrichtigsten Weise ihr dienen. ... - - [S. 569]: - ... -- Paß, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen ... - ... -- Pan, heda!« rief sie plötzlich einem von ihnen ... - - [S. 572]: - ... so war ich stets von ihm sicher,« fuhr Katerina ... - ... so war ich stets seiner sicher,« fuhr Katerina ... - - [S. 633]: - ... »Sie würden vielleicht später noch erschauern bei dem - Gedanken, ... - ... »Sie würde vielleicht später noch erschauern bei dem - Gedanken, ... - - [S. 642]: - ... »Das kenne ich, ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte ... - ... »Das kenne ich aus Erfahrung,« sagte der Beamte ... - - [S. 670]: - ... Reihenfolge noch zu erzählen, wie es damals begonnen ... - ... Reihenfolge nach zu erzählen, wie es damals begonnen ... - - [S. 701]: - ... Sagen Sie mir, wozu soll ich mit enthalten? Warum ... - ... Sagen Sie mir, wozu soll ich mich enthalten? Warum ... - - [S. 722]: - ... da folgen.« ... - ... da folgen?« ... - - [S. 725]: - ... Wüstling und Schuften erwarten!« rief er unwillkürlich ... - ... Wüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich ... - - [S. 765]: - ... Just lese deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum dritten ... - ... Just lese ich deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum - dritten ... - - [S. 772]: - ... begreifen nichts.« ... - ... begreife nichts.« ... - - - - - - -End of the Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 1-2: Rodion -Raskolnikoff (Schuld und Sühne), by Fjodor Michailowitsch Dostojewski - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SAMTLICHE WERKE 1-2: RODION RASKOLNIKOFF *** - -***** This file should be named 58238-8.txt or 58238-8.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/5/8/2/3/58238/ - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -http://www.pgdp.net. 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms of -the Project Gutenberg License included with this eBook or online at -www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have -to check the laws of the country where you are located before using this ebook. - -Title: Sämtliche Werke 1-2: Rodion Raskolnikoff (Schuld und Sühne) - -Author: Fjodor Michailowitsch Dostojewski - -Contributor: Dmitri Mereschkowski - -Editor: Arthur Moeller van den Bruck - -Translator: E. K. Rahsin - -Release Date: November 5, 2018 [EBook #58238] -Last updated: September 5, 2019 - -Language: German - -Character set encoding: ISO-8859-1 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SAMTLICHE WERKE 1-2: RODION RASKOLNIKOFF *** - - - - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -http://www.pgdp.net. This book was produced from images -made available by the HathiTrust Digital Library. - - - - - - -</pre> +<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58238 ***</div> <div class="frontmatter chapter"> <p class="ser"> @@ -39434,381 +39391,7 @@ russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher): -<pre> - - - - - -End of the Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 1-2: Rodion -Raskolnikoff (Schuld und Sühne), by Fjodor Michailowitsch Dostojewski - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SAMTLICHE WERKE 1-2: RODION RASKOLNIKOFF *** - -***** This file should be named 58238-h.htm or 58238-h.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/5/8/2/3/58238/ - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -http://www.pgdp.net. This book was produced from images -made available by the HathiTrust Digital Library. - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part -of this license, apply to copying and distributing Project -Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm -concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, -and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive -specific permission. If you do not charge anything for copies of this -eBook, complying with the rules is very easy. 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