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-The Project Gutenberg EBook of Hans und Suse in der Stadt, by Trude Bruns
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Hans und Suse in der Stadt
-
-Author: Trude Bruns
-
-Release Date: December 8, 2019 [EBook #60878]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-http://www.pgdp.net
-
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-
- Anmerkungen zur Transkription
-
- Der vorliegende Text wurde anhand der 1921 erschienenen Buchausgabe
- so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
- Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und
- heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber
- dem Original unverändert.
-
- Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersicht halber vom Bearbeiter
- eingefügt.
-
- Eine gesperrte Passage wurde mit +Pluszeichen+ umgeben.
-
- ####################################################################
-
-
-
-
- [Illustration]
-
-
-
-
- Jungmädchen
- Bücher
-
- Herausgeber:
-
- Ernst Wilmanns
-
- [Illustration]
-
- K. Thienemanns Verlag Stuttgart
-
- 1921
-
-
-
-
- Hans und Suse
- in der Stadt
-
- von
-
- Trude Bruns
-
- [Illustration]
-
- K. Thienemanns Verlag Stuttgart
-
- 1921
-
-
-
-
- Buchausstattung nach Entwurf von Fritz Eich, Bielefeld.
- Die Bilder zu diesem Bande sind von Ralf Winkler gezeichnet.
- Copyright 1921 by K. Thienemanns Verlag in Stuttgart.
- Druck von J. F. Steinkopf in Stuttgart.
-
-
-
-
-Inhalt
-
-
- Erstes Kapitel -- Die gefährliche Stadt 5
-
- Zweites Kapitel -- Die Flucht 35
-
- Drittes Kapitel -- Das Kamel 69
-
- Viertes Kapitel -- Der Missionar 101
-
- Fünftes Kapitel -- Christines Reise 116
-
- Sechstes Kapitel -- Schluß 136
-
-
-
-
-Erstes Kapitel
-
-Die gefährliche Stadt
-
-
-Es war noch früh am Morgen, gegen ein halb sieben ungefähr, da waren
-Hans und Suse, die beiden Doktorskinder, die bei Frau Cimhuber, der
-Pfarrwitwe, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, schon wach. Voll
-Unruhe hatten sie ihr Lager verlassen, sich angezogen und saßen nun fix
-und fertig am Tisch in Susens Zimmer, bereit zur Schule zu gehen.
-
-Dabei waren es ganze anderthalb Stunden vor Schulanfang. Aber die
-beiden hatten nun mal keine Ruh und Rast, seit sie hier in der Stadt
-weilten, und ihre Aufregung verriet sich in ihrem ganzen Wesen und
-Aussehen. Wie Schatten ihrer selbst sahen sie aus.
-
-Suse, die kecke, übermütige Suse, die sonst ihren Kopf mit der
-fürwitzigen Nase so hoch zu tragen pflegte, hielt ihn trübselig
-gesenkt. Und ihr Bruder Hans sah aus seinen großen, dunklen Augen
-verängstigt um sich. Die beiden fühlten sich ebenso verlassen und
-ausgestoßen hier in dieser fremden Stadt, in der sie gerade einen Tag
-verbracht hatten und in der sie doch eine lange Zeit bleiben sollten,
-um die höheren Schulen zu besuchen. -- Weit weg, an das andere Ende
-der Welt, schien ihnen ihr Elternhaus, das freundliche Arzthäuschen,
-gerückt; und dabei war es doch nur eine Tagereise entfernt und lag in
-den Bergen, deren Umrisse man an hellen Tagen wie eine feine Linie am
-Horizont wahrnehmen konnte.
-
-„Hans,“ sagte das kleine Mädchen plötzlich, „was meinst du, sind Frau
-Cimhuber und Ursel schon wach?“
-
-„Ich glaub’, mir ist’s, als hätt’ ich jemand auf Pantoffeln gehen
-hören,“ erwiderte der Bruder... „vielleicht war’s Ursel.“
-
-Suse nickte.
-
-Und halb zu Hans gewandt, halb wie im Selbstgespräch fuhr sie fort:
-„Gräßlich alt ist Ursel schon. Über sechzig Jahre. Und vierzig Jahre
-ist sie schon bei Frau Cimhuber gewesen. Das ist viel länger als unsere
-Rosel. Rosel ist gerade neun Jahre bei uns. Das ist einunddreißig Jahre
-weniger als Ursel.“
-
-„Du Suse,“ fragte Hans mit einem Male, „was hat eigentlich gestern
-abend Frau Cimhuber über Ursel gesagt, als sie vor uns auf dem Sofa
-gesessen ist und deine Hand gehalten hat und uns so lange angesehen
-hat?“
-
-„Das weißt du schon nicht mehr!“ rügte Suse, die so gern dem jüngeren
-Bruder gegenüber die Überlegene, Belehrende spielte. „Wirklich, das
-weißt du nicht mehr? -- Sie hat gesagt: ihr sollt Ursel stets mit
-Rücksichtnahme und Respekt begegnen; denn sie ist über vierzig Jahre in
-meinem Dienst und ist mir eine getreue Beraterin und bewährte Freundin
-gewesen, eine Stütze meines Hauses in Not und Gefahr. Nicht nur in
-fröhlichen Zeiten, sondern auch in trüben Zeiten voller Aufopferung und
-Liebe und echt christlichen Sinnes. Gehorcht ihr wie mir!“
-
-„Aber, Suse, so viel hat sie nicht gesagt,“ fiel Hans ein.
-
-„Doch, Hans, ganz bestimmt!“
-
-Und Suse wiederholte noch einmal: „Nicht nur in fröhlichen Zeiten,
-sondern auch in trüben Zeiten, voller Aufopferung und Liebe. Gehorcht
-ihr wie mir!“ -- Liebte sie es doch über die Maßen, feierliche Worte
-mit schöner Betonung aufzusagen, vor allem Gesangbuchverse oder Stellen
-aus Predigten, die sie Sonntags in der Kirche daheim auffing und nicht
-immer dem Sinn nach verstand. -- Und mit großer Genugtuung bemerkte
-sie bei diesen Gelegenheiten jedesmal, wie Hans, der schwerfälliger
-beim Auswendiglernen war als sie, bewundernd zu der begabten Schwester
-aufsah.
-
-Wieder war es nun still in dem Zimmer, bis Hans plötzlich leise fragte:
-„Magst du eigentlich Frau Cimhuber gern?“
-
-Das kleine Mädchen wurde feuerrot, sah verlegen vor sich hin und
-schüttelte dann ihr Haupt.
-
-Da stieg auch dem Bruder die Verlegenheitsröte in die Wangen, und er
-gestand der Schwester, daß er die Pfarrfrau ebensowenig leiden möge.
-
-„Aber, Hans, wir müssen sie lieb haben,“ rügte da Suse, sich flugs
-ihres Amtes als Lehrmeisterin in allen Tugenden dem Bruder gegenüber
-entsinnend, „wir müssen sie lieb haben, das haben der Vater und die
-Mutter uns ausdrücklich befohlen.“
-
-„Wenn ich aber nicht kann,“ meinte Hans gedrückt, „was soll ich da
-machen?“ Und als die Schwester schwieg, forschte er halblaut weiter:
-„magst du Ursel gern, Suse?“
-
-„Ja,“ wollte die Schwester sagen, aber ihr fiel ein, daß dies gelogen
-wäre, und so verweigerte sie dem Bruder lieber jede Auskunft.
-
-Er wartete noch ein Weilchen und fuhr dann mehr flüsternd als redend
-fort: „Eine gräßlich große Nase hat Ursel. Gelt? -- Und eine solch’
-dicke Warze mit einem langen Haare drauf.“
-
-„Ja, ja,“ fiel Suse mit einem Male lebhaft ein, „ein ganz stacheliges
-Haar ist’s. -- Weißt du, Hans, genau so wie die Hexe in dem
-Märchenbuch, das uns Tante Anna geschenkt hat.“
-
-„Ja, daran hab’ ich auch schon gedacht,“ meinte der Bruder ebenso
-lebhaft wie sie.
-
-„Hans, Hans, jetzt haben wir schon wieder was Schlechtes gesprochen,“
-meinte Suse schuldbewußt. „Immer fangen wir wieder von der Nase an.
-Diesmal hast du angefangen. Das dürfen wir doch nicht. Der Vater und
-die Mutter haben uns doch befohlen, daß wir nicht von den Fehlern und
-Gebrechen anderer Leute reden.“
-
-„Aber von großen Nasen haben sie nichts gesagt. Und große Nasen sind
-auch nichts Schlimmes. Die von dem Großvater von unserem Pfarrer,
-der vorigen Herbst zu Besuch bei ihm war, die war noch viel größer.
-Weißt du denn nicht mehr? Weißt du denn nicht mehr, wie viel wir davon
-gesprochen haben? Und du hast am meisten davon gesprochen. Und wie hast
-du gelacht, als Theobald gesagt hat, seine Nase ist so groß wie die von
-einem Nußknacker!“
-
-„Da waren wir auch noch viel jünger, Hans.“
-
-„Jünger, Suse? Ein halbes Jahr ist’s her.“
-
-Hier achtete die Schwester nicht weiter auf des Bruders Reden, sondern
-sah mit gespanntem Ausdruck nach der Tür, vor der schlürfende Schritte
-und Stimmen zu hören waren. -- Sicher gingen Frau Cimhuber und ihre
-Magd vorüber. Ganz still verhielten sich nun die Kinder, bis die
-Geräusche draußen verklungen waren, dann stand Hans leise auf, ging auf
-den Zehenspitzen zur Türe und spähte über den langen Gang.
-
-„Du, Suse,“ flüsterte er im nächsten Augenblick zurück, „sie sind jetzt
-in der Küche. Ich höre sie. Und hör’ mal, Suse, die Negerstube ist
-offen. Komm’ mal, wenn du sie sehen willst.“
-
-„Wo, wo? Wirklich, laß’ mich mal sehen,“ rief Suse und war in zwei
-Sprüngen an der Seite des Bruders. Ganz aufgeregt sah sie über den Gang
-nach Frau Cimhubers Staatsgemach, der „Negerstube“, hin. -- So hatten
-die Kinder das Zimmer der Pfarrfrau getauft, weil es die merkwürdigsten
-Dinge aus fremden Ländern enthielt: Löwen- und Tigerfelle, ausgestopfte
-Affen, Vögel, Waffen und Bilder von Negern, Gefäße aus Holz und Stein
-und einen großen Götzen.
-
-„Dort hinten, guck, dort hinten sitzt der Gott,“ flüsterte Suse, ihren
-Bruder am Arm packend. „Dort sitzt er.“
-
-Und die beiden sahen wie gebannt auf das seltsamste Stück des ganzen
-Raumes, einen schwarz angestrichenen Negergott, der mit seinem
-bienenkorbdicken Leib und runden Schädel vergnügt von einer Säule in
-der Ecke herüber grinste.
-
-„Man meint, er lebt,“ flüsterte Suse „Für hundert Tafeln Schokolade
-möchte ich ihn nicht anfassen. Und du, Hans?“
-
-In diesem Augenblicke hörten die beiden wieder Schritte und flohen in
-ihr Zimmer zurück. Irgend jemand kam -- Ursel oder die Pfarrfrau.
-
-Gleich darauf wurde die Klinke ihrer Tür niedergedrückt, und Frau
-Cimhuber stand auf der Schwelle.
-
-Sie war gekommen, die Kinder zu wecken.
-
-Langsamen Schrittes wich sie zurück, als sie der beiden ansichtig wurde.
-
-„Aber Kinder,“ sagte sie dann vorwurfsvoll, „ihr solltet ja noch
-schlafen! Ich wollte euch jetzt erst wecken. Was soll das heißen?“
-
-„Wir sind schon aufgewacht, und dann sind wir aufgestanden,“ stotterte
-Suse, „entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, wir sind schon aufgestanden.“
-
-Dann schluckte das Kind dreimal trocken runter vor Schrecken und
-fuhr noch verwirrter als bislang fort: „Entschuldigen Sie, wir haben
-gemeint, Sie haben keine Kinder. Und da verschlafen Sie, weil Sie keine
-Kinder haben, haben wir gemeint. Und da hat auch Hans gesagt, es ist
-der Frau Cimhuber sicher sehr angenehm, wenn wir aufstehen. Und da sind
-wir aufgestanden.“
-
-Der Bruder, der daneben stand, biß sich auf die Lippen, aus Beschämung
-über all das krause Zeug, das seine Schwester daherredete.
-
-Frau Cimhuber aber schüttelte ihren Kopf und sagte: „Aber Kinder, ich
-habe euch gestern abend doch ausdrücklich gesagt, ihr sollt liegen
-bleiben, bis wir euch wecken. Ich habe es zweimal gesagt. Ihr müßt euch
-besser an das Gehorchen gewöhnen.“
-
-Die Kinder fuhren zusammen und sahen sich erschrocken an. Sie aber
-merkte nichts davon und fuhr mit vorwurfsvoller Stimme fort: „Vor einer
-halben Stunde ist der Kaffee überhaupt nicht fertig. Wir trinken immer
-erst zehn Minuten vor ein halb acht Uhr Kaffee. So lange müßt ihr euch
-gedulden.“
-
-Und nach diesen Worten ging sie wiederum zur Türe hinaus.
-
-„Jetzt ist sie böse auf uns,“ sagte Suse, als sie gegangen war, und
-Hans nickte.
-
-„Wenn sie uns aber den Kaffee zu spät gibt?“ sagte er schließlich. „Was
-dann?“
-
-„Dann laufen wir ohne Kaffee fort!“ erklärte Suse. Inzwischen war Frau
-Cimhuber wieder langsam zur Küche zurückgegangen, um mit Ursel, ihrer
-alten Magd und Vertrauten, über die Kinder zu reden. Vor der Tür von
-Ursels Reich stieß sie einen schmerzlichen Seufzer aus, den die alte
-Magd sicher gehört hätte, wenn sie nicht gerade dabei gewesen wäre, der
-alten abgeleierten Kaffeemühle einen Klaps zu geben, damit die paar
-letzten Bohnen, die widerspenstig über dem Mahlwerk herumhüpften, den
-schon zerriebenen nachpolterten.
-
-Gleich darauf trat nun die Pfarrfrau dicht vor Ursel, und diese mußte
-aufsehen. Und in dem Augenblick, in dem sie ihr Haupt hob, konnte
-man den Schrecken verstehen, den ihr Anblick den Kindern einflößte.
-Von ihrem dichtvermummten Haupt waren nur eine lange Nase und ein
-entrüstetes Auge zu sehen, denn alles andere war durch Wolltücher
-verhüllt, deren Wärme der alten Magd heftige Zahnschmerzen vertreiben
-sollte.
-
-„Ursel, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber, indem sie ihre gefalteten Hände
-auf ihre schwarze Schürze sinken ließ. „Die Kinder sind schon wach. Sie
-sitzen schon angezogen in der Stube.“
-
-„Was, schon wach?“ fragte Ursel fast triumphierend, „da haben wir’s!
-Das hab’ ich ja gleich gesagt. Die beiden bringen alles zuwege.
-Merkwürdige Kinder sind’s. Solche Kinder hab’ ich hier herum noch gar
-nicht gesehen. Sehen Sie einmal den Buben an, wie dem die Augen im Kopf
-herumfahren. Und das Mädchen, das geht ja auf der Straße gar nicht wie
-andere Leute. Die ist gestern mitten im Weg stehen geblieben und hat
-die Leute angesehen wie Meerwunder. Und wie ich sie gefragt habe, was
-sie denn sieht, hat sie gestottert und keine Antwort gegeben. -- Die
-rechten Hinterwäldler. Eine Elektrische haben sie hier zum erstenmal
-gesehen, ein Auto ist ihnen auch was ganz Neues. -- Nur einmal haben
-sie zwei ganz weit weg im Tal gesehen, hat der Bub gesagt. -- Und
-denken Sie sich an, Frau Pfarrer, gestern fährt da ein Auto an uns
-vorbei, da fällt das Mädchen gleich auf mich drauf vor Schrecken und
-jammert: ‚Oh, wie hat der Wagen geschrien, wie eine Kuh! haben Sie
-nicht gehört, Ursel?‘ Ich habe noch blaue Flecke am Arm. Wie ein Krebs
-ist’s an mir gehängt.“
-
-„Ja, Ursel, wir müssen Geduld haben,“ fiel Frau Cimhuber ein, „wir
-müssen Geduld haben. Bedenken Sie doch, die Kinder waren noch nie
-aus ihrem Gebirgsdorf fort und nun kommen sie zum erstenmal hierher.
-Recht ist es ja nicht von den Eltern gewesen, daß sie noch nie vorher
-eine Reise mit ihnen gemacht haben. Eine kleine Reise hätten sie
-wohl schon machen können. Jetzt ist’s zu spät. Jetzt ist ihnen alles
-fremd, und alles verwirrt sie. Und dann... und dann... das muß ich ja
-selbst zugeben, ein bißchen unerzogen sind sie, auch ein klein wenig
-verwildert. Das sind solche Landkinder immer. Jetzt müssen wir sie eben
-zu Gehorsam und Pünktlichkeit erziehen, und alles andere wird sich
-finden.“
-
-„Gewiß, Frau Pfarrer, aber wir werden uns noch verwundern,“ meinte
-Ursel. „Ich hab’ ja immer gesagt, lassen Sie es sein, nehmen Sie keine
-Kinder, wir sind zu alt dazu.“
-
-„Ja, aber Edwin wollte es doch. Sie wissen es doch auch, Ursel. Er
-hat immer gesagt: nimm dir ein paar Kinder ins Haus, Mutter, damit du
-Zerstreuung hast und nicht auf traurige Gedanken kommst. Mit Kindern
-bleibt man jung. Erst in seinem letzten Brief hat er mir wieder davon
-geschrieben. Und wie da bei mir angefragt wurde, ob ich die beiden
-Kinder von dem Doktor aus Schwarzenbrunn nehmen wollte, da hab’ ich ja
-gesagt. Denn es ist mir vorgekommen wie ein Wink des Himmels.“
-
-„Na, wir wollen sehen, wie noch alles wird,“ meinte Ursel. „An viel
-Gutes glaub’ ich nicht.“
-
-Inzwischen warteten die Kinder sehnsüchtig auf den Kaffee, und als er
-nach einer halben Stunde immer noch nicht da war, konnten sie ihre
-Unruhe nicht mehr bemeistern. Suse schnallte ihren Ranzen auf, ging
-unruhig im Zimmer hin und her und blieb schließlich an der Tür stehen,
-die Klinke in der Hand.
-
-„Sie rufen immer noch nicht, Hans,“ meinte sie ungeduldig. „Sie rufen
-immer noch nicht. -- Weißt du was, wir laufen ohne Kaffee fort.“
-
-„Das dürfen wir nicht, da wird Frau Cimhuber böse,“ entgegnete er.
-
-„Aber wir kommen ja zu spät,“ sagte sie, hin und her trippelnd, „wir
-kommen zu spät. Und wir dürfen doch nicht zu spät kommen, Hans; ich
-will nicht zu spät kommen. Ich traue mich sowieso schon nicht in die
-Schule. Dann traue ich mich erst recht nicht. Lieber will ich keinen
-Kaffee.“
-
-„Hopp, wir gehen,“ ermunterte das kleine Mädchen den Bruder, öffnete
-im selben Augenblick die Tür und eilte auf den Vorplatz. Gerade wollte
-sie mit dem Bruder in das Treppenhaus huschen und ein Stückchen von
-seinem Ranzen schwebte noch um die Ecke, da schaute Ursel verwundert
-zur Küche hinaus und hörte auf den Lärm. Mit einem Sprung war sie auf
-dem Vorplatz und von dort auf der Treppe, holte die beiden Flüchtlinge
-ein und führte sie in die Wohnung zurück.
-
-„Nicht übel, nicht übel,“ sagte sie. „Wenn ich’s mir nicht gedacht
-hätte! Wollt ihr schon durchbrennen? Jetzt mal hier herein ins Eßzimmer
-und trinkt euern Kaffee.“
-
-Und gleich darauf saßen die beiden mit erhitzten Gesichtern der
-Pfarrfrau gegenüber am Kaffeetisch und sahen, wie ihre Pflegemutter
-traurig den Kopf schüttelte, wobei sich die Perlenschnüre ihres
-Häubchens verwirrten und sie mit anklagender Stimme sagte: „Ihr müßt
-euch mehr an das Gehorchen gewöhnen. Ihr wißt doch, daß wir euer
-Bestes, euer Allerbestes wollen.“
-
-„Ja, das haben Vater und Mutter auch gesagt, daß Sie so gut zu uns
-sind,“ stotterte Suse, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Aber
-wir haben so Angst, daß wir zu spät zur Schule kommen. Wir möchten
-lieber keinen Kaffee.“
-
-„Wir sorgen dafür, daß ihr nicht zu spät kommt,“ sagte die Pfarrfrau.
-„Ich habe es schon einmal gesagt, ihr müßt Vertrauen zu uns haben.
-Ursel und ich wollen euer Allerbestes.“
-
-Die Kinder aßen und tranken verschüchtert und ängstlich, fast mit
-Widerstreben und waren froh, als sie endlich aufstehen und sich
-entfernen durften.
-
-In großer Eile liefen sie die Treppe hinunter auf die Straße. Jetzt
-waren sie ja frei. Frau Cimhubers Haus gegenüber führte eine Brücke
-über den Kanal, und dort hinüber ging ihr Weg. Gerade als sie die
-Brücke überschritten, kam ein mit Steinen beladenes Schiff daher.
-Düster aussehende Männer, die an die Holzhauer in der Doktorskinder
-Heimatsort erinnerten, standen auf dem Kahn und stießen ihn mit langen
-Stangen vorwärts. Langsam zog er unter der Brücke durch, dumpf hallten
-die Stimmen der Männer herauf, und langsam kam er auf der andern Seite
-wieder zum Vorschein.
-
-Eine Weile folgten ihm die Kinder mit ihren Blicken, dann gingen sie
-weiter. Und während sie so dahinschlenderten, fiel Suse mit einemmal
-eine Reihe hoher, freischwebender Buchstaben ins Auge, die auf dem
-Dachfirst eines Hauses jenseits des Kanals standen. Sie machte ihren
-Bruder darauf aufmerksam.
-
-„Hans, dort oben, guck, dort,“ rief sie, „war es nicht dort, wo gestern
-die hellen Buchstaben herumgehüpft sind, als die Lichter angezündet
-wurden und wir aus dem Fenster gesehen haben? Weißt du nicht mehr?
-Herrlich war das, gelt, wie immer einer hinter dem andern hergesprungen
-ist. Und wupp, waren sie alle miteinander weg und ausgelöscht. Und
-dann kamen sie wieder und sind wieder hintereinander hergesprungen.
-Das ist das Allerschönste hier. Am liebsten möchte ich eigentlich, daß
-wir auch daheim auf unserem Haus solche große Buchstaben hätten. Das
-wäre herrlich. Dann kämen alle Leute des Abends herbei und guckten sich
-unser Haus an. Und der Vater und die Mutter und wir ständen am Fenster
-und freuten uns über unser schönes Haus. Nicht wahr?“
-
-Der Bruder nickte, hatte aber wenig acht auf der Schwester Rede,
-sondern mehr auf den Weg; denn er hatte die Führung übernommen und Suse
-versprochen, sie an ihrer Schule abzuliefern.
-
-So war es ja immer. In gewöhnlichen Zeiten leitete die Schwester den
-Bruder gern, aber in schweren Tagen, wenn Not an den Mann trat, war er
-der leicht eingeschüchterten Suse treuster Führer. Wie ein geschickter
-Steuermann führte er sie jetzt, mit den Augen scharf nach allen Seiten
-spähend, und sie benutzte die Zeit derweil, um ihren Gefühlen in den
-merkwürdigsten Stoßseufzern Luft zu machen.
-
-„Ach, ich möcht’, ich wäre schon in der Schule,“ sagte sie einmal. Dann
-wieder: „Ach, ich möcht’, ich wäre schon wieder aus der Schule heraus.
--- Ach, ich möcht’, ich wäre bei den Eltern..., ach, ich möchte, Frau
-Cimhuber wäre nicht so alt und Ursel sähe nicht so böse aus.“
-
-Und plötzlich packte sie den erschreckten Bruder am Arm und raunte ihm
-zu: „Jetzt, Hans, jetzt paß auf, jetzt darfst du nicht auf die rechte
-Seite gucken. Da kommt das Haus, von dem ich dir gesagt habe, vor dem
-die toten Rehe auf der Straße liegen. Und alle haben sie ihre Köpfe
-herumgedreht, und ihre Hälse sind wie gebrochen. Und blutig sind sie,
-lauter Blut ist um sie herum, große Blutlachen schwimmen um sie herum.
-
-Mir ist’s ganz schlecht geworden. Und du glaubst gar nicht, wie traurig
-sie mich angesehen haben. Und Hasen hängen dort, sicher hundert, an den
-Beinen.“
-
-„Wo hängen die Hasen an den Beinen?“ fragte Hans aufgeregt.
-
-„Guck nicht hin, Hans,“ wehrte Suse, „ich bitte dich, guck nicht hin,
-Hans!“ Und dann flüsterte sie ihm mit erschrecktem Gesichte zu: „Ein
-Mörder wohnt dort, ganz gewiß, Hans. Ich habe darüber nachgedacht, es
-ist ein Mörder.“
-
-Es stimmte. Suse hatte gestern darüber nachgesonnen und dank ihrer
-lebhaften Phantasie eine wahre Schauergeschichte zusammengestellt,
-wonach ein Zauberer viel hundert Prinzessinnen in Rehe verwandelt und
-getötet hatte, weil sie ihm nicht gehorcht hatten.
-
-Um den Bruder nun möglichst schnell aus dem Bereich des gefährlichen
-Zauberers zu bringen, packte sie Hans am Arm und zog ihn mit sich. Er
-aber widersetzte sich und fragte hastiger als vorher: „Wo sind die Rehe
-und Hasen, die an den Beinen hängen, Suse; wo hast du sie gesehen? Ich
-möchte sie auch sehen.“
-
-„Nein, nein,“ wehrte sie.
-
-Es währte aber nicht lange, so entdeckte er selbst die Tiere, die vor
-einem Verkaufsladen am Wege lagen, und blieb davor stehen.
-
-„Brr, blutig,“ sagte er und begann dann von einem Firmenschild über dem
-Eingang die Inschrift abzulesen: Wildbret- und Geflügelhändler Moormann.
-
-„Der verkauft die Rehe,“ erklärte er seiner Schwester.
-
-„Nein, das tut er nicht,“ widersprach sie, packte ihn fester am Ärmel
-und bat: „Lieber, lieber Hans, komm doch mit. Du sollst hier nicht
-stehen bleiben und dir das gräßliche Blut ansehen und alles ablesen.
-Wir müssen uns ja schämen.“
-
-„Warum müssen wir uns schämen?“ fragte er verwundert. „Und warum soll
-ich nicht alles ablesen? Der Vater und die Mutter haben doch selbst
-gesagt, wir sollen auf alles aufpassen!“
-
-Die beiden maßen sich mit feindlichen Blicken. Und es wäre zwischen
-ihnen sicher zum Streit gekommen, wenn sie nicht daran gedacht hätten,
-daß sie in dieser gefährlichen Zeit ja treu zueinander halten müßten.
-
-Drum folgte der Bruder der Schwester willig.
-
-„Der halbe Weg ist jetzt um,“ sagte Suse mit einem Seufzer. „Aber das
-Allerärgste kommt noch. Jetzt müssen wir noch über den großen Platz
-’rüber. -- Wenn wir über den ’rüber sind, dann ist alles gut!“
-
-„Warum fürchtest du dich?“ fragte Hans. „Der ist doch nicht schlimm!“
-
-„Nicht schlimm, Hans? Am aller-, allerschlimmsten in der ganzen Stadt!
-Denke doch, da fahren die Elektrischen und die Wagen und die Radfahrer
-und die Autos, das sind die allergräßlichsten Dinger, die es gibt. --
-Hans, hab’ ich dir denn schon gesagt, daß ich gestern mit Ursel eins
-gesehen habe, das hat gebrüllt wie eine wilde Kuh.“
-
-„Was hat’s gemacht?“ fragte Hans und blieb wie angewurzelt stehen. „Was
-hast du gesagt, wie eine wilde Kuh hat’s gebrüllt? So was hab’ ich aber
-doch noch nicht gehört. Ein Automobil brüllt doch nicht, es tutet. Die
-Kühe brüllen und die Automobile tuten.“
-
-„Nein, Hans, es gibt Autos, die brüllen wie Kühe, so wahr und gewiß,
-wie ich hier stehe. Sie fangen ganz leise an, und dann schreien sie
-laut auf, daß du meinst, die Ohren wackeln dir, und dann weinen sie
-leise wie der Michel, wenn er an die Kette gelegt wird, und dann sind
-sie ganz still.“
-
-„Das möcht ich aber gern mal hören,“ sagte Hans begeistert. „Wann hast
-du das gehört? Wo hast du das gehört?“
-
-„Nein, Hans, wünsch’ dir das nicht; dann muß ich so laut an zu weinen
-fangen, wie du noch niemals von mir gehört hast. Da sollst du mal
-sehen!“
-
-Hans ging in Gedanken weiter und achtete lange nicht seines Weges,
-bis er mit einem Male einen Knaben mit einem Ranzen anrannte und sich
-erinnerte, daß ihre Zeit knapper wurde.
-
-Auch Suse fuhr aus Träumen auf. Denn ihre Gedanken waren weit
-ab gewandert, der fernen Heimat zu, und sie hatte den Schulweg
-ihres Dörfleins verlockend vor sich liegen sehen. Dort war sie
-stets in größter Seelenruhe und im gemütlichen Schritt die Straße
-hinuntergeschlendert und hatte im Übermut auch wohl mal die Augen
-geschlossen gehalten, wenn es ihr gerade beliebt hatte. Was konnte ihr
-dort auch Gefährliches in den Weg kommen! Ein Hühnchen, ein Hund, eine
-Katze vielleicht; was lag denn dran? Stolperte sie auch drüber und fiel
-auf die Nase, so bedeutete das doch kein Unglück.
-
-Aber hier!
-
-Suse schaute sich erschreckt um. Sie waren ja schon in der Straße
-angekommen, die auf den gefährlichen Platz führte. -- Gewiß, dort zur
-rechten Seite nah’ ihrer Mündung auf den Platz, lag das Schilderhaus,
-an dem sie gestern mit Ursel vorübergegangen war, und das sie sich
-gemerkt hatte, weil dort ein gefährlich aussehender, brummiger,
-grimmiger Soldat gestanden war.
-
-„Dort hinten steht der Soldat!“ flüsterte sie jetzt ihrem Bruder zu.
-„Dort möchte ich nicht gern vorbei, Hans. Denn er hat mich gestern so
-zornig angesehen, als ich vorbeiging, als wollte er mich erschießen.“
-
-„Das meinst du nur so,“ beruhigte Hans. „Er schießt nicht. Er tut
-keinem Menschen etwas. Der steht Wache. Komm nur mit und guck ihn dir
-ruhig an.“
-
-Langsam und zögernd setzte das kleine Mädchen einen Fuß vor den andern.
-
-Noch einige Schritte fehlten, dann mußten sie bei der Wache sein -- da
-sah sie ihr entgegen auf demselben Bürgersteig einen Offizier kommen.
-Sein Säbel rasselte hinter ihm her.
-
-Und nun horchte Suse plötzlich erschreckt auf und blieb wie angewurzelt
-stehen. Hinter sich hatte sie einen Ton vernommen, der ihr Blut
-erstarren ließ. -- Ach, sich umzusehen hätte sie nicht gewagt, um alle
-Schätze der Welt nicht. -- Ein Huschen, Sausen und Gleiten war zu
-hören -- und sie wußte jetzt, jetzt kam’s hinter ihr her, ihr Feind,
-das Automobil. Eines von den Ungeheuern, die wie auf Filzpantoffeln
-heranglitten, einen mit ihren Augen, groß wie Messingkübel, frech
-anstarrten und dann aufschrien wie wilde Kühe.
-
-Das kleine Mädchen zitterte und bebte am ganzen Körper und zog den Kopf
-aus Schrecken über den ersten fürchterlichen Ton, der kommen müsse,
-leicht zwischen die Schultern.
-
-Und jetzt war sie mit Hans bei dem Soldaten angelangt, und auch der
-Offizier war ganz nahe.
-
-Da -- hui -- flog das Automobil daher und mitten vor dem Schilderhaus
-gellte und schrie es laut auf, als wollte es zerspringen. Schauerlich
-war’s.
-
-Da sprang der Soldat vor sein Schilderhaus, scharrte mit den Füßen, riß
-sein Gewehr von der Schulter und streckte es dem Offizier hin.
-
-Und in demselben Augenblick erklang in dem Automobil ein Krachen, als
-wolle es in hundert Stücke zerbersten.
-
-Da schrie Suse laut um Hilfe, ließ ihre Butterbrotbüchse fallen und
-stürmte in verkehrter Richtung davon.
-
-„Ach, Mutter,“ jammerte sie, „ach, Mutter.“
-
-Sie hatte bestimmt gesehen, wie der Offizier, der Soldat und das
-Automobil aufeinander drauf geflogen waren und geborsten waren.
-
-Sie hatte ganz und gar den Kopf verloren, die arme Suse.
-
-„Suse,“ rief der Bruder und eilte so schnell er konnte, hinter ihr her.
-„Bleib doch stehen, wart doch!“
-
-In einer entlegenen Straße holte er sie endlich ein.
-
-„Sie sind alle tot,“ rief sie ihm zu, „gelt, und das Schilderhaus ist
-auch kaput?“
-
-„Nein, sie sind alle lebendig,“ rief er.
-
-„Ach, wär’ ich doch daheim, ach, wär’ ich doch daheim,“ jammerte Suse
-da.
-
-Hans war kreidebleich. Der Schrecken über Suses Flucht und der
-Spektakel am Schilderhaus hatten ihm auch etwas die Fassung geraubt.
-Und nun sagte er sich, daß sie sich verlaufen hätten und wohl zu spät
-zur Schule kämen.
-
-Wie die beiden noch so rat- und hilflos dastanden, nahte mit einem Male
-ein Retter.
-
-Ein Knabe kam des Wegs, der die beiden Dorfkinder schon aus der Ferne
-musterte.
-
-Unter seinem Arm schleppte er ein Paket Bücher, die Nase mit den
-Sommersprossen trug er keck in der Luft, die Mütze hatte er tief in die
-Stirn gezogen, und seine blitzenden blauen Augen richteten sich dreist
-jedem Vorübergehenden in das Gesicht.
-
-„Servus,“ rief er plötzlich, daß es über die Straße schallte, „da
-schlag doch einer lang hin! Seh’ ich recht?“
-
-Hans und Suse horchten auf, folgten der Richtung des Rufes, erkannten
-den Rufer und jubelten laut: „Theobald, Theobald!“
-
-Ja, er war’s! Theobald, einer ihrer zahlreichen Vettern. Die Krone
-ihrer Vettern sozusagen.
-
-Dieser Knabe hatte sie nämlich schon einige Male mit seinen Besuchen
-in ihrem einsamen Gebirgsdorfe beehrt und auch seine letzten Ferien
-dort verbracht. Damals war zwar viel öfters als sonst in der Hand ihres
-Vaters, des Doktors, eine geschmeidige Haselgerte zu sehen gewesen, die
-dann auf Theobalds Rücken lustige Tänze ausgeführt hatte.
-
-Aber schöne Zeiten waren’s doch gewesen.
-
-„Na, seh’ ich recht, das seid ihr,“ rief er noch einmal. „Ihr seht gut
-aus. Was ist denn los mit euch? Der Hans schaut aus wie der schönste
-Rahmkäse, und die Suse weint Tränen, als hätte sie eine Schüssel mit
-gehackten Zwiebeln zum Frühstück bekommen.
-
-Was tut ihr eigentlich hier in dieser Straße, die euch gar nichts
-angeht? Hat eure Pflegedame euch schon vor die Türe gesetzt? Seid ihr
-eurer Cimhuberin schon ausgekniffen?“
-
-„Frau Cimhuber heißt’s,“ verbesserte Suse.
-
-„Wir haben uns verlaufen,“ erklärte Hans.
-
-„Und deshalb dies Lamento und die verheulten Gesichter?“ meinte der
-Vetter wegwerfend. „Ihr gehört wirklich noch ins Wickelkissen! Heftet
-euch von nun an an meine Fersen! Ich werde euch sicher führen.“
-
-Suse zog ihr Taschentuch hervor, trocknete ihre Tränen und sah
-zuversichtlich auf Theobald, der ihr sicher und großartig vorkam, wie
-die feinen Stadtherren, die sich nicht fürchteten, und wenn ihnen die
-Automobile wie ein Rudel Wölfe hinterher kamen.
-
-„Hört, meine Kleinen,“ fuhr der Vetter mit wichtiger Miene fort. „Erst
-bringen wir den geknickten Lilienstengel, die Suse in ihre Schule, dann
-gehen Hans und ich weiter und schreiten stolz erhabenen Hauptes durch
-die Pforten unseres Pennals...“
-
-Hier unterbrach der Vetter seine eigene Rede, runzelte die Brauen
-und betrachtete in Nachdenken versunken die Haltestelle der Trambahn
-jenseits der Straße.
-
-„Hm! Hm!“
-
-Er hatte einen Gedanken.
-
-Wenn er jetzt aber seinen Vetter und seine Cousine auf eigene Kosten
-zur Schule fahren ließe! Das wäre fein! Da hätte er ja Gelegenheit,
-sich wie der herrlichste Millionär diesen Dorfkindlein gegenüber
-aufzuspielen, so recht von oben herab wohltätig. Vorgestern waren
-die beiden Hinterwäldler ja zum ersten Male in ihrem Leben in einer
-Eisenbahn gefahren und gestern in einer Elektrischen.
-
-Und da hatte seine Cousine voll Begeisterung zu ihm gesagt, man
-meine, man fahre mit der Elektrischen in den Himmel hinein. Eine
-solche Himmelfahrt konnte man ihnen ja leicht verschaffen. Noch einen
-Augenblick überlegte der Vetter, dann faßte er in seine Westentasche,
-zog drei Zehnpfennigstücke hervor und sagte: „Hört, unsere Zeit ist
-knapp. Wir fahren jetzt zur Schule. Ich stifte euch die Fahrscheine.“
-
-In den Augen der Kinder leuchtete es hell auf, ein Umstand, den
-Theobald mit Befriedigung wahrnahm.
-
-„Die nächste Elektrische, die kommt,“ belehrte er sie, „müssen wir
-nehmen! Verstanden? Und zwar im Sturm. Sonst kommen wir zu spät.
-Verstanden? Ihr habt also keine Zeit, die sämtlichen Reklameschilder
-und Aufschriften daran zu studieren, bevor ihr einsteigt. Merkt’s
-euch! Und dann laßt euch nicht etwa einfallen, andere Leute vor euch
-einsteigen zu lassen und um sie herum zu scharwenzeln und zu sagen:
-bitte, bitte, gehen Sie zuerst hinein und treten Sie uns ruhig auf die
-Hühneraugen; das ist uns eine ganz besondere Freude. -- Nein, sobald
-ihr den Wagen seht, rennt ihr drauf los wie die Wilden, schiebt alle
-Leute zur Seite und schreit: Verzeihung, Verzeihung, und klettert auf
-die Plattform wie die Affen.“
-
-„Sie kommt,“ rief Theobald, „jetzt drauf los.“
-
-Und er stürmte vor ihnen her wie ein Held zur Schlacht. „Verzeihung,
-Verzeihung,“ schrie er und drängte die Leute zur Seite.
-
-„Verzeihung,“ rief Hans hinter ihm.
-
-„Verzeihung,“ sagte Suse kleinlaut.
-
-Und den Kopf ein wenig geneigt eilte sie vorwärts, sich an Hansens
-Ranzen festhaltend.
-
-Theobald schob eine Frau zur Seite, einen alten Herrn, ein Kind. --
-Jetzt hatte er den Griff der Elektrischen gefaßt und schwang sich
-hinauf. Da stauten sich die Menschen. Hans und Suse konnten ihren
-Vetter nicht mehr sehen. Auf der Plattform aber entstand jetzt ein
-fürchterliches Gedränge, ein Schieben und Stoßen, ein Reißen und
-Wühlen. Und eine zornige Stimme übertönte alle: „Wer schreit mir da
-fortwährend Verzeihung in die Ohren? Wart’ einmal!“
-
-Und im nächsten Augenblick sahen Hans und Suse, wie ein Mann ihren
-Vetter, das feine Stadtherrlein Theobald, am Kragen gepackt hielt und
-heftig hin und her schüttelte, als wär’s eine Pflanze, deren Erdreich
-gelockert werden müsse. Und mit einem Schwung wollte er ihn auf die
-Straße setzen. Aber da wandte Theobald sich um, hielt sich an dem Herrn
-fest und nahm ihn gleich zwei Stufen die Elektrische mit hinunter. Ums
-Haar wären beide am Boden gelegen.
-
-Da klingelte die Elektrische und fuhr davon. Im letzten Augenblick
-konnte der Herr noch aufspringen.
-
-Theobald aber, der seinen Hut verloren hatte, mußte diesen erst mal
-suchen. In der Mitte der Straße erblickte ihn da sein Vetter Hans, hob
-ihn auf und übergab ihn dem Raufbold Theobald, indem er vor peinlicher
-Verlegenheit über und über rot wurde, denn Theobalds rechte Wange
-glühte wie ein Rosenbusch, und fünf schneeweiße Finger kamen allmählich
-darauf zum Vorschein.
-
-Der kaltblütige Theobald aber hatte sich schnell wieder gefaßt und
-murmelte entrüstet: „Feige Gesellschaft! Sobald einer nur etwas forsch
-auftritt, bekommen sie alle gleich Angst für ihr Leben. Ich hätte nur
-meine rechte Hand frei haben sollen, da hätten mich keine zehn Pferde
-da oben runter gebracht.“
-
-Und diese Worte brachten flugs der Doktorskinder Bewunderung für den
-herrlichen Vetter wieder zum Blühen. Erwartungsvoll sahen sie jetzt zu
-ihm auf und beobachteten, wie er mit gerunzelten Brauen seine silberne
-Uhr aus der Tasche zog und wichtig drauf nieder sah.
-
-„Jetzt aber vorwärts,“ rief er mit scharfer Stimme. „Noch fünf Minuten,
-dann beginnt die Schule.“
-
-Im nächsten Augenblick flogen die Kinder dahin wie die Windspiele. Vor
-der Tür von Susens Schule ließen die Knaben das kleine Mädchen zurück.
-
-„Ich hol dich ab, Suse,“ waren des Bruders letzte Worte; dann war er
-fort. Suse war allein.
-
-Sie ging zögernden Schrittes durch ein großes, eisernes Gittertor in
-den Hof, der vor ihr lag, und von dort in das hohe rote Schulgebäude,
-über dessen Eingang in großen schwarzen Buchstaben: höhere
-Mädchenschule zu lesen war.
-
-Im ersten Stock befand sich ihre Klasse. Sie hatte es gestern erfahren,
-als sie zur Aufnahme in die Schule geprüft wurde, und ging nun dorthin.
-
-Lautes Sprechen, Lachen und Lärmen drang aus dem Innern der Schulstube
-heraus und verkündete ihr, daß ihre Mitschülerinnen wohl schon
-vollzählig versammelt seien.
-
-Das Herz klopfte ihr. Langsam nahm sie ihren Hut und ihre Jacke ab und
-hängte sie an einem Hakenbrett im Gange auf. Ängstlich schielte sie
-nach der Klassentüre. -- Eine Weile zögerte sie noch; dann faßte sie
-mit schnellem Entschluß den Griff der Tür, drückte ihn nieder und trat
-ein.
-
-Totenstille empfing sie. Wie auf einen Schlag waren Lachen und Lärmen
-verstummt, und die Augen sämtlicher kleinen Mädchen richteten sich auf
-Suse. Sie glaubte in den Boden sinken zu müssen vor Verwirrung, und
-ihre Füße waren schwer wie Blei. Endlich konnte sie sich wieder regen
-und ging nun langsam vorwärts, der letzten Bank zu, in der sie einen
-freien Platz entdeckt hatte. Leise sagte sie zu den kleinen Mädchen an
-ihrer Seite guten Tag, erhielt aber keine Antwort, da ihr Gruß nicht
-gehört worden war. Und nun begann auch plötzlich wieder das Kichern,
-das Lärmen und Reden und verstummte erst, als es punkt acht Uhr war und
-die Lehrerin eintrat.
-
-An dem Pult ganz vorne nahm sie Platz. Das kleine Mädchen hob
-schüchtern seine Augen, konnte aber nur ein Stückchen ihres rechten
-Ohres erkennen; alles übrige war durch zwei kleine vor Suse sitzende
-Mädchen verdeckt, die ihre Köpfe zusammensteckten.
-
-Und dann hörte sie mit einem Male die laute, tiefe Stimme der Lehrerin,
-die jedes Wort deutlich und scharf aussprach. Aber den Sinn ihrer Rede
-vermochte sie nicht zu verstehen; denn alles um sie her verwirrte sie
-noch zu viel, als daß sie einen klaren Gedanken hätte fassen können. --
-Wie fremd, wie kalt war doch alles hier, kein bißchen gemütlich, wie
-daheim. Daheim, da war es viel tausendmal schöner -- da kannte Suse
-jedes Kind, und den Lehrer gar! Den kannte sie seit dem ersten Tag,
-da sie zur Schule gegangen war. -- Dort gab es ja nur einen einzigen
-Lehrer, der kam jeden Morgen behaglich in die Schule geschlendert und
-brachte einen großen Kaffeetopf mit, aus dem er trank, wenn es ihm
-gerade paßte. Und vor Beginn des Unterrichts pflegte er sich jedesmal
-dreimal feierlich in ein rot kariertes Taschentuch zu schneuzen, die
-Kinder über die Brille zu mustern und dann zu beten.
-
-Manchmal freilich konnte er auch böse werden, der gute Mann; dann,
-wenn die Kinder zu viel Unfug trieben und ihn reizten. Dann sprang er
-plötzlich wie der Blitz mit seinem Stöckchen von dem Pult herunter,
-packte die Bösewichter und bestrafte sie hart. Unter den ertappten
-Sündern war zuweilen auch Hans; denn er steckte voll Übermut. So hatte
-er die üble Angewohnheit, sich beim Melden der Länge nach über die Bank
-zu werfen, und beide Hände mit den ausgestreckten Zeigefingern dem
-vor ihm sitzenden Knaben auf die abstehenden Ohren zu legen, wobei es
-diesem heiß wurde wie in einem Backofen.
-
-Dann kam der Lehrer dahergesprungen, fragte, was das für eine Frechheit
-sei, befreite den Gefangenen aus seiner üblen Lage und lehrte den
-übermütigen Hans ein schönes gesittetes Melden. Ach -- fein und lustig
-war das gewesen!
-
-„Susanna,“ rief da die Lehrerin, „willst du wiederholen, was ich eben
-gesagt habe?“
-
-Das kleine Mädchen errötete bis in die Haarwurzeln, stand auf,
-stotterte, konnte kein Wort herausbringen und wußte überhaupt nicht
-mehr, was sie gefragt worden war. Aller Blicke richteten sich auf sie.
-Zum Glück machte die Lehrerin ihr ein Zeichen, sich zu setzen, und
-beschämt ließ sie sich auf ihren Platz nieder. Nun saß sie noch scheuer
-dort als vorher.
-
-Schließlich klingelte es, und die Pause begann. Die kleinen Mädchen
-sprangen in die Höhe und eilten wie erlöst zur Tür hinaus. Suse
-folgte ihnen langsam nach. Am liebsten wäre sie hier im Schulzimmer
-geblieben; aber das war ja nicht erlaubt! So ging sie denn auch in
-den Hof hinunter, stand mutterseelenallein an einem Baum und sah den
-Spielen der Kinder zu, die lachten und hüpften und tollten. -- Aber
-keines forderte sie auf, doch mitzuspielen. -- Da endlich rief eine
-fröhliche Stimme: „Guten Morgen, Suse.“ Und vor ihr stand ein Mädchen
-mit roten, frischen Wangen und freundlichen, lachenden Augen. Es war
-Toni, Theobalds Schwester, die einige Jahre älter als Suse war.
-
-„Na, seid ihr gut in die Schule gekommen?“ fragte sie freundlich. --
-„Theobald wollte euch eigentlich heute morgen abholen. Aber er hat die
-Zeit verschlafen, das Murmeltier. Weißt du, er hat gesagt, er muß sich
-eurer annehmen und euch beschützen, als Dank für die Gastfreundschaft,
-die er bei euch genossen hat. Der Hanswurst! Das gehört sich so, hat er
-gesagt. -- Ach, Suse, du glaubst gar nicht, wie er sich daheim mit euch
-aufspielt. Es ist einfach gräßlich! Er hat gesagt, euer Vater hat euch
-ihm ganz besonders ans Herz gelegt, und wenn er nicht ganz genau auf
-euch aufpaßte, kämt ihr sicher unter die Räder.“
-
-Suse errötete und hütete sich wohl zu sagen, wie nah sie heute morgen
-schon an den Rädern gewesen waren, dank des Vetters gütiger Führung.
-
-„Komm, Suse,“ rief hier ihre kleine Cousine und führte sie hin zu den
-Mädchen, die in Susens Klasse gingen.
-
-„Spielt mit meiner kleinen Cousine,“ rief sie den muntern Dingern zu.
-
-„Suse ist gar nicht so still, wie sie aussieht. Die ist sogar sehr
-lustig, viel lustiger, als ihr alle miteinander. Und rennen kann sie,
-famos, tadellos! Mein Bruder Theobald sagt auch, da kann keiner mit.“
-
-Hier griff eines der vorüberlaufenden Mädchen nach Tonis Arm und zog
-sie in der Hast mit sich fort.
-
-So war Suse denn wieder allein. Eines und das andere der Mädchen
-begannen nun mit ihr zu reden, aber Suse war so schüchtern, daß sie
-nur leise ja und nein zu antworten wagte. Auch das Laufen schien sie
-verlernt zu haben. Da war es denn ganz gut, daß die Klingel bald
-erschallte und die Kinder in die Klasse zurückrief.
-
-An dem Pult saß jetzt eine ganz andere Lehrerin als vorher. Aber obwohl
-sie viel munterer und lebhafter sprach als jene, konnte Suse ihr doch
-nicht folgen. Des Doktorkindes Aufmerksamkeit war außerdem von etwas
-ganz anderem in Anspruch genommen. Auf dem Pult vor der Lehrerin sah
-sie mit einem Male eine große Kugel stehen, die auf einem schwarzen
-Stengel steckte.
-
-Wie war sie dorthin gekommen? Was bedeutete sie? War sie zum Schmuck
-da? Liebte die Lehrerin solche Kugeln?
-
-Diese und andere Fragen quälten Suse. Und plötzlich entsann sie
-sich, daheim in des Pfarrers Garten eine ähnliche gesehen zu haben.
-Allerdings eine viel größere, leuchtendere, eine gar närrische Kugel.
--- Kam man ihr nahe, so warf sie einem das Spiegelbild schrecklich
-verzerrt zurück, die Nase zur Kartoffel angeschwollen, die Ohren weit
-abstehend, wie bei einer Springmaus. Laut jubelnd hatten Hans und
-Suse stets ihren verschandelten Anblick in dem Zauberspiegel begrüßt.
-Dann hatte auch ihr Freund, der Michel, ein feiner Jagdhund mit einem
-schmalen, vornehmen Kopf, hineinsehen und es dulden müssen, daß sich
-sein Kopf in der Zauberkugel zu einem auseinanderfließenden Pudding
-wandelte. An dieses lustige Spiel in des Pfarrers Garten mußte Suse
-nun immerfort denken und erwachte erst aus ihren Träumereien, als
-ein kleines Mädchen aufgerufen wurde, an das Pult trat und mit dem
-Finger auf der Kugel herumzeigte. Oh, wie sehr beneidete Suse ihre
-Mitschülerin um dies Vergnügen, und wie brannte sie darauf, ihrem
-Bruder von dieser aufregenden Sache zu erzählen! Jener hatte ihr ja
-versprochen, sie von der Schule abzuholen. Da sollte er gleich mal
-Wunderdinge vernehmen. --
-
-Nach Schluß des Unterrichts, da stand der Bruder Hans wirklich draußen
-vor dem eisernen Gitter des Schulhofs und wartete auf die Schwester.
-Als letzte sah er sie aus dem Hofe kommen, ein ganzes Stück hinter den
-andern Mädchen her.
-
-Jetzt erkannte sie ihn, eilte auf ihn zu und sah erstaunt in sein
-Gesicht. Denn er sah so froh aus, als wären die Lobsprüche seines
-Lehrers nur so dutzendweise auf ihn herabgekommen.
-
-„Hans, hast du alles verstanden? Hast du viel gelernt, hast du auch
-schon viel geantwortet?“ fragte sie ängstlich.
-
-„Nein“, sagte er da gedehnt, mit ganz langem Gesicht. „Nein, gar
-nicht, Suse. Ich habe nichts verstanden, nichts gelernt und nichts
-geantwortet!“
-
-„Na, das ist nur gut,“ entgegnete sie erleichtert. „Das ist doch
-viel besser, als daß der eine was lernt und der andere nichts.
-Meinst du nicht auch? Ich glaub’ wirklich, dies ist den Eltern so am
-angenehmsten.“
-
-Hans zuckte die Achseln und ging mit gerunzelter Stirn schweigend
-weiter. So einleuchtend schien ihm der Schwester Bemerkung denn doch
-nicht zu sein.
-
-Aber langsam, wie die Sonne durch Wolken bricht, erschien das Lächeln
-wieder auf seinem Gesicht, und er kam endlich mit dem zutage, was ihn
-so froh stimmte.
-
-„Suse, ich weiß jetzt, warum die Autos so brüllen; daran sind die Tuten
-schuld, die Trompeten, die Sirenen, die Lärm machen, damit die Leute
-aus dem Weg gehen. Hör’, ich weiß jetzt alles, wie es zugeht. Da wird
-durch einen Gummiball die Luft hineingedrückt, dann dreht sich eine
-Scheibe drin herum mit Löchern, und durch die fährt die Luft wieder
-heraus und bläst so fürchterlich.“
-
-„Aber Hans, so was glaub’ ich nicht,“ fiel Suse erschreckt ein. „So was
-hab’ ich noch nie gehört. Das ist sicher nicht wahr. Das glaubt doch
-kein Mensch, daß eine Scheibe herumfährt und so laut bläst, als würde
-sie schreien.“
-
-„Doch, Theobald hat’s gesagt,“ entgegnete der Bruder ganz beleidigt.
-
-Er nahm es sehr übel, daß seines Vetters Reden angezweifelt wurden,
-stammte seine Weisheit doch von niemand anderem als von dem erfahrenen
-Theobald, der ihn in einer Pause zur Seite genommen und über die Wunder
-und Merkwürdigkeiten der Stadt aufgeklärt hatte.
-
-„Ja, Suse, gräßliche Unglücke passieren manchmal mit den Autos,“ fuhr
-er hastig fort.
-
-„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein, „das ist schon möglich.“
-
-„Höre, höre,“ fuhr er fort. „Da ist ein Rad, das Steuer. -- Das hat der
-Chauffeur in der Hand und lenkt damit den Wagen. Und wenn er ihn nicht
-zur rechten Zeit zum Stehen bringt, dann fahren die Autos womöglich
-rückwärts den Berg runter und überschlagen sich und werfen alles, was
-drin ist, raus, und die Leute brechen sich dabei den Hals.“
-
-„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein. „Aber das, was du von den Sirenen
-gesagt hast, das glaub’ ich nicht, und wenn ich hundert Jahre alt
-werde. Das ist nicht wahr. Das hat uns Theobald nur so aufgebunden.
-Glaub’ mir, Hans. Und es ist frech von Theobald, daß er so was zu sagen
-traut und uns so belügt.“
-
-„Aber nein, Suse, er belügt uns nicht,“ wehrte Hans. „Theobald lügt
-uns hier in der Stadt doch nicht an. Nur zu Hause. Und du sollst
-selbst sehen, daß alles wahr ist, was er gesagt hat. Hör’ doch, Suse,
-das will ich dir ja noch sagen, wir wollen heute nachmittag den Onkel
-Gustav besuchen und seine Autos ansehen. -- Der Onkel Gustav, der
-wohnt draußen vor der Stadt und hat ein wundervolles Schloß und ist in
-fremden Ländern gewesen, wo es Löwen und Tiger und Elefanten gibt, und
-seine Frau ist auch von dort. -- Fein, gelt? Und Kinder hat er, schwarz
-wie die Neger. Fein, gelt?“
-
-„Aber, Hans, da können wir doch nicht hingehen, wenn wir nicht
-eingeladen sind,“ meinte die Schwester.
-
-„Doch, Suse, -- Theobald hat gemeint, es geht schon. Wir wollen ja
-nicht zu dem Onkel und zu der Tante und zu ihren albernen Kindern. Wir
-wollen ganz einfach zu den Autos gehen und sie uns in einem Schuppen
-ansehen...“
-
-Unter diesen Gesprächen waren die beiden allmählich vor Frau Cimhubers
-Haus angelangt, das schmal und hoch in einer Häuserreihe eingeklemmt
-lag.
-
-Scheu sahen sie zum vierten Stock hinauf.
-
-„Ich glaub’, Ursel guckt schon,“ sagte Suse halblaut.
-
-Die beiden sahen sich an, als empfänden sie Furcht, gingen dann ins
-Haus, erstiegen schnell die Treppe, legten droben Hut, Jacke und Ranzen
-ab und standen einige Minuten später in dem Eßzimmer der Pfarrfrau.
-
-Bescheiden und schüchtern nahmen sie hier Platz und zeigten wieder
-ganz ihr gedrücktes Wesen von heute morgen. Dahin war Hansens stolzes
-Siegergefühl, eine Frucht seines Unterrichts bei Theobald, und der
-Stolz auf seine Automobilkenntnisse schwand wie Butter an der Sonne
-angesichts der forschenden Blicke seiner Pflegemutter, die nicht von
-ihm und Suse ließen.
-
-Und mit einem Male hob sie an: „Na, Kinder, ihr habt doch sicher recht
-aufgepaßt in der Schule und allerlei behalten. Denn ihr wollt ja was
-lernen hier; dazu seid ihr ja hierhergekommen, nicht wahr? Und dazu
-haben eure Eltern euch hierhergeschickt. Und ihr wollt euern Eltern
-doch Freude machen. Nicht wahr? Was für Stunden habt ihr heute schon
-gehabt, erzählt mal!“
-
-Da saßen sie da wie die ertappten Sünder, stießen sich unter dem Tisch
-an und wußten nicht, was antworten.
-
-Hans sah errötend und hilfesuchend nach Suse hin. Aber auch sie
-stotterte hin und her und erklärte schließlich, auf dem Pult sei eine
-blaue Kugel gestanden, und die Kinder hätten mit dem Finger darauf
-herumfahren dürfen.
-
-„Das ist alles, was du gesehen hast, Kind?“ fragte die Pfarrfrau und
-legte vor Überraschung Messer und Gabel hin. „Das ist alles, Suse? Mehr
-hast du nicht gesehen, Kind?“
-
-Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf.
-
-„Aber, Suse, wo hast du denn die Augen gehabt,“ fuhr ihre Pflegemutter
-vorwurfsvoll fort. „Hast du denn nicht aufgepaßt? Weshalb gehst du denn
-überhaupt in die Schule, wenn du nicht aufpassen willst. Ihr geht doch
-hier in die Schule, um etwas zu lernen.“
-
-Suse sah die Pfarrfrau hilflos an; ihre Augen füllten sich mit Tränen;
-mit einem Male sagte sie kaum hörbar: „Ich hab’ immer hingehört und
-aufpassen wollen, aber da hab’ ich immer an unseren Michel daheim und
-den Lehrer denken müssen, und da hab’ ich nicht aufgepaßt.“
-
-„Und ich hab’ auch nicht aufgepaßt,“ sagte Hans und saß wie das
-verkörperte schlechte Gewissen da.
-
-Frau Cimhuber schaute lange vorwurfsvoll von einem Kind zum andern und
-fuhr dann mit ernster Stimme fort: „Aber ihr müßt aufpassen, Kinder.
-Das ist eure Pflicht. Das wünschen eure Eltern. Daran müßt ihr immer
-denken; und wenn der Unterricht auch schwer fällt, müßt ihr eben
-doppelt aufpassen.“
-
-Ursel aber, die bei Tisch bediente, schlug einmal übers anderemal
-die Augen zur Decke empor, und nach dem Essen begann sie: „Ich hab’
-grad gemeint, ich hab’ einen Schlag an den Kopf bekommen, wie ich das
-Gestammel und Gestotter gehört hab’. -- Auf einer blauen Kugel haben
-sie herumfahren dürfen! Ist das nicht fürchterlich? Das hab’ ich doch
-jetzt all mein Lebtag noch nicht gehört, daß in der Schule Kugeln sind,
-auf denen man herumfährt. Bei den Kindern stimmt’s nicht. Irgendwo
-stimmt’s nicht.“
-
-Der Pfarrfrau wurde es angst und bange angesichts von Ursels
-Aufgeregtheit, und sie sann darüber nach, wie sie die alte Magd
-besänftigen könne. Denn es läßt sich nun mal nicht leugnen, daß Ursel
-in den langen Jahren, in denen sie bei Frau Cimhuber Magd gewesen war,
-sich zur Gewalthaberin im Hause ausgebildet hatte, die oft selbst ihre
-eigene Herrin einzuschüchtern verstand.
-
-„Es hilft nichts, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber jetzt in beruhigendem
-Ton, „wir müssen Geduld haben.“
-
-„Wenn ich da an unseren Edwin denke,“ fuhr Ursel unbeirrt fort,
-„wenn der aus der Schule kam, der wußte immer alles, der saß nie so
-verdattert da. Das war eine Freude, den anzusehen, bei dem konnte man
-noch was lernen.“
-
-„Ja, ja, unser Edwin,“ sagte Frau Cimhuber, und ein glückliches Lächeln
-ging über ihr Gesicht, „der machte uns stets nur Freude.“
-
-Auch Ursels Gedanken wanderten auf dem eingeschlagenen Weg fort, und
-sie sagte nachdenklich: „Wann er wohl schreibt, der Herr Edwin? -- Er
-hat so lange nicht geschrieben. Aber man braucht ja nicht in Sorge zu
-sein. Das dauert ja immer lange, bis die Briefe die weite Reise gemacht
-haben.“
-
-„Mir ist gerade, als schriebe er heute,“ sagte Frau Cimhuber, versonnen
-vor sich hinblickend. „Ich habe so ein Gefühl, als müßte ich heute noch
-einen Brief von ihm in Händen halten.“
-
-Während dieser Unterredung hatten Hans und Suse sich in ihr Zimmer
-zurückgezogen und begannen wieder froh zu werden.
-
-Sie wollten heute nachmittag ja den Onkel Gustav besuchen.
-
-Keinem von beiden kam der Gedanke, ein Gang zu ihrem Onkel könnte
-ihnen verwehrt werden, waren sie doch von Hause aus gewöhnt, in ihrer
-freien Zeit zu tun und zu treiben, was ihnen beliebte. Hans putzte
-sich und kämmte sich und richtete sich säuberlich her, gerade als
-sei ein Auto eine hochgestellte Persönlichkeit, der man durch ein
-geschniegeltes Äußeres Achtung abzwingen könne. Dazu erzählte er in
-einemfort von den Plänen, die er mit Theobald gefaßt hatte.
-
-„Um drei Uhr will er uns abholen,“ erklärte er, „ich hab’ ihm gesagt,
-er soll doch zu uns herauskommen, aber er will nicht. -- Er will nicht
-vor Frau Cimhuber dienern und scharwenzeln, weil sie ihm nicht ganz
-grün ist.“
-
-Lange vor der festgesetzten Zeit standen die beiden Kinder am Fenster
-und sahen erwartungsvoll nach dem Vetter aus. Endlich, endlich tauchte
-er in der Ferne auf, dicht am Geländer des Kanals entlang schlendernd.
-Jetzt war er fast dem Haus der Frau Cimhuber gegenüber. Jetzt sah er
-auf und entdeckte die beiden am Fenster. Sie machten ihm ein Zeichen,
-zu warten und beschlossen dann, ihrer Pflegemutter zu sagen, was sie
-vorhätten, um sich von ihr zu verabschieden.
-
-Da ging die Tür auf und sie selbst trat ein, und zwar zum Ausgehen
-bereit. Auf ihrem Kopf trug sie einen kleinen Kapothut, der mit langen
-Bändern unter dem Kinn gebunden war, und über ihre Schultern hing ein
-langer Spitzenüberwurf. „Ich wollte sehen, was ihr treibt,“ begann sie
-eintretend. „Ihr müßt nämlich ein paar Stunden allein hier bleiben;
-denn Ursel und ich gehen in die Stadt und wollen das Haus von Bekannten
-ausschmücken, die von einer Reise zurückkommen. Ihr macht derweil
-eure Aufgaben oder schreibt Briefe nach Hause. -- Das scheint mir das
-Richtigste. -- Du, Suse, arbeitest vielleicht auch an einer Handarbeit.
-Du hast sicher ein Strickzeug?“
-
-„Ja, ein Puppenunterröckchen hab’ ich mitgebracht,“ sagte Suse kaum
-hörbar.
-
-„Du nimmst also dein Strickzeug und strickst. Kleine Mädchen dürfen nie
-unbeschäftigt dasitzen.“
-
-Suse nickte.
-
-„Halt, noch etwas wollte ich sagen,“ meinte die Pfarrfrau, „wenn
-es klingelt, so geht ihr hin und macht auf. Es kann sein, daß der
-Briefträger kommt.“
-
-Die beiden konnten fast nicht atmen, so fuhr ihnen der Schreck in die
-Glieder. -- Nun konnten sie ja gar nicht fort. -- Wie verwundete Rehe,
-so traurig sahen sie Frau Cimhuber an. Sie aber merkte nichts von ihrer
-Niedergeschlagenheit und sagte ganz freundlich: „Lebt wohl, Kinder!
-Ihr habt doch verstanden, daß ihr auf das Klingeln achten sollt? Nicht
-wahr?“
-
-Und damit hatte sie auch schon das Zimmer verlassen.
-
-Das Geschwisterpaar hörte die Flurtür schlagen, und Frau Cimhuber samt
-Ursel von dannen gehen. -- Nun war alles aus.
-
-Suse ließ sich mit gefalteten Händen auf einen Stuhl nieder. Hans
-schlich sich zum Fenster und blickte wehmütig hinter den beiden her.
-Er sah sie aus dem Hause treten und die Straße kreuzen. In demselben
-Augenblick gewahrte er, wie der Vetter, der am Kanal lustwandelte, auch
-der Pfarrfrau und ihrer Begleiterin ansichtig wurde und kehrt machte,
-als sei ihm ein Schuß in die Glieder gefahren. Weit beugte er sich
-über das Geländer des Kanals und stierte lange in das trübe Gewässer.
-Endlich, als er annahm, daß sie außer Sicht seien, drehte er sich um,
-machte einen Luftsprung und eilte auf das Haus, aus dem sein Vetter
-sah, zu, nahm die Treppen im Sturm und klingelte im vierten Stock, daß
-es nur so durch die Stuben hallte.
-
-„Fein, daß ihr da seid,“ meinte er zu seinen kleinen Verwandten. „Jetzt
-kann man doch mal mit Muße in eurem Wigwam herumäugen. Wißt ihr, wenn
-Frau Cimhuber und ihre Hofdame, der Igel Ursel, da sind, ist’s mir
-nicht recht geheuer. Da ist so ein dunkler Punkt zwischen uns. Übel,
-übel, sag’ ich euch.“
-
-Suse errötete tief, denn ihr war plötzlich eine Erzählung von Theobald
-eingefallen, wonach ihn Frau Cimhuber einmal mit ihren „spitzen
-Krallen“ gepackt und mit „pöbelhaftem Ungestüm“ vor die Tür gesetzt
-hatte, weil er ihren Hund, den Karo, auf die linke Hinterpfote getreten
-hatte. --
-
-Der dunkle Punkt vermutlich. --
-
-Und taktvoll leitete die Base das Gespräch auf andere Dinge.
-
-„Hast du unsere Negerstube schon gesehen?“ fragte sie mit
-geheimnisvoller Stimme.
-
-„Was soll ich gesehen haben?“ entgegnete er und sperrte den Mund weit
-auf.
-
-„Komm, komm,“ drängte Suse und eilte voraus, den Gang hinunter, um mit
-einem strahlenden Ausdruck im Gesicht Frau Cimhubers Negerstube zu
-öffnen, als wäre sie ihr ureigenstes Besitztum.
-
-„Fein, gelt?“ sagte sie, den Vetter erwartungsvoll anblickend. „Sieh
-mal die herrlichen Dinge an, Theobald.“
-
-Der Vetter musterte mit Stirnrunzeln die Prunkstücke des Raums, hatte
-sofort den Negergott entdeckt, der grinsend auf seinem Ständer in der
-Ecke saß, und ging stracks auf ihn zu.
-
-Suse klopfte das Herz bei dieser Vermessenheit und sie rief: „Nicht
-doch, nicht doch!“
-
-Theobald aber streichelte dem Götzen zärtlich die Wangen und sein
-schwarzes, aus Holz geschnitztes Haar, als wär’s das Fell eines
-Schoßhündchens, und ging dann, ein Liedchen pfeifend, von einem
-Gegenstand des Raumes zum andern, als wäre er im Schatten von
-Negerschwertern und -messern groß geworden.
-
-„Ihr wißt natürlich nicht, von wem die Sachen eigentlich sind,“ begann
-er schließlich.
-
-Sie schüttelten ihre Köpfe.
-
-„Nun, so will ich’s euch sagen. Sie sind nämlich alle von dem Edwin
-Cimhuber, das ist der Sohn von eurer Pflegedame. Der ist Missionar in
-Afrika bei den Negern und Hottentotten; die bekehrt er.“
-
-„Was ist er?“ fragte Suse plötzlich lebhaft und aufgeregt, „Missionar?
-In den fremden Ländern ist er Missionar? Ist er schon lange dort?
-
-Kommt er nicht mal? Unser Herr Pfarrer hat uns auch schon von
-den Missionaren erzählt, Theobald, und jedesmal hat er uns die
-wunderschönsten Bilder gezeigt. Palmenwälder waren drauf und beladene
-Kamele, die durch die Wüste wandern. Und das Meer und fremde Vögel und
-Affen, die in die Bäume klettern, und alle waren aus Afrika und Asien.
--- Und dort lebt der Herr Missionar, Theobald, hast du gesagt?“
-
-„Ja, und der Herr Edwin ist das Schönste und Beste und Herrlichste, das
-es auf der Welt gibt. Wenigstens für die Frau Cimhuber, für mich nicht.“
-
-Suse war noch ganz in Gedanken und meinte mit einem Male: „Es ist
-doch schön, daß wir hier wohnen! Nicht wahr, Theobald? Hier haben wir
-richtige ausgestopfte Affen, die der Herr Missionar geschenkt hat, und
-vielleicht kommt er selbst einmal. Nicht wahr, Theobald? Möchtest du
-nicht auch hier wohnen?“
-
-„Ich hier wohnen,“ rief der Vetter und auf seinem sonst so
-gleichmütigen Gesicht mit der erhabenen Miene malte sich ein ehrlicher
-Schrecken...... „Brr!“
-
-„Ach, weißt du was,“ meinte Suse voll Schonung, „wenn man immer höflich
-und artig zu Frau Cimhuber ist, dann passiert einem nichts. Vielleicht
-wird sie uns sogar Geschichten von ihrem Sohn aus Afrika erzählen.“
-
-„Ein Glück, daß ich die nicht zu hören brauche,“ fiel Theobald ein.
-„Gott sei Dank! Überhaupt, das will ich euch sagen, ihr braucht euch
-gar nicht so gräßlich viel auf die Sachen hier einzubilden. Da sind
-wir hier in der Stadt doch an ganz andere Dinge gewöhnt. Wenn wir
-jetzt zum Beispiel zu unserem Onkel Gustav gehen, da werdet ihr mal
-was erleben. Der hat Tiere, wie ihr sie haben wollt; die schönsten und
-die wildesten, mit und ohne Gerippe, mit und ohne Haut, mit und ohne
-Federn. Ganz nach Wunsch. --
-
-Und schwarze Dienerinnen hat er, die haben Lippen, wie aufgeplatzte
-Rotwürste. --
-
-Aber hopp,“ unterbrach er seinen eigenen Redeschwall, „wir haben jetzt
-keine Zeit zu verlieren, macht euch fertig.“
-
-Suse warf Hans einen betrübten Blick zu und sagte dann ängstlich: „Wir
-müssen ja hier bleiben, Theobald, und die Tür aufmachen, wenn einer
-kommt.“
-
-Der Vetter graulte sich hinter den Ohren und überlegte.
-
-„Wißt ihr, was wir machen?“ rief er plötzlich. „Einer von euch kommt
-mit, der andere bleibt hier.“
-
-Suse fing einen wehmütig bittenden Blick ihres Bruders auf, kämpfte
-einen schweren Kampf und sagte schließlich: „Hans, geh’ du nur hin, ich
-bleib hier. Du möchtest dir ja so gern die Autos ansehen, ich frage
-nicht soviel danach wie du.“
-
-Des Bruders Gesicht erhellte sich, und er sagte leuchtenden Auges: „Ich
-komme auch recht bald wieder, Suse! In einer Stunde bin ich wieder da.“
-
-„Ja, tu das,“ entgegnete sie.
-
-Und da rannten die Knaben auch schon davon.
-
-Sie horchte hinter ihnen her, wie sie die Treppe hinuntereilten, und
-wollte hierauf in ihr Stübchen gehen. Aber wie von unsichtbaren Händen
-gezogen, mußte sie sich der Negerstube zuwenden.
-
-Langsam kam sie näher und stand lange unschlüssig davor. Zögernd legte
-sie die Hand auf die Türklinke und wollte sie niederdrücken. Da fuhr
-die Tür von selbst weit auf, und sie befand sich mit einemmal frei und
-ungeschützt dem Negergott gegenüber. Grinsend sah der Götze sie an. Wie
-erstarrt schaute sie nieder. Da klirrte ein Negerschwert leise, ein
-großer ausgestopfter Affe knurrte und der Negergott grunzte. --
-
-Hm... Hm... Ho... Ho... Ha... H... klang es irgendwo.
-
-Suse stieß einen Schrei aus und stürzte den Gang hinunter in ihr Zimmer
-zurück. Dort riegelte sie sich ein. Die Tränen liefen ihr über das
-Gesicht.
-
-Suse fürchtete sich fast zu Tode.
-
-„Ach, Hans, wärst du doch hier geblieben,“ weinte sie vor sich hin.
-„Ach, lieber Gott, verlaß mich nicht. Mach doch, daß Hans kommt.“
-
-Ängstlich, wie nach Hilfe suchend, flogen ihre Blicke durch die Stube.
-Da sah sie plötzlich wie gebannt auf die Kommode, wo die Bilder ihrer
-Eltern standen, sowie die Rosels, ihrer Magd, und Christines, der
-alten Kinderfrau von daheim. Beruhigend und tröstend sahen die guten,
-freundlichen Gesichter zu ihr herüber.
-
-„Sei nur still, liebes Kind, sei nur still,“ schienen sie zu sagen,
-„wir sind ja bei dir.“
-
-Da drückte sie ein Bild nach dem andern zärtlich an sich und fühlte,
-wie ihr’s viel leichter, viel wohler ums Herz wurde. Zu guter Letzt
-fielen ihre Augen noch auf einen ganz besonderen Tröster.
-
-Dort stand Michel, der Gefährte ihrer Jugend, ein Jagdhund, und
-blickte kühn wie ein Eroberer hinter Glas und Rahmen hervor. Seine
-klugen Augen blitzten auf dem Bilde, seine Schnauzbarthaare spreizten
-sich keck, sein Schwanz stand wagerecht ab wie ein Lineal. Mit einem
-solchen Freund im Bunde brauchte man selbst den Negergott nicht mehr zu
-fürchten!
-
-Vorsichtig trug Suse all ihre Schätze auf den Tisch und baute nun
-eine Art Schutz- und Trutzburg von ihnen auf, hinter die sie sich zu
-verstecken und einen Brief nach Hause zu schreiben gedachte.
-
-Allerlei Andenken von daheim vervollständigten noch ihre Festung:
-ein Briefbeschwerer, den ein Freund von Hans mit Namen Martin, ein
-armer, verkrüppelter Knabe, ihnen am Tage vor ihrer Abreise mit
-glückstrahlenden Augen gebracht hatte.
-
-Das Geschenk stellte eine Kugel dar, die auf einer Alabasterplatte
-ruhte, und zeigte in seinem Innern „die heilige Nacht“ in bunten
-Figuren. Maria und Joseph saßen, von Schneegestöber umhüllt, vor der
-Krippe und beteten das Christkind an.
-
-Nachdem Suse das Geschenk ein Weilchen zärtlich betrachtet hatte, legte
-sie es auf den Tisch nieder und reihte an seine Seite ein Andenken von
-Christine, einen Wachsengel in einer Pappschachtel, der zwischen lauter
-Papierblumen wie ein blankes, reingewaschenes Badepüppchen hinter
-einer Glasscheibe hervorsah. -- Lange Jahre hindurch war dies ärmliche
-Kunstwerk Christines Heiligtum gewesen und von ihr bewundert, gehütet
-und gepflegt worden. Jetzt gehörte es Hans und Suse. Auch zwei Federn
-von Babette Buntrock, dem Lieblingshuhn der Doktorskinder, wurden
-zu den Andenken gelegt. Dann rückte sich das kleine Mädchen einen
-Rohrstuhl an den Tisch und begann zu schreiben:
-
- „Liebe, liebe Mutter, lieber, lieber Vater!
-
-Ich muß immer an Euch und Michel und Christine und an alle, alle
-denken. Es ist wunderschön hier. Ach, wäret ihr nur hier! Ist
-Christines Ziege wieder besser? Ich bin allein hier, und der Hans
-ist fort und besucht den Onkel Gustav. Oh, wie hab’ ich mich
-gefürchtet heute morgen, wie ich in die Schule bin. In der Schule
-lerne ich nichts. Die Kinder sind alle viel klüger als wir, und viele
-Lehrerinnen gibt’s hier. Frau Cimhubers Sohn ist in Afrika, dort ist es
-wunderschön. Aber ich möchte, ich wär daheim.“
-
-Zu diesem Brief brauchte Suse vielleicht anderthalb Stunden; denn fast
-nach jedem Wort machte sie lange Pausen, kaute an ihrer Feder oder
-trocknete umständlich ihre Tränen ab, die immer wieder auf das Papier
-tropften.
-
-Zuletzt wußte sie nicht mehr was schreiben, schob ihr Papier zur
-Seite und holte ihr Puppenunterröckchen hervor, um ein wenig daran zu
-arbeiten, wie Frau Cimhuber ihr ja befohlen hatte.
-
-Aber es wollte nicht so recht mit der Arbeit vorwärts gehen, denn das
-Kind mußte immerwährend an seinen Bruder Hans denken.
-
-Wenn er nun nicht zur rechten Zeit nach Hause käme? Was dann?
-
-Da klingelte es. Suse flog zur Tür. „Hans, Hans!“ rief sie. Aber
-als sie öffnete, stand niemand anders vor ihr als Ursel, und zwar
-anscheinend in großer Aufregung.
-
-Suse zitterte wie Espenlaub. Sie glaubte bestimmt, die Magd habe Hans
-irgendwo auf der Straße mit Theobald gesehen und wolle nun nachsehen,
-ob sie sich nicht getäuscht habe.
-
-Forschend richtete die alte Magd jetzt ihre Augen auf Suse und fragte
-barsch: „Warum hast du geweint. Hast du dich mit Hans gezankt?“
-
-Suse schüttelte den Kopf. „Warum hast du geweint?“ fragte Ursel noch
-einmal.
-
-„Ich hab’ nach Hause geschrieben und da hab’ ich weinen müssen,“
-flüsterte Suse.
-
-„Dummes Zeug,“ murmelte Ursel und ging kopfschüttelnd in die Küche, um
-Hans und Suse den Kaffee zu wärmen und einige Stücke Brot zu schneiden.
-Sie glaubte, beide Geschwister seien zu Hause.
-
-„Darf ich den Kaffeetisch decken?“ fragte Suse schüchtern und zitterte
-für den Bruder. Die alte Magd nickte.
-
-Das kleine Mädchen holte geschäftig Tassen, Unterschälchen, Zuckerdose
-und Milchtöpfchen aus dem Schrank, stellte sie schön ordentlich auf
-ein Servierbrett und wollte damit in die Stube gehen. Da klingelte es
-wieder.
-
-Hu, wie fuhren da die Tassen und Unterschälchen durcheinander und
-rasselten und klirrten! Ums Haar wären sie auf dem Boden gelegen.
-Schnell stellte Suse sie zur Seite, eilte zur Tür hinaus und den Gang
-hinunter, während ihr die Zöpfe hinterherflogen, wie einem Kellner die
-Rockschöße und die Serviette.
-
-„Halt!“ rief Ursel. „Was läufst du so? Wo willst du hin? Halt! Halt!“
-
-Aber das kleine Mädchen war schon an der Flurtür, öffnete, und rannte
-dem Briefträger stracks in die Arme.
-
-„Scht, scht,“ mahnte dieser, „nur nicht so stürmisch. Ich hab’ einen
-Brief an Frau Cimhuber.“
-
-Ursel sah auf das Schreiben in des Postboten Hand und erkannte die
-fremde Marke und eine vertraute Schrift. „Danke, danke,“ sagte sie
-zitternd.
-
-„Er ist von Herrn Edwin,“ fuhr sie fort, das Schreiben um und um
-wendend. „Da wird sich Frau Cimhuber freuen. Darauf warten wir schon
-lange. Großer Gott, wir danken dir, du verläßt uns nicht. -- Gleich,
-gleich will ich jetzt zu der Frau Pfarrer gehen und ihr den Brief
-bringen. Sie wird so froh sein. Sie wird überglücklich sein.“
-
-Und Suse sah mit Verwunderung, wie der alten Frau die Tränen in die
-Augen traten und die Röte der Erregung die Nasenspitze leuchtend
-färbte. Und wie sie dann ihre Küchenschürze hastig gegen ihre
-baumwollene schwarze Staatsschürze umtauschte, indem sie eifrig sagte:
-„Eßt, liebe Kinder, und trinkt euren Kaffee, und seid nicht ungeduldig,
-daß wir euch allein lassen. Wartet noch ein Weilchen, wir sind bald
-wieder da. Lebt wohl, lebt wohl.“
-
-Das Kind blickte nur immer nach Ursels Augen, die so hell strahlten wie
-Lichter, während sie doch noch vor kurzem so düster, so unfreundlich
-dreingesehen hatten.
-
-„Sie sind froh, gelt, Ursel?“ fragte das kleine Mädchen, als sie der
-alten Magd das Geleite zur Tür gab.
-
-„Ja, wir sind froh, Frau Cimhuber und ich sind sehr froh. Wir hatten so
-Angst um das arme, arme Kind. Was hat der Herr Edwin alles in Afrika
-auszustehen! Ich werde euch einmal davon erzählen, wenn ich Zeit habe.“
-
-„Danke, danke,“ rief Suse, und ihr Herz klopfte bei der schönen
-Aussicht auf die künftigen Erzählungen.
-
-Als Ursel gegangen war, kam dem Doktorskind aber gleich wieder der
-Gedanke an den abwesenden Bruder, und sie zitterte vor Angst. Wenn
-Frau Cimhuber wiederkehrte, und er wäre noch nicht da, so würde es
-ihm schlecht ergehen. Suse lehnte sich aus dem Fenster und spähte
-die Straße hinunter, ob er noch nicht komme. Die Tür ließ sie
-sperrangelweit hinter sich offen, und der Götze hätte jetzt bequem
-hereinkommen und Suse ein wenig zwicken können, wenn er der Unhold
-gewesen wäre, als den sie ihn erkannt hatte.
-
-„Wenn Hans doch nur käme, wenn Hans doch nur käme, ach, wenn Hans doch
-nur käme,“ sagte sie in Gedanken immer wieder vor sich hin.
-
-Eine Stunde wollte er ja nur fortbleiben! Wenn er doch nur käme! Bald
-würden Frau Cimhuber und Ursel wiederkommen, dann wär’ er nicht da, und
-dann....
-
-Da sah sie ihn am Kanal entlang laufen. Nun erblickte auch er seine
-Schwester am Fenster und winkte zu ihr hinauf. Gleich darauf war er bei
-ihr.
-
-„Oh, Suse, wie schön war es! Was hab’ ich alles gesehen!“ rief er mit
-fliegendem Atem.
-
-„Da war ein großes Schloß. Und den Schuppen mit den Automobilen haben
-wir uns besonders angesehen, und die schwarzen Dienerinnen hab’ ich
-auch gesehen. Und einen Pfau mit wundervollen Augen im Schwanz.“
-
-„Ach, wär’ ich doch auch mitgegangen,“ sagte Suse schmerzlich.
-
-„Sei nicht traurig,“ tröstete er, „ein andermal gehst du auch mit.“
-Und hastig fuhr er fort: „Und von den Automobilen weiß ich jetzt
-noch besser Bescheid als heute morgen. Der Herr Willy, das ist der
-Chauffeur, der hat Theobald alles genau erklärt, und ich habe zugehört.“
-
-Suse zuckte ungeduldig die Achseln. Der Kraftwagen und seine
-Bestandteile ließen sie kalt.
-
-Aber gespannter hörte sie wieder zu, als er fortfuhr: „Und gefürchtet
-haben wir uns, Suse, gefürchtet, einfach schrecklich.“
-
-„Siehst du, siehst du,“ triumphierte Suse, „was ist denn wieder mal
-passiert? Gelt, das Auto hat wieder einmal gebrüllt?“
-
-„Nein, nein, ich mein’ ja was ganz anderes. Hör’, was ich dir
-erzähle. Wie wir uns so das Automobil angucken, da kommt, oh, es war
-schrecklich! da kommt, denke dir, da kommt...“
-
-„So sprich doch, Hans!“
-
-„Da kommt sie.....“
-
-„Welche sie, Hans?“
-
-„Ei, die Frau von Onkel Gustav.“
-
-„Bloß die Frau von Onkel Gustav,“ sagte Suse enttäuscht. „Hast du ihr
-denn guten Tag gesagt, Hans?“
-
-„Oh, was glaubst du denn,“ wehrte er entrüstet, „das trau ich doch
-nicht.“
-
-„Aber, Hans, vor der Dame hast du noch nicht einmal den Hut abgenommen,
-und weißt doch, daß wir immer guten Tag sagen sollen, wenn wir irgendwo
-hinkommen. Das haben doch der Vater und die Mutter uns befohlen.“
-
-„Das weiß ich wohl, aber der trau ich doch nicht guten Tag sagen.“
-
-„Warum denn nicht?“
-
-„Oh, sie ist eine gräßliche Rippe,“ hat Theobald gesagt, „und böse wie
-ein Tiger.“
-
-Suse schauderte es.
-
-„Ist sie auch eine Negerin?“ forschte sie atemlos. „Vielleicht stammt
-sie von den Menschenfressern ab, und da hat Onkel Gustav sie in den
-fremden Ländern geheiratet. Es könnte schon sein. Gelt Hans?“
-
-„Das weiß ich nicht.“
-
-„Wie sieht sie denn aus?“
-
-„Das weiß ich auch nicht.“
-
-„Hast du sie denn gar nicht gesehen?“
-
-„Nein, mit einemmal hat Theobald gerufen: ‚Da kommt sie!‘ und da hab’
-ich gar nichts mehr gesehen und gehört. Und da hat Theobald die Tür von
-dem Automobil aufgerissen und ist mit beiden Füßen hineingesprungen,
-und ich bin hinterdrein und hab’ die Tür zugeschlagen. Und da haben wir
-uns beide unter die Bänke geworfen. Der Theobald ist mitten auf meinen
-Kopf gelegen. Ich hab’ gemeint, ich ersticke. Und mit einemmal legt
-sich eine Hand auf die Tür, und denke dir, da wollte sie reingucken.
-Aber der Herr Chauffeur hat ihr schnell was vom Onkel Gustav gesagt,
-und da hat sie die Tür wieder fahren lassen. -- Denke dir, wenn sie
-reingekommen wäre und auf unsere Köpfe getreten hätte!“
-
-„Die hätte euch tot getreten,“ sagte Suse, die ihre Tante sofort als
-ein gräßliches Ungeheuer erkannt hatte.
-
-„Erzähl’ mir noch mehr von der gräßlichen Frau, Hans,“ drängte sie,
-„bitte, bitte.“ --
-
-Schauerliche Dinge erleben mochte Suse beileibe nicht, aber sie
-anzuhören, war ihr nicht unangenehm. „Am Ende frißt sie wirklich
-Menschen,“ sagte sie, sich fester an den Bruder anschmiegend, mit dem
-sie Hand in Hand auf dem Sofa in ihrem Stübchen saß. „Erzähl’ weiter.“
-
-„Ich weiß nichts mehr von ihr. Gesehen hab’ ich sie nicht.“
-
-„Dann erzähl’ mir noch, bitte, von dem herrlichen Schloß in dem Garten.“
-
-„Ich hab’ einmal von der Veranda in das Zimmer geguckt und schöne
-Sachen drin gesehen.“
-
-„Und die ausgestopften Tiere? Die waren nirgends, Hans?“
-
-„Ich hab’ sie nicht gesehen.“
-
-„Ach, Hans, wann kommen wir mal hin?“
-
-„Oh, bald, bald, der Onkel Gustav will, daß wir oft kommen, hat
-Theobald gesagt. Er will, daß unsere guten Manieren und unser deutsches
-Gemüt auf seine Kaffern abfärbe. -- Die Kaffern sind nämlich seine
-Kinder.“
-
-So fuhr Hans noch lange eifrig fort, Suse ein merkwürdiges Licht über
-die neue Verwandtschaft aufzustecken. Erst als es Zeit zum Abendessen
-war, beendete er seine Erzählung und ging mit Suse zu Frau Cimhuber
-hinüber.
-
-„Hans,“ ermahnte ihn seine kleine Schwester unterwegs, „wir müssen
-sagen, was wir heute nachmittag gemacht haben, wo du gewesen bist; denn
-wenn Frau Cimhuber erfährt, daß du fortgelaufen bist, und es ihr nicht
-erzählt hast, denkt sie, wir wollen sie belügen.“
-
-„Ja, ja,“ sagte Hans, „das will ich tun.“
-
-Aber als sie bei Tisch saßen und er davon anfangen wollte, begann Frau
-Cimhuber von der Familie zu erzählen, die sie heute nachmittag besucht
-hatte, und deren artigen Kindern.
-
-Endlich, als sie einmal eine Pause machte, sprach Suse ihrem Bruder
-unter dem Tisch durch heftige Stöße Mut zu, und er begann stockend:
-„Frau Pfarrer, ich bin... Frau Pfarrer, ich bin heute nachmittag...“
-
-Da unterbrach ihn die Pfarrfrau mit den Worten: „Kinder, ihr müßt euch
-daran gewöhnen, Erwachsene nicht durch eure Reden zu unterbrechen. Ihr
-müßt immer erst dann reden, wenn man euch etwas fragt.“
-
-Und diese Worte der Pfarrfrau schüchterten die Kinder so ein, daß sie
-ihr gute Nacht boten, ohne ihr ein Wort von dem zu sagen, was sie heute
-nachmittag erlebt hatten.
-
-„Ich fürchte mich vor der Schule morgen,“ flüsterte Suse, als sie
-allein mit ihrem Bruder war.
-
-„Das mußt du nicht,“ meinte er, „denk nicht dran! Ich denk auch nicht
-dran.“
-
-Und in der Absicht, sie auf andere Gedanken zu bringen, fuhr er mit
-geheimnisvoller Stimme fort: „Laß uns aus dem Fenster sehen, jetzt
-springen vielleicht auf dem Dach wieder die herrlichen Buchstaben herum
-wie gestern abend.“
-
-„Ja, ja, du hast recht,“ sagte die Schwester und machte sich schnell
-fertig, um mit ihrem Bruder an das Fenster zu treten und die nächtliche
-Stadt zu betrachten. Wie Tausende von Leuchtkäfern funkelten dort die
-Lichter aus dem Dunkel auf, wie schillernde Schlangen glitten die
-Elektrischen am Kanal entlang, und aus den engen Straßen kamen die
-Menschen als vermummte Gestalten ans Licht. Und pünktlich, wie der
-Mond und die Sterne daheim über dem Nußbaum im Hofe der Doktorskinder,
-erschienen auf dem Dach des hohen Hauses jenseits des Kanals die
-leuchtenden Buchstaben, deren Sinn Hans und Suse nicht erkunden
-konnten. Ein Buchstabe nach dem andern blitzte auf und lief über den
-Dachfirst. Leuchtend standen dort ein paar Worte und erloschen wieder,
-um nach einigen Sekunden in neuem Glanz zu erstehen.
-
-„Wie schön, wie schön,“ sagte Hans leise.
-
-Suse aber faltete die Hände und wiederholte die Worte von heute
-morgen: „Ach, wenn doch daheim auf unserem Dach auch mit einemmal
-solche herrliche Buchstaben herumsprängen! Der Vater und die Mutter,
-die würden sich gewiß freuen, gelt Hans? Die Buchstaben sind doch das
-aller-, allerschönste hier! Wenn die nicht wären, dann wär’ es so
-häßlich wie nirgends sonst auf der Welt!“
-
-
-
-
-Zweites Kapitel
-
-Die Flucht
-
-
-Für den Sonntagnachmittag waren Hans und Suse bei Onkel Sepp und
-Tante Hedi, Theobalds Eltern, eingeladen. Aber im letzten Augenblick
-wurde die Einladung zurückgenommen, und die Geschwister mußten daheim
-bleiben. Ihre Vettern und Basen durften an dem Tag keinen Besuch
-empfangen; es waren eben unverbesserliche Sausewinde, die nichts wie
-tolle Streiche verübten, für welche sie dann büßen mußten. Diesmal
-handelte es sich um eine recht dunkle Sache, von der Theobald nur in
-unklaren Andeutungen sprach. Danach war eine Papiertüte voll Wasser
-zufällig von der Gartenmauer seines Vaterhauses gefallen, einer
-vorübergehenden Marktfrau auf den Kopf und dort geplatzt, worauf die
-Frau vor Schreck sich mitten auf der Straße niedergelassen hatte.
-
-Und für diesen harmlosen Vorfall, an dem nach Theobalds Ausspruch kein
-Mensch Schuld hatte, waren Onkel Sepps Kinder hart bestraft worden und
-hatten heute Stubenarrest.
-
-So waren Hans und Suse denn auf sich allein angewiesen. -- Frau
-Cimhuber war ausgegangen und hatte den Kindern versprochen, sie gegen
-Abend zu einem Spaziergang abzuholen. Ursel hatte sich in die Küche
-zurückgezogen, denn sie litt noch immer an starkem Zahnweh, und auf
-ihrem vermummten Kopf standen die Zipfel ihres Tuches steil aufrecht
-wie zwei Hasenohren.
-
-Die ganzen letzten Tage hatte sie zwar versprochen, den Kindern heute
-Missionarsgeschichten zu erzählen; aber nun, da es so weit war, warf
-sie Blicke um sich wie der Drache in der Höhle, und die Kinder mieden
-sie ängstlich.
-
-Die meiste Zeit des Nachmittags verbrachten sie in ihrem Zimmer, wo
-Suse in eine immer gedrücktere Stimmung verfiel. Sie hielt einen Brief
-ihrer Mutter in Händen, den sie heute morgen erhalten hatte und in dem
-sie immer wieder las.
-
-„Mein liebes Kind,“ stand in dem Brief geschrieben, „die Veilchen
-blühen noch immer und tragen viele Knospen und Rosel begießt sie
-täglich und schaut nach ihnen. Die Sonne scheint jetzt schon so wohlig
-und warm im Garten, und alles beginnt zu blühen und zu grünen. Minnette
-hab’ ich ihr Glöckchen weggenommen, das Du ihr zum Abschied umgebunden
-hast, und beiseite gelegt, weil es sie belästigte; aber wenn Du
-wiederkommst, darfst Du es wieder hervorholen und ihr umbinden, liebes
-Kind. Michel liegt in der Sonne auf der Hoftreppe und grollt mit uns,
-wie Euer Vater sagt, weil wir Euch fortgehen ließen, und nun läßt er
-seinen Zorn an den Hühnern und Katzen der Nachbarschaft aus und beißt
-und schüttelt sie, wo er nur kann. Zur Strafe soll er mal wieder für
-einige Zeit zum Förster in die Nachbarschaft kommen, damit er sich
-wieder bessere Manieren angewöhnt. Christine und Rosel sprechen immerzu
-von Euch und haben sich heute wunderbare Briefbogen mit Vergißmeinnicht
-und verschlungenen Händen gekauft, und nun wollen sie Euch Briefe
-schreiben. Christine wird ihren Rosel diktieren. Auch Eure Freunde und
-Freundinnen waren schon da und haben nach Euch gefragt.“
-
-Schließlich stand Suse auf, ging ans Fenster, drückte ihr Gesicht gegen
-die Scheiben und sah hinunter auf den Kanal, der heute frei von Kähnen
-war. Auch die Straßen waren weniger belebt als sonst. Die Menschen
-waren wohl hinausgewandert in das Freie, wo der Sonnenschein über
-Feldern und Wiesen lachte.
-
-Nur hoch oben an der blauen Himmelsdecke, da ging es lustig her. Da
-flogen die munteren, kleinen Federwölkchen vorüber, die Suse so gern
-hatte. Sie glänzten wie schimmernder Atlas und flatterten und wehten
-wie weiße Tüchlein, die unsichtbare Hände schwenken.
-
-„Komm mit, komm mit,“ schienen sie zu rufen. -- Sie wanderten weiter,
-immer weiter, bis sie zu den Bergen von Susens Heimat kamen. Noch heute
-trafen sie dort ein. Das kleine Mädchen spürte es so deutlich, so klar.
-Dann sahen sie in den Doktorsgarten, wo die Blumen blühten und die
-Büsche grünten, wo an der Mauer der Schlehdorn schneeig schimmerte,
-wo vor der Tür Minnette saß und im Hof Michel sich sonnte. Und in das
-gemütliche Wohnzimmer schauten sie, wo der Vater und die Mutter am
-Kaffeetisch saßen und miteinander redeten.
-
-„Wie schön ist es heute, wir wollen durch den Garten gehen,“ sagte die
-Mutter. „Komm, Hermann. Was wohl unsere lieben Kinder heute treiben?“
-
-Und Suse hörte genau die Stimme ihrer Mutter.
-
-Da räusperte sich Hans, und sie fuhr herum und zeigte ein verweintes
-Gesicht. Er schaute sie erschrocken an. Und da begann sie auch schon
-von Tränen überströmt: „Jetzt will ich dir auch sagen, Hans, was ich
-schon immer gedacht habe. Wir wollen fort von hier, nach Hause.“
-
-Der Knabe fuhr zusammen und wiederholte langsam: „Nach Hause?“
-
-„Ja, Hans!“
-
-„Aber, Suse, wir sind ja eigens hierher gekommen in die Stadt, damit
-wir was lernen, und jetzt wollen wir schon wieder fort?“
-
-„Ei, Hans, wir können ja in eine andere Stadt gehen, wo’s viel schöner
-ist. Es gibt ja noch viele Städte.“
-
-„Nein, Suse, der Vater und die Mutter haben gesagt, sie haben sich
-lange bedacht, warum sie uns gerade in diese Stadt schicken. Sie
-wollen, daß wir uns an fremde Menschen gewöhnen und hier bleiben und
-was lernen. Und jetzt sind wir hier, und jetzt bleiben wir hier.“
-
-„Dann sterb’ ich, Hans. Ich hab’ immer so Weh hier...“ Und das kleine
-Mädchen zeigte weinend auf sein Herz.
-
-„Sieh, hier, Hans, und essen mag ich auch nichts mehr, es drückt mich
-immer im Hals und ich kann nicht schlucken. Du wirst sehen, ich sterbe.
-Ich habe schon immer gebetet, daß der liebe Gott macht, daß wir wieder
-nach Hause kommen, sonst sterb’ ich.“
-
-„Bald sind ja Ferien, Suse!“
-
-„Dann bin ich schon tot. Ich will fort, ich will fort!“
-
-Und Suse drückte weinend beide Handrücken vor die Augen und wiederholte
-immer wieder: „Ich hab’ so Weh hier, Hans, ich hab’ so Weh hier! Ich
-will fort!“
-
-Dem Bruder wurde es angst und bange. Er suchte nach Trostesworten und
-fand keine.
-
-Seine kleine Schwester aber fuhr immer trauriger fort: „Ich mag auch
-nicht mehr in der Elektrischen fahren. -- Und die hellen Buchstaben
-find’ ich auch nicht mehr schön. Ich mag nichts mehr. Kein Kind will
-mit mir spielen. Alle haben sie Freundinnen, nur ich nicht. Und Frau
-Cimhuber hat uns auch nicht lieb, und Ursel erst recht nicht.“
-
-Hier schluchzte sie laut auf.
-
-Dann sagte sie wieder leise vor sich hin: „Wir wollen fort, wir wollen
-fort. Ich will zum Vater und zur Mutter und zu den Kindern, die mich
-lieb haben.“
-
-„Aber, Suse, was wollen wir denn machen?“ fragte Hans in größter
-Aufregung. „Frau Cimhuber läßt uns ja nicht fort!“
-
-„Sie braucht es ja nicht zu wissen, daß wir fort wollen, Hans! Wir
-schleichen uns ganz in der Frühe fort, wenn alle noch schlafen.“
-
-„Und unsere Sachen, Suse?“
-
-„Die ziehen wir alle übereinander an. Du ziehst vier Hosen und
-vier Hemden an und zwei Anzüge, und ich auch; meine zwei schönen
-Sonntagskleider leg ich fein ordentlich in eine Pappschachtel, und
-deinen Matrosenanzug auch. Das trägst du dann an einer Schnur.
-Ich nehme das andere; die Geburt Christi und den Engel und die
-Taschentücher und Strümpfe, alles, alles in der Hirschtasche.“
-
-„Nein, Suse, das geht nicht. Das dürfen wir nicht. Wir sind hier und
-wir bleiben hier. Und es ist auch schön hier.“
-
-„Schön?“ fragte Suse ganz entgeistert. „Aber, Hans, das glaubst du
-doch selbst nicht! -- Weißt du, Hans,“ fuhr sie flüsternd fort,
-„nachts träum’ ich immer, der Negergott springt mit einem von den
-vielen Negermessern hinter uns her, drei Schritte vorwärts und einen
-zurück, und dazu ruft er: Halloh! Halloh! wo steckt ihr? -- Und eines
-Nachts ist er wirklich an unsere Tür gekommen. Ich hab’ ihn deutlich
-schleichen hören. Und dann hat er leise, erst wie ein Neger, dann
-deutsch gesagt: ich krieg euch doch. -- Wartet nur, brr... hu... hu...“
-
-„Dummes Zeug,“ wehrte Hans. „So was Dummes brauchst du nicht zu
-träumen. Du weißt ja, er ist aus Holz. Und nun paß mal auf. Ich gehe
-jetzt in die Negerstube und hol’ ihn von dem Ständer herab. Dann sollst
-du ihn selbst mal anfassen.“
-
-„Nein, nein,“ rief Suse. „Er tötet uns.“
-
-„Er denkt nicht dran. Er ist ja der rechte Ölgötze. Das hat auch
-Theobald gesagt.“
-
-Und nach diesen Worten ging Hans stolz, hoch erhobenen Hauptes zur
-Tür hinaus, dem Staatsgemach der Frau Cimhuber zu und trat ein.
-Erwartungsvoll sah ihn der Götze daherschreiten.
-
-„Er guckt, er guckt,“ rief Suse.
-
-„Darf er ruhig,“ meinte Hans, räusperte sich, ging stracks auf das
-Ungeheuer zu, klopfte ihm ein paarmal auf den hölzernen Lockenkopf und
-packte dann mit festem Griffe zu. Die Figur wog schwer wie Blei. Und
-Hans hatte Mühe, sie auf seine Schulter zu heben, und trug sie dann mit
-eingeknickten Knien wie ein alter Mann hinter Suse her, die sich aus
-Angst vor dem Ungeheuer langsam immer weiter zurückzog.
-
-„Wart’ doch, wart’ doch!“ rief er.
-
-Fast war er bei der Schwester, da fiel plötzlich mit Getöse ein
-Negerschwert von der Wand herunter.
-
-Hans glaubte, die Decke stürze ein, sperrte vor Schrecken die Arme weit
-auf und ließ den Negergott auf den Teppich plumpsen. Er stand Kopf und
-schlug dann krachend einen Purzelbaum.
-
-„Der Götze, der Götze,“ schrie Suse, sprang in die Höhe wie eine
-Heuschrecke und glaubte, er käme hinter ihr hergerutscht und packe sie
-am Bein. Wenn er sie plötzlich festgehalten, hätte sie es gar nicht
-verwundert.
-
-„Der Götze, der Götze!“ rief sie noch einmal.
-
-Da kam Ursel herbei, erblickte die Figur, die mitten im Zimmer auf dem
-Rücken lag, und stürmte drauf zu.
-
-„Der Götze, der Götze,“ rief sie. Sie kniete daneben nieder, wendete
-ihn um und um wie ein Wickelkind, und entdeckte den Spalt in seinem
-Kopf. Dann jammerte sie: „Jetzt ist er kaput! Da liegt er nun, der
-treue Götze. Wer hat euch denn geheißen, ihn von seinem Platz herunter
-zu holen,“ brauste sie auf. „Müßt ihr alles anfassen, was ihr seht?
-Natürlich hattet ihr keine Ruh’, bis er kaput war.“
-
-[Illustration]
-
-„Frau Cimhuber wird böse sein,“ stotterte Hans.
-
-„Vielleicht nicht?“ brauste Ursel auf. „Soll sie vielleicht Zuckerkind
-zu dir sagen und dir einen Kuchen backen zur Belohnung, weil du den
-Götzen kaput gemacht hast!“
-
-„Nein, das möcht ich nicht,“ sagte Hans noch verwirrter als bislang.
-„Der Götze ist ja von dem Herrn Missionar, nicht wahr?“
-
-„Von wem denn sonst, vielleicht von einem Zwetschenbaum? Meinst du,
-solche fremdländischen Figuren wachsen hier auf Bäumen, und wir holen
-sie uns herunter?“
-
-„Nein... nein..., ich weiß ja, daß er aus Afrika ist,“ sagte Hans
-schüchtern. „Frau Cimhuber hat’s ja gesagt.“
-
-„Jetzt fort mit euch ungezogenen Kindern!“ fuhr Ursel die Pechvögel an.
-„Ihr könnt nichts, wie Dummheiten machen.“
-
-Und die beiden verließen gesenkten Hauptes die Negerstube und wußten
-nicht wohin sehen vor Beschämung.
-
-Es verging geraume Zeit, dann hörten sie, wie die Pfarrfrau
-wiederkehrte, mit Ursel redete und von ihr in die Negerstube geführt
-wurde.
-
-Sie lauschten atemlos.
-
-„Jetzt weiß sie’s,“ flüsterte Suse.
-
-Hans fuhr zusammen und saß blaß und regungslos in der Ecke und
-erwartete jede Minute, Frau Cimhuber werde mit dem Götzen auf dem Arm
-hereinkommen und ihn zur Rede stellen.
-
-Aber sie kam nicht, und auch später, als die Kinder mit ihr beim
-Abendessen zusammentrafen, machte sie ihnen keine Vorwürfe. Sie sah
-nur still vor sich nieder. Da konnte Hans schließlich ihren stummen
-Anblick nicht mehr ertragen, und er sagte leise und beklommen: „Frau
-Pfarrer,... Frau Pfarrer...“ Dreimal schluckte er trocken runter, dann
-begann er wieder: „Ich bitte Sie um Entschuldigung wegen dem Götzen,
-Frau Pfarrer. -- Er -- ist so rutschig und glitschig wie ein Fisch. Er
-ist mir aus den Armen gefallen. -- Ich glaub’ -- ich mein’ --,“ fuhr
-er stotternd fort, „wenn Sie erlauben, Frau Pfarrer, mein’ ich, möcht’
-ich Ihnen einen neuen Gott schenken. Ich könnte Ihnen einen schnitzen
-lassen. Ich habe einen Freund Martin, der schnitzt sehr schön, der
-könnte Ihnen einen neuen schnitzen. Meiner Mutter hat er einen
-Nähkasten geschnitzt. Spazierstöcke kann er auch machen. Der würde
-sicher einen schönen Negergott fertig bringen.“
-
-„Es kommt nicht auf die Schönheit an,“ sagte Frau Cimhuber schmerzlich.
-„Diese Figur war mir nur deshalb lieb, weil sie ein Geschenk meines
-Sohnes aus Afrika ist. Aber wie kommt gerade ihr darauf, sie
-herunterzunehmen? Ihr möchtet doch gewiß auch nicht, daß wir euere
-Sachen in euerer Abwesenheit anfassen und kaput machen.“
-
-„Nein... nein,“ stotterten die Kinder, und Hans sagte kleinlaut: „Wir
-wollten ihn nicht kaput machen. Und wir faßten ihn auch sonst nicht an,
-aber...“
-
-„Ich hab’ gemeint, er ist lebendig,“ fiel hier Suse weinend ein.
-„Entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, ich fürcht’ mich so vor ihm. Und da
-hat Hans gesagt: er ist nicht lebendig. Und da wollten wir sehen, ob er
-lebendig ist. Und da war er gerade wie lebendig. Und ich habe ihn schon
-ganz sicher mal gehört, wie er des Nachts vor meiner Tür gesessen ist
-und leise geklopft hat und gesagt hat: Macht auf; seid ihr drin; ich
-komme.“
-
-„Aber Kind, du phantasierst,“ sagte die Pfarrfrau und sah Suse
-erschreckt an. „Aber, Kind,“ begann sie dann wieder, „du mußt acht
-geben auf alles, was du sagst. Sonst sagst du die Unwahrheit, und das
-ist das Schlimmste, was ein Kind tun kann.“
-
-Suse fuhr zusammen. Hans sah ängstlich auf und verteidigte seine
-Schwester: „Suse träumt immer so. Und dann wacht sie auf und dann hat
-sie gehört, wie jemand draußen war und dann hat sie gemeint, es ist der
-Götze.“
-
-Die Frau Pfarrer schien der Sache nicht recht zu trauen, denn sie
-antwortete nichts, und die Unterhaltung verstummte ganz und gar.
-
-Die Kinder waren froh, als das Abendessen vorüber war und sie sich
-entfernen konnten.
-
-In Suse stand der Entschluß zu fliehen fester denn je. Und als sie mit
-ihrem Bruder allein war, begann sie: „Wir wollen fort, Hans. Nun willst
-du doch auch, daß wir fortgehen. Wir machen ja doch alles verkehrt,
-wenn wir uns auch noch so viele Mühe geben. Was nützt es, daß wir
-noch hier bleiben. Noch kein einziges Mal ist Frau Cimhuber gut zu
-uns gewesen und hat uns gelobt. Glaub’ mir, sie ist froh, wenn wir
-wieder fort sind. Und dann lassen Ursel und sie sich eben andere Kinder
-kommen, die viel artiger sind als wir. Und daheim sind sie froh, wenn
-wir kommen.“
-
-Und stockend fuhr Suse fort: „Und schlechte Zeugnisse bekommen wir
-auch. Ich versteh’ immer noch nichts in der Schule, und daheim war ich
-immer die erste.“
-
-„Ich versteh’ jetzt schon mehr,“ sagte Hans schüchtern.
-
-Suse aber fuhr fort: „Du gehst aber doch mit mir fort? Gelt? Du bleibst
-nicht hier? Wir gehen nach Hause. Ach laß uns doch nach Hause gehen.“
-
-Der Bruder schüttelte sein Haupt und sagte standhaft wie ein
-Erwachsener: „Nein, Suse, die Eltern haben gesagt, wir bleiben hier,
-und jetzt bleiben wir hier.“
-
-Allein das Unglück heftete sich an des Knaben Fersen, und ehe noch der
-folgende Tag vorüber war, sollte sein Heldentum jäh in die Brüche gehen.
-
-Morgens früh ging er ganz zuversichtlich zur Schule. Der Aufenthalt
-dort war ihm lange nicht so unangenehm, als der in Frau Cimhubers Haus,
-wo alles ihn vorwurfsvoll ansah, heute selbst der Negergott, der mit
-seinem geborstenen Haupt ein Bild des Schreckens bot.
-
-Die Schule dagegen war Hans lange nicht mehr so fremd wie in den ersten
-Tagen seines Hierseins. Lehrer und Schüler waren ihm bekannter, der
-ganze Unterricht vertrauter geworden.
-
-Heute nun brachte er es sogar fertig, in der ersten Hälfte des Morgens
-ein paar gute Antworten zu geben und war ganz angetan von sich.
-
-So kam die letzte Stunde, eine Naturgeschichtsstunde, heran. -- Der
-Lehrer wollte mit den Kindern in der Besprechung des Hausrindes
-fortfahren, mit der er schon das letztemal begonnen hatte.
-
-Es würde sehr lustig und ulkig zugehen, meinten einige von Hansens
-Mitschülern, die sitzen geblieben waren und deshalb vom letzten Jahre
-her über alles genau Bescheid wußten.
-
-Herr Meyer werde nämlich einen Kuhmagen mitbringen, um ihn aufzublasen
-und dessen Form deutlich zu zeigen. Bei diesem Beginnen pflege er
-selbst so heftig mit anzuschwellen, daß die Klasse in lautes Lachen
-ausbreche und nicht mehr zu halten sei.
-
-Fuchsteufelswild werde er darüber.
-
-Nun war die Pause vorüber und die Schüler suchten ihre Plätze auf.
-Rechts und links von Hans saßen seine Nebenmänner schon, und zwar
-auf der einen Seite sein Freund Peter, ein Knabe mit einem freien,
-aufgeweckten Wesen. Hans und er waren gleich Freunde geworden, stammte
-Peter doch auch aus den Bergen, und so hatten die beiden einander
-gleich viel zu erzählen gehabt. -- Für Peters größtes Heiligtum, eine
-Tierschädel- und Vogeleiersammlung, wollte Hans aus den nächsten Ferien
-einige neue wertvolle Stücke mitbringen.
-
-Weniger freundschaftliche Beziehungen bestanden zwischen Hans und dem
-Knaben an seiner andern Seite. Dieser, Kurt, war das gerade Gegenteil
-von Peter, ein unaufrichtiger, verschlagener Junge, der aber trotzdem
-einen großen Einfluß auf seine Mitschüler ausübte. Er hatte den
-Fußballklub „Germania“ gegründet und schon eine große Anzahl Mitglieder
-gewonnen. Auch Hans sollte diesem Verein beitreten, hatte es aber bis
-jetzt noch abgelehnt, da ihn einstweilen in der Stadt noch viel anderes
-Neues lockte.
-
-Gerade hatte der sporteifrige Kurt Hans wieder in ein Gespräch über
-seinen Fußballklub verstrickt, da öffnete sich die Tür, und der
-Lehrer, Herr Meyer, trat ein. Unter dem Arm trug er eine Pappschachtel
-und einige Bücher. Der Lärm in der Klasse ließ nach. Ganz still wurde
-es allerdings noch nicht. So recht in Respekt zu setzen wußte dieser
-Lehrer sich nämlich nicht.
-
-Er ging nun auf das Pult zu und nahm dort Platz. Hinter ihm erhob sich
-die weißgekalkte, mit Bildern Schillers und Uhlands geschmückte Wand.
-Die Pappschachtel stellte er neben sich nieder. In der Klasse war noch
-Flüstern, Klappern, sowie Schurren mit den Füßen zu hören.
-
-„Ruhe,“ rief der Lehrer, und die Stunde begann.
-
-„Welches ist das nützlichste Haustier des Menschen?“ leitete er seinen
-Unterricht ein.
-
-„Das Hausrind,“ kam als Antwort zurück.
-
-Herr Meyer war mit dieser Erwiderung zufrieden und legte nun den
-Kindern andere Fragen vor, die sie ebenfalls zu seiner Zufriedenheit
-beantworteten. Dann reihte er gemeinsam mit ihnen das Tier in die
-Klasse der Wiederkäuer, Pflanzenfresser und Huftiere ein, und mehrere
-Male mußten die Knaben die Merkmale dieser Tiere wiederholen.
-
-Hans paßte gut auf, damit ihm kein Wort entgehe. Die Beschaffenheit
-der Zunge, des Gebisses, der Hufe, der Muskulatur, alles war ihm klar.
-Auch die Einteilung des Kuhmagens leuchtete ihm ein; Pansen, Netzmagen,
-Blättermagen und Labmagen hießen die verschiedenen Abteilungen.
-
-Als der Lehrer mit seinen Erklärungen fertig war, griff er nach der
-Pappschachtel. -- Die Kinder stießen einander an und sahen gespannt
-nach dem Pult. Jetzt war der langersehnte, aufregendste Augenblick der
-Stunde gekommen. Der Lehrer hob den Deckel der Schachtel auf und holte
-ein lederfarbenes Hautgemengsel heraus, indem er sagte: „Nun wollen wir
-uns einmal einen richtigen, echten Kuhmagen ansehen.“ Hierauf setzte
-er eine Glasröhre in die Öffnung des Magens und begann zu pusten.
-Die Knaben verwandten keinen Blick von ihrem Lehrer und seinem Tun.
-Langsam schwoll der Magen an, eine Abteilung nach der andern, und in
-dem Maße, als er an Umfang zunahm, schien auch des Oberlehrers Gestalt
-anzuschwellen. Der Zwischenraum zwischen ihm und dem Pultdeckel wurde
-immer geringer. Leise kicherten einige Knaben. Zürnend blickte der
-Lehrer in die Klasse und wurde krebsrot im Gesicht. Aber sein Mund ließ
-die Glasröhre nicht los. Da platzte einer der Knaben laut aus. Der
-Oberlehrer ließ die Glasröhre in seiner Hand fahren, und der Kuhmagen
-sank mit einem leise pfeifenden Ton in sich zusammen. Am lautesten
-mußte Hans lachen. Das Unglück wollte ja immer, daß er da am lautesten
-lachte, wo es am wenigsten angebracht war.
-
-Puterrot vor Zorn schlug der Lehrer auf das Pult, daß der Kuhmagen wie
-ein lederner Tabaksbeutel in die Höhe flog und rief: „Wenn jetzt noch
-einmal einer lacht, dann bekommt ihr alle Arrest. -- Verstanden? --
-Es ist doch seltsam, daß gerade die immer am meisten lachen, die am
-wenigsten können,“ meinte er mit einem durchbohrenden Blick nach Hans
-hin.
-
-Dieser wurde käsweiß.
-
-„Die Schule ist doch nicht dazu da, daß wir uns im Lachen und Schreien
-üben,“ fuhr der Lehrer lauter fort. „Wenn wir das wollen, können wir
-lieber in unseren Hinterwäldern bleiben und mit unseren Kühen auf die
-Weide gehen.“
-
-Hans spürte, wie seine Stirn eiskalt wurde. -- Der Lehrer meinte
-natürlich ihn. Ja, er hätte daheim bleiben sollen in Schwarzenbrunn.
-
-Zitternd vor Ärger ergriff Herr Meyer jetzt den Kuhmagen zum zweitenmal
-und pustete ihn auf. Nun bedurfte es nur noch einiger schwacher
-Atemzüge, dann war dieser ganz und gar mit Luft gefüllt.
-
-Da geschah etwas Unerwartetes.
-
-Durch die Klasse schwirrte plötzlich eine Papierkugel und fiel mitten
-auf des Lehrers Nase nieder. Sein Kopf fuhr auf, und die Glasröhre fiel
-zur Erde. Es war totenstill in der Klasse. Dann sprang Herr Meyer in
-die Höhe und fuhr die Knaben an: „Wer hat das getan?“ Keiner antwortete.
-
-Fest hefteten sich da die Augen des Lehrers auf Hans. -- Unsicher
-flogen des kleinen Knaben Blicke durch die Klasse. -- War nicht seine
-Hand wie von einem Wurf ermattet unter die Bank gesunken, als der
-Lehrer aufgeblickt hatte?
-
-„Ich weiß genau, wer es getan hat,“ rief der Lehrer lauter als vorher.
-
-„Du, der Neue, da hinten in der Ecke, komm mal her! Wie heißt du doch
-gleich?“
-
-Mechanisch ging der Junge auf das Pult zu und sah den Lehrer
-hilfesuchend und verstört an.
-
-„Gesteh mal, du hast’s getan,“ donnerte ihm dieser entgegen.
-
-Hans würgte an einer Antwort, aber sie kam nicht über seine Lippen. Der
-Ausdruck seiner Augen wurde immer unglücklicher und hilfloser.
-
-„Antworte,“ rief der Lehrer.
-
-Er schwieg.
-
-„Ah, du bist auch noch trotzig,“ fuhr Herr Meyer ihn an. „Marsch, geh’
-wieder auf deinen Platz. Ich kenne dich, Bürschchen. Aber jetzt hab’
-ich keine Zeit für dich. Doch morgen früh wirst du mit mir zum Herrn
-Direktor gehen.“
-
-Hans konnte noch immer keinen Laut hervorbringen. Wie ein zum Tode
-Verurteilter stand er da. Dann kehrte er langsam um, und als er an
-seinem Platz angelangt war, warf er seinem Nebenmann Kurt einen langen,
-verängstigten Blick zu.
-
-Zwischen diesem und Peter war ein hartnäckiger Streit ausgebrochen.
-Hansens Freund angelte mit Armen und Beinen an Hans vorüber nach dem
-Klubgründer hin, und als er ihn schließlich am Bein erwischt hatte, riß
-er ihn mit einem Ruck fast von der Bank. Sein Mitschüler kehrte ihm ein
-finsteres, verschlagenes Gesicht zu.
-
-Hans merkte nichts von alledem. Vor seinen Augen war es finster wie in
-einem Sack. Die Worte des Lehrers klangen wie fernes Gemurmel an seinen
-Ohren. Nichts ging ihm mehr ein, nur der eine Gedanke beherrschte ihn
-ganz und gar, er wollte fort von hier, fort. Im Grunde hatte er ja
-genau dasselbe Heimweh wie Suse. Bis jetzt hatte er es nur sorgsam
-versteckt. -- Die Schwester hatte ja so recht, sie machten ja doch
-alles verkehrt hier, sie konnten anfangen, was sie wollten. Und morgen
-gar sollte er zum Direktor! Und gingen sie nicht von selbst, so
-schickten ihre Lehrer sie schließlich fort. Drum sagte Hans, als er
-heute nach Hause kam, zu seiner Schwester: „Suse, wir wollen heim.“
-
-Die Schwester glaubte zuerst nicht recht gehört zu haben, dann aber
-rief sie laut: „Nach Hause! Oh, wie schön! Oh, wie schön! Oh, wie freu’
-ich mich! Wie freu’ ich mich! Heim! Heim! Zu unseren Eltern!“
-
-Der Bruder antwortete nichts, Suse aber handelte. -- Eine wichtige
-Frage galt es in erster Linie zu erledigen. Woher sollten sie das
-Reisegeld nehmen? -- Die drei Mark, die Suse noch hatte, und die paar
-Groschen von Hans reichten lange nicht. Da kam ihr ein herrlicher
-Gedanke. Sie hatten ja einen treuen Beschützer und Freund hier in der
-Stadt, den Vetter Theobald. -- So böse und übermütig, wie der einst in
-Susens Elternhaus gewesen, so fürsorglich war er jetzt. Erst gestern
-hatte er ihnen beiden Schokolade aus einem Automaten geschenkt. Der
-Vetter würde helfen!
-
-So schaute Suse denn gegen drei Uhr nachmittags fleißig nach
-ihrem Vetter aus, da er täglich zu dieser Zeit auf seinem Weg zur
-Schwimmanstalt an Frau Cimhubers Haus vorübergehen mußte.
-
-Auch heute tauchte er zur gewohnten Stunde auf, und Suse konnte
-hinuntereilen und sich ihm anschließen. Lange Zeit fand sie nicht
-den Mut zum rechten Wort und verfiel in Stillschweigen. Er aber
-hielt ihr ehrfurchtsvolles Verstummen für eine Huldigung, die sie
-seiner bedeutenden Persönlichkeit darbrachte, und erzählte in der
-aufgeblasensten Weise von seinen Erlebnissen.
-
-Er könne all den Freunden und Belustigungen, die in dieser
-interessanten Stadt auf ihn einstürmten, kaum Herr werden, meinte er
-mit einem Seufzer. So gehe er heute abend mit seinem Onkel Fritz in
-den Zirkus, um sich eine Vorstellung von Akrobaten und Kunstradfahrern
-anzusehen. Es sei fabelhaft. Es sei unglaublich. Es sei überwältigend,
-was diese Künstler leisteten. -- Auf dem Hinterrad ihrer Maschine
-fahrend, würfen sie das Vorderrad in die Höhe, sausten in dieser
-Stellung rund um den Zirkus, stellten sich mit dem Kopf auf den Sattel
-und strampelten mit den Beinen. Forschend sah der Vetter in seiner
-Cousine Gesicht und erwartete dort Bewunderung, Überraschung, Staunen.
-Aber nichts dergleichen war zu sehen.
-
-Suse hing eigenen Gedanken nach. Und während er sie noch so
-betrachtete, platzte sie mit einem Male los: „Du, Theobald, du möchtest
-mir zwanzig Mark geben. Wir gehen morgen nach Hause.“
-
-„Was?“ rief Theobald und sank auf einer Bank am Kanale nieder. Er
-starrte Suse an wie von Sinnen.
-
-„Was?“ stotterte er.
-
-Und mit einemmal trampelte er mit den Füßen auf dem Boden, schlug sich
-mit den Händen auf die Knie und fing so laut und heftig an zu lachen,
-daß Suse meinte, er ersticke. Ganz blaurot war er im Gesicht und
-zappelte auf der Bank herum wie ein Fisch, der auf das Trockene geraten
-ist. Ja, in seinem Übermut wurde er wieder ganz der ausgelassene
-Theobald, als den Suse ihn in ihrem Heimatsort kennen gelernt hatte,
-lief auf seinen Händen wie ein Zirkuskünstler ein Stück durch die
-Anlagen, kehrte dann um, sprang auf seine Füße, ließ sich wieder auf
-die Bank plumpsen und dazu rief er: „Herrlich, herrlich! Ich möchte die
-Spatzen auf den Dächern umarmen vor Freude. So was Schönes hab’ ich
-lange nicht gehört. Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte. Und dabei habt
-ihr immer so geprahlt mit eurer Negerstube und eurer Pflegedame und dem
-Kirschenpudding, den sie euch macht, und dem dicken Apfelmus auf euren
-Bröten. Und dabei habt ihr immer gesagt, Frau Cimhuber ist so fromm,
-daß sie sicher in den Himmel kommt. Und jetzt wollt ihr fort von eurer
-frommen Frau. Weiß sie’s denn schon, daß ihr geht?“ forschte er.
-
-Suse schüttelte ihr Haupt.
-
-Da lachte Theobald lauter denn je, schlug sich auf die Knie, warf sich
-hinten über die Bank, konnte sich aber noch zur rechten Zeit an der
-Lehne festhalten und daran emporziehen und trieb so lange Unfug, bis
-Suse ihn am Ärmel packte und auf die Leute aufmerksam machte, die rund
-herum standen und lachten.
-
-Da entsann er sich flugs seiner Würde als wohlerzogener Stadtmensch,
-ließ sich gesittet auf der Bank nieder und forderte seine Base auf,
-neben ihm Platz zu nehmen, damit sie alles besprächen.
-
-Dann begann er sein Verhör. „Also das Reisegeld willst du. Zwanzig Mark
-stehen zu deiner Verfügung. Die hab’ ich letzte Woche von Onkel Fritz
-zum Geburtstag bekommen. Aber Toni hat sie mir gestern abgebettelt für
-ein Bild, das sie ihrer Freundin schenken will. --
-
-Na, das ist ein Bild! Die Toteninsel heißt’s! Einfach schauderhaft! Die
-Haare stehen mir zu Berge, wenn ich’s nur angucke. Ich versichere dich,
-wenn man sich unterstände, mir ein solches Bild zu schenken, würd’
-ich’s als die größte Beleidigung auffassen und dem gütigen Geber die
-Freundschaft für immer kündigen. --
-
-Das Bild ist also schon gekauft und mein Geld ausgegeben. Aber beruhigt
-euch. Ihr bekommt anderes. Ich lasse mir heute welches von Onkel Fritz
-geben, wenn wir im Zirkus sind. Der läßt mich nicht in der Patsche.
--- Bin ich morgen früh zur rechten Zeit nicht am Bahnhof, so nehmt
-einstweilen von eurem Geld eine Karte bis Haslach. Dort müßt ihr
-sowieso den Eilzug verlassen und eine neue Karte für den Bummelzug
-nehmen.
-
-Den Reiseplan hast du dir natürlich noch nicht zurecht gelegt. Nicht
-wahr?“ fuhr er mit gerunzelter Stirn fort. --
-
-„Das kannst du auch nicht. Du hast ja keine Erfahrung im Reisen. Mit
-mir ist das ganz was anderes.“ --
-
-Dabei war der Prahlhans auch nicht viel weiter gekommen als nach
-Hansens und Susens Heimatsort. Allein, nach dem Ton seiner Worte zu
-urteilen, hatte er schon eine Weltreise gemacht.
-
-Jetzt holte er den Fahrplan aus der Tasche, blätterte sich räuspernd
-drin herum und meinte, Suse Papier und Bleistift reichend: „Schreib’
-dir auf, was ich dir sage. Um fünf ein Viertel Uhr fahrt ihr hier
-ab und nehmt den Eilzug bis Haslach. Drei Stationen von hier. Gut!
-Merk’ dir’s! Drei Stationen von hier. Ihr zählt sie. Gut! Dort steigt
-ihr um und fahrt bis zur Endstation Maria Heil. Merk’ dir’s! Gut. Du
-frägst den Schaffner in Haslach, wo der Zug nach Maria Heil steht.
-Gut. In Maria Heil steigt ihr aus und schlängelt euch in die dort
-wartende Postkutsche. Merk’ dir’s! Schreib’ Postkutsche auf. In diese
-Postkutsche kriecht ihr dann und fahrt nun, den Regenschirm und Koffer
-fest in der Hand, in die Arme eurer hochbeglückten Eltern hinein.
-Schreib’ ‚hochbeglückte Eltern‘ auf! Verstanden? Und bestellt Grüße von
-mir. Gut!“
-
-Jetzt zog Theobald seine Uhr und sagte in ernstem Ton: „Es ist höchste
-Zeit, daß ich gehe, wenn ich noch schwimmen will. Drum leb’ wohl.
-Tipp, topp, nur Mut, die Sache wird schon schief gehen,“ sagte er mit
-kräftigem Händedruck.
-
-„Theobald,“ flüsterte sie mit einemmal, banger Ahnungen voll. „Du
-verrätst doch nicht daheim, was wir anfangen wollen?“
-
-Theobald tippte sich an die Stirn, zuckte die Achseln und murmelte:
-„Man hat doch auch Charakter.“ Damit ging er von dannen.
-
-So war denn alles zur Flucht geordnet. Das Reisegeld war den Kindern
-sicher, der Fluchtplan stand auf dem Papier, und die Sachen mußten
-heute abend gepackt werden.
-
-Langsam ging Suse nach Hause und sagte zu ihrem Bruder: „Es ist alles
-gut, Theobald gibt uns das Geld. Wir gehen.“
-
-Der Bruder nickte. Je weiter aber der Nachmittag vorschritt, um so
-beklommener ward es ihr zu Sinn. Die frohe Zuversicht, die sie heute
-morgen angesichts der Entschlossenheit ihres Bruders beseligt hatte,
-machte schweren Gedanken Platz. War es nicht falsch und schlecht
-von ihr, Frau Cimhuber zu belügen und zu betrügen und zu tun, als
-wäre nichts los, während man einen solch hinterlistigen Fluchtplan
-anzettelte? Gewiß, es war böse und schlecht, aber Suse konnte nicht
-anders. Sie mußte fortlaufen. Sie konnte keinen Tag länger hier
-bleiben. Sie mußte fort, fort nach Hause!
-
-Dann während des Abendessens saß sie mit ängstlich klopfendem Herzen
-der Pfarrfrau gegenüber wie ein Häschen, das den Jäger kommen hört.
-Hans ging es nicht viel besser. Seine Augen flackerten unruhig hin und
-her, und die von Ursel aufgetischten Quellkartoffeln würgten ihn im
-Halse wie Hanfknäuel.
-
-Und als im Laufe der Tischsitzung die Pfarrfrau einige Augenblicke von
-Ursel herausgerufen wurde und die Geschwister allein blieben, sahen sie
-sich scheu um.
-
-„Ich meine grad’, ich ersticke,“ unterbrach Suse die Totenstille.
-
-Der Bruder nickte.
-
-„Hernach wollen wir unsere Sachen zurechtlegen,“ fuhr die Schwester
-leiser fort, „und uns genau den Reiseplan ansehen. -- Hier, nimm den
-Zettel! Du gibst doch besser drauf acht,“ meinte sie, indem sie in die
-Tasche langte und nach dem bewußten Papierstreifen suchte.
-
-Aber plötzlich zog sie ihre Hand zitternd aus der Tasche zurück und
-erklärte stockend: „Er ist fort, ich hab’ ihn verloren.“
-
-„Verloren?“ sagte Hans, noch um einen Schatten blasser als bislang,
-„hoffentlich hast du ihn nicht hier im Haus verloren und Ursel oder
-Frau Cimhuber finden ihn.“
-
-Und als die Pfarrfrau gleich darauf in das Zimmer zurückkehrte, sah er
-sie so hilfeflehend und verstört an, daß sie ganz besorgt fragte: „Was
-fehlt dir, mein Kind? Ist dir nicht wohl?“
-
-Hans blieb stumm.
-
-„Hm, hm!“ meinte sie. „Ihr seid komische Kinder. Was euch fehlt,
-erfährt man eigentlich nie. Hat es vielleicht was in der Schule
-gegeben?“
-
-Die beiden saßen verschüchtert da und antworteten nicht.
-
-Plötzlich begann die Pfarrfrau unvermittelt: „Eh’ ich’s vergesse, ich
-muß euch noch etwas sagen. Nächste Woche seid ihr bei eurem Onkel
-Gustav eingeladen. Er war heute nachmittag hier und läßt euch vielmals
-grüßen. Es wird sicher ein fröhlicher Tag für euch werden.“
-
-„Schade,“ stotterte Suse, „dann sind wir ja schon fort.“
-
-„Was sagst du da, Kind?“ forschte die Pfarrfrau.
-
-Hans aber ließ vor Schreck die Gabel unter den Tisch fallen.
-
-„Du meinst, ihr seid nicht mehr hier an dem Tage?“ fuhr ihre
-Pflegemutter fort. „Wo seid ihr denn sonst? Habt ihr einen Schulausflug
-vor oder sonst eine Einladung? Die Einladung kann ja auf einen andern
-Tag verlegt werden. Bei eurem Onkel werdet ihr sicher einen schönen
-Nachmittag verleben. Er hat Kinder in eurem Alter, und mit denen könnt
-ihr nach Herzenslust in dem großen Park an seinem Haus herumspringen.“
-
-Suse hörte mit schmerzlichem Empfinden dieser verführerischen
-Beschreibung zu und sagte etwas später nicht ohne Bedauern zu ihrem
-Bruder: „Schade ist’s ja, daß wir nicht zu Onkel Gustav können. Nicht
-wahr, Hans? Aber was meinst du, wenn er uns auch die wunderschönsten
-Sachen schenkte, wir blieben doch nicht hier? Gelt, daheim ist’s viel
-schöner, viel, viel schöner. Viel, viel tausendmal schöner.“
-
-An dem Verschwörungsabende wurden die Kinder etwas früher als sonst zu
-Bett geschickt, weil die Pfarrfrau sich um Hansens Befinden sorgte.
-Aber gegen Mitternacht, als die Lichter im Cimhuberschen Hause gelöscht
-waren und nichts mehr sich regte, standen die beiden Übeltäter wieder
-heimlich von ihrem Lager auf, packten ihre Sachen und probierten an,
-wieviel Leibwäsche sie nach Susens berühmtem Rezept übereinander
-anziehen konnten. --
-
-Vier Hosen, vier Hemden, das ging ganz fein. -- Den Rest steckten sie
-in die Hirschtasche, eine gestickte Reisetasche aus Großmutters Zeiten,
-auf der ein brauner Hirschkopf, von einem Eichenkranz umrahmt, prangte.
-Auch eine Pappschachtel mußte noch einige Kleidungsstücke aufnehmen.
-
-Und während der Vorbereitungen sah Suse sich bereits im Geist mit all
-diesen Herrlichkeiten durch die Pforte ihres Vaterhauses schreiten,
-befreit von aller Not und Qual. Nur der Gedanke an den fehlenden Zettel
-flößte ihr zuweilen Besorgnis ein. Je weiter die Stunde vorschritt, je
-unsicherer wurde sie.
-
-„Ich kann nicht schlafen vor Angst,“ meinte sie zu ihrem Bruder. „Am
-Ende haben sie den Zettel gefunden und erwischen uns morgen früh.“
-
-Jetzt war der Bruder der Mutige und entgegnete: „Ach, Suse, wenn sie
-ihn gefunden hätten, wüßten wir es jetzt schon...“
-
-Derweil saß die zahnwehkranke Ursel stöhnend auf der Kante ihres Bettes
-und buchstabierte an einem kleinen Zettel herum, den sie vorhin am
-Eingang der Negerstube gefunden hatte.
-
-„Ab fünf ein Viertel Uhr,“ stand darauf, „Eilzug Haslach, Schaffner,
-Maria Heil.“ -- Lauter krauses Zeug.
-
-Schließlich ließ ihr’s keine Ruhe mehr, und sie schlich vor die Kammer
-der beiden Kinder, um zu lauschen. -- Hinter der Tür regte sich etwas.
-Sie stutzte und horchte angestrengter. -- Ja, so war’s, Kisten und
-Stühle wurden gerückt. Es flüsterte.
-
-Fester drückte sie ihr Ohr gegen die Tür. -- Doch nun war’s totenstill.
-Eine ganze Weile blieb sie stehen. Jetzt, jetzt regte sich’s wieder.
-
-Da fuhr aber Ursel ein solch heftiger Schmerz in ihren hohlen Zahn, daß
-sie sich mit beiden Händen an den Kopf fuhr und mit schmerzverzerrtem
-Gesicht davonschwankte.
-
-Am andern Morgen um drei Viertel auf fünf ging leise die Tür von
-Frau Cimhubers Wohnung, und zwei Kinder mit blassen, übernächtigen
-Gesichtern traten ins Treppenhaus.
-
-Es waren Hans und Suse, die durch die Menge der übereinander gezogenen
-Kleidungsstücke kugelrund aussahen. Vorsichtig schlossen sie die
-Flurtür hinter sich und gingen auf Zehenspitzen die ausgetretenen
-Stiegen der Treppe hinunter. Ein graues, unfreundliches Licht erhellte
-nur matt ihren Weg. Alles war totenstill. Das Haus schlief noch. Öfters
-blieben sie stehen und horchten. Doch als nichts sich regte, gingen sie
-weiter.
-
-Im zweiten Stock wurde Suse die Hirschtasche zu schwer, und der Bruder
-half ihr beim Tragen. Dann kehrte er zurück, um sein eigenes Gepäck
-nachzuholen.
-
-Gerade als er die unterste Stufe der Treppe wieder erreicht hatte
-und das Haus verlassen wollte, hörte er plötzlich im Treppenhaus ein
-Geräusch. Ihm war es, als sei irgendwo eine Tür gegangen, und als stehe
-nun jemand oben vor Frau Cimhubers Wohnung und lausche mit angehaltenem
-Atem über das Treppengeländer.
-
-Ganz kalt überlief’s ihn, und er schloß schnell die Tür. In der Ferne
-erblickte er Suse. Sie schritt mit großen Schritten rüstig aus, während
-ihre rechte Schulter sich unter der Last der Hirschtasche senkte. Der
-Bruder wollte ihr folgen, hörte aber plötzlich hoch über sich seinen
-Namen rufen. Er blickte am Haus hinauf und gewahrte in schwindelnder
-Höhe ein mit Tüchern umwickeltes Haupt. -- Ursel?
-
-„Hans,“ rief sie, „Hans, Hans, Hans!“
-
-Da schrie er auf und rannte wie besessen davon.
-
-„Sie kommt, sie kommt,“ rief er.
-
-Suse stürzte vorwärts, als sei ihr der Tod auf den Fersen. Bald
-erlahmten ihre Kräfte, und Hans nahm ihr die Hirschtasche ab, um sie in
-seinen Armen zur Elektrischen zu tragen. Klingelnd fuhr diese mit den
-beiden Flüchtlingen davon.
-
-Als die zwei verzweifelten Ausreißer schließlich am Bahnhof ankamen,
-war natürlich von dem tüchtigen Theobald weit und breit keine Spur zu
-entdecken.
-
-„Er hat die Zeit verschlafen,“ stöhnte Suse.
-
-„Nein, er kommt,“ sagte Hans bestimmt, „er hat’s versprochen, und was
-er versprochen hat, hält er.“
-
-Damit ging der kleine Junge geradeswegs auf die Bahnhofshalle zu,
-während Suse wie ein aufgescheuchtes Hühnchen hinterdreinflatterte. Am
-Schalter löste er die Karten zu Reise und kehrte dann zum Eingang der
-Bahnhofshalle zurück, um nach dem Vetter auszusehen.
-
-Endlich sah er am Ende der Straße einen Radfahrer auftauchen und
-schaute näher hin. Ja, es war Theobald. Auf der Lenkstange seines Rades
-liegend, kam er wie eine Windsbraut seines Wegs. Jetzt sprang er ab.
-
-„Ursel kommt!“ rief er. „Wie ein tollgewordener Mops macht sie Sätze.
--- Es ist haarsträubend, wie sie die Ecken nimmt! Kommt, kommt. Sie hat
-die Faust nach mir geschüttelt.“
-
-Im Nu hatte er eine Bahnsteigkarte gelöst, sein Rad einem Gepäckträger
-gegeben, die Hirschtasche auf seinen Rücken geworfen, die Pappschachtel
-in die Hand genommen und stürzte mit den Kindern durch die Sperre.
-
-Susens Knie waren wie gebrochen, die Stimme versagte ihr.
-
-Jetzt waren sie auf dem Bahnsteig. Die letzte Tür des dort haltenden
-Zuges war schon geschlossen. Der Beamte wollte eben das Zeichen zur
-Abfahrt geben, da riß Theobald noch im letzten Augenblick ein Coupé
-auf, drängte die Doktorskinder hinein und schubste ihre Hirschtasche
-hinterdrein, so daß der „Engel“ und die „Geburt Christi“ gegeneinander
-stießen.
-
-Die Tür wurde wieder zugeschlagen, und der Zug fuhr davon. In ein paar
-Sekunden mußte er aus der halle sein. Da beugte sich plötzlich Suse
-weit aus dem Fenster und rief in Todesangst: „Theobald, unser Geld,
-unser Reisegeld! Gib doch, gib doch! -- Das Zwanzigmarkstück!“
-
-Der Vetter schlug sich vor die Stirn.
-
-Im Nu war er an ihrer Seite und wühlte verzweifelt in seiner
-Westentasche.
-
-„Hier, hier,“ rief er, und ein blitzender Gegenstand fuhr surrend durch
-die Luft und traf wohlgezielt ins Coupé. -- Die Kinder hatten ihr
-Reisegeld. Da fuhr auch der Zug schon aus der Halle.
-
-Suse war wie erlöst. In ihrer Freude umarmte sie ihren Bruder und
-jubelte: „Jetzt ist alles gut.“
-
-Doch Hans wehrte: „Erst das Geld, Suse, ich will’s in meine Tasche tun.“
-
-Und er eilte auf die Ecke zu, wo die Münze niedergefallen war. Blitzend
-lag sie auf der Bank. Er griff danach, fuhr aber jäh zurück wie vor
-einer zischenden Schlange.
-
-Dort lag..., dort lag...
-
-Er verfärbte sich. Alles drehte sich um ihn. Er rieb sich die Augen.
--- Nein, es war kein Irrtum. Dort in der Ecke lag kein Geld, sondern
-ein dicker, blinkender Messingknopf. -- Ein abgerissener Hosenknopf von
-Theobald. -- Nichts anderes. Das war also alles, was er ihnen gespendet
-hatte. Deshalb war er wie ein Verrückter neben dem Zug hergesprungen,
-um ihnen einen Hosenknopf hinterherzuwerfen!
-
-„Suse, Suse,“ stotterte Hans „Komm her, guck, was da liegt.“
-
-Sie kam zögernd näher, schaute hin und wurde weiß wie Kreide.
-
-Dieser Hosenknopf von Theobald war also alles, was sie hatten! Ihre
-ganze Barschaft! Damit sollten sie sich Karten für die Reise kaufen und
-außerdem Plätze in der Postkutsche bezahlen! -- Laut weinend setzte sie
-sich vor dem lügnerischen Knopf nieder und starrte ihn angstverzerrt
-an. -- Den sollten sie dem Schalterbeamten in die Hand drücken! -- Der
-würde gucken!
-
-Hans sah wie verhext in derselben Richtung, griff nach dem Knopf und
-schleuderte ihn aus dem Fenster.
-
-Jetzt wußte auch er nicht mehr aus noch ein und saß wie vernichtet auf
-seinem Platz. Der Schwester Schmerz brachte ihn schließlich wieder zur
-Besinnung. Er versuchte, ihr die Hände von den verweinten Augen zu
-ziehen und tröstete: „Weine nicht, Suse, weine nicht. Sei still, Suse,
-sei still, laß uns mal bedenken, was wir jetzt tun.“
-
-Aber ach, er selbst konnte seine bitteren Tränen nicht mehr
-zurückdrängen.
-
-Auf der dritten Station, in Haslach, stiegen die Kinder aus und blieben
-eine Weile unschlüssig auf dem Bahnsteig stehen. Dann gingen sie auf
-den Wartesaal zu. Schüchtern drückten sie sich zur Tür herein und
-suchten nach einem freien Platz. Vom Schenktisch her verbreitete sich
-der verlockende Duft warmen Kaffees und gemahnte sie daran, daß sie
-heute morgen noch nichts genossen hatten. Aber was bedeuteten Hunger
-und Durst im Vergleich zu der Angst, die sie empfanden! --
-
-Wohin sollten sie sich nun eigentlich wenden? Zur Stadt zurück? --
-Sie hatten ja kein Geld mehr, selbst nicht für eine Fahrkarte vierter
-Klasse. Und zu Fuß zurückzuwandern, das war ihnen unmöglich. Dazu war
-der Weg ja viel zu weit.
-
-Da kam Hans mit einemmal ein rettender Gedanke.
-
-Wenn sie dem Schalterbeamten irgendein Geschenk machten? -- Vielleicht
-die „Geburt Christi“ von Martin oder den Engel von Christine oder sonst
-irgend etwas Schönes. -- Am Ende gäbe er ihnen dann eine Fahrkarte.
-
-Die Schwester horchte auf, dachte nach; ihre Augen wurden heller, und
-da rief sie auch schon ganz freudig: „Du hast recht und du sollst mal
-sehen, der gibt uns gleich so viele Karten als wir wollen. Der freut
-sich!“
-
-Und das kleine Mädchen, das eben noch ganz verzweifelt gewesen war,
-wiegte sich schon wieder in den schönsten Hoffnungen. Ja, dank ihrer
-üppigen Phantasie hörte sie bereits den Beamten am Schalter, diese
-Seele von einem Menschen, sagen: „Fein, daß man euch mal sieht, her mal
-mit euren wunderschönen Sachen. Wieviel Karten wollt ihr dafür? Auf
-eine Fahrkarte mehr oder weniger kommt’s mir nicht an!“
-
-Hans, der schwerfälliger veranlagt war als seine Schwester, meinte
-beklommen: „Man weiß es nicht, ob er sich freut; vielleicht freut er
-sich nicht.“
-
-Doch Suse hörte und sah nicht mehr und suchte mit beiden Händen
-verzweifelt in der geöffneten Hirschtasche nach ihren Schätzen. Auf
-dem Grunde mußten sie liegen. Eine ganze Schicht Kleider, Strümpfe,
-Schuhe, Bänder hatte sie schon vorsichtig auf die Bank niedergelegt. Da
-stieß sie endlich auf die Geburt Christi und den Engel. Und mit großer
-Befriedigung legte sie die Sachen auf den Stapel Kleider neben sich
-nieder und schickte sich an, den Grund der Hirschtasche zu ordnen.
-
-„Schnell, schnell,“ drängte da Hans, „die Leute gucken.“ Und dabei warf
-er ängstliche Blicke auf die Menschen rund herum, die an Tischen saßen,
-Kaffee tranken und die Kinder aufmerksamen Blickes beobachteten.
-
-Aber am verdächtigsten kam Hans doch ein Beamter vor, der von Zeit zu
-Zeit die Züge abrief und jedesmal neugieriger auf sie zu werden schien.
-
-Eben war er sogar eine ganze Weile an der Tür stehen geblieben und
-hatte die beiden kopfschüttelnd gemustert.
-
-Da wurde des kleinen Jungen Aufmerksamkeit jäh abgelenkt.
-
-Er stieß Suse an, und auch sie schaute auf.
-
-Durch die Tür des Wartesaals, nicht weit von den Kindern, drängte sich
-mit einemmal eine aufgeregte Reisegesellschaft: eine dicke Frau mit
-einem kleinen Knirps auf dem Arm und zwei größeren Kindern an ihren
-Rockschößen. Der Hut der Frau war verschoben, und ihr Jüngstes griff
-mit beiden Händen danach und machte den Schaden nur noch größer.
-
-Und nun stolperte gar noch ihr Ältestes, ein rechter Guckindieluft von
-einem kleinen Mädchen, über einen Stuhl und brachte die Mutter ins
-Wanken. Und diese packte in ihrem Zorn den Zopf des niedergleitenden
-Töchterleins und schüttelte daran, als wollte sie Sturm läuten.
-
-Dann sah sie sich tief aufatmend nach einem freien Platz um, entdeckte
-die Ecke, wo Hans und Suse sich aufhielten und kam pustend heran. Die
-Geschwister waren so verblüfft von ihrem Anblick, daß sie es ohne ein
-Glied zu rühren, geschehen ließen, wie sich die Frau, ohne sich lang
-umzusehen, mit einem Seufzer der Erleichterung mitten auf ihren Sachen
-niederließ und die Füße von sich streckte. Da saß sie nun auf dem Engel
-und der Geburt Christi, auf Strümpfen und Wäschestücken, als müßte es
-so sein. -- Suse streckte abwehrend die Hände nach ihr aus, als es
-leider zu spät war. Sie fühlte sich anscheinend ganz wohl. Und zu allem
-Elend fielen nun ihre Kinder über die am Boden liegenden Habseligkeiten
-der Geschwister her und wühlten darin herum.
-
-Suse traten die Tränen in die Augen; sie hob schnell alles auf und trat
-dann vor die Frau hin, um sie zu bitten: „Unsere Sachen sind unter
-Ihnen. Möchten Sie nicht, bitte, aufstehen? Die Geburt Christi und der
-Engel sind auch unter Ihnen. Sie zerdrücken sie ja!“
-
-„Was ist unter mir?“ rief die Frau kirschrot vor Zorn. „Was zerdrücke
-ich? Was hast du da gesagt? -- Wollt ihr mich vielleicht zum besten
-haben? Kommt mir nur! Da kommt ihr gerade an die Rechte.“
-
-Die Geschwister wichen weit zurück vor Schrecken. Und Suse mußte mit
-einemmal an Frau Cimhuber und Ursel denken. Ach, wenn doch nur Ursel
-da wäre. Ursel mit dem entrüsteten Auge, das einsam und zornig aus
-seinen Wolltüchern hervorleuchtete. Die würde helfen. Suse fühlte es
-mit einemmal ganz bestimmt. Die würde die Frau sofort am Arm packen und
-aufstehen heißen. Sie konnte es ja nicht leiden, daß irgend jemandem
-Unrecht geschah. Gestern hatte sie auf der Straße einen wildfremden
-Mann angefahren, weil er seinen eigenen Hund geschlagen hatte.
-
-Wenn doch nur Ursel da wäre!
-
-Zum Glück für die Kinder bekam ihre Feindin aber doch ein Einsehen.
-Vielleicht wurde ihr auch das beschwerliche Sitzen auf der Bank mit der
-Zeit unbequem. Denn sie begann langsam einen Gegenstand nach dem andern
-unter sich hervorzuziehen, wobei sie blitzenden Auges rief: ob sich
-die hohen Herrschaften vielleicht einbildeten, die Bänke seien für sie
-allein da. Und ob sie glaubten, andere Leute wollten nicht auch leben
-und sich irgend wohin setzen. Ja, ob sie das glaubten? Und ob sie das
-nächstemal nicht noch ihr ganzes Bett mitbringen und zur Freude anderer
-Leute hier ausbreiten wollten?
-
-Immer größer wurde nun die Verwirrung in der Ecke, wo Hans und
-Suse sich aufhielten. Denn das Töchterlein der zornigen Frau, der
-Guckindieluft, hatte sich zu seiner Zerstreuung ein Paar Halbstrümpfe
-von Hans als Handschuhe angezogen, eine Schürze von Suse als Krawatte
-umgebunden und tänzelte nun, Gesichter schneidend, vor der Bank auf und
-nieder.
-
-Eh’ sich das Kind aber versah, war die Mutter aufgesprungen, hatte ihm
-die Schürze abgebunden und eilte damit hinter dem Töchterlein her, als
-wär’s eine lästige Fliege, die durch ein paar kräftige Schläge aus der
-Welt zu schaffen sei. Schließlich erwischte sie den Tunichtgut und
-setzte ihn mit großem Nachdruck neben sich nieder. Das Kind sah sich
-verwundert um.
-
-Die Frau aber verkündete mit weithinschallender Stimme, daß sie
-niemals, niemals wieder in ihrem ganzen Leben mit ihren ungezogenen
-Rangen auf Reisen gehe.
-
-Die Umsitzenden lachten.
-
-Und nun kam auch noch der Kellner herbei und schalt auf Hans und Suse,
-die die Unordnung angerichtet hätten. Die beiden steckten hastig ihre
-Sachen kunterbunt durcheinander in die Hirschtasche zurück. Dann
-schlichen sie zur Tür hinaus in die Bahnhofshalle.
-
-„Faß nur schnell in die Tasche herein und hol’ die Geburt Christi
-heraus, so schnell wie du kannst,“ sagte Suse.
-
-Da fuhr der Knabe mit beiden Händen in die Tasche und zog als erstes
-den bewußten Gegenstand hervor.
-
-„Schön,“ sagte Suse wie erlöst. „Jetzt gehst du hin und nimmst zwei
-Karten für Maria Heil. Die Postkutsche ist zwar schon fort, wenn wir
-hinkommen, aber dann gehen wir eben zu Fuß nach Hause. Ich fürchte mich
-heute nicht, auch wenn wir im Wald allein sind. Und wenn wir an der
-Wolfsschlucht vorüberkommen, wo des Nachts in der großen Eiche immer so
-gräßliche Stimmen schreien, da beten wir und dann hilft uns der liebe
-Gott. -- Aber hopp, Hans, hol’ die Karten, ich warte hier,“ mahnte sie.
-
-Noch einer geraumen Zeit bedurfte es, eh sich der Bruder zu dem
-schweren Gang entschließen konnte. Dann schritt er zögernd vorwärts.
-Suse beobachtete ihn aus der Ferne von der Mitte der Bahnhofshalle aus.
-
-Sie sah, wie er wartete, bis nur wenige Menschen noch in der Nähe des
-Schalters waren, und dann herantrat. Jetzt drückte er sich von rechts
-an das Fenster, jetzt blieb er stehen, jetzt sah er auf die Gegenstände
-in seinem Arm und redete ein paar Worte.
-
-Da fuhr pfeilschnell ein glühendrotes, dickes Gesicht hinter dem
-Schalterfenster hervor, und eine donnernde Lachsalve tönte Hans aus
-zwei geblähten Wangen entgegen.
-
-Und in demselben Augenblick erklang auch hinter dem Knaben Lachen, und
-als er herumfuhr, sah er in das Gesicht des Bahndieners, der ihn schon
-vorhin im Wartesaal beobachtet hatte und ihm jetzt hierher gefolgt war.
-
-„Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte,“ rief der Mann, packte Hans am Arm
-und zog ihn aus dem schmalen Gang, in dem er sich zwischen Schalter und
-dem davorstehenden eisernen Gepäcktische befand, hervor.
-
-Kaum sah Suse dies von der Mitte der Bahnhofshalle aus, wo sie mit
-ihrer Hirschtasche Wache stand, so kam sie herangestürmt wie eine
-Glucke, deren Küchlein in Gefahr sind, faßte ihren Bruder an der Hand
-und sagte ängstlichen Blickes auf den Angreifer: „Das ist mein Bruder
-Hans. Ich bin seine Schwester Suse.“
-
-„So, so,“ sagte der Mann. „Also zwei Ausreißer.“
-
-Beide nickten schuldbewußt und Suse stotterte: „Wir sind von Frau
-Cimhuber und von Ursel fort und wollen nach Hause nach Schwarzenbrunn.
-Die Postkutsche ist wohl schon fort. Wir haben den Zug auch schon
-verfehlt.“
-
-„Also man weiß nicht, daß ihr fort seid?“ fragte der Mann. Sie
-schüttelten ihre Köpfe und standen mit niedergeschlagenen Augen da.
-
-„Und Geld habt ihr auch keins?“ forschte er.
-
-Sie verneinten.
-
-„Nun, dann kommt mal mit. Nun wollen wir mal sehen, was mit euch beiden
-anzufangen ist,“ sagte er dann mit solch dröhnender Stimme, daß beide
-zusammenfuhren. Und zu gleicher Zeit packte er sie an der Hand und zog
-sie mit sich. Sie glaubten, ihr letztes Stündlein sei gekommen und
-bekamen vor Angst ganz verzerrte Gesichter.
-
-Vor einem Raum, auf dessen Tür in roten Buchstaben „Stationsvorsteher“
-zu lesen war, blieb er endlich mit ihnen stehen, öffnete und ließ sie
-eintreten.
-
-In der großen Amtsstube, in die sie nun kamen, saßen und standen Beamte
-herum, schrieben und ordneten Papiere oder redeten miteinander. Und
-alle sahen auf und musterten die Flüchtlinge.
-
-Einer trat sogar näher, stellte sich vor sie hin und betrachtete bald
-den einen, bald den andern wie ein Meerwunder. Suse fühlte, wie der
-Boden unter ihr schwankte und wie ihr ganz schwarz vor den Augen
-wurde. --
-
-Wie aus der Ferne hörte sie eine Stimme reden und sah einen großen Mann
-mit einem langen Bart wie in Dunst gehüllt vor sich stehen. -- Die
-Tränen liefen ihr über das Gesicht. -- Und an ihrer Seite stotterte
-Hans allerlei dummes Zeug, das kein Mensch verstehen konnte, auch sie
-nicht.
-
-Da, als die Not am höchsten gestiegen war, nahte unversehens Rettung
-aus der Stadt. -- -- --
-
-Dort hatten sich inzwischen auch die aufregendsten Szenen abgespielt.
-Sie begannen fast mit dem Augenblick, als Hansens und Susens Zug die
-Halle verließ.
-
-Da atmete Theobald erleichtert auf.
-
-Das erhebende Gefühl, sich wieder einmal durch seine Tatkraft und sein
-forsches Eingreifen ausgezeichnet zu haben, beherrschte ihn ganz. Er
-ahnte ja nicht, der vortreffliche Held, was er eigentlich angerichtet,
-und was er im wohlgezielten Wurf hinter seinen kleinen Verwandten
-hergeschickt hatte. Ihm schien alles über die Maßen gut gelungen, eine
-fein eingefädelte, vortrefflich weitergeführte Sache. Toll genug war’s
-freilich zugegangen.
-
-Nun galt es aber, sich endlich mal wieder ein menschliches Ansehen zu
-verleihen. Schnell nahm er einen kleinen Spiegel zur Hand, betrachtete
-sich, rückte seinen Kragen und Schlips zurecht und strich sich das Haar
-glatt. Noch war er mit dieser Beschäftigung nicht zu Ende, da rief
-jemand neben ihm: „Theobald, sind sie schon fort?“
-
-Und an seiner Seite stand Toni, die atemlos hinter ihm dreingekommen
-war. -- Er nickte. --
-
-„Die Armen, die Armen,“ jammerte der Backfisch. „Sie haben ja nichts zu
-essen. Ich habe ihnen Schokolade mitgebracht.“
-
-„Zu spät,“ erklärte der Bruder kurz, „du hättest dich mehr beeilen
-müssen, ich hab’ dich ja früh genug geweckt. Jetzt sind sie fort und
-bleiben fort. Ich jedenfalls habe meine Pflicht getan.“
-
-In diesem Augenblick lief aus derselben Richtung, in der Hans und
-Suse verschwunden waren, ein Zug ein. Die Reisenden stiegen aus und
-gingen auf die Sperre zu. Theobald und Toni mischten sich unter sie.
-Theobald suchte in der Westentasche nach seiner Karte. Plötzlich fuhr
-er zusammen, umklammerte seiner Schwester Arm wie mit eisernen Klammern
-und stöhnte: „Hier, hier, schau her! -- Das ist das Zwanzigmarkstück,
-das ich Hans und Suse geben wollte, hier, hier -- schau, schau --
-begreifst du’s, faßt du’s, weißt du, was das heißt? -- Geht dir eine
-Stallaterne auf? -- Guck doch nicht so dumm. Mein Gott, was hab’ ich
-ihnen denn eigentlich in den Zug geworfen?“ stöhnte er.
-
-Dann faßte er sich an die Stirn und taumelte.
-
-„Jetzt weiß ich’s,“ entrang es sich seiner Brust. -- „Einen Hosenknopf!
-Den hab’ ich mir gestern abgerissen. Den haben sie jetzt. Das ist ja
-einfach schauerlich! Den können sie jetzt betrachten und an die Lippen
-drücken und sich Karten davon kaufen und damit nach Hause fahren! --
-Oh, ich Mondkalb!“
-
-Er griff sich mit beiden Händen verzweifelt an den Kopf. Toni zitterte
-wie Espenlaub und murmelte: „Sie sind verloren, und wir sind an ihrem
-Unglück mit schuld. Wir hätten sie warnen sollen. Theobald, du bist
-gewissermaßen ihr Verderber.“
-
-Theobald vernahm kein Wort von ihrem Klagen und stand noch immer da wie
-versteinert.
-
-Die Doktorskinder waren fort mit einem Hosenknopf auf die Reise,
-das war alles, was er denken konnte, sonst nichts. -- Und das hatte
-er verschuldet, er -- er. Wie zu einem Retter hatten sie zu ihm
-aufgesehen, und er hatte sich wie ein Rüpel benommen.
-
-Lange sollte Theobald aber nicht in stummer Selbstanklage verharren;
-denn wie der Sturmwind kam mit einemmal Ursel durch die Sperre, sah
-sich um, erblickte den Tunichtgut, packte ihn am Arm und schüttelte ihn
-hin und her wie eine Medizinflasche.
-
-„Sind sie drin?“ rief sie dabei, „sind sie drin? Antworte doch, Esel!“
-
-Und mit ausgestreckter Hand wies sie auf den wartenden Zug.
-
-Aber Theobald sah sie blöde an. Alle seine geistigen Fähigkeiten
-schienen ihn verlassen zu haben; und auch Toni stand wie eine
-Nachtwandlerin da und krampfte vor Schreck die Hände zusammen.
-
-Da rannte Ursel stracks auf den Zug zu, öffnete schnell eine Tür und
-verschwand im Innern des Wagens. Noch hatte sie sich nicht vollständig
-auf die Bank niedergelassen, da fuhr der Zug auch schon davon.
-
-„Lieber, lieber Gott,“ rief Toni, „sie sitzt ja drin, sie fährt ja in
-der verkehrten Richtung! Ruf sie, Theobald, ruf sie!“
-
-„Was soll ich tun?“ rief Theobald entrüstet. „Hast du eine Ahnung, wie
-die mich am Arm gepackt und gekniffen hat, diese Riesenschere, diese
-Kneifzange, diese wilde Habichtsnase mit ihren Wolltüchern! Außerdem
-hab’ ich jetzt Wichtigeres zu tun, als sie zurückzuholen. Ich renne
-jetzt zu Onkel Fritz und wecke ihn auf. Er muß hinter Hans und Suse
-herfahren und ihnen Geld zur Weiterreise bringen. -- In dreiviertel
-Stunden geht der Bummelzug. Ich würde selbst hinfahren, aber wenn wir
-zur Aufstehenszeit nicht daheim sind, geht’s uns übel. Dann entdecken’s
-der Vater und die Mutter.“
-
-[Illustration]
-
-„Nein, nein,“ rief Toni, „weiterfahren dürfen Hans und Suse auf keinen
-Fall. Ursel hat uns gesehen. Und wenn’s rauskommt, daß die Kinder
-durch unsere Hilfe fortgekommen sind, dann ist für uns alles aus. --
-Der Vater hat schon gesagt, noch eine Dummheit von mir, und ich komme
-überhaupt nicht mehr ins Theater. Und ohne künstlerische Genüsse kann
-ich nicht leben.“
-
-„Fahr’ nur lieber gleich in den Himmel,“ sagte der Bruder kaltblütig.
--- „Was mich aber anbetrifft, so geh ich jetzt zu Onkel Fritz, und
-damit basta.“
-
-„Und ich, wohin geh ich?“ jammerte Toni, „sag, Theobald, wohin soll
-ich gehen? -- Aha, ich weiß es,“ rief sie freudig, „ich gehe zu
-Fräulein Hirt und bitte sie auf den Knien, daß sie Hans und Suse wieder
-zurückholt. Die ist ja immer unsere Zuflucht. Die weiß Rat. Die verläßt
-uns nie.“ --
-
-Mit diesen Worten stoben die Kinder durch die Halle und fuhren in
-entgegengesetzter Richtung auf ihren Rädern davon.
-
-An einem der hohen Häuser in der Hauptstraße der Stadt klingelte
-Theobald, um bei seinem Ideal, dem Onkel Fritz, dem Geber seiner
-meisten Geschenke, Einlaß zu begehren. Eine alte Haushälterin, die
-Katherin, machte ihm verschlafen auf und fragte ungehalten nach seinem
-Begehr.
-
-Als sie erfahren hatte, was ihn herführte, riet sie ihm, doch zu einer
-passenderen Zeit wiederzukommen und nicht, wenn der Mond noch am Himmel
-stehe.
-
-Doch mit einer höflichen Verbeugung schob er die alte Frau zur Seite
-und ging stracks auf das Schlafzimmer seines Onkels zu, der friedlich
-schlummernd in weichen Kissen lag und von den schönsten Träumen
-heimgesucht wurde.
-
-„Onkel Fritz, Onkel Fritz!“ rief der Knabe und schüttelte aus
-Leibeskräften an ihm. Lange rührte sich der Schläfer nicht. Dann aber
-fragte er verschlafen: „Was in aller Welt willst du denn schon hier, du
-mein tägliches Brot? Noch nicht einmal im Bett ist man sicher vor dir.
-Was ist denn jetzt schon wieder mal los? Verdufte, oder ich setze dich
-vor die Tür.“
-
-Aber fester schüttelte der Neffe an seinem Onkel und mahnte: „Du mußt
-sofort aufstehen und hinter Hans und Suse herfahren.“
-
-„Was soll ich tun?“ fragte der Onkel und richtete sich kerzengerade im
-Bett auf. „Wachst du, oder träumst du? Hinter wem soll ich herfahren?“
-
-„Hinter Hans und Suse,“ sagte der Neffe kaltblütig und erzählte alles,
-was sich zugetragen hatte.
-
-Da brach der Onkel in ein schallendes Gelächter aus. Besonders die
-Vorstellung erschien ihm köstlich, daß Ursel in verkehrter Richtung
-davon gefahren sei, und zwar mit Nüstern, die vor Wut ärger gedampft
-hätten als der Lokomotivenschlot, wie sein Neffe beteuerte.
-
-Der aber blieb heute bei seines Onkels Heiterkeitsausbrüchen eisig kühl
-und mahnte nur immer wieder: „Du mußt hinterherfahren, Onkel, du mußt
-es tun. Denk doch daran, wenn ihnen was passiert! Und es passiert ihnen
-sicher was. Sie sind ja einfach wie die Wickelkinder so dumm.“
-
-Da erklärte sich schließlich der Onkel unter Stöhnen und Schelten
-bereit, die Fahrt anzutreten. So nebenbei frug er dann, ob es sein
-Neffe nicht für angebracht hielte, daß er in jeder Westentasche zwei
-Gummilutscher und zwei Milchfläschchen mitnehme. Überhaupt beabsichtige
-er, nächstens einen Kindergarten zu eröffnen.
-
-Doch Theobald hatte für seines Onkels Geistesblitze heute nur ein
-mitleidiges Achselzucken und half ihm in die Kleider, damit der
-Abmarsch möglichst bald vor sich gehe. Zum Dank hierfür ließ der
-Onkel ein paar Tropfen Kölnischen Wassers auf den Neffen herabregnen.
-Den gleichen Wohlgeruch verbreitend, verließen dann die beiden guten
-Freunde das Haus. Als sie am Bahnhof ankamen, war der Zug schon fort.
-
-Toni hatte inzwischen mehr Glück mit ihrem Bittgang gehabt. Sie war zu
-Fräulein Hirt gelaufen. Das war Tonis und ihrer Schwestern angebetete
-Klavierlehrerin, zu der sie in jeder Bedrängnis ihre Zuflucht nahm.
-Schon seit Jahren verband sie innige Freundschaft mit dieser gütigen
-Dame, in deren stillem, traulichem Zimmer sich’s so herrlich ausruhen
-ließ, nachdem man allerlei Torheiten angestellt hatte. Man fühlte sich
-hier wie auf einer fernen, stillen Insel, um die das gefährliche Meer
-fern grollte und brauste, ohne einen erreichen zu können. Alles war
-anheimelnd und vertrauenerweckend hier: die alte, taube Großmutter, die
-am Fenster im Lehnstuhl saß und zu allem zustimmend nickte, was erzählt
-wurde, weil sie nichts mehr davon verstand; der Dompfaff, der in seinem
-Käfig so schöne Trostesweisen pfiff, und vor allen Dingen Fräulein
-Hirt selbst, die den „Sausewinden“, wie sie Toni und ihre Geschwister
-nannte, stets mit Engelsgeduld zuhörte und nur zuweilen ein leichtes
-Lächeln zeigte. Sogar mit stolz erhobener Stimme konnte man ihr seine
-Heldentaten vortragen, ohne befürchten zu müssen, daß einem plötzlich
-eine treffende Bemerkung alles Selbstbewußtsein nahm, wie es beim Vater
-daheim so leicht geschah.
-
-Fräulein Hirt, der vielerprobte Schutzengel, war ja nun an die
-seltsamsten Überraschungen und Überfälle seitens ihrer Lieblinge
-gewöhnt.
-
-Trotzdem erschrak sie nicht wenig, als sie ihre Toni zu so ungewohnter
-Stunde bleich und verstört zu sich hereinstürzen sah und dann mit
-zitternder Stimme erzählen hörte, was sich zugetragen hatte.
-
-Einen Augenblick stand sie verwirrt da, dann aber hatte sie sich gefaßt
-und sagte kopfschüttelnd: „Also genau so wie ihr sind diese beiden,
-genau so zwei Sausewinde. Und dabei sahen die beiden neulich, als ich
-sie kennen lernte, doch aus, als könnten sie keine drei zählen.“
-
-Und darauf machte sie es ganz anders wie der berühmte Onkel Fritz.
-Denn anstatt hundertmal zu fragen, was denn eigentlich los sei und zu
-gähnen und sich zu recken und zu strecken, zog sie sich schnell an und
-ging zum Bahnhof. Sie erreichte den Zug noch zur rechten Zeit und kam
-in Haslach in dem Augenblick an, in dem die beiden Flüchtlinge in dem
-Zimmer des Stationsvorstehers verhört wurden. Davon hatte sie natürlich
-keine Ahnung und schritt darum eilends durch alle Wartesäle hindurch
-und sah sich die einzelnen Gruppen der Leute forschend an.
-
-Schließlich lief sie auch dem Bahndiener in die Hände und hielt diesen
-für die geeignetste Persönlichkeit, um ihr Auskunft zu geben. Rasch
-entschlossen fragte sie ihn deshalb, ob er nicht zwei Kinder gesehen
-habe, die durchgebrannt seien: ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen
-und einen Jungen mit großen Augen und.....
-
-„Ei, Fräuleinchen,“ fiel ihr der Beamte ins Wort, „ich glaub’ die
-beiden haben wir schon. Die sitzen beim Stationsvorsteher. -- Ja, ja,
-sie müssen’s sein. -- Ein Mädchen mit langen, blonden Zöpfen und ein
-Bub, na, halt so ein Bub. -- Die müssen’s sein. Kommen Sie mal!“
-
-„Wenn sie’s doch nur wären!“ fiel ihm Fräulein Hirt aufgeregt ins Wort.
-„Dann wär’ ja alles gut! Mir fiel’ ein Stein vom Herzen. Es sind die
-kleinen Verwandten meiner besten Freunde. Stellen Sie sich vor, wenn
-ihnen etwas zugestoßen wäre!“
-
-„Ach, so leicht stößt einem schon nichts zu,“ meinte der Beamte mit
-väterlicher Stimme. „Kommen Sie nur mit, Fräuleinchen, und sehen Sie
-sich die beiden einmal an. Nur nicht so leicht den Mut verlieren!“
-
-Und Fräulein Hirt folgte ihm eilends und trat bald darauf in das Zimmer
-des Stationsvorstehers, wo sie gleich der beiden Ausreißer ansichtig
-wurde. Dort standen sie, wie die Verurteilten, zitternd vor dem
-Stationsvorsteher. Sie rief ihre Namen.
-
-Da fuhr Suse herum und schaute verwundert auf.
-
-Vor ihr an der Seite des Bahndieners stand Fräulein Hirt.
-
-„Ich will euch holen,“ sagte das Fräulein freundlich und kam auf sie
-zu. Das kleine Mädchen konnte nicht reden. Sie schaute nur und schaute,
-und ihr Gesicht wurde röter und röter, und mit einem Male stürzte ein
-heller Tränenbach aus ihren Augen.
-
-„Ach, führen Sie uns doch wieder zu Frau Cimhuber,“ sagte sie leise.
-
-Auch Hans sah dankbar zu der Dame auf. Er war wie erlöst. Vor Suse
-hatte er sich ja noch zusammengenommen und nicht verraten, wie
-jämmerlich ihm zu Sinn war und daß er glaubte, sie beide seien
-verloren. Und nun war alles gut. Nun stand Fräulein Hirt vor ihm und
-sah ihn mit ihren guten Augen freundlich an und sagte: „Ihr seid mir
-die Rechten.“
-
-Wie zentnerschwer war ihm die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, auf
-der Brust gelegen. -- Allein zur Stadt zurückzufahren, allein Frau
-Cimhuber aufzusuchen, allein alles zu beichten, was sich zugetragen
-hatte, das war keine Kleinigkeit. -- Und jetzt war er frei.
-
-Es kam ihm alles vor wie ein Traum. Und er hörte, wie sie den Beamten
-für die Freundlichkeit dankte, die sie Hans und Suse gegenüber bewiesen
-hätten, und wie sie dann zu ihm und seiner Schwester sagte: „Nun kommt
-schnell. In zehn Minuten geht unser Zug, und ihr sollt vorher noch eine
-Tasse Kaffee trinken.“
-
-Und als die beiden ihre schweren Gepäckstücke mit schiefgezogenen
-Schultern wieder vorwärts tragen wollten, rief sie einen Träger herbei,
-der ihnen die Last abnahm. Dann ging sie mit ihnen in den Wartsaal,
-zum Glück nicht dorthin, wo die zornmütige Frau noch immer wie eine
-bitterböse Kreuzspinne auf ihrem Posten saß und hervorschoß, wenn
-jemand ihr und ihren Kindern zu nahe kam, sondern in einen andern Raum,
-wo ein freundlicher Kellner dienstbereit herbeiholte, was Fräulein Hirt
-forderte.
-
-Dann als die zehn Minuten um waren, stiegen die Kinder in einen Zug,
-der sie nach der Stadt zurückführte.
-
-Es war aber auch höchste Zeit, daß sie bei Frau Cimhuber ankamen.
-Kein übler Schreck hatte die Pfarrfrau heute morgen durchzuckt, als
-sie das Nest leer und keine Ursel, keine Kinder vorgefunden hatte. --
-Ihre gute, alte Magd, die sich auf ihre flinken Füße verlassen, hatte
-gehofft, die Kinder noch einzufangen, ehe ihre Herrin aufwachte, und
-hatte sich heimlich davongemacht.
-
-Nun war Frau Cimhuber in dem stillen Haus allein und konnte das Rätsel
-von Ursels und der Kinder Abwesenheit nicht lösen.
-
-„Hans, Suse,“ rief sie. Keine Antwort kam. Alles war wie ausgestorben.
-Nirgends rührte sich ein menschliches Wesen. Sie ging durch alle
-Zimmer, stand still, überlegte, und schüttelte den Kopf. Da sah sie
-zufällig auf dem Tisch in Suses Gemach einen Zettel liegen, der von
-Kinderhand beschrieben war. Sie griff danach und las folgende, in
-sorgfältiger Schrift aufgesetzte Worte:
-
-„Liebe Frau Cimhuber! Wir gehen jetzt nach Hause, weil wir so
-gräßliches Heimweh haben. Seien Sie nicht böse! Der liebe Gott schickt
-Ihnen sicher andere Kinder, die viel artiger sind als wir. Vielen Dank
-für alle guten Gaben.
-
-Viele Grüße an Ursel und Sie von
-
- Hans und Suse.“
-
-Frau Cimhuber sank auf den nächsten besten Stuhl und strich sich über
-die Stirn. -- Die Kinder waren fort. -- Sie glaubte zu träumen. --
-Da stand es aber auf dem Zettel, daß sie fort waren. -- Ja, da stand
-es. Hans und Suse waren nicht mehr hier. Sie befanden sich auf dem
-Weg nach Hause. Mein Gott, was war denn los? Was war denn in die
-Kinder gefahren? Was hatte sie dazu gebracht, sich davonzustehlen?
-Sie zitterten ja schon, wenn sie einen größeren Gang durch die Stadt
-machen sollten, und nun waren sie allein auf dem beschwerlichen Weg
-nach Hause. Wieder strich sich die Pfarrfrau über die Stirn und quälte
-sich mit hundert Fragen. Warum waren sie denn so unglücklich? Sie und
-Ursel hatten doch stets das Beste der Kinder gewollt? Und wie oft hatte
-sie darüber nachgedacht, was ihnen bei der Erziehung am dienlichsten
-sei, und war immer wieder zu der Einsicht gekommen, daß sie Ernst und
-Strenge nötig hätten. Und nun waren sie fort.
-
-Und während Frau Cimhuber so verzweifelt dasaß, kam ihr mit einem Male
-der Gedanke an ihren Sohn Edwin, und sie sah ihn als kleinen Jungen
-leibhaftig vor sich stehen. Er hatte ja nichts lieber, der kleine
-Edwin, als wenn sie ihm leise über den Kopf strich und ihn an sich zog
-und liebkoste. -- Und nie, nie hätte sie es fertig gebracht, ihn zu
-fremden Leuten zu geben, denn die hätten ihn vielleicht nicht mit Liebe
-behandelt und wären schroff zu ihm gewesen.
-
-Frau Cimhuber erschrak.
-
-Und Hans und Suse? Die hatten ja auch eine Mutter daheim, die sie
-liebkoste, und einen Vater, der gut zu ihnen war.
-
-Ein Vorfall von letzter Woche kam ihr in den Sinn und brannte ihr auf
-dem Gewissen.
-
-Sie sah wieder, wie ihr das Garnknäuel auf den Boden fiel und Suse
-wie der Blitz hinterherfuhr, es aufhob und ihr zurückgab. Und als sie
-genickt und freundlich gesagt hatte: Ich danke dir, liebes Kind, da
-hatte das kleine Mädchen sie so strahlend und froh angesehen, als sei
-ihr die größte Freude widerfahren.
-
-Die Pfarrfrau schlug beide Hände vor das Gesicht.
-
-„Mein Gott, wenn sie doch nur wieder hier wären,“ entrang es sich ihrer
-Brust. Wie wollte sie freundlich zu ihnen sein. Wie wollte sie sie mit
-Liebe behandeln. Vielleicht kamen sie aber nicht wieder? -- Vielleicht
-war ihnen unterwegs etwas geschehen. Und der Herr Doktor und die Frau
-Doktor, die ihr die Kinder anvertraut hatten in dem Glauben, daß sie in
-sicherer Hut seien, was würden die sagen, wenn die beiden zu Schaden
-kämen?
-
-Die Hände der Pfarrfrau sanken in den Schoß und falteten sich, und ihr
-Antlitz trug einen Ausdruck, als spräche sie ein Gebet.
-
-Da klingelte es. Sie fuhr zusammen und konnte sich zuerst kaum erheben.
-Dann ging sie langsamen Schrittes zur Tür. Ihr Herz klopfte. Zögernd
-öffnete sie. Vor ihr standen die Kinder.
-
-„Mein Gott, mein Gott,“ sprach die Pfarrfrau und streckte beide Hände
-nach ihnen aus. „Ihr seid’s? Seid ihr’s denn wirklich? Seid ihr denn
-wirklich wieder da? Kommt doch herein, welch ein Segen, daß ihr wieder
-da seid! Ist euch denn nichts zugestoßen unterwegs? Kommt doch herein!“
-
-Und sie zog die beiden an sich und umarmte sie in ihrer großen Freude.
-
-„Kommen Sie doch herein, liebes Fräulein!“ wandte sie sich dann an die
-Begleiterin der Kinder und drückte ihr die Hände und sagte einmal über
-das andere: „Wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sie gebracht haben! Wie
-dankbar bin ich Ihnen; ich kann es gar nicht sagen!“
-
-„Warum seid ihr denn fortgegangen?“ wandte sie sich wiederum an die
-Kinder.
-
-Und beide sahen sie erstaunt an und sagten kein Wort als Erwiderung und
-konnten den Umschwung in ihrem Wesen nicht verstehen.
-
-Sie aber redete weiter freundlich zu ihnen wie eine Mutter, führte sie
-in ihr Schlafzimmer, schenkte ihnen warmes Wasser ein und sagte, sie
-möchten zu ihr in die Negerstube kommen, wenn sie sich gewaschen und
-umgezogen hätten.
-
-Und dann führte sie Fräulein Hirt in ihr Staatsgemach und nötigte sie
-in ihr Sofa, damit sie ihr hier alles erzähle, was sie von den Kindern
-wisse.
-
-Und nun begann Fräulein Hirt über das Abenteuer der Ausreißer zu
-sprechen. Und im Laufe der nächsten halben Stunde stellte es sich
-heraus, daß sie bei den Sausewinden in eine gute Schule gegangen war.
-Denn sie wußte so zu reden und zu bitten, daß man glauben mußte, Hans
-und Suse seien die größten Unschuldsengelein, die zurzeit auf dem
-Erdball herumliefen.
-
-Aber es bedurfte gar nicht ihres Zuredens, um Frau Cimhuber
-umzustimmen. Sie dachte ja selbst schon ganz anders über die Kinder als
-früher.
-
-„Was müssen die beiden durchgemacht haben,“ sagte sie einmal über das
-andere, „was müssen sie durchgemacht haben!“
-
-Und als Fräulein Hirt sich schließlich empfahl, weil es Zeit für sie
-war, nach Hause zu gehen, da suchte Frau Cimhuber die Geschwister
-gleich wieder auf und sagte ihnen, sie sollten zu Hause bleiben und
-sich ausruhen und nicht zur Schule gehen.
-
-Aber Hans spürte trotzdem den Wunsch, es zu tun. Er trank schnell
-noch einmal eine Tasse Kaffee und lief davon. -- Der gefährliche Gang
-in das Zimmer des Direktors hatte plötzlich nichts Schreckliches
-mehr für ihn. -- Lieber zehn Gänge in das Zimmer des Direktors,
-als noch eine solch fürchterliche Flucht mit Suse, wollte es ihm
-scheinen. In den Gefahren des Morgens hatte sich sein Mut gestählt
-und gefestigt. Er fühlte, er würde nun ohne Zittern an der Seite des
-Naturgeschichtslehrers in das Zimmer des Direktors treten, und wenn
-er gefragt würde, mit klarer, heller Stimme antworten: „Ich habe die
-Papierkugel nicht geworfen, Herr Direktor.“ Und man würde ihm glauben.
-
-Aber zu dem schweren Gang kam es gar nicht; denn als Hans vor Beginn
-des Unterrichts sich noch schnell an seinen Platz drückte, rief ihm
-Peter zu: „Du, Hans, ich hab’ gestern gesehen, daß Kurt die Kugel
-geworfen hat, nicht du. Ich hab’ ihm meine Meinung gesagt. Er wird’s
-sagen, sonst treten wir aus dem Fußballklub aus und fordern unser Geld
-zurück.“
-
-Und die andern riefen zustimmend: „Ja.“ --
-
-So war Hans gerettet. Und er schämte sich nicht wenig, als er inne
-wurde, wie schnell eine Sache, von der er so viel Aufhebens gemacht
-hatte, aus der Welt geschafft worden war.
-
-Suse aber blieb daheim und saß lange Zeit neben Frau Cimhuber auf dem
-Sofa und hatte ihren Kopf an die Schulter ihrer Pflegemutter gelehnt
-und hörte, wie diese freundlich sagte: „Willst du denn nicht mehr bei
-uns bleiben, liebe Suse, gefällt es dir wirklich nicht bei uns? Glaub’
-nicht, daß ich dich nicht lieb habe. Ich muß nur immer an meinen Sohn
-in Afrika denken. Der ist krank, und ich bin in großer Sorge um ihn.“
-
-Und die Pfarrfrau fuhr fort, von ihrem Sohn Edwin zu reden, besonders
-von seiner Kindheit, und betonte immer wieder, was für ein liebes,
-gutes Kind er gewesen sei, und wie er ihr stets nur Freude gemacht habe.
-
-„Der wäre nicht fortgelaufen von fremden Leuten, wie wir!“ sagte Suse
-leise und schuldbewußt.
-
-Ihre Pflegemutter schwieg.
-
-Und während es so still in der Stube wurde, wanderten Susens Blicke
-scheu nach dem Negergotte hin, der mit seinem schiefgezogenen Munde
-aussah, als wollte er durch eine Zahnlücke zischen: Nichtsnutze!
-Nichtsnutze! Schon wieder mal was angestellt? Mein Kopf! Mein Kopf! O
-mein armer Kopf!
-
-„Er guckt!“ flüsterte Suse.
-
-Da nickte die Pfarrfrau, stand langsam auf, ging auf den Götzen zu und
-trug ihn unter viel Beschwerden in ihren Kleiderschrank, damit er dort
-hinter düsteren Gewändern einsam sitze.
-
-Und dann nahm sie wieder neben Suse Platz.
-
-Und Suse kam sich mit einem Male geborgen vor, wie bei ihren Eltern
-daheim.
-
-Sie war ja nicht mehr auf dem Bahnhof, wo alle Menschen sie so streng,
-so feindlich ansahen. -- Sie saß hier neben Frau Cimhuber und konnte
-sich fest an sie schmiegen.
-
-Gegen zehn Uhr erschien auch Ursel und war endlich einmal wieder von
-ihren Wolltüchern befreit; denn sie hatte sich ihren kranken Zahn
-ziehen lassen und sah milde und freundlich drein. Und als sie sich auf
-dem Küchenstuhl niedergelassen hatte, begann sie zu erzählen: Bei ihrer
-Abfahrt heute morgen vom Bahnhof habe sie plötzlich entdeckt, daß sie
-verkehrt gefahren wäre, und eine gräßliche, eine fürchterliche Wut habe
-sie gepackt. -- Ihr Zorn sei aber noch zehnmal größer geworden, als
-sie auf der nächsten Station entdeckt habe, daß sie noch zwei Stunden
-warten müsse, bis sie wieder heimfahren könne. Da sei sie davongerannt
-wie von Sinnen in die Stadt hinein, zum ersten, besten Zahnarzt, vier
-Treppen hinauf, und habe sich ihren Zahn ziehen lassen. Und jetzt sei
-ihr so wohl, so wohl, wie in ihrem ganzen Leben noch nicht.
-
-Dann wandte sie sich an Suse und verlangte von ihr zu wissen, was
-sich eigentlich mit Hans und ihr zugetragen habe. Zitternd begann das
-kleine Mädchen seine Beichte. Aber sie war noch ganz im Anfang damit,
-da unterbrach Ursel sie schon: „Hör’ auf, ich will nichts mehr hören.
--- Wer ist an allem schuld, Frau Cimhuber, wer? -- dieser Nichtsnutz,
-dieser Tunichtgut, dieser Theobald! -- Wissen Sie noch, Frau Pfarrer,
-wie er unserem Spitzchen einmal auf den Schwanz getreten hat? Da haben
-Sie ihm eine Ohrfeige gegeben. So war’s recht. Das tat ihm gut. --
-Schade, daß er so eine nicht jeden Tag bekommt. Das hab’ ich damals
-gleich gesagt.“
-
-Und nach diesem harten Urteil wurde Ursel wieder friedfertig, sprach
-froh über ihre Erlösung vom Zahnweh und forderte Suse auf, doch ein
-wenig mit ihr in der Küche zu bleiben.
-
-Und die beiden Frauen setzten Suse ein Stück Kuchen vor. Aber als
-sie einmal in den Keller gingen und wiederkamen, fanden sie Suse
-eingeschlafen auf ihrem Küchenstuhl sitzen und brachten sie zu Bett.
-
-Am späten Nachmittag erwachte Suse aus schweren Träumen. Ihr hatte
-geträumt, der Bahnhofvorsteher und die Frau mit den drei Kindern und
-der Kellner seien hinter ihr hergesprungen und hätten sie am Kopf
-gepackt und geschüttelt, daß ihr die Haarschleife davongeflogen sei.
-
-Da schlug sie die Augen auf und sah Hans vor sich stehen, der mit
-heiterer Miene erklärte: „Endlich wachst du auf. Fein war’s heute in
-der Schule. Kurt hat gesagt, daß er die Papierkugel geworfen hat, und
-da war alles wieder gut.“
-
-Und als Suse noch ganz verschlafen und erstaunt nach ihm hinsah, kam
-Frau Cimhuber, legte ihr die Hand auf die Stirn und fragte, ob ihr
-Kopfweh vorüber sei, und ob sie all ihre Schulaufgaben gemacht habe.
-
-Da fiel Suse etwas ein. Ängstlich hub sie an: „Ich hab’ das Rechnen
-noch nicht gemacht, Frau Pfarrer; das Rechnen ist immer am schwersten
-hier. Bei uns machen sie es ganz anders. Bei uns machen sie es von
-rechts nach links, und hier von links nach rechts. Und jetzt weiß
-ich nicht, ob ich bei der Division den langen Schwanz, die vielen
-Rechenkästchen mein ich, auf die rechte Seite setzen soll oder auf die
-linke.“
-
-Da setzte Frau Cimhuber ihre Brille auf, holte Susens Ranzen herbei,
-verglich das Rechenbuch mit dem Heft und gestand schließlich, daß sie
-es auch anders gelernt habe in der Schule.
-
-Nun sei aber kein Grund, deshalb betrübt zu sein. Sie wolle schon für
-Hilfe sorgen. Und während Suse noch nicht wußte, wie ihr geschah, da
-stand Frau Cimhuber schon zum Ausgehen bereit da und forderte Suse auf,
-mit ihr zu der Tochter ihrer Freundin zu gehen, einem jungen Mädchen,
-die eben jetzt das Lehrerinnenexamen gemacht habe, und die ihr gerne
-helfen werde.
-
-Das junge Mädchen sah sich wirklich auch mit größter Bereitwilligkeit
-Susens Heft an, merkte, daß nur eine Kleinigkeit falsch war und
-erklärte dem Kind noch einmal die ganze Aufgabe von vorn.
-
-Suse verstand in Kürze alles und betrachtete mit dankbarem Blick bald
-die junge Lehrerin, bald strahlend ihr Heft, bald Frau Cimhuber.
-
-Und am Abend da sagte sie zu ihrem Bruder: „Du, Hans, das hätte ich
-doch nicht geglaubt, daß Frau Cimhuber einmal so gut gegen uns wäre!“
-„Ich auch nicht,“ entgegnete der Bruder.
-
-Einige Tage später erhielten die Geschwister Nachricht von ihren
-Eltern, denn Frau Cimhuber hatte diese von allem unterrichtet, was sich
-zugetragen hatte. Die Worte von Vater und Mutter gingen den Kindern
-sehr zu Herzen.
-
-„Mein lieber Hans,“ schrieb der Doktor unter anderm an seinen Sohn,
-„ich hätte nicht gedacht, daß Du Dein Versprechen so bald brechen und
-davonrennen würdest wie ein Soldat, der seine Flinte ins Korn wirft. --
-Das war kein schöner Streich von Euch. Was soll aus Euch werden, wenn
-Ihr nicht beizeiten lernt, die Zähne zusammenzubeißen und auszuhalten
-auch dann, wenn es Euch nicht gefällt! Und wann wirst Du, lieber Hans,
-endlich anfangen, Deinen Willen durchzusetzen und nicht immer Susens
-dummen Einfällen folgen...“
-
-Dem Knaben stieg das Blut ins Gesicht, und er schlich beschämt zur Tür
-hinaus. -- Wie jämmerlich stand er nun in den Augen der Eltern da!
-
-Suse las derweil den Brief ihrer Mutter mit großer Andacht.
-
-„Ich brauche Dir nicht zu sagen, liebe Suse,“ schrieb die Doktorsfrau,
-„daß Dein Vater und ich tief betrübt waren, als wir von Eurer Flucht
-hörten. Wir hätten nie gedacht, daß Ihr so etwas fertig brächtet. --
-Du schreibst, Du möchtest gern in einem großen Hause wohnen, wo es
-einen Garten gibt, und Blumen und Kinder. Wie gern, wie gern schickten
-wir Euch dorthin, mein liebes Kind! Aber wir können es nicht. Wir sind
-viel zu arm dazu. Glaube mir, wir haben uns wohl den Kopf zerbrochen,
-wie es möglich zu machen wäre. Aber unsere Mittel reichen nicht dazu.
-Ich wollte Dir dies eigentlich nicht sagen, um Dich nicht traurig zu
-machen, aber nun tu’ ich es doch, damit Du siehst, weshalb Ihr bei Frau
-Cimhuber bleiben müßt. -- Du bist ja auch schon ein großes Mädchen und
-mußt vernünftig darüber denken. -- Und dann grüble auch nicht immer
-darüber nach, ob Frau Cimhuber und Ursel und die Kinder in der Schule
-Dich gern haben. Sie kennen Dich ja noch kaum. Du wirst schon sehen,
-wenn sie Dich erst einmal kennen und sehen, daß Du immer freundlich und
-höflich zu ihnen bist, werden sie Dich schon lieb gewinnen. Und nun
-denkt an das Pfingstfest, das bald kommt. Dann dürft Ihr nach Hause
-fahren.“
-
-„Der Vater und die Mutter sind sehr, sehr traurig,“ sagte Suse
-seufzend, als sie mit Lesen fertig war. „Wir müssen ihnen gleich
-schreiben, Hans, daß nun alles gut ist und daß Frau Cimhuber jetzt sehr
-lieb zu uns ist, und daß wir sogar schon vorwärtskommen in der Schule.
--- Und weißt du, Hans, jetzt schreiben wir noch, wir wollen auch
-Pfingsten nicht nach Haus, dann sparen sie das Geld für die Reise, und
-damit machen wir ihnen eine große Freude.“
-
-Hans war Feuer und Flamme für diesen schönen Plan. Aber die Geschwister
-hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. -- Kaum hatte Ursel davon
-vernommen, so rief sie laut: „Was? jetzt war ich g’rad froh, daß es mal
-Luft gibt, und jetzt wollt ihr hier bleiben. Nein, nein, das gibt’s
-nicht. Ich will doch auch mal aufatmen.“
-
-Und der Doktorskinder Herz begann gar freudig zu klopfen, als ihr
-heldenhafter Entschluß so schnell vereitelt wurde.
-
-
-
-
-Drittes Kapitel
-
-Das Kamel
-
-
-Hans und Suse fühlten sich nun ganz wohl bei Frau Cimhuber und lebten
-sich allmählich in der Stadt ein.
-
-Suse hatte sogar schon eine Freundin, die blonde Gretel, die in der
-Schule neben ihr saß. -- Auf eine merkwürdige Weise hatte sie mit
-diesem kleinen Mädchen Freundschaft geschlossen. -- Eines Morgens, da
-hatte sie auf dem Platz neben ihr zwei Puppenbeine hervorschauen sehen,
-und während sie sich über diese schnurrigen Gegenstände noch gewundert
-hatte, da war neben ihr Gretel aufgerufen worden, um eine Frage der
-Lehrerin zu beantworten.
-
-In demselben Augenblick hatten sich unter der Bank die Puppenbeine
-geregt und wie der Blitz war eine blonde leibhaftige Puppe
-hervorgeschossen, auf Suse zu. Mit beiden Händen hatte sie zugegriffen
-und die Abstürzende tief aufatmend auf ihren Schoß gesetzt.
-
-Gretel aber, der vor Schreck fast das Wort im Munde stecken geblieben
-war, hatte sich hernach herzlich bei dem Doktorskind für die Rettung
-ihres Lieblings bedankt.
-
-Schon am folgenden Sonntag wurde Suse bei ihrer neuen Freundin
-eingeladen, und Gastgeberin und Gast waren so miteinander zufrieden,
-daß Suse von nun an recht oft wiederkam, häufig sogar in Begleitung
-ihrer eigenen Puppe, der Genoveva. Neben den prächtigen, feinen
-Stadtpuppen nahm sich Genoveva, das blöde, ungelenke Landkind,
-allerdings sehr einfach und bescheiden aus. Dafür hatte sie aber den
-Vorzug, ein ereignisvolles Leben hinter sich zu haben. Stundenlang
-konnte Suse davon erzählen. So war dies Puppenkind einmal von dem
-Vetter Theobald an einem Bein an der Wäscheleine aufgehängt worden und
-hatte seit jenem Tag einen Anflug von der Glotzkrankheit behalten, wie
-man an ihren hervorquellenden Augen bemerken konnte. -- Ein andermal
-hatte Suse selbst ihre Tochter eine lange, schreckliche Nacht hindurch
-am Fuchskopf in den Bergen vergessen, und als sie am andern Morgen in
-Schrecken und Angst zu ihr geeilt war, hatte sie das arme Kind mit
-einer lebendigen Eidechse im Schoß vorgefunden, vor Entsetzen halb tot,
-wie die dicken, über ihre Wangen rinnenden Schweißtropfen verrieten. --
-Ja, ja, man hatte seine Not mit Genoveva gehabt!
-
-Gretel war Feuer und Flamme für diese Geschichten und für die
-Erzählerin nicht minder. Und so kam es, daß sich in Suse schon wieder
-die Eingebildetheit regte und sie anfing, wieder übermütig zu werden
-wie daheim eigentlich immer.
-
-Mit Theobald, ihrem erfahrenen Lehrmeister in aller Stadtweisheit,
-hatte sie sogar schon einen Streit gehabt, weil sie ihn fürwitzig und
-mit erhabener Miene über wichtige Gebäude seiner Vaterstadt belehrte,
-über die er ganz verkehrte Begriffe hatte, während Suse, dank einer
-Unterhaltung mit Frau Cimhuber, großartig Bescheid wußte. Ärgerlich
-hatte der Vetter hierauf sein Wohlwollen Hans zugewandt, der weniger
-eingebildet als Suse war, sich aber reichlich so gut in der Stadt
-zurecht fand wie sie. Theobald hatte ihm deshalb vor einigen Tagen
-in seiner schnurrigen Manier beide Hände auf das Haupt gelegt und
-gesagt: „Fahre nur so fort, teurer Freund, und du wirst uns noch alle
-überstrahlen, indem daß du gar nicht so dumm bist, wie du aussiehst. Du
-schickst dich sogar besser als Suse, obwohl die wunder wie gescheit tut
-und nicht einmal weiß, wie man von der Elektrischen abspringt und immer
-die verkehrte Hand am verkehrten Griff hat und aus lauter falscher
-Sachkenntnis nächstens mitten auf der Straße sitzt.“
-
-Natürlich waren diese Reibereien harmloser Natur und jedermann, vor
-allem Frau Cimhuber und Ursel, glaubten, daß nun die Stürme vorüber
-seien und daß sich Friede und Ruhe auf alle senken werde. Wie oft
-pflegte nicht die Pfarrfrau in diesen Tagen zu ihrer alten Magd zu
-sagen: „Sehen Sie, sehen Sie, es ist alles gut geworden, man darf nur
-niemals verzagen!“
-
-Da mit einemmal bekamen die Kinder eine Einladung zu Onkel Gustav, dem
-reichen Besitzer des prächtigen Schlosses, das Hans in den ersten Tagen
-seines Hierseins schon einmal mit Theobald aufgesucht hatte.
-
-Übermütig vor Freude eilten sie zu ihren Vettern und Basen, um ihnen
-die frohe Neuigkeit mitzuteilen.
-
-Die aber machten Gesichter, als sei ihnen die Petersilie verhagelt.
-
-„Freut ihr euch denn nicht?“ fragten Hans und Suse. „Ihr seid doch auch
-geladen.“
-
-„Freuen,“ sagte Toni im wegwerfenden Ton, „keineswegs, uns graut sogar
-davor.“
-
-„Graut?“ forschte Suse.
-
-„Ja, es ist uns sehr unangenehm, weil die Fremdlinge -- die Tante und
-ihre Kinder wollte ich sagen -- Protzen sind. Fremdlinge nennen wir sie
-deshalb, weil sie aus Südamerika kommen und so großartig fremdländisch
-tun. Und Protzen sagen wir, weil sie eben Protzen sind.“
-
-„Was sind das, Protzen?“ fragte Suse erstaunt.
-
-„Nun,“ erklärte die Cousine, „das sind Leute, die sich schrecklich viel
-auf ihr Geld einbilden und auf alles, was sie haben.“
-
-„Ach,“ meinte Suse, „nichts Schlimmeres? Das ist doch nicht schlimm!
-Wenn ich ein solch schönes Haus hätte und solch prächtige Sachen und
-solche ausgestopften Tiere wie sie, würde ich mir auch was einbilden.“
-
-„Dann wärest du auch ein Protz,“ fiel Theobald scharf ein, „und das
-sähe dir so recht ähnlich.“
-
-„Das machte nichts,“ entgegnete Suse keck, „wenn ich nur einen einzigen
-ausgestopften Löwen hätte, wäre ich schon froh. Eine ausgestopfte
-Giraffe wäre mir eigentlich noch lieber.“
-
-Hans war es doch nicht recht geheuer, und auf dem Nachhauseweg sagte
-er nachdenklich zu seiner Schwester: „Am Ende wird’s doch nicht so
-schön bei Onkel Gustav, wie wir geglaubt haben.“
-
-Suse schwieg und zuckte die Achseln; dank ihres leichten Sinnes hatte
-sie eine ganz andere Meinung und zauberte in den nächsten Tagen ihrem
-Bruder die herrlichsten Bilder über ihren Besuch bei den Fremdlingen
-vor Augen.
-
-An einem großen runden Tisch sitzend, von silbernen Tellern Kuchen
-essend, aus wundervollen Tassen Schokolade trinkend, würden sie den
-seltsamen Abenteuern des Onkels lauschen, meinte sie. Zuckersüße
-Früchte würden phantastisch geschmückte Dienerinnen zu ihnen
-hereintragen.
-
-Als der Tag des Besuches bei Onkel Gustav herangekommen war, zogen Hans
-und Suse sich mit größter Sorgfalt an. Und Ursel, die Ehre mit ihnen
-einlegen wollte, half ihnen dabei. Suse war’s zufrieden. Nachdem sie
-ihr Sonntagskleid angezogen hatte, steckte sie ihre Lieblingsbrosche,
-ein Stiefmütterchen, vor, dessen buntbemalte Blütenblätter ein kleines,
-zorniges Gesicht zeigten. Auf dies, ihr schönstes Schmuckstück, bildete
-sich Suse nicht wenig ein.
-
-Vor zwei Jahren war nämlich ein hoher Herr -- ein Prinz, wie Rosel
-behauptet hatte -- nach Schwarzenbrunn gekommen und durch den Ort
-geschlendert. Und als die Schuljugend ihn verfolgte, hatte er plötzlich
-aus der Schar der Gaffer Suse hervorgeholt, sie betrachtet und
-gefragt: „Wem gehörst du, Kind? Du bist ein feines, kleines Mädchen;
-wer hat dir das schöne Stiefmütterchen geschenkt?“ Und dabei hatte
-er mit Begeisterung ihr Stiefmütterchen angesehen, ein Umstand, den
-Suse mit Befriedigung wahrgenommen hatte. Denn erst am Tage vorher
-hatte sie einen Streit mit Hans gehabt, weil er behauptet hatte, das
-Stiefmütterchen sehe ganz verheult und miserabel streifig aus, seit es
-eine Nacht lang im Regen im Garten liegen geblieben sei.
-
-Darum durfte das Stiefmütterchen in Zukunft nicht mehr fehlen, wenn
-Suse sich putzte.
-
-Hans war mit Anziehen schon längst fertig, da überlegte Suse noch
-immer, wo sie ihr Stiefmütterchen am vorteilhaftesten anbringen könne.
-
-Endlich war ein Platz gefunden und nun konnten Bruder und Schwester von
-dannen gehen.
-
-Beim Abschied schärfte Frau Cimhuber den Kindern mehrmals ein, ja recht
-artig zu sein und auf alles acht zu geben, was sie sähen.
-
-„Ja, ja, das wollen wir,“ rief Suse, „und herrliche Sachen werden wir
-Ihnen erzählen, Frau Pfarrer,“ und damit eilte sie voll hundert schöner
-Erwartungen mit Hans die Treppe hinunter.
-
-Bei dem Kriegerdenkmal, dem Ort der Verabredung, trafen sie mit Toni
-und ihren Geschwistern zusammen. Die Aufsicht über die Kinder führte
-Liselotte, ihre ältere Schwester, ein junges, feines Mädchen, das viel
-auf Anstand und gutes Benehmen hielt, dafür aber leider bei ihren
-Geschwistern kein Verständnis fand.
-
-Deshalb hatte sie auch vorhin ihren Eltern seufzend erklärt, es sei ein
-schweres, ein hartes Stück Arbeit, die Geschwister zu beaufsichtigen.
-Man meine manchmal, der böse Geist fahre in sie und triebe sie zu immer
-neuen Ungezogenheiten an. -- +Einen+ Volksauflauf gebe es sicher,
-und das sei dann so peinlich für einen erwachsenen Menschen. Jedoch
-die Eltern hatten die Sache nicht so ernst genommen und ihren jüngeren
-Kindern eingeschärft, der älteren Schwester gut zu gehorchen.
-
-Als die Gesellschaft vollzählig war, brach sie gemeinsam nach der
-„Villa Granada“ auf, -- der Wohnung ihrer reichen Verwandten draußen
-vor der Stadt.
-
-Hans und Suse sahen auf dem Wege dorthin erwartungsvoll drein. Ganz
-anders als ihre kleinen Verwandten, die gleichmütigen Stadtherrlein
-und Fräulein, denen ein solcher Besuch etwas ganz Alltägliches zu sein
-schien.
-
-Besonders Suse sah man die Erregung am Gesicht an, und mit tiefem
-Unbehagen nahm sie selbst wahr, daß all ihre Erwartung auf ein schönes
-Fest kläglich zusammenschrumpfte und nur blasse Furcht zurückblieb.
-Sie zweifelte gar nicht mehr daran, daß alles, was Theobald prophezeit
-hatte, auf schreckliche Weise in Erfüllung gehen werde. Und in ihrer
-Verwirrung drängte sie sich schließlich nahe am Ziel an den übermütigen
-Vetter selbst heran, um bei ihm noch einmal Auskunft zu holen.
-
-„Du, Theobald, sag’ mir,“ begann sie ängstlich, „ich wollte dich
-fragen, Theobald. Sag’ mir, wie sieht die Tante aus? Gelt, die ist
-nicht schwarz?“
-
-„Nicht schwarz?“ rief der Vetter. „Ja, wie denn sonst! Vielleicht grün
-wie ein Laubfrosch oder blau wie ein Schmetterling, wenn sie aussieht,
-als wär’ sie in die Tinte gefallen! Und die Kinder erst! Die sind
-schwarz und weiß kariert wie Schachbretter und haben Ringe durch die
-Nase und Federbüsche auf dem Kopf und Bäuche wie Frösche.“
-
-„Das glaub’ ich nicht,“ entgegnete Suse.
-
-„Glaub’s nicht! In der nächsten halben Stunde werden wir uns wieder
-sprechen!“ sagte der Vetter gleichmütig.
-
-„Ich mein’,“ sagte Suse, „ich möchte wissen, Theobald, ob die Tante
-so freundlich zu einem ist, wenn sie einem guten Tag sagt, wie andere
-Damen?“
-
-„Freundlich? freundlich?“ stotterte Theobald. Und seine Stimme zum
-unheimlichsten Flüsterton dämpfend, raunte er ihr zu: „Sie ist ja eine
-Art Menschenfresserin, Suse, ich hab’s dir ja schon einmal gesagt. Ihr
-Leibgericht sind Menschenohren. Darum rat ich dir, nimm deine Lauscher
-in acht. Sonst stürzt sie sich drauf, reißt sie ab und rauft sie an
-sich. Dann hast du Ohren gehabt und kannst dich außerdem für Geld sehen
-lassen, so schnurrig siehst du dann aus.“
-
-Suse lächelte verlegen.
-
-„So, da wären wir!“ unterbrach sich Theobald mit einemmal.
-
-Ein großes, eisernes Parktor lag vor ihnen. In goldenen Buchstaben
-stand der Name der Villa als ein leuchtender Bogen darüber geschrieben.
-An einem efeuumsponnenen, von Ulmen überschatteten Pförtnerhäuschen
-vorüber ging die Gesellschaft in das Innere des Parkes. Suse zitterte
-das Herz bei jedem weiteren Schritt. Am liebsten wäre sie umgekehrt.
-
-Mit einem Male sagte Toni ganz laut. „Da kommen Concha, Enrique, Sancho
-und Jose.“ „Die prächtigen Granadasöhne,“ setzte Theobald hinzu.
-
-Suse fuhr zusammen.
-
-Aber was mußten ihre Augen sehen? Dort aus der Ferne, von der
-blumenbewachsenen Terrasse herunter, auf der stolz wie ein Schloß die
-Villa Granada stand, kamen ein paar Kinder, die genau aussahen wie
-die Kinder anderer Sterblicher. Nichts von Federbüschen, nichts von
-Nasenringen, nichts von einer karierten Haut war zu sehen, wie Theobald
-angekündigt hatte. Und auch jetzt, als sie ganz in der Nähe angelangt
-waren, verwandelten sie sich noch immer nicht in Kaminfeger. -- Das
-kleine Mädchen sah sogar wunderhübsch aus in ihrem reichgestickten
-Kleid.
-
-„Guten Tag,“ sagten die Kinder mit fremdländischer Betonung, und
-schlossen sich ihren Besuchern an.
-
-Suse mußte sie immer wieder von der Seite ansehen. Ihre Gesichter waren
-ganz weiß, und ihre Gestalten waren geschmeidig und fein, ihre Augen
-dunkel und strahlend.
-
-Der eine der Knaben, der kleinste von den dreien, öffnete einen
-silbernen Zigarettenbehälter und zündete sich eine Zigarette an. Aber
-sonst geschah nichts Außergewöhnliches.
-
-Und jetzt, da ihr erster Schreck verwunden war, empfand Suse etwas
-wie Bedauern über soviel Alltäglichkeit. Es wäre ihr nun gar nicht
-unlieb gewesen, wenn plötzlich einer der Knaben ein paar ausländische
-Purzelbäume geschlagen oder sonstige Allotria getrieben hätte. Aber
-keiner tat ihr den Gefallen. Sie gingen im manierlichsten Schritt von
-der Welt einher.
-
-Da raunte Hans plötzlich seiner Schwester zu: „Sieh, dort an der
-Seite des Schlosses, das niedere Haus, das ist die Garage, wo wir das
-Automobil damals besehen haben.“
-
-„Herrgöttle, Herrgöttle, haben wir dabei geschwitzt,“ ließ sich nun
-auch Theobald vernehmen. -- Noch hatte er nicht ausgeredet, da horchte
-Suse erschreckt auf. Ein überaus häßliches Geschrei, wie sie es in
-ihrem ganzen Leben noch nicht vernommen, hatte ihr Ohr getroffen.
-Und als sie in die Richtung blickte, aus der es kam, sah sie auf dem
-grünen Rasenplatz, der sich bis zur Terrasse hinüber erstreckte, einen
-wunderbaren Vogel spazieren gehen.
-
-„Der Pfau,“ sagte Hans mit geheimnisvoller Stimme. -- Suse betrachtete
-das Tier mit Staunen. Wie eine königliche Schleppe ließ er seinen
-prächtigen Schweif am Boden hinschleifen, und ehe sie sich’s versah,
-hatte er ihn wie einen Riesenfächer entfaltet, so daß all die
-schillernden Kreise in seinem Gefieder wie grüngoldene Kugeln glänzten.
-Und der kleine Federputz auf der Mitte seines Hauptes zitterte dazu wie
-feine Perlen, die auf zierlichen Stäbchen stecken.
-
-„Oh, wie schön,“ sagte Suse leise, „wenn der Vater und die Mutter doch
-auch einen solchen Vogel hätten!“
-
-Zögernd, mit rückwärts gewandtem Gesicht folgte Suse der übrigen
-Gesellschaft.
-
-„Komm, komm,“ drängte schließlich der Bruder, sie bei der Hand fassend,
-„die andern sind ja schon fort, wir müssen hinterdrein.“
-
-Und auch Theobald, der wieder zurückgekommen war, mahnte: „Komm
-schnell, Suse, wir wollen gemeinsam in die Höhle der Löwen.“
-
-Widerstrebend folgte sie der Aufforderung.
-
-Da plötzlich blieb Theobald stehen, klapperte mit den Zähnen und sagte
-flüsternd: „Himmel! Himmel! Da vorn steht sie und hat die Kinnladen
-auseinandergeklappt wie ein Scheunentor! Himmel! Himmel! Sie schnalzt
-mit der Zunge! Was wird das geben! Mein Herz! Mein Herz! In den Hosen
-sitzt’s mir schon! Jetzt halt deine Ohrläppchen fest!“
-
-Suse zitterte am ganzen Körper und schaute erbleichend geradeaus.
-Dort mitten im Weg standen zwei kohlpechrabenschwarze Frauen und
-musterten die Kinder. Das Weiß ihrer Augen und die blanken Zähne
-leuchteten gespensterhaft aus ihren nachtschwarzen Gesichtern. Wie mit
-Blutstropfen betupft, so kamen Suse ihre Augenränder vor.
-
-Im Gebüsch des Weges hatten diese unheimlichen Gestalten sicher auf die
-Kinder gelauert und wollten sie nun überfallen.
-
-„Sag’ ihr guten Tag, und küß ihr die Hand. -- Die rechts mit dem
-großen, hohlen Zahn ist’s,“ drängte Theobald. „Schnell, schnell, sonst
-stürzt sie sich auf dich los und dann -- adieu Ohrläppchen.“ --
-
-Suse war nicht imstande, einen Schritt zu tun, so lähmte ihr der
-Schreck alle Glieder.
-
-Erst ganz allmählich kam ihr die Besinnung wieder, und dann dachte sie
-nur auf ihre Rettung.
-
-Wie ein Pfeil flog sie über den Rasenplatz der Terrasse zu an dem
-Pfau vorüber, der mit gellendem Geschrei aufflog und wie ein lebendig
-gewordenes Heubündel neben ihr herrauschte.
-
-Drüben auf dem Weg drängte sie sich an ihre ältere Cousine an und
-flüsterte klopfenden Herzens: „Sieh, Liselotte, die gräßlichen Frauen,
-die Tante Josepha geht dort, dort, guck, guck!“
-
-Das junge Mädchen wandte sich um und erblickte die schwarzen Frauen
-jenseits des Rasenplatzes; zu gleicher Zeit aber auch ihren Bruder
-Theobald, der, sich die Seiten vor Lachen haltend, des Weges kam. Da
-wußte das junge Mädchen Bescheid, und die Hand ihrer kleinen Verwandten
-durch ihren Arm ziehend, sagte sie beruhigend: „Das sind zwei
-Dienerinnen, die Kinderfrauen von Concha, Jose und den andern. Die tun
-dir nichts, sei nur still.“
-
-Suse atmete erleichtert auf. Theobald aber blieb weit zurück und zwar
-um so weiter, je häufiger seine Schwester nach ihm hinsah.
-
-Und nun währte es nicht mehr lange, da sollten die Doktorskinder
-die echte, die wirkliche, die leibhaftige Tante Josepha zu Gesicht
-bekommen. Im Kreise der übrigen Kinder betraten Hans und Suse die
-Villa Granada. Es war ein prächtiges Gebäude mit schöngeschnitzten
-Möbeln in allen Zimmern, mit kostbaren Teppichen auf den Fußböden und
-farbenprächtigen Bildern an den Wänden.
-
-Von den einzelnen Gegenständen konnten die Geschwister aber kein
-genaues Bild bekommen. Nur im allgemeinen hatten sie die Empfindung,
-in einem reichen glänzenden Palast zu sein, wo alles herrlich und
-fremdländisch aussah. Da, als sie einen großen Saal betreten hatten,
-rauschte es mit einemmal wie von seidenen Kleidern.
-
-„Sie kommt!“ flüsterte Theobald.
-
-Unwillkürlich faßte sich Suse mit beiden Händen an die Ohren.
-
-Hinter einem Vorhang hervor, der zwischen zwei Türen hing, trat eine
-große, stolz aussehende Dame.
-
-Es war Tante Josepha.
-
-Die Kinder wichen einen Schritt zurück. Die kleinen Mädchen machten
-einen Knicks aus der Ferne und die Knaben ihre Verbeugung.
-
-Eisigkalt wehte es von der fremden Dame her. Und selbst die
-Dreistigkeit der Sausewinde war wie eingefroren.
-
-Und doch war die Dame, die dort eingetreten war, keineswegs die
-Wetterhexe, als die Theobald sie geschildert hatte. Im Gegenteil, sie
-war eine sehr schöne Frau. Und wie sie so dastand, die großen dunklen
-Augen fragend auf die Kinder geheftet, die Schleppe ihres prächtigen
-Gewandes leicht nach vorn geworfen, erinnerte sie an ein schönes Bild.
-
-Aber an der Nasenspitze konnte man dieser hochmütig blickenden Frau es
-ansehen, wie von Herzen gleichgültig ihr der ganze Besuch war.
-
-Selbst Theobald, der noch vorhin seinen Geschwistern vorgehalten hatte:
-„Merkt euch, liebe Kinder, den schönen Vers: Denn wo du schlecht
-wirst aufgenommen, da mußt du recht bald wiederkommen, und geniert
-euch nicht,“ wünschte sich mit einemmal über alle Berge. Sein Vetter
-Hans aber stand da, die Augen fest auf die fremde Dame gerichtet, als
-erwarte er ein Wunder.
-
-Da fiel Theobald seines Vetters verstörtes Gesicht auf, und er raunte
-ihm zwischen den Zähnen zu: „Guck doch nicht wie ein geschlachteter
-Ziegenbock, der nicht mehr meckern kann!“
-
-Und Hans, der seines Vetters albernste Bemerkungen als köstliche Witze
-empfand, konnte sich nicht mehr zusammennehmen und platzte mit einem
-Male los.
-
-Die fremde Dame sah lange verwundert nach ihm hin. Und er drückte
-entsetzt beide Hände vor seinen Mund.
-
-Aber was nützte es! Noch ärger als zum erstenmal wurde sein Lachen;
-denn Theobald flüsterte ihm in die Ohren: „Du kannst mir’s glauben, die
-Dame Josepha hat den Starrkrampf! Drum starrt sie so!“
-
-Und Hans wünschte sich weit weg auf einen hohen Berg, wo er sich vor
-Lachen hätte wälzen können ob dieser großartigen, dieser herrlichen,
-dieser unvergleichlich schönen Witze.
-
-Nun mußte er aber wie ein Soldat hier stehen und abwarten, was die
-nächste Minute ihm brachte.
-
-Suse war noch immer in ihrer Verzauberung befangen und sah regungslos
-auf die stolze Dame vor ihr. Sie kam ja nicht auf ihre Gäste zu, wie
-Susens Mutter es daheim bei Einladungen zu tun pflegte, und gab jedem
-Kind freundlich die Hand. -- Sie musterte sie nur mit kaltem, leicht
-spöttischem Blick.
-
-Da wäre es schon unterhaltender gewesen, sie wäre wirklich ein
-schwarzes Fabelwesen gewesen und hätte Kuchenstücke und Mohrenköpfe um
-sich geworfen und sonstige lustige Faxen getrieben.
-
-„Uff,“ sagte Theobald mit einemmal, denn seine Tante und Liselotte
-hatten das Zimmer verlassen, und die Kinder waren allein.
-
-Suse und ihre kleine, fremdländische Cousine maßen sich mit stummem
-Blick noch immer aus der Ferne. Toni setzte sich ans Klavier, um ein
-Lied zu spielen. Die Granadasöhne ließen sich in die tiefen, weichen
-Sessel fallen, und ihre Vettern aus der Stadt folgten ihrem Beispiel
-mit angenommener Nachlässigkeit.
-
-Wie die Paschas saßen sie dort, die Beine gekreuzt, die Arme
-verschränkt, und sahen einander herausfordernd an.
-
-Nur Hans stand hinter dem Sessel Theobalds wie ein Gewächs, das einer
-Stütze bedarf, denn sein Vetter hatte ihm eben zugeraunt: „Bleibt
-möglichst in meiner Nähe, du und Suse. Sie wollen sich über euch lustig
-machen; das will ich ihnen austreiben.“
-
-„Fein war’s heute in der Reitbahn,“ begann einer der ‚Granadasöhne‘ die
-Unterhaltung. „Ich hatte einen famosen Gaul. Nächstens darf ich in der
-Quadrille mitreiten.“
-
-„Entsetzlich! Sie fangen schon an zu protzen,“ raunte Theobald seinem
-Vetter unter der vorgehaltenen Hand zu.
-
-„Du, Hans, reitest du auch?“ wandte sich der „Granadasohn“ an den
-verblüfften Knaben.
-
-„Ja,“ rief Theobald laut.
-
-„Fällt mir gar nicht ein,“ erwiderte Hans und begann zu lachen. „Ich
-hab’ ja kein Pferd.“
-
-„Dann reitest du also nicht?“
-
-„Mein Gott, bist du schwerhörig?“ rief Theobald, „soll er vielleicht
-auf einem Besenstiel reiten, wenn er kein Pferd hat?“
-
-Alles lachte. Nur Toni warf ihrem Bruder einen entrüsteten Blick zu und
-schüttelte ihr Haupt.
-
-Er aber saß mit unbeweglichem Gesicht da, die Arme fest verschränkt und
-rüstete sich auf weitere Angriffe.
-
-„Dummes Zeug,“ verwies hier einer der Fremdlinge denjenigen seiner
-Brüder, der Hans ausgefragt hatte. „Wie kannst du nur fragen, ob Hans
-reitet. In diesen Kuhdörfern in den Bergen, wo er her ist, gibt’s doch
-keine Pferde. Nichts gibt’s dort, einfach nichts. Schauderhaftes Leben.“
-
-„Ja, selbst die größeren Hammelsbraten und Ochsen findet man hier,“
-warf da Theobald herausfordernd ein.
-
-Die Augen der Fremdlinge blitzten; sie bemeisterten sich aber noch, und
-einer suchte Zigaretten hervor und bot sie im Kreise herum an.
-
-„Du rauchst doch auch,“ wandte er sich an Hans.
-
-„Nein,“ rief Theobald, „er darf es nicht, er ist viel zu klug dazu. Ihr
-wißt doch, je klüger die Leute, je gefährlicher für sie das Rauchen.
-Ich möchte an eurer Stelle gar nicht sagen, daß ich’s so gut vertragen
-kann.“
-
-In diesem Ton ging die Unterhaltung weiter. Es war nun mal so und nicht
-zu ändern. Fremdlinge und Sausewinde konnten einander nicht ausstehen,
-vielleicht weil einer dem andern seine Vollkommenheit im Protzen
-und Aufschneiden übelnahm. Was das Aufschneiden anbetraf, gebührte
-entschieden Theobald die Palme, was das Protzen anbelangte, eher den
-Fremdlingen.
-
-Im Laufe des Nachmittags gerieten die beiden Parteien häufig hart
-aneinander, und es sah aus, als sollte es zu einer regelrechten
-Schlacht kommen.
-
-Da erschien aber noch zur rechten Zeit der Diener und meldete, daß
-der Teetisch gedeckt sei. Die Kinder sprangen auf und drängten in das
-Eßzimmer, um dort an einem einladend hergerichteten Tisch Platz zu
-nehmen.
-
-Trotzdem verging Suse die Lust auf die appetitlichen Kuchen, die sie
-aus silbernen Körben anlachten; denn gerade als sie einen Mohrenkopf
-zum Munde führen wollte, öffnete sich die Tür und die schwarzen Frauen
-von vorhin tauchten zum zweitenmal auf.
-
-Suse blieb der Bissen im Munde stecken. Lautlos wie Fledermäuse
-strichen die Fremden hinter Susens Stuhl vorüber und kamen jenseits des
-Tisches wieder zum Vorschein, beim Bedienen helfend.
-
-Jedesmal bei ihrem herankommen lief dem kleinen Mädchen ein Gefühl über
-die Haut, als fließe ihr kaltes Wasser den Rücken hinunter.
-
-Während nun Susens Aufmerksamkeit auf die Schwarzen allein gerichtet
-war, hatte ihre kleine Verwandte Concha sie die ganze Zeit mit
-spöttischem Blick angesehen, vor allem aber ihr berühmtes Schmuckstück
-scharf ins Auge gefaßt.
-
-„Ist die Brosche von Gold?“ fragte sie mit einem Male laut.
-
-Alle sahen nach Susens Talisman und lachten.
-
-„Ist sie von Gold?“ fragte Concha noch einmal.
-
-Suse wußte nicht, was antworten. Hans aber wurde es ungemütlich zu
-Sinn, und er hätte gern die Geschichte von dem Prinzen und seiner
-Bewunderung für das Stiefmütterchen erzählt. Aber er fürchtete, in der
-Mitte stecken zu bleiben und die Sache noch schlimmer zu machen.
-
-Suse wäre jetzt am liebsten mitsamt ihrem Stiefmütterchen aufgesprungen
-und davongelaufen, durch die Tür in den Garten und auf die Straße.
-Es war ja nichts hier, wie sie erwartet hatte; im Gegenteil, eine
-Enttäuschung folgte der andern. -- Auch der Onkel war nicht da, der
-doch so viele schöne Geschichten wußte, wie Toni vorhin Suse erzählt
-hatte, und einem die ausgestopften Tiere zeigte. -- Er hatte unerwartet
-verreisen müssen.
-
-Da war es denn eine große Erleichterung, als Liselotte erschien und den
-Kindern verkündete, sie möchten unter der Aufsicht der schwarzen Frauen
-in den Zoologischen Garten gehen. -- Sie bliebe hier bei ihrer Tante.
-
-„Wie schön,“ entfuhr es halblaut Susens Mund. Und auch Hans leuchtete
-die Freude aus den Augen.
-
-Die Löwen, Tiger, Leoparden, all die wilden Tiere im Zoologischen
-Garten kamen den Kindern mit einem Male anheimelnder vor als die ganze
-Einwohnerschaft der Villa Granada zusammengenommen.
-
-Schnell fand nun der Aufbruch statt. Von der fremden Dame brauchten
-sich die Kinder nicht zu verabschieden; denn sie hielt sich
-eingeschlossen in einem entfernten Zimmer und wollte niemand sehen. Und
-es war auch ganz gut, daß ihre kleinen Besucher ihr Gesicht nicht zu
-sehen bekamen. Zuviel Widerwillen gegen ihre Gäste malte sich darin,
-als daß es sie nicht hätte bitter kränken können.
-
-Von den schwarzen Frauen geleitet, verließen die Kinder den Garten der
-Villa Granada.
-
-„Jeder lacht, wenn er uns anguckt,“ meinte Theobald, als sie das Freie
-erreicht hatten. „Guck, Suse, wie die dort drüben den Mund aufsperren
-und uns mit unseren schwarzen Tintenfischen angaffen!“
-
-Und damit wies er auf einige Leute jenseits der Straße.
-
-Suse achtete nicht auf ihn und seine Reden. In Gedanken weilte sie
-bereits weit weg, und wie im Nebel verschwand die Villa Granada hinter
-ihr.
-
-Vor dem Zoologischen Garten verabschiedeten sich die beiden ältesten
-Fremdlinge von der Gesellschaft, da sie die fremden Tiere nicht
-interessierten, wie sie behaupteten.
-
-Theobald zauderte einen Augenblick. Auch er wollte den feinen,
-übersättigten Herrn spielen.
-
-Aber mit aller Gewalt zog es ihn doch vorwärts in den Garten hinein.
-
-Als die Kinder den großen, breiten Weg betreten hatten, der mitten
-durch den Zoologischen Garten führte, ging Suse bescheiden in züchtiger
-Haltung vorwärts, als schritte sie durch eine Kirche. Ihr Herz klopfte
-erwartungsvoll. Die bunten Papageien und Kakadus, die, auf hohen
-Stangen an kleinen Ketten angeschmiedet, rechts und links vom Wege
-saßen, schien sie kaum zu beachten.
-
-Ihre Gedanken weilten schon beim König der Tiere.
-
-„Der Löwe,“ murmelte sie leise vor sich hin. „Ach, wenn ich ihn doch
-nur schon sähe!“
-
-„Sollst du, mein Herzblatt, darfst ihm auch einen Kuß geben,“ sagte
-Theobald tröstend an ihrer Seite. Und er richtete es so ein, daß die
-ganze Gesellschaft ihren ersten Gang auf die Raubtierkäfige zu nahm.
-Hinter den Gittern hervor sahen die Doktorskinder zuerst nur die
-gelben Felle der Tiere schimmern. Ihre Gestalten konnten sie noch
-nicht erkennen. -- Aber jetzt, als sie näher kamen, erblickten sie
-den König der Tiere und stutzten. Ruhig und majestätisch lag er da,
-den mächtigen Kopf mit der schweren Mähne stolz erhoben, das Auge
-regungslos ins Weite gerichtet. Suse klopfte das Herz bis zum Halse;
-sie verlangsamte ihren Schritt und blieb dann zitternd stehen. -- Der
-Löwe war aufgesprungen und dicht an das Gitter getreten und ging jetzt
-mit lautlosen Schritten dort auf und nieder, die Stäbe mit seinem Fell
-streifend. Und gleichsam einer unsichtbaren Macht gehorchend, hielt er
-plötzlich im Wandern inne und wandte sein gewaltiges Haupt Suse zu.
-
-Witternd erhob er seine Nase und richtete seine feurigen, funkelnden
-Augen fest auf sie. Und mit einemmal riß er das Maul auf und brüllte
-schauerlich.
-
-Suse schrie mit und eilte in großen Sprüngen von dannen.
-
-Ängstlich wandte sie sich schließlich um und sah die andern Kinder
-lachend am Käfig des gefährlichen Raubtiers stehen. Da kehrte auch sie
-wieder um, schlich langsam heran und stand lange bei ihnen, den Löwen
-mit Ehrfurcht betrachtend.
-
-Angesichts ihres weibischen Zagens wuchs Theobalds Mannesmut ganz
-gewaltig, und für die nächste halbe Stunde spielte er sich in
-unerträglichster Weise als der Kinder Beschützer und Berater auf. Seine
-weisen Belehrungen nahmen kein Ende.
-
-„Das ist der Königstiger, seht, meine lieben Kinder,“ begann er vor
-einem Käfig, in dem ein abgemagertes Tier sich aufhielt.
-
-„Der Königstiger ist eine aus fremden Erdteilen stammende Bestie und
-keine Kuh, wie ihr euch vielleicht bei diesem Prachtexemplar einbildet.
-Dies ist nämlich der Abklatsch einer Kuh. Es hat magere Beine, Krallen
-wie Hufe und einen spärlichen Haarwuchs. Anstatt, daß er durch das
-Dschungel schleicht und auf Beute auszieht, kann er sich jetzt mit
-seinem ausgefransten Schwanzstummel die Mücken abwedeln.“
-
-„Genau wie Onkel Fritz redest du,“ seufzte Toni, „oh, es ist ein Elend.
-Alles plapperst du ihm nach! Mutter sagt auch, du bist sein ganzer
-Abklatsch.“
-
-Zum Glück hörte außer Toni niemand sonderlich auf des unverbesserlichen
-Theobalds Reden, ging doch jeder seine eigenen Wege.
-
-Hans und Suse waren bald bei den Affen, dann bei den Rehen, dann
-bei den Elefanten, auch beim Wolfe zu sehen. Wie schön war dieser
-Nachmittag nun doch noch geworden! Viel, viel schöner, als es sich die
-Kinder noch vor kurzem hatten träumen lassen.
-
-Wie sie so durch den Garten schritten, kam es, daß ihre Wege sich
-trennten. Hans interessierte sich für die Tiere im Aquarium mehr als
-Suse, und so lief sie denn allein weiter.
-
-Nach geraumer Zeit traf sie mit Theobald zusammen, der sich eine halbe
-Stunde lang mit dem Wärter eines Schimpansen unterhalten hatte und der
-nun, durch diese Auszeichnung geschmeichelt, wie auf Stelzen ging.
-
-Natürlich zögerte er nicht, seine eben erworbenen Kenntnisse der
-Cousine brühwarm zu unterbreiten. Und über Schimpansen, Gorillas und
-Orang-Utans redend wie ein berühmter Zoologieprofessor, schlenderte er
-mit ihr weiter und hörte erst mit Reden auf, als er mit ihr vor dem
-Vogelkäfig stand und an ihren begeisterten Ausrufen hörte, daß sie
-seine ganze Affenweisheit kalt ließ.
-
-„Ach, wie schön,“ rief sie, „ach, wie schön! hätten wir doch nur
-zwanzig von diesen Vögeln. Mit zehn wäre ich auch zufrieden. Ach, am
-schönsten wäre es doch, die Türe plötzlich zu öffnen und alle Vögel
-herauszulassen,“ meinte sie. „Sicher würde Hans das auch sagen.“
-
-Aber wo war ihr Bruder? Mit einem Male fiel ihr ein, daß sie ihn schon
-eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte.
-
-„Wo ist Hans wohl?“ wandte sie sich an Theobald.
-
-„Ach, der gafft sicher irgendwo durch ein Gitter und sammelt
-Kenntnisse.“
-
-Noch hatte der Knabe nicht ausgeredet, da bekam sein Gesicht einen
-gespannten Ausdruck.
-
-In der Ferne hatte er lautes Schelten gehört. Er lauschte
-angestrengter. Die Stimmen wurden lauter. „Scht,“ mahnte er, „ist das
-nicht Hans?“
-
-Nun horchte Suse auch hin. Und im nächsten Augenblick eilten beide auf
-die Richtung zu, aus der der Lärm kam. -- Sie glaubten, Hans rufen
-gehört zu haben.
-
-Nach einigen Sekunden sahen sie einen seltsamen Aufzug um die Ecke
-biegen: die beiden schwarzen Frauen kamen in großer Aufregung daher.
-Christoph und Henner hefteten sich gestikulierend wie Volksaufwiegler
-an ihre Fersen. Toni und die Fremdlinge redeten aufeinander ein, und
-mitten zwischen ihnen ging stolz wie ein Leu der Wärter und schleppte
-Hans am Rockkragen neben sich her.
-
-Mit verstörten Augen blickte der kleine Knabe um sich und schwebte alle
-paar Schritte, durch einen Ruck seines Führers aufgehoben, über den
-Erdboden dahin.
-
-Suse glaubte bei diesem Anblick, die Erde tue sich auf, und stand
-einige Augenblicke wie versteinert. Dann lief sie schnell auf ihren
-Bruder zu, packte ihn bei der Hand und rief: „Was ist denn? Was ist
-denn? Ach, Hans! Ach, Hans!“
-
-„Ach, bitte, bitte,“ wandte sie sich an den Wärter, „lassen Sie Hans
-los. Weshalb halten Sie ihn so fest?“
-
-„Ja, Sie reißen ihm ja den Arm ab,“ rief nun Theobald, und schon war
-er mitten im Gewühl drin und fragte unerschrocken, was sein Vetter
-eigentlich verbrochen habe, daß er wie ein wildes Tier durch den
-Zoologischen Garten geschleift würde.
-
-Da rief der Mann, dem die Galle anscheinend überlief, Hans habe dem
-schönsten und teuersten Kamel des Zoologischen Gartens Sand in die
-Augen geworfen. Das Tier werde sicher blind. -- Es sei eine unerhörte
-Frechheit. -- Und mit einem Blick auf Theobald, der herausfordernd
-dastand, erklärte er, Theobald sähe übrigens aus, als brächte er auch
-so was fertig.
-
-Der Knabe wich ein paar Schritte zurück und murmelte: „Unverschämtheit
-sondersgleichen!“
-
-Suse aber weinte bitterlich und sagte: „Hans hat noch keinem Tier was
-zuleid getan. Nie, nie hat er einem Tier was Böses getan.“
-
-Jedoch die Fremdlinge und ihre schwarzen Begleiter nickten fortwährend
-und sagten: „Ja, ja, er hat’s getan.“
-
-„Bist du’s gewesen?“ fragte da Theobald in wohlabgemessener Entfernung
-von dem Wärter seinen Vetter.
-
-Hans antwortete nicht.
-
-Da faßte der Frager kurz entschlossen seines fremden Vetters Jose
-Hand und streckte sie dem Wärter mit den Worten hin: „Sehen Sie, Herr
-Wärter, dem seine Hand ist ganz voll Sand. Der Lügner hat’s getan,
-nicht der andere.“
-
-„Mach, daß du fortkommst, stoppelhaariger Dickkopf!“ fuhr ihn der
-Wärter an, „oder du gehst auch mit.“
-
-In ein paar Sprüngen war Theobald um die nächste Ecke. Der wütende Mann
-aber verschwand mit Hans und seinen Zeugen, den Fremdlingen, auf der
-Direktion.
-
-Lange, bange Augenblicke verstrichen für die Zurückbleibenden. Toni und
-der wiederkehrende Theobald hatten Mühe, Suse zu hindern, ihrem Bruder
-zu folgen.
-
-„Es geschieht Hans doch nichts, kein Mensch rührt ihn an,“
-beschwichtigte Toni immer wieder. Theobald hingegen machte seinen
-Gefühlen in lauten Worten Luft.
-
-„So eine Gemeinheit wie heute hab’ ich doch noch nie gesehen,“ rief
-er. „Pfui! Pfui! -- Unser Vater sagt immer, wir sind das furchtbarste
-Unkraut, das es gibt. Wir färbten auf alle ab. -- Aber so was brächten
-meines Vaters Kinder doch nicht fertig! Nein, gemein wären wir nie!“
-
-„Weißt du, Henner, mit meinem Eichhörnchen hat Jose dasselbe Experiment
-gemacht,“ wandte er sich an seinen Bruder. „Seit dem Tage, als er es
-mit Sand geworfen, hat’s kranke Augen.“
-
-„Ja, ja,“ riefen seine Brüder und brachen in ein wildes Rachegeschrei
-aus.
-
-Während die Kinder nun so in einer sich immer steigernden Aufregung
-durcheinander redeten, war drüben an der Einzäunung, hinter der das
-Rehwild stand, schon eine Weile ein junger Mann zu sehen gewesen, der
-aufmerksam nach dem erregten Häuflein herübergeschaut hatte. Seiner
-Tracht und seiner sehnigen Gestalt nach zu urteilen, gehörte er den
-Gebirgsbewohnern an.
-
-Jetzt, als Suse auf wenige Sekunden die Hände von den Augen ließ, so
-daß ihr Gesicht voll zu erkennen war, nickte er mehrmals befriedigt vor
-sich hin und ging dann geradewegs auf sie zu.
-
-„Guten Tag,“ sagte er, vor ihr stehen bleibend. „Gelt, du bist doch
-Doktors Suse? Ich hab’ mir doch gleich gedacht, das ist Doktors Suse.“
-
-Das kleine Mädchen sah den fremden Mann groß an und wußte einige
-Augenblicke lang nicht, wen sie vor sich hatte.
-
-Aber mit einemmal ging es wie ein Erwachen über ihre Züge; ihre Augen
-strahlten, und sie rief glückselig: „Ach, das ist ja Philipp. Wo kommst
-du her, Philipp? Ach, wie freu’ ich mich! -- Das ist Martins Bruder,“
-sagte sie zu den andern, „sein ältester Bruder Philipp, der ihm die
-schönen Geschenke macht. -- Weißt du, Theobald? du kennst Martin ja
-auch. -- Wie schön, daß du da bist, Philipp,“ rief sie jetzt dem Freund
-aus der Heimat zu.
-
-Der junge Mann hielt etwas verlegen des kleinen Mädchens Hand noch
-immer in der seinen, wußte nicht recht, was damit anfangen und sagte in
-einem fort: „Wie geht’s denn, Suse, geht’s gut? Geht’s gut?“
-
-Das kleine Mädchen antwortete nicht. Sie sah mit immer leuchtenderen
-Augen in sein Gesicht. -- Er war ja von daheim, von zu Hause, wo er
-alles kannte, die Eltern und Michel und Rosel und Christine und den
-Wald und die Berge und das Doktorshaus und den Garten, alles, alles.
-Sie meinte im Augenblick, er sei ihr Bruder. -- Sie wollte ihn nicht
-mehr los lassen.
-
-„Wie geht’s dir denn, Philipp?“ fragte sie schließlich, als sie sich
-wieder gefaßt hatte. „Und wie geht’s deiner Mutter? und was macht
-Martin? hat er uns nicht grüßen lassen?“
-
-Verwundert sah der junge Mann sie an und fragte dann: „Ei, hör’ mal,
-Suse, weißt du denn nicht, daß ich schon viel länger von zu Hause fort
-bin, als ihr zwei? Bald zwei Jahre?“
-
--- „Ach ja, ach ja!“
-
-Suse hatte es in ihrer Aufregung nur ganz vergessen. Jetzt fiel ihr
-wieder ein, daß Philipp als Holzflößer hinunter in das Tal gezogen war
-und auf einem Lastkahn auf dem Kanal Beschäftigung gefunden haben
-sollte, wie Martin ihr und Hans erzählt hatte. -- Wie hatte sie nur so
-dumm sein können, es zu vergessen! Hans pflegte ja stets mit Martin die
-Wochen und Monate auf dem Kalender anzustreichen, die der Bruder des
-armen Krüppels noch in der Fremde zu verbringen hatte.
-
-„Schon zwei Jahre bist du fort von daheim?“ fragte Suse nun mit
-Bedauern in der Stimme. -- „Oh, wie lang! Konntest du es so lange
-aushalten, Philipp? Das könnte ich nicht aushalten. Hast du denn kein
-Heimweh gehabt?“
-
-„Das schon,“ meinte Philipp, „aber man hat halt viel zu tun, und da
-vergißt man das Heimweh. Und dann denkt man auch immer, die Zeit geht
-herum. -- Jetzt noch zwei bis drei Wochen, dann bin ich wieder zu
-Hause.“
-
-„Vor Pfingsten schon?“ fragte Suse.
-
-Er nickte.
-
-„Wie schade!“ rief das kleine Mädchen, „wenn du doch noch ein wenig
-warten würdest, könnten wir die Reise zusammen machen. Pfingsten gehen
-wir auch nach Hause. Denke dir, wie schön es wäre, wenn wir alle drei
-zusammen ankämen. -- Martin will uns abholen. Weißt du dort auf dem
-Rain, wo der Weg aus dem Walde kommt, dort wartet er schon am Mittag,
-wenn wir auch erst um fünf Uhr kommen. Er hat’s gesagt, und das letzte
-Stück fährt er in der Postkutsche mit uns.“
-
-Hier sah sich Philipp forschend um und fragte ganz erstaunt: „Wo ist
-denn Hans? Er ist doch nicht krank? Fehlt ihm was? Er ist doch auch mit
-dir hier zum Lernen?“
-
-Da verdunkelte sich Susens Gesicht aufs neue, und sie erzählte
-bitterlich weinend alles, was sich zugetragen hatte. Und plötzlich
-kam Leben in den stillen, zurückhaltenden Gebirgsbewohner, und er
-rief blitzenden Auges: „Ist der Bursch, der mit Sand geworfen hat,
-vielleicht so ein kleiner Knirps, dünn wie ein Wollfaden, der mit den
-beiden schwarzen Weibsgestellen da herumläuft? Himmelsapperment, den
-hab’ ich vorhin gesehen, wie er einem Affen einen kleinen Stein an den
-Kopf geworfen hat. Da hab’ ich mir gesagt, jetzt noch ein Wurf, und du
-langst ihm eine, daß ihm der Hut vom Kopfe fliegt. -- Wo ist er?“
-
-„Da drin,“ rief Theobald, auf das Gebäude der Direktion deutend. Und
-Philipp sprang in großen Sätzen geradeswegs auf die Eingangstüre des
-Hauses zu.
-
-Theobald eilte in gleichen Schritten hinterdrein, kehrte aber wie der
-Wind wieder um, als er im Vorraum des Gebäudes plötzlich die Stimme des
-Wärters hörte. --
-
-Nun währte es nicht mehr lange, da kam auch die übrige Gesellschaft
-wieder zum Vorschein. Allen voran schritt Philipp, Hans an der Hand
-haltend. Des jungen Mannes Augen blitzten wie die eines Siegers.
-Trotzdem hatte er wenig ausrichten können. Der Wärter und die
-Fremdlinge hatten eben zu fest auf ihrer Behauptung bestanden, Hans sei
-der Missetäter, als daß er etwas dagegen hätte tun können. -- Aber die
-Sache sollte noch einmal untersucht werden, hatte ihm einer der Beamten
-versichert. -- Inzwischen sollte erst mal abgewartet werden, ob das
-Kamel überhaupt erblinde. -- In diesem Falle werde es Hans zugesprochen
-werden, und der müsse fünftausend Mark dafür bezahlen. -- Natürlich
-gehöre das Tier dann ihm.
-
-Nachdem Suse und ihre kleinen Verwandten das Urteil vernommen hatten,
-trennten sie sich voneinander, Toni, um mit ihren jüngeren Brüdern in
-die Villa Granada zu gehen und Liselotte abzuholen, Theobald, um mit
-Philipp und den Doktorskindern ihre Wohnung aufzusuchen.
-
-Suse wich auf dem ganzen Weg dorthin nicht von Philipps Seite. -- Die
-Aussichten, die Hans auf Freisprechung hatte, mußten mit dem Freund
-aus der Heimat eingehend beredet werden. -- „Es wird schon alles gut
-werden, es wird schon alles gut,“ tröstete jener immer wieder. -- Dann
-sprachen die beiden zusammen über Martin und sein Leiden. Von einem
-künstlichen Bein, das Hans und sie dem armen, verkrüppelten Freund
-dermaleinst schenken wollten, wenn sie genügend Geld zusammen hätten,
-plauderte Suse. Auch von Martins Fertigkeit im Schnitzen. -- Einen
-wunderschönen Nähkasten habe er neulich ihrer Mutter geschnitzt, und
-jetzt gedenke er ein Kreuz für die Kirche anzufertigen, erzählte sie.
-
-Mit stillem Stolz hörte Philipp ihren Lobpreisungen zu.
-
-Theobald aber spielte derweil Erzieher bei Hans und rief, ihn am Arm
-schüttelnd: „Ich hab’ gemeint, ihr seid schon daheim hier und wißt,
-wie ihr euch zu benehmen habt. Aber läßt man euch mal aus den Augen,
-wupp, da habt ihr auch schon ein Kamel am Bein und sollt noch außerdem
-fünftausend Mark dafür auf den Tisch des Hauses legen! Wie auf die
-Wickelkinder muß man auf euch aufpassen! Gräßlich! Man läßt sich doch
-nicht so einfach von jedem Lügenbold sagen, daß man was getan hat, wenn
-es nicht wahr ist. Wozu hat man denn seine männliche Faust? Doch nicht
-dazu, daß man sie in die Tasche steckt, sondern daß man damit um sich
-boxt. Verstanden?“
-
-„Ja!“ sagte Hans kleinlaut.
-
-Vor dem Haus der Frau Cimhuber bat Suse ihren Landsmann eindringlich,
-doch ein wenig mit hinauf zu gehen und Frau Cimhubers Wohnung
-anzusehen, damit er allen Freunden und Bekannten daheim erzählen könne,
-wie fein sie wohnten. -- Sie hätten nämlich auch eine Negerstube.
-
-Doch Philipp drückte den Hut tiefer in die Stirn und meinte verlegen,
-der Pfarrfrau sei es sicher nicht angenehm, wenn ihr ein fremder Mann
-die Stuben voll Schmutz trage. -- Drum wolle er sich mit ihnen lieber
-an einem dritten Ort noch einmal treffen. -- Einen Tag bliebe er
-voraussichtlich noch hier. So verabredeten die drei aus Schwarzenbrunn
-denn eine Zusammenkunft für den andern Morgen bei der roten Brücke, wo
-Philipps Kahn lag, nicht weit von Frau Cimhubers Wohnung.
-
-Nachdem diese Verabredung getroffen war, verabschiedete sich die
-Gesellschaft voneinander.
-
-Und nun wurde es den Geschwistern mit einemmal wieder recht beklommen
-zu Sinn.
-
-Jetzt hieß es ja, Frau Cimhuber beichten, was sich zugetragen hatte.
-
-Zurzeit saß die Pfarrfrau gerade strickend in der Negerstube und sagte
-so recht voll Behagen zu Ursel: „Nun müssen die Kinder bald kommen.
-Ich freu’ mich schon. Es ist so schön, wenn ihre Augen blitzen und sie
-erzählen. -- Die Jugendzeit kehrt mir wieder ins Gedächtnis zurück.
--- Sie haben solch eine lebendige Auffassungsgabe für alles und ein
-wirkliches Erzählertalent. Nicht wahr?“
-
--- Da klingelte es schüchtern.
-
-Die alte Magd ging zur Tür, öffnete, sah zwei kreideweiße Nasen,
-stutzte und schob die beiden Pechvögel stracks vor das Antlitz ihrer
-Herrin. „Ich will gar nichts hören, ich seh’ schon genug,“ sagte sie.
-
-Frau Cimhuber nahm langsam ihre Brille ab und schaute die Kinder
-erwartungsvoll an. -- Da standen sie nun. --
-
-Und Suse begann zu erzählen, und je mehr sie erzählte, um so
-jämmerlicher wurde ihr Ton, und um so größer wurden ihrer Pflegmutter
-Augen; schwer sanken ihre Hände in den Schoß, und zuletzt stieß Suse
-schluchzend hervor: „Und der Herr Direktor hat gesagt, Hans bekommt das
-Kamel. Es kostet fünftausend Mark. Es kommt hierher. Morgen vielleicht
-schon. Wir dürfen’s behalten.“
-
-„Was sagst du da? Ich versteh’ nicht recht!“ sagte Frau Cimhuber und
-ließ vor Schreck ihr Strickzeug samt dem Garnknäuel auf die Erde fallen.
-
-Da wiederholte Suse jämmerlicher als vorher: „Und da hat der
-‚Granadasohn‘ Jose ein Kamel mit Sand geworfen, Frau Pfarrer, und hat
-gesagt, Hans hat’s getan, und da hat der Direktor gesagt: Hans soll
-fünftausend Mark bezahlen und das Kamel gehört dann uns. Ganz bestimmt,
-das hat er gesagt, Frau Pfarrer. Das Kamel ist dann unser!“
-
-„Das ist zuviel,“ sagte Frau Cimhuber.
-
-Suse aber sah unentwegt nach Ursel hin, die wie verwandelt war. Sie saß
-da, die Schürze vors Gesicht gedrückt und weinte. „Ein Kamel, Frau
-Pfarrer,“ rief sie. „Lieber Gott in deinem gerechten, großen Himmel,
-ein Kamel! Wer denkt denn so was! Alles andere hätt’ ich mir eher
-träumen lassen, nur kein Kamel! Wenn das so fortgeht, weiß ich nicht,
-was noch wird. -- Anständige Leute haben überhaupt kein Kamel!“
-
-„Vielleicht hat der Herr Edwin in Afrika eins,“ warf Suse kaum hörbar
-ein und hoffte durch diesen gescheiten Einfall Ursel umzustimmen.
-
-Aber nichts dergleichen traf ein.
-
-Vielmehr jammerte sie ärger als bislang weiter: „Frau Cimhuber, haben
-Sie jemals daran gedacht, daß wir noch einmal in unserem Leben ein
-Kamel bekommen werden? Ich nicht. Nur Bärenführer ziehen damit herum.“
-
-„Aber Ursel, beruhigen Sie sich doch!“ rief Frau Cimhuber. „Das Kamel
-ist ja überhaupt noch nicht da. Wir wissen ja noch gar nicht, ob es
-kommt.“
-
-„Es kommt, haben Sie keine Angst, es kommt!“ rief Ursel. „Das sag’ ich
-Ihnen aber, ich verreise, wenn es kommt. Ich will nicht sehen, wie die
-Leute die Fenster und Türen aufreißen und lachen, wenn sie’s da unten
-vor unserer Haustür stehen sehen und warten.“
-
-Hansens Verstörtheit nahm angesichts dieser Verzweiflung zu. Und es
-war ihm zu Sinn, als habe sich das gräßliche Tier bereits zur Tür
-hereingedrängelt und wolle nicht mehr weichen.
-
-Mit Suse schlich er hinaus.
-
-„Du brauchst keine Angst zu haben,“ sagte die Schwester, den Arm um
-ihren Bruder schlingend. „Du hast das Kamel nicht geworfen, und deshalb
-darf dir auch keiner was tun.“
-
-„Wenn sie’s aber doch glauben, daß ich es gewesen bin.“
-
-„Aber sag’ mal, Hans,“ meinte hier Suse vorwurfsvoll. „Weshalb hast du
-denn nicht gleich gesagt, daß du’s nicht gewesen bist?“
-
-„Ich hab’ mich so geschämt,“ sagte er leise, „wie sie so gelogen haben.
--- Ich habe kein Wort sagen können vor Schreck, Suse. -- Die lügen ja,
-Suse! Die lügen!“
-
-„Aber Hans, wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen,“ mahnte die
-Schwester. „Das hat auch Theobald gesagt. Wenn wir recht haben, dürfen
-wir auch sagen, daß wir recht haben.
-
-Du hättest überhaupt nicht bei dem gräßlichen Jose stehen bleiben und
-zugucken dürfen, daß er geworfen hat. Du hättest weitergehen sollen.“
-
-„Ich bin gar nicht stehen geblieben. Sieh, Suse, ich bin gerade dazu
-gekommen, wie er das Kamel geworfen hat. Und wie es vor Schreck mit den
-Augen gezwinkert hat, hat er gelacht. Da hab’ ich ihm gesagt: Laß das
-sein, das tut ihm weh!
-
-Da sind alle miteinander wütend geworden, am wütendsten die schwarzen
-Frauen, und haben gesagt: Geh fort, du hast uns hier nichts zu sagen.
-Du und Suse, ihr seid beide schmutzig und arm.“
-
-„Was?“ rief Suse blitzenden Auges und kirschrot vor Zorn. „Das haben
-sie gesagt? Oh, wie häßlich!
-
-Das sind die gräßlichsten Menschen auf der ganzen Welt. Und wir sind
-viel sauberer als sie. Und wir baden uns jeden Tag. Und das schreib’
-ich jetzt alles dem Vater und der Mutter hin, und der Vater soll ihnen
-die Wahrheit sagen. Und sie sollen so Angst bekommen, so Angst, daß sie
-sich gar nicht mehr aus ihrem Garten ’raus trauen.“ Und die Rede der
-Fremdlinge wurmte Suse so, daß sie heute abend an nichts anderes mehr
-denken konnte, sondern mit dem Gedanken daran ihr Lager aufsuchte.
-
-Hans drehte und wendete sich des Nachts unter Stöhnen hin und her. Suse
-merkte nichts davon.
-
-Am andern Morgen ganz früh waren die beiden schon wach und rüsteten
-sich für ihren Gang zu Philipp. Frau Cimhuber und Ursel waren mit
-dem Vorhaben der Kinder einverstanden, denn alle Schritte, die Hans
-in seinem Abenteuer mit dem Kamel von Vorteil sein konnten, sollten
-gefördert werden.
-
-Besonders Ursel drängte zum Aufbruch.
-
-„Die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, gerad’ zusammengeschlagen
-bin ich,“ jammerte sie. „Kein Auge hab’ ich zutun können. Leibhaftig
-hab’ ich das Kamel vor mir gesehen.“
-
-Die Kinder waren derartig mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, daß
-sie Ursels Klagen kaum verstanden! Schnell packten sie ein schönes
-Notizbuch sowie einen Bleistift für Martin zusammen und traten schon
-um halb sieben Uhr vor die Haustür. Quer liefen sie über die Straße
-hinüber zum Ufer des Kanals, um an ihm entlang den Weg auf die rote
-Brücke zu nehmen.
-
-Suse war so ausgelassen und froh heute, wie sonst nur auf ihren
-Schulwegen daheim. Sie warf den Kopf in den Nacken und rief dem
-strahlenden Himmelsgestirn über sich voll Übermut zu: „Brenn’ mich ins
-Gesicht, liebe Sonne, brenn’ mich, es macht mir nichts. Heute macht’s
-mir nichts. --
-
-Gedörrte Zwetschgen und Apfelschnitzen will Philipp uns schenken,“
-fuhr sie dann eifrig zu ihrem Bruder fort. „Er hat’s mir gestern
-versprochen. Er hat noch welche von zu Hause. Gestern hat er gesagt, er
-will uns heute welche geben.“
-
-„Oh, wie freu’ ich mich,“ rief Hans, „die mag ich ja so gern.“
-
-Die beiden eilten schneller als bislang vorwärts. Nur zehn Minuten
-hatten sie noch bis zum Ziel ihrer Wanderung. Je näher sie ihm kamen,
-desto aufgeregter wurden sie. Zuletzt sprachen sie kaum noch ein Wort.
-Ihre Blicke richteten sich gespannt geradeaus. Jetzt tauchte das
-Gemäuer der roten Brücke auf und die eisernen Lichterträger an ihren
-Enden. Jeden Augenblick mußte jetzt ihres Freundes Philipp hohe Gestalt
-dort zu sehen sein. Sicher wartete auch er schon voll Ungeduld auf
-seine Landsleute. Nur noch ein paar Schritte, dann standen sie am Ziel.
-Doch enttäuscht sahen sie sich um. -- Kein Philipp war zu sehen, und
-am Ufer lag sein Kahn nicht mehr. Weithin auf und nieder konnten sie
-über das Wasser des Kanals sehen, aber kein Lastkahn schwamm auf seinen
-toten Fluten. Nur der Sonnenschein spielte darauf, und der Strahlen
-Blinken traf zuweilen wie spitze Nadeln die Augen der Kinder.
-
-Keines von den Geschwistern sprach ein Wort. Traurig sah Suse auf
-Martins Geschenk und dachte bei sich, daß Philipp wohl im Morgengrauen,
-als alle noch schliefen, an Frau Cimhubers Haus vorübergefahren sei und
-keinen Gruß in die Heimat mitgenommen habe.
-
-Minutenlang verharrten die beiden so in gedrücktem Schweigen, bis Hans
-schließlich leise sagte: „Er ist fort.“
-
-Suse nickte mit Tränen im Auge. Wieder verfielen die beiden in
-Stillschweigen. Dann zupfte Hans plötzlich seine Schwester am Ärmel
-und zeigte auf ein paar Arbeiter, die am Rande des Kanals standen und
-Steine aufschichteten.
-
-„Wollen wir die nicht fragen, ob sie nicht wissen, wann Philipp fort
-ist?“ meinte er schüchtern.
-
-Suse stimmte ihm zu.
-
-Und er ging langsam von der Kanalbrücke herab auf eine Treppe zu, die
-von dem hochaufgebauten Straßendamm hinunter zum Kanal führte. Suse
-folgte ihrem Bruder herzklopfend und hörte, wie er den Arbeitern, die
-hemdsärmelig und sich laut unterhaltend, am Ufer verweilten, seinen
-Morgengruß bot.
-
-Jene hielten mit Arbeiten inne und hörten dem Anliegen zu, das er
-ihnen vorbrachte. Der eine von den Leuten, ein stämmiger und verwegen
-aussehender Geselle, nickte mehrmals zu Hansens Reden. Und plötzlich
-spie er einen Mund voll ausgekauten Priemtabaks scharf über Hansens
-Kopf weg, mitten in die Steine hinein, worauf er, auf Suse deutend,
-fragte: „Gehört die zu dir?“
-
-Das kleine Mädchen fuhr erschreckt zusammen und nickte mehrmals aus der
-Ferne.
-
-„Dann stimmt’s mit euch,“ meinte der Riese da vor ihnen in
-versöhnlichem Ton. -- „Dann gehört ihr dem Doktor aus Schwarzenbrunn?
-So ist’s doch? Gelt?“
-
-„Ja,“ riefen beide.
-
-„Dann kommt mal her. -- Einer von denen, die heute morgen mit dem Kahn
-fort sind, hat gesagt, es kommt ein Bub und ein Mädchen, die gehören
-dem Doktor aus Schwarzenbrunn. -- Das seid ihr doch, gelt? Denen soll
-ich ein Säckchen voll Apfelschnitzen und Zwetschgen geben.“ -- Damit
-griff er in eine Höhlung zwischen den Steinen und holte einen karierten
-Beutel hervor. Über Susens Gesicht ging ein Leuchten, als sie des
-Säckchens ansichtig wurde. Solche karierten Beutel hatten ja alle Leute
-von daheim. Christine und die Eltern von Susens Freundin und Rosel,
-alle, alle. Darin nahmen sie ihr Vesperbrot mit, wenn sie zur Arbeit
-aufs Feld gingen.
-
-„Da nehmt,“ sagte jetzt der Mann, indem er ihnen das Säckchen
-reichte und abermals einen Strahl Tabaksbrühe pfeilgerade zwischen
-Hans und Suse durchschickte. -- „Ich soll euch von dem Philipp aus
-Schwarzenbrunn sagen,“ fuhr er fort, „daß er eure Grüße daheim
-ausrichtet. Er mußte schon früher fort, als er gemeint hat.“
-
-„Danke, danke vielmals,“ rief Suse, und griff nach dem Beutel, in
-dessen straffgespannter Leinwand die Form der getrockneten Früchte
-deutlich zu erkennen war.
-
-„Und wann ist der Kahn fortgefahren? Wissen Sie es noch?“ fragte sie,
-„bitte, bitte.“
-
-„Oh, so eine Stunde,“ meinte einer von den Männern.
-
-„Dann holen wir ihn noch ein,“ jubelte Suse. „Komm, Hans, komm. Martins
-Geschenk soll er ja auch noch mitnehmen.“
-
-Und nachdem die Kinder die Richtung erfahren hatten, die der Kahn
-eingeschlagen hatte, liefen sie davon. Die rote Brücke lag an den
-Grenzen der Stadt, und so kam es, daß sie das Häusermeer bald hinter
-sich hatten. Nur vereinzelte Villen trafen sie noch auf ihrem Wege.
-Doch auch die blieben binnen kurzem hinter ihnen zurück, und sie waren
-im Freien.
-
-Nachdem sie eine halbe Stunde, mehr laufend als gehend, zurückgelegt
-hatten, blieb Hans plötzlich stehen und erklärte, er sei zu müde, um
-weiter zu rennen. Auch Suse hielt erschöpft im Laufen inne. --
-
-Drei Kähne hätten sie schon angetroffen, meinte Hans, und auf keinem
-wäre Philipp gewesen. -- Wer wisse, ob er vielleicht nicht doch auf
-einem gewesen sei und sie hätten ihn nur nicht erkannt. --
-
-„Wir kennen seinen Kahn ja gar nicht,“ erklärte er. „Und wir können
-doch nicht nach jedem Kahn hinüberrufen, ist der Philipp dort?“
-
-Eine Weile blieb Suse nachdenklich stehen, und dann kam auch ihr
-die Einsicht, daß es Torheit sei, weiter zu laufen. So schlug sie
-denn ihrem Bruder vor, eine kleine Rast am Wege zu nehmen. Er war’s
-zufrieden, und beide setzten sich unter einem Pappelbaum auf der
-grünen Böschung nieder, die zum Kanal hinabführte, und sie fanden es
-sehr schön hier. Niemand störte sie. Tiefe Stille herrschte ringsumher.
-Nur die Blätter der Pappel über ihnen schüttelte leise der Wind, und es
-hörte sich an wie Regenrauschen. Doch nur das helle Sonnengold rieselte
-durch die Zweige zur Erde nieder, wo die Kinder saßen.
-
-Drüben auf der andern Seite des Kanals war eine hohe Parkmauer zu
-sehen. Schwere Buchenzweige hingen darüber. Eine kleine Tür führte aus
-der Mauer zum Wasser hinab. Sicher wohnten dort auch Leute, die ein
-so schönes Haus hatten wie die Granadakinder, durchschoß es Suse. Und
-vielleicht, vielleicht waren auch sie so lieblos und unfreundlich.
-
-Doch sie hatte keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn Hans
-hatte bereits den karierten Beutel geöffnet und ihr den ganzen Inhalt
-in den Schoß geschüttet. -- Apfelschnitze und Birnen lagen kunterbunt
-vor ihren Augen und lachten sie verführerisch an.
-
-„Viel, viel schöner sind sie als die, die uns Ursel kocht,“ meinten
-beide und langten tüchtig zu. Dann teilten sie den Rest in zwei gleiche
-Hälften, eine für Hans, die andere für Suse. -- Gretel und Peter in der
-Schule sollten auch ihr Teil davon bekommen.
-
-Als sich die Kinder nun eine gute Weile ausgeruht hatten, dachten sie
-endlich daran, daß es Zeit sei, in die Stadt zurückzuwandern. Zuvor
-aber faltete Suse schnell noch einmal das Papier auseinander, das
-Martins Geschenke enthielt, betrachtete sie mit seitlicher Kopfhaltung
-zärtlich und sagte leise, indem sie vorsichtig darüber streichelte:
-„Wunderschön.“ --
-
-„Wir bringen es Martin mit, wenn wir nach Hause gehen,“ meinte sie halb
-zu Hans gewandt, halb sich selbst zum Trost.
-
-Der Bruder stand auf und steckte seinen karierten Beutel in den Ranzen.
-Dann setzte sich das Geschwisterpaar in Bewegung der Stadt zu.
-
-In der Schule, wo Hans mit Theobald und seinen Geschwistern
-zusammentraf, wurden die Ereignisse des gestrigen Tages mit größter
-Erbitterung durchgesprochen. Unternehmungslustig und rachelüstern
-glänzten die Augen der Vettern wie die von Banditen. Sie hatten
-sich einen Plan zu Hansens Rettung ausgesonnen. Wie das Licht des
-Tages sollte seine Unschuld glänzen, erklärten sie und forderten den
-Pechvogel deshalb auf, sich um drei Uhr mit Suse am Kriegerdenkmal
-einzustellen. Dort sollte er alles erfahren.
-
-„Die Fremdlinge sollen vor uns zittern wie die Hasen,“ riefen sie, „die
-Kinnbacken sollen ihnen schlottern, die Knie sollen ihnen einknicken,
-das Herz soll ihnen in die Hosen rutschen, alles durch unsere tipp
-toppe Umsicht.“
-
-[Illustration]
-
-Daheim trafen die kühnen Rettungsengel dann emsig Vorbereitungen zu den
-Taten des Nachmittags. In einer Geheimsprache klärten sie zuerst die
-Schwester und Vertraute Toni über ihre Absichten auf, und nach Tisch
-verschwanden sie in wilder Flucht im Garten.
-
-Wieserl, der kleine, kugelrunde Knirps, ihr jüngstes Schwesterchen,
-das Mühe hatte, auf seinen dicken, kurzen Beinen zu stehen, stolperte
-hinterdrein, um auch ihr Teil an der allgemeinen Aufregung zu haben.
-Sie fiel der Länge nach mitten auf dem Kiesweg hin und lag schreiend
-und zappelnd dort. Dann raffte sie sich wieder auf und setzte die
-Verfolgung fort.
-
-Schließlich, als sie einsah, daß all ihr Laufen nichts nützte, kehrte
-sie wieder um.
-
-„Mutter, Vater,“ sprudelte sie hastig heraus, „der Jockel... und der
-Jockel... und in den Korb gesetzt, und Stroh und Heu... und alle fort,
-aus der Gartentür... der Jockel in dem Korb, und der Jockel und alle
-haben sie einen Stock. -- Und ade, Wieserl, haben sie gesagt, und Toni
-hat geweint.“
-
-Der Vater schüttelte seinen Kopf. Er hätte ihn aber noch viel mehr
-geschüttelt, hätte er jetzt schnell mal einen Blick auf seine
-Sprößlinge werfen können.
-
-Beim Kriegerdenkmal standen sie, Hans und Suse in ihrer Mitte, und
-sahen begeistert zu ihrem Führer Theobald auf, der wie ein Held auf
-der zweiten Stufe des Denkmals stand und einen Korb im Arm hielt.
-Er redete: „Geliebte Freunde, ihr wißt, hier drin im Korb sitzt der
-Jockel, unser Eichhörnchen. Der soll uns heute aus Not und Gefahr
-erretten. Ihr wißt, zweimal hat diesen armen Jockel der miserable
-Granadasohn Jose mit Sand geworfen. -- Also hat er auch das Kamel
-geworfen. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. -- Wer
-das Eichhörnchen mit Sand wirft, wirft auch das Kamel, darum schreiten
-wir jetzt zur Rache. Wir lassen uns zuerst bei dem Onkel Gustav in der
-Villa Granada melden. Ihr haltet euch höflich im Hintergrund. Ich rede.
-Erst kommt die Geschichte von dem Kamel daran, darauf die mit unserem
-Jockel. Auf ein Zeichen von mir trittst du, Henner, vor, öffnest den
-Deckel von dem Korb und hebst das kranke Eichhörnchen ihm entgegen.
-
-Das wird ihn an die Wand werfen. Er wird blaß werden bis in die Lippen
-und an die Schuld seiner nichtsnutzigen Söhne glauben.
-
-Dies wäre Fall Nummer eins.
-
-Nun kommt Fall Nummer zwei. Das wäre, wenn der Onkel nicht da wäre.
-Also ist er nicht da, so müssen wir die Granadasöhne in das große
-Billardzimmer bitten, dort haben wir Platz und können uns umdrehen.
-
-Zuerst verlangen wir kurz und bündig, daß Jose seine Schuld bekennt.
-Ganz gemäßigt werde ich sein. Sagt er die Wahrheit nicht, so öffnest
-du, Henner, auf ein Zeichen meiner Hand den Korb. Schweigend gehen
-meine Blicke zwischen dem Eichhörnchen und den Granadasöhnen hin und
-her. Kein Wort fällt. Macht dies alles nun noch keinen Eindruck, so tut
-ihr das Eichhörnchen hübsch in seinen Korb zurück. Und nun beginnt der
-Kampf. Auf ein Zeichen von mir schreiet ihr alle: „Hurra, hurra, Rache,
-Verderben den Lügnern, den Feiglingen!“ Und dann fallen wir über sie
-her und klopfen sie windelweich, bis sie die Wahrheit bekennen. Dann
-ziehen wir uns befriedigt zurück.
-
-Es wird ein harter Kampf werden. Wir sind vier gegen drei. Die zwei von
-ihnen sind aber viel älter als wir und glatt wie die Aale. -- Ich habe
-mir aber schon gestern und heute die japanische Boxermethode angesehen.
--- Feines Buch. -- Kostet zehn Pfennig. -- Ich werde mich bewähren.
-
-Es kann auch sein, daß sich das ganze Haus dazwischen wirft. Aber
-aushalten! Verstanden!“
-
-Die Knaben nickten.
-
-Toni und Suse standen zitternd daneben.
-
-„Theobald,“ flehte die erstere, „laß uns doch auch mitgehen, wie die
-Feiglinge können wir doch unmöglich draußen stehen bleiben.“
-
-„Ausgeschlossen,“ erklärte Theobald streng. „Der Vater will nicht mehr,
-daß ihr die Raufereien mitmacht. Auch die Großmutter hat geweint,
-als sie uns das letztemal besucht hat und gesehen hat, wie dir der
-Henner ein Stück vom Zopf geschnitten hat und damit die Friedenspfeife
-geraucht hat. Und obendrein ist es Onkel Rudolf seine gute, geschnitzte
-Pfeife gewesen, und er sagt, man riecht’s noch jetzt zehn Schritt gegen
-den Wind. Es sei eine Barbarei.“ --
-
-„Hier habt ihr zehn Pfennig,“ setzte er milder hinzu. „Kauft
-Verbandstoffe und wartet hinter dem Gitter der Villa auf den Gang der
-Ereignisse. Kommen wir in wilder Flucht aus der Villa, so rennt ihr mit
-uns was ihr könnet. Verstanden? Nicht umsehen. Nur rennen, rennen --
-rennen. --“
-
-Seufzend nickte Toni und schloß sich mit Suse dem Zug der
-Rachedurstigen an. Alle Knaben, bis auf Hans, trugen einen Stock in der
-Hand; und damit auch er bewaffnet sei, holte ihm Theobald unterwegs aus
-der Wohnung eines seiner Freunde einen derben Eichenknüppel.
-
-Fünfzig Jahre wäre dieser Stock schon in der Familie gewesen und hätte
-bereits dem Urgroßvater gute Dienste getan, hatte der Freund zur
-Empfehlung des Steckens gesagt.
-
-Hans nahm ihn dankend an.
-
-Vor dem Eingangstor der Villa Granada verabschiedeten sich die Knaben
-von den Mädchen. Die bewaffnete Schar drang nun in den Garten ein,
-vorüber an dem kleinen efeubesponnenen Pförtnerhäuschen, dessen
-Bewohner ihnen mit Erstaunen nachsahen.
-
-Hansens Gesichtsfarbe wurde jetzt blässer. Die Augen saßen tief in
-ihren Höhlen. Seine Nase schien spitz geworden. Nur die Lippen hielt
-er fest zusammengepreßt mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck.
-Theobald, der Leiter der Bewaffneten, räusperte sich zuweilen und warf
-seinen Kopf herausfordernd in den Nacken, als stehe er bereits an der
-Anklagestätte. Christoph schritt am kecksten einher. Sein spanisches
-Rohr flitzte zuweilen pfeifend durch die Luft, als wittere es bereits
-die Granadasöhne.
-
-Ein gutes Stück hinterher trottete Henner. Ihm war die hohe Aufgabe
-zuteil geworden, den Korb mit dem Jockel zu tragen. Zärtlich schmiegte
-er sein Ohr an das Geflecht des Korbes und flüsterte mit sanfter
-Stimme: „Jockerl, sei still, gutes Tier, sei still. Unser aller
-Rettungsengel bist du. Unser lieber, guter Jockerl. Denen wollen wir
-mal Mores lehren, gelt? Ich werde dich herausnehmen, wenn’s Zeit ist.“
-
-Und als sei der Knabe bereits bei dem Onkel angelangt und walte seines
-Amtes, so begann er jetzt an dem Verschluß des Korbes zu zerren, zu
-rütteln und zu heben. Der Deckel sperrte sich. --
-
-„Das verflixte Ding,“ grollte er, zerrte heftiger und riß plötzlich den
-ganzen Deckel weit auf. -- Es rührte sich im Korb. Heraus sprang der
-Jockerl und jagte davon.
-
-„Er ist fort,“ schrie da gellend sein Wächter, „er ist fort!“
-
-Die vier Helden vor ihm fuhren wie von der Kugel getroffen herum.
-
-Hans fiel vor Schreck der Eichenknüppel aus der Hand.
-
-Theobald, der in Gedanken gerade zu seinem Onkel gesagt hatte:
-„Angesichts des Eichhörnchens ist Hansens Unschuld erwiesen, so rein,
-so sonnenklar, so hell wie der Tag,“ stürzte laut schreiend auf
-seinen Bruder los. „Unglücklicher, was hast du gemacht!“ rief er. „O
-du jämmerliches Trampeltier, einfältiger Eselskinnbacken! Käsweiser
-Rabenvater! Was jetzt? Was jetzt?“
-
-Der Bruder war leichenblaß, er hatte ein Gefühl, als hätte er einen
-Schlag auf den Kopf bekommen. Seinen Händen entglitt der Korb.
-
-Jockerl jagte derweil auf den nächsten Baum zu, kletterte daran in
-die Höhe und hüpfte bald als ein braunes, kleines Etwas im Gewirr der
-Äste herum. Mit Geschrei verfolgten ihn die Kinder. Auch Toni und Suse
-kamen von draußen herein und schlossen sich der Verfolgung an. Jockerl
-kletterte vom Baum herab, rannte dreimal um das große Blumenbeet und
-verschwand in den Ziersträuchern am Wege. Auf das gräßliche Geschrei
-der Kinder hin kam nun der Gärtner der Villa herbei, und, sie für
-Eindringlinge von der Straße haltend, warf er ihnen seine Schaufel und
-Hände voll Erdklumpen hintendrein. Der Sand prasselte und stob ihnen um
-die Ohren.
-
-Sie kümmerten sich nicht darum. Sie schlugen mit den Knüppeln an die
-Bäume und schrien: „Jockerl, Jockerl, komm herunter! Jockerl, Jockerl!“
-
-Der Jockerl aber schwang sich immer weiter fort. Noch einmal jagte
-er um die schönsten Blumenbeete herum und in die Ziersträucher
-hinein. Dann verließ er den Garten auf Nimmerwiedersehen. Im Park der
-gegenüberliegenden Villa verschwand er.
-
-Voll dumpfen Grolls auf ihren Bruder Henner traten sie darauf den
-Heimweg an.
-
-In dem Haus der Frau Cimhuber aber wuchs die Angst vor dem Kamel von
-Stunde zu Stunde. Vor allen Dingen Ursel zweifelte nicht mehr daran,
-daß es komme. Erschallte unten auf der Straße Lärm, oder ließen sich
-aufgeregte Stimmen vernehmen, so beugte sie sich ängstlich über die
-Fensterbrüstung und spähte in die Tiefe.
-
-„Es kommt, es kommt,“ rief sie an einem Morgen so laut, daß auch
-Frau Cimhuber herzklopfend herbeieilte und sich weit über die
-Fensterbrüstung beugte. Ihre Brille fiel dabei in die Tiefe.
-
-Die ganze Aufregung war einem Reklamewagen zu verdanken, der mit bunten
-Tierbildern bemalt, am Kanal entlang fuhr.
-
-„Ich sehe Gespenster am hellen Tag,“ erklärte Ursel seufzend, „das
-endet nicht gut.“
-
-An demselben Morgen, an dem sich dieser Zwischenfall ereignete,
-erschien ein Beamter des Zoologischen Gartens, um nach der Adresse von
-Hansens Vater zu fragen. --
-
-Die Würfel waren gefallen. --
-
-Keiner zweifelte mehr daran.
-
-Hans war wie verstört. Er sah Kamele an allen Ecken und Enden. Sie
-schauten über seine Schulter, wenn er Diktate schrieb, sie gingen
-vor dem Pult auf und nieder, wo der Lehrer saß; sie warteten an
-der Haustreppe, wenn er aus der Schule kam. Fünf schreckliche Tage
-vergingen.
-
-Da -- am sechsten, als Hans und Suse aus der Schule heimkehrten und
-zur Tür hereintraten, flüsterte ihnen Ursel zu: „Er ist da in der
-Negerstube.“ --
-
-„Wer?“ fragten die Kinder erschreckt, „der Direktor? Der Wärter?“
-
-Da erschien Frau Cimhuber und forderte sie auf, in die Negerstube zu
-treten und ihren dort wartenden Onkel Gustav zu begrüßen.
-
-Schnell brachten sie ihr Haar und ihre Kleider ein wenig in Ordnung und
-schritten dann erwartungsvoll dem hohen Besucher entgegen.
-
-„Schau den Onkel fest an, Hans, und guck nicht auf die Erde,“ ermahnte
-Suse den Bruder, „sonst denkt er, du hast das Kamel geworfen. -- Sieh
-so, Hans,“ und Suse trat mit kühner Miene in die Negerstube und erhob
-ihre Stupsnase so keck, als wollte sie den Onkel damit aufspießen.
-
-Hans versuchte es seiner Schwester gleich zu tun. Aber das war gar
-nicht nötig; denn der Besucher hatte eine so herzlich gewinnende Art
-und sah einen mit seinen hellen Augen so gütig an, daß man gleich
-Zutrauen zu ihm haben mußte. Freundlich forderte er die beiden Kinder
-auf, sich auf einen Stuhl neben ihn zu setzen und begann dann allerlei
-mit ihnen zu reden, das sie interessieren konnte. -- Von ihrer Heimat
-sprach er, von ihren Eltern, von den Bergen. Man konnte meinen, er sei
-schon einmal auf Besuch dort gewesen. Am liebsten hätte Suse ihm gleich
-allerlei von Rosel, Christine, Minnette und dem Käterle von Michel und
-Genoveva anvertraut.
-
-Doch der Onkel leitete das Gespräch geschickt auf den Besuch über, den
-die Kinder vor einigen Tagen in seinem Hause gemacht hatten. Dann mußte
-Hans erzählen, wie es ihm im Zoologischen Garten gefallen habe, welches
-Tier für seinen Geschmack das schönste sei. Und so allmählich kamen die
-drei auch auf das Abenteuer mit dem Kamel zu sprechen.
-
-Durch Suses lebhafte Zeichensprache ermuntert, erzählte Hans frei und
-offen alles, was sich gestern zugetragen hatte.
-
-„Hast du nicht vielleicht auch Lust gehabt, ein ganz klein wenig mit
-Sand zu werfen, wie du sahst, daß die andern es taten?“ forschte sein
-Onkel.
-
-Hans sagte ganz erschreckt: „Das tut man doch nicht, das tut den Tieren
-ja weh.“
-
-Da trat ein bekümmerter Zug in das Gesicht seines Onkels und wich
-nur ganz langsam wieder. Dann leitete der Besucher das Gespräch auf
-harmlosere Dinge über und fragte schließlich die beiden, ob sie nicht
-Lust hätten, ihn und seine Kinder bald einmal wieder zu besuchen. Er
-werde ihnen dann Geschichten erzählen, und seine Sammlung von wilden
-Tieren zeigen.
-
-Da wurden Bruder und Schwester sehr verlegen, bekamen rote Köpfe und
-drucksten an einer Antwort herum. Endlich stotterte Hans: „Ihre Kinder
-und die schwarzen Frauen haben gesagt, wir sind schmutzig und arm, und
-jetzt dürfen wir niemals mehr zu ihnen auf Besuch kommen. Unsere Eltern
-wollen’s nicht.“
-
-Und Suse setzte verlegen hinzu: „Unsere Mutter hat noch geschrieben,
-sie möchte nicht, daß wir immerzu daran denken, daß wir auch so
-wunderschöne Dinge haben möchten wie Sie, einen so schönen Pfau und
-solch einen schönen Garten und solche ausgestopften Tiere und Schlangen
-in Spiritus. Dann würde sie sich für uns schämen. Wir sollen nicht
-neidisch sein. Wenn wir älter sind, dürfen wir sie einmal wieder
-besuchen, jetzt nicht.“
-
-Wieder kam der bekümmerte Ausdruck in das Gesicht des Onkels. Er sah
-nach seiner Uhr und sagte: „Es ist Zeit, daß ich gehe. Ich habe mich
-schon etwas verspätet. -- Dann also, adieu. -- Das mit dem Kamel wird
-sich machen. -- Wo ist Frau Cimhuber?“ fragte er Suse.
-
-Darauf holte das kleine Mädchen die Pfarrfrau, und als er sich
-freundlich von ihr und den Kindern verabschiedet hatte, ging er die
-Treppe hinunter...
-
-Zwei Stunden mochten seit seinem Weggang verstrichen sein, da klingelte
-es, und als Ursel die Tür aufmachte, befand sie sich dem Briefträger
-gegenüber, der einen großen Brief in der Hand hielt. „Von der Direktion
-des Zoologischen Gartens,“ murmelte sie erschreckt. -- „Also doch, es
-kommt!“
-
-Und mit diesen Worten trug sie den Brief zu ihrer Herrin in die
-Negerstube.
-
-„Lesen Sie, lesen Sie,“ sagte sie bestürzt, „ich will nicht hören, was
-in dem Unglücksbrief steht. -- Ich bin wie geschlagen. Ich fühle es in
-allen Gliedern, es kommt.“
-
-So sprechend hielt sie sich die Ohren zu und lief in die Küche, um hier
-die Tür fest hinter sich abzuschließen.
-
-Hans und Suse, die auf Ursels aufgeregten Ruf von vorhin in die
-Negerstube geeilt waren, standen mit großen Augen neben Frau Cimhuber
-und fühlten ihr Herz klopfen. Ihre Pflegemutter setzte die Brille auf,
-öffnete den Brief mit einem Falzbein und begann langsam zu lesen. Mit
-einemmal seufzte sie tief, tief aus Herzensgrund.
-
-Gleich darauf hörte Ursel in der Küche einen lauten Schrei der Kinder
-und schrie aus Entsetzen mit. -- Jetzt mußte die Nachricht verlesen
-worden sein.
-
-Aber was war das? Das waren ja Jubelrufe!
-
-„Das Kamel ist gesund, das gräßliche Kamel ist gesund,“ tönte es
-draußen, und als Ursel durch eine Türritze spähte, sah sie Hans und
-Suse wie die verzückten Derwische im Gang auf- und niederwirbeln, laut
-jubelnd: „Es ist gesund, das schauderhafte Kamel ist gesund.“
-
-Hans schlug einen Purzelbaum mitten im Gang.
-
-Da liefen Ursel die Tränen über die Backen und sie rief, die Küchentür
-weit öffnend: „Lacht und singt, Kinder, lacht und singt! Heute soll’s
-nicht darauf ankommen! Fünftausend Mark! Eure Eltern wären bankerott
-gewesen. -- Und was für eine Schande für uns, wenn es hier angekommen
-wäre. Lacht und singt!“
-
-Und als etwas später Gretel und Peter kamen, um wie gewöhnlich in den
-letzten Tagen des Nachmittags nach einer Nachricht von dem Kamel zu
-fragen, kochte sie den Gästen Schokolade und setzte ihnen kleine Kuchen
-vor. Alles aus reiner, seliger Freude über das genesene Kamel.
-
-Als Hans am andern Morgen seinen Vettern in der Schule die frohe
-Nachricht von dem glücklichen Wechsel der Dinge überbringen wollte,
-ließen sie ihn erst gar nicht zu Worte kommen, so brannte sie eine
-eigene, wichtige Nachricht auf der Zunge. --
-
-„Die Täter sind entlarvt,“ rief Theobald seinem Vetter von weitem zu.
-
-„Unser Vater war gestern bei den Fremdlingen. Fein hat er’s
-gedeichselt. Und sie haben alles gestanden, diese miserablen
-Granadasöhne, und die schwarzen Ungeheuer auch...“
-
-An demselben Tag traf der Doktorssohn zufällig auf seinem Heimweg
-mit seiner Schwester Suse zusammen, und die beiden gingen die letzte
-Strecke Weges miteinander. Hans lachte und summte fortwährend vor sich
-hin und sprang alle paar Schritte eine Elle hoch vor Freude.
-
-„Nicht wahr, wie schön, daß wir nicht mehr an das Kamel zu denken
-brauchen?“ fragte er.
-
-Seine Schwester nickte beifällig.
-
-Aber trotzdem blieb sie nachdenklich, und mit einemmal seufzte sie tief
-vor sich hin.
-
-„Was hast du?“ fragte der Bruder besorgt.
-
-Eine Weile blieb sie die Antwort schuldig, dann stotterte sie etwas
-verlegen: „Weißt du, Hans, wenn wir recht viel Geld hätten, wäre es
-doch wunderschön, wenn wir ein Kamel für uns ganz alleine hätten. Denke
-dir wie herrlich wäre es, wenn es jetzt bei Frau Cimhuber auf uns
-wartete. Ich möchte wohl eins haben.“
-
-Doch Hans entgegnete: „Nein, weißt du, Suse, früher hab’ ich Kamele
-sehr gern gehabt, aber jetzt wird’s mir ganz schlecht, wenn ich nur
-an eines denke. Noch nicht einmal in Bilderbüchern mag ich sie mehr
-besehen.“
-
-Doch Hans änderte seine Meinung mit der Zeit, als Onkel Fritz ihn und
-Suse des öfteren mit in den Zoologischen Garten nahm, und er das Tier
-in seiner ganzen Harmlosigkeit betrachten konnte. Nur in die Villa
-Granada ging keines von den Kindern mehr. Auch Onkel Sepp hatte nach
-dem Vorfall mit dem Kamel seinen Kindern verboten, ihren Besuch dort
-zu wiederholen. -- Wie an fremder Erde gingen sie nun an der Villa der
-Fremdlinge vorüber. Zuweilen sahen Hans und Suse wohl den Pfau mit
-seinem prunkenden Gefieder durch die Gitterstäbe leuchten und blieben
-ein Weilchen stehen, um ihn zu betrachten. Aber zu ihm hinein verlangte
-es sie nicht mehr. Und so erfuhren sie auch nie, wie sehr sich Onkel
-Gustav grämte darüber, daß seine Kinder von allen gemieden wurden.
-
-
-
-
-Viertes Kapitel
-
-Der Missionar
-
-
-Zwei Jahre waren vergangen, seit Hans und Suse bei Frau Cimhuber,
-der Pfarrfrau, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, und manch
-inhaltsreicher Brief war in dieser Zeit aus der Stadt nach dem
-Heimatsort der beiden gewandert. Die Eltern und Freunde der Kinder
-waren die glücklichen Empfänger dieser abwechslungsvollen Schreiben
-gewesen.
-
-Da erhielt nun eines Tages Christine, ihre alte Kinderfrau, einen ganz
-besonders langen Brief Susens. Es traf sich, daß bei seiner Ankunft
-gerade Rosel, die Magd der Doktorsleute, zugegen war und die las ihn
-vor.
-
-„Jesus, Maria und Joseph,“ schrie sie mit einemmal und sprang mitten
-in die Stube. „Hört, Tante, was Suse schreibt: Der Herr Edwin kommt zu
-Frau Cimhuber auf Besuch; er hat schon eine Leiche vorausgeschickt. Die
-Leiche ist schon viele tausend Jahre tot. Schon viele Jahre vor Christi
-Geburt. Sie steht im Gang bei Frau Cimhuber. Sie ist etwas größer als
-Hans.“
-
-Das war zuviel für Rosel. Sie schleuderte den Brief weit von sich.
-
-„Scht,“ mahnte Christine, „heb den Brief auf. Das geht nicht mit
-rechten Dingen zu. Das ist nicht geheuer, was Suse schreibt. Wir müssen
-zur Frau Doktor gehn und ihr den Brief zeigen. Sie weiß Rat.“
-
-Der Brief, der Rosel und Christine in solche Verwirrung versetzte,
-war von Suse am vergangenen Sonntag in größter Aufregung geschrieben
-worden; denn vor dem Kirchgang hatte Frau Cimhuber plötzlich zu Hans
-und ihr gesagt: „Mein Sohn Edwin aus Afrika kommt nach Hause.“ Die
-Kinder waren zusammengefahren, und Susens Herz hatte laut geklopft.
-
-Herr Edwin kam! Ihr Held, ihr Vorbild! Alles was groß, schön, herrlich,
-erhaben war, verkörperte sich für sie in seiner Person; denn in den
-zwei Jahren, die sie bei Frau Cimhuber verbracht, hatte sie soviel
-Außergewöhnliches von ihm und seinen Taten gehört, daß er ihr wie ein
-Welt- und Meerwunder vorkam.
-
-Herrn Cimhubers Gepäck traf einige Tage vor ihm ein: eine Kiste und
-ein umfangreiches, in Sackleinwand eingenähtes, längliches Bündel.
-Er selbst verzog noch eine Woche in seinem Missionshaus in einer
-entfernten Stadt.
-
-Die Doktorskinder gingen von nun ab nur noch flüsternd durch den Gang,
-die Augen in stiller Ehrfurcht auf des Missionars Gepäck gerichtet. Ein
-Duft von fremden Ländern haftete ihm an.
-
-Sie berieten hin und her, was es wohl enthielte. Suse meinte, die große
-Kiste sei voll schrecklicher Götzen, Schwerter, Spieße und dergleichen
-fremdländischer Gegenstände mehr.
-
-Aber was mochte der große Ballen enthalten? Leise strichen die Kinder
-darüber. Auch Theobald und seine Geschwister wurden eingeweiht
-und tauschten Betrachtungen über den möglichen Inhalt des seltsam
-geformten, in Wachstuch genähten Bündels aus.
-
-„Hört,“ meinte Toni mit einemmal, „ich glaub ich hab’s. Herr Edwin
-interessiert sich für Altertümer. Es könnte eine Mumie sein.“
-
-„Eine Mumie.... was ist das?“ riefen Hans und Suse.
-
-„Nun, ein einbalsamierter Mensch,“ entgegnete Toni. „Oder besser
-gesagt, ein durch Spezereien für alle Zeiten unvergänglich gemachter,
-menschlicher Leichnam.“
-
-„Welch ein Blödsinn,“ seufzte Theobald.
-
-„Durchaus nicht, mein lieber Bruder, vielleicht ist die von Herrn
-Edwin herbeigeschaffte Mumie sogar eine ägyptische... ein Pharao, ein
-ägyptischer König.“
-
-„Ja,“ rief Suse, „ein Pharao.“
-
-Sie war Feuer und Flamme für die Erklärung. Das Bündel, das bei Frau
-Cimhuber im Gang stand, konnte nur eine Mumie sein... ein ägyptischer
-König, vielleicht jener, der die Kinder Israel aus Ägypten getrieben
-hatte. Wie geheimnisvoll!
-
-Auf Zehenspitzen schlich sie von nun an daran vorüber. Alle ihre
-Freunde und Bekannten wurden von dem interessanten Paket unterrichtet,
-und so geschah es, daß jener oben erwähnte Brief an Christine
-geschrieben wurde.
-
-Hans redete weniger von der Mumie als seine Schwester, brannte aber in
-demselben Maße wie sie darauf, jene von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
-
-Frau Cimhuber mochte er nicht behelligen. So fragte er denn eines
-Tages die alte Magd: „Was will denn der Herr Missionar mit der Mumie
-anfangen, Ursel?“ Die Magd sperrte den Mund auf. „Was schnatterst du
-da?“ rief sie endlich. „Was für ein Kauderwelsch? Willst du mich utzen,
-raucht’s dir im Kamin?“
-
-„Nein... nein, Ursel, durchaus nicht... die Mumie mein ich... da
-draußen auf dem Gang. -- Er... er... der Pharao, der König von Ägypten.
-Kommen Sie, schauen Sie doch her... hier.“
-
-Er lockte die Magd hinaus.
-
-„Saperlott,“ schrie Ursel, als sie nichts sah wie das Bündel. „Willst
-du mich zum Besten haben? Soweit ist’s denn doch noch nicht mit uns
-gekommen. Ich will sehen, wer Meister ist, du oder ich...“
-
-Hans stürzte Hals über Kopf die Vorplatztür hinaus und in fünf Sätzen
-die Treppe hinab.
-
-Am andern Tag hatte er sich aber bereits wieder soweit gefaßt, daß er
-von neuem beginnen konnte: „Ursel, sollen denn die Sachen noch lang im
-Gang stehen, die Kiste und das andere Paket?“
-
-„Warum frägst du?“ entgegnete die Magd. „Sind sie dir im Weg?“
-
-„Nein, nein, durchaus nicht, im Gegenteil. Ich freue mich, daß die
-Sachen da sind. Ich interessiere mich dafür, auch Suse. Wir möchten die
-Gegenstände mal von inwendig besehen.“
-
-„Was?“ rief Ursel erzürnt. -- „Die ‚Gegenstände‘ -- -- --. Die
-‚Gegenstände‘ wollt ihr durchschmusen? Was habt ihr in meinen Sachen
-verloren? Überall müßt ihr eure Nase drin haben.“
-
-„Das sind Ihre Sachen?“ stotterte Hans und machte überlebensgroße
-Augen, „den König von Ägypten schenkt er Ihnen -- Ihnen -- Ihnen -- na,
-da können Sie sich aber freuen.“
-
-„Freuen soll ich mich?“ rief Ursel und rückte ihm auf den Leib. „Sag’s
-noch einmal, und du wirst es büßen.“
-
-Hans flüchtete. Verwirrt keuchte er: „Da können Sie sich aber freuen.
-Das hätt’ ich nicht im Schlaf gedacht -- Ihnen -- Ihnen schenkt er den
-Pharao.“
-
-Hinterdrein kam Ursel. „Ich will euch lehren, mir Mordgeschichten vom
-Pharao zu erzählen,“ schalt sie. „Wartet, euch sticht der Hafer. Nichts
-hört man mehr von dir und Suse als vom Pharao. Euch ist eine Schraube
-los. Gleich will ich dir einen Pharao mit dem Kochlöffel geben.“ --
-
-„Kriegen wir bald zu sehen, was in den Paketen ist?“ fragte Suse einige
-Tage darauf schüchtern Ursel, als Hans sie auf Kundschaft ausgeschickt
-hatte.
-
-„Niemals,“ entgegnete Ursel, „zur Strafe für eure Neugier.“
-
-Theobald, der sich ebenfalls für die Mumie interessierte, erklärte
-eines Tages, er werde, um allen Streitigkeiten ein für allemal ein Ende
-zu machen, hingehen und die Mumie rauben.
-
-„Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni mit erschrecktem Gesicht. „Du
-weißt doch, Frau Cimhuber verachtet dich. Wie kannst du es wagen, ihr
-Haus zu betreten?“
-
-„Abwarten,“ entgegnete Theobald, „die Sache will überlegt sein.“
-
-Inzwischen kam der Tag immer näher heran, an dem der Missionar erwartet
-wurde. Immer aufgeregter wurde Frau Cimhuber, und eines Morgens da
-konnte sie sich endlich, endlich sagen: „Heute kommt mein Sohn.“ Hoch
-schlug ihr Herz, und immer wieder suchte sie das Zimmer auf, das zu
-seinem Empfang bereitet war. -- Es war Susens Zimmer, das der Missionar
-in seiner Kindheit bewohnt hatte und das er jetzt wieder beziehen
-sollte. Drum war das kleine Mädchen in ein Gemach neben der Negerstube
-verbannt worden.
-
-Ein Waldstrauß, den die Kinder am Sonntag mit Ursel geholt hatten,
-schmückte Herrn Edwins zukünftiges Reich. Die Mullgardinen am Fenster
-leuchteten blütenweiß, und in der Ecke stand ein kleiner Schrank,
-der angefüllt war mit den Spielsachen aus des Missionars Kinderzeit.
-An Frau Cimhubers Seite durften sich die Doktorskinder das festlich
-geschmückte Zimmer betrachten. Ihre leuchtenden Augen flogen bewundernd
-durch den Raum, und Suse sagte leise vor sich hin: „Wie an einem
-Weihnachtsfest so schön ist’s hier.“
-
-Die Pfarrfrau küßte sie und sagte leise: „Mein liebes, liebes Kind.“
-
-Geschmeichelt fuhr das kleine Mädchen fort: „Ach, wenn wir doch so
-artig wären, wie Ihr Sohn gewesen ist, nicht wahr, Frau Pfarrer? Dann
-hätten Sie mehr Freude als jetzt. Dann würden Sie sich niemals über uns
-ärgern.“
-
-Die alte Dame strich Suse liebkosend über den blonden Scheitel.
-
-Hier runzelte Hans die Brauen und sagte seiner Schwester etwas
-später erzürnt: „Du wolltest dich natürlich bei ihr anschmusen, alte
-Schmeichelkatze; ich merkte es wohl. Schäme dich. Gepiepst hast du, als
-könntest du keine drei zählen.“
-
-Jetzt aber fragte Suse Frau Cimhuber weiter: „Er bleibt doch lange da,
-der Herr Edwin, nicht wahr, Frau Pfarrer?“
-
-„Ich weiß es nicht, Kind,“ erwiderte jene. „Mein Edwin ist krank. Aber
-wir pflegen ihn wieder gesund, nicht wahr? Jeden Tag muß er spazieren
-gehen. Bald bekommt er wieder rote Backen und wird frisch und blühend.
-Alle seine Leibgerichte bekommt er.“
-
-„Ißt er auch Kalbshaxen und Knödel gern?“ fiel Hans schüchtern ein.
-
-Hier war es nun an Suse, die Brauen zu runzeln und hernach ungehalten
-zu ihm zu sagen: „Sie hat natürlich gemerkt, daß nur du die Kalbshaxen
-wolltest. Du brauchtest sie doch an einem solch schönen Tag durch deine
-Gefräßigkeit nicht zu kränken. Toni hat auch gesagt: ‚Das ist ein
-Markstein in Frau Cimhubers Leben.‘“ --
-
-Inwiefern man an einem Markstein in seinem Leben nicht an Kalbshaxen
-mit Knödeln erinnert werden dürfe, war Hans schleierhaft, und er sah
-Suse deshalb wie versteinert an, um hernach zu erklären: „Aber so
-was Dummes, aber so was Dummes, Suse! Seit der Herr Missionar kommt,
-meint man grad, du bist närrisch. Wie verdreht bist du. Immer piepst
-du so und gehst wie auf Eiern und tust so fein, grad als wärst du
-die Kaiserin. Ich kann es bald nicht mehr mit ansehen. Theobald hat
-auch gesagt, wenn du so fortmachst, wirst du eine auf Draht gefädelte
-Zierpuppe.“
-
-Um vier Uhr wurde der Missionar erwartet. Kurz nach eins lagen auf der
-Pfarrfrau Bett schon der schwarze Hut, ihr Schleier und die Handschuhe
-bereit, die sie anziehen wollte, um ihrem Sohn zum Bahnhof entgegen zu
-gehen. Je weiter die Stunde vorschritt, je unruhiger wurde sie. Ursel
-fürchtete schon, sie würde krank werden.
-
-Auch die Doktorskinder waren in großer Aufregung. Nach Schulschluß
-eilten sie zum Bahnhof, wo Toni und Theobald sich bereits eine Nische
-neben dem Hauptportal ausgesucht hatten; und hier erwartete die ganze
-Gesellschaft nun Mutter und Sohn.
-
-Sie mußten sich eine gute Weile gedulden. Ein Schwarm junger Mädchen
-kam durch das Portal, ein Herr, der seine Zigarre wegwarf, ein paar
-schwatzende Frauen. -- Frau Cimhuber mit ihrem Sohn kam immer noch
-nicht.
-
-„Da sind sie,“ flüsterte plötzlich eins der Kinder. -- Suse fühlte, wie
-ihr Herz still stand.
-
-Die Pfarrfrau kam daher und an ihrer Seite -- er... er... nein, das
-konnte doch nicht er sein, nicht Herr Edwin. -- Wie den Engel Gabriel
-hatte sie sich ihn vorgestellt. Und nun ging dort ein gebrechlicher,
-kranker Mann. --
-
-Suse mußte an ihren Zeichenlehrer denken, den alle Mitschülerinnen sehr
-häßlich fanden. Dem sah Herr Edwin ähnlich. Konnte er’s denn sein?
-
-Hans stieß seine Schwester an und sah ihr bedeutungsvoll in die Augen.
-Susens Herz zog sich immer mehr zusammen und schmerzte sie wie von
-lauter kleinen Glassplittern angeritzt.
-
-„Rappeldürr wie ein Fenchelstock ist der Edwin,“ brach endlich Theobald
-das Schweigen. Entrüstet fuhr Toni auf: „Dummes Geschwätz. Über einen
-Missionar spottet man nicht. Vater sagt auch, du bist der grünste
-Junge, der ihm vorgekommen ist.“
-
-Eine Zornesröte stieg Theobald in das Gesicht. -- „Weil du mich so
-abkanzelst,“ rief er, „werde ich mich rächen. Ich breche heute noch bei
-Frau Cimhuber ein und mache mich an die Mumie ran.“
-
-Alle durchfuhr ein Schreck.
-
-„Nein, Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni. Auch Suse wollte
-zürnen. Aber in ihrem Herzen lockte plötzlich der Versucher: „Theobald
-hat recht. Gewiß, er hat recht. Eine Enttäuschung habt ihr schon
-erlebt. Nun sollt ihr wenigstens eine Überraschung haben, eine freudige
-Überraschung. Nur Mut, nur nicht so kleinlich.“
-
-„Toni,“ stotterte sie da, „Toni, am Ende ist es keine Sünde. -- Eine
-Mumie ist doch nicht wie ein gewöhnliches Paket aus Europa. Das ist
-doch was Außergewöhnliches.“
-
-„Ich leid’ es auf keinen Fall, Suse.“
-
-„Wir wollen’s ja nur begucken, nur einmal schnell angucken,“ drängte
-Suse. „Du hast ja selbst gesagt, Toni, der gebildete Mensch muß wissen,
-wie eine Mumie aussieht.“
-
-„Natürlich gehen wir ihr an den Kragen,“ rief Theobald laut dazwischen.
-
-Seine Schwester seufzte tief.
-
-„Aber, Toni, sei doch nicht so sauer wie ein Essighafen,“ bat Theobald,
-„und mach lieber mit.“
-
-Wieder seufzte die Schwester und sagte dann schweren Herzens: „Allein
-laß ich dich nicht hingehen, Theobald, sonst gibt’s wieder gräßliches
-Unheil.“
-
-„Wann soll die Mumie durchforscht werden?“ fragte der Bruder jetzt.
-
-„Um acht Uhr, gelt, Suse,“ meinte Hans.
-
-„Ja, ja, das ist die rechte Zeit. -- Frau Cimhuber hat nämlich gesagt,
-wir sollen gleich nach Tisch in unser Zimmer gehen. Und dann ist Ursel
-in der Küche und wäscht das Geschirr und klappert gräßlich damit und
-singt Volkslieder und Choräle und hört nichts.“
-
-„Vorzüglich,“ rief Theobald, „dann setzt eure Lampe auf die Fensterbank
-zum Zeichen, daß alles sicher ist und daß wir kommen können.“
-
-Nach dieser Vereinbarung trennten sich die Verschwörer, Suse mit einem
-tiefen Seufzer. --
-
-Bei Tisch daheim im Hause der Frau Cimhuber ging es heute recht
-feierlich zu.
-
-Unnahbar und ihnen weltenfern entrückt, kam der Missionar Hans und Suse
-vor. Susens tiefen Knicks beim Eintreten schien er ebensowenig beachtet
-zu haben wie Hansens Verbeugung, die tiefste Ehrerbietung bekundete.
--- Und nachher während des Mahles, als er ein Glas Wasser verlangte
-und Hans auf ein Zeichen der Pfarrfrau davonstob und wiederkehrend
-stolperte und sich und Herrn Edwin bis zum Ellbogen naß goß und
-Entschuldigungen stammelte wie ein verwirrter Kellner, verzog er keine
-Miene.
-
-Suse aber glaubte unter den Tisch kriechen zu müssen aus Scham für
-ihren Bruder.
-
-Da hob der Missionar plötzlich seine Augen, sah Suse lange an, dann
-Hans.
-
-Dem kleinen Mädchen klopfte das Herz, und Hans verschluckte sich vor
-Schrecken. -- Jetzt sah Edwin Suse wieder an. Ihr Atem stockte. --
-Sollte er? -- Sollte er...
-
-Nein, das ging ja nicht an. -- Er war ja nicht der liebe Gott. -- Er
-konnte ja nicht wissen, daß sie vorhatte, einmal Missionarin zu werden.
-
-Einen Augenblick schwand ihre Angst. Da kam ihr plötzlich ein anderer
-schrecklicher Gedanke.
-
-Vielleicht hatte er ihren Plan mit der Mumie erraten! Wie ein Frevel
-kam ihr jetzt der Vorsatz vor, den sie vorhin so leichten Herzens
-gefaßt hatte.
-
-Und nach Tisch, als die Zeit immer näher kam, in der die kleinen
-Verschwörer eintreffen mußten, wurde sie ganz mutlos.
-
-„Hans, lauf’ runter,“ drängte sie schließlich, „und sag’ Toni und
-Theobald, sie sollen nicht kommen.“
-
-„Warum nicht gar, ich bleib’ hier,“ entgegnete er.
-
-„Nein, Hans, du gehst.“
-
-„Nein, ich bleib’ hier.“
-
-„Doch, du gehst.“
-
-„Das tu ich nicht, ich beseh’ mir die Mumie.“
-
-„Nein, nein, Hans, das dürfen wir nicht. Wir stellen kein Licht ans
-Fenster, wie wir gesagt haben. Mit einemmal fühl’ ich ganz genau, daß
-es nicht recht ist.“
-
-„Aber, Suse, das ist jetzt zu spät, das hättest du früher fühlen
-müssen. -- Ich will jetzt, daß wir das Licht hinstellen.“
-
-Und damit hatte er auch schon die Lampe ergriffen und wollte zum
-Fenster gehen.
-
-In demselben Augenblick griff auch Suse danach und mahnte: „Hans, laß
-los; es gibt eine Feuersbrunst.“
-
-„Nein, laß du los.“
-
-Feindlich sahen sich die beiden an. Da klingelte es schwach an der
-Flurtür.
-
-Sie fuhren zusammen und setzten zitternd die Lampe hin.
-
-„Sie sind da,“ hauchte Suse. „Hans, jetzt ist es zu spät.“
-
-Leise öffneten die beiden die Tür, die ins Treppenhaus führte, und
-herein schlichen der Stadtvetter und die Base. Toni flüsterte: „Der
-Vater und die Mutter sind ins Konzert. -- Keiner weiß, daß wir hier
-sind.“
-
-Theobald aber drängte: „Wo ist die Mumie?“
-
-Zitternd zeigte Suse auf den Ballen in der Ecke. Theobald umfing ihn
-mit kräftigen Armen und schleppte ihn in Susens Zimmer neben der
-Negerstube. Aus der Küche tönte es laut: „Weißt du, wieviel Sternlein
-stehen?“ Wie im Takt klapperte dazu das Geschirr.
-
-Theobald rollte den Ballen einige Male mit seinem Fuß hin und her und
-murmelte: „Na, wenn das ein Pharao ist, bin ich der Sultan von Marokko.“
-
-„Rasch, rasch, mach auf, daß wir sie wieder an ihren Platz
-zurückstellen,“ flehte Suse, „rasch, Theobald.“
-
-Die Vettern begannen im Schweiß ihres Angesichts geräuschlos die dicken
-Stricke zu lösen, während Suse das Licht hielt und Toni mit einer
-Schere die Nähte löste.
-
-Im Nebenzimmer hörte man Frau Cimhuber und ihren Sohn reden. Doch es
-währte nicht lange, so verstummten die beiden, und es wurde still.
-
-„Jetzt packt er seine Geschenke aus,“ flüsterte Theobald.
-
-Aber schon nach einer Weile wurde es im Nebenzimmer wieder laut: eine
-Geige wurde gestimmt, und gleich darauf begann ein wunderschönes Spiel.
-
-Der Missionar geigte.
-
-„Er spielt,“ sagte Suse verklärt, und ihr ganzes Gesicht leuchtete.
-Ihr Vorbild war also doch etwas Besonderes und überstrahlte die andern
-Sterblichen. Er spielte so schön, wie sie es noch nie gehört hatte.
-
-„Hans, horch,“ flüsterte sie und faßte ihn am Arm, „horch.“
-
-Aber es bedurfte dieser Aufforderung nicht. Hans stand da mit gänzlich
-verändertem Gesicht. Auch ihm kam es vor, als habe er noch nie jemand
-so schön spielen hören.
-
-Selbst Theobald lauschte erstaunt und meinte: „Das kann doch nicht Herr
-Edwin sein.“
-
-In diesem Augenblick machte Toni ein Zeichen Und wies auf ein Loch
-oben in der Wand, durch das einmal ein Klingelzug geführt hatte, und
-das unverschlossen geblieben war. Dort konnte man durchsehen. Sofort
-schleppten die beiden Mädchen einen Tisch herbei, kletterten darauf und
-spähten in das Zimmer nebenan.
-
-„Und ist sein Antlitz auch noch so verbrannt, das Mutteraug’ hat ihn
-doch gleich erkannt,“ deklamierte Toni leise vor sich hin; denn im
-Nebenzimmer bot sich ihr ein rührendes Bild.
-
-Im Lehnstuhl saß mit gefalteten Händen die Mutter des Missionars,
-wandte kein Auge von ihrem Sohn und achtete nicht der Tränen, die
-in ihren Schoß fielen. Ihr Kind spielte immer schöner mit einem
-weltentrückten Ausdruck, und nur von Zeit zu Zeit streifte ein
-leuchtender Blick seine Mutter.
-
-Inzwischen waren auch Hans und Theobald auf den Tisch gestiegen und
-drängten ihre Köpfe zwischen den beiden Mädchen durch. Keiner sagte
-ein Wort. Alle lauschten atemlos. Schließlich brach der Missionar sein
-Spiel ab, legte seine Geige vorsichtig auf das Klavier und sah sich
-nach einem Stuhl um.
-
-„Setz dich, Edwin,“ bat die Mutter, „setz dich, mein liebes Kind, und
-ruh’ dich aus, es wird dir sonst zuviel für den ersten Abend.“ Und sie
-führte ihn zum Sofa und legte ihm vorsichtig ein Kissen in den Rücken.
-
-„Wie schön ist es daheim bei dir, Mutter,“ sagte er und griff dankbar
-nach ihrer Hand. -- „Wie schön!“ Er lehnte sich müde zurück und sah sie
-leuchtenden Auges an.
-
-„Nimmt der Edwin seiner Mutter alle weichen Kissen weg,“ flüsterte
-Theobald. „Na, wenn ich einmal nach Hause käme, und es wär’ vom Krieg
-und ich hätt’ eine Kugel im Rücken und könnt’ nur auf einem Bein
-herumhuppen, soviel weiß ich, meiner Mutter nähm’ ich die Kissen nicht
-weg. Wie unmännlich! -- Komm, Hans, an die Gewehre,“ fuhr er dann fort.
--- Sie kehrten zu der Mumie zurück.
-
-Toni und Suse blieben auf ihrem Beobachtungsposten stehen und
-gewahrten, wie Frau Cimhuber sich neben ihrem Sohn niederließ.
-
-„Gelt, Edwin?“ fragte sie, seine Hand nehmend, „nun bist du doch auch
-glücklich? Schwer ist dein Beruf. Aber es geschieht ja zur Ehre des
-Herrn. Nicht jeder kann ein großer Künstler werden. Und es ist ja auch
-der Wunsch deines Vaters immer gewesen, daß du Missionar würdest, und
-du bist doch auch glücklich? Nicht wahr? Vielleicht hättest du ja ein
-großer Künstler werden können. Aber so führst du doch ein reicheres,
-gottwohlgefälligeres Leben?“
-
-Er hustete, und man merkte ihm wohl an, wie erschöpft er war. Dann
-sagte er einfach: „Ja, Mutter.“
-
-„Er wollte Künstler werden,“ flüsterte Toni, „genau wie ich. Aber ich
-glaube, es wird nichts draus. Der Vater will nichts mehr davon hören.
--- ‚Schwamm drüber‘, hat er gestern gesagt.“
-
-Suse hörte nicht zu. Sie stand noch immer da mit gefalteten Händen und
-strahlenden Augen.
-
-Wie schön, wie schön hatte Herr Edwin gegeigt. So schön wie sonst
-niemand auf der Welt!
-
-Jetzt sah Toni, wie im Nebenzimmer die Tür zum Gang aufging und Ursel
-eintrat. Sich mit ihrer Küchenschürze die Augen abwischend, sagte sie:
-„So schön hat der Herr Missionar gespielt, so schön, ich habe gemeint,
-die Orgel geht am Sonntag in der Kirche.“
-
-„Setzen Sie sich zu uns, Ursel,“ bat Edwin.
-
-„Ach nein, vielen Dank, ich habe soviel zu tun.“
-
-„Immer, immer zu tun, Ursel,“ meinte Edwin Cimhuber, „gerade noch wie
-früher.“
-
-„Ja, die Pflicht geht vor, Herr Edwin,“ philosophierte Ursel, „und
-Arbeit versüßt das Leben.“
-
-Wenige Minuten später war sie schon wieder nach der Küche unterwegs.
-
-Toni war begeistert von der Szene, die sie von ihrem Auslug in der Höhe
-wahrgenommen hatte.
-
-„Selbst Ursel hat einen versöhnlichen Gesichtsausdruck heute,“
-flüsterte sie.
-
-Im nächsten Augenblick aber zitterte sie wie Espenlaub und suchte vor
-Schreck nach einem Halt. Auf dem Flur erscholl Geschrei. -- Ursels
-Stimme. -- Theobald, Hans und Suse ließen vor Schreck das Bündel, an
-dem sie trennten, hinfallen und schauten sich entsetzt an.
-
-„Gestohlen, gestohlen, die Matratze ist fort. Diebe, Diebe,“ rief
-es vor der Tür. -- Jetzt in Frau Cimhubers Stube: „Denken Sie, Frau
-Pfarrer, die Matratze ist fort, sie ist gestohlen. Vor einer halben
-Stunde noch war sie da. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen.
-Die Kinder, die haben mal wieder die Tür aufstehen lassen. Sie ist
-gestohlen, sie ist gestohlen.“
-
-„Was sagt sie... die Matratze?“ stotterte Theobald.
-
-Im nächsten Augenblick schoß Ursel auch schon wie eine Glucke mit
-gesträubtem Gefieder zur Tür herein und erblickte die Kinder mit der
-Trennschere und den Messern in der Hand. Sie ergriff ohne Federlesens
-das halb ausgepackte Bündel, riß die letzte Hülle los und entrollte vor
-den Augen der Verschwörer eine blau und weiß gestreifte Matratze. Keine
-Mumie. -- Die geheimnisvolle Mumie war Ursels Matratze.
-
-Suse war blaß wie der Tod.
-
-Und nun stand auch die Pfarrfrau in der Stube, entdeckte den kostbaren
-Gegenstand und atmete erleichtert auf.
-
-„Da ist sie ja, Ihre Matratze, Ursel,“ sagte sie, „und schon fix und
-fertig ausgepackt.“
-
-„Habt ihr das getan?“ fragte sie Suse. Diese nickte mit schuldigem
-Gesicht. Toni aber kletterte beschämt von ihrem Tisch herunter,
-Theobald sprang mit höflicher Verbeugung in die Höhe, und Hans machte
-ein Gesicht wie die Katze, wenn’s donnert.
-
-Den vier Ertappten war es schwül zumute. Die Pfarrfrau sagte: „Ihr
-wolltet Ursel überraschen, ihr wolltet ihr eine Freude machen, nicht
-wahr? Sie hat sich eine Matratze von ihren Verwandten kommen lassen.
-Ihre eigene hat sie in mein Bett geschafft und meine hat sie meinem
-Sohn gegeben. Edwins Matratze ist zu hart. Er muß zwei haben, sonst
-kann er nicht schlafen. Er ist krank. -- Ihr lieben, lieben Kinder! Ihr
-wußtet, wie sie heute vor lauter Arbeit nicht zu Atem kommt. Nun kommt
-mal mit zu meinem Sohn!“
-
-„Hier sind die Diebe, die Missetäter,“ begann sie zu dem Missionar,
-indem sie Hans und Suse zärtlich bei der Hand faßte, „unsere kleinen
-Heinzelmännchen, die Ursel die Matratze geöffnet haben. Sie wollten ihr
-die Arbeit abnehmen. Nicht wahr?“ fragte sie und strich den beiden über
-den Kopf.
-
-„Nein, nein,“ stotterte Suse, „helfen wollten wir nicht, wir wollten ja
-nur sehen... wir wollten nachsehen -- wir meinten, die Mumie sei drin.“
-
-„Oh, dieser Blödsinn von Suse,“ dachte Theobald und schlug die Augen
-zur Decke empor.
-
-„Was sagtest du, mein Kind?“ forschte Frau Cimhuber. Da fühlte Suse
-Theobalds Blick auf sich ruhen. Sie schluckte nur zweimal trocken
-runter vor Schrecken und stotterte: „Wir... wir... wir...“
-
-Doch Frau Cimhuber drang auch gar nicht weiter in sie, sondern forderte
-sie auf, Platz zu nehmen und eingemachte Früchte zu essen und Kuchen,
-den sie ihnen hinreichte.
-
-„Du ißt doch auch gern Kuchen, Theobald,“ wandte sie sich an den
-Stadtvetter.
-
-„Da, nimm dir hier dieses Stück. Dieses ist besonders gut. Du hast’s
-verdient.“
-
-Theobald knirschte innerlich vor Ärger. Wie die kleinen Kinder wurden
-sie behandelt, wie die richtigen kleinen Kinder. Und man fütterte sie
-wie die Piepmätze.
-
-Lieber schon wäre es ihm gewesen, Ursel und der Missionar wären
-plötzlich aufgesprungen und hätten mit ihm zu boxen angefangen. Aber
-dazu war wenig Aussicht vorhanden.
-
-Erleichtert atmete er deshalb auf, als Toni nach zehn Minuten aufstand
-und sich verabschiedete. Und draußen wurde es ihm erst recht klar, in
-was für einem Backofen er gesessen hatte, und mit dem Ruf: „Wie die
-Kamele, gerade wie die Kamele haben wir uns benommen,“ sprang er die
-Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal nehmend.
-
-Auch Hans und Suse zogen sich bald zurück, denn ihr Gewissen schlug
-schuldbewußt angesichts der vielen Liebenswürdigkeiten, die Frau
-Cimhuber ihnen erwies. --
-
-Am andern Tag zur Mittagszeit sahen sie dann den Missionar wieder. Er
-war heute wie in der folgenden Zeit sehr zurückhaltend.
-
-In der Schule, wo Suse so viel von dem Besuch des interessanten
-Afrikareisenden erzählt hatte, der Frau Cimhuber und mit ihr ein wenig
-auch Hans und Suse beehren werde, begann man sich bereits zu wundern,
-daß die spannenden Geschichten, die Suse von ihm erhofft hatte,
-ausblieben.
-
-Nun nahm in diesen Tagen Susens Klasse in der Geographiestunde gerade
-die Westküste Afrikas durch. -- Dorther kam Herr Edwin -- von der
-Goldküste.
-
-„Ach, wenn er doch einmal reden würde,“ dachte Suse voll Verlangens.
-
-Welche interessanten Dinge würde man da zu hören bekommen! Und welch
-bedeutenden Eindruck würde Suse in der Schule hervorrufen, wenn sie
-verkündete, daß sie einen Menschen kenne, der selbst in jenen Ländern
-gewesen war, der mit eigenen Augen die Menschen, die Tiere, die
-Pflanzen dort, alles, alles gesehen hatte, der viel mehr wußte, als in
-den Geographiebüchern stand. Wenn er nur redete!
-
-Da, am Tage vor der Geographiestunde, konnte Suse sich nicht mehr
-beherrschen und fragte mit einemmal bei Tisch, zu Hans gewandt, während
-sie im Grunde Herrn Edwin meinte: „Du Hans, wo seid ihr jetzt in der
-Geographiestunde? Wir sind jetzt an der Elfenbein-, Sklaven- und
-Goldküste; da herum.“
-
-„Wir nicht!“ sagte Hans und aß ruhig weiter. „Wir nehmen Deutschland
-durch.“
-
-Frau Cimhuber und ihr Sohn aber hatten von der Unterhaltung überhaupt
-nichts gehört.
-
-Suse räusperte sich deshalb und sagte lauter als vorher: „Hans, wir
-sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen Sklaven-, Gold- und
-Elfenbeinküste.“
-
-„Das hast du ja eben erst gesagt,“ meinte Hans und sah sie groß an.
-
-Da wandte sich Suse unter heftigem Erröten an Frau Cimhuber selbst,
-indem sie sagte: „Wir sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen
-Sklaven-, Gold- und Elfenbeinküste, Frau Pfarrer.“
-
-„Nein, das ist ja interessant,“ meinte die Pflegemutter mit einemmal
-aufmerksam. „Wie gut trifft sich das. Du, Edwin, die Kinder nehmen
-jetzt in der Schule die Goldküste durch,“ sagte sie zu ihrem Sohne. --
-„Da weißt du ja am besten Bescheid.
-
-Soll euch mein Sohn einmal davon erzählen?“ fragte sie die Geschwister.
-
-„Ja,“ riefen beide hochbeglückt.
-
-„Heute abend könntest du’s tun, wenn wir vom Spaziergang zurückkommen!“
-forderte die Mutter ihren Sohn auf. „Wie denkst du darüber? hast du
-Lust?“
-
-„Warum nicht? Sehr gern!“ antwortete er und nickte den beiden zu.
-Und sie nahmen seine wohlwollenden Blicke hin, als wär’ es schon der
-schönste Anfang einer Geschichte.
-
-Am Abend nach Tisch versammelte sich dann die ganze Gesellschaft; Frau
-Cimhuber und ihr Sohn saßen im Sofa, Ursel und die Kinder auf Stühlen,
-und auf seinem Ständer in der Ecke der Negergott, der wieder auf seinen
-alten Platz verpflanzt worden war, nachdem die Kinder vor anderthalb
-Jahren ihre Pflegemutter gebeten hatten, ihn doch wieder hervorzuholen,
-sie fürchteten sich nicht mehr vor ihm.
-
-Totenstille herrschte, als Herr Edwin zu erzählen begann. Alles
-lauschte. Nur zuweilen hörte man Hans und Suse tief atmen. --
-
-Von den großen Weltmeeren, über die er gefahren war, erzählte er,
-von den großen afrikanischen Wüsten, wo nachts der Ruf wilder
-Tiere herüberklang, von den undurchdringlichen Urwäldern, wo sich
-Schlingpflanzen mit Tausenden von bunten Blumen von Baum zu Baum zögen
-und ein köstliches Gewebe vor den Türen des geheimnisvollen Waldes
-bildeten.
-
-Hansens und Susens Augen glänzten.
-
-Wie ein Schauer ging es zuweilen durch sie durch, als er von der Größe
-und Schönheit von Gottes wunderbarer Welt sprach, und eine große
-Sehnsucht nach der Ferne kam über sie. --
-
-Das war ja alles viel, viel tausendmal schöner, als sie sich
-vorgestellt hatten.
-
-Da redete Herr Edwin aber mit einemmal von ganz anderen Dingen, und die
-Mienen der Kinder verdüsterten sich. Von den armen, elenden Menschen in
-den Tropenländern sprach er, die zuweilen ein Leben führten, schlimmer
-als die Tiere, die verkamen in geistiger und leiblicher Not. In
-ihrer Angst errichteten sie sich selbst Götter, aber was für Götter!
-Jammerbilder, Fratzen, sogenannte Fetische, die zuweilen nichts anderes
-waren als ein Stück bemalten Holzes oder bemalten Steines.
-
-„Dort die Figur in der Ecke,“ meinte Herr Edwin, auf das Negergöttlein
-auf seinem Ständer zeigend, „ist ein ganz besonders schöner Gott,
-verglichen mit vielen andern, die ich gesehen habe. -- Ein wirklicher
-Staatsgott!“
-
-„Ein Staatsgott?“ sagte Suse ungläubig.
-
-Hans mußte das Lachen verbeißen, wenn er an den drolligen Wicht dort
-hinten in der Ecke dachte, dem der rechte Mundwinkel herabhing, als
-hätte er jahrelang eine Tabakspfeife drin gehalten und könne die Lippen
-nun nicht mehr heraufziehen.
-
-„Den beten sie an?“ fragte Suse erschreckt.
-
-„Ja, das ist ihre Gottheit!“ sagte Herr Edwin fast schmerzlich. „Ein
-solches Stück Holz ist ihr Gott.“ -- „Ach, wie leiden sie unter dem
-Aberglauben!“ fuhr er fort. „Sie glauben sich von hunderten von bösen
-Dämonen umgeben. Das sind die Seelen der Verstorbenen, die sie Tag
-und Nacht verfolgen und nur auf Greuel sinnen. -- All ihr Unglück
-schreiben sie ihnen zu, alle ihre Krankheiten, und dabei ist es doch
-nur die eigene Unsauberkeit und Unwissenheit, die ihre Krankheiten
-begünstigen.“ --
-
-Der Herr Missionar erzählte nun den Kindern einzelne Fälle von
-besonders unglücklichen Menschen, die er kennen gelernt hatte.
-
-Hans und Suse rückten mit ihren Stühlen immer näher an den Erzähler
-heran, fast auf ihn drauf.
-
-Sie waren jetzt ganz mit ihm in Afrika. -- Es war Nachmittag. Sie
-fühlten die heiße Tropensonne, die auf sie herunterglühte, sie gingen
-durch hohen, gelben Sand, der ihnen stechend wie Nadeln durch die
-Kleider drang, sie sahen die Blätter der Palmen, die am Wege in der
-Glut der Sonne welkend herabhingen. Sie litten in der erstickenden
-Schwüle brennenden Durst. Sie fühlten, wie sie gleich Herrn Edwin von
-Fieberschauern geschüttelt wurden und vor Müdigkeit kaum mehr vorwärts
-schreiten konnten. -- Aber sie mußten weiter, sie mußten vorwärts,
-denn vor dem nächsten Dorf am Wege lag ein Sklave -- man hatte es
-ihnen gesagt -- der vom Innern aus den Bergen mit einer Last gekommen
-war, und dem durch einen Unfall beide Beine zerschmettert worden
-waren. Voll rohen Sinnes hatten ihn seine Begleiter am Wege liegen
-lassen, unbekümmert darum, ob er in der Hitze sterbe oder nicht. --
-Nur ein Fetischpriester hatte ihm ein Amulett aus Leopardenhaar und
-Katzenwirbelknochen verkauft, das sollte ihn wieder gesund machen.
-
-Der Missionar und Hans und Suse erreichten den armen Menschen und sahen
-ihn vor sich liegen, ein Bild des Jammers. Herr Edwin verband ihn unter
-ihren Augen, und ihr Herz war von Dankbarkeit gegen den Helfer erfüllt.
-
-Je mehr der Herr Missionar erzählte, um so mehr empfand Suse einen
-schweren Druck auf ihrer Brust. Es waren ihre Pläne über Afrika, die
-sie quälten und bedrückten. Sie sah sich wieder dort mit ihrem Hofstaat
-von Affen und Papageien in einem Schloß wohnend, das viel schöner war
-als das der „Fremdlinge“, umgeben von Sklaven und gefeiert wie eine
-Königin. -- Und daneben erblickte sie Herrn Edwin, der ein so hartes,
-ein so einsames und entbehrungsreiches Leben führte, ohne Lohn, ohne
-Dank, nur von dem Glauben beseelt, daß er Gutes tue Gott zur Ehre.
-
-Vor Beschämung wagte Suse nicht mehr aufzusehen. Und schließlich, in
-einer Pause, da hielt sie’s nicht mehr aus und sagte: „Ich hab’ mir
-auch vorgenommen, ich wollte Missionarin werden, Herr Edwin!“
-
-Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen. Suse saß da wie vor ihrem
-Todesurteil.
-
-Aber der Herr Missionar sagte ruhig: „Warum solltest du das nicht
-werden, Kind?“
-
-Suse glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. -- Was hatte er gesagt? Sie
-durfte auch Missionarin werden, sie?
-
-„Das darf ich auch werden?“ fragte sie glückselig. „Gerade so wie Sie,
-Herr Missionar?“
-
-„Ja,“ sagte er.
-
-Auch Hans sah begeistert zu ihm hin. Da verdüsterte sich aber Susens
-Miene wieder und sie beichtete stockend: „Ich hab’ aber immer gedacht,
-Herr Missionar, wenn ich einmal Missionarin bin, möchte ich dafür
-schöne Sachen aus fremden Ländern haben.“
-
-„Aber, Suse!“ rief die Pfarrfrau entsetzt.
-
-„Nun,“ sagte der Missionar ganz ruhig, „das ist gar nicht so schlimm.
-Du kannst auch schöne Sachen dafür haben. Ich glaube aber, du wirst
-selbst bald einsehen, daß die im Grunde nebensächlich sind, und daß
-deine schönste Belohnung das Gefühl ist, den Menschen geholfen zu
-haben.“
-
-„Helfen wollte ich immer, Herr Missionar,“ sagte Suse mehr flüsternd
-als redend.
-
-„Die Helferei kenn’ ich,“ murmelte Ursel. Aber keiner hörte auf diesen
-Einwurf. Die Kinder achteten nur auf Herrn Edwin, der jetzt sagte:
-„Das ist ein schöner Vorsatz, den du da gefaßt hast, Suse, andern zu
-helfen und Gutes zu tun. -- Die Welt ist ja so groß, und für jeden ist
-Platz drin, der etwas Tüchtiges und Gutes leisten will. Auch ihr könnt
-helfen. Ihr müßt nur die Zeit in euerer Jugend anwenden, damit ihr was
-lernt und hernach auch was könnt. Denn wer selbst nichts kann, kann
-auch andern nicht helfen.“
-
-„Das hat auch unser Vater schon gesagt,“ fiel Hans ein, „wenn ihr
-andern helfen wollt, müßt ihr erst selbst was können.“
-
-Herr Edwin nickte und erzählte weiter, und die beiden hingen jetzt mit
-doppelter Begeisterung an seinen Lippen, denn sie hatten die stolze
-Empfindung, daß auch sie ein Recht hätten, dermaleinst große Taten zu
-vollbringen wie Herr Edwin.
-
-„Sehen Sie, Ursel!“ sagte Suse vor dem Zubettgehen strahlend zu der
-alten Magd. „Ich kann auch Missionarin werden. Der Herr Edwin hat’s
-gesagt.“
-
-Ursel seufzte und sagte: „Wenn’s der Herr Edwin gesagt hat, wird’s wohl
-stimmen.“
-
-Lange konnten die Geschwister heute abend nicht einschlafen. Herrn
-Edwins Worte beschäftigten sie noch immer, und sie hatten ein Gefühl,
-als wären sie heute ein paar Jahre älter geworden und wüßten mehr als
-andere Leute. Die Welt erschien ihnen so groß und wunderbar wie nie
-zuvor.
-
-Von Tag zu Tag schlossen sich die Kinder nun mehr an den Besucher an
-und hörten manches gute Wort von ihm, das sie nicht so leicht vergaßen.
-Fast täglich sah man sie, glühend vor heimlicher Freude, an seiner
-Seite durch die Straßen gehen. Wer konnte sich auch rühmen, mit einem
-richtigen, leibhaftigen Missionar spazieren zu gehen, der so viele
-fremde Länder kannte, und so viel zu erzählen wußte? -- Auch lustige
-Dinge berichtete er ihnen hin und wieder. Ach, einmal war sogar ein
-Neger, der nicht mehr viel sah, zu Herrn Edwin gekommen und hatte ihn
-gebeten, ihm ein paar Hunde- oder Katzenaugen einzusetzen, damit er
-wieder besser sehen könne. --
-
-Leider verging die schöne Zeit, in der Herr Edwin da war, nur allzu
-rasch. Nach ein paar Wochen schon, als er sich erholt hatte, ging er
-wieder fort. Hans und Suse begleiteten ihn allein zur Bahn, da die
-Pfarrfrau, von Abschiedsschmerz überwältigt, ihm das Geleite nicht
-geben konnte. Sie hatte eine Ahnung, daß sie ihn nie mehr wiedersehen
-werde.
-
-Hans sah auf dem Gang zur Bahn finster drein, um seine schmerzlichen
-Gefühle zu verbergen. Suse weinte zum Herzzerbrechen. Sie ließ es sich
-nicht nehmen, Herrn Edwins Geige bis zuletzt zu tragen und eigenhändig
-in das Gepäcknetz über seinen Platz zu legen.
-
-Noch einmal drückte er ihnen die Hand zum Abschied und sagte: „Ich
-bitte euch, bewahret euer reines Herz und bleibet immer gut!“
-
-Dann fuhr er davon. --
-
-Sie sahen ihn niemals wieder. Eines Tages starb er in den fremden
-Ländern, von denen er Hans und Suse so viel Wunderbares erzählt hatte,
-und wurde dort im Schatten einer Palme begraben.
-
-Aber das geschah alles zu einer Zeit, als die Doktorskinder nicht mehr
-bei Frau Cimhuber weilten.
-
-
-
-
-Fünftes Kapitel
-
-Christines Reise
-
-
-Am nächsten Pfingstfest wurden Theobald und seine Geschwister von ihrem
-Onkel und ihrer Tante in das Doktorshaus eingeladen. Die Ferienzeit
-mit Hans und Suse verlief lustig, wie es zu erwarten war. Die ganze
-Gesellschaft tollte sich nach Herzenslust aus. Ausflüge in die Berge
-wurden gemacht, alte Bekannte im Dorf aufgesucht. Hans und Theobald
-strichen die Gartenmöbel an und besserten den Holzzaun des Vorgärtchens
-aus. Christoph und Henner machten gerade soviel dumme Streiche wie
-einst ihr Bruder Theobald vor Jahren.
-
-Am letzten freien Tag waren die Kinder bei Christine, dem alten
-Mütterchen mit dem freundlichen, guten Gesicht zu Gaste gebeten. Punkt
-zwölf Uhr sollten sie bei ihr sein. Sie zögerten lange.
-
-Da hörte sie endlich helles Lachen und das Laufen von vielen Füßen.
-Gleich darauf flitzen ein paar helle Köpfe am Fenster vorüber. Die
-Gäste waren gekommen.
-
-In zwei Sprüngen nahmen sie die steinerne Treppe vor dem Haus und
-standen atemlos im Stübchen.
-
-„Entschuldige, entschuldige,“ rief Suse, „wir konnten nicht eher
-kommen. Der Henner ist in den Brunnentrog gefallen und mußte sich erst
-trocknen und umziehen.“
-
-„Wirst du dich auch nicht erkälten, Kind?“ wandte Christine sich an
-Henner und strich ihm über das noch feuchte Haar.
-
-„Nein, nein, alles geht vorzüglich,“ meinte der.
-
-Da trippelte sie in die Küche, um das Essen anzurichten.
-
-„Kalbsbraten?“ fragte Suse ganz erstaunt, als sie in die Schüssel sah,
-die die alte Frau auf den Tisch stellte. -- Das war ja ein Luxus, den
-sich die armen Gebirgsbewohner sonst nur an hohen Festtagen leisteten.
-
-„Kalbfleisch?“ fragte sie deshalb noch einmal in vorwurfsvollem Ton.
-
-Doch Christine verstand Suse falsch und flüsterte mit erschrockenem
-Blick nach den übrigen Kindern hin: „Mögen sie es nicht, Suse? Ist es
-ihnen nicht gut genug? Gelt, sie sind an Besseres gewöhnt? Es ist aber
-doch das Feinste, das wir hier haben.“
-
-„Viel zu fein ist’s,“ rief das Doktorskind. „Eine Suppe wäre gerade gut
-genug für uns gewesen.“
-
-„Nein, nein,“ wehrte Christine, „Kalbfleisch ist besser.“
-
-Nun halfen Toni und Suse beim Auftragen der Speisen, und die
-Gesellschaft fing zu essen an.
-
-Die Kinder mäßigten ihren Appetit etwas, weil der Doktor ihnen daheim
-anbefohlen hatte, Rücksicht auf der alten Frau geringe Vorräte zu
-nehmen.
-
-Aber Christine beängstigte ihr Maßhalten, und sie fragte deshalb
-wiederum erschreckt Suse: „Gelt, sie mögen mein Essen nicht? Gelt, sie
-ekeln sich vor mir, weil ich eine alte Frau bin?“
-
-Da flüsterte Theobald seinen Brüdern zu: „Eßt, ihr Dächse, wie die
-Nudelgänse, sonst geht’s euch schlecht. Immer Takt haben.“
-
-Da begann die Gesellschaft zuzulangen, daß Christine ihre helle Freude
-dran hatte.
-
-Ein halber Laib Brot verschwand, ein Kuchen folgte ihm nach, und von
-dem Kalbfleisch blieb auch nicht mehr viel übrig. In den Wassergläsern
-schenkte Christine den Kindern Waldbeerwein ein.
-
-Unter fröhlichen Gesprächen verging das Mahl.
-
-Die Doktorskinder brachten Christine einen ihrer alten Lieblingswünsche
-vor.
-
-„Christine, besuch uns doch einmal in der Stadt!“ rief Suse, „tu es
-doch.“
-
-„Ja,“ fielen auch die andern ein, „tun Sie es, bitte.“
-
-„Tu es, es wird herrlich,“ meinte Hans. „Dann sollst du alles in der
-Stadt zu sehen bekommen. Alles, alles.
-
-Den Zoologischen Garten, wo mein Kamel drin steht. Weißt du, das ich
-mal fast bekommen habe, das gräßliche Tier!“
-
-„Wenn ich dran denke, wie Ursel damals gejammert hat,“ rief Suse, „muß
-ich noch jetzt lachen. Ich hab’ gemeint, sie wird verrückt.“
-
-„Christine muß vor allen Dingen Ursel selbst sehen,“ erklärte hier
-Theobald, „diese blitzsaubere Person. Das Herz lacht einem im
-Leib, wenn man sie ansieht. So gut ist die, so liebenswürdig, so
-entgegenkommend, ein Engel in Menschengestalt.“
-
-„Und Frau Cimhuber, die ist auch sehr interessant,“ rief Toni.
-
-„Ja, die wird Ihnen den ganzen Tag von ihrem Sohn erzählen,“ meinte
-Theobald, „bis Ihnen ein Mühlrad im Kopf herumgeht. Edwin, Edwin,
-weiter hört man nichts von ihr.“
-
-„Das kann ich vollständig begreifen,“ erklärte Toni. „Sie hat nur einen
-einzigen Sohn, also redet sie von ihm. Der ist nämlich in Afrika,
-müssen Sie wissen, Christine, und den größten Gefahren ausgesetzt.
-Jeden Tag kann ihn der Tod überraschen, und seine Mutter ist fern von
-ihm.“
-
-Suse nickte.
-
-„Toni hat ganz recht,“ wandte sie sich an die alte Frau. „Nicht wahr,
-du würdest doch auch in großer Sorge sein, wenn du nur ein einziges
-Kind hättest und das wäre nicht bei dir und stürbe womöglich eines
-Tages. Ich denke es mir gräßlich, wenn man nur ein einziges Kind hat
-und das stirbt einem noch obendrein.“
-
-Christine nickte traurig vor sich hin und faltete ihre Hände.
-
-Da stieß Hans seine Schwester unter dem Tisch an, und Suse biß sich
-auf die Lippen, erinnerte sie sich doch plötzlich, daß sie eine große
-Taktlosigkeit begangen hatte.
-
-Christine hatte ja auch nur ein einziges Kind gehabt, eine Tochter, und
-die war gestorben in demselben Jahre, als Suse geboren wurde.
-
-Rosel hatte den Kindern einmal von diesem Trauerfall gesprochen und
-zwar mit geheimnisvoll düsterer Miene.
-
-„Gräßlich, gräßlich ist’s gewesen,“ hatte sie geflüstert, „man sollte
-nicht meinen, daß es solche Menschen gibt. Aber redet nicht davon. --
-Redet nicht davon, redet nicht davon.“ Mehr hatten sie nicht vernommen.
-Und die Frau Doktor, die von ihren Kindern gebeten worden war,
-ihnen einiges von Christines Tochter zu verraten, hatte nur gesagt:
-„Christine hat sehr viel Trauriges durchgemacht, aber erinnert sie
-nicht daran. Wenn ihr einmal größer seid, sollt ihr’s wissen.“
-
-Und nun hatte Suse eine solche Dummheit gesagt. Schnell rief sie
-deshalb dem alten Mütterlein zu, um sie abzulenken: „Das Haus von den
-Fremdlingen mußt du auch sehen, Christine. Wir führen dich dran vorbei.“
-
-„Und die herrlichen Granadasöhne auch,“ warf Christoph ein. „Wie die
-geschniegelten Äffchen auf der Stange sehen sie aus. So unmännlich,“
-sagte Theobald.
-
-„Und die Kathedrale müssen Sie sich auch betrachten, Christine,“ rief
-Toni. „Es ist ein rein gotischer, wunderbarer Bau. Wir haben ihn in der
-Kunstgeschichte neulich durchgenommen.“
-
-„Ja, Kirchen magst du ja so gern,“ stimmte Suse bei. „Da kannst du
-beten, und Hans und ich werden derweil hinten im Dunkeln zwischen den
-Säulen auf dich warten.“
-
-„Ins Kino muß Christine auch,“ rief Henner. „Vielleicht dürfen wir mit.
-Wir dürfen nur jedes Jahr einmal an unserem Geburtstag hin. Und auch
-nur, wenn’s ein Seestück zu sehen gibt oder ein Aquarium.“
-
-„Und das Museum sehen wir uns alle an,“ rief Hans.
-
-So zählten die Kinder immer weitere Sehenswürdigkeiten der Stadt auf.
-Einer wollte noch mehr wissen als der andere, jeder den besten Rat
-erteilen. Schließlich verstand keiner sein eigenes Wort mehr. Christine
-lachte fröhlich mit. Dabei ermahnte sie die Kinder immer wieder, ja
-auch tüchtig zu essen. Beim Abschied drängten Hans und Suse noch
-einmal: „Besuch uns ja, Christine, besuch uns in der Stadt!“
-
-„Vielleicht,“ antwortete die alte Frau nachdenklich, „vielleicht.“
-
-Da sprangen sie die steinerne Treppe hinunter, blieben aber an der
-kleinen Gartentür noch einmal stehen und riefen: „Gelt, Christine, du
-kommst? Gelt, du kommst? Sag’ ja, sag’ ja.“
-
-„Wenn der liebe Gott mich gesund erhält, komm’ ich,“ antwortete die
-alte Frau, und die Kinder stürmten freudig davon.
-
-Auf dem Weg, der zum Dorf hinaufführte, drehten sie sich zum letztenmal
-um und winkten ihr zu: „Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen.“ Dann waren
-sie ihren Blicken entschwunden. Die alte Frau aber blieb noch lange,
-in schweren Gedanken versunken, an ihrem Gartenzaun stehen. Sie dachte
-an die ferne, fremde Stadt, von der ihr soviel erzählt worden war und
-die sie schon lange einmal besuchen wollte. Nicht der Wunsch nach
-ihrer Schönheit und ihren Wundern trieb sie dorthin, auch nicht die
-Doktorskinder allein, sondern Dinge, von denen sie nicht reden wollte...
-
-Seit Wochen waren die Kinder nun schon in der Stadt, und Christine
-war noch immer nicht gekommen. Sicher hatte sie ihr Versprechen ganz
-vergessen.
-
-Und auch die Kinder, die in der ersten Zeit viel von ihrem Besuch
-gesprochen hatten, dachten zurzeit nicht mehr daran. Ganz andere Dinge
-bewegten sie. Ursel war wieder einmal nicht gut auf sie zu sprechen.
--- Hans trieb nach Ursels Ansicht die Anmaßung zu weit. Er wollte
-Geigenstunde nehmen. -- Geigenstunde. Außer dem Herrn Missionar hatte
-nach ihrer Ansicht kaum noch ein anderer Sterblicher die Berechtigung
-zu geigen. -- Und nun Hans erst. -- „Der werde doch nie etwas
-Vernünftiges lernen,“ meinte sie. -- „Der Herr Edwin hingegen, der Herr
-Edwin! Den hätten die Kinder in seiner Jugend mal geigen hören sollen.
--- Das war eine Freude, das war ein Hochgenuß. Der ergriff den Bogen
-und die Geige und geigte herrlich wie die Engel im Himmel.“
-
-„Wer’s glaubt!“ hatte Suse keck dazwischen gerufen. „Der Herr Edwin
-wird grad auch kein Orchestrion gewesen sein, wo man einen Groschen
-hineinwirft und dann musiziert’s und donnert’s los.“
-
-Kaum war Suse das Wort entfahren, so sagte sie über und über rot:
-„Nein, das war zu frech von mir. -- Ich glaube wirklich, daß Herr Edwin
-mehr konnte als andere Kinder.“
-
-„Suse, du verdienst den Teller Suppe nicht, den du ißt,“ rief Ursel.
-
-„Und ich?“ forschte Hans, „am Ende ich auch nicht? Aber denken Sie
-daran, Ursel, meine Eltern wollen es, daß ich Geigenstunde nehme.“
-
-„Meinetwegen,“ brummte Ursel, „geige wo du willst, aber nicht in der
-Negerstube.“
-
-Die Kinder spitzten die Ohren. Aha, da lag der Hase im Pfeffer! Sie
-wollte nicht, daß die von Sauberkeit blinkende und blitzende Negerstube
-verwohnt werde.
-
-Zum Glück nahm sich diesmal die Pfarrfrau Hansens an und bestimmte, daß
-die Geigenstunde wirklich stattfände.
-
-Zweimal in der Woche geschah’s. Dann kam Herr Schnurr, der Lehrer.
-
-Welch ein verstruwelter, zerzauster Herr! Wie sehr stach Hans daneben
-ab, gar als er sich jedesmal vor der Stunde schniegelte und bügelte wie
-ein Offizier und mit blankgewichsten Schuhen und glänzendem Scheitel
-daherkam.
-
-Sein Lehrer war der Tumult selbst. Sobald sich die Tür der Negerstube
-hinter ihm geschlossen hatte, traf er umständliche Vorbereitungen
-zur Stunde. Er band seinen Schlips und Kragen ab, warf sie auf den
-nächsten besten Stuhl und reckte seinen Hals einige Male befreit in die
-Höhe. Dann klopfte er mit dem Geigenstock auf den Tisch zum Zeichen,
-daß der Unterricht beginne. Hans kletterte herzklopfend auf ein noch
-von Edwin Cimhuber stammendes Pult und stimmte mit Herrn Schnurr seine
-Geige. Das Spiel begann. Wehe, wenn die Töne falsch herauskamen oder
-der kleine Junge nicht im Takt spielte! Dann wurde Herr Schnurr zum
-wilden Löwen. Er stampfte mit dem Fuße auf, er rüttelte an den Stühlen,
-er sprang im Zimmer umher und fuhr sich in die Haare. Hans zitterte.
-Der Lehrer drückte seine Geige fester unter das Kinn, zählte laut eins,
-zwei, drei, sang a, a, a, wand sich in ohrwurmartigen Windungen immer
-höher, immer höher, bis er auf den Zehenspitzen stand wie eine Tänzerin
-und mit schmerzlich verzogenem Gesicht in dieser Stellung verharrte.
-
-„Halt, halt,“ schrie er plötzlich und warf die Geige hin, „willst du
-wohl aufhören, willst du mich ins Irrenhaus bringen!“
-
-Und Hans stand einen Augenblick da mit verglasten Augen und
-Schweißperlen auf der Stirn.
-
-Dann, als der Geigenlehrer wieder zu sich gekommen war, ging der Tanz
-aufs neue los.
-
-Im Zimmer nebenan saß Suse und konnte ihr Lachen nicht bändigen.
-Von Zeit zu Zeit spähte Ursel mit argwöhnischer Miene zur Tür
-der Negerstube herein, als fürchte sie, der Geigenlehrer prügele
-die Negerprunkstücke von den Wänden herab oder trommele auf den
-Polstermöbeln herum, anstatt zu geigen.
-
-Frau Cimhuber aber ging jedesmal spazieren, wenn Herr Schnurr kam.
-
-Einmal trat Ursel bei Suse ein, und als sie das kleine Mädchen lachend
-vorfand, wollte sie zornig werden. Aber Suse umarmte sie und rief: „Ich
-kann nicht mehr. So was Schönes hab’ ich noch nie gehört.“
-
-„Laß die Albernheiten,“ meinte Ursel streng.
-
-Aber als sie aus dem Zimmer ging, merkte Suse doch an dem Wackeln
-ihrer Schultern, wie sehr sie lachte. Also war selbst Ursel für die
-Geigenstunde gewonnen. --
-
-Nun mußte nur noch für Suse Rat geschaffen werden. Das Doktorskind
-wollte gern, daß die alte Magd ihr für eine Einladung, die nächste
-Woche stattfinden sollte, zwei Napfkuchen backe. Ursel aber wollte von
-einer solch üppigen Tafelei nichts wissen.
-
-„Umstände werden nicht gemacht,“ erklärte sie klipp und klar.
-„Honigbrot und Butterbrot bekommt ihr und jede zwei Tassen Malzkaffee.
-Und damit basta.“
-
-„Das ist alles?“ rief Suse und faltete vor Schreck die Hände. „Ist das
-Ihr Ernst, Ursel? Aber denken Sie an, was das für einen Eindruck auf
-den Besuch macht. -- Meine Freundinnen haben immer Marzipan und Kuchen
-und Biskuit und Schokolade und Schlagsahne, die reine Konditorei.“
-
-„So, und da schämt ihr euch nicht und eßt das alles auf einmal auf?“
-rügte Ursel. „Und das erzählst du mir auch noch? So ein Schwelgerleben
-steht noch nicht einmal im Kalender. -- Sodom und Gomorrha werden nicht
-mehr lange auf sich warten lassen bei eurem Sündentrubel.“
-
-Suse lachte hell.
-
-Kaum hatte sie sich aber soweit vergessen, da bereute sie es auch
-schon; denn Ursel sah sie an wie die strafende Gerechtigkeit. Umsonst
-schmeichelte Suse jetzt: „Bitte, bitte, liebe Ursel, machen Sie mir
-doch einen Stärkepudding und zwei Napfkuchen. Hans und ich wollen auch
-eine ganze Woche lang kein Fleisch essen.“
-
-Die Magd schwieg. Suse flehte weiter: „Wenn Sie wüßten, wie gut es
-die andern Mädchen haben im Vergleich zu mir, würden Sie barmherzig
-werden. Denken Sie sich, bei manchen gibt es auch süßen Likör und
-Blumensträußchen.“
-
-„Blumensträußchen könnt ihr haben, soviel ihr wollt. Die könnt ihr euch
-im Walde holen. Dagegen hab’ ich nichts, aber Stärkepudding gibt’s
-nicht und keinen Kuchen.“
-
-„Und in der Negerstube wird auch nicht getafelt. Eßt in deiner Stube.“
-
-„Was,“ rief Suse, „fünfzehn Kinder kommen ja gar nicht in mein Zimmer
-rein. Das ist doch nicht fein für eine Einladung, daß man aufeinander
-sitzt wie die Heringe. Heutzutage ist alles für Licht und Luft. Meine
-Freundinnen werden krank vor Hitze in meinem kleinen Zimmer.“
-
-„Ach was, so leicht wird sich’s nicht krank,“ meinte Ursel kaltblütig.
-„Eßt nicht zu viel und trinkt schön langsam und nicht so viel auf
-einmal, macht fleißig Durchzug mit Türen und Fenstern und trinkt kaltes
-Wasser von der Leitung, dann bleibt ihr frisch wie die Fische im
-Wasser.“
-
-„Aber Ursel,“ rief Suse entrüstet, „glauben Sie, meine Freundinnen
-kommen zu mir, weil sie Wasser schlucken wollen wie die Fische. Die
-wollen doch unterhalten sein und was Feines essen.“ --
-
-Das Doktorskind weinte.
-
-Ursel blieb hart.
-
-„Anderer Leute Kinder haben’s viel besser als wir,“ seufzte Suse etwas
-später zu ihrem Bruder.
-
-„Warum nicht gar!“ rief der entrüstet. „Wer denkt denn an solche
-Sachen! Wer hat denn so gute Eltern wie du und ich?“
-
-„Freilich, freilich, du hast recht,“ antwortete die Schwester
-kleinlaut, „aber sie sind ja so weit.“
-
-Suse seufzte für sich allein weiter. Sie hatte große Bedenken, ob
-ihre Einladung auch schön genug ausfallen würde. Von jeher hatte sie
-es ja schmerzlich empfunden, daß die meisten Kinder ihrer Umgebung in
-glänzenderen Verhältnissen lebten, schönere Feste gaben und feinere
-Kleider anziehen konnten als sie selbst.
-
-Hans und seine Freunde fragten viel weniger nach diesen
-Äußerlichkeiten. Was machte es aus, wenn einer der Knaben auch mal
-einen besseren Anzug anhatte als der andere! Das merkte Hans kaum.
-Außerdem fiel es ihm und seinen Freunden auch nicht ein, einander
-einzuladen oder mit schönen Dingen zu beschenken. --
-
-Zum Glück hielten aber auch bei Suse die trüben Betrachtungen über
-des Lebens verschieden ausgeteilte Lose nicht lange an. Und sie sah
-voll geheimer Freude dem Fest, das sie ihren Mitschülerinnen geben
-wollte, entgegen. Von daheim traf zur rechten Zeit noch ein Paket
-mit Blumen und Gebäck ein und ließ Susens Herz vor Freuden hüpfen.
-Stolz konnte sie nun zur Schule gehen und ihre Einladungen dort
-verteilen. Jubelnd wurden diese von den Schülerinnen ihrer Klasse in
-Empfang genommen, weil sie wohl wußten, wie gar lustig es bei der
-muntern Suse hergehen werde. Nur einige von ihren Schulgefährtinnen
-überging Suse mit ihrer Einladung. Zu ihnen gehörte auch die schwarze
-Karla, das hübscheste, begabteste Mädchen der Klasse, dessen Eltern
-in glänzenden Verhältnissen lebten. Von jeher hatte dieses Mädchen
-Susens größte Bewunderung auf sich gezogen wegen ihrer Sicherheit,
-Schönheit und Klugheit. Aber gerade weil das Doktorskind jenen Stern
-unter den Schülerinnen so sehr bewunderte, hielt sie sich abseits.
--- Sie mochte sich nicht auch noch aufdrängen, wo schon so viele
-andere Schulgefährtinnen um die Gunst jenes Mädchens warben. Und dann
-fürchtete sie auch die Spottlust der schwarzen Karla. Denn als Suse
-vor Jahren aus ihrem kleinen Gebirgsdorf gekommen war, hatte niemand
-belustigter hinter ihr hergesehen, als jenes Mädchen.
-
-Zu ihrem größten Erstaunen bemerkte nun Suse, wie Karla betrübt und
-enttäuscht drein sah, als sie mit der Einladung übersehen worden war,
-und nach Schulschluß, als Suse die Treppe hinunterging, kam sie sogar
-hinter ihr her und steckte ihren Arm unter den des Doktorskindes und
-fragte in ihrer liebenswürdigen Weise: „Weshalb lädst du mich nicht
-auch ein, Suse? Ich möchte doch so gerne zu dir kommen. Sicher wird es
-sehr fein bei dir.“
-
-Susens Herz klopfte laut. Sie konnte vor freudiger Erregung zuerst kein
-Wort herausbringen. Das schönste und begabteste Mädchen der Klasse
-bemühte sich um sie. Andere warben um Karlas Gunst, und sie trug ihr
-die Freundschaft selbst an.
-
-Arm in Arm trat sie jetzt mit ihrer neuen Freundin durch das Tor hinaus
-auf die Straße. -- Noch immer vermochte sie kaum zu reden. --
-
-Jenseits, auf dem Steig der Fußgänger, hatte wohl schon eine halbe
-Stunde lang ein altes Mütterchen gestanden, die Augen sehnsüchtig auf
-das Tor ihr gegenüber geheftet. -- Sie war in die Tracht der alten
-Frauen vom Lande gekleidet und trug am Arm einen Henkelkorb mit einem
-weißen Tuch bedeckt und in der Hand einen dicken Schirm. Als die ersten
-kleinen Mädchen aus der Tür traten, leuchtete ihr Gesicht hell auf.
-Man sah’s ihr an, sie hatte auf eins von ihnen gewartet. -- Zufällig
-flogen Susens Blicke zu ihr hinüber und sie fuhr zusammen. -- Das war
-ja -- das war Christine! Wie kam sie hierher? War ihr wirklich kein
-Weg zu weit gewesen, keine Reise zu mühselig, um die geliebten Kinder
-aufzusuchen? Sie wartete auf Suse. Man sah’s ihr an. Sie wollte auf sie
-zukommen. Aber weshalb lief Suse jetzt nicht zu ihr hin und umarmte sie
-und zeigte ihr Entzücken? Weshalb wendete sie sich krampfhaft auf die
-andere Seite? --
-
-Sah denn Christine wirklich so komisch und armselig aus mit ihrem
-Kapothut, der ihr wie ein kleiner Kobold auf dem Kopfwirbel saß und
-seine Bänder flattern ließ, mit ihrem Rock, der viel zu kurz war, so
-daß man ihre mageren Beine mit den grauen Strümpfen und die bunten
-Pantoffeln sehen konnte? Mußte man sich ihrer wirklich schämen?
-
-Schämen gerade nicht. -- Aber die feine, stolze Karla! Was würde die
-darüber denken? Suse ging weiter, ohne Christine zu grüßen.
-
-Eine Weile stand die alte Frau erschrocken da und blickte Suse nach.
-Das kleine Mädchen mußte sie erkannt haben. -- Deutlich hatte sie
-ihren Blick gefühlt. Doch warum hatte sie sich abgewandt und war nicht
-jubelnd auf sie zugekommen wie sonst wohl? Langsam, langsam wurde es da
-der alten Frau klar, daß sich Suse ihrer schäme und sie nicht kennen
-wolle. Noch einen langen, sehnsüchtigen Blick schickte sie hinter
-dem jungen Mädchen her, dann wandte sie sich traurig um und ging mit
-gesenktem Kopf die Straße hinunter. Ihr war es, als habe sie ihr Herz
-verloren. Sie kam sich so ausgestoßen und fremd vor, hier in dieser
-großen Stadt, wie in einer Wildnis. Suse hätte doch fühlen müssen, wie
-einsam sie hier war und hätte zu ihr kommen müssen. Aber sie hatte es
-nicht getan.
-
-Die alte Frau wanderte nun ratlos hin und her durch mancherlei Gassen
-und Straßen, ohne zu wissen wohin. Schließlich brachte ihr Weg sie in
-die Anlagen der Stadt, wo frischer Rasen grünte, hohe Bäume wuchsen und
-hier und da vor blühenden Sträuchern Bänke standen. Auf einer davon
-ließ sich Christine müde nieder. Sie sah noch immer erschrocken
-drein. Aber kein bitterer Gedanke gegen das kleine Mädchen bewegte ihr
-Herz. --
-
-[Illustration]
-
-Suse hatte ja recht, daß sie so vornehm tat. -- Suse war ja ein so
-großes, kluges Mädchen geworden und hatte so viel gesehen und so viel
-gelernt in dieser herrlichen Stadt. --
-
-Und Christine war die arme, alte, unwissende Frau geblieben, mit der
-man keinen Staat machen konnte. Längst vergangen waren ja die Zeiten,
-in denen Suse ein kleines unschuldiges Kind war, das Christine über
-alles liebte. Aber die alte Frau murrte nicht, sie wußte wohl, alles
-Schöne und alles Gute hatte der liebe Gott ihr nur für eine bestimmte
-Zeit gegeben, um es ihr dann wieder zu nehmen. So war es sein Ratschluß.
-
-Lange Zeit saß Christine, in diesen Gedanken versunken, auf der Bank
-und konnte noch immer keinen Entschluß fassen, wohin sich wenden. Zu
-Frau Cimhuber wollte sie nicht gehen. -- Sie fürchtete, auch dort nicht
-willkommen zu sein. -- Und dann hatte sie noch einen andern Besuch vor,
-den wichtigsten und schwersten, der ihr Geheimnis war, von dem selbst
-die Doktorskinder nichts wissen sollten. -- Den wagte sie nun nicht
-mehr auszuführen. --
-
-Wenn Suse schon so ablehnend zu ihr tat, was konnte sie erst von jenen
-fremden Leuten erwarten, denen der Besuch gelten sollte?
-
-Mitten in diesen Betrachtungen fuhr sie zusammen. Ein Windstoß hatte
-das weiße Tuch, das über ihren Korb gebreitet war, aufgehoben und trieb
-es in die Sträucher hinter ihr. Ein Heidelbeerkuchen, den sie den
-Kindern mitgebracht hatte, wurde im Korbe sichtbar.
-
-Die alte Frau erhob sich umständlich, legte ihren Schirm vorsichtig
-neben sich und sah sich nach ihrem Tuche um. In diesem Augenblick
-ertönte ein Jubelschrei, und von dem Wege her, der in einiger
-Entfernung von der Bank vorüberführte, kamen zwei Knaben auf sie
-zugerannt. Es waren Hans und Theobald. Zufällig hatten die beiden
-Vettern ihren Heimweg aus der Schule durch die Anlagen genommen und
-trafen jetzt unerwartet auf Christine. Beide gerieten in große Freude.
-Hans sagte in einemfort, Christines Hand drückend: „Wo kommst du her,
-wo kommst du her? Oh, wenn Suse wüßte, daß ich dich zuerst getroffen
-habe, wie würde die sich ärgern!“
-
-Theobald aber schlang seinen Arm um das alte Mütterchen und deklamierte
-in seiner närrischen Art: „Habe ich dich endlich wieder gefunden? Ruhe
-an meinem Herzen, mein süßer Schatz.
-
-Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben...
-
-Wissen Sie noch, in jener Zeit, Christine, als Sie mich im Bett
-versteckt haben, weil der Schmied mit dem Dreschflegel vor der Tür
-stand und mich versohlen wollte, weil ich seinem jüngsten Flachskopf
-auf den Kopf gespien hatte?“
-
-Die alte Frau hatte sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholt.
--- Hier war Hans, und da war Theobald, die beiden Knaben, und einer
-freute sich noch mehr als der andere. -- War es denn kein Traum? --
-Merkten sie denn nicht, daß immerzu fremde Leute vorübergingen und
-zusahen, wie sie eine arme, alte Frau voll Liebe begrüßten. Die Knaben
-sahen es wohl, aber sie machten sich nichts daraus.
-
-Da breitete sich langsam über Christines Gesicht ein glückliches
-Lächeln, und sie drückte Hans dankbar die Hand.
-
-„Sie müssen natürlich bei uns zu Mittag essen,“ fiel Theobald hier ein,
-„meine Mutter hat schon immer gesagt: ‚Wenn Christine kommt, ladet sie
-ein.‘ Was wollen Sie auch bei der Cimberklinkerin und der Ursel? Ich
-sage Ihnen, das unzutunlichste Geschöpf meines Lebens. Die rechnet ja
-doch gleich nach, wieviel Margarine und sonstigen Tutti Frutti sie in
-die Pfanne tun muß, wenn Sie mitessen!“
-
-Und mit diesen Worten hatte der Stadtvetter auch schon den Schirm der
-alten Frau ergriffen und Hans ihren Korb übergeben. Dann machte sich
-das seltsame Kleeblatt auf den Weg nach Hause.
-
-„Eins, zwei, drei,“ kommandierte plötzlich Theobald, und die Knaben
-gingen in einen Polkaschritt über.
-
-„Laßt doch, laßt doch,“ wehrte Christine, „das darf man ja nicht hier.“
-
-„Was darf man nicht?“ rief Theobald, „alles darf man, was man will. --
-Wenn sich einer untersteht und seinen Mund auftut, so spieße ich ihm
-Ihren Paraplü mitten durch den Leib.“
-
-Und nachdem der Stadtvetter also großspurig geredet hatte, wurde er
-wieder liebenswürdig und erkundigte sich nach allem aus Christines
-Heimatsort, nach ihrem Häuschen und ihrer Ziege, nach ihren Kartoffeln
-und Bohnen, selbst nach dem Reiserbesen, den er ihr in den letzten
-Ferien gebunden hatte. Und zuletzt steuerte er mit seinen Begleitern
-auf ein schmuckes Haus in einem großen Garten zu, indem er erklärte:
-„Nun wollen wir gemeinsam in unsern Wigwam einfallen.“
-
-Damit öffnete er weit und einladend die Tür seines Vaterhauses...
-
-Was war inzwischen aus Suse geworden? -- An der Seite der schwarzen
-Karla war sie in entgegengesetzter Richtung davongegangen wie
-Christine, beherrscht von dem Gefühl des Triumphes, den sie errungen
-hatte. -- Wie in einem Taumel war sie zuerst befangen. Sie war die
-Königin der Klasse geworden, umworben von dem einflußreichsten Mädchen
-unter ihren Mitschülerinnen. Und an ihrer Seite redete jenes schöne
-Mädchen nun lauter angenehme Dinge, die ihr kleines, eitles Herz
-erfreuten. -- Sie beide gehörten zusammen, meinte Karla. Sie seien ja
-die begabtesten Kinder der Klasse. Suse müsse sie recht oft besuchen,
-ihre Eltern hätten schon häufig darum gebeten. Was für schöne Stunden
-würden sie gemeinsam verbringen!
-
-Doch je weiter sie sich von der Schule entfernten, je weniger achtete
-das Doktorskind auf der Freundin schmeichlerische Reden. Scheu blickte
-sie sich einmal um und sah Christine ganz in der Ferne davongehen. --
-
-Da wurde des kleinen Mädchens Gang zögernder, ihre Antworten
-unsicherer, ihr ganzes Wesen unruhig. Sie zog ihren Arm unter dem ihrer
-Freundin hervor und blieb unschlüssig stehen.
-
-„Was hast du, Suse?“ fragte ihre Freundin.
-
-Das Doktorskind antwortete nicht und ging langsam mit ihr weiter. --
-Sie sah jetzt immer Christines erschreckte Augen hilflos auf sich
-gerichtet, und langsam wurde ihr klar, was sie eigentlich getan hatte.
-Mit verstörtem Gesicht sah sie sich abermals um. Da sah sie ihre
-Freundin Gretel, die sich in der Schule etwas verspätet hatte, des
-Weges kommen.
-
-Und das kleine Mädchen erzählte ganz aufgeregt von einem armseligen,
-altmodisch gekleideten Mütterchen, das vor der Schule gestanden sei und
-so verirrt und traurig ausgesehen habe, daß es sie gedauert habe.
-
-„Sicher ist sie vom Lande,“ meinte Gretel, „und wußte nicht wohin. Ach,
-wie tat sie mir leid. Sie sah so ängstlich um sich. Am liebsten hätte
-ich sie mitgenommen.“
-
-Schon gleich bei den ersten Worten ihrer Freundin war Suse
-zusammengefahren.
-
-Nun gab es kein Halten mehr für sie.
-
-„Das war Christine,“ rief sie, „Christine, von der ich dir schon so
-viel erzählt habe, Gretel. Aus meinem Heimatsort. Hansens und meine
-alte Kinderfrau. Sie ist gekommen und will uns besuchen, Hans und mich.
-Sie hat uns so lieb und ist so gut zu uns, und ich hab’ sie verleugnet.
-Ach, wenn sie jetzt fort ist, ist alles aus.“
-
-Und vor den erstaunten Augen ihrer Freundin riß sie sich los und flog
-davon zur Schule zurück. Aber als sie dort ankam, war weit und breit
-niemand mehr zu sehen. Da irrte sie weiter durch die Straßen und
-Gassen, in denen sich die heiße Glut des Mittags fing, und suchte nach
-der alten Frau. Umsonst. Auch im Hause von Frau Cimhuber, wo sie nach
-ihr forschte, war sie nicht gesehen worden. So bestand denn nur noch
-die Möglichkeit, daß sie mit dem nächsten Zug in die Heimat gefahren
-sei. Aber auch vom Bahnhof mußte Suse unverrichteter Sache wieder
-umkehren. Erschöpft kam sie daheim an. Ein freundlicher Empfang ward
-ihr hier nicht zuteil. Denn als sie ängstlich durch die Küchentür
-spähte, sah sie von Ursels Scheuerwasser Spritzer und Strahlen
-aufsteigen, wie von spielenden Delphinen, und ihr entgegen klang es
-zornig: „Zweimal ist schon nach dir gefragt worden. Christine und Hans
-sind bei deiner Tante Hedi und essen zu Mittag. Jeder ist schon in
-Angst um dich. Frau Cimhuber hat schon ihre Migräne.“
-
-Da machte Suse, so schnell sie konnte, die Tür hinter sich zu und lief
-in ihr Zimmer. Dort schloß sie sich ein und weinte. Christine war da,
-Christine war gefunden. Kein Mensch hatte ihr ein Leid zufügen dürfen.
-Kein Weg hatte sie irre geleitet. Sie war in Gottes Hand gewesen.
-
-Noch saß Suse stumm da, die Hände wie im Gebet gefaltet, da hörte sie
-Besuch kommen. Sie horchte hin und hörte Hans reden und noch eine
-andere liebe Stimme. -- Christine war gekommen. --
-
-Im nächsten Augenblick rüttelte Hans auch schon an ihrer Tür und rief:
-„Mach auf, mach auf, wir sind draußen.“
-
-Und als sie öffnete, stürmte er über die Schwelle, Christine mit sich
-ziehend, und rief mit blitzenden Augen: „Hier, hier, sieh, wen ich hier
-habe, ich habe sie gefunden. -- Was sagst du nun, was sagst du nun?“
-
-„Was ich sage,“ tönte da ungefragt eine Stimme aus der Küche, wo Ursel
-herumwirtschaftete. -- „Was ich sage, in einer Minute kommt Herr
-Schnurr. -- Kein Pult ist zurecht gerückt, kein Geigenkasten steht am
-Platz, kein Bogen ist eingerieben! Soll ich’s vielleicht besorgen?“
-
-Diese Nachfrage fuhr Hans derartig in die Glieder, daß er auf der
-Stelle zurückflog, in die Negerstube eilte, dort rückte und schob und
-in den Gang zurückkehrte, wo er sich bürstete und glättete, und gleich
-darauf mit höflicher Miene den Lehrer empfing.
-
-Christine aber stand auf der Türschwelle mit ihrem Korb und Schirm in
-der Hand und wagte nicht einzutreten.
-
-„Christine komm, Christine komm,“ sagte Suse und zog sie an der Hand
-herein.
-
-Und mitten in der Stube blieb sie plötzlich stehen, drückte beide
-Handrücken vor die Augen, wie sie oft als Kind getan, und begann
-bitterlich zu weinen. Da nahm die alte Frau ihr die Hände vom Gesicht
-weg, zog sie fest an ihre Brust und hielt sie dort verborgen.
-
-„Weine nur nicht,“ tröstete sie, „der liebe Herrgott weiß alles, und er
-macht alles, alles gut. Sei still Suse. Sei jetzt nur ganz still, Kind.
--- Ich habe euch auch Heidelbeerkuchen mitgebracht. -- Sieh her! Es
-sind nicht mehr viele Beeren darauf, du weißt ja, ich kann nicht mehr
-so weit gehen und sie suchen. Ich bin eine alte Frau. -- Ganz nahe am
-Fuchskopf, wo ich sie sonst immer geholt habe, finde ich jetzt keine
-mehr. Die Kinder holen sie alle weg. -- Aber er hat euch ja immer am
-besten geschmeckt, der Heidelbeerkuchen. -- Glaubst du, du magst ihn
-noch? -- Er ist ja sicher nicht so gut wie der, den ihr in der Stadt
-bekommt. -- Und ihr scheut mich doch nicht, weil ich eine arme alte
-Frau bin?“
-
-Und Christine hob vorsichtig den Kuchen heraus, der auf einem Teller im
-Korb stand, und stellte ihn auf den Tisch. Und Suse schnitt sich ein
-Stück ab und fing an zu essen, obwohl der Kuchen und die Tränen sie am
-Schlucken hinderten.
-
-„Gelt, Christine, du denkst jetzt nicht mehr gut von mir?“ fragte sie,
-nachdem sie sich ausgeweint hatte. „Es liegt dir jetzt nichts mehr an
-mir. Und du frägst auch nichts mehr nach der Stadt?“
-
-„Aber freilich, Suse. Ich will doch die schöne Stadt sehen, von der du
-mir immer so viel erzählt hast. Ich bin ja nur einmal in meinem Leben
-hierher gekommen, und wenn ich jetzt fortgehe, komm’ ich niemals mehr
-wieder. Das spür’ ich, ich bin viel zu alt dazu.“
-
-„Wollen wir gleich gehen und alles besehen?“ drängte Suse.
-
-„Nein, nein, wir warten erst, bis Hans mitgehen kann.“
-
-„Gelt, du hast Hans jetzt lieber als mich,“ flüsterte Suse. Christine
-schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich habe euch alle gleich lieb.“ Und
-sie wischte Suse mit ihrem Taschentuch das Gesicht ab.
-
-Danach führte das Mädchen die alte Frau durch ihr Zimmer und zeigte ihr
-die ganze Einrichtung, auch den Schrank mit ihren Heften und Büchern.
-Mit gefalteten Händen stand die alte Frau davor und richtete ihre
-Blicke bewundernd auf Suse. -- Alle diese Hefte hatte ihr Liebling, die
-Suse, vollgeschrieben, in all diesen Büchern konnte sie lesen, fremde
-Sprachen lernte sie sogar. -- Was war sie doch für ein bedeutendes
-Mädchen geworden.
-
-Aber noch heller strahlten Christines Augen, als sie plötzlich ihren
-Wachsengel im Glaskasten auf der Kommode entdeckte. -- Unversehrt stand
-er dort, heilig gehalten von den Kindern. Wie waren sie doch gut!
-
-Ein dankbarer Blick traf Suse, aber dem jungen Mädchen stieg eine heiße
-Röte in die Wangen, und schnell führte sie ihren Besuch zum Fenster,
-damit sie einen Blick in die schwindelnde Tiefe tue, wo die Menschen
-klein wie Mücken spazieren gingen. -- Gerade beugte sich Christine voll
-Staunen über die Fensterbrüstung, da trafen laute Stimmen ihr Ohr und
-sie fuhr zusammen. Der Lärm kam aus der Negerstube, wo Herr Schnurr
-wieder einmal außer Rand und Band umherhüpfte, weil Hans aus lauter
-Freude über den Besuch seiner alten Kinderfrau zum Erbarmen spielte.
-
-Als der Lärm lauter wurde, bekreuzigte sich Christine, nahm Suse bei
-der Hand und sagte gefaßt: „Komm, Kind, wir gehen, hier ist es nicht
-geheuer.“ Aber Suse hielt sie zurück und erklärte: „Ach, Christine, das
-ist ja nur Hans seine Geigenstunde.“
-
-„Seine Geigenstunde?“ fragte Christine ganz verstört. -- So was
-vermochte sie nicht zu fassen. --
-
-„Wir wollen ihm helfen,“ sagte sie deshalb. „Das endet nicht gut.“
-
-„Nein, nein, Christine, so geht’s immer. Zuerst ist Herr Schnurr oft
-wie außer sich, und hernach streicht er Hans über den Kopf Und sagt:
-‚Brav, Büberl, mach’s das nächstemal wieder so.‘“
-
-Trotz dieser zuversichtlichen Rede beruhigte sich Christine keineswegs.
-Bei jedem neuen Schelten fuhr sie zusammen. Ihren Schirm und Korb in
-der Hand stand sie auf dem Sprung da.
-
-Ihre Angst vor der großen Stadt, wo alles drüber und drunter ging,
-wo man nicht ein noch aus wußte, wurde immer größer, und schließlich
-beschlich sie ein unheimliches Gefühl, als könne sie den weiten Weg
-nach Hause nicht mehr zurückfinden.
-
-„Christine, gelt, du bleibst noch ein paar Tage bei uns?“ bat Suse.
-
-„Nein, nein, ich will morgen wieder fort,“ sagte die alte Frau
-ängstlich. „Ich muß nach meiner Ziege sehen und nach meinem Garten.“
-
-Suse machte ein trauriges Gesicht und fragte leise: „Gelt, Christine,
-du willst wieder fort, weil ich so häßlich zu dir war?“
-
-„Nein, nein, ich bin ja nicht zu euch allein gekommen, Suse, ich
-bin noch wegen einem andern kleinen Mädchen gekommen, das will ich
-aufsuchen.“
-
-Suse horchte verwundert auf.
-
-„Zu einem andern kleinen Mädchen?“
-
-Die alte Frau nickte. „Freilich.“
-
-„Aber, Christine, hast du Verwandte hier?“
-
-„Ja, es ist eine Enkelin von mir, ein kleines Mädchen, so alt wie du.“
-
-„Was, Christine, du hast eine Enkelin?“ rief Suse ganz erstaunt, „und
-wir wissen’s nicht. Weiß es denn niemand auf der Welt?“
-
-„Doch, dein Vater und deine Mutter wissen’s. Euch hab’ ich nur nie
-davon erzählt, weil ihr zu klein wart und weil ich nicht wollte, daß
-ihr auch traurig würdet.“
-
-„Ach, Christine, bitte, bitte, erzähl’ mir. Ich bin ja jetzt schon
-sehr groß und werde mich beherrschen, auch wenn deine Erzählung
-sterbenstraurig wird. Ganz still will ich sein und dich nicht durch
-dummes Reden stören,“ drängte Suse.
-
--- So erzählte denn Christine, die sonst ihre Sorgen ängstlich vor
-aller Welt hütete, ganz verwirrt durch die Ereignisse des Morgens und
-erschreckt durch die Eindrücke der geräuschvollen Geigenstunde, Suse
-den schweren Kummer ihres Lebens.
-
-Das Doktorskind hörte still zu, und je mehr sie erfuhr, um so schwerer
-wurde ihr Herz.
-
-Von einer einzigen Tochter hörte sie ihre Kinderfrau erzählen, die sich
-an einen bösen Menschen verheiratet, der getrunken und seine Frau
-schlecht behandelt habe und schuld an ihrem Tod geworden sei. Das Kind
-aus dieser Ehe, ein kleines Töchterchen, Resi genannt, habe die alte
-Frau nach dem Tode ihrer Tochter zu sich nehmen und erziehen wollen.
-Aber der Vater des Kindes habe verlangt, sie solle ihr Haus verkaufen,
-ihm den Erlös davon geben und mit ihm zusammen in die Stadt ziehen.
-
-Durch Susens Vater sei indes jener Plan vereitelt worden, und Christine
-sei von Not und Elend verschont geblieben, wie der „Herr Doktor“ schon
-so und so oft gesagt habe.
-
-Der Schwiegersohn der alten Frau habe sich schnell wieder verheiratet
-und sei in die Stadt gezogen. Von ihrem Enkelkind habe Christine nie
-mehr etwas erfahren, auch dann nicht, wenn sie ihm Geschenke gemacht
-oder um seinen Besuch gebeten habe. Nur um Geld habe ihr Schwiegersohn
-immer wieder geschrieben. Jetzt sei Christine gekommen, um ihr
-Enkelkind zu suchen, damit sie es vor ihrem Tod noch einmal sehe, denn
-sie wisse ja nicht, ob sie noch lange lebe.
-
-Da nahm Suse Christine in den Arm und sagte in demselben Ton, in dem
-sie gewohnt war, ihre alte Kinderfrau sonst selbst reden zu hören:
-„Sei still, Christine, der liebe Gott weiß alles und hilft uns sicher.
-Christine, wir finden dein Resi ganz gewiß, und du wirst sehen, es wird
-dir viel Freude machen.“
-
-Doch die alte Frau meinte mit Tränen im Auge: „Am Ende läßt mich der
-Vater das Kind nicht sehen und schickt mich fort von seinem Hause.“
-
-„Aber nein, Christine, wir gehen ja alle mit, Hans und ich und Theobald
-und Toni. -- Wenn wir gleich fünf Mann hoch anrücken, wird er schon
-Respekt bekommen. -- Und dann fällt mir noch was ein, Christine, ich
-hab’ noch ein Fünfmarkstück von Onkel Fritz für ein schönes Buch
-geschenkt bekommen. Das geb’ ich deinem Schwiegersohn. Wenn dieser
-scheußliche, geizige Mann das Geldstück sieht, läßt er sicher viel
-besser mit sich reden. Und eines von meinen Kleidern nehmen wir auch
-mit und eine Schürze und Strümpfe und Schuh.“
-
-Und in Suses Phantasie wurde dieser Gang zu Christines bösartigem
-Schwiegersohn zu einem glänzenden Triumphzug, in dem sie sich alle mit
-Ruhm bedeckten und Freude über Freude einheimsten.
-
-„Wo wohnt denn dein Enkelkind?“ fragte die eifrige Suse.
-
-Und die alte Frau zog ein Stück Papier hervor, auf dem eine Adresse von
-Rosels Hand geschrieben stand.
-
-„Kleinstraße,“ las Suse und schüttelte den Kopf. -- „Kleinstraße, die
-kenn’ ich nicht.“
-
-Aber mit einemmal ging ein Leuchten über ihr Gesicht, und sie rief
-strahlend: „Weißt du, wer sie kennt? Fräulein Hirt kennt sie, die
-kennt alle Straßen und alle armen Kinder. -- Die ist in vielen frommen
-Vereinen. Die weiß es. Komm, komm. Ich glaube bestimmt, daß sie es
-weiß. Sie wohnt jetzt über uns im vierten Stock, seit ihre Großmutter
-gestorben ist.“
-
-Christine folgte ihr eilig mit trippelnden Schritten, das Herz schon
-viel froher und zuversichtlicher als bisher. Nur im Gang blieb sie
-wieder einmal erschreckt stehen. Hier streckte nämlich Ursel ihren
-Kopf zur Küchentür heraus und verkündete: „Um vier Uhr ist der Kaffee
-fertig,“ mit einer Miene, als wollte sie sagen: „Um vier Uhr sollt ihr
-alle gefressen werden!“
-
-„Vergelt’s Gott,“ sagte die alte Frau und folgte Suse zur Tür hinaus
-und die Treppe hinauf.
-
-In Fräulein Hirts Zimmer wurden die beiden von der liebenswürdigen
-Lehrerin auf das freundlichste begrüßt, und Christine bekam sogar den
-Ehrenplatz im Sofa angewiesen. Während sie nun dort verschüchtert und
-ängstlich saß, den Blick trostheischend auf Suse gerichtet, erzählte
-diese mit glühenden Wangen, ganz durchdrungen von dem Ernst der Stunde
-und von der Wichtigkeit ihrer Rolle, Christines Schicksal. Ab und zu
-flog ein mütterlich beruhigender Blick zu ihrer alten Kinderfrau hin
-oder sie streichelte jener sanft die Hand, indem sie sagte: „Es wird
-schon gut, es wird schon gut, Christine.“
-
-Fräulein Hirt aber hörte gespannt Susens Erzählungen zu. Und
-schließlich, als diese fragte: „Kennen Sie die Straße, wo Resi wohnt?“
-antwortete sie lächelnd: „Nicht nur die Straße, ich kenne Resi selbst.
--- Sie ist bei mir in der Sonntagsschule.“
-
-„Resi selbst?“
-
-Suse wurde dunkelrot vor Freude, sprang auf und rief: „Siehst du,
-siehst du, Christine! Alles kennt sie, alle Leute, und allen hilft sie
-und uns auch. Wir sind gerettet.“
-
-Und das Doktorskind sprang auf, umarmte Fräulein Hirt und Christine und
-hätte sie am liebsten sofort zu Resi entführt.
-
-„Weißt du was,“ rief sie, „jetzt warten wir keine Minute mehr! Jetzt
-gehen wir sofort zu Resi. Warum noch lange warten! Je eher du Resi
-siehst, Christine, je lieber ist’s dir ja doch.“
-
-„Nein, nein,“ wehrte da Fräulein Hirt, „ich hole das Kind allein
-hierher. Es ist besser, Christine macht den weiten Weg dorthin nicht.
-So viele Anstrengungen nach einer solch langen Reise kann sie nicht
-ertragen.“ --
-
-Aber den wahren Grund, weshalb sie den Besuch Christinens bei ihren
-Verwandten verhindern wollte, verschwieg sie. Sie fürchtete, daß die
-alte Frau von ihres Schwiegersohns Tür gewiesen würde. --
-
-Zur Zeit des Nachmittagskaffes verließen die alte Frau und das kleine
-Mädchen ihre liebenswürdige Helferin.
-
-In der Cimhuberschen Wohnung wurden die beiden in größter Ungeduld
-von Hans erwartet, dem es gar nicht angenehm gewesen war, unter Herrn
-Schnurrs Lehrmethode zu schwitzen, während seine Schwester ihr Leben
-genoß.
-
-Auch Toni hatte sich eingefunden, um die Doktorskinder samt ihrem
-Besuch zu einer Wagenfahrt abzuholen. Strahlend erzählte sie, ihr Vater
-habe ihr fünf Mark für das Vergnügen geschenkt, und Theobald käme
-gleich in einer Droschke an.
-
-Bei der Spazierfahrt mit den Kindern konnte Christine von dem weichen
-Sitz des Wagens aus bequem die Wunder der Stadt erschauen. Aber so
-schön sie auch waren, ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, zurück
-nach Frau Cimhubers Haus, wo etwas viel Schöneres und Besseres ihrer
-wartete. -- Ihr Enkelkind.
-
-Und nach ihrer Rückkehr aus der Stadt bekam sie das Kind endlich zu
-sehen. An Fräulein Hirts Hand drückte sich Resi schüchtern zur Tür
-herein und stand verwirrt vor ihr.
-
-Der alten Frau liefen die Tränen über das Gesicht, und sie brachte nur
-mühsam die Worte hervor: „Ich bin deine Großmutter, Resi.“
-
-Stumm sah das kleine Mädchen zu ihr auf.
-
-Da nahm Suse sie bei der Hand und sagte strahlend: „Ja, deine
-Großmutter, deine liebe Großmutter, unsere gute Christine. Die haben
-wir alle schrecklich lieb. Sie gehört dir. -- Willst du ein Stück
-Heidelbeerkuchen haben? Den hat Christine uns mitgebracht. Wunderschön
-schmeckt er. Komm, iß. -- Und du besuchst deine Großmutter, gelt? Und
-dann werden wir Freundinnen. Und Christine hat eine weiße Ziege und
-ein kleines Häuschen und viele Blumen im Garten. Das wird dir Freude
-machen, wenn du das alles siehst.“
-
-Aber trotz dieser sprudelnden Rede taute Resi nicht auf, und kein Wort
-ging über ihre Lippen. Nur ganz am Schluß ihres Besuches, als Suse
-sie aufforderte, doch zum Abendessen zu bleiben, schüttelte sie den
-Kopf und sagte ängstlich: „Nein, nein, ich muß fort, ich werde sonst
-gescholten.“
-
-So wurde sie denn entlassen, nachdem sie aber Fräulein Hirt versprochen
-hatte, am andern Tag noch einmal wiederzukommen.
-
-Als Resi fortgegangen, war für Hans endlich der langersehnte Augenblick
-gekommen, an dem er Suse über die geheimnisvollen Dinge zur Rede
-stellen konnte, die sich hinter seinem Rücken abgespielt hatten. Er
-wünschte zu wissen, was für Beziehungen zwischen Christine und dem
-kleinen, fremden Mädchen beständen, und warum man gerade ihn nicht
-eingeweiht habe.
-
-Nichts Angenehmeres konnte Suse widerfahren, als ihn über alles, was
-sich während der Geigenstunde zugetragen hatte, drei lang, drei breit
-aufzuklären.
-
-„Christine schien wirklich froh zu sein, daß sie eine Stütze an mir
-hatte,“ schloß Suse voll Eingebildetheit ihren Bericht. „Ohne mich
-hätte sie Resi sicher nicht so leicht gefunden.“
-
-Sei es nun, daß diese Aufgeblasenheit Hansens Zorn entfachte, oder daß
-ihn das schlechte Betragen von Resis Vater Christine gegenüber wirklich
-empörte, jedenfalls ergriff er plötzlich den ersten besten Stuhl und
-stieß ihn mit einer Gebärde auf, als wolle er ihn seiner vier Beine
-berauben. Dazu rief er: „Den Kopf sollte man ihm abhacken, diesem
-Lumpen, diesem scheußlichen, gemeinen Kerl, diesem Vater von Resi.“
-
-„Sei still, sei doch still,“ mahnte Suse, „man meint ja gerade, du
-seist Herr Schnurr. Nächstens springst du auch hier herum wie von
-Sinnen. Wer benimmt sich denn so ungebildet!“
-
-Etwas später, als Suse zu Bett gegangen war, da kam ihr wieder die
-Begegnung von heute morgen ins Gedächtnis zurück, und die Schamröte
-stieg ihr heiß ins Gesicht.
-
-Sie mußte an die Zeit denken, als Herr Edwin dagewesen war und an ihre
-Vorsätze von damals, dem Missionar nachzueifern und immer nur Gutes
-zu tun. -- Große Taten wollte sie vollbringen -- in fremde Länder
-wollte sie ziehen und unbekannten Menschen helfen. -- Und nun? Ihre
-alte Christine hatte sie verleugnet, die Frau, die, solange sie lebte,
-ihr nur Gutes getan hatte! -- Wie hatte Herr Edwin doch beim Abschied
-gesagt: „Bewahret euch euer reines Herz.“ Da begann Suse laut zu
-schluchzen und schlüpfte unter die Bettdecke. Und bat Gott um Hilfe
-gegen ihr eitles Herz.
-
-Am folgenden Tage rüstete sich Christine zur Abreise. Ihr Gesicht
-strahlte wieder in dem lieben, freundlichen Glanze. Der schwere Gang
-in die Stadt war ihr schließlich doch zum Segen ausgeschlagen. Von all
-den fremden Menschen, die sie hier kennen gelernt hatte, war ihr nur
-Gutes widerfahren. Und was das Schönste war, sie hatte ihr Enkelkind
-wiedergefunden. Es bestand sogar Aussicht, daß sie das kleine Mädchen
-bald für immer zu sich nehmen konnte. --
-
-Fräulein Hirt hatte ihr Hoffnungen darauf gemacht. Mit mütterlich
-beschirmendem Blick hatte Suse ihre Versprechungen angehört und war
-sich fast erwachsen vorgekommen. Wußte sie doch viel mehr als Christine
-und Hans, nämlich, daß Resi mit Gewalt ihren Eltern genommen werden
-würde, weil sie so schlecht behandelt wurde.
-
-Aber Christine sollte davon nichts wissen. Sie sollte leichten Herzens
-in ihre Heimat zurückkehren.
-
-
-
-
-Sechstes Kapitel
-
-Schluß
-
-
-Es war im Winter vor Susens vierzehntem Geburtstag. Das Doktorskind war
-ein großes, schlankes Mädchen geworden, und ihr Haar, das Rosel einst
-mit soviel Geschick in zwei knochenharte, steif abstehende Zöpfchen
-verwandelt hatte, hing ihr jetzt als langer, loser Zopf über den
-Rücken. Heimlich freute sich Suse an dieser leuchtenden Haarpracht,
-aber im Kreise ihrer Freundinnen hütete sie sich wohl, ihre Eitelkeit
-durchblicken zu lassen.
-
-Auch Hans war genau wie sie, lang und rank geworden, und seine
-Jackenärmel waren ihm immer gleich viel zu kurz.
-
-Frau Cimhuber und Ursel waren nun genötigt, zu ihren Pfleglingen
-aufzublicken, nachdem sie noch vor zwei Jahren so erhaben auf sie
-herabgesehen hatten.
-
-Der Pfarrfrau Urteil lautete im allgemeinen über der Kinder Charakter:
-„Gute, liebe Kinder.“
-
-„Zu ausgelassen,“ setzte dann Ursel jedesmal hinzu, „zu ausgelassen.
-Am liebsten sprängen sie über Tisch und Stühle. Immer über Tisch und
-Stühle, vom Morgen bis zum Abend.“
-
-Nun hatte ja allerdings niemand mehr, als gerade die alte Magd, unter
-der Ausgelassenheit der Kinder zu leiden. --
-
-Wie oft geschah es, daß die zwei, als Antwort auf eine von Ursels
-Ermahnungen, die Predigerin ohne viel Federlesens auf ihre zum Sitz
-geschlungenen Hände setzten und mit ihr im Sturmschritt durch das Haus
-rannten! All ihr Schreien, all ihr Wehren nützte der alten Magd nichts.
--- Sie mußte eben aushalten. -- In einer Redeschlacht zog Ursel erst
-recht den Kürzeren, namentlich der mundfertigen Suse gegenüber.
-
-Wenn Ursel etwa anhub: „Zuviel Dummheiten macht ihr, zuviel Dummheiten.
--- Ihr wart eben von jeher zu sehr verwöhnt. Schon im Wickelkissen
-ist es euch zu gut ergangen,“ fiel Suse lachend ein: „Im Wickelkissen
-hat’s jedermann gut. -- Ach, Ursel, wenn Sie jetzt mit einem Schlag im
-Wickelkissen drin säßen! Wie herzig müßte das aussehen!“
-
-„Gräßlich dumm,“ ließ sich Ursel vernehmen. „Aus dir und Hans wird euer
-Lebtag nichts. Ihr habt eben zu viel Dummheiten im Kopf. Der Ernst
-fehlt euch. Ernst ist das Leben.“
-
-„Aber, Ursel,“ rief Suse, „unser Vater sagt doch immer, lieber ein
-bißchen zu übermütig, als die Mundwinkel bis unters Kinn herunterhängen
-lassen. Ganz elend kann es einem werden bei mißvergnügten Menschen.“
-
-„Hm, hm,“ sagte Ursel, „mir scheint, das hast du geträumt, so spricht
-ein ernster Mann nicht.“
-
-„Doch, Ursel, so hat er gesprochen, und erst bei unserem letzten Besuch
-hat er gesagt, er ist sehr zufrieden mit uns. Hören Sie, Ursel, sehr,
-sehr zufrieden mit unserem Lernen.“
-
-„Na, das fehlte auch noch, daß ihr nichts lerntet,“ brauste da Ursel
-auf, „bei dem vielen Schulgeld, das ihr bezahlt, und bei der guten
-Kost, die ihr hier bekommt, und bei der guten Aufsicht, und bei den
-Tausenden von Stunden, die ihr schon auf der Schulbank herumgesessen
-seid. -- Das fehlte auch noch, daß ihr da nichts lerntet.“
-
-„Aber, Ursel, es gibt sogar recht viele Kinder, die trotzdem nichts
-lernen.“
-
-„Was sagst du da?“ rief Ursel empört. „Was sagst du da? Wiederhol’s
-noch einmal, die lernen nichts, meinst du? Na, da sollte ich der
-Schuldirektor von euch sein,“ fuhr sie sich auf die Brust schlagend mit
-rollenden Augen fort. „Da würde ich euch an einem schönen Montag oder
-Dienstag alle miteinander auf die Straße jagen, und eure Schulsäcke
-würde ich obendrein hinter euch herwerfen.“
-
-Suse lachte hell und zog sich dann schnell zurück, da die alte Magd
-Miene machte, einem rachesüchtigen Schuldirektor nachzueifern.
-
-Frau Cimhuber sagte im ganzen wenig zu den Reibereien, die sich
-nicht selten zwischen der alten Magd und den Kindern abspielten. Sie
-wußte, sie vergingen schnell wieder, wie sie gekommen waren, und
-Sonnenschein folgte dem Gewitterregen. Dann kochte Ursel den Kindern
-ihre Leibgerichte und strich ihnen dicke Schichten Zwetschenmus auf
-ihr Brot. „Aha, die Zwetschenmushäfen sind geöffnet, es weht ein guter
-Wind,“ pflegte Suse bei dieser Gelegenheit auszurufen. --
-
-In Ursels Gemüt hatte sich mit der Zeit auch ein heilsamer Umschwung
-zugunsten des Herrn Schnurr, Hansens Geigenlehrer, fühlbar gemacht.
-
-Erst hatte sie nichts als finstern Haß gegen den fremden Eindringling
-verspürt, dann war ein gottergebenes Sichfügen in seine Besuche
-gekommen, hierauf ein vorurteilsloses Betrachten seiner Person, dann
-Nachsicht für sein Tun, Verständnis für seine Lehrweise, und ganz
-zuletzt das Keimen freundschaftlicher Gefühle.
-
-Der Grund zu einer wirklichen Freundschaft zwischen ihr und Herrn
-Schnurr wurde aber gelegt, als dieser gemeinsam mit den Doktorskindern
-zu ihrem sechzigsten Geburtstag eine kleine Feier veranstaltete.
-
-Am Nachmittag ihres Wiegenfestes, als die alte Magd ihre Arbeit in der
-Küche vollendet, ihre Werktagsschürze gegen die seidene Sonntagsschürze
-umgetauscht und ihr Haar noch glätter als sonst gestrichen hatte, wurde
-sie an Susens Arm in die Negerstube geführt, wo Hans mit seiner Geige
-wartete und Herr Schnurr mit verstruweltem Haar am Klavier saß, bereit,
-die Choräle, die er mit Hans zu Ursels Ehre eingeübt hatte, ertönen zu
-lassen.
-
-Auf dem Tisch, über den ein blendend weißes, mit Tannenzweigen
-geschmücktes Tischtuch gebreitet war, lagen die Geschenke für die
-Sechzigjährige ausgebreitet: ein hohes, auf einem Sockel befestigtes
-Alabasterkreuz von Frau Cimhuber, eine Vase mit Immortellen, Ursels
-Lieblingsblumen, ein Geschenk von den Doktorskindern, eine schwarze
-Seidenschürze von der Mutter der beiden und das Bild einer Tänzerin,
-von Herrn Schnurr gestiftet.
-
-Leider hatte er es mit dem richtigen verwechselt, dem Bilde
-Melanchtons, das seine Frau daheim los sein wollte.
-
-Geistesabwesend, wie Herr Schnurr war, hatte er das erste beste
-Paketchen ergriffen und war damit davongegangen. Sein Irrtum störte
-aber die Feier nicht.
-
-Ursel nahm, die Hände gefaltet, auf einem mit Tannengrün geschmückten
-Stuhl Platz und erwartete die Huldigungen. Auf ein Zeichen von Herrn
-Schnurr ergriff Hans die Geige, und unter Violin- und Klavierspiel
-erklangen die schönsten Choräle: „Wer nur den lieben Gott läßt walten.“
--- „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ -- „Harre, meine Seele.“ --
-„Befiehl du deine Wege.“ -- Und noch eine Menge andere Lieder.
-
-Eine feierliche, erhebende Stille herrschte in der Negerstube. Ursel
-saß nickend und mit einem weltentrückten Ausdruck auf ihrem Stuhl, und
-vor ihrem Geist zogen all die schweren Jahre ihres Lebens vorüber, in
-denen sie nur Mühe Und Arbeit gehabt und sich zufrieden gefühlt, wenn
-sie am Sonntag mit einer schwarzen Schürze vor dem Tisch in der Küche
-hatte sitzen können, das Gesangbuch offen vor sich und in den Liedern
-Kraft findend. -- Die Tränen liefen ihr in den Schoß.
-
-Auf ihren besonderen Wunsch spielten die beiden Musikanten zum Schluß
-noch ihr Lieblingslied: „Wenn ich einmal soll scheiden.“ -- Man hätte
-meinen können, Ursel selbst werde zu Grabe getragen, so ernst und dumpf
-klang die Weise. Sogar Suse konnte die Tränen nicht zurückhalten, was
-Ursel nicht ohne Genugtuung bemerkte. --
-
-Seit jenem Tage nun konnte die alte Magd Herrn Schnurr nicht mehr die
-Tür öffnen, ohne an ihre schöne Geburtstagsfeier zu denken.
-
-„Ja, damals haben Sie sehr schön gespielt,“ sagte sie öfters zu ihm,
-und nickte lebhaft, „oh, so schön.“
-
-„Ja, das macht die Kunst,“ erwiderte Herr Schnurr, indem er den
-Zeigefinger so steil nach oben hob, daß Ursel seiner Richtung folgte.
-
-„Die Kunst, die hebt uns nach oben.“
-
-Ursel nickte beifällig.
-
-Allerdings, die Kunst in der Negerstube, die sich in wilden Sprüngen,
-in einem Trommeln auf Tisch und Stühlen anzeigte, die behagte ihr noch
-immer nicht.
-
-Deshalb konnte sie trotz ihres Wohlwollens für den Lehrer es nicht
-unterlassen, ihr Ohr an die Tür der Negerstube zu legen, wenn er drin
-sein Wesen trieb. Und das war schlimm, erfuhr sie auf diese Weise doch
-allerlei, was im Grunde nicht für sie bestimmt war. -- Herr Schnurr,
-der sich in der ersten Zeit seines Amtsantrittes Hans gegenüber als
-finsterer und gestrenger Lehrer gezeigt, hatte mit der Zeit geruht, den
-Knaben zum Freunde zu erwählen. Es war ein merkwürdiges Verhältnis.
-Herr Schnurr erzählte, und Hans hörte mit offenem Mund und offenen
-Augen zu.
-
-Da kamen Bekenntnisse aus des Lehrers schweren Wanderjahren, als er in
-einer größeren Musiktruppe von Ort zu Ort gezogen war. Viel Lug und
-Trug habe er gesehen, aber ein ehrlicher, rechtschaffener Mensch sei er
-doch immer geblieben, erwähnte er stets aufs neue. -- „Rechtschaffen
-müsse der Mensch sein, vor allen Dingen rechtschaffen...“ Auch seine
-häuslichen Sorgen enthielt der Lehrer dem Schüler nicht vor, und dem
-fuhr kein übler Schreck in die Glieder, als er seinen Geigenmeister
-eines Tages in jämmerlichen Tönen von mißratenem Essen erzählen hörte,
-das ihm täglich vorgesetzt werde, von unordentlichen Stuben, in denen
-er sich herumtreiben müsse, und in die er Samstags mit Galoschen an
-den Füßen und einem Besen und Eimer in der Hand eindringe, um eine
-rauschende Sintflut darüber niedergehen zu lassen. Immer beklommener
-wurde es Hans bei diesem Geständnis, und schließlich, als er Herrn
-Schnurr Trost zusprechen wollte, stotterte er verlegen: „Herr Schnurr,
-können Sie sich nicht eine Magd nehmen, wie Ursel, oder unser Rosel
-daheim, wenn Ihre Frau Gemahlin die Haushaltung nicht versteht.“
-
-„Eine Magd!“
-
-Etwas Dümmeres hätte Hans nicht sagen können.
-
-„Was soll ich nehmen?“ rief Herr Schnurr und machte einen Sprung
-rückwärts vor Entrüstung.
-
-Hans hätte vor Schreck fast die Geige hingeworfen.
-
-„Was soll ich nehmen, eine Magd? Was soll denn die essen, wenn wir
-selbst am Hungertuch nagen? Oh, du einfältiger Gockel, komm jetzt her
-und spiele deine Tonleiter, das ist besser, als deine Weisheitssprüche
-Salomonis da herunterzulispeln, unpraktischer Held.“
-
-Und Hans tat, wie ihm gesagt worden war, und atmete dreimal tief auf,
-als er den tüchtigen Lehrer wieder sein Handwerkszeug ergreifen und in
-gemäßigte Bahnen zurückkehren sah.
-
-Ursel aber, die Herrn Schnurrs Beichte mit angehört hatte, überlegte,
-ob sie sich nicht augenblicks in die Negerstube zwängen und dem Lehrer
-eine gesalzene Botschaft an seine pflichtvergessene Gattin daheim
-mitgeben solle.
-
-„Lieber nicht,“ sagte sie sich aber voll Klugheit.
-
-Indes sein häusliches Elend ließ ihr keine Ruh, und viel, viel später,
-Anfang des Frühjahrs, da mischte sie sich endlich doch einmal in seine
-Verhältnisse. Allerdings geschah es auf eine recht barmherzige und
-christliche Weise.
-
-„Bringen Sie mir mal Ihre Strümpfe mit, Herr Schnurr,“ sagte sie, als
-sie ihn über sein zerrissenes Zeug klagen hörte. „Ihre Frau stopft sie
-ja doch nicht. Für mich ist das eine Kleinigkeit, und aus Dankbarkeit
-tu ich’s gern.“
-
-Suse, die zufällig hinhorchte, war erstaunt. Sie lachte belustigt.
-Ursel und Herr Schnurr gut Freund! Das war ein Spaß.
-
-Rasch entschloß sie sich, es ihrer Vertrauten, der schwarzen Carla
-mitzuteilen, die mit der Zeit ihre beste Freundin geworden war. Da die
-Herzensgenossin, die häufig leidend war, augenblicklich zur Pflege
-ihrer Gesundheit im Süden weilte, schrieb ihr Suse die längsten Briefe.
-Carla mußte von all den bunten Ereignissen im Cimhuberschen Haus
-unterrichtet werden. Leichtsinnig und unüberlegt pflegte Suse drauf los
-zu plaudern, und genau wie beim Reden, was immer ihr durch den Kopf
-schoß, sofort auszusprechen. So schrieb sie denn an dem Brief, an dem
-sie gerade angefangen hatte, weiter.
-
-„Du erkundigst Dich nach Theobald, liebe Karla, er ist lange nicht
-mehr derselbe gräßliche Geck wie früher, obwohl er noch immer große
-Volksreden hält. Onkel Fritzens Heirat war sein Glück. Sein Vater
-meinte es auch. Er findet, Onkel Fritz hat seinem Sohn nur lauter
-Raupen in den Kopf gesetzt.
-
-Nun frägst Du auch nach Ursel und Herrn Schnurr. Zwischen diesen
-besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets vervollkommnende
-Freundschaft, ein unaustilgbarer Herzensbund. Nächstens geben sie sich
-einen Kuß. Wie die Verlobten sind sie. Wie Braut und Bräutigam. Denke
-Dir, Ursel will sogar dem Herrn Schnurr die Strümpfe stopfen! Jedesmal,
-wenn er erscheint, lächelt sie ihn an, süß wie ein Honighafen. Und
-immer horcht sie an der Negerstube, wenn drin seine süße Stimme
-erschallt, damit sie jedes Wörtlein von ihm aufschnappt.“
-
-Und dieser Brief voll leichtsinniger, loser Redensarten sollte die
-schlimmsten Folgen haben.
-
-Es fügte sich nämlich, daß Suse während des schriftlichen Ausbruches
-ihrer buntschillernden Geistesraketen von ihrer Freundin Grete
-überrascht und zu einem Spaziergang abgeholt wurde.
-
-Kurz entschlossen packte die Schreiberin den unvollendeten Brief
-nebst ihrem Tagebuch in das Bett, das neben ihrem Tisch stand, da
-jenes ihr heute als sehr gutes Versteck erschien, alldieweil Hans den
-Kommodenschlüssel mitgenommen hatte und sie nicht an den eigentlichen
-Aufbewahrungsort ihrer Schreibsachen -- die Kommodenschublade --
-gelangen konnte.
-
-Frohgemut nahm sie hierauf von Frau Cimhuber und Ursel Abschied und
-ging von dannen.
-
-„Bleib nicht zu lange,“ rief Ursel ihr nach, „du weißt, wir haben große
-Wäsche, und du sollst mir helfen.“
-
-„In anderthalb Stunden bin ich wieder da,“ tönte es zurück.
-
-Klar wie der Himmel, der sich hoch über ihr wölbte, war es Suse zu
-Sinn, und munter schritt sie fürbaß.
-
-Daheim ging inzwischen Ursel ihrer Beschäftigung nach und brummte
-allerlei mißmutige Worte vor sich hin. Die Arbeit häufte sich für sie.
-Je weiter die Zeit vorschritt, um so mürrischer wurde sie deshalb.
-
-Sonntag war Susens Geburtstag, den sie eingedenk des eigenen genossenen
-Festtages recht schön gestaltet wissen wollte. Aber die Vorbereitungen
-gingen nicht von der Stelle. Die Tannenzweige zum Ausschmücken von
-Susens Stube lagen noch immer im Gang. -- Suse blieb auch lang über
-die Zeit weg und dachte nicht an ihre Arbeit. Dabei sollte sie im
-ganzen Haus die Bettbezüge abnehmen, die Kissen mit neuen Leinen
-bekleiden und die schmutzige Wäsche Ursel an das Waschfaß bringen. --
-Indessen, das flatterhafte Doktorskind hielt es für besser, im lichten
-Frühlingswäldchen vor der Stadt spazieren zu gehen.
-
-Als nahezu drei Stunden seit ihrem Fortgang verstrichen waren und
-noch keine Spur von ihr zu entdecken war, machte sich Ursel selbst an
-die Arbeit, die sie dem jungen Mädchen zugedacht hatte. Schlürfenden
-Schrittes ging sie von einem Bett zum andern und nahm die Bezüge ab. So
-kam sie schließlich auch an Susens Lagerstatt, in der, verhängnisvoll
-wie ein Geschenk aus der Büchse der Pandora, der leichtsinnige Brief
-schlummerte. Seufzend trat sie an das Bett. Jetzt breitete sie ihre
-mageren Arme aus, um das Deckbett zu heben. -- Hätte sich in diesem
-Augenblick die Tür geöffnet und Suse sich gezeigt, so wäre alles noch
-zu retten gewesen. -- Aber die Übeltäterin war ja weit. Zorniger als
-bei den ersten Betten zog Ursel an Susens Leinenbezug, schleuderte ihn
-in die Höhe und riß ihn zu sich heran in die Stube. Polternd fiel etwas
-Schweres hinterher. Ursel bückte sich und hob ein Buch und einen Brief
-auf.
-
-„Unordnung, Unordnung,“ murmelte sie. „Wozu ist denn die Kommode da?
-Aber das wird alles hingestopft, wo es gerade hingeht.“
-
-Vielleicht hätte nun die alte Magd den Brief ungelesen zur Seite
-gelegt, wenn nicht auf dem ersten Blatt, nahe seinem untern Rande ein
-großer Tintenklecks gewesen wäre, der ihre Blicke auf sich gezogen
-hätte. Ganz mechanisch griff sie danach und prüfte, ob er auch trocken
-sei. Und da legte sie ihren Finger mitten auf ihren eigenen Namen.
-Ursel stand dort, dick und groß geschrieben. -- „Ursel.“ -- Sie sah
-näher hin. Ja, es hieß Ursel. Sie hielt den Brief dichter vor ihre
-Augen. Wahrhaftig, es war ihr Name. Ursel, Ursel stand dort.
-
-Und nun begann sie zu lesen, und ihr Gesicht wurde immer länger. Sie
-glaubte schließlich, sie sei nicht mehr recht bei Verstand.
-
-„Du erkundigst dich nach Ursel und Herrn Schnurr,“ stand dort.
-„Zwischen diesen besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets
-vervollkommnende Freundschaft..., ein unaustilgbarer Herzensbund.
-Nächstens geben sie sich einen Kuß... Wie die Verlobten sind sie, wie
-Braut und Bräutigam.“ Ursel konnte nicht mehr weiter lesen. Träumte sie
-denn, ging denn die Welt unter?
-
-Nein, nein, da stand klar und deutlich, „nächstens geben sie sich einen
-Kuß, wie die Verlobten sind sie. Wenn er erscheint, lächelt sie ihn an,
-süß wie ein Honighafen.“
-
-Das war zuviel. Stöhnend sank Ursel auf Susens Bett.
-
-Das war die Schändlichkeit in ihrer höchsten Vollendung! Das war der
-Gipfel der Erbsünde! Das war schlecht, schlecht, erbärmlich! Das war
-höllisches Gift!
-
-Ursel faßte sich an den Kopf.
-
-In diesem Augenblick klingelte es, und die alte Frau, in dem Wahne,
-Suse komme, sprang mit Brief und Buch in die Höhe auf den Flur und
-öffnete die Tür, um die Sünderin zu packen und zu richten.
-
-Der Einlaß Begehrende, der draußen stand, war aber nicht Suse, sondern
-der unschuldige Knabe Hans, der einen großen Sprung rückwärts tat, als
-er Ursels zornfunkelndes Gesicht vor sich sah.
-
-„Heilige Maria und Joseph, was ist denn los!“ rief er. „Sie blasen mich
-ja um, Ursel, Sie blasen mich um.“
-
-„Soll ich vielleicht noch nicht mal mehr blasen?“ schrie Ursel.
-„Unverschämter Bub! Hinter die Ohren will ich dir eins geben! Was los
-ist, willst du wissen? Hier, hier steht, was deine saubere Schwester
-von mir geschrieben hat. ‚Wie Braut und Bräutigam sind sie, wie die
-Verlobten küssen sie sich, sie stopft Herrn Schnurr seine Strümpfe,
-sie lächelt ihn wie ein Honighafen an.‘ -- Willst du’s hören, willst
-du’s hören?“ Und die alte Magd drückte ihm das Tagebuch mitsamt dem
-Brief so fest gegen das Gesicht, daß er kaum imstande war, zu atmen,
-geschweige denn ein Wörtlein zu piepsen.
-
-Nur ein eiskalter Schreck schoß ihm durchs Gebein. -- Er wußte, nun war
-Susens Geburtstag verdorben.
-
-„Wo, wo, wo haben Sie denn das gefunden?“ stotterte er.
-
-„Wo, wo, wo! Ei, da, wo’s lag. Und jetzt kommt’s in den Herd.“
-
-Und mit diesen erregten Worten eilte die alte Magd an Hans und Frau
-Cimhuber vorüber, die seit dem ersten Entsetzensschrei ihrer alten
-Dienerin bestürzt herbeigekommen und nicht mehr gewichen, sondern
-händeringend gefolgt war.
-
-Ursel nahm ihren Weg in die Küche. Dort riß sie die eisernen Herdringe
-zur Seite, und mit einem Schwung lagen Brief und Tagebuch im Feuer.
-
-„Halt, halt,“ rief Hans, „halt, halt,“ faßte in die Glut und zog das
-versengte Tagebuch wieder heraus.
-
-Nun stürzte die alte Magd auf den Knaben zu, um ihm den Schatz zu
-entreißen, und eine tolle Jagd um den Tisch herum hub an. Ursel
-sprang hinter Hans her wie der Hund hinter dem Wild. Jetzt hatte sie
-ihn beinahe gepackt, da war er um die Tischecke herum, und sie schoß
-geradeaus gegen die Tür.
-
-Dann war sie wieder hinter ihm und riß im Laufen einen irdenen Topf vom
-Tisch herunter, der polternd auf den Boden stürzte. Da brach Hans in
-lautes Lachen aus, so lustig fand er das Spiel.
-
-Hierauf ging Ursel stumm hinaus.
-
-Aber es währte nicht lange, Hans stand noch immer auf derselben Stelle
-wie vorhin und schnappte nach Luft, da öffnete sich die Tür wieder, und
-Ursel kam zum Vorschein und trug eine große Pappschachtel schweigend
-vor sich her.
-
-„Sie will fort,“ durchschoß es Hansens verängstigtes Gemüt. -- „Jetzt
-packt sie.“
-
-Aber vor seinen erstaunten Augen löste die alte Magd die Schnüre
-der Schachtel und entnahm ihr ein schwarzes Kaschmirkleid, einen
-Orangeblütenkranz und einen Schleier, indem sie mit Tränen im Auge
-sagte: „Da ist mein Brautkleid und mein Schleier und mein Kranz, und
-bei Königgrätz ist mein Bräutigam gefallen. Und mein ganzes Leben lang
-bin ich ihm treu geblieben. Und hier ist seine Photographie. Und nun
-muß ich auf meine alten Tage soviel Schande erleben.“
-
-Hans wurde es ganz schwarz vor den Augen bei dieser Beichte und so
-beklommen und elend zu Sinn, als habe er selbst auf Ursels Bräutigam
-die Todeskugel abgefeuert. Was sollte er nur sagen! Was sollte er nur
-sagen!
-
-„Aber Ursel, das ist ja doch nicht Susens Ernst, das ist doch Spaß,“
-stotterte er schließlich.
-
-Noch hatte er seine Worte nicht ausgesprochen, da klingelte es
-wiederum, und allen dreien fuhr es wie ein Schlag durch den Sinn, daß
-jetzt Herr Schnurr zur Stunde komme.
-
-„Er bleibt draußen,“ rief Ursel mit halberstickter Stimme. „Ich will
-ihn nicht sehen. Er soll mir nicht mehr vor die Augen kommen.“
-
-Frau Cimhuber war so verwirrt von den Ereignissen der letzten
-Viertelstunde, daß sie nicht mehr recht wußte, was sie tat und selbst
-zur Türe ging, um Herrn Schnurr abzuweisen und zwar mit einer Lüge, der
-ersten, die sie seit Jahren über die Lippen brachte. Aber die Sorge um
-Ursel machte selbst ihre Grundsätze wankend.
-
-„Hans ist krank,“ sagte sie leise.
-
-Kaum hatte der Lehrer das Wort „krank“ vernommen, so bestand er erst
-recht darauf, seinen Schüler zu sehen und trat, Frau Cimhuber sanft auf
-die Seite schiebend, in den Gang. Als er an der Küchentür vorüberging,
-erspähte er Ursel, die dort vor ihrem Brautstaat tränenden Auges stand.
-Den Finger schalkhaft erhebend, meinte er: „Na, na, Ursel. -- Sie
-werden doch nicht. -- Ein schwerer Schritt das Heiraten! Da heißt’s
-überlegen.“
-
-Hier fielen seine Blicke auf Hans, der wie ein verschämter Bräutigam
-errötend hinter Ursel stand. Und kurz entschlossen nahm er ihn am Arm
-und führte ihn mit sich fort.
-
-Nach Herrn Schnurrs wilden Ausrufen und dem Schall seiner Schritte, die
-aus der Negerstube drangen, konnte man erkennen, wie eifrig er bei der
-Sache war. --
-
-Der temperamentvolle Lehrer war schon längst wieder von dannen gezogen,
-da kam endlich die Ausreißerin Suse nach Hause.
-
-Wie ein gezackter Gebirgsstock, über dem ein schwarzes Wetter steht,
-kam ihr Ursels Gesicht bei der Begrüßung vor. Und in dem Glauben, die
-Ursache von soviel finsterem Groll zu kennen, begann sie schmeichelnd:
-„Bitte, bitte, liebe Ursel, entschuldigen Sie, daß ich so lange fort
-war, seien Sie mir, bitte, nicht böse. Ich werde ihnen jetzt mit neuen
-Kräften helfen wie eine Scheuerfrau. Es ging einfach nicht, daß ich
-früher kam. Wir haben eine unserer Lehrerinnen getroffen, die wir so
-gerne haben, und sie nahm uns mit in den Wald und zeigte uns Plätze,
-wo schöne Anemonen stehen, herrlich! Ursel, es ist so herrlich, in
-das Pflanzenleben einzudringen, dies Wachsen und Blühen und Gedeihen.
-Überhaupt das ganze Pflanzenleben. Wie schön ist doch die Natur!“
-
-Ursel verzog keine Miene.
-
-Suse schwärmte weiter: „Sehen Sie, ich habe Frau Cimhuber einen ganzen
-Arm voll Blumen mitgebracht. Wie ein Frühlingsgarten wird’s bei uns
-sein. Ursel, der Vorfrühling ist gekommen. Man spürt’s. Und der Kuckuck
-ruft. -- Und der Waldesduft, und das Moos...“
-
-Ursel blieb stumm wie das Grab. Eine dicke Hornhaut schien sich über
-ihr Gemüt gelegt zu haben; über die eindruckslos wie Zephyrfächeln über
-Felsgestein Susens Schmeichelworte hinstrichen.
-
-Da beschloß das Doktorskind, die alte Magd nicht mehr durch Worte,
-sondern durch Taten zu versöhnen, und sie ging von dannen, um sich eine
-große Schürze vorzubinden und Arbeit zu suchen.
-
-Zu ihrem Erstaunen erwiderte aber auch Frau Cimhuber, die eben in die
-Küche trat, ihren Gruß nur mit knappem Dank.
-
-„Wie auf einem Geisterschiff,“ murmelte das Doktorskind leise vor sich
-hin, als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.
-
-„Komm nur herein, komm nur herein!“ tönte es ihr dort aus dem
-Hintergrund entgegen. „Was Gutes hast du angerichtet! Was Sauberes!
-Einen feinen Salat, den wir jetzt zusammen ausgrasen können!“
-
-Und in die Stube tretend, sah sie ihren Bruder auf Zehenspitzen
-umherlaufen, während er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte
-und beschwichtigende Bewegungen machte.
-
-„Es hat zwölf geschlagen, es hat zwölf geschlagen,“ rief er. „So was
-haben wir noch nie erlebt, noch nie.“
-
-„Was ist denn los?“ fragte Suse. „Was ist geschehen? Was läufst du denn
-so närrisch da herum?“
-
-„Schau,“ sagte Hans und deutete mit ausgestreckter Hand auf Susens
-Bett, „guck, dann weißt du alles.“
-
-Suse folgte mit ihren Augen der Richtung seines Fingers, stieß dann
-einen lauten Schreckensruf aus und ließ sämtliche Anemonen zu Boden
-fallen, so daß sie mit verwirrten Köpfchen und Stielen dort lagen, wie
-vom Sturmwind zerwühlt.
-
-„Wer hat das Bett abgezogen?“ stotterte Suse.
-
-„Ursel.“
-
-„Und meinen ganzen Brief hat sie gelesen?“
-
-„Ja.“
-
-„Alles, was ich zusammengeschmiert habe von Braut und Bräutigam und
-Verlobtsein und Küssen und herrlicher Freundschaft und Herrn Schnurr
-und gestopften Strümpfen und all das dumme Zeug?“
-
-„Ja, von A bis Z.“
-
-„Und schlecht ist mir’s noch,“ fuhr Hans fort, „wenn ich nur daran
-denke, wie sie gejammert hat. Und ihr Brautkleid in einer Lade hat sie
-hinterher geholt und hat drauf geweint. Entsetzlich!“
-
-„Aber eine so alte Frau kann sich doch ihr Lebtag nicht in einen solch
-jungen Mann wie Herrn Schnurr verlieben,“ jammerte Suse, ihr Gesicht in
-den Händen vergrabend und laut weinend. „Da lachen ja die Hühner. Sie
-muß doch wissen, daß es nur Unsinn war.“ --
-
-„Nun ist alles, alles aus, mein ganzer Geburtstag. Und nie in meinem
-ganzen Leben hab’ ich mich so auf einen Geburtstag gefreut, wie auf
-diesen. Gelt Hans, nun ist alles verloren?“
-
-Der Bruder nickte begossen.
-
-„Was wolltet ihr denn eigentlich anfangen an meinem Geburtstag?“ fragte
-Suse nach einer Weile, in Tränen zerfließend.
-
-„Ich kann dir’s jetzt ja sagen,“ entgegnete Hans zage, „denn aus ist’s
-ja doch. -- Die Papierschlangen und Lampions sind bereits wieder zu
-Pastor Brauers zurückgeschickt worden, die sie uns geliehen hatten.
-Wir hatten dir herrliche, dreistimmige Lieder eingeübt, Herr Schnurr,
-Ursel und ich. Herr Schnurr ist zuweilen fast aus der Haut gefahren,
-so falsch hat Ursel gesungen. Aber schließlich hat sie’s doch kapiert.
-Und zur Dankbarkeit für Herrn Schnurrs Bemühungen wollte sie ihm die
-Strümpfe stopfen. Dann beabsichtigten wir, dir noch eine wunderbare
-Laube aufzubauen, von Tannenzweigen und Papierschlangen, und die ganze
-Negerstube abends mit Lampions zu erleuchten, zu singen und zu tanzen.“
-
-Susens Tränen flossen reichlicher bei dem Gedanken an den prunkvollen
-Ehrensitz, um den sie sich durch ihren Leichtsinn gebracht hatte.
-Hans aber fuhr fort: „Außerdem wollten Christoph und Henner mit ihrem
-Kasperletheater ankommen und ein selbsterfundenes Stück vorspielen. Es
-heißt: „Wie die Fremdlinge die Kühe melken.“ Und das darf ich nicht
-vergessen, Ursel wollte sich eine ganze Marzipantorte von einem halben
-Meter Durchmesser abzwacken. Das ist nun alles Essig. -- Ich glaub’,
-sie wollen jetzt sogar der Mutter abschreiben, daß sie nicht kommt.“
-
-„Die Mutter wollte kommen?“ rief Suse aufspringend. „Die Mutter? Seit
-wann wollte sie denn kommen? Seit wann? Sag’ Hans, seit wann? Gelt, das
-ist meine Überraschung von daheim?“
-
-„Ach, ich dummer Papagei,“ rief Hans, sich mit beiden Händen an den
-Mund fassend. „Das ist mir jetzt herausgewitscht. Ich weiß nichts, ich
-weiß nichts. Ob sie kommt, ob sie nicht kommt, frag’ mich nicht.“
-
-Suse erhob sich langsam, sammelte ihre Blumen vom Boden auf und ordnete
-sie zierlich. Köpfchen neben Köpfchen, und Stiel neben Stiel, und
-steckte sie, mit Tränen benetzt, in eine Vase.
-
-Eigentlich waren die Anemonen für Frau Cimhuber bestimmt gewesen, aber
-wie hätte sie es unter diesen Umständen gewagt, der Pfarrfrau Blumen
-anzubieten.
-
-Nach einer Weile schlich sich Hans in die Küche, um dort zu sehen,
-wie der Wind wehe. Aber schneller, als Suse gedacht, kehrte er wieder
-zurück und flüsterte: „Ursel sitzt noch immer, in Tränen gebadet, auf
-ihrem Stuhl und hat die Schachtel mit dem Brautkleid offen vor sich
-stehen.“
-
-Susens Herz klopfte schuldbewußt. Und der Abend verlief in gedrückter
-Stimmung. Nur Hans fühlte, obwohl von Mitleid für Suse ergriffen,
-wie sich ein kleiner Freudefunken in seinem Herzen rührte, der immer
-lebhafter wurde, so daß er ihn schließlich herausspringen lassen mußte.
-
-„Bin ein fahrender Gesell, kenne keine Sorgen,“ tönte es erst leise,
-dann immer lauter werdend von seinen Lippen, „labt mich heut der
-Felsenquell, tut es Rheinwein morgen...“
-
-Morgen ging es ja fort von hier, fort, hinaus in die köstliche
-Freiheit, in die Berge, wo der frische Wind wehte. Mit Theobald und
-Peter und einigen andern Knaben hatte er eine Wanderung verabredet. --
-
-Zwei Tage war ja keine Schule des Examens wegen. -- Seine Brust dehnte
-sich, und seine Augen leuchteten, und sein Gesicht rötete sich, und mit
-einemmal stieß er einen solch durchdringenden Jauchzer aus, daß Ursel
-und Frau Cimhuber in der Küche zusammenflogen.
-
-Schnell erinnerte er sich aber wieder an die unheimlichen
-Nachtgespenster, die zurzeit im Cimhuberschen Haus umgingen, und er
-schwieg.
-
-Behutsam holte er seinen Rucksack von der Wand herunter, schnürte
-ihn auf und packte alle möglichen Dinge ein, die er zur Wanderschaft
-brauchte: Strümpfe, Wäsche, Nähzeug, auch Brot in einen Beutel und
-Suppenwürfel. Dann nähte er sich die grüne Schnur, die von seinem
-Lodenhut abgerissen war, wieder kunstgerecht fest und erzählte Suse
-dabei allerlei von seinen Wanderplänen. -- Die erste Nacht gedachten
-Theobald, Peter und er in einem größeren Ort, Wildershausen, zu
-übernachten. -- Wie Suse sich vielleicht noch entsinne, meinte der
-Bruder, habe der Vater diesen Ort in seinem Brief ein- oder zweimal
-erwähnt, und zwar mit dem Vermerk, Hans solle das Städtchen auf
-seiner Wanderung doch einmal aufsuchen und ihm dann schreiben, wie
-es ihm gefallen habe. -- Weshalb der Vater das wissen wolle, sei ihm
-allerdings nicht klar. --
-
-„Ach, könnt’ ich doch nur mit, ach, könnt’ ich doch nur mit,“ seufzte
-Suse.
-
-„Sei nicht traurig,“ tröstete Hans, „Samstag abend komme ich ganz
-bestimmt wieder, und wenn Ursel uns nicht haben will, so wird dein
-Geburtstag eben bei Tante Hedi gefeiert. Ich werde schon dafür sorgen.
-Das Theaterstück bekommst du auf alle Fälle zu sehen. Es ist, um an
-den Wänden heraufzukrabbeln vor Lachen. Solche verrückten Dinge, wie
-drin vorkommen, hast du noch nie gesehen. Die Reden für das Kasperle
-hat Theobald gedichtet.“
-
-Hier holte Hans seine nägelbeschlagenen Gebirgsschuhe aus dem Schrank
-hervor und beschloß, sie in die Küche zu tragen und dort einzufetten.
-
-„Heute muß ich acht geben, daß ich keinen einzigen Spritzer Öl
-vorbeitröpfeln lasse,“ flüsterte er Suse zu, als er zur Türe
-hinausging, „sonst schlägt mir Ursel die Hasenpfoten um die Ohren, die
-ich ihr neulich eigenhändig zum Schuheinschmieren gestiftet habe.“
-
-Etwas später suchte Suse Frau Cimhuber auf, um sie zu bitten, doch den
-dummen Brief zu entschuldigen und ein Wörtlein zu ihren Gunsten bei
-Ursel einzulegen. Aber die Pfarrfrau sagte streng: „Selbst im Spaß
-schreibt man keine solch’ dummen Verleumdungen, wie du es getan hast,
-Suse. Ich verstehe Ursels Empörung vollständig. Wenn sich zwei junge
-Mädchen weiter nichts zu schreiben haben als Narrheiten wie ihr, dann
-geben sie das Briefschreiben besser ganz auf.“
-
-„Wir schreiben uns doch auch noch andere Sachen,“ entgegnete Suse
-kleinlaut.
-
-„Herrliche Naturbeschreibungen stehen manchmal in unseren Briefen,
-und noch andere, viel, viel ernstere Dinge, von denen ich nicht reden
-darf, so ernst sind sie. Über manchen Brief von Karla hab’ ich schon
-geweint. Wir schreiben uns nämlich zurzeit gerade darüber, daß wir uns
-später einen Beruf erwählen wollen, in dem wir recht viel zum Glück
-der Menschheit beitragen. Ich habe in diesen Tagen auch schon an Herrn
-Edwin deshalb geschrieben.“
-
-Aber Frau Cimhuber war nicht umzustimmen. Und Ursel verschloß ihr Gemüt
-erst recht.
-
-Sie antwortete nicht. Sie seufzte nicht. Sie war ein Fels geworden. Sie
-deckte den Tisch auf wie eine Salzsäule. Sie deckte ihn wieder ab. Sie
-räusperte sich noch nicht einmal. Und das Brautkleid lag noch immer in
-der Küche und quälte Suse durch seinen Anblick. --
-
-Am andern Morgen in aller Herrgottsfrühe, als die andern noch
-schliefen, machte sich Hans dann auf die Wanderung.
-
-Nun war Suse allein. Trübselige Tage folgten. Die Welt erschien ihr wie
-ein Grab. Kein Kuchen-, kein Schokoladeduft verkündete ihr, daß ein
-Umschwung zu ihren Gunsten eingetreten sei. Die Kuchenbleche blieben
-unangetastet an der Wand hängen, die Rosinen ruhten in ihrer Tüte,
-die Vanillestangen in ihrer Büchse. Es roch nach Negerstube, nach
-Schmierseife, nach den altbekannten Düften des Cimhuberschen Hauses,
-nach nichts anderem.
-
-Endlich, endlich kam der Samstagabend heran, und mit ihm das Ende ihrer
-Qual, wie Suse hoffte. Heute mußte Hans ja wiederkommen. Er hatte es
-versprochen. Und vielleicht auch, vielleicht auch -- die Mutter. Ganz
-auszudenken wagte Suse diesen herrlichen Gedanken nicht. Als es aber
-Abend war, lief sie zum Zug, der aus ihrer Heimat kam, um die Mutter in
-Empfang zu nehmen. Doch umsonst.
-
-Auch Hans kam nicht.
-
-Den ganzen Abend wartete sie vergebens auf ihn. Es schlug zehn, es
-schlug elf, es ging auf Mitternacht. Er kam immer noch nicht. Müde und
-verängstigt suchte sie da ihr Bett auf. Erst spät fand sie den Schlaf.
-
-Der erste Gedanke, der Suse am andern Morgen beim Erwachen durchfuhr,
-war der an ihren Geburtstag. Vierzehn Jahre war sie heute alt. Vierzehn
-Jahre! Es war ein Sonntag heute. Die strahlende Sonne lachte über die
-ganze Welt. Die Anemonen am Fenster hatten ihre Kelche weit geöffnet
-und fingen das helle Licht in ihrem kleinen Blütentellerchen auf.
-
-Die Uhr sagte Suse, daß es schon sehr spät sei. Schon neun Uhr.
-
-Nicht wie sonst hatte Ursel sie um sieben geweckt, damit sie zur Kirche
-gehe. Sie hatte sie schlafen lassen. Kein Laut regte sich im Haus.
-Totenstill war es, als wären Ursel und Frau Cimhuber gestorben. Auch
-Hans war nicht gekommen. Suse schlüpfte unter die Decke und machte
-die Augen zu. Am liebsten wäre sie in einen hundertjährigen Schlaf
-verfallen. Aber wie das anfangen.
-
-Es blieb ihr nichts anderes übrig als aufzustehen, sich anzuziehen und
-Frau Cimhuber und Ursel, die aus der Kirche kamen, zu begrüßen und
-nachzusehen, wie der Wind heute wehe. -- Die Geburtstagswünsche fielen
-mager genug aus. Und als Suse heimlich den Tisch in der Negerstube
-betrachtete, auf dem sonst die Geschenke ausgebreitet lagen, sah sie,
-daß er leer war wie eine frischgemähte Wiese. Keine einzige Gabe
-schmückte ihn. Noch nicht einmal ein Brief aus der Heimat war zu
-sehen. Wüstenartig öde kam Suse die Welt vor. Auch kein Kuchen war in
-der Speisekammer zu entdecken, wohin Suse ihre Streifzüge ausdehnte.
-Und als sie ihre Pflegemutter schüchtern fragte, was aus ihrer
-Nachmittagseinladung werden solle, wurde ihr der betrübende Bescheid,
-daß diese unter den obwaltenden Umständen natürlich unterbleiben müsse.
-So fiel Suse denn die recht beschämende, peinliche Aufgabe zu, ihre
-sämtlichen Gäste wieder auszuladen.
-
-Auf ihrer Morgenwanderung kam sie auch in das Haus von Onkel Sepp und
-Tante Hedi und fand hier die ganze Bewohnerschaft in großer Aufregung.
-
-Theobald war genau wie Hans am gestrigen Abend nicht zurückgekehrt,
-und hatte auch kein Wort der Entschuldigung geschickt. Hingegen war ein
-Trupp ihm befreundeter Knaben, die auf einer Wanderschaft begriffen
-waren, aus einer entfernten Stadt eingetroffen, und jetzt wußte kein
-Mensch, was mit ihnen anfangen. Auch sonst hatte es noch allerlei
-gegeben, was die Gemüter in Aufruhr versetzte. Am Abend vorher hatte
-sich Liselotte, Theobalds älteste Schwester, verlobt, eine Gelegenheit,
-die Christoph und Henner dazu benutzt hatten, sich in ihrem vollsten
-Glanze zu zeigen.
-
-Bei der Verabschiedung des Bräutigams von der Braut hatten sie durch
-das Treppenhaus einen bekleisterten Zeitungsausschnitt mit dem Aufruf:
-„Wasche dein Haupt mit Javol“ auf die Glatze ihres zukünftigen
-Schwagers fallen gelassen und saßen nun, eine harte Strafe verbüßend,
-eingesperrt in der Bodenkammer.
-
-Kein Wunder, daß unter diesen Umständen Tante Hedi ihrer jungen Nichte
-Geburtstag ganz vergaß.
-
-Das Doktorskind mußte darum betrübter, als sie gekommen war, von dannen
-gehen. Im Vorgarten des Hauses traf sie mit Liselottes Bräutigam, einem
-sehr feinen Herrn, zusammen, der mit höflicher Verbeugung zu ihr die
-Worte sprach: „Guten Morgen, gnädiges Fräulein, wie geht es Ihnen?“
-
-Gnädiges Fräulein, wie achtungsvoll, wie angenehm das klang! --
-Suse richtete sich an dem Gruße auf wie der erschöpfte Wanderer an
-einem Stab. Nach all den Niederlagen der letzten Tage war ihr diese
-Erfrischung zu gönnen.
-
-Allein, als sie wieder zu Hause angekommen war, ging ihr Freudefünkchen
-jäh in der allgemeinen Begräbnisstimmung unter.
-
-Von Hans war noch immer keine Nachricht gekommen. Und Frau Cimhuber und
-Ursel fingen an, sich zu ängstigen. Wie zwei aufgescheuchte Fledermäuse
-huschten sie durch das Haus.
-
-Und nach Tisch zog sich jeder in seinen besonderen Unterschlupf zurück,
-Frau Cimhuber in die Negerstube, Ursel in die Küche, Suse in ihr
-Zimmer, um die Nachmittagsstunden nach Einsiedlerart, in sich gekehrt,
-zu verbringen. Aber die Trauergesellschaft hatte die Rechnung ohne den
-Wirt, in diesem Falle ohne Herrn Schnurr, gemacht.
-
-Mit einemmal trat er lächelnd mit einem Blumenstrauß in der Hand durch
-die Tür der Negerstube und begehrte, Susens Wiegenfest in der geplanten
-Weise zu feiern, ohne Auslassung einer einzigen Programmnummer.
-
-Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen bei seinem Anblick und quälten
-sich mit dem Gedanken an das Versäumnis, das sie begangen hatten.
-
-Sie hatten ja ganz und gar vergessen, den Lehrer abzubestellen.
-Sie hatten ihm ja kein einziges Wörtlein von der verhängnisvollen
-Donnerstagkatastrophe verraten, durch die das Cimhubersche Haus
-sozusagen auf den Kopf gestellt war. Nichts wußte er. Unschuldig
-wie ein neugeborenes Kind stand er da. Treuherzig lächelte er Frau
-Cimhuber und Ursel an. Seine Seele war rein und durchsichtig wie ein
-Bergkristall. Kein Schatten trübte sie.
-
-Und nun war es zu spät, ihn wegzuschicken. Das sagten sich die zwei
-Frauen, die ihn genau kannten und wohl wußten, daß er sich nicht mehr
-verdrängen lasse. Er war ja störrisch wie ein Maultier.
-
-„Wo steckt denn der Hans?“ rief er. „Ich bin doch nicht für die
-Katz gekommen, wir haben doch nicht wochenlang im Schweiße unseres
-Angesichts gespielt und gesungen, daß wir uns heute stumm wie die
-Fische gratulieren.“
-
-„Hans ist auf einer Wanderung,“ stotterte Suse.
-
-„Noch besser,“ sagte Herr Schnurr, „geht der auf eine Wanderung, wenn
-ich hierher bestellt bin. Das ist so die Art der modernen Kinder.
-Rücksicht auf Eltern und Erzieher kennen sie nicht.“
-
-„Hans hat Ihnen doch einen Brief geschrieben, eh’ er fortging,“ sagte
-Suse stotternd. „Ich selbst hab’s gesehen. Haben Sie ihn denn nicht
-bekommen? Mein Geburtstag darf nämlich nicht gefeiert werden, weil hier
-allerlei vorgefallen ist.“
-
-„Brief -- Brief?“ fragte Herr Schnurr. „Ich hab’ keinen Brief bekommen.
-Na, ich kann’s mir schon denken, wo der hingekommen ist,“ sagte er mit
-einemmal. -- „Der ist mal wieder bei uns in den Papierkorb gewandert
-mit den Drucksachen. -- Das kommt öfters bei uns vor.“
-
-„Ja, Susens Betragen war sehr ungehörig in den letzten Tagen,“ fiel
-hier die Pfarrfrau ein, „und deshalb haben wir von einer Feier ihres
-Geburtstages abgesehen.“
-
-Herr Schnurr setzte sich auf einen Stuhl und erklärte kalt lächelnd,
-er sei jetzt da, und er bleibe auch da. Und die einstudierten Lieder
-würden trotz allem gesungen.
-
-„Gelt, Ursel?“ wandte er sich vertrauensvoll an die erschrockene Magd.
-„Wir zwei singen zusammen. Wir zwei haben uns ja immer gut miteinander
-vertragen. Wir zwei werden jetzt unser Licht leuchten lassen.“
-
-Ursel fuhr zusammen und wurde blaß bis an die Nasenspitze. Ihr Herz
-zitterte vor Zorn.
-
-Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als vor der Sünderin Suse zu
-singen. Wie Knödel steckten ihr die Töne im Hals, aber tapfer sang sie
-ein Lied nach dem andern, aus lauter Angst vor ihrem Peiniger.
-
-Suse aber fühlte angesichts des fleißigen Vortrags eine tiefe, tiefe
-Beschämung über sich kommen, so daß ihr die Tränen in die Augen traten.
-
-Dort stand die gute Ursel in ihrem Sonntagsstaat und sang voller
-Verzweiflung die schönsten Lieder.
-
-Und hier saß sie wie eine Königin und ließ sich feiern und hatte es so
-wenig verdient.
-
-Schließlich konnte sie nicht mehr zuhören und beschloß heimlich davon
-zu schleichen und die zwei allein weiter singen zu lassen.
-
-Aber Herr Schnurr hatte erraten, was sie wollte, packte sie am Arm und
-drückte sie unerbittlich auf ihren Stuhl zurück.
-
-„Innsbruck, ich muß dich lassen,“ klang es begeistert von seinen Lippen
-in Gemeinschaft mit Ursel.
-
-Dann empfahl er sich.
-
-Ein Alpdruck wich von den drei Frauen. Suse stürzte, einen verwirrten
-Dank stammelnd, an Ursel vorbei in ihr Zimmer und wollte keinen
-Menschen mehr sehen.
-
-Allein nur wenige Minuten verstrichen nach Abbruch des Vortrags, dann
-öffnete sich die Tür ihres Stübchens, und Frau Cimhuber trat ein, um
-ein Paket auf den Tisch zu legen.
-
-Es sei schon einige Tage da, aber in dem allgemeinen Aufruhr der
-letzten Woche vergessen worden, sagte sie entschuldigend.
-
-Suse betrachtete das Paket mit freudigem Erröten und entdeckte, daß
-es von Christine sei. Zärtlich wie einen lieben Bekannten drückte
-sie das Geschenk an sich. Es war ihr erster Gruß aus der Heimat. Mit
-aufgeregten Fingern löste sie die Schnur der Schachtel und entnahm
-ihrem Innern ein buntbesticktes Seidentuch, ein Erbstück von Christines
-Großmutter, das sie oft bei ihrer alten Kinderfrau bewundert und um
-ihre Schultern gelegt hatte.
-
-Sie erfreute sich auch heute wieder an dem Glanz der leuchtenden Rosen-
-und Veilchensträußchen, die in das lila Tuch gestickt waren, und
-spürte mit Entzücken den Duft getrockneter Kräuter, der aus Christines
-Kommode kam, wo Steinklee in Büscheln zwischen Hauben, Tüchern und
-den sonstigen Habseligkeiten der alten Frau lag. Leibhaftig sah
-Suse Christines friedliches Reich vor Augen, und es wurde ihr ganz
-sehnsüchtig zu Sinn. Zu unterst in der Schachtel entdeckte sie dann
-einen Brief, der von Rosel geschrieben, aber von Christine diktiert war.
-
-„Mein liebes, liebes Kind,“ stand darin, „Du weißt, ich kann nicht
-schreiben. Ich hab’ es in der Schule nicht gelernt. Wir brauchten nicht
-in die Schule. Rosel schreibt diesen Brief für mich. Und sie soll
-Dir viel Glück wünschen und Gesundheit und ein langes Leben. Und das
-Seidentuch in der Lade will ich Dir schenken, weil Du es ja immer so
-gerne hast leiden mögen. Und ich weiß ja nicht, ob ich noch lange lebe.
-Und vielleicht, wenn ich einmal gestorben bin, gibt’s Dir keiner.
-
-Und wenn ich auch schreiben gelernt hätte, so könnt’ ich doch jetzt
-nicht mehr schreiben, liebe Suse, denn ich bin blind geworden, ganz
-blind. Du kannst es auch Hans sagen. Schon Weihnachten, wie Ihr daheim
-gewesen seid, und wie Du mir unter dem Tannenbaum so schön vorgelesen
-hast, unter dem Tannenbaum hab’ ich’s gespürt. Ich kann Euch jetzt
-nicht mehr sehen, wenn Ihr heimkommt, aber ich kann Euch noch sprechen
-hören und Eure Hände in meine nehmen. Erst im Himmel, wenn wir wieder
-alle zusammen kommen, kann ich Euch anschauen und sehen, ob Ihr noch
-Eure lieben, guten Gesichter behalten habt.
-
-Es ist mir immer schwärzer vor den Augen geworden, und zuletzt habe ich
-nur noch einen dicken Nebel gesehen, und jetzt ist es ganz dunkel um
-mich wie in der Nacht. Euer Vater sagt, mir ist nicht mehr zu helfen.
-Jetzt kann ich die schöne Welt nicht mehr sehen. Siebzig Jahre lang
-hat unser Herrgott sie mich sehen lassen und hat es immer so gut mit
-mir gemeint, und jetzt hat er mir die Augen zugemacht, und ich bin
-blind. Und jetzt sitz’ ich immer draußen in der Sonne auf der Treppe
-und rieche die Veilchen, die aus der Erde kommen, und höre die Vögel.
-Und ich weiß doch, wie alles aussieht. Resi führt mich an der Hand
-durch den Garten und den Weg ins Dorf hinauf, wenn ich zu Euern Eltern
-gehe. Ich weiß, daß Ihr bald fortziehen werdet, weit, weit fort, und
-nicht mehr wiederkommt. Eure Mutter hat’s mir gesagt. Ich weiß auch,
-dann sehen wir uns hier nicht mehr wieder. Ich weiß, daß ich nicht mehr
-lange leben werde. Der liebe Gott hat mir die Augen zugemacht, das ist
-ein Zeichen, daß ich zu ihm kommen soll. Aber ich kann ruhig sterben,
-denn jetzt ist alles gut. Für mein Kind sorgt der Herr Doktor und die
-Frau Doktor, und ich weiß, daß auch Ihr gut zu ihm sein werdet. Alle
-Leute hier sind traurig, weil Ihr fort wollt, und sie sagen, so ein
-guter Doktor kommt nicht wieder...“
-
-Da konnte Suse vor Weinen nicht mehr weiter lesen. Christine war blind
-geworden, und die Eltern wollten von zu Hause fort. Das war zuviel
-des Traurigen auf einmal. Sie legte den Kopf auf das bunte Tuch und
-schluchzte zum Herzzerbrechen.
-
-Ursel hörte sie draußen weinen. Aber sie hatte jetzt keine Zeit,
-nach dem Grund ihres Schmerzes zu forschen. Eine merkwürdige
-Zeitungsnachricht, die sie im Sonntagsblatt gelesen, hatte sie
-erschreckt. --
-
-Ein Brandunglück war dort vom Freitag abend aus einem Ort namens
-Wildershausen gemeldet. -- An verschiedenen Stellen sollte es gebrannt
-haben. Mehrere Scheunen sollten eingeäschert, und drei Knaben, die im
-Heu übernachtet hätten, schwer zu Schaden gekommen sein. Wildershausen
--- Wildershausen, ging es Ursel durch den Sinn. Das war ja der Ort,
-in dem Hans am Freitag abend übernachten wollte. Ja, ja, so hieß der
-Ort. Er hatte ihn ihr genannt, als er beim Schuheinfetten am Donnerstag
-abend in der Küche neben ihr gesessen war und sie auf andere Gedanken
-zu bringen versucht hatte.
-
-Und nun war er nicht heimgekommen. --
-
-Ursel hatte sich schon den ganzen Morgen um ihn geängstigt. -- Am
-Ende... Ursel wurde es ganz schwarz vor den Augen..., die Knaben waren
-ja immer noch nicht da. Es ging auf fünf Uhr. Kein Mensch wußte, wo sie
-waren. Gestern abend hatte Hans bestimmt kommen wollen.
-
-„Frau Pfarrer,“ rief da Ursel, „Frau Pfarrer, hieß der Ort nicht
-Wildershausen, in dem Hans übernachten wollte?“
-
-„Ja, Wildershausen,“ sagte Frau Cimhuber.
-
-„Sehen Sie,“ rief die alte Magd und reichte ihrer Herrin das
-Zeitungsblatt, „sehen Sie, da steht’s, Brand. Die Scheune brannte
-nieder. Zwei Knaben kamen ums Leben. Nein, zu Schaden,“ verbesserte sie.
-
-„Hören Sie, das ist Wildershausen, und da wollte Hans die erste Nacht
-hin. Am Ende er wird doch nicht... es wird doch nicht... unser Hans...
-ich sag’s ja immer, das ist nichts mit diesen gräßlichen Wanderungen.
-Da erkälten sie sich, sie essen schlecht, und zuletzt fallen sie in die
-Flammen hinein. Das ist das Ende vom Lied. Haben sie es daheim nicht
-viel besser!“
-
-Ursel begann nun um den Doktorssohn laut zu klagen. Er, den sie am
-Donnerstag abend noch einen unverschämten Bub genannt hatte, war mit
-einmal der liebe, gute, freundliche Hans, der ihr so oft das Geschirr
-abgetrocknet und das Feuer angemacht hatte, wenn ihre Hände vom
-Rheumatismus angeschwollen waren. Immer wieder hatte er ihr neue Mittel
-zur Heilung gebracht.
-
-Noch einmal vertiefte sie sich in die Zeitungsnachricht und erklärte
-dann: „Er ist’s. Drei Knaben steht hier. Das ist Theobald und Hans und
-Peter. Die schlafen ja immer des Nachts in Kuhställen und auf Heuböden.
-Ich will jetzt mal hingehen und sehen, was mit Theobald los ist, ob der
-immer noch nicht da ist.“
-
-Damit legte sie ihren Sonntagsstaat an, einen abgelegten Capothut von
-Frau Cimhuber und eine schwarze Pelerine, und machte sich auf den Weg
-zu Susens Verwandten. Leider verfehlte sie Toni um einige Minuten, die
-mit einer inhaltsreichen Depesche von Theobald in der Hand ihren Weg zu
-Frau Cimhubers Wohnung hinauf genommen hatte.
-
-Während sich all dies in der Stadt zutrug, hatten Hans und Theobald
-ereignisreiche Tage verlebt.
-
-Im Kreise einiger Freunde waren sie am Freitag morgen dem Gebirge
-zugefahren, hatten dort die Bahn verlassen und waren zur Höhe
-emporgestiegen, von wo sie eine Kammwanderung angetreten hatten.
-
-Hans fühlte sich am Wandertage nach den beklemmenden, letzten
-Ereignissen im Cimhuberschen Haus so frei wie der Vogel in der Luft.
-Sein Hut hing am Rucksack. Der Wind spielte ihm frisch um die Stirn.
-Ein herber, stärkender Hauch wehte hier oben. Große landschaftliche
-Schönheit breitete sich vor seinen Augen aus. Von der Ebene her
-leuchteten die Dörfer und Ortschaften, von der Sonne beschienen, weiß
-herauf. Am Bergeshang tief unten lag ein zarter Schleier über den Wald
-gebreitet. Es war das erste Frühlingsgrün, duftig wie ein feiner Hauch.
-Hier oben, wo es nur niedere Tannen und verkrüppelte Buchen gab, merkte
-man noch nichts vom Blühen und Wachsen.
-
-In dem unermeßlichen Äther in der gleichen Höhe mit den Knaben zog ein
-Bussard über der Tiefe des Tals in wunderbarer Ruhe seine Kreise. Die
-Knaben blieben eine Weile stehen und folgten ihm mit den Blicken. Dann
-zogen sie weiter auf dem Gebirgskamm, der sich wie eine hochgespannte
-Brücke unter Gottes Himmel hinzog. Mittagsrast hielten sie in einer
-verlassenen Burgruine, die auf einem Gebirgsvorsprung lag und zu der
-sie nach einer zweistündigen Wanderung vom Kamm heruntergestiegen
-waren. In dem alten, eingeschlafenen Burghof machten sie sich ein Feuer
-an, um abzukochen. Bald brodelte eine kräftige Suppe im Kochtopf.
-
-Hans langte mit großem Heißhunger zu. Die Vorstellung, daß jetzt eine
-gräßliche, dumpfe Stimmung über dem Cimhuberschen Haus brüte, schien
-seinen Appetit noch zu verdoppeln.
-
-Nach beendigter Mahlzeit holten einige Knaben von einem nahegelegenen
-Quell Wasser und wuschen das Geschirr ab. Einer der Wanderer, ein
-begeisterter Redner und Sänger, drückte sich von der Küchenarbeit
-und erklomm das Gemäuer des verfallenen Rittersaals, um von einer
-Fensterhöhlung herab eine flammende Rede zu halten über die Zeit, als
-hier der Bauernkrieg wütete. -- Hans hörte, den Kopf im Nacken, mit
-großem Interesse zu. Theobald hingegen zuckte die Achseln und verzog
-sich auf den Bergfried, wo er aus schwindelnder Höhe sich das Tal
-betrachtete und sich an der Hand einer Karte orientierte.
-
-Nach einer guten Stunde fand der Aufbruch der Knaben statt, und die
-fröhliche Schar zog singend von dannen.
-
-Bald lag der Burghof wieder vereinsamt da. Eine Eule, die erschreckt
-beim Nahen der Knaben davongeflogen war, kehrte mit schwerem
-Flügelschlag in ihr Reich zurück. Von unten, vom Bergeshang, tönte der
-Gesang der Wanderer verhallend herauf.
-
-Es fing schon an zu dunkeln, als die Knaben ins Tal zurückkamen. Drei
-von ihnen beschlossen, in einem kleinen Dorf am Fuß des Gebirges zu
-übernachten, die andern, Theobald, Peter und Hans, weiter in die
-Ebene hinaus zu gehen, nach dem eine Stunde entfernten Städtchen
-Wildershausen.
-
-Hans, der schon etwas müde war, gähnte und zog die Füße nach. Theobald
-pfiff einen Marsch, um seinen Vetter aufzumuntern.
-
-Plötzlich aber stieß er einen Jauchzer aus und rief: „Famos wird
-das heute, Hans. Wir logieren beim Onkel Brettelkern, beim Doktor
-Brettelkern. Das hat mir der Vater geraten.
-
-Kennst du den Brettelkern?“
-
-Hans schüttelte den Kopf.
-
-„Hat dein Vater nie davon erzählt?“
-
-„Nein.“
-
-„Das wundert mich,“ meinte Theobald, „der Doktor Brettelkern ist ein
-Onkel von uns, ‚zehnmal um die Ecke rum‘, das heißt von meinem Alten.
-Dein Vater kennt ihn aber genau, denn dein Vater und meiner waren schon
-in ihrer Jugend unzertrennliche Freunde. Und der Onkel Brettelkern hat
-an den beiden einen Narren gefressen gehabt, bis es eines Tages zum
-Krach gekommen ist. Widerspruch konnte der Brettelkern nämlich nicht
-ertragen. Und als die beiden jungen Dächse einmal in irgend einer
-Frage, ich glaube, es war die Alkoholfrage, gegen ihn gewesen sind, da
-wurde er fuchsteufelswild und hat sie vor die Tür gesetzt. Ich glaube,
-jetzt nach Jahren hat er endlich mal wieder an deinen Vater geschrieben
-wegen seiner Praxis, die er abgeben will.“
-
-„Davon weiß ich nichts,“ meinte Hans ganz verwundert.
-
-„Na, das ist ja auch nebensächlich, die Hauptsache ist, daß wir auf
-seinem Heuboden übernachten wollen,“ erklärte der Vetter. „Und am
-andern Morgen bringen wir ihm ein Ständchen und stellen uns vor als die
-Söhne vom Sepp und vom Hermann. Schmeißt er uns dann zum Hof hinaus, so
-ist’s ja noch immer Zeit zum Laufen meint der Vater.“
-
-Dieser Plan wollte Hans keineswegs einleuchten. Und auch Peter schien
-es viel besser, sich einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen, wo man
-am andern Morgen aufrechten Ganges davongehen konnte.
-
-Indes die beiden fügten sich schließlich doch Theobalds Anordnungen.
-Bald hatten sie das freundliche Städtchen Wildershausen erreicht, und
-mußten nun den ganzen Ort durchwandern, ehe sie die Wohnung ihres
-Onkels gefunden hatten. Sie lag an der breiten Hauptstraße, ganz am
-andern Ende der Stadt.
-
-„Aha, da sind wir,“ meinte Theobald, der zuerst das Schild mit dem
-Namen des Doktors an einem der weißgetünchten Häuser entdeckt hatte.
-„Dann können wir also drei Mann stark in seinen Wigwam einfallen.
-Hoffentlich laufen wir ihm nicht gleich in den Weg. Sonst wirft er am
-Ende einen Blick auf unsere klassischen Gesichter und drauf uns alle
-drei am Kragen hinaus.“
-
-Durch die Gitterstäbe des großen eisernen Hoftores mit dem kleinen
-Eingangstor an seiner Seite spähten die Knaben in den Hof. Im
-Hintergrund gewährten sie eine Scheune mit einem Stall, zu dem
-rechtwinklig ein Schuppen angebaut war. Eine Menge Holz war darunter
-aufgeschichtet.
-
-Daneben stand ein Mann, augenscheinlich der Kutscher, der damit
-beschäftigt war, Pferdegeschirr zu reinigen.
-
-„Sollen wir’s wagen, sollen wir’s wagen?“ fragte Theobald. -- „Hopp,
-wagen wir’s.“
-
-Und die drei traten schnellen Schrittes ein, grüßten höflich und trugen
-ihr Anliegen vor. Theobald redete dabei wie ein Wasserfall. Der Mann
-vor ihm sah ihn zuerst mit leichtgeöffnetem Mund ganz verständnislos
-an. Dann aber begriff er langsam, langsam, lächelte verschmitzt und
-nickte beifällig.
-
-„Guter Vetter, ich weiß schon, was du willst,“ meinte er, Theobald
-kameradschaftlich auf die Schulter klopfend. „Wir verstehen uns in der
-Angelegenheit. -- Die letzte Woche sind nämlich schon ein paar von
-eurer Sorte dagewesen. Die haben bei uns übernachtet. So jemand wie
-euch können wir schon unterbringen. Das tun wir gern. Das macht dem
-Doktor Freude. Die letzten hat er sogar im Bette schlafen lassen.“
-
-„Nur nicht in dem Brettelkern seiner Betten schlafen,“ riefen die
-Knaben und dachten mit Schrecken an das Erstaunen des Doktors, wenn
-dieser plötzlich die Sprößlinge der mit ihm verkrachten Verwandtschaft
-in seinen warmen Federbetten entdeckte.
-
-„Auf dem Heuboden, wo es am dunkelsten ist, wollen wir schlafen,“ rief
-Theobald. „Der Heuboden, das ist unser Fall. Der Heugeruch, der ist
-gesund. Der schläfert ein. Wir sind sehr für die Natur, immer für die
-Natur. Gucken Sie unsere Kräfte. Alles von der Natur!“
-
-Und damit ergriff er den verdutzten Peter am Kragen und hielt ihn mit
-ausgestrecktem Arm dem Mann hin, indem er sagte: „Hier sehen Sie, alles
-mit einem Griff. Alles von der Natur.“
-
-„Du gefällst mir, du kannst so bleiben,“ meinte der Kutscher und
-klopfte Theobald wieder befriedigt auf den Rücken.
-
-„Kommt jetzt mit herein,“ setzte er zu den andern hinzu. „Die Luise
-soll euch ein gutes Abendessen kochen. In einer Stunde wird der Doktor
-da sein. Der wird seine Freude an euch haben. Es kommen auch noch
-andere Herrschaften mit, ein Herr und eine Dame. Was sehr Feines,
-glaube ich.“
-
-„Heilige Genoveva,“ rief Theobald erschreckt, „nur nichts sehr Feines
-heute abend. Für Herrschaften sind wir nicht angezogen. Und dann fallen
-uns die Augen zu. Man muß uns so wie so schon Hölzchen dazwischen
-stecken, damit sie offen bleiben. Aber morgen um fünf Uhr bringen wir
-dem Doktor ein Ständchen. Was sagen Sie dazu? Studentenlieder spielen
-wir ihm auf. Die beiden da geigen wie die Engel im Himmel und ich singe
-wie eine Orgel.“
-
-„Das wird den Doktor freuen,“ erwiderte der Mann lachend, „ja, das
-könnte ihm Freude machen.“
-
-Hierauf brachte er den Knaben heißes Wasser aus der Küche, womit diese
-sich schnell einige Tassen Kakao anrührten.
-
-Hans äugte ständig nach dem Hoftor hin wie eine Gemse, die auf
-Wachtposten steht. „Hoffentlich kommt er nicht,“ murmelte er vor sich
-hin. „Der wirft uns ja raus.“
-
-„Iß und jammere nicht,“ mahnte Theobald.
-
-Die Knaben verzehrten nun ein paar Stücke Brot und tranken ihren Kakao
-dazu und schickten sich hierauf an, ihr Eßgeschirr zu reinigen.
-
-Da sagte der Kutscher so beiläufig mit größter Ruhe vom Hoftor herüber:
-„Dort unten kommt der Doktor.“ --
-
-Die Knaben rafften ihre Rucksäcke und ihr Geschirr zusammen und rannten
-davon wie die Räuber.
-
-„Kommen Sie, kommen Sie,“ rief Theobald, den Kutscher mit sich ziehend,
-„und zeigen Sie uns unser Nachtquartier! Erst morgen früh wollen wir
-den Doktor sehen.“
-
-Und wie die Katzen kletterten sie an einer Leiter in der Scheune auf
-den Heuboden.
-
-Sich die Seiten vor Lachen haltend, wackelte der Kutscher hinterdrein.
-Und oben breitete er ihnen ein Segeltuch auf das Heu, um es zu schonen,
-damit die empfindlichen Pferde morgens nicht seine Annahme verweigerten.
-
-„Endlich, endlich in Sicherheit,“ meinte Theobald sich streckend und
-dehnend, als der Kutscher gegangen war. „So einen Heuboden, den lob’
-ich mir. Das ist doch das Beste. Neulich der Kuhstall, der war zuviel
-für meines Vaters Sohn. Erst der Kuhgeruch und dann der Hühnergeruch,
-und kaum ist das überstanden und man ist eingeschlummert, da erwachen
-gleich so ein paar gefiederte Bestien, die mit uns zusammen logieren,
-und fühlen sofort das Bedürfnis, Eier zu legen und ihre Funktionen mit
-lautem Geschrei in die vier Winde zu rufen. Schauderhaft! Und dann, als
-sie damit fertig sind, fällt es ihnen ein, spazieren zu gehen, und
-sie nehmen ihren Weg direkt über unsere Köpfe und unsere Brust hinweg,
-voran der Gockel. Und wie ich aufwach’, steht mir der, weiß Gott,
-mitten auf der Brust und schlägt mir seine Flügel um die Ohren und
-schreit ‚Kikeriki‘, daß ich aufgefahren bin und ihn gepackt habe. Fast
-hab’ ich ihn ermördert.“
-
-Hans und Peter lachten und vergruben sich im Heu.
-
-„Sei still, Theobald,“ rief sein Vetter, „sonst hört uns der
-Brettelkern und holt uns von seinem Heuboden runter.“
-
-„Lacht doch nicht bei dieser ernsten Geschichte,“ wehrte Theobald,
-„es kommt noch besser. Kaum sind die Hühner fort und wälzen sich mit
-dem vermalefitzten Gockel, dem ich ein paar Schwanzfedern abgebrochen
-habe, in den Hof hinaus, so fängt einer von unsern Freunden, der
-Philipp, so laut an zu schnarchen, daß man es durch drei Wände hören
-konnte. Und denkt euch, da sitzen in demselben Stall mit uns ein paar
-Truthähne. Die bilden sich ein, wir wollen sie uzen mit dem Schnarchen.
-Und jedesmal, wenn der Philipp mit der Stimme überschnappt, fangen die
-an so mordsmäßig zu kollern und zu glucksern, als wollten sie an den
-Wänden in die Höhe fahren vor Geschrei. Wißt ihr, eine Musik war in
-dem Stall, als wenn einer Ziehharmonika spielt, und der andere fällt
-der Länge nach von rückwärts auf das Klavier, auf sämtliche Tasten mit
-einem Schlag. Hinreißend! Na, da bin ich aufgestanden...“
-
-„Und?“ fragte Hans.
-
-„Laß mir meine Ruh,“ sagte Theobald, „ich will jetzt schlafen.“
-
-Und damit drehte er sich auf die andere Seite. Bald verrieten seine
-tiefen Atemzüge, daß er schliefe. Und auch seine beiden Begleiter
-ruhten bald, von tiefem Schlaf übermannt, auf ihrer Lagerstatt.
-
-Da -- es mochte so vier Uhr morgens sein, wachte Hans plötzlich von
-einem lauten Geräusch auf, das im Pferdestall nebenan erklungen war. Er
-hörte Pferde wiehern. Mühsam richtete er sich auf und spürte, wie ihm
-ein schwerer Druck auf der Brust lag. Sein Kopf schwindelte. -- Es roch
-nach Qualm und Rauch. Weit riß er die Augen auf und sah einen roten
-Schein von der Öffnung, die zum Pferdestall führte, herüberleuchten. Da
-war ihm plötzlich klar, was hier geschehen war. Mit einem Sprung war
-er auf den Beinen, riß seinen Freund Peter mit in die Höhe und schrie
-durchdringend: „Hier brennt’s! Es brennt! Feuer!“
-
-Der Freund war sofort wach, und nun rüttelten die beiden an Theobald,
-der noch immer schlief wie ein Sack. Als sie ihn endlich aufgeweckt
-hatten, bedurfte es nur noch weniger Sekunden, bis er sich gefaßt
-hatte. Dann kommandierte er wie ein General: „Jetzt erst mal raus an
-die Luft.“
-
-Mit großer Schnelligkeit ließen sich die Knaben an der Leiter hinunter
-und eilten durch die Scheune ins Freie.
-
-Hier sahen sie den Hof tagehell erleuchtet. Der Holzstoß unter dem
-Schuppen brannte lichterloh, die Flammen schlugen zum Dach hinaus und
-griffen nach dem Stall hinüber.
-
-„Schöne Bescherung,“ murmelte Theobald.
-
-„Wir müssen die Pferde rauslassen,“ meinte da Hans Und die Knaben
-drangen sofort in den Stall ein, schirrten die Füchse los und führten
-sie ins Freie. Die Tiere drängten aufgeregt dem Feuer zu. Theobald
-wurde dabei zu Boden geschleudert und schlug seinen Kopf gegen einen
-Stein. Hans und Peter wurden gegen die Wand gedrückt und scheuerten
-sich das Gesicht blutig.
-
-Noch rechtzeitig kam ihnen ihr Freund von gestern, der Kutscher, zu
-Hilfe und brachte die Pferde, unterstützt durch einige Männer von der
-Straße, ins Freie.
-
-„Es brennt an verschiedenen Stellen in der Stadt,“ hörte Hans jene
-Leute rufen, und atmete erleichtert auf. Der Kutscher hatte ihn eben,
-anscheinend nicht recht bei Sinnen, angefahren: „Ihr vermalefitzten
-Lausbuben, habt ihr vielleicht das Feuer angemacht!“ -- Fast wären sie
-also noch in den Geruch von Brandstiftern gekommen.
-
-Theobald hatte sich inzwischen die Wunde mit ein paar Taschentüchern
-umwickelt und ging auf das Wohnhaus zu, indem er Peter erklärte: Er
-werde jetzt den Onkel „Zehnmal um die Ecke“ retten, ihn auf seinen
-Händen ins Freie tragen und im Namen seiner Familie Versöhnung feiern.
-
-Als Theobald in den Hausflur eingetreten war, bemerkte er gleich auf
-der Spitze der Treppe im ersten Stock einen Herrn im Nachtgewand und
-rief ganz bescheiden hinauf: „Herr Doktor, kommen Sie gefälligst. Es
-brennt bei Ihnen. Soll ich Ihnen helfen? Es ist nicht gefährlich.“
-
-„Aber Theobald, Junge, wo kommst du her?“ tönte da oben eine
-wohlbekannte Stimme herunter. Theobald stutzte. Dann hatte er den Rufer
-erkannt. Es war sein Onkel Hermann, der Vater von Hans Und in einigen
-Sprüngen war er bei ihm.
-
-„Du hier, Onkel?“ rief er.
-
-„Ja, du hier? das frag ich dich auch, Theobald,“ antwortete jener ganz
-betroffen. „Wo kommst du her?“
-
-„Auf einer Wandertour, Onkel. Hans ist auch da.“
-
-Und in demselben Augenblick kam der Knabe, von dem eben die Rede war,
-im Sturm die Treppe hinauf und rannte den Vater fast über den Haufen.
-Und nun erschien auch die Frau Doktor und war ganz bestürzt, als sie in
-dem unheimlichen Lichtschein, der das Treppenhaus erleuchtete, ihren
-Sohn gewahrte. --
-
-Bis vor einer Stunde noch war sie mit ihrem Mann und dem Besitzer des
-Hauses, dem Doktor, aufgewesen, und nun war sie im ersten Schlaf durch
-einen furchtbaren Lärm emporgerissen worden.
-
-Gerade wollten Theobald und Hans den Doktorsleuten die nötigen
-Erklärungen über ihr Hiersein geben, da rannte ein dicker, alter Herr
-im Sturm an der Gruppe vorüber und warf sich seinen Rock über.
-
-Es war der Doktor Brettelkern.
-
-„Entschuldigt, ich muß mit in den Betrieb,“ rief Theobald und folgte
-seinem Onkel in den Hof. Schreiende Menschen drängten hier zur Tür
-herein, die Feuerwehr rasselte heran, die Pumpen wurden in Tätigkeit
-gesetzt und die Spritzen auf das Haus gerichtet.
-
-Theobald suchte sofort irgendwo einzugreifen und half beim Pumpen mit
-einem Eifer, als hänge das Geschick Wildershausens von seinen Muskeln
-ab. Mitten im schönsten Arbeiten fühlte er plötzlich, wie ihm jemand
-die Taschentücher vom Kopfe riß, ein dickes Stück Watte mit einer
-brennenden Flüssigkeit in die Wunde stopfte und dann seinen Kopf mit
-einer Gazebinde so fest umwickelte, daß er sich zwischen die Kinnbacken
-eines Riesennußknackers geraten glaubte.
-
-Es war der Doktor Brettelkern, der ihn verbunden hatte.
-
-Unverzagt pumpte Theobald weiter, unterstützt von Hans und Peter.
-
-Als nach einer Stunde der Brand gelöscht war und die Menschen sich vom
-Hofe verzogen hatten, fanden sich der Besitzer des Hauses und seine
-Gäste, die Doktorsleute von Schwarzenbrunn und die drei Knaben aus der
-Stadt, in dem gemütlichen Eßzimmer ein, wo sie sich an einer Tasse
-warmen Kaffees stärkten, die ihnen die Haushälterin des Doktors schnell
-bereitet hatte. Das Fragen und Erklären nahm nun kein Ende.
-
-Hans, der sich schon die zwei letzten Stunden über den Kopf zerbrochen
-hatte, warum seine Eltern wohl hier seien und allerlei Ahnungen
-verspürte, erfuhr nun, daß sein Vater gekommen sei, um mit dem Doktor
-Brettelkern über seine Praxis in Wildershausen zu reden, die er in
-aller Kürze übernehmen werde. -- Von Pfingsten ab sei der Doktorsleute
-und ihrer Kinder Wohnort Wildershausen.
-
-Da stieg dem Knaben das Blut so heiß zu Kopf, daß seine Schrammen im
-Gesicht wie Feuer brannten. Für die nächste halbe Stunde kam ihm kein
-Wort über die Lippen.
-
-Theobald aber betrachtete fortwährend mit sichtlichem Wohlgefallen sein
-zu einem Riesenkürbis angewachsenes Haupt im Spiegel ihm gegenüber.
-
-Was Schöneres konnte er sich nicht denken, als hier sozusagen als Held
-zu sitzen.
-
-Am schweigsamsten war der Hausherr, der Doktor Brettelkern. Aber
-schließlich riß er sich von seinen Gedanken los, sprang auf und meinte
-kopfschüttelnd: „Da hört man zwanzig Jahre nichts von einander. Und nun
-sieht man sich so wieder. Der ist genau wie sein Vater,“ meinte er, auf
-Theobald zeigend. „Der redete einen auch tot und lebendig.“
-
-Seines Neffen Gesicht rötete sich vor Stolz, und er erklärte: „Ja, die
-Mutter sagt auch immer, Sepp, das haben sie von dir.“
-
-Bis zum Sonntag blieb nun die Gesellschaft noch im Hause des
-gastfreundlichen Doktors. Früh am Morgen sollte eigentlich der
-Aufbruch in die Stadt vor sich gehen, aber da die Knaben in einen
-Murmeltierschlaf versunken und nicht aufzuwecken waren, bat ihr
-Gastgeber, daß man die Reise noch bis zum Mittag verschiebe. So kam es,
-daß Hansens Eltern erst gegen Abend von Susens Geburtstag im Hause der
-Frau Cimhuber eintrafen.
-
-Kaum hatte Suse, die in inniger Umarmung mit Toni auf dem Sofa saß
-und die Depesche, die jene gebracht hatte, durchlas, die Stimme ihres
-Vaters und ihrer Mutter vernommen, da fuhr sie mit einem Jubelruf in
-die Höhe und stürmte auf den Flur zur Begrüßung.
-
-Sie wollte ihren Vater und ihre Mutter nicht mehr loslassen. Sie
-umarmte sie immer wieder. Auch Hans zog sie an sich.
-
-Aber der Bruder geriet gleich in Ursels Fänge, die ihn mit Fragen
-bestürmte. Sie hatte nur ein Auge für ihn.
-
-„Lebst du noch Hans?“ rief sie. „Gelt, du bist’s doch gewesen, von dem
-in der Zeitung geschrieben stand?“ fragte sie ihn. „Komm her und sieh
-mich an. Dein ganzes Gesicht ist ja zerkratzt. Gott sei Dank, daß du
-noch lebst.“ --
-
-„Seit wann soll ich denn gestorben sein?“ fragte Hans erstaunt.
-
-„Seit’s in der Zeitung stand,“ erwiderte Ursel. „So was Ähnliches hab’
-ich gelesen.“
-
-Nachdem der erste Begrüßungssturm vorüber war und Suse an Ursels mildem
-Gesichtsausdruck merkte, daß Hader und Groll von ihr gewichen waren,
-wagte sie verstohlen ihren Arm unter den der alten Magd zu schieben und
-zu fragen: „Sind Sie mir böse? Haben Sie alles vergessen?“
-
-„Das wäre ja eine Sünde, jetzt böse zu sein,“ entgegnete Ursel.
-„Wir wollen froh sein, daß Hans wieder da ist, und nicht an unsere
-Fehltritte denken. Wir wollen alles vergessen. Unser Kummer ist jetzt
-nebensächlich.“
-
-Und sie rief die beiden in ihr Zimmer und holte aus ihrer Kommode ein
-silbernes Kreuz hervor, das sie Suse zum Geburtstag bestimmt, heute
-aber in ihrem Zorn unterschlagen hatte, und band es dem Doktorskind um.
-Und dann griff sie nach der berühmten, von Hans schon beschriebenen
-Marzipantorte, die mitten auf ihrem Bett stand, und reichte sie den
-beiden hin. Arm in Arm mit ihrer gütigen Geberin traten die Geschwister
-wieder vor das Angesicht ihrer Eltern, und so erfuhren diese nie, wie
-heftig die Wirbelstürme gewesen waren, die in der vergangenen Woche die
-Freundschaft des Kleeblattes hin- und hergezaust hatten.
-
-Den Abend verbrachten die Doktorsleute nun mit ihren Kindern bei
-Theobalds Eltern in der Stadt, und erst am andern Tage setzten sie
-Frau Cimhuber von all den Beschlüssen, die sie in letzter Zeit gefaßt
-hatten, in Kenntnis.
-
-Nach dem Städtchen Wildershausen wollten sie verziehen.
-
-Ihre Kinder wollten sie zu sich nehmen, da in ihrem neuen Wohnort
-höhere Schulen seien.
-
-Frau Cimhuber traf die Nachricht wie ein Schlag.
-
-„Jetzt hat man sich gerade an die Kinder gewöhnt, und jetzt soll man
-sie wieder hergeben,“ sagte sie wehmütig vor sich hin. „Scheiden und
-Meiden, das ist das Leben.“
-
-Ursel weinte drei Tage lang, als sie die traurige Nachricht erfahren
-hatte. Dann aber faßte sie sich und sagte zu Hans und Suse: „Ja, es ist
-viel besser für euch, daß ihr fortgeht. Besonders für dich, Suse. Ich
-habe es jetzt gesehen. Euer Vater ist ein ernster Mann. Er wird euch
-zum Ernst erziehen. Suse, nächstes Jahr wirst du konfirmiert. Da hast
-du eine strenge Aufsicht nötig und eine ernste Umgebung.“
-
-Die schwersten Stunden aber standen Ursel noch bevor. Das waren die
-Wochen nach dem Fortziehen der Kinder. Mittags, wann die Zeit gekommen
-war, zu der die beiden sonst aus der Schule zu kommen pflegten, horchte
-sie oft, ob nicht ein stürmisches Klingeln erschalle und ob nicht zwei
-fröhliche Stimmen riefen: „Was gibt’s heute zu essen? Was Feines? Was
-Gutes?“ Oder sie meinte zuweilen zwei Hände zu fühlen, die sich ihr von
-rückwärts um die Augen legten und jemand fragen zu hören: „Wer ist’s,
-Hans oder Suse?“
-
-Am Tage aber, an dem sonst Herr Schnurr zu erwarten war, übermannte sie
-häufig eine große Wehmut. Wie im Traum befangen, rückte sie dann die
-Stühle und Tische in der Negerstube zurecht und dachte voll Sehnsucht
-der Zeiten, in denen er hier wie ein verzückter Derwisch seine Tänze
-aufgeführt hatte.
-
-Ja, die Einsamkeit im Cimhuberschen Haus wurde mit der Zeit so drückend
-für sie, daß sie nicht ruhte, bis ihre Herrin neue Zöglinge aufgenommen
-hatte.
-
-Und von ihren Lippen ertönte zur Ermunterung der eben eingezogenen
-Kinder ständig der Ausspruch: „Oh, Hans und Suse hättet ihr sehen
-sollen! Ja, Hans und Suse. Die waren artig, die waren gut! Die hatten
-ein Herz wie Gold! Und so fleißig, so gescheit waren sie! Der Hans
-konnte geigen wie die Engel im Himmel! Und an den Augen sahen sie einem
-ab, was sie einem helfen konnten. Und immer waren sie vergnügt. Bei
-denen war’s immer Sonntag. Nie ließen sie die Ohren hängen. Hans hatte
-sich einmal den Daumen gebrochen in der Turnstunde und dazu pfiff er...“
-
-Es war ein Glück, daß die Doktorskinder die Lobpreisungen nicht hörten.
-Wie hoch sonst Suse wohl ihre Nase getragen hätte.
-
-Daheim aber in Schwarzenbrunn im Doktorshaus wurde es still, sehr
-still. Für lange Zeit kam kein Arzt mehr in das einsame Dorf, und das
-Haus stand leer. Die Fensterläden blieben geschlossen. Der Hof war
-vereinsamt. Büsche und Blumen wuchsen wild im Garten. Es wurde ein
-Märchengarten daraus.
-
-Babette Buntrock und die übrigen Hühner waren mit ausgewandert nach
-Wildershausen. Minnette und das Käterle hatten bei Rosel, die sich
-kürzlich verheiratet hatte, eine Heimat gefunden. Michel war zum
-Förster gekommen. -- Der Aufenthalt in der Stadt tauge ja doch nichts
-für ihn, hatte der Doktor behauptet. Es sei die reine Quälerei.
-
-So konnte der tüchtige Waldbursche Michel denn jetzt ununterbrochen in
-seinem geliebten Forst bleiben, wo es ihm so wohl gefiel. Zum großen
-Glück hatte der Förster auch keine Kinder. Und so brauchte die Bracke,
-die mit zunehmendem Alter immer hochmütiger und abwehrender gegen die
-Menschen geworden war, sich ihre unangenehmen Aufdringlichkeiten und
-albernen Zärtlichkeiten auch nicht mehr gefallen lassen. -- Zuweilen
-führte ihn sein Weg am Doktorshaus vorüber. Stolz kam er die Straße
-herunter, seinen Schwanz trug er wagrecht abstehend wie ein Lineal.
-Einmal blieb er stehen und sah zum Hause hinüber, als entsinne er sich
-vergangener Zeiten. Doch niemand könnte sagen, ob das wirklich der Fall
-war.
-
-Minnette und das Käterle dehnten ihre Streifzüge noch immer auf den Hof
-und die Scheune ihres alten Wohnhauses aus. Aber abends fanden sie sich
-regelmäßig bei Rosels Milchtöpfen ein.
-
-Manchmal saßen sie auch noch auf der hintern Gartenmauer, wo im
-Frühjahr der Schlehdorn schneeweiß leuchtete, und sonnten sich wie in
-den Zeiten, als Hans und Suse noch hier waren.
-
-Und die alte Tanne, die dort hinten in der Ecke stand, rauschte noch
-immer so geheimnisvoll wie früher, als das kleine Mädchen zu ihrem
-Bruder gesagt hatte: „Hörst du, Hans, jetzt kommt der Wind. Jetzt fängt
-die Tanne leise zu singen an. Und der Wind erzählt ihr was. Ein feines
-Lied. Das hat die Mutter gesagt. Hörst du, summ, summ...“
-
-
-
-
-
-End of Project Gutenberg's Hans und Suse in der Stadt, by Trude Bruns
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT ***
-
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- The Project Gutenberg eBook of Hans und Suse in der Stadt, by Trude Bruns.
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-
-
-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Hans und Suse in der Stadt, by Trude Bruns
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Hans und Suse in der Stadt
-
-Author: Trude Bruns
-
-Release Date: December 8, 2019 [EBook #60878]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-http://www.pgdp.net
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<div class="transnote">
-
-<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
-
-<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der 1921 erschienenen
-Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben.
-Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche
-und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem
-Original unverändert.</p>
-
-<p class="p0">Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersicht halber vom
-Bearbeiter eingefügt.</p>
-
-</div>
-
-<div class="figcenter break-before">
- <a id="p001_signet" name="p001_signet">
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- alt="Verlagssignet" /></a>
-</div>
-
-<div class="titelei">
-
-<p class="s1 center break-before">Jungmädchen<br />
-Bücher</p>
-
-<p class="s3 center"><b>Herausgeber:</b></p>
-
-<p class="s3 center"><b><span class="mleft0_5">E</span><span class="mleft0_5">r</span><span class="mleft0_5">n</span><span class="mleft0_5">s</span><span class="mleft0_5">t</span>
-<span class="mleft0_5">W</span><span class="mleft0_5">i</span><span class="mleft0_5">l</span><span class="mleft0_5">m</span><span class="mleft0_5">a</span><span class="mleft0_5">n</span><span class="mleft0_5">n</span><span class="mleft0_5">s</span></b></p>
-
-<div class="figcenter padtop5">
- <a id="logo_002" name="logo_002">
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-</div>
-
-<p class="s3 center"><b>K. Thienemanns Verlag Stuttgart</b></p>
-
-<p class="s4 center"><span class="mleft2">1</span><span class="mleft2">9</span><span class="mleft2">2</span><span class="mleft2">1</span></p>
-
-<div class="figcenter padtop5">
- <a id="p002_serie" name="p002_serie">
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-</div>
-
-<h1>Hans und Suse<br />
-in der Stadt</h1>
-
-<p class="s3 center">von</p>
-
-<p class="s2 center"><b>Trude Bruns</b></p>
-
-<div class="figcenter padtop5">
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-</div>
-
-<p class="s3 center"><b>K. Thienemanns Verlag Stuttgart</b></p>
-
-<p class="s4 center"><span class="mleft2">1</span><span class="mleft2">9</span><span class="mleft2">2</span><span class="mleft2">1</span></p>
-
-<div class="figcenter padtop5">
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-</div>
-
-<p class="s5 center padtop5 break-before">Buchausstattung nach Entwurf von Fritz Eich,
-Bielefeld.<br />
-Die Bilder zu diesem Bande sind von Ralf Winkler gezeichnet.<br />
-Copyright 1921 by K. Thienemanns Verlag in Stuttgart.<br />
-Druck von J. F. Steinkopf in Stuttgart.</p>
-
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Inhalt">Inhalt</h2>
-
-</div>
-
-<table summary="Inhaltsverzeichnis">
- <tr>
- <td class="s5">
- &nbsp;
- </td>
- <td class="s5">
- <div class="right">Seite</div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td>
- Erstes Kapitel &mdash; Die gefährliche Stadt
- </td>
- <td>
- <div class="right"><a href="#Erstes_Kapitel">5</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td>
- Zweites Kapitel &mdash; Die Flucht
- </td>
- <td>
- <div class="right"><a href="#Zweites_Kapitel">35</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td>
- Drittes Kapitel &mdash; Das Kamel
- </td>
- <td>
- <div class="right"><a href="#Drittes_Kapitel">69</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td>
- Viertes Kapitel &mdash; Der Missionar
- </td>
- <td>
- <div class="right"><a href="#Viertes_Kapitel">101</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td>
- Fünftes Kapitel &mdash; Christines Reise
- </td>
- <td>
- <div class="right"><a href="#Fuenftes_Kapitel">116</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td>
- Sechstes Kapitel &mdash; Schluß
- </td>
- <td>
- <div class="right"><a href="#Sechstes_Kapitel">136</a></div>
- </td>
- </tr>
-</table>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[S. 5]</a></span></p>
-
-<h2 class="left" id="Erstes_Kapitel">Erstes Kapitel.<br />
-
-<b class="s4 mleft2">Die gefährliche Stadt</b></h2>
-
-</div>
-
-<p class="p0"><span class="initial">E</span>s war noch früh am Morgen, gegen ein halb sieben ungefähr, da waren
-Hans und Suse, die beiden Doktorskinder, die bei Frau Cimhuber, der
-Pfarrwitwe, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, schon wach. Voll
-Unruhe hatten sie ihr Lager verlassen, sich angezogen und saßen nun fix
-und fertig am Tisch in Susens Zimmer, bereit zur Schule zu gehen.</p>
-
-<p>Dabei waren es ganze anderthalb Stunden vor Schulanfang. Aber die
-beiden hatten nun mal keine Ruh und Rast, seit sie hier in der Stadt
-weilten, und ihre Aufregung verriet sich in ihrem ganzen Wesen und
-Aussehen. Wie Schatten ihrer selbst sahen sie aus.</p>
-
-<p>Suse, die kecke, übermütige Suse, die sonst ihren Kopf mit der
-fürwitzigen Nase so hoch zu tragen pflegte, hielt ihn trübselig
-gesenkt. Und ihr Bruder Hans sah aus seinen großen, dunklen Augen
-verängstigt um sich. Die beiden fühlten sich ebenso verlassen und
-ausgestoßen hier in dieser fremden Stadt, in der sie gerade einen Tag
-verbracht hatten und in der sie doch eine lange Zeit bleiben sollten,
-um die höheren Schulen zu besuchen. &mdash; Weit weg, an das andere Ende
-der Welt, schien ihnen ihr Elternhaus, das freundliche Arzthäuschen,
-gerückt; und dabei war es doch nur eine Tagereise entfernt und lag in
-den Bergen, deren Umrisse man an hellen Tagen wie eine feine Linie am
-Horizont wahrnehmen konnte.</p>
-
-<p>„Hans,“ sagte das kleine Mädchen plötzlich, „was meinst du, sind Frau
-Cimhuber und Ursel schon wach?“</p>
-
-<p>„Ich glaub’, mir ist’s, als hätt’ ich jemand auf Pantoffeln gehen
-hören,“ erwiderte der Bruder... „vielleicht war’s Ursel.“</p>
-
-<p>Suse nickte.</p>
-
-<p>Und halb zu Hans gewandt, halb wie im Selbstgespräch fuhr sie fort:
-„Gräßlich alt ist Ursel schon. Über sechzig Jahre. Und vierzig Jahre
-ist sie schon bei Frau Cimhuber gewesen. Das ist viel länger als unsere
-Rosel. Rosel ist gerade neun Jahre bei uns. Das ist einunddreißig Jahre
-weniger als Ursel.“</p>
-
-<p>„Du Suse,“ fragte Hans mit einem Male, „was hat eigentlich gestern
-abend Frau Cimhuber über Ursel gesagt, als sie vor uns auf dem Sofa
-gesessen ist und deine Hand gehalten hat und uns so lange angesehen
-hat?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_6" id="Seite_6">[S. 6]</a></span></p>
-
-<p>„Das weißt du schon nicht mehr!“ rügte Suse, die so gern dem jüngeren
-Bruder gegenüber die Überlegene, Belehrende spielte. „Wirklich, das
-weißt du nicht mehr? &mdash; Sie hat gesagt: ihr sollt Ursel stets mit
-Rücksichtnahme und Respekt begegnen; denn sie ist über vierzig Jahre in
-meinem Dienst und ist mir eine getreue Beraterin und bewährte Freundin
-gewesen, eine Stütze meines Hauses in Not und Gefahr. Nicht nur in
-fröhlichen Zeiten, sondern auch in trüben Zeiten voller Aufopferung und
-Liebe und echt christlichen Sinnes. Gehorcht ihr wie mir!“</p>
-
-<p>„Aber, Suse, so viel hat sie nicht gesagt,“ fiel Hans ein.</p>
-
-<p>„Doch, Hans, ganz bestimmt!“</p>
-
-<p>Und Suse wiederholte noch einmal: „Nicht nur in fröhlichen Zeiten,
-sondern auch in trüben Zeiten, voller Aufopferung und Liebe. Gehorcht
-ihr wie mir!“ &mdash; Liebte sie es doch über die Maßen, feierliche Worte
-mit schöner Betonung aufzusagen, vor allem Gesangbuchverse oder Stellen
-aus Predigten, die sie Sonntags in der Kirche daheim auffing und nicht
-immer dem Sinn nach verstand. &mdash; Und mit großer Genugtuung bemerkte
-sie bei diesen Gelegenheiten jedesmal, wie Hans, der schwerfälliger
-beim Auswendiglernen war als sie, bewundernd zu der begabten Schwester
-aufsah.</p>
-
-<p>Wieder war es nun still in dem Zimmer, bis Hans plötzlich leise fragte:
-„Magst du eigentlich Frau Cimhuber gern?“</p>
-
-<p>Das kleine Mädchen wurde feuerrot, sah verlegen vor sich hin und
-schüttelte dann ihr Haupt.</p>
-
-<p>Da stieg auch dem Bruder die Verlegenheitsröte in die Wangen, und er
-gestand der Schwester, daß er die Pfarrfrau ebensowenig leiden möge.</p>
-
-<p>„Aber, Hans, wir müssen sie lieb haben,“ rügte da Suse, sich flugs
-ihres Amtes als Lehrmeisterin in allen Tugenden dem Bruder gegenüber
-entsinnend, „wir müssen sie lieb haben, das haben der Vater und die
-Mutter uns ausdrücklich befohlen.“</p>
-
-<p>„Wenn ich aber nicht kann,“ meinte Hans gedrückt, „was soll ich da
-machen?“ Und als die Schwester schwieg, forschte er halblaut weiter:
-„magst du Ursel gern, Suse?“</p>
-
-<p>„Ja,“ wollte die Schwester sagen, aber ihr fiel ein, daß dies gelogen
-wäre, und so verweigerte sie dem Bruder lieber jede Auskunft.</p>
-
-<p>Er wartete noch ein Weilchen und fuhr dann mehr flüsternd als redend
-fort: „Eine gräßlich große Nase hat Ursel. Gelt? &mdash; Und eine solch’
-dicke Warze mit einem langen Haare drauf.“</p>
-
-<p>„Ja, ja,“ fiel Suse mit einem Male lebhaft ein, „ein ganz stacheliges
-Haar ist’s. &mdash; Weißt du, Hans, genau so wie die Hexe in dem
-Märchenbuch, das uns Tante Anna geschenkt hat.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span></p>
-
-<p>„Ja, daran hab’ ich auch schon gedacht,“ meinte der Bruder ebenso
-lebhaft wie sie.</p>
-
-<p>„Hans, Hans, jetzt haben wir schon wieder was Schlechtes gesprochen,“
-meinte Suse schuldbewußt. „Immer fangen wir wieder von der Nase an.
-Diesmal hast du angefangen. Das dürfen wir doch nicht. Der Vater und
-die Mutter haben uns doch befohlen, daß wir nicht von den Fehlern und
-Gebrechen anderer Leute reden.“</p>
-
-<p>„Aber von großen Nasen haben sie nichts gesagt. Und große Nasen sind
-auch nichts Schlimmes. Die von dem Großvater von unserem Pfarrer,
-der vorigen Herbst zu Besuch bei ihm war, die war noch viel größer.
-Weißt du denn nicht mehr? Weißt du denn nicht mehr, wie viel wir davon
-gesprochen haben? Und du hast am meisten davon gesprochen. Und wie hast
-du gelacht, als Theobald gesagt hat, seine Nase ist so groß wie die von
-einem Nußknacker!“</p>
-
-<p>„Da waren wir auch noch viel jünger, Hans.“</p>
-
-<p>„Jünger, Suse? Ein halbes Jahr ist’s her.“</p>
-
-<p>Hier achtete die Schwester nicht weiter auf des Bruders Reden, sondern
-sah mit gespanntem Ausdruck nach der Tür, vor der schlürfende Schritte
-und Stimmen zu hören waren. &mdash; Sicher gingen Frau Cimhuber und ihre
-Magd vorüber. Ganz still verhielten sich nun die Kinder, bis die
-Geräusche draußen verklungen waren, dann stand Hans leise auf, ging auf
-den Zehenspitzen zur Türe und spähte über den langen Gang.</p>
-
-<p>„Du, Suse,“ flüsterte er im nächsten Augenblick zurück, „sie sind jetzt
-in der Küche. Ich höre sie. Und hör’ mal, Suse, die Negerstube ist
-offen. Komm’ mal, wenn du sie sehen willst.“</p>
-
-<p>„Wo, wo? Wirklich, laß’ mich mal sehen,“ rief Suse und war in zwei
-Sprüngen an der Seite des Bruders. Ganz aufgeregt sah sie über den Gang
-nach Frau Cimhubers Staatsgemach, der „Negerstube“, hin. &mdash; So hatten
-die Kinder das Zimmer der Pfarrfrau getauft, weil es die merkwürdigsten
-Dinge aus fremden Ländern enthielt: Löwen- und Tigerfelle, ausgestopfte
-Affen, Vögel, Waffen und Bilder von Negern, Gefäße aus Holz und Stein
-und einen großen Götzen.</p>
-
-<p>„Dort hinten, guck, dort hinten sitzt der Gott,“ flüsterte Suse, ihren
-Bruder am Arm packend. „Dort sitzt er.“</p>
-
-<p>Und die beiden sahen wie gebannt auf das seltsamste Stück des ganzen
-Raumes, einen schwarz angestrichenen Negergott, der mit seinem
-bienenkorbdicken Leib und runden Schädel vergnügt von einer Säule in
-der Ecke herüber grinste.</p>
-
-<p>„Man meint, er lebt,“ flüsterte Suse „Für hundert Tafeln Schokolade
-möchte ich ihn nicht anfassen. Und du, Hans?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span></p>
-
-<p>In diesem Augenblicke hörten die beiden wieder Schritte und flohen in
-ihr Zimmer zurück. Irgend jemand kam &mdash; Ursel oder die Pfarrfrau.</p>
-
-<p>Gleich darauf wurde die Klinke ihrer Tür niedergedrückt, und Frau
-Cimhuber stand auf der Schwelle.</p>
-
-<p>Sie war gekommen, die Kinder zu wecken.</p>
-
-<p>Langsamen Schrittes wich sie zurück, als sie der beiden ansichtig wurde.</p>
-
-<p>„Aber Kinder,“ sagte sie dann vorwurfsvoll, „ihr solltet ja noch
-schlafen! Ich wollte euch jetzt erst wecken. Was soll das heißen?“</p>
-
-<p>„Wir sind schon aufgewacht, und dann sind wir aufgestanden,“ stotterte
-Suse, „entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, wir sind schon aufgestanden.“</p>
-
-<p>Dann schluckte das Kind dreimal trocken runter vor Schrecken und
-fuhr noch verwirrter als bislang fort: „Entschuldigen Sie, wir haben
-gemeint, Sie haben keine Kinder. Und da verschlafen Sie, weil Sie keine
-Kinder haben, haben wir gemeint. Und da hat auch Hans gesagt, es ist
-der Frau Cimhuber sicher sehr angenehm, wenn wir aufstehen. Und da sind
-wir aufgestanden.“</p>
-
-<p>Der Bruder, der daneben stand, biß sich auf die Lippen, aus Beschämung
-über all das krause Zeug, das seine Schwester daherredete.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber aber schüttelte ihren Kopf und sagte: „Aber Kinder, ich
-habe euch gestern abend doch ausdrücklich gesagt, ihr sollt liegen
-bleiben, bis wir euch wecken. Ich habe es zweimal gesagt. Ihr müßt euch
-besser an das Gehorchen gewöhnen.“</p>
-
-<p>Die Kinder fuhren zusammen und sahen sich erschrocken an. Sie aber
-merkte nichts davon und fuhr mit vorwurfsvoller Stimme fort: „Vor einer
-halben Stunde ist der Kaffee überhaupt nicht fertig. Wir trinken immer
-erst zehn Minuten vor ein halb acht Uhr Kaffee. So lange müßt ihr euch
-gedulden.“</p>
-
-<p>Und nach diesen Worten ging sie wiederum zur Türe hinaus.</p>
-
-<p>„Jetzt ist sie böse auf uns,“ sagte Suse, als sie gegangen war, und
-Hans nickte.</p>
-
-<p>„Wenn sie uns aber den Kaffee zu spät gibt?“ sagte er schließlich. „Was
-dann?“</p>
-
-<p>„Dann laufen wir ohne Kaffee fort!“ erklärte Suse. Inzwischen war Frau
-Cimhuber wieder langsam zur Küche zurückgegangen, um mit Ursel, ihrer
-alten Magd und Vertrauten, über die Kinder zu reden. Vor der Tür von
-Ursels Reich stieß sie einen schmerzlichen Seufzer aus, den die alte
-Magd sicher gehört hätte, wenn sie nicht gerade dabei gewesen wäre, der
-alten abgeleierten Kaffeemühle einen Klaps zu geben, damit die paar
-letzten Bohnen, die widerspenstig über dem Mahlwerk herumhüpften, den
-schon zerriebenen nachpolterten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span></p>
-
-<p>Gleich darauf trat nun die Pfarrfrau dicht vor Ursel, und diese mußte
-aufsehen. Und in dem Augenblick, in dem sie ihr Haupt hob, konnte
-man den Schrecken verstehen, den ihr Anblick den Kindern einflößte.
-Von ihrem dichtvermummten Haupt waren nur eine lange Nase und ein
-entrüstetes Auge zu sehen, denn alles andere war durch Wolltücher
-verhüllt, deren Wärme der alten Magd heftige Zahnschmerzen vertreiben
-sollte.</p>
-
-<p>„Ursel, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber, indem sie ihre gefalteten Hände
-auf ihre schwarze Schürze sinken ließ. „Die Kinder sind schon wach. Sie
-sitzen schon angezogen in der Stube.“</p>
-
-<p>„Was, schon wach?“ fragte Ursel fast triumphierend, „da haben wir’s!
-Das hab’ ich ja gleich gesagt. Die beiden bringen alles zuwege.
-Merkwürdige Kinder sind’s. Solche Kinder hab’ ich hier herum noch gar
-nicht gesehen. Sehen Sie einmal den Buben an, wie dem die Augen im Kopf
-herumfahren. Und das Mädchen, das geht ja auf der Straße gar nicht wie
-andere Leute. Die ist gestern mitten im Weg stehen geblieben und hat
-die Leute angesehen wie Meerwunder. Und wie ich sie gefragt habe, was
-sie denn sieht, hat sie gestottert und keine Antwort gegeben. &mdash; Die
-rechten Hinterwäldler. Eine Elektrische haben sie hier zum erstenmal
-gesehen, ein Auto ist ihnen auch was ganz Neues. &mdash; Nur einmal haben
-sie zwei ganz weit weg im Tal gesehen, hat der Bub gesagt. &mdash; Und
-denken Sie sich an, Frau Pfarrer, gestern fährt da ein Auto an uns
-vorbei, da fällt das Mädchen gleich auf mich drauf vor Schrecken und
-jammert: ‚Oh, wie hat der Wagen geschrien, wie eine Kuh! haben Sie
-nicht gehört, Ursel?‘ Ich habe noch blaue Flecke am Arm. Wie ein Krebs
-ist’s an mir gehängt.“</p>
-
-<p>„Ja, Ursel, wir müssen Geduld haben,“ fiel Frau Cimhuber ein, „wir
-müssen Geduld haben. Bedenken Sie doch, die Kinder waren noch nie
-aus ihrem Gebirgsdorf fort und nun kommen sie zum erstenmal hierher.
-Recht ist es ja nicht von den Eltern gewesen, daß sie noch nie vorher
-eine Reise mit ihnen gemacht haben. Eine kleine Reise hätten sie
-wohl schon machen können. Jetzt ist’s zu spät. Jetzt ist ihnen alles
-fremd, und alles verwirrt sie. Und dann... und dann... das muß ich ja
-selbst zugeben, ein bißchen unerzogen sind sie, auch ein klein wenig
-verwildert. Das sind solche Landkinder immer. Jetzt müssen wir sie eben
-zu Gehorsam und Pünktlichkeit erziehen, und alles andere wird sich
-finden.“</p>
-
-<p>„Gewiß, Frau Pfarrer, aber wir werden uns noch verwundern,“ meinte
-Ursel. „Ich hab’ ja immer gesagt, lassen Sie es sein, nehmen Sie keine
-Kinder, wir sind zu alt dazu.“</p>
-
-<p>„Ja, aber Edwin wollte es doch. Sie wissen es doch auch, Ursel. Er<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span>
-hat immer gesagt: nimm dir ein paar Kinder ins Haus, Mutter, damit du
-Zerstreuung hast und nicht auf traurige Gedanken kommst. Mit Kindern
-bleibt man jung. Erst in seinem letzten Brief hat er mir wieder davon
-geschrieben. Und wie da bei mir angefragt wurde, ob ich die beiden
-Kinder von dem Doktor aus Schwarzenbrunn nehmen wollte, da hab’ ich ja
-gesagt. Denn es ist mir vorgekommen wie ein Wink des Himmels.“</p>
-
-<p>„Na, wir wollen sehen, wie noch alles wird,“ meinte Ursel. „An viel
-Gutes glaub’ ich nicht.“</p>
-
-<p>Inzwischen warteten die Kinder sehnsüchtig auf den Kaffee, und als er
-nach einer halben Stunde immer noch nicht da war, konnten sie ihre
-Unruhe nicht mehr bemeistern. Suse schnallte ihren Ranzen auf, ging
-unruhig im Zimmer hin und her und blieb schließlich an der Tür stehen,
-die Klinke in der Hand.</p>
-
-<p>„Sie rufen immer noch nicht, Hans,“ meinte sie ungeduldig. „Sie rufen
-immer noch nicht. &mdash; Weißt du was, wir laufen ohne Kaffee fort.“</p>
-
-<p>„Das dürfen wir nicht, da wird Frau Cimhuber böse,“ entgegnete er.</p>
-
-<p>„Aber wir kommen ja zu spät,“ sagte sie, hin und her trippelnd, „wir
-kommen zu spät. Und wir dürfen doch nicht zu spät kommen, Hans; ich
-will nicht zu spät kommen. Ich traue mich sowieso schon nicht in die
-Schule. Dann traue ich mich erst recht nicht. Lieber will ich keinen
-Kaffee.“</p>
-
-<p>„Hopp, wir gehen,“ ermunterte das kleine Mädchen den Bruder, öffnete
-im selben Augenblick die Tür und eilte auf den Vorplatz. Gerade wollte
-sie mit dem Bruder in das Treppenhaus huschen und ein Stückchen von
-seinem Ranzen schwebte noch um die Ecke, da schaute Ursel verwundert
-zur Küche hinaus und hörte auf den Lärm. Mit einem Sprung war sie auf
-dem Vorplatz und von dort auf der Treppe, holte die beiden Flüchtlinge
-ein und führte sie in die Wohnung zurück.</p>
-
-<p>„Nicht übel, nicht übel,“ sagte sie. „Wenn ich’s mir nicht gedacht
-hätte! Wollt ihr schon durchbrennen? Jetzt mal hier herein ins Eßzimmer
-und trinkt euern Kaffee.“</p>
-
-<p>Und gleich darauf saßen die beiden mit erhitzten Gesichtern der
-Pfarrfrau gegenüber am Kaffeetisch und sahen, wie ihre Pflegemutter
-traurig den Kopf schüttelte, wobei sich die Perlenschnüre ihres
-Häubchens verwirrten und sie mit anklagender Stimme sagte: „Ihr müßt
-euch mehr an das Gehorchen gewöhnen. Ihr wißt doch, daß wir euer
-Bestes, euer Allerbestes wollen.“</p>
-
-<p>„Ja, das haben Vater und Mutter auch gesagt, daß Sie so gut zu uns
-sind,“ stotterte Suse, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span> „Aber
-wir haben so Angst, daß wir zu spät zur Schule kommen. Wir möchten
-lieber keinen Kaffee.“</p>
-
-<p>„Wir sorgen dafür, daß ihr nicht zu spät kommt,“ sagte die Pfarrfrau.
-„Ich habe es schon einmal gesagt, ihr müßt Vertrauen zu uns haben.
-Ursel und ich wollen euer Allerbestes.“</p>
-
-<p>Die Kinder aßen und tranken verschüchtert und ängstlich, fast mit
-Widerstreben und waren froh, als sie endlich aufstehen und sich
-entfernen durften.</p>
-
-<p>In großer Eile liefen sie die Treppe hinunter auf die Straße. Jetzt
-waren sie ja frei. Frau Cimhubers Haus gegenüber führte eine Brücke
-über den Kanal, und dort hinüber ging ihr Weg. Gerade als sie die
-Brücke überschritten, kam ein mit Steinen beladenes Schiff daher.
-Düster aussehende Männer, die an die Holzhauer in der Doktorskinder
-Heimatsort erinnerten, standen auf dem Kahn und stießen ihn mit langen
-Stangen vorwärts. Langsam zog er unter der Brücke durch, dumpf hallten
-die Stimmen der Männer herauf, und langsam kam er auf der andern Seite
-wieder zum Vorschein.</p>
-
-<p>Eine Weile folgten ihm die Kinder mit ihren Blicken, dann gingen sie
-weiter. Und während sie so dahinschlenderten, fiel Suse mit einemmal
-eine Reihe hoher, freischwebender Buchstaben ins Auge, die auf dem
-Dachfirst eines Hauses jenseits des Kanals standen. Sie machte ihren
-Bruder darauf aufmerksam.</p>
-
-<p>„Hans, dort oben, guck, dort,“ rief sie, „war es nicht dort, wo gestern
-die hellen Buchstaben herumgehüpft sind, als die Lichter angezündet
-wurden und wir aus dem Fenster gesehen haben? Weißt du nicht mehr?
-Herrlich war das, gelt, wie immer einer hinter dem andern hergesprungen
-ist. Und wupp, waren sie alle miteinander weg und ausgelöscht. Und
-dann kamen sie wieder und sind wieder hintereinander hergesprungen.
-Das ist das Allerschönste hier. Am liebsten möchte ich eigentlich, daß
-wir auch daheim auf unserem Haus solche große Buchstaben hätten. Das
-wäre herrlich. Dann kämen alle Leute des Abends herbei und guckten sich
-unser Haus an. Und der Vater und die Mutter und wir ständen am Fenster
-und freuten uns über unser schönes Haus. Nicht wahr?“</p>
-
-<p>Der Bruder nickte, hatte aber wenig acht auf der Schwester Rede,
-sondern mehr auf den Weg; denn er hatte die Führung übernommen und Suse
-versprochen, sie an ihrer Schule abzuliefern.</p>
-
-<p>So war es ja immer. In gewöhnlichen Zeiten leitete die Schwester den
-Bruder gern, aber in schweren Tagen, wenn Not an den Mann trat, war er
-der leicht eingeschüchterten Suse treuster Führer. Wie ein geschickter
-Steuermann führte er sie jetzt, mit den Augen scharf<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span> nach allen Seiten
-spähend, und sie benutzte die Zeit derweil, um ihren Gefühlen in den
-merkwürdigsten Stoßseufzern Luft zu machen.</p>
-
-<p>„Ach, ich möcht’, ich wäre schon in der Schule,“ sagte sie einmal. Dann
-wieder: „Ach, ich möcht’, ich wäre schon wieder aus der Schule heraus.
-&mdash; Ach, ich möcht’, ich wäre bei den Eltern..., ach, ich möchte, Frau
-Cimhuber wäre nicht so alt und Ursel sähe nicht so böse aus.“</p>
-
-<p>Und plötzlich packte sie den erschreckten Bruder am Arm und raunte ihm
-zu: „Jetzt, Hans, jetzt paß auf, jetzt darfst du nicht auf die rechte
-Seite gucken. Da kommt das Haus, von dem ich dir gesagt habe, vor dem
-die toten Rehe auf der Straße liegen. Und alle haben sie ihre Köpfe
-herumgedreht, und ihre Hälse sind wie gebrochen. Und blutig sind sie,
-lauter Blut ist um sie herum, große Blutlachen schwimmen um sie herum.</p>
-
-<p>Mir ist’s ganz schlecht geworden. Und du glaubst gar nicht, wie traurig
-sie mich angesehen haben. Und Hasen hängen dort, sicher hundert, an den
-Beinen.“</p>
-
-<p>„Wo hängen die Hasen an den Beinen?“ fragte Hans aufgeregt.</p>
-
-<p>„Guck nicht hin, Hans,“ wehrte Suse, „ich bitte dich, guck nicht hin,
-Hans!“ Und dann flüsterte sie ihm mit erschrecktem Gesichte zu: „Ein
-Mörder wohnt dort, ganz gewiß, Hans. Ich habe darüber nachgedacht, es
-ist ein Mörder.“</p>
-
-<p>Es stimmte. Suse hatte gestern darüber nachgesonnen und dank ihrer
-lebhaften Phantasie eine wahre Schauergeschichte zusammengestellt,
-wonach ein Zauberer viel hundert Prinzessinnen in Rehe verwandelt und
-getötet hatte, weil sie ihm nicht gehorcht hatten.</p>
-
-<p>Um den Bruder nun möglichst schnell aus dem Bereich des gefährlichen
-Zauberers zu bringen, packte sie Hans am Arm und zog ihn mit sich. Er
-aber widersetzte sich und fragte hastiger als vorher: „Wo sind die Rehe
-und Hasen, die an den Beinen hängen, Suse; wo hast du sie gesehen? Ich
-möchte sie auch sehen.“</p>
-
-<p>„Nein, nein,“ wehrte sie.</p>
-
-<p>Es währte aber nicht lange, so entdeckte er selbst die Tiere, die vor
-einem Verkaufsladen am Wege lagen, und blieb davor stehen.</p>
-
-<p>„Brr, blutig,“ sagte er und begann dann von einem Firmenschild über dem
-Eingang die Inschrift abzulesen: Wildbret- und Geflügelhändler Moormann.</p>
-
-<p>„Der verkauft die Rehe,“ erklärte er seiner Schwester.</p>
-
-<p>„Nein, das tut er nicht,“ widersprach sie, packte ihn fester am Ärmel
-und bat: „Lieber, lieber Hans, komm doch mit. Du sollst hier nicht
-stehen bleiben und dir das gräßliche Blut ansehen und alles ablesen.
-Wir müssen uns ja schämen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span></p>
-
-<p>„Warum müssen wir uns schämen?“ fragte er verwundert. „Und warum soll
-ich nicht alles ablesen? Der Vater und die Mutter haben doch selbst
-gesagt, wir sollen auf alles aufpassen!“</p>
-
-<p>Die beiden maßen sich mit feindlichen Blicken. Und es wäre zwischen
-ihnen sicher zum Streit gekommen, wenn sie nicht daran gedacht hätten,
-daß sie in dieser gefährlichen Zeit ja treu zueinander halten müßten.</p>
-
-<p>Drum folgte der Bruder der Schwester willig.</p>
-
-<p>„Der halbe Weg ist jetzt um,“ sagte Suse mit einem Seufzer. „Aber das
-Allerärgste kommt noch. Jetzt müssen wir noch über den großen Platz
-’rüber. &mdash; Wenn wir über den ’rüber sind, dann ist alles gut!“</p>
-
-<p>„Warum fürchtest du dich?“ fragte Hans. „Der ist doch nicht schlimm!“</p>
-
-<p>„Nicht schlimm, Hans? Am aller-, allerschlimmsten in der ganzen Stadt!
-Denke doch, da fahren die Elektrischen und die Wagen und die Radfahrer
-und die Autos, das sind die allergräßlichsten Dinger, die es gibt. &mdash;
-Hans, hab’ ich dir denn schon gesagt, daß ich gestern mit Ursel eins
-gesehen habe, das hat gebrüllt wie eine wilde Kuh.“</p>
-
-<p>„Was hat’s gemacht?“ fragte Hans und blieb wie angewurzelt stehen. „Was
-hast du gesagt, wie eine wilde Kuh hat’s gebrüllt? So was hab’ ich aber
-doch noch nicht gehört. Ein Automobil brüllt doch nicht, es tutet. Die
-Kühe brüllen und die Automobile tuten.“</p>
-
-<p>„Nein, Hans, es gibt Autos, die brüllen wie Kühe, so wahr und gewiß,
-wie ich hier stehe. Sie fangen ganz leise an, und dann schreien sie
-laut auf, daß du meinst, die Ohren wackeln dir, und dann weinen sie
-leise wie der Michel, wenn er an die Kette gelegt wird, und dann sind
-sie ganz still.“</p>
-
-<p>„Das möcht ich aber gern mal hören,“ sagte Hans begeistert. „Wann hast
-du das gehört? Wo hast du das gehört?“</p>
-
-<p>„Nein, Hans, wünsch’ dir das nicht; dann muß ich so laut an zu weinen
-fangen, wie du noch niemals von mir gehört hast. Da sollst du mal
-sehen!“</p>
-
-<p>Hans ging in Gedanken weiter und achtete lange nicht seines Weges,
-bis er mit einem Male einen Knaben mit einem Ranzen anrannte und sich
-erinnerte, daß ihre Zeit knapper wurde.</p>
-
-<p>Auch Suse fuhr aus Träumen auf. Denn ihre Gedanken waren weit
-ab gewandert, der fernen Heimat zu, und sie hatte den Schulweg
-ihres Dörfleins verlockend vor sich liegen sehen. Dort war sie
-stets in größter Seelenruhe und im gemütlichen Schritt die Straße
-hinuntergeschlendert und hatte im Übermut auch wohl mal die Augen
-geschlossen gehalten, wenn es ihr gerade beliebt hatte. Was konnte ihr<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span>
-dort auch Gefährliches in den Weg kommen! Ein Hühnchen, ein Hund, eine
-Katze vielleicht; was lag denn dran? Stolperte sie auch drüber und fiel
-auf die Nase, so bedeutete das doch kein Unglück.</p>
-
-<p>Aber hier!</p>
-
-<p>Suse schaute sich erschreckt um. Sie waren ja schon in der Straße
-angekommen, die auf den gefährlichen Platz führte. &mdash; Gewiß, dort zur
-rechten Seite nah’ ihrer Mündung auf den Platz, lag das Schilderhaus,
-an dem sie gestern mit Ursel vorübergegangen war, und das sie sich
-gemerkt hatte, weil dort ein gefährlich aussehender, brummiger,
-grimmiger Soldat gestanden war.</p>
-
-<p>„Dort hinten steht der Soldat!“ flüsterte sie jetzt ihrem Bruder zu.
-„Dort möchte ich nicht gern vorbei, Hans. Denn er hat mich gestern so
-zornig angesehen, als ich vorbeiging, als wollte er mich erschießen.“</p>
-
-<p>„Das meinst du nur so,“ beruhigte Hans. „Er schießt nicht. Er tut
-keinem Menschen etwas. Der steht Wache. Komm nur mit und guck ihn dir
-ruhig an.“</p>
-
-<p>Langsam und zögernd setzte das kleine Mädchen einen Fuß vor den andern.</p>
-
-<p>Noch einige Schritte fehlten, dann mußten sie bei der Wache sein &mdash; da
-sah sie ihr entgegen auf demselben Bürgersteig einen Offizier kommen.
-Sein Säbel rasselte hinter ihm her.</p>
-
-<p>Und nun horchte Suse plötzlich erschreckt auf und blieb wie angewurzelt
-stehen. Hinter sich hatte sie einen Ton vernommen, der ihr Blut
-erstarren ließ. &mdash; Ach, sich umzusehen hätte sie nicht gewagt, um alle
-Schätze der Welt nicht. &mdash; Ein Huschen, Sausen und Gleiten war zu
-hören &mdash; und sie wußte jetzt, jetzt kam’s hinter ihr her, ihr Feind,
-das Automobil. Eines von den Ungeheuern, die wie auf Filzpantoffeln
-heranglitten, einen mit ihren Augen, groß wie Messingkübel, frech
-anstarrten und dann aufschrien wie wilde Kühe.</p>
-
-<p>Das kleine Mädchen zitterte und bebte am ganzen Körper und zog den Kopf
-aus Schrecken über den ersten fürchterlichen Ton, der kommen müsse,
-leicht zwischen die Schultern.</p>
-
-<p>Und jetzt war sie mit Hans bei dem Soldaten angelangt, und auch der
-Offizier war ganz nahe.</p>
-
-<p>Da &mdash; hui &mdash; flog das Automobil daher und mitten vor dem Schilderhaus
-gellte und schrie es laut auf, als wollte es zerspringen. Schauerlich
-war’s.</p>
-
-<p>Da sprang der Soldat vor sein Schilderhaus, scharrte mit den Füßen, riß
-sein Gewehr von der Schulter und streckte es dem Offizier hin.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span></p>
-
-<p>Und in demselben Augenblick erklang in dem Automobil ein Krachen, als
-wolle es in hundert Stücke zerbersten.</p>
-
-<p>Da schrie Suse laut um Hilfe, ließ ihre Butterbrotbüchse fallen und
-stürmte in verkehrter Richtung davon.</p>
-
-<p>„Ach, Mutter,“ jammerte sie, „ach, Mutter.“</p>
-
-<p>Sie hatte bestimmt gesehen, wie der Offizier, der Soldat und das
-Automobil aufeinander drauf geflogen waren und geborsten waren.</p>
-
-<p>Sie hatte ganz und gar den Kopf verloren, die arme Suse.</p>
-
-<p>„Suse,“ rief der Bruder und eilte so schnell er konnte, hinter ihr her.
-„Bleib doch stehen, wart doch!“</p>
-
-<p>In einer entlegenen Straße holte er sie endlich ein.</p>
-
-<p>„Sie sind alle tot,“ rief sie ihm zu, „gelt, und das Schilderhaus ist
-auch kaput?“</p>
-
-<p>„Nein, sie sind alle lebendig,“ rief er.</p>
-
-<p>„Ach, wär’ ich doch daheim, ach, wär’ ich doch daheim,“ jammerte Suse
-da.</p>
-
-<p>Hans war kreidebleich. Der Schrecken über Suses Flucht und der
-Spektakel am Schilderhaus hatten ihm auch etwas die Fassung geraubt.
-Und nun sagte er sich, daß sie sich verlaufen hätten und wohl zu spät
-zur Schule kämen.</p>
-
-<p>Wie die beiden noch so rat- und hilflos dastanden, nahte mit einem Male
-ein Retter.</p>
-
-<p>Ein Knabe kam des Wegs, der die beiden Dorfkinder schon aus der Ferne
-musterte.</p>
-
-<p>Unter seinem Arm schleppte er ein Paket Bücher, die Nase mit den
-Sommersprossen trug er keck in der Luft, die Mütze hatte er tief in die
-Stirn gezogen, und seine blitzenden blauen Augen richteten sich dreist
-jedem Vorübergehenden in das Gesicht.</p>
-
-<p>„Servus,“ rief er plötzlich, daß es über die Straße schallte, „da
-schlag doch einer lang hin! Seh’ ich recht?“</p>
-
-<p>Hans und Suse horchten auf, folgten der Richtung des Rufes, erkannten
-den Rufer und jubelten laut: „Theobald, Theobald!“</p>
-
-<p>Ja, er war’s! Theobald, einer ihrer zahlreichen Vettern. Die Krone
-ihrer Vettern sozusagen.</p>
-
-<p>Dieser Knabe hatte sie nämlich schon einige Male mit seinen Besuchen
-in ihrem einsamen Gebirgsdorfe beehrt und auch seine letzten Ferien
-dort verbracht. Damals war zwar viel öfters als sonst in der Hand ihres
-Vaters, des Doktors, eine geschmeidige Haselgerte zu sehen gewesen, die
-dann auf Theobalds Rücken lustige Tänze ausgeführt hatte.</p>
-
-<p>Aber schöne Zeiten waren’s doch gewesen.</p>
-
-<p>„Na, seh’ ich recht, das seid ihr,“ rief er noch einmal. „Ihr seht gut<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span>
-aus. Was ist denn los mit euch? Der Hans schaut aus wie der schönste
-Rahmkäse, und die Suse weint Tränen, als hätte sie eine Schüssel mit
-gehackten Zwiebeln zum Frühstück bekommen.</p>
-
-<p>Was tut ihr eigentlich hier in dieser Straße, die euch gar nichts
-angeht? Hat eure Pflegedame euch schon vor die Türe gesetzt? Seid ihr
-eurer Cimhuberin schon ausgekniffen?“</p>
-
-<p>„Frau Cimhuber heißt’s,“ verbesserte Suse.</p>
-
-<p>„Wir haben uns verlaufen,“ erklärte Hans.</p>
-
-<p>„Und deshalb dies Lamento und die verheulten Gesichter?“ meinte der
-Vetter wegwerfend. „Ihr gehört wirklich noch ins Wickelkissen! Heftet
-euch von nun an an meine Fersen! Ich werde euch sicher führen.“</p>
-
-<p>Suse zog ihr Taschentuch hervor, trocknete ihre Tränen und sah
-zuversichtlich auf Theobald, der ihr sicher und großartig vorkam, wie
-die feinen Stadtherren, die sich nicht fürchteten, und wenn ihnen die
-Automobile wie ein Rudel Wölfe hinterher kamen.</p>
-
-<p>„Hört, meine Kleinen,“ fuhr der Vetter mit wichtiger Miene fort. „Erst
-bringen wir den geknickten Lilienstengel, die Suse in ihre Schule, dann
-gehen Hans und ich weiter und schreiten stolz erhabenen Hauptes durch
-die Pforten unseres Pennals...“</p>
-
-<p>Hier unterbrach der Vetter seine eigene Rede, runzelte die Brauen
-und betrachtete in Nachdenken versunken die Haltestelle der Trambahn
-jenseits der Straße.</p>
-
-<p>„Hm! Hm!“</p>
-
-<p>Er hatte einen Gedanken.</p>
-
-<p>Wenn er jetzt aber seinen Vetter und seine Cousine auf eigene Kosten
-zur Schule fahren ließe! Das wäre fein! Da hätte er ja Gelegenheit,
-sich wie der herrlichste Millionär diesen Dorfkindlein gegenüber
-aufzuspielen, so recht von oben herab wohltätig. Vorgestern waren
-die beiden Hinterwäldler ja zum ersten Male in ihrem Leben in einer
-Eisenbahn gefahren und gestern in einer Elektrischen.</p>
-
-<p>Und da hatte seine Cousine voll Begeisterung zu ihm gesagt, man
-meine, man fahre mit der Elektrischen in den Himmel hinein. Eine
-solche Himmelfahrt konnte man ihnen ja leicht verschaffen. Noch einen
-Augenblick überlegte der Vetter, dann faßte er in seine Westentasche,
-zog drei Zehnpfennigstücke hervor und sagte: „Hört, unsere Zeit ist
-knapp. Wir fahren jetzt zur Schule. Ich stifte euch die Fahrscheine.“</p>
-
-<p>In den Augen der Kinder leuchtete es hell auf, ein Umstand, den
-Theobald mit Befriedigung wahrnahm.</p>
-
-<p>„Die nächste Elektrische, die kommt,“ belehrte er sie, „müssen wir
-nehmen! Verstanden? Und zwar im Sturm. Sonst kommen wir zu<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span> spät.
-Verstanden? Ihr habt also keine Zeit, die sämtlichen Reklameschilder
-und Aufschriften daran zu studieren, bevor ihr einsteigt. Merkt’s
-euch! Und dann laßt euch nicht etwa einfallen, andere Leute vor euch
-einsteigen zu lassen und um sie herum zu scharwenzeln und zu sagen:
-bitte, bitte, gehen Sie zuerst hinein und treten Sie uns ruhig auf die
-Hühneraugen; das ist uns eine ganz besondere Freude. &mdash; Nein, sobald
-ihr den Wagen seht, rennt ihr drauf los wie die Wilden, schiebt alle
-Leute zur Seite und schreit: Verzeihung, Verzeihung, und klettert auf
-die Plattform wie die Affen.“</p>
-
-<p>„Sie kommt,“ rief Theobald, „jetzt drauf los.“</p>
-
-<p>Und er stürmte vor ihnen her wie ein Held zur Schlacht. „Verzeihung,
-Verzeihung,“ schrie er und drängte die Leute zur Seite.</p>
-
-<p>„Verzeihung,“ rief Hans hinter ihm.</p>
-
-<p>„Verzeihung,“ sagte Suse kleinlaut.</p>
-
-<p>Und den Kopf ein wenig geneigt eilte sie vorwärts, sich an Hansens
-Ranzen festhaltend.</p>
-
-<p>Theobald schob eine Frau zur Seite, einen alten Herrn, ein Kind. &mdash;
-Jetzt hatte er den Griff der Elektrischen gefaßt und schwang sich
-hinauf. Da stauten sich die Menschen. Hans und Suse konnten ihren
-Vetter nicht mehr sehen. Auf der Plattform aber entstand jetzt ein
-fürchterliches Gedränge, ein Schieben und Stoßen, ein Reißen und
-Wühlen. Und eine zornige Stimme übertönte alle: „Wer schreit mir da
-fortwährend Verzeihung in die Ohren? Wart’ einmal!“</p>
-
-<p>Und im nächsten Augenblick sahen Hans und Suse, wie ein Mann ihren
-Vetter, das feine Stadtherrlein Theobald, am Kragen gepackt hielt und
-heftig hin und her schüttelte, als wär’s eine Pflanze, deren Erdreich
-gelockert werden müsse. Und mit einem Schwung wollte er ihn auf die
-Straße setzen. Aber da wandte Theobald sich um, hielt sich an dem Herrn
-fest und nahm ihn gleich zwei Stufen die Elektrische mit hinunter. Ums
-Haar wären beide am Boden gelegen.</p>
-
-<p>Da klingelte die Elektrische und fuhr davon. Im letzten Augenblick
-konnte der Herr noch aufspringen.</p>
-
-<p>Theobald aber, der seinen Hut verloren hatte, mußte diesen erst mal
-suchen. In der Mitte der Straße erblickte ihn da sein Vetter Hans, hob
-ihn auf und übergab ihn dem Raufbold Theobald, indem er vor peinlicher
-Verlegenheit über und über rot wurde, denn Theobalds rechte Wange
-glühte wie ein Rosenbusch, und fünf schneeweiße Finger kamen allmählich
-darauf zum Vorschein.</p>
-
-<p>Der kaltblütige Theobald aber hatte sich schnell wieder gefaßt und
-murmelte entrüstet: „Feige Gesellschaft! Sobald einer nur etwas forsch
-auftritt, bekommen sie alle gleich Angst für ihr Leben. Ich hätte<span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span> nur
-meine rechte Hand frei haben sollen, da hätten mich keine zehn Pferde
-da oben runter gebracht.“</p>
-
-<p>Und diese Worte brachten flugs der Doktorskinder Bewunderung für den
-herrlichen Vetter wieder zum Blühen. Erwartungsvoll sahen sie jetzt zu
-ihm auf und beobachteten, wie er mit gerunzelten Brauen seine silberne
-Uhr aus der Tasche zog und wichtig drauf nieder sah.</p>
-
-<p>„Jetzt aber vorwärts,“ rief er mit scharfer Stimme. „Noch fünf Minuten,
-dann beginnt die Schule.“</p>
-
-<p>Im nächsten Augenblick flogen die Kinder dahin wie die Windspiele. Vor
-der Tür von Susens Schule ließen die Knaben das kleine Mädchen zurück.</p>
-
-<p>„Ich hol dich ab, Suse,“ waren des Bruders letzte Worte; dann war er
-fort. Suse war allein.</p>
-
-<p>Sie ging zögernden Schrittes durch ein großes, eisernes Gittertor in
-den Hof, der vor ihr lag, und von dort in das hohe rote Schulgebäude,
-über dessen Eingang in großen schwarzen Buchstaben: höhere
-Mädchenschule zu lesen war.</p>
-
-<p>Im ersten Stock befand sich ihre Klasse. Sie hatte es gestern erfahren,
-als sie zur Aufnahme in die Schule geprüft wurde, und ging nun dorthin.</p>
-
-<p>Lautes Sprechen, Lachen und Lärmen drang aus dem Innern der Schulstube
-heraus und verkündete ihr, daß ihre Mitschülerinnen wohl schon
-vollzählig versammelt seien.</p>
-
-<p>Das Herz klopfte ihr. Langsam nahm sie ihren Hut und ihre Jacke ab und
-hängte sie an einem Hakenbrett im Gange auf. Ängstlich schielte sie
-nach der Klassentüre. &mdash; Eine Weile zögerte sie noch; dann faßte sie
-mit schnellem Entschluß den Griff der Tür, drückte ihn nieder und trat
-ein.</p>
-
-<p>Totenstille empfing sie. Wie auf einen Schlag waren Lachen und Lärmen
-verstummt, und die Augen sämtlicher kleinen Mädchen richteten sich auf
-Suse. Sie glaubte in den Boden sinken zu müssen vor Verwirrung, und
-ihre Füße waren schwer wie Blei. Endlich konnte sie sich wieder regen
-und ging nun langsam vorwärts, der letzten Bank zu, in der sie einen
-freien Platz entdeckt hatte. Leise sagte sie zu den kleinen Mädchen an
-ihrer Seite guten Tag, erhielt aber keine Antwort, da ihr Gruß nicht
-gehört worden war. Und nun begann auch plötzlich wieder das Kichern,
-das Lärmen und Reden und verstummte erst, als es punkt acht Uhr war und
-die Lehrerin eintrat.</p>
-
-<p>An dem Pult ganz vorne nahm sie Platz. Das kleine Mädchen hob
-schüchtern seine Augen, konnte aber nur ein Stückchen ihres rechten
-Ohres erkennen; alles übrige war durch zwei kleine vor Suse sitzende
-Mädchen verdeckt, die ihre Köpfe zusammensteckten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span></p>
-
-<p>Und dann hörte sie mit einem Male die laute, tiefe Stimme der Lehrerin,
-die jedes Wort deutlich und scharf aussprach. Aber den Sinn ihrer Rede
-vermochte sie nicht zu verstehen; denn alles um sie her verwirrte sie
-noch zu viel, als daß sie einen klaren Gedanken hätte fassen können. &mdash;
-Wie fremd, wie kalt war doch alles hier, kein bißchen gemütlich, wie
-daheim. Daheim, da war es viel tausendmal schöner &mdash; da kannte Suse
-jedes Kind, und den Lehrer gar! Den kannte sie seit dem ersten Tag,
-da sie zur Schule gegangen war. &mdash; Dort gab es ja nur einen einzigen
-Lehrer, der kam jeden Morgen behaglich in die Schule geschlendert und
-brachte einen großen Kaffeetopf mit, aus dem er trank, wenn es ihm
-gerade paßte. Und vor Beginn des Unterrichts pflegte er sich jedesmal
-dreimal feierlich in ein rot kariertes Taschentuch zu schneuzen, die
-Kinder über die Brille zu mustern und dann zu beten.</p>
-
-<p>Manchmal freilich konnte er auch böse werden, der gute Mann; dann,
-wenn die Kinder zu viel Unfug trieben und ihn reizten. Dann sprang er
-plötzlich wie der Blitz mit seinem Stöckchen von dem Pult herunter,
-packte die Bösewichter und bestrafte sie hart. Unter den ertappten
-Sündern war zuweilen auch Hans; denn er steckte voll Übermut. So hatte
-er die üble Angewohnheit, sich beim Melden der Länge nach über die Bank
-zu werfen, und beide Hände mit den ausgestreckten Zeigefingern dem
-vor ihm sitzenden Knaben auf die abstehenden Ohren zu legen, wobei es
-diesem heiß wurde wie in einem Backofen.</p>
-
-<p>Dann kam der Lehrer dahergesprungen, fragte, was das für eine Frechheit
-sei, befreite den Gefangenen aus seiner üblen Lage und lehrte den
-übermütigen Hans ein schönes gesittetes Melden. Ach &mdash; fein und lustig
-war das gewesen!</p>
-
-<p>„Susanna,“ rief da die Lehrerin, „willst du wiederholen, was ich eben
-gesagt habe?“</p>
-
-<p>Das kleine Mädchen errötete bis in die Haarwurzeln, stand auf,
-stotterte, konnte kein Wort herausbringen und wußte überhaupt nicht
-mehr, was sie gefragt worden war. Aller Blicke richteten sich auf sie.
-Zum Glück machte die Lehrerin ihr ein Zeichen, sich zu setzen, und
-beschämt ließ sie sich auf ihren Platz nieder. Nun saß sie noch scheuer
-dort als vorher.</p>
-
-<p>Schließlich klingelte es, und die Pause begann. Die kleinen Mädchen
-sprangen in die Höhe und eilten wie erlöst zur Tür hinaus. Suse
-folgte ihnen langsam nach. Am liebsten wäre sie hier im Schulzimmer
-geblieben; aber das war ja nicht erlaubt! So ging sie denn auch in
-den Hof hinunter, stand mutterseelenallein an einem Baum und sah den
-Spielen der Kinder zu, die lachten und hüpften und tollten. &mdash;<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span> Aber
-keines forderte sie auf, doch mitzuspielen. &mdash; Da endlich rief eine
-fröhliche Stimme: „Guten Morgen, Suse.“ Und vor ihr stand ein Mädchen
-mit roten, frischen Wangen und freundlichen, lachenden Augen. Es war
-Toni, Theobalds Schwester, die einige Jahre älter als Suse war.</p>
-
-<p>„Na, seid ihr gut in die Schule gekommen?“ fragte sie freundlich. &mdash;
-„Theobald wollte euch eigentlich heute morgen abholen. Aber er hat die
-Zeit verschlafen, das Murmeltier. Weißt du, er hat gesagt, er muß sich
-eurer annehmen und euch beschützen, als Dank für die Gastfreundschaft,
-die er bei euch genossen hat. Der Hanswurst! Das gehört sich so, hat er
-gesagt. &mdash; Ach, Suse, du glaubst gar nicht, wie er sich daheim mit euch
-aufspielt. Es ist einfach gräßlich! Er hat gesagt, euer Vater hat euch
-ihm ganz besonders ans Herz gelegt, und wenn er nicht ganz genau auf
-euch aufpaßte, kämt ihr sicher unter die Räder.“</p>
-
-<p>Suse errötete und hütete sich wohl zu sagen, wie nah sie heute morgen
-schon an den Rädern gewesen waren, dank des Vetters gütiger Führung.</p>
-
-<p>„Komm, Suse,“ rief hier ihre kleine Cousine und führte sie hin zu den
-Mädchen, die in Susens Klasse gingen.</p>
-
-<p>„Spielt mit meiner kleinen Cousine,“ rief sie den muntern Dingern zu.</p>
-
-<p>„Suse ist gar nicht so still, wie sie aussieht. Die ist sogar sehr
-lustig, viel lustiger, als ihr alle miteinander. Und rennen kann sie,
-famos, tadellos! Mein Bruder Theobald sagt auch, da kann keiner mit.“</p>
-
-<p>Hier griff eines der vorüberlaufenden Mädchen nach Tonis Arm und zog
-sie in der Hast mit sich fort.</p>
-
-<p>So war Suse denn wieder allein. Eines und das andere der Mädchen
-begannen nun mit ihr zu reden, aber Suse war so schüchtern, daß sie
-nur leise ja und nein zu antworten wagte. Auch das Laufen schien sie
-verlernt zu haben. Da war es denn ganz gut, daß die Klingel bald
-erschallte und die Kinder in die Klasse zurückrief.</p>
-
-<p>An dem Pult saß jetzt eine ganz andere Lehrerin als vorher. Aber obwohl
-sie viel munterer und lebhafter sprach als jene, konnte Suse ihr doch
-nicht folgen. Des Doktorkindes Aufmerksamkeit war außerdem von etwas
-ganz anderem in Anspruch genommen. Auf dem Pult vor der Lehrerin sah
-sie mit einem Male eine große Kugel stehen, die auf einem schwarzen
-Stengel steckte.</p>
-
-<p>Wie war sie dorthin gekommen? Was bedeutete sie? War sie zum Schmuck
-da? Liebte die Lehrerin solche Kugeln?</p>
-
-<p>Diese und andere Fragen quälten Suse. Und plötzlich entsann sie
-sich, daheim in des Pfarrers Garten eine ähnliche gesehen zu haben.<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span>
-Allerdings eine viel größere, leuchtendere, eine gar närrische Kugel.
-&mdash; Kam man ihr nahe, so warf sie einem das Spiegelbild schrecklich
-verzerrt zurück, die Nase zur Kartoffel angeschwollen, die Ohren weit
-abstehend, wie bei einer Springmaus. Laut jubelnd hatten Hans und
-Suse stets ihren verschandelten Anblick in dem Zauberspiegel begrüßt.
-Dann hatte auch ihr Freund, der Michel, ein feiner Jagdhund mit einem
-schmalen, vornehmen Kopf, hineinsehen und es dulden müssen, daß sich
-sein Kopf in der Zauberkugel zu einem auseinanderfließenden Pudding
-wandelte. An dieses lustige Spiel in des Pfarrers Garten mußte Suse
-nun immerfort denken und erwachte erst aus ihren Träumereien, als
-ein kleines Mädchen aufgerufen wurde, an das Pult trat und mit dem
-Finger auf der Kugel herumzeigte. Oh, wie sehr beneidete Suse ihre
-Mitschülerin um dies Vergnügen, und wie brannte sie darauf, ihrem
-Bruder von dieser aufregenden Sache zu erzählen! Jener hatte ihr ja
-versprochen, sie von der Schule abzuholen. Da sollte er gleich mal
-Wunderdinge vernehmen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Nach Schluß des Unterrichts, da stand der Bruder Hans wirklich draußen
-vor dem eisernen Gitter des Schulhofs und wartete auf die Schwester.
-Als letzte sah er sie aus dem Hofe kommen, ein ganzes Stück hinter den
-andern Mädchen her.</p>
-
-<p>Jetzt erkannte sie ihn, eilte auf ihn zu und sah erstaunt in sein
-Gesicht. Denn er sah so froh aus, als wären die Lobsprüche seines
-Lehrers nur so dutzendweise auf ihn herabgekommen.</p>
-
-<p>„Hans, hast du alles verstanden? Hast du viel gelernt, hast du auch
-schon viel geantwortet?“ fragte sie ängstlich.</p>
-
-<p>„Nein“, sagte er da gedehnt, mit ganz langem Gesicht. „Nein, gar
-nicht, Suse. Ich habe nichts verstanden, nichts gelernt und nichts
-geantwortet!“</p>
-
-<p>„Na, das ist nur gut,“ entgegnete sie erleichtert. „Das ist doch
-viel besser, als daß der eine was lernt und der andere nichts.
-Meinst du nicht auch? Ich glaub’ wirklich, dies ist den Eltern so am
-angenehmsten.“</p>
-
-<p>Hans zuckte die Achseln und ging mit gerunzelter Stirn schweigend
-weiter. So einleuchtend schien ihm der Schwester Bemerkung denn doch
-nicht zu sein.</p>
-
-<p>Aber langsam, wie die Sonne durch Wolken bricht, erschien das Lächeln
-wieder auf seinem Gesicht, und er kam endlich mit dem zutage, was ihn
-so froh stimmte.</p>
-
-<p>„Suse, ich weiß jetzt, warum die Autos so brüllen; daran sind die Tuten
-schuld, die Trompeten, die Sirenen, die Lärm machen, damit die Leute
-aus dem Weg gehen. Hör’, ich weiß jetzt alles, wie es zu<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span>geht. Da wird
-durch einen Gummiball die Luft hineingedrückt, dann dreht sich eine
-Scheibe drin herum mit Löchern, und durch die fährt die Luft wieder
-heraus und bläst so fürchterlich.“</p>
-
-<p>„Aber Hans, so was glaub’ ich nicht,“ fiel Suse erschreckt ein. „So was
-hab’ ich noch nie gehört. Das ist sicher nicht wahr. Das glaubt doch
-kein Mensch, daß eine Scheibe herumfährt und so laut bläst, als würde
-sie schreien.“</p>
-
-<p>„Doch, Theobald hat’s gesagt,“ entgegnete der Bruder ganz beleidigt.</p>
-
-<p>Er nahm es sehr übel, daß seines Vetters Reden angezweifelt wurden,
-stammte seine Weisheit doch von niemand anderem als von dem erfahrenen
-Theobald, der ihn in einer Pause zur Seite genommen und über die Wunder
-und Merkwürdigkeiten der Stadt aufgeklärt hatte.</p>
-
-<p>„Ja, Suse, gräßliche Unglücke passieren manchmal mit den Autos,“ fuhr
-er hastig fort.</p>
-
-<p>„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein, „das ist schon möglich.“</p>
-
-<p>„Höre, höre,“ fuhr er fort. „Da ist ein Rad, das Steuer. &mdash; Das hat der
-Chauffeur in der Hand und lenkt damit den Wagen. Und wenn er ihn nicht
-zur rechten Zeit zum Stehen bringt, dann fahren die Autos womöglich
-rückwärts den Berg runter und überschlagen sich und werfen alles, was
-drin ist, raus, und die Leute brechen sich dabei den Hals.“</p>
-
-<p>„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein. „Aber das, was du von den Sirenen
-gesagt hast, das glaub’ ich nicht, und wenn ich hundert Jahre alt
-werde. Das ist nicht wahr. Das hat uns Theobald nur so aufgebunden.
-Glaub’ mir, Hans. Und es ist frech von Theobald, daß er so was zu sagen
-traut und uns so belügt.“</p>
-
-<p>„Aber nein, Suse, er belügt uns nicht,“ wehrte Hans. „Theobald lügt
-uns hier in der Stadt doch nicht an. Nur zu Hause. Und du sollst
-selbst sehen, daß alles wahr ist, was er gesagt hat. Hör’ doch, Suse,
-das will ich dir ja noch sagen, wir wollen heute nachmittag den Onkel
-Gustav besuchen und seine Autos ansehen. &mdash; Der Onkel Gustav, der
-wohnt draußen vor der Stadt und hat ein wundervolles Schloß und ist in
-fremden Ländern gewesen, wo es Löwen und Tiger und Elefanten gibt, und
-seine Frau ist auch von dort. &mdash; Fein, gelt? Und Kinder hat er, schwarz
-wie die Neger. Fein, gelt?“</p>
-
-<p>„Aber, Hans, da können wir doch nicht hingehen, wenn wir nicht
-eingeladen sind,“ meinte die Schwester.</p>
-
-<p>„Doch, Suse, &mdash; Theobald hat gemeint, es geht schon. Wir wollen ja
-nicht zu dem Onkel und zu der Tante und zu ihren albernen Kin<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span>dern. Wir
-wollen ganz einfach zu den Autos gehen und sie uns in einem Schuppen
-ansehen...“</p>
-
-<p>Unter diesen Gesprächen waren die beiden allmählich vor Frau Cimhubers
-Haus angelangt, das schmal und hoch in einer Häuserreihe eingeklemmt
-lag.</p>
-
-<p>Scheu sahen sie zum vierten Stock hinauf.</p>
-
-<p>„Ich glaub’, Ursel guckt schon,“ sagte Suse halblaut.</p>
-
-<p>Die beiden sahen sich an, als empfänden sie Furcht, gingen dann ins
-Haus, erstiegen schnell die Treppe, legten droben Hut, Jacke und Ranzen
-ab und standen einige Minuten später in dem Eßzimmer der Pfarrfrau.</p>
-
-<p>Bescheiden und schüchtern nahmen sie hier Platz und zeigten wieder
-ganz ihr gedrücktes Wesen von heute morgen. Dahin war Hansens stolzes
-Siegergefühl, eine Frucht seines Unterrichts bei Theobald, und der
-Stolz auf seine Automobilkenntnisse schwand wie Butter an der Sonne
-angesichts der forschenden Blicke seiner Pflegemutter, die nicht von
-ihm und Suse ließen.</p>
-
-<p>Und mit einem Male hob sie an: „Na, Kinder, ihr habt doch sicher recht
-aufgepaßt in der Schule und allerlei behalten. Denn ihr wollt ja was
-lernen hier; dazu seid ihr ja hierhergekommen, nicht wahr? Und dazu
-haben eure Eltern euch hierhergeschickt. Und ihr wollt euern Eltern
-doch Freude machen. Nicht wahr? Was für Stunden habt ihr heute schon
-gehabt, erzählt mal!“</p>
-
-<p>Da saßen sie da wie die ertappten Sünder, stießen sich unter dem Tisch
-an und wußten nicht, was antworten.</p>
-
-<p>Hans sah errötend und hilfesuchend nach Suse hin. Aber auch sie
-stotterte hin und her und erklärte schließlich, auf dem Pult sei eine
-blaue Kugel gestanden, und die Kinder hätten mit dem Finger darauf
-herumfahren dürfen.</p>
-
-<p>„Das ist alles, was du gesehen hast, Kind?“ fragte die Pfarrfrau und
-legte vor Überraschung Messer und Gabel hin. „Das ist alles, Suse? Mehr
-hast du nicht gesehen, Kind?“</p>
-
-<p>Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf.</p>
-
-<p>„Aber, Suse, wo hast du denn die Augen gehabt,“ fuhr ihre Pflegemutter
-vorwurfsvoll fort. „Hast du denn nicht aufgepaßt? Weshalb gehst du denn
-überhaupt in die Schule, wenn du nicht aufpassen willst. Ihr geht doch
-hier in die Schule, um etwas zu lernen.“</p>
-
-<p>Suse sah die Pfarrfrau hilflos an; ihre Augen füllten sich mit Tränen;
-mit einem Male sagte sie kaum hörbar: „Ich hab’ immer hingehört und
-aufpassen wollen, aber da hab’ ich immer an unseren Michel daheim und
-den Lehrer denken müssen, und da hab’ ich nicht aufgepaßt.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span></p>
-
-<p>„Und ich hab’ auch nicht aufgepaßt,“ sagte Hans und saß wie das
-verkörperte schlechte Gewissen da.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber schaute lange vorwurfsvoll von einem Kind zum andern und
-fuhr dann mit ernster Stimme fort: „Aber ihr müßt aufpassen, Kinder.
-Das ist eure Pflicht. Das wünschen eure Eltern. Daran müßt ihr immer
-denken; und wenn der Unterricht auch schwer fällt, müßt ihr eben
-doppelt aufpassen.“</p>
-
-<p>Ursel aber, die bei Tisch bediente, schlug einmal übers anderemal
-die Augen zur Decke empor, und nach dem Essen begann sie: „Ich hab’
-grad gemeint, ich hab’ einen Schlag an den Kopf bekommen, wie ich das
-Gestammel und Gestotter gehört hab’. &mdash; Auf einer blauen Kugel haben
-sie herumfahren dürfen! Ist das nicht fürchterlich? Das hab’ ich doch
-jetzt all mein Lebtag noch nicht gehört, daß in der Schule Kugeln sind,
-auf denen man herumfährt. Bei den Kindern stimmt’s nicht. Irgendwo
-stimmt’s nicht.“</p>
-
-<p>Der Pfarrfrau wurde es angst und bange angesichts von Ursels
-Aufgeregtheit, und sie sann darüber nach, wie sie die alte Magd
-besänftigen könne. Denn es läßt sich nun mal nicht leugnen, daß Ursel
-in den langen Jahren, in denen sie bei Frau Cimhuber Magd gewesen war,
-sich zur Gewalthaberin im Hause ausgebildet hatte, die oft selbst ihre
-eigene Herrin einzuschüchtern verstand.</p>
-
-<p>„Es hilft nichts, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber jetzt in beruhigendem
-Ton, „wir müssen Geduld haben.“</p>
-
-<p>„Wenn ich da an unseren Edwin denke,“ fuhr Ursel unbeirrt fort,
-„wenn der aus der Schule kam, der wußte immer alles, der saß nie so
-verdattert da. Das war eine Freude, den anzusehen, bei dem konnte man
-noch was lernen.“</p>
-
-<p>„Ja, ja, unser Edwin,“ sagte Frau Cimhuber, und ein glückliches Lächeln
-ging über ihr Gesicht, „der machte uns stets nur Freude.“</p>
-
-<p>Auch Ursels Gedanken wanderten auf dem eingeschlagenen Weg fort, und
-sie sagte nachdenklich: „Wann er wohl schreibt, der Herr Edwin? &mdash; Er
-hat so lange nicht geschrieben. Aber man braucht ja nicht in Sorge zu
-sein. Das dauert ja immer lange, bis die Briefe die weite Reise gemacht
-haben.“</p>
-
-<p>„Mir ist gerade, als schriebe er heute,“ sagte Frau Cimhuber, versonnen
-vor sich hinblickend. „Ich habe so ein Gefühl, als müßte ich heute noch
-einen Brief von ihm in Händen halten.“</p>
-
-<p>Während dieser Unterredung hatten Hans und Suse sich in ihr Zimmer
-zurückgezogen und begannen wieder froh zu werden.</p>
-
-<p>Sie wollten heute nachmittag ja den Onkel Gustav besuchen.</p>
-
-<p>Keinem von beiden kam der Gedanke, ein Gang zu ihrem Onkel<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span> könnte
-ihnen verwehrt werden, waren sie doch von Hause aus gewöhnt, in ihrer
-freien Zeit zu tun und zu treiben, was ihnen beliebte. Hans putzte
-sich und kämmte sich und richtete sich säuberlich her, gerade als
-sei ein Auto eine hochgestellte Persönlichkeit, der man durch ein
-geschniegeltes Äußeres Achtung abzwingen könne. Dazu erzählte er in
-einemfort von den Plänen, die er mit Theobald gefaßt hatte.</p>
-
-<p>„Um drei Uhr will er uns abholen,“ erklärte er, „ich hab’ ihm gesagt,
-er soll doch zu uns herauskommen, aber er will nicht. &mdash; Er will nicht
-vor Frau Cimhuber dienern und scharwenzeln, weil sie ihm nicht ganz
-grün ist.“</p>
-
-<p>Lange vor der festgesetzten Zeit standen die beiden Kinder am Fenster
-und sahen erwartungsvoll nach dem Vetter aus. Endlich, endlich tauchte
-er in der Ferne auf, dicht am Geländer des Kanals entlang schlendernd.
-Jetzt war er fast dem Haus der Frau Cimhuber gegenüber. Jetzt sah er
-auf und entdeckte die beiden am Fenster. Sie machten ihm ein Zeichen,
-zu warten und beschlossen dann, ihrer Pflegemutter zu sagen, was sie
-vorhätten, um sich von ihr zu verabschieden.</p>
-
-<p>Da ging die Tür auf und sie selbst trat ein, und zwar zum Ausgehen
-bereit. Auf ihrem Kopf trug sie einen kleinen Kapothut, der mit langen
-Bändern unter dem Kinn gebunden war, und über ihre Schultern hing ein
-langer Spitzenüberwurf. „Ich wollte sehen, was ihr treibt,“ begann sie
-eintretend. „Ihr müßt nämlich ein paar Stunden allein hier bleiben;
-denn Ursel und ich gehen in die Stadt und wollen das Haus von Bekannten
-ausschmücken, die von einer Reise zurückkommen. Ihr macht derweil
-eure Aufgaben oder schreibt Briefe nach Hause. &mdash; Das scheint mir das
-Richtigste. &mdash; Du, Suse, arbeitest vielleicht auch an einer Handarbeit.
-Du hast sicher ein Strickzeug?“</p>
-
-<p>„Ja, ein Puppenunterröckchen hab’ ich mitgebracht,“ sagte Suse kaum
-hörbar.</p>
-
-<p>„Du nimmst also dein Strickzeug und strickst. Kleine Mädchen dürfen nie
-unbeschäftigt dasitzen.“</p>
-
-<p>Suse nickte.</p>
-
-<p>„Halt, noch etwas wollte ich sagen,“ meinte die Pfarrfrau, „wenn
-es klingelt, so geht ihr hin und macht auf. Es kann sein, daß der
-Briefträger kommt.“</p>
-
-<p>Die beiden konnten fast nicht atmen, so fuhr ihnen der Schreck in die
-Glieder. &mdash; Nun konnten sie ja gar nicht fort. &mdash; Wie verwundete Rehe,
-so traurig sahen sie Frau Cimhuber an. Sie aber merkte nichts von ihrer
-Niedergeschlagenheit und sagte ganz freundlich: „Lebt wohl, Kinder!
-Ihr habt doch verstanden, daß ihr auf das Klingeln achten sollt? Nicht
-wahr?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span></p>
-
-<p>Und damit hatte sie auch schon das Zimmer verlassen.</p>
-
-<p>Das Geschwisterpaar hörte die Flurtür schlagen, und Frau Cimhuber samt
-Ursel von dannen gehen. &mdash; Nun war alles aus.</p>
-
-<p>Suse ließ sich mit gefalteten Händen auf einen Stuhl nieder. Hans
-schlich sich zum Fenster und blickte wehmütig hinter den beiden her.
-Er sah sie aus dem Hause treten und die Straße kreuzen. In demselben
-Augenblick gewahrte er, wie der Vetter, der am Kanal lustwandelte, auch
-der Pfarrfrau und ihrer Begleiterin ansichtig wurde und kehrt machte,
-als sei ihm ein Schuß in die Glieder gefahren. Weit beugte er sich
-über das Geländer des Kanals und stierte lange in das trübe Gewässer.
-Endlich, als er annahm, daß sie außer Sicht seien, drehte er sich um,
-machte einen Luftsprung und eilte auf das Haus, aus dem sein Vetter
-sah, zu, nahm die Treppen im Sturm und klingelte im vierten Stock, daß
-es nur so durch die Stuben hallte.</p>
-
-<p>„Fein, daß ihr da seid,“ meinte er zu seinen kleinen Verwandten. „Jetzt
-kann man doch mal mit Muße in eurem Wigwam herumäugen. Wißt ihr, wenn
-Frau Cimhuber und ihre Hofdame, der Igel Ursel, da sind, ist’s mir
-nicht recht geheuer. Da ist so ein dunkler Punkt zwischen uns. Übel,
-übel, sag’ ich euch.“</p>
-
-<p>Suse errötete tief, denn ihr war plötzlich eine Erzählung von Theobald
-eingefallen, wonach ihn Frau Cimhuber einmal mit ihren „spitzen
-Krallen“ gepackt und mit „pöbelhaftem Ungestüm“ vor die Tür gesetzt
-hatte, weil er ihren Hund, den Karo, auf die linke Hinterpfote getreten
-hatte.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Der dunkle Punkt vermutlich.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Und taktvoll leitete die Base das Gespräch auf andere Dinge.</p>
-
-<p>„Hast du unsere Negerstube schon gesehen?“ fragte sie mit
-geheimnisvoller Stimme.</p>
-
-<p>„Was soll ich gesehen haben?“ entgegnete er und sperrte den Mund weit
-auf.</p>
-
-<p>„Komm, komm,“ drängte Suse und eilte voraus, den Gang hinunter, um mit
-einem strahlenden Ausdruck im Gesicht Frau Cimhubers Negerstube zu
-öffnen, als wäre sie ihr ureigenstes Besitztum.</p>
-
-<p>„Fein, gelt?“ sagte sie, den Vetter erwartungsvoll anblickend. „Sieh
-mal die herrlichen Dinge an, Theobald.“</p>
-
-<p>Der Vetter musterte mit Stirnrunzeln die Prunkstücke des Raums, hatte
-sofort den Negergott entdeckt, der grinsend auf seinem Ständer in der
-Ecke saß, und ging stracks auf ihn zu.</p>
-
-<p>Suse klopfte das Herz bei dieser Vermessenheit und sie rief: „Nicht
-doch, nicht doch!“</p>
-
-<p>Theobald aber streichelte dem Götzen zärtlich die Wangen und sein<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span>
-schwarzes, aus Holz geschnitztes Haar, als wär’s das Fell eines
-Schoßhündchens, und ging dann, ein Liedchen pfeifend, von einem
-Gegenstand des Raumes zum andern, als wäre er im Schatten von
-Negerschwertern und -messern groß geworden.</p>
-
-<p>„Ihr wißt natürlich nicht, von wem die Sachen eigentlich sind,“ begann
-er schließlich.</p>
-
-<p>Sie schüttelten ihre Köpfe.</p>
-
-<p>„Nun, so will ich’s euch sagen. Sie sind nämlich alle von dem Edwin
-Cimhuber, das ist der Sohn von eurer Pflegedame. Der ist Missionar in
-Afrika bei den Negern und Hottentotten; die bekehrt er.“</p>
-
-<p>„Was ist er?“ fragte Suse plötzlich lebhaft und aufgeregt, „Missionar?
-In den fremden Ländern ist er Missionar? Ist er schon lange dort?</p>
-
-<p>Kommt er nicht mal? Unser Herr Pfarrer hat uns auch schon von
-den Missionaren erzählt, Theobald, und jedesmal hat er uns die
-wunderschönsten Bilder gezeigt. Palmenwälder waren drauf und beladene
-Kamele, die durch die Wüste wandern. Und das Meer und fremde Vögel und
-Affen, die in die Bäume klettern, und alle waren aus Afrika und Asien.
-&mdash; Und dort lebt der Herr Missionar, Theobald, hast du gesagt?“</p>
-
-<p>„Ja, und der Herr Edwin ist das Schönste und Beste und Herrlichste, das
-es auf der Welt gibt. Wenigstens für die Frau Cimhuber, für mich nicht.“</p>
-
-<p>Suse war noch ganz in Gedanken und meinte mit einem Male: „Es ist
-doch schön, daß wir hier wohnen! Nicht wahr, Theobald? Hier haben wir
-richtige ausgestopfte Affen, die der Herr Missionar geschenkt hat, und
-vielleicht kommt er selbst einmal. Nicht wahr, Theobald? Möchtest du
-nicht auch hier wohnen?“</p>
-
-<p>„Ich hier wohnen,“ rief der Vetter und auf seinem sonst so
-gleichmütigen Gesicht mit der erhabenen Miene malte sich ein ehrlicher
-Schrecken...... „Brr!“</p>
-
-<p>„Ach, weißt du was,“ meinte Suse voll Schonung, „wenn man immer höflich
-und artig zu Frau Cimhuber ist, dann passiert einem nichts. Vielleicht
-wird sie uns sogar Geschichten von ihrem Sohn aus Afrika erzählen.“</p>
-
-<p>„Ein Glück, daß ich die nicht zu hören brauche,“ fiel Theobald ein.
-„Gott sei Dank! Überhaupt, das will ich euch sagen, ihr braucht euch
-gar nicht so gräßlich viel auf die Sachen hier einzubilden. Da sind
-wir hier in der Stadt doch an ganz andere Dinge gewöhnt. Wenn wir
-jetzt zum Beispiel zu unserem Onkel Gustav gehen, da werdet ihr mal
-was erleben. Der hat Tiere, wie ihr sie haben wollt; die schönsten und
-die wildesten, mit und ohne Gerippe, mit und ohne Haut, mit und ohne
-Federn. Ganz nach Wunsch.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span></p>
-
-<p>Und schwarze Dienerinnen hat er, die haben Lippen, wie aufgeplatzte
-Rotwürste.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Aber hopp,“ unterbrach er seinen eigenen Redeschwall, „wir haben jetzt
-keine Zeit zu verlieren, macht euch fertig.“</p>
-
-<p>Suse warf Hans einen betrübten Blick zu und sagte dann ängstlich: „Wir
-müssen ja hier bleiben, Theobald, und die Tür aufmachen, wenn einer
-kommt.“</p>
-
-<p>Der Vetter graulte sich hinter den Ohren und überlegte.</p>
-
-<p>„Wißt ihr, was wir machen?“ rief er plötzlich. „Einer von euch kommt
-mit, der andere bleibt hier.“</p>
-
-<p>Suse fing einen wehmütig bittenden Blick ihres Bruders auf, kämpfte
-einen schweren Kampf und sagte schließlich: „Hans, geh’ du nur hin, ich
-bleib hier. Du möchtest dir ja so gern die Autos ansehen, ich frage
-nicht soviel danach wie du.“</p>
-
-<p>Des Bruders Gesicht erhellte sich, und er sagte leuchtenden Auges: „Ich
-komme auch recht bald wieder, Suse! In einer Stunde bin ich wieder da.“</p>
-
-<p>„Ja, tu das,“ entgegnete sie.</p>
-
-<p>Und da rannten die Knaben auch schon davon.</p>
-
-<p>Sie horchte hinter ihnen her, wie sie die Treppe hinuntereilten, und
-wollte hierauf in ihr Stübchen gehen. Aber wie von unsichtbaren Händen
-gezogen, mußte sie sich der Negerstube zuwenden.</p>
-
-<p>Langsam kam sie näher und stand lange unschlüssig davor. Zögernd legte
-sie die Hand auf die Türklinke und wollte sie niederdrücken. Da fuhr
-die Tür von selbst weit auf, und sie befand sich mit einemmal frei und
-ungeschützt dem Negergott gegenüber. Grinsend sah der Götze sie an. Wie
-erstarrt schaute sie nieder. Da klirrte ein Negerschwert leise, ein
-großer ausgestopfter Affe knurrte und der Negergott grunzte.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Hm... Hm... Ho... Ho... Ha... H... klang es irgendwo.</p>
-
-<p>Suse stieß einen Schrei aus und stürzte den Gang hinunter in ihr Zimmer
-zurück. Dort riegelte sie sich ein. Die Tränen liefen ihr über das
-Gesicht.</p>
-
-<p>Suse fürchtete sich fast zu Tode.</p>
-
-<p>„Ach, Hans, wärst du doch hier geblieben,“ weinte sie vor sich hin.
-„Ach, lieber Gott, verlaß mich nicht. Mach doch, daß Hans kommt.“</p>
-
-<p>Ängstlich, wie nach Hilfe suchend, flogen ihre Blicke durch die Stube.
-Da sah sie plötzlich wie gebannt auf die Kommode, wo die Bilder ihrer
-Eltern standen, sowie die Rosels, ihrer Magd, und Christines, der
-alten Kinderfrau von daheim. Beruhigend und tröstend sahen die guten,
-freundlichen Gesichter zu ihr herüber.</p>
-
-<p>„Sei nur still, liebes Kind, sei nur still,“ schienen sie zu sagen,
-„wir sind ja bei dir.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span></p>
-
-<p>Da drückte sie ein Bild nach dem andern zärtlich an sich und fühlte,
-wie ihr’s viel leichter, viel wohler ums Herz wurde. Zu guter Letzt
-fielen ihre Augen noch auf einen ganz besonderen Tröster.</p>
-
-<p>Dort stand Michel, der Gefährte ihrer Jugend, ein Jagdhund, und
-blickte kühn wie ein Eroberer hinter Glas und Rahmen hervor. Seine
-klugen Augen blitzten auf dem Bilde, seine Schnauzbarthaare spreizten
-sich keck, sein Schwanz stand wagerecht ab wie ein Lineal. Mit einem
-solchen Freund im Bunde brauchte man selbst den Negergott nicht mehr zu
-fürchten!</p>
-
-<p>Vorsichtig trug Suse all ihre Schätze auf den Tisch und baute nun
-eine Art Schutz- und Trutzburg von ihnen auf, hinter die sie sich zu
-verstecken und einen Brief nach Hause zu schreiben gedachte.</p>
-
-<p>Allerlei Andenken von daheim vervollständigten noch ihre Festung:
-ein Briefbeschwerer, den ein Freund von Hans mit Namen Martin, ein
-armer, verkrüppelter Knabe, ihnen am Tage vor ihrer Abreise mit
-glückstrahlenden Augen gebracht hatte.</p>
-
-<p>Das Geschenk stellte eine Kugel dar, die auf einer Alabasterplatte
-ruhte, und zeigte in seinem Innern „die heilige Nacht“ in bunten
-Figuren. Maria und Joseph saßen, von Schneegestöber umhüllt, vor der
-Krippe und beteten das Christkind an.</p>
-
-<p>Nachdem Suse das Geschenk ein Weilchen zärtlich betrachtet hatte, legte
-sie es auf den Tisch nieder und reihte an seine Seite ein Andenken von
-Christine, einen Wachsengel in einer Pappschachtel, der zwischen lauter
-Papierblumen wie ein blankes, reingewaschenes Badepüppchen hinter
-einer Glasscheibe hervorsah. &mdash; Lange Jahre hindurch war dies ärmliche
-Kunstwerk Christines Heiligtum gewesen und von ihr bewundert, gehütet
-und gepflegt worden. Jetzt gehörte es Hans und Suse. Auch zwei Federn
-von Babette Buntrock, dem Lieblingshuhn der Doktorskinder, wurden
-zu den Andenken gelegt. Dann rückte sich das kleine Mädchen einen
-Rohrstuhl an den Tisch und begann zu schreiben:</p>
-
-<p class="mleft3">„Liebe, liebe Mutter, lieber, lieber Vater!</p>
-
-<p>Ich muß immer an Euch und Michel und Christine und an alle, alle
-denken. Es ist wunderschön hier. Ach, wäret ihr nur hier! Ist
-Christines Ziege wieder besser? Ich bin allein hier, und der Hans
-ist fort und besucht den Onkel Gustav. Oh, wie hab’ ich mich
-gefürchtet heute morgen, wie ich in die Schule bin. In der Schule
-lerne ich nichts. Die Kinder sind alle viel klüger als wir, und viele
-Lehrerinnen gibt’s hier. Frau Cimhubers Sohn ist in Afrika, dort ist es
-wunderschön. Aber ich möchte, ich wär daheim.“</p>
-
-<p>Zu diesem Brief brauchte Suse vielleicht anderthalb Stunden; denn fast
-nach jedem Wort machte sie lange Pausen, kaute an ihrer Feder<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span> oder
-trocknete umständlich ihre Tränen ab, die immer wieder auf das Papier
-tropften.</p>
-
-<p>Zuletzt wußte sie nicht mehr was schreiben, schob ihr Papier zur
-Seite und holte ihr Puppenunterröckchen hervor, um ein wenig daran zu
-arbeiten, wie Frau Cimhuber ihr ja befohlen hatte.</p>
-
-<p>Aber es wollte nicht so recht mit der Arbeit vorwärts gehen, denn das
-Kind mußte immerwährend an seinen Bruder Hans denken.</p>
-
-<p>Wenn er nun nicht zur rechten Zeit nach Hause käme? Was dann?</p>
-
-<p>Da klingelte es. Suse flog zur Tür. „Hans, Hans!“ rief sie. Aber
-als sie öffnete, stand niemand anders vor ihr als Ursel, und zwar
-anscheinend in großer Aufregung.</p>
-
-<p>Suse zitterte wie Espenlaub. Sie glaubte bestimmt, die Magd habe Hans
-irgendwo auf der Straße mit Theobald gesehen und wolle nun nachsehen,
-ob sie sich nicht getäuscht habe.</p>
-
-<p>Forschend richtete die alte Magd jetzt ihre Augen auf Suse und fragte
-barsch: „Warum hast du geweint. Hast du dich mit Hans gezankt?“</p>
-
-<p>Suse schüttelte den Kopf. „Warum hast du geweint?“ fragte Ursel noch
-einmal.</p>
-
-<p>„Ich hab’ nach Hause geschrieben und da hab’ ich weinen müssen,“
-flüsterte Suse.</p>
-
-<p>„Dummes Zeug,“ murmelte Ursel und ging kopfschüttelnd in die Küche, um
-Hans und Suse den Kaffee zu wärmen und einige Stücke Brot zu schneiden.
-Sie glaubte, beide Geschwister seien zu Hause.</p>
-
-<p>„Darf ich den Kaffeetisch decken?“ fragte Suse schüchtern und zitterte
-für den Bruder. Die alte Magd nickte.</p>
-
-<p>Das kleine Mädchen holte geschäftig Tassen, Unterschälchen, Zuckerdose
-und Milchtöpfchen aus dem Schrank, stellte sie schön ordentlich auf
-ein Servierbrett und wollte damit in die Stube gehen. Da klingelte es
-wieder.</p>
-
-<p>Hu, wie fuhren da die Tassen und Unterschälchen durcheinander und
-rasselten und klirrten! Ums Haar wären sie auf dem Boden gelegen.
-Schnell stellte Suse sie zur Seite, eilte zur Tür hinaus und den Gang
-hinunter, während ihr die Zöpfe hinterherflogen, wie einem Kellner die
-Rockschöße und die Serviette.</p>
-
-<p>„Halt!“ rief Ursel. „Was läufst du so? Wo willst du hin? Halt! Halt!“</p>
-
-<p>Aber das kleine Mädchen war schon an der Flurtür, öffnete, und rannte
-dem Briefträger stracks in die Arme.</p>
-
-<p>„Scht, scht,“ mahnte dieser, „nur nicht so stürmisch. Ich hab’ einen
-Brief an Frau Cimhuber.“</p>
-
-<p>Ursel sah auf das Schreiben in des Postboten Hand und erkannte die<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span>
-fremde Marke und eine vertraute Schrift. „Danke, danke,“ sagte sie
-zitternd.</p>
-
-<p>„Er ist von Herrn Edwin,“ fuhr sie fort, das Schreiben um und um
-wendend. „Da wird sich Frau Cimhuber freuen. Darauf warten wir schon
-lange. Großer Gott, wir danken dir, du verläßt uns nicht. &mdash; Gleich,
-gleich will ich jetzt zu der Frau Pfarrer gehen und ihr den Brief
-bringen. Sie wird so froh sein. Sie wird überglücklich sein.“</p>
-
-<p>Und Suse sah mit Verwunderung, wie der alten Frau die Tränen in die
-Augen traten und die Röte der Erregung die Nasenspitze leuchtend
-färbte. Und wie sie dann ihre Küchenschürze hastig gegen ihre
-baumwollene schwarze Staatsschürze umtauschte, indem sie eifrig sagte:
-„Eßt, liebe Kinder, und trinkt euren Kaffee, und seid nicht ungeduldig,
-daß wir euch allein lassen. Wartet noch ein Weilchen, wir sind bald
-wieder da. Lebt wohl, lebt wohl.“</p>
-
-<p>Das Kind blickte nur immer nach Ursels Augen, die so hell strahlten wie
-Lichter, während sie doch noch vor kurzem so düster, so unfreundlich
-dreingesehen hatten.</p>
-
-<p>„Sie sind froh, gelt, Ursel?“ fragte das kleine Mädchen, als sie der
-alten Magd das Geleite zur Tür gab.</p>
-
-<p>„Ja, wir sind froh, Frau Cimhuber und ich sind sehr froh. Wir hatten so
-Angst um das arme, arme Kind. Was hat der Herr Edwin alles in Afrika
-auszustehen! Ich werde euch einmal davon erzählen, wenn ich Zeit habe.“</p>
-
-<p>„Danke, danke,“ rief Suse, und ihr Herz klopfte bei der schönen
-Aussicht auf die künftigen Erzählungen.</p>
-
-<p>Als Ursel gegangen war, kam dem Doktorskind aber gleich wieder der
-Gedanke an den abwesenden Bruder, und sie zitterte vor Angst. Wenn
-Frau Cimhuber wiederkehrte, und er wäre noch nicht da, so würde es
-ihm schlecht ergehen. Suse lehnte sich aus dem Fenster und spähte
-die Straße hinunter, ob er noch nicht komme. Die Tür ließ sie
-sperrangelweit hinter sich offen, und der Götze hätte jetzt bequem
-hereinkommen und Suse ein wenig zwicken können, wenn er der Unhold
-gewesen wäre, als den sie ihn erkannt hatte.</p>
-
-<p>„Wenn Hans doch nur käme, wenn Hans doch nur käme, ach, wenn Hans doch
-nur käme,“ sagte sie in Gedanken immer wieder vor sich hin.</p>
-
-<p>Eine Stunde wollte er ja nur fortbleiben! Wenn er doch nur käme! Bald
-würden Frau Cimhuber und Ursel wiederkommen, dann wär’ er nicht da, und
-dann....</p>
-
-<p>Da sah sie ihn am Kanal entlang laufen. Nun erblickte auch er seine
-Schwester am Fenster und winkte zu ihr hinauf. Gleich darauf war er bei
-ihr.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span></p>
-
-<p>„Oh, Suse, wie schön war es! Was hab’ ich alles gesehen!“ rief er mit
-fliegendem Atem.</p>
-
-<p>„Da war ein großes Schloß. Und den Schuppen mit den Automobilen haben
-wir uns besonders angesehen, und die schwarzen Dienerinnen hab’ ich
-auch gesehen. Und einen Pfau mit wundervollen Augen im Schwanz.“</p>
-
-<p>„Ach, wär’ ich doch auch mitgegangen,“ sagte Suse schmerzlich.</p>
-
-<p>„Sei nicht traurig,“ tröstete er, „ein andermal gehst du auch mit.“
-Und hastig fuhr er fort: „Und von den Automobilen weiß ich jetzt
-noch besser Bescheid als heute morgen. Der Herr Willy, das ist der
-Chauffeur, der hat Theobald alles genau erklärt, und ich habe zugehört.“</p>
-
-<p>Suse zuckte ungeduldig die Achseln. Der Kraftwagen und seine
-Bestandteile ließen sie kalt.</p>
-
-<p>Aber gespannter hörte sie wieder zu, als er fortfuhr: „Und gefürchtet
-haben wir uns, Suse, gefürchtet, einfach schrecklich.“</p>
-
-<p>„Siehst du, siehst du,“ triumphierte Suse, „was ist denn wieder mal
-passiert? Gelt, das Auto hat wieder einmal gebrüllt?“</p>
-
-<p>„Nein, nein, ich mein’ ja was ganz anderes. Hör’, was ich dir
-erzähle. Wie wir uns so das Automobil angucken, da kommt, oh, es war
-schrecklich! da kommt, denke dir, da kommt...“</p>
-
-<p>„So sprich doch, Hans!“</p>
-
-<p>„Da kommt sie.....“</p>
-
-<p>„Welche sie, Hans?“</p>
-
-<p>„Ei, die Frau von Onkel Gustav.“</p>
-
-<p>„Bloß die Frau von Onkel Gustav,“ sagte Suse enttäuscht. „Hast du ihr
-denn guten Tag gesagt, Hans?“</p>
-
-<p>„Oh, was glaubst du denn,“ wehrte er entrüstet, „das trau ich doch
-nicht.“</p>
-
-<p>„Aber, Hans, vor der Dame hast du noch nicht einmal den Hut abgenommen,
-und weißt doch, daß wir immer guten Tag sagen sollen, wenn wir irgendwo
-hinkommen. Das haben doch der Vater und die Mutter uns befohlen.“</p>
-
-<p>„Das weiß ich wohl, aber der trau ich doch nicht guten Tag sagen.“</p>
-
-<p>„Warum denn nicht?“</p>
-
-<p>„Oh, sie ist eine gräßliche Rippe,“ hat Theobald gesagt, „und böse wie
-ein Tiger.“</p>
-
-<p>Suse schauderte es.</p>
-
-<p>„Ist sie auch eine Negerin?“ forschte sie atemlos. „Vielleicht stammt
-sie von den Menschenfressern ab, und da hat Onkel Gustav sie in den
-fremden Ländern geheiratet. Es könnte schon sein. Gelt Hans?“</p>
-
-<p>„Das weiß ich nicht.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span></p>
-
-<p>„Wie sieht sie denn aus?“</p>
-
-<p>„Das weiß ich auch nicht.“</p>
-
-<p>„Hast du sie denn gar nicht gesehen?“</p>
-
-<p>„Nein, mit einemmal hat Theobald gerufen: ‚Da kommt sie!‘ und da hab’
-ich gar nichts mehr gesehen und gehört. Und da hat Theobald die Tür von
-dem Automobil aufgerissen und ist mit beiden Füßen hineingesprungen,
-und ich bin hinterdrein und hab’ die Tür zugeschlagen. Und da haben wir
-uns beide unter die Bänke geworfen. Der Theobald ist mitten auf meinen
-Kopf gelegen. Ich hab’ gemeint, ich ersticke. Und mit einemmal legt
-sich eine Hand auf die Tür, und denke dir, da wollte sie reingucken.
-Aber der Herr Chauffeur hat ihr schnell was vom Onkel Gustav gesagt,
-und da hat sie die Tür wieder fahren lassen. &mdash; Denke dir, wenn sie
-reingekommen wäre und auf unsere Köpfe getreten hätte!“</p>
-
-<p>„Die hätte euch tot getreten,“ sagte Suse, die ihre Tante sofort als
-ein gräßliches Ungeheuer erkannt hatte.</p>
-
-<p>„Erzähl’ mir noch mehr von der gräßlichen Frau, Hans,“ drängte sie,
-„bitte, bitte.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Schauerliche Dinge erleben mochte Suse beileibe nicht, aber sie
-anzuhören, war ihr nicht unangenehm. „Am Ende frißt sie wirklich
-Menschen,“ sagte sie, sich fester an den Bruder anschmiegend, mit dem
-sie Hand in Hand auf dem Sofa in ihrem Stübchen saß. „Erzähl’ weiter.“</p>
-
-<p>„Ich weiß nichts mehr von ihr. Gesehen hab’ ich sie nicht.“</p>
-
-<p>„Dann erzähl’ mir noch, bitte, von dem herrlichen Schloß in dem Garten.“</p>
-
-<p>„Ich hab’ einmal von der Veranda in das Zimmer geguckt und schöne
-Sachen drin gesehen.“</p>
-
-<p>„Und die ausgestopften Tiere? Die waren nirgends, Hans?“</p>
-
-<p>„Ich hab’ sie nicht gesehen.“</p>
-
-<p>„Ach, Hans, wann kommen wir mal hin?“</p>
-
-<p>„Oh, bald, bald, der Onkel Gustav will, daß wir oft kommen, hat
-Theobald gesagt. Er will, daß unsere guten Manieren und unser deutsches
-Gemüt auf seine Kaffern abfärbe. &mdash; Die Kaffern sind nämlich seine
-Kinder.“</p>
-
-<p>So fuhr Hans noch lange eifrig fort, Suse ein merkwürdiges Licht über
-die neue Verwandtschaft aufzustecken. Erst als es Zeit zum Abendessen
-war, beendete er seine Erzählung und ging mit Suse zu Frau Cimhuber
-hinüber.</p>
-
-<p>„Hans,“ ermahnte ihn seine kleine Schwester unterwegs, „wir müssen
-sagen, was wir heute nachmittag gemacht haben, wo du gewesen bist; denn
-wenn Frau Cimhuber erfährt, daß du fortgelaufen bist, und es ihr nicht
-erzählt hast, denkt sie, wir wollen sie belügen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span></p>
-
-<p>„Ja, ja,“ sagte Hans, „das will ich tun.“</p>
-
-<p>Aber als sie bei Tisch saßen und er davon anfangen wollte, begann Frau
-Cimhuber von der Familie zu erzählen, die sie heute nachmittag besucht
-hatte, und deren artigen Kindern.</p>
-
-<p>Endlich, als sie einmal eine Pause machte, sprach Suse ihrem Bruder
-unter dem Tisch durch heftige Stöße Mut zu, und er begann stockend:
-„Frau Pfarrer, ich bin... Frau Pfarrer, ich bin heute nachmittag...“</p>
-
-<p>Da unterbrach ihn die Pfarrfrau mit den Worten: „Kinder, ihr müßt euch
-daran gewöhnen, Erwachsene nicht durch eure Reden zu unterbrechen. Ihr
-müßt immer erst dann reden, wenn man euch etwas fragt.“</p>
-
-<p>Und diese Worte der Pfarrfrau schüchterten die Kinder so ein, daß sie
-ihr gute Nacht boten, ohne ihr ein Wort von dem zu sagen, was sie heute
-nachmittag erlebt hatten.</p>
-
-<p>„Ich fürchte mich vor der Schule morgen,“ flüsterte Suse, als sie
-allein mit ihrem Bruder war.</p>
-
-<p>„Das mußt du nicht,“ meinte er, „denk nicht dran! Ich denk auch nicht
-dran.“</p>
-
-<p>Und in der Absicht, sie auf andere Gedanken zu bringen, fuhr er mit
-geheimnisvoller Stimme fort: „Laß uns aus dem Fenster sehen, jetzt
-springen vielleicht auf dem Dach wieder die herrlichen Buchstaben herum
-wie gestern abend.“</p>
-
-<p>„Ja, ja, du hast recht,“ sagte die Schwester und machte sich schnell
-fertig, um mit ihrem Bruder an das Fenster zu treten und die nächtliche
-Stadt zu betrachten. Wie Tausende von Leuchtkäfern funkelten dort die
-Lichter aus dem Dunkel auf, wie schillernde Schlangen glitten die
-Elektrischen am Kanal entlang, und aus den engen Straßen kamen die
-Menschen als vermummte Gestalten ans Licht. Und pünktlich, wie der
-Mond und die Sterne daheim über dem Nußbaum im Hofe der Doktorskinder,
-erschienen auf dem Dach des hohen Hauses jenseits des Kanals die
-leuchtenden Buchstaben, deren Sinn Hans und Suse nicht erkunden
-konnten. Ein Buchstabe nach dem andern blitzte auf und lief über den
-Dachfirst. Leuchtend standen dort ein paar Worte und erloschen wieder,
-um nach einigen Sekunden in neuem Glanz zu erstehen.</p>
-
-<p>„Wie schön, wie schön,“ sagte Hans leise.</p>
-
-<p>Suse aber faltete die Hände und wiederholte die Worte von heute
-morgen: „Ach, wenn doch daheim auf unserem Dach auch mit einemmal
-solche herrliche Buchstaben herumsprängen! Der Vater und die Mutter,
-die würden sich gewiß freuen, gelt Hans? Die Buchstaben sind doch das
-aller-, allerschönste hier! Wenn die nicht wären, dann wär’ es so
-häßlich wie nirgends sonst auf der Welt!“</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span></p>
-
-<h2 class="left" id="Zweites_Kapitel">Zweites Kapitel.<br />
-
-<b class="s4 mleft2">Die Flucht</b></h2>
-
-</div>
-
-<p class="p0"><span class="initial">F</span>ür den Sonntagnachmittag waren Hans und Suse bei Onkel Sepp und
-Tante Hedi, Theobalds Eltern, eingeladen. Aber im letzten Augenblick
-wurde die Einladung zurückgenommen, und die Geschwister mußten daheim
-bleiben. Ihre Vettern und Basen durften an dem Tag keinen Besuch
-empfangen; es waren eben unverbesserliche Sausewinde, die nichts wie
-tolle Streiche verübten, für welche sie dann büßen mußten. Diesmal
-handelte es sich um eine recht dunkle Sache, von der Theobald nur in
-unklaren Andeutungen sprach. Danach war eine Papiertüte voll Wasser
-zufällig von der Gartenmauer seines Vaterhauses gefallen, einer
-vorübergehenden Marktfrau auf den Kopf und dort geplatzt, worauf die
-Frau vor Schreck sich mitten auf der Straße niedergelassen hatte.</p>
-
-<p>Und für diesen harmlosen Vorfall, an dem nach Theobalds Ausspruch kein
-Mensch Schuld hatte, waren Onkel Sepps Kinder hart bestraft worden und
-hatten heute Stubenarrest.</p>
-
-<p>So waren Hans und Suse denn auf sich allein angewiesen. &mdash; Frau
-Cimhuber war ausgegangen und hatte den Kindern versprochen, sie gegen
-Abend zu einem Spaziergang abzuholen. Ursel hatte sich in die Küche
-zurückgezogen, denn sie litt noch immer an starkem Zahnweh, und auf
-ihrem vermummten Kopf standen die Zipfel ihres Tuches steil aufrecht
-wie zwei Hasenohren.</p>
-
-<p>Die ganzen letzten Tage hatte sie zwar versprochen, den Kindern heute
-Missionarsgeschichten zu erzählen; aber nun, da es so weit war, warf
-sie Blicke um sich wie der Drache in der Höhle, und die Kinder mieden
-sie ängstlich.</p>
-
-<p>Die meiste Zeit des Nachmittags verbrachten sie in ihrem Zimmer, wo
-Suse in eine immer gedrücktere Stimmung verfiel. Sie hielt einen Brief
-ihrer Mutter in Händen, den sie heute morgen erhalten hatte und in dem
-sie immer wieder las.</p>
-
-<p>„Mein liebes Kind,“ stand in dem Brief geschrieben, „die Veilchen
-blühen noch immer und tragen viele Knospen und Rosel begießt sie
-täglich und schaut nach ihnen. Die Sonne scheint jetzt schon so wohlig
-und warm im Garten, und alles beginnt zu blühen und zu grünen. Minnette
-hab’ ich ihr Glöckchen weggenommen, das Du ihr zum Abschied umgebunden
-hast, und beiseite gelegt, weil es sie belästigte; aber wenn Du
-wiederkommst, darfst Du es wieder hervorholen und ihr umbinden, liebes
-Kind. Michel liegt in der Sonne auf der Hoftreppe und grollt<span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span> mit uns,
-wie Euer Vater sagt, weil wir Euch fortgehen ließen, und nun läßt er
-seinen Zorn an den Hühnern und Katzen der Nachbarschaft aus und beißt
-und schüttelt sie, wo er nur kann. Zur Strafe soll er mal wieder für
-einige Zeit zum Förster in die Nachbarschaft kommen, damit er sich
-wieder bessere Manieren angewöhnt. Christine und Rosel sprechen immerzu
-von Euch und haben sich heute wunderbare Briefbogen mit Vergißmeinnicht
-und verschlungenen Händen gekauft, und nun wollen sie Euch Briefe
-schreiben. Christine wird ihren Rosel diktieren. Auch Eure Freunde und
-Freundinnen waren schon da und haben nach Euch gefragt.“</p>
-
-<p>Schließlich stand Suse auf, ging ans Fenster, drückte ihr Gesicht gegen
-die Scheiben und sah hinunter auf den Kanal, der heute frei von Kähnen
-war. Auch die Straßen waren weniger belebt als sonst. Die Menschen
-waren wohl hinausgewandert in das Freie, wo der Sonnenschein über
-Feldern und Wiesen lachte.</p>
-
-<p>Nur hoch oben an der blauen Himmelsdecke, da ging es lustig her. Da
-flogen die munteren, kleinen Federwölkchen vorüber, die Suse so gern
-hatte. Sie glänzten wie schimmernder Atlas und flatterten und wehten
-wie weiße Tüchlein, die unsichtbare Hände schwenken.</p>
-
-<p>„Komm mit, komm mit,“ schienen sie zu rufen. &mdash; Sie wanderten weiter,
-immer weiter, bis sie zu den Bergen von Susens Heimat kamen. Noch heute
-trafen sie dort ein. Das kleine Mädchen spürte es so deutlich, so klar.
-Dann sahen sie in den Doktorsgarten, wo die Blumen blühten und die
-Büsche grünten, wo an der Mauer der Schlehdorn schneeig schimmerte,
-wo vor der Tür Minnette saß und im Hof Michel sich sonnte. Und in das
-gemütliche Wohnzimmer schauten sie, wo der Vater und die Mutter am
-Kaffeetisch saßen und miteinander redeten.</p>
-
-<p>„Wie schön ist es heute, wir wollen durch den Garten gehen,“ sagte die
-Mutter. „Komm, Hermann. Was wohl unsere lieben Kinder heute treiben?“</p>
-
-<p>Und Suse hörte genau die Stimme ihrer Mutter.</p>
-
-<p>Da räusperte sich Hans, und sie fuhr herum und zeigte ein verweintes
-Gesicht. Er schaute sie erschrocken an. Und da begann sie auch schon
-von Tränen überströmt: „Jetzt will ich dir auch sagen, Hans, was ich
-schon immer gedacht habe. Wir wollen fort von hier, nach Hause.“</p>
-
-<p>Der Knabe fuhr zusammen und wiederholte langsam: „Nach Hause?“</p>
-
-<p>„Ja, Hans!“</p>
-
-<p>„Aber, Suse, wir sind ja eigens hierher gekommen in die Stadt, damit
-wir was lernen, und jetzt wollen wir schon wieder fort?“</p>
-
-<p>„Ei, Hans, wir können ja in eine andere Stadt gehen, wo’s viel schöner
-ist. Es gibt ja noch viele Städte.“</p>
-
-<p>„Nein, Suse, der Vater und die Mutter haben gesagt, sie haben sich<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span>
-lange bedacht, warum sie uns gerade in diese Stadt schicken. Sie
-wollen, daß wir uns an fremde Menschen gewöhnen und hier bleiben und
-was lernen. Und jetzt sind wir hier, und jetzt bleiben wir hier.“</p>
-
-<p>„Dann sterb’ ich, Hans. Ich hab’ immer so Weh hier...“ Und das kleine
-Mädchen zeigte weinend auf sein Herz.</p>
-
-<p>„Sieh, hier, Hans, und essen mag ich auch nichts mehr, es drückt mich
-immer im Hals und ich kann nicht schlucken. Du wirst sehen, ich sterbe.
-Ich habe schon immer gebetet, daß der liebe Gott macht, daß wir wieder
-nach Hause kommen, sonst sterb’ ich.“</p>
-
-<p>„Bald sind ja Ferien, Suse!“</p>
-
-<p>„Dann bin ich schon tot. Ich will fort, ich will fort!“</p>
-
-<p>Und Suse drückte weinend beide Handrücken vor die Augen und wiederholte
-immer wieder: „Ich hab’ so Weh hier, Hans, ich hab’ so Weh hier! Ich
-will fort!“</p>
-
-<p>Dem Bruder wurde es angst und bange. Er suchte nach Trostesworten und
-fand keine.</p>
-
-<p>Seine kleine Schwester aber fuhr immer trauriger fort: „Ich mag auch
-nicht mehr in der Elektrischen fahren. &mdash; Und die hellen Buchstaben
-find’ ich auch nicht mehr schön. Ich mag nichts mehr. Kein Kind will
-mit mir spielen. Alle haben sie Freundinnen, nur ich nicht. Und Frau
-Cimhuber hat uns auch nicht lieb, und Ursel erst recht nicht.“</p>
-
-<p>Hier schluchzte sie laut auf.</p>
-
-<p>Dann sagte sie wieder leise vor sich hin: „Wir wollen fort, wir wollen
-fort. Ich will zum Vater und zur Mutter und zu den Kindern, die mich
-lieb haben.“</p>
-
-<p>„Aber, Suse, was wollen wir denn machen?“ fragte Hans in größter
-Aufregung. „Frau Cimhuber läßt uns ja nicht fort!“</p>
-
-<p>„Sie braucht es ja nicht zu wissen, daß wir fort wollen, Hans! Wir
-schleichen uns ganz in der Frühe fort, wenn alle noch schlafen.“</p>
-
-<p>„Und unsere Sachen, Suse?“</p>
-
-<p>„Die ziehen wir alle übereinander an. Du ziehst vier Hosen und
-vier Hemden an und zwei Anzüge, und ich auch; meine zwei schönen
-Sonntagskleider leg ich fein ordentlich in eine Pappschachtel, und
-deinen Matrosenanzug auch. Das trägst du dann an einer Schnur.
-Ich nehme das andere; die Geburt Christi und den Engel und die
-Taschentücher und Strümpfe, alles, alles in der Hirschtasche.“</p>
-
-<p>„Nein, Suse, das geht nicht. Das dürfen wir nicht. Wir sind hier und
-wir bleiben hier. Und es ist auch schön hier.“</p>
-
-<p>„Schön?“ fragte Suse ganz entgeistert. „Aber, Hans, das glaubst du
-doch selbst nicht! &mdash; Weißt du, Hans,“ fuhr sie flüsternd fort,
-„nachts träum’ ich immer, der Negergott springt mit einem von den
-vielen<span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span> Negermessern hinter uns her, drei Schritte vorwärts und einen
-zurück, und dazu ruft er: Halloh! Halloh! wo steckt ihr? &mdash; Und eines
-Nachts ist er wirklich an unsere Tür gekommen. Ich hab’ ihn deutlich
-schleichen hören. Und dann hat er leise, erst wie ein Neger, dann
-deutsch gesagt: ich krieg euch doch. &mdash; Wartet nur, brr... hu... hu...“</p>
-
-<p>„Dummes Zeug,“ wehrte Hans. „So was Dummes brauchst du nicht zu
-träumen. Du weißt ja, er ist aus Holz. Und nun paß mal auf. Ich gehe
-jetzt in die Negerstube und hol’ ihn von dem Ständer herab. Dann sollst
-du ihn selbst mal anfassen.“</p>
-
-<p>„Nein, nein,“ rief Suse. „Er tötet uns.“</p>
-
-<p>„Er denkt nicht dran. Er ist ja der rechte Ölgötze. Das hat auch
-Theobald gesagt.“</p>
-
-<p>Und nach diesen Worten ging Hans stolz, hoch erhobenen Hauptes zur
-Tür hinaus, dem Staatsgemach der Frau Cimhuber zu und trat ein.
-Erwartungsvoll sah ihn der Götze daherschreiten.</p>
-
-<p>„Er guckt, er guckt,“ rief Suse.</p>
-
-<p>„Darf er ruhig,“ meinte Hans, räusperte sich, ging stracks auf das
-Ungeheuer zu, klopfte ihm ein paarmal auf den hölzernen Lockenkopf und
-packte dann mit festem Griffe zu. Die Figur wog schwer wie Blei. Und
-Hans hatte Mühe, sie auf seine Schulter zu heben, und trug sie dann mit
-eingeknickten Knien wie ein alter Mann hinter Suse her, die sich aus
-Angst vor dem Ungeheuer langsam immer weiter zurückzog.</p>
-
-<p>„Wart’ doch, wart’ doch!“ rief er.</p>
-
-<p>Fast war er bei der Schwester, da fiel plötzlich mit Getöse ein
-Negerschwert von der Wand herunter.</p>
-
-<p>Hans glaubte, die Decke stürze ein, sperrte vor Schrecken die Arme weit
-auf und ließ den Negergott auf den Teppich plumpsen. Er stand Kopf und
-schlug dann krachend einen Purzelbaum.</p>
-
-<p>„Der Götze, der Götze,“ schrie Suse, sprang in die Höhe wie eine
-Heuschrecke und glaubte, er käme hinter ihr hergerutscht und packe sie
-am Bein. Wenn er sie plötzlich festgehalten, hätte sie es gar nicht
-verwundert.</p>
-
-<p>„Der Götze, der Götze!“ rief sie noch einmal.</p>
-
-<p>Da kam Ursel herbei, erblickte die Figur, die mitten im Zimmer auf dem
-Rücken lag, und stürmte drauf zu.</p>
-
-<p>„Der Götze, der Götze,“ rief sie. Sie kniete daneben nieder, wendete
-ihn um und um wie ein Wickelkind, und entdeckte den Spalt in seinem
-Kopf. Dann jammerte sie: „Jetzt ist er kaput! Da liegt er nun, der
-treue Götze. Wer hat euch denn geheißen, ihn von seinem Platz herunter
-zu holen,“ brauste sie auf. „Müßt ihr alles anfassen, was ihr seht?
-Natürlich hattet ihr keine Ruh’, bis er kaput war.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span></p>
-
-<div class="figcenter">
- <a id="p039" name="p039">
- <img class="mtop2 mbot2" src="images/p039.jpg"
- alt="Fall des Götzen" /></a>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span></p>
-
-<p>„Frau Cimhuber wird böse sein,“ stotterte Hans.</p>
-
-<p>„Vielleicht nicht?“ brauste Ursel auf. „Soll sie vielleicht Zuckerkind
-zu dir sagen und dir einen Kuchen backen zur Belohnung, weil du den
-Götzen kaput gemacht hast!“</p>
-
-<p>„Nein, das möcht ich nicht,“ sagte Hans noch verwirrter als bislang.
-„Der Götze ist ja von dem Herrn Missionar, nicht wahr?“</p>
-
-<p>„Von wem denn sonst, vielleicht von einem Zwetschenbaum? Meinst du,
-solche fremdländischen Figuren wachsen hier auf Bäumen, und wir holen
-sie uns herunter?“</p>
-
-<p>„Nein... nein..., ich weiß ja, daß er aus Afrika ist,“ sagte Hans
-schüchtern. „Frau Cimhuber hat’s ja gesagt.“</p>
-
-<p>„Jetzt fort mit euch ungezogenen Kindern!“ fuhr Ursel die Pechvögel an.
-„Ihr könnt nichts, wie Dummheiten machen.“</p>
-
-<p>Und die beiden verließen gesenkten Hauptes die Negerstube und wußten
-nicht wohin sehen vor Beschämung.</p>
-
-<p>Es verging geraume Zeit, dann hörten sie, wie die Pfarrfrau
-wiederkehrte, mit Ursel redete und von ihr in die Negerstube geführt
-wurde.</p>
-
-<p>Sie lauschten atemlos.</p>
-
-<p>„Jetzt weiß sie’s,“ flüsterte Suse.</p>
-
-<p>Hans fuhr zusammen und saß blaß und regungslos in der Ecke und
-erwartete jede Minute, Frau Cimhuber werde mit dem Götzen auf dem Arm
-hereinkommen und ihn zur Rede stellen.</p>
-
-<p>Aber sie kam nicht, und auch später, als die Kinder mit ihr beim
-Abendessen zusammentrafen, machte sie ihnen keine Vorwürfe. Sie sah
-nur still vor sich nieder. Da konnte Hans schließlich ihren stummen
-Anblick nicht mehr ertragen, und er sagte leise und beklommen: „Frau
-Pfarrer,... Frau Pfarrer...“ Dreimal schluckte er trocken runter, dann
-begann er wieder: „Ich bitte Sie um Entschuldigung wegen dem Götzen,
-Frau Pfarrer. &mdash; Er &mdash; ist so rutschig und glitschig wie ein Fisch. Er
-ist mir aus den Armen gefallen. &mdash; Ich glaub’ &mdash; ich mein’ &mdash;,“ fuhr
-er stotternd fort, „wenn Sie erlauben, Frau Pfarrer, mein’ ich, möcht’
-ich Ihnen einen neuen Gott schenken. Ich könnte Ihnen einen schnitzen
-lassen. Ich habe einen Freund Martin, der schnitzt sehr schön, der
-könnte Ihnen einen neuen schnitzen. Meiner Mutter hat er einen
-Nähkasten geschnitzt. Spazierstöcke kann er auch machen. Der würde
-sicher einen schönen Negergott fertig bringen.“</p>
-
-<p>„Es kommt nicht auf die Schönheit an,“ sagte Frau Cimhuber schmerzlich.
-„Diese Figur war mir nur deshalb lieb, weil sie ein Geschenk meines
-Sohnes aus Afrika ist. Aber wie kommt gerade ihr darauf, sie
-herunterzunehmen? Ihr möchtet doch gewiß auch nicht, daß wir euere
-Sachen in euerer Abwesenheit anfassen und kaput machen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span></p>
-
-<p>„Nein... nein,“ stotterten die Kinder, und Hans sagte kleinlaut: „Wir
-wollten ihn nicht kaput machen. Und wir faßten ihn auch sonst nicht an,
-aber...“</p>
-
-<p>„Ich hab’ gemeint, er ist lebendig,“ fiel hier Suse weinend ein.
-„Entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, ich fürcht’ mich so vor ihm. Und da
-hat Hans gesagt: er ist nicht lebendig. Und da wollten wir sehen, ob er
-lebendig ist. Und da war er gerade wie lebendig. Und ich habe ihn schon
-ganz sicher mal gehört, wie er des Nachts vor meiner Tür gesessen ist
-und leise geklopft hat und gesagt hat: Macht auf; seid ihr drin; ich
-komme.“</p>
-
-<p>„Aber Kind, du phantasierst,“ sagte die Pfarrfrau und sah Suse
-erschreckt an. „Aber, Kind,“ begann sie dann wieder, „du mußt acht
-geben auf alles, was du sagst. Sonst sagst du die Unwahrheit, und das
-ist das Schlimmste, was ein Kind tun kann.“</p>
-
-<p>Suse fuhr zusammen. Hans sah ängstlich auf und verteidigte seine
-Schwester: „Suse träumt immer so. Und dann wacht sie auf und dann hat
-sie gehört, wie jemand draußen war und dann hat sie gemeint, es ist der
-Götze.“</p>
-
-<p>Die Frau Pfarrer schien der Sache nicht recht zu trauen, denn sie
-antwortete nichts, und die Unterhaltung verstummte ganz und gar.</p>
-
-<p>Die Kinder waren froh, als das Abendessen vorüber war und sie sich
-entfernen konnten.</p>
-
-<p>In Suse stand der Entschluß zu fliehen fester denn je. Und als sie mit
-ihrem Bruder allein war, begann sie: „Wir wollen fort, Hans. Nun willst
-du doch auch, daß wir fortgehen. Wir machen ja doch alles verkehrt,
-wenn wir uns auch noch so viele Mühe geben. Was nützt es, daß wir
-noch hier bleiben. Noch kein einziges Mal ist Frau Cimhuber gut zu
-uns gewesen und hat uns gelobt. Glaub’ mir, sie ist froh, wenn wir
-wieder fort sind. Und dann lassen Ursel und sie sich eben andere Kinder
-kommen, die viel artiger sind als wir. Und daheim sind sie froh, wenn
-wir kommen.“</p>
-
-<p>Und stockend fuhr Suse fort: „Und schlechte Zeugnisse bekommen wir
-auch. Ich versteh’ immer noch nichts in der Schule, und daheim war ich
-immer die erste.“</p>
-
-<p>„Ich versteh’ jetzt schon mehr,“ sagte Hans schüchtern.</p>
-
-<p>Suse aber fuhr fort: „Du gehst aber doch mit mir fort? Gelt? Du bleibst
-nicht hier? Wir gehen nach Hause. Ach laß uns doch nach Hause gehen.“</p>
-
-<p>Der Bruder schüttelte sein Haupt und sagte standhaft wie ein
-Erwachsener: „Nein, Suse, die Eltern haben gesagt, wir bleiben hier,
-und jetzt bleiben wir hier.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span></p>
-
-<p>Allein das Unglück heftete sich an des Knaben Fersen, und ehe noch der
-folgende Tag vorüber war, sollte sein Heldentum jäh in die Brüche gehen.</p>
-
-<p>Morgens früh ging er ganz zuversichtlich zur Schule. Der Aufenthalt
-dort war ihm lange nicht so unangenehm, als der in Frau Cimhubers Haus,
-wo alles ihn vorwurfsvoll ansah, heute selbst der Negergott, der mit
-seinem geborstenen Haupt ein Bild des Schreckens bot.</p>
-
-<p>Die Schule dagegen war Hans lange nicht mehr so fremd wie in den ersten
-Tagen seines Hierseins. Lehrer und Schüler waren ihm bekannter, der
-ganze Unterricht vertrauter geworden.</p>
-
-<p>Heute nun brachte er es sogar fertig, in der ersten Hälfte des Morgens
-ein paar gute Antworten zu geben und war ganz angetan von sich.</p>
-
-<p>So kam die letzte Stunde, eine Naturgeschichtsstunde, heran. &mdash; Der
-Lehrer wollte mit den Kindern in der Besprechung des Hausrindes
-fortfahren, mit der er schon das letztemal begonnen hatte.</p>
-
-<p>Es würde sehr lustig und ulkig zugehen, meinten einige von Hansens
-Mitschülern, die sitzen geblieben waren und deshalb vom letzten Jahre
-her über alles genau Bescheid wußten.</p>
-
-<p>Herr Meyer werde nämlich einen Kuhmagen mitbringen, um ihn aufzublasen
-und dessen Form deutlich zu zeigen. Bei diesem Beginnen pflege er
-selbst so heftig mit anzuschwellen, daß die Klasse in lautes Lachen
-ausbreche und nicht mehr zu halten sei.</p>
-
-<p>Fuchsteufelswild werde er darüber.</p>
-
-<p>Nun war die Pause vorüber und die Schüler suchten ihre Plätze auf.
-Rechts und links von Hans saßen seine Nebenmänner schon, und zwar
-auf der einen Seite sein Freund Peter, ein Knabe mit einem freien,
-aufgeweckten Wesen. Hans und er waren gleich Freunde geworden, stammte
-Peter doch auch aus den Bergen, und so hatten die beiden einander
-gleich viel zu erzählen gehabt. &mdash; Für Peters größtes Heiligtum, eine
-Tierschädel- und Vogeleiersammlung, wollte Hans aus den nächsten Ferien
-einige neue wertvolle Stücke mitbringen.</p>
-
-<p>Weniger freundschaftliche Beziehungen bestanden zwischen Hans und dem
-Knaben an seiner andern Seite. Dieser, Kurt, war das gerade Gegenteil
-von Peter, ein unaufrichtiger, verschlagener Junge, der aber trotzdem
-einen großen Einfluß auf seine Mitschüler ausübte. Er hatte den
-Fußballklub „Germania“ gegründet und schon eine große Anzahl Mitglieder
-gewonnen. Auch Hans sollte diesem Verein beitreten, hatte es aber bis
-jetzt noch abgelehnt, da ihn einstweilen in der Stadt noch viel anderes
-Neues lockte.</p>
-
-<p>Gerade hatte der sporteifrige Kurt Hans wieder in ein Gespräch über
-seinen Fußballklub verstrickt, da öffnete sich die Tür, und der
-Leh<span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span>rer, Herr Meyer, trat ein. Unter dem Arm trug er eine Pappschachtel
-und einige Bücher. Der Lärm in der Klasse ließ nach. Ganz still wurde
-es allerdings noch nicht. So recht in Respekt zu setzen wußte dieser
-Lehrer sich nämlich nicht.</p>
-
-<p>Er ging nun auf das Pult zu und nahm dort Platz. Hinter ihm erhob sich
-die weißgekalkte, mit Bildern Schillers und Uhlands geschmückte Wand.
-Die Pappschachtel stellte er neben sich nieder. In der Klasse war noch
-Flüstern, Klappern, sowie Schurren mit den Füßen zu hören.</p>
-
-<p>„Ruhe,“ rief der Lehrer, und die Stunde begann.</p>
-
-<p>„Welches ist das nützlichste Haustier des Menschen?“ leitete er seinen
-Unterricht ein.</p>
-
-<p>„Das Hausrind,“ kam als Antwort zurück.</p>
-
-<p>Herr Meyer war mit dieser Erwiderung zufrieden und legte nun den
-Kindern andere Fragen vor, die sie ebenfalls zu seiner Zufriedenheit
-beantworteten. Dann reihte er gemeinsam mit ihnen das Tier in die
-Klasse der Wiederkäuer, Pflanzenfresser und Huftiere ein, und mehrere
-Male mußten die Knaben die Merkmale dieser Tiere wiederholen.</p>
-
-<p>Hans paßte gut auf, damit ihm kein Wort entgehe. Die Beschaffenheit
-der Zunge, des Gebisses, der Hufe, der Muskulatur, alles war ihm klar.
-Auch die Einteilung des Kuhmagens leuchtete ihm ein; Pansen, Netzmagen,
-Blättermagen und Labmagen hießen die verschiedenen Abteilungen.</p>
-
-<p>Als der Lehrer mit seinen Erklärungen fertig war, griff er nach der
-Pappschachtel. &mdash; Die Kinder stießen einander an und sahen gespannt
-nach dem Pult. Jetzt war der langersehnte, aufregendste Augenblick der
-Stunde gekommen. Der Lehrer hob den Deckel der Schachtel auf und holte
-ein lederfarbenes Hautgemengsel heraus, indem er sagte: „Nun wollen wir
-uns einmal einen richtigen, echten Kuhmagen ansehen.“ Hierauf setzte
-er eine Glasröhre in die Öffnung des Magens und begann zu pusten.
-Die Knaben verwandten keinen Blick von ihrem Lehrer und seinem Tun.
-Langsam schwoll der Magen an, eine Abteilung nach der andern, und in
-dem Maße, als er an Umfang zunahm, schien auch des Oberlehrers Gestalt
-anzuschwellen. Der Zwischenraum zwischen ihm und dem Pultdeckel wurde
-immer geringer. Leise kicherten einige Knaben. Zürnend blickte der
-Lehrer in die Klasse und wurde krebsrot im Gesicht. Aber sein Mund ließ
-die Glasröhre nicht los. Da platzte einer der Knaben laut aus. Der
-Oberlehrer ließ die Glasröhre in seiner Hand fahren, und der Kuhmagen
-sank mit einem leise pfeifenden Ton in sich zusammen. Am lautesten
-mußte Hans lachen. Das Unglück wollte ja immer, daß er da am lautesten
-lachte, wo es am wenigsten angebracht war.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span></p>
-
-<p>Puterrot vor Zorn schlug der Lehrer auf das Pult, daß der Kuhmagen wie
-ein lederner Tabaksbeutel in die Höhe flog und rief: „Wenn jetzt noch
-einmal einer lacht, dann bekommt ihr alle Arrest. &mdash; Verstanden? &mdash;
-Es ist doch seltsam, daß gerade die immer am meisten lachen, die am
-wenigsten können,“ meinte er mit einem durchbohrenden Blick nach Hans
-hin.</p>
-
-<p>Dieser wurde käsweiß.</p>
-
-<p>„Die Schule ist doch nicht dazu da, daß wir uns im Lachen und Schreien
-üben,“ fuhr der Lehrer lauter fort. „Wenn wir das wollen, können wir
-lieber in unseren Hinterwäldern bleiben und mit unseren Kühen auf die
-Weide gehen.“</p>
-
-<p>Hans spürte, wie seine Stirn eiskalt wurde. &mdash; Der Lehrer meinte
-natürlich ihn. Ja, er hätte daheim bleiben sollen in Schwarzenbrunn.</p>
-
-<p>Zitternd vor Ärger ergriff Herr Meyer jetzt den Kuhmagen zum zweitenmal
-und pustete ihn auf. Nun bedurfte es nur noch einiger schwacher
-Atemzüge, dann war dieser ganz und gar mit Luft gefüllt.</p>
-
-<p>Da geschah etwas Unerwartetes.</p>
-
-<p>Durch die Klasse schwirrte plötzlich eine Papierkugel und fiel mitten
-auf des Lehrers Nase nieder. Sein Kopf fuhr auf, und die Glasröhre fiel
-zur Erde. Es war totenstill in der Klasse. Dann sprang Herr Meyer in
-die Höhe und fuhr die Knaben an: „Wer hat das getan?“ Keiner antwortete.</p>
-
-<p>Fest hefteten sich da die Augen des Lehrers auf Hans. &mdash; Unsicher
-flogen des kleinen Knaben Blicke durch die Klasse. &mdash; War nicht seine
-Hand wie von einem Wurf ermattet unter die Bank gesunken, als der
-Lehrer aufgeblickt hatte?</p>
-
-<p>„Ich weiß genau, wer es getan hat,“ rief der Lehrer lauter als vorher.</p>
-
-<p>„Du, der Neue, da hinten in der Ecke, komm mal her! Wie heißt du doch
-gleich?“</p>
-
-<p>Mechanisch ging der Junge auf das Pult zu und sah den Lehrer
-hilfesuchend und verstört an.</p>
-
-<p>„Gesteh mal, du hast’s getan,“ donnerte ihm dieser entgegen.</p>
-
-<p>Hans würgte an einer Antwort, aber sie kam nicht über seine Lippen. Der
-Ausdruck seiner Augen wurde immer unglücklicher und hilfloser.</p>
-
-<p>„Antworte,“ rief der Lehrer.</p>
-
-<p>Er schwieg.</p>
-
-<p>„Ah, du bist auch noch trotzig,“ fuhr Herr Meyer ihn an. „Marsch, geh’
-wieder auf deinen Platz. Ich kenne dich, Bürschchen. Aber jetzt hab’
-ich keine Zeit für dich. Doch morgen früh wirst du mit mir zum Herrn
-Direktor gehen.“</p>
-
-<p>Hans konnte noch immer keinen Laut hervorbringen. Wie ein zum<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span> Tode
-Verurteilter stand er da. Dann kehrte er langsam um, und als er an
-seinem Platz angelangt war, warf er seinem Nebenmann Kurt einen langen,
-verängstigten Blick zu.</p>
-
-<p>Zwischen diesem und Peter war ein hartnäckiger Streit ausgebrochen.
-Hansens Freund angelte mit Armen und Beinen an Hans vorüber nach dem
-Klubgründer hin, und als er ihn schließlich am Bein erwischt hatte, riß
-er ihn mit einem Ruck fast von der Bank. Sein Mitschüler kehrte ihm ein
-finsteres, verschlagenes Gesicht zu.</p>
-
-<p>Hans merkte nichts von alledem. Vor seinen Augen war es finster wie in
-einem Sack. Die Worte des Lehrers klangen wie fernes Gemurmel an seinen
-Ohren. Nichts ging ihm mehr ein, nur der eine Gedanke beherrschte ihn
-ganz und gar, er wollte fort von hier, fort. Im Grunde hatte er ja
-genau dasselbe Heimweh wie Suse. Bis jetzt hatte er es nur sorgsam
-versteckt. &mdash; Die Schwester hatte ja so recht, sie machten ja doch
-alles verkehrt hier, sie konnten anfangen, was sie wollten. Und morgen
-gar sollte er zum Direktor! Und gingen sie nicht von selbst, so
-schickten ihre Lehrer sie schließlich fort. Drum sagte Hans, als er
-heute nach Hause kam, zu seiner Schwester: „Suse, wir wollen heim.“</p>
-
-<p>Die Schwester glaubte zuerst nicht recht gehört zu haben, dann aber
-rief sie laut: „Nach Hause! Oh, wie schön! Oh, wie schön! Oh, wie freu’
-ich mich! Wie freu’ ich mich! Heim! Heim! Zu unseren Eltern!“</p>
-
-<p>Der Bruder antwortete nichts, Suse aber handelte. &mdash; Eine wichtige
-Frage galt es in erster Linie zu erledigen. Woher sollten sie das
-Reisegeld nehmen? &mdash; Die drei Mark, die Suse noch hatte, und die paar
-Groschen von Hans reichten lange nicht. Da kam ihr ein herrlicher
-Gedanke. Sie hatten ja einen treuen Beschützer und Freund hier in der
-Stadt, den Vetter Theobald. &mdash; So böse und übermütig, wie der einst in
-Susens Elternhaus gewesen, so fürsorglich war er jetzt. Erst gestern
-hatte er ihnen beiden Schokolade aus einem Automaten geschenkt. Der
-Vetter würde helfen!</p>
-
-<p>So schaute Suse denn gegen drei Uhr nachmittags fleißig nach
-ihrem Vetter aus, da er täglich zu dieser Zeit auf seinem Weg zur
-Schwimmanstalt an Frau Cimhubers Haus vorübergehen mußte.</p>
-
-<p>Auch heute tauchte er zur gewohnten Stunde auf, und Suse konnte
-hinuntereilen und sich ihm anschließen. Lange Zeit fand sie nicht
-den Mut zum rechten Wort und verfiel in Stillschweigen. Er aber
-hielt ihr ehrfurchtsvolles Verstummen für eine Huldigung, die sie
-seiner bedeutenden Persönlichkeit darbrachte, und erzählte in der
-aufgeblasensten Weise von seinen Erlebnissen.</p>
-
-<p>Er könne all den Freunden und Belustigungen, die in dieser
-interessanten Stadt auf ihn einstürmten, kaum Herr werden, meinte er
-mit<span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span> einem Seufzer. So gehe er heute abend mit seinem Onkel Fritz in
-den Zirkus, um sich eine Vorstellung von Akrobaten und Kunstradfahrern
-anzusehen. Es sei fabelhaft. Es sei unglaublich. Es sei überwältigend,
-was diese Künstler leisteten. &mdash; Auf dem Hinterrad ihrer Maschine
-fahrend, würfen sie das Vorderrad in die Höhe, sausten in dieser
-Stellung rund um den Zirkus, stellten sich mit dem Kopf auf den Sattel
-und strampelten mit den Beinen. Forschend sah der Vetter in seiner
-Cousine Gesicht und erwartete dort Bewunderung, Überraschung, Staunen.
-Aber nichts dergleichen war zu sehen.</p>
-
-<p>Suse hing eigenen Gedanken nach. Und während er sie noch so
-betrachtete, platzte sie mit einem Male los: „Du, Theobald, du möchtest
-mir zwanzig Mark geben. Wir gehen morgen nach Hause.“</p>
-
-<p>„Was?“ rief Theobald und sank auf einer Bank am Kanale nieder. Er
-starrte Suse an wie von Sinnen.</p>
-
-<p>„Was?“ stotterte er.</p>
-
-<p>Und mit einemmal trampelte er mit den Füßen auf dem Boden, schlug sich
-mit den Händen auf die Knie und fing so laut und heftig an zu lachen,
-daß Suse meinte, er ersticke. Ganz blaurot war er im Gesicht und
-zappelte auf der Bank herum wie ein Fisch, der auf das Trockene geraten
-ist. Ja, in seinem Übermut wurde er wieder ganz der ausgelassene
-Theobald, als den Suse ihn in ihrem Heimatsort kennen gelernt hatte,
-lief auf seinen Händen wie ein Zirkuskünstler ein Stück durch die
-Anlagen, kehrte dann um, sprang auf seine Füße, ließ sich wieder auf
-die Bank plumpsen und dazu rief er: „Herrlich, herrlich! Ich möchte die
-Spatzen auf den Dächern umarmen vor Freude. So was Schönes hab’ ich
-lange nicht gehört. Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte. Und dabei habt
-ihr immer so geprahlt mit eurer Negerstube und eurer Pflegedame und dem
-Kirschenpudding, den sie euch macht, und dem dicken Apfelmus auf euren
-Bröten. Und dabei habt ihr immer gesagt, Frau Cimhuber ist so fromm,
-daß sie sicher in den Himmel kommt. Und jetzt wollt ihr fort von eurer
-frommen Frau. Weiß sie’s denn schon, daß ihr geht?“ forschte er.</p>
-
-<p>Suse schüttelte ihr Haupt.</p>
-
-<p>Da lachte Theobald lauter denn je, schlug sich auf die Knie, warf sich
-hinten über die Bank, konnte sich aber noch zur rechten Zeit an der
-Lehne festhalten und daran emporziehen und trieb so lange Unfug, bis
-Suse ihn am Ärmel packte und auf die Leute aufmerksam machte, die rund
-herum standen und lachten.</p>
-
-<p>Da entsann er sich flugs seiner Würde als wohlerzogener Stadtmensch,
-ließ sich gesittet auf der Bank nieder und forderte seine Base auf,
-neben ihm Platz zu nehmen, damit sie alles besprächen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span></p>
-
-<p>Dann begann er sein Verhör. „Also das Reisegeld willst du. Zwanzig Mark
-stehen zu deiner Verfügung. Die hab’ ich letzte Woche von Onkel Fritz
-zum Geburtstag bekommen. Aber Toni hat sie mir gestern abgebettelt für
-ein Bild, das sie ihrer Freundin schenken will.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Na, das ist ein Bild! Die Toteninsel heißt’s! Einfach schauderhaft! Die
-Haare stehen mir zu Berge, wenn ich’s nur angucke. Ich versichere dich,
-wenn man sich unterstände, mir ein solches Bild zu schenken, würd’
-ich’s als die größte Beleidigung auffassen und dem gütigen Geber die
-Freundschaft für immer kündigen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Das Bild ist also schon gekauft und mein Geld ausgegeben. Aber beruhigt
-euch. Ihr bekommt anderes. Ich lasse mir heute welches von Onkel Fritz
-geben, wenn wir im Zirkus sind. Der läßt mich nicht in der Patsche.
-&mdash; Bin ich morgen früh zur rechten Zeit nicht am Bahnhof, so nehmt
-einstweilen von eurem Geld eine Karte bis Haslach. Dort müßt ihr
-sowieso den Eilzug verlassen und eine neue Karte für den Bummelzug
-nehmen.</p>
-
-<p>Den Reiseplan hast du dir natürlich noch nicht zurecht gelegt. Nicht
-wahr?“ fuhr er mit gerunzelter Stirn fort.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Das kannst du auch nicht. Du hast ja keine Erfahrung im Reisen. Mit
-mir ist das ganz was anderes.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Dabei war der Prahlhans auch nicht viel weiter gekommen als nach
-Hansens und Susens Heimatsort. Allein, nach dem Ton seiner Worte zu
-urteilen, hatte er schon eine Weltreise gemacht.</p>
-
-<p>Jetzt holte er den Fahrplan aus der Tasche, blätterte sich räuspernd
-drin herum und meinte, Suse Papier und Bleistift reichend: „Schreib’
-dir auf, was ich dir sage. Um fünf ein Viertel Uhr fahrt ihr hier
-ab und nehmt den Eilzug bis Haslach. Drei Stationen von hier. Gut!
-Merk’ dir’s! Drei Stationen von hier. Ihr zählt sie. Gut! Dort steigt
-ihr um und fahrt bis zur Endstation Maria Heil. Merk’ dir’s! Gut. Du
-frägst den Schaffner in Haslach, wo der Zug nach Maria Heil steht.
-Gut. In Maria Heil steigt ihr aus und schlängelt euch in die dort
-wartende Postkutsche. Merk’ dir’s! Schreib’ Postkutsche auf. In diese
-Postkutsche kriecht ihr dann und fahrt nun, den Regenschirm und Koffer
-fest in der Hand, in die Arme eurer hochbeglückten Eltern hinein.
-Schreib’ ‚hochbeglückte Eltern‘ auf! Verstanden? Und bestellt Grüße von
-mir. Gut!“</p>
-
-<p>Jetzt zog Theobald seine Uhr und sagte in ernstem Ton: „Es ist höchste
-Zeit, daß ich gehe, wenn ich noch schwimmen will. Drum leb’ wohl.
-Tipp, topp, nur Mut, die Sache wird schon schief gehen,“ sagte er mit
-kräftigem Händedruck.</p>
-
-<p>„Theobald,“ flüsterte sie mit einemmal, banger Ahnungen voll. „Du
-verrätst doch nicht daheim, was wir anfangen wollen?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span></p>
-
-<p>Theobald tippte sich an die Stirn, zuckte die Achseln und murmelte:
-„Man hat doch auch Charakter.“ Damit ging er von dannen.</p>
-
-<p>So war denn alles zur Flucht geordnet. Das Reisegeld war den Kindern
-sicher, der Fluchtplan stand auf dem Papier, und die Sachen mußten
-heute abend gepackt werden.</p>
-
-<p>Langsam ging Suse nach Hause und sagte zu ihrem Bruder: „Es ist alles
-gut, Theobald gibt uns das Geld. Wir gehen.“</p>
-
-<p>Der Bruder nickte. Je weiter aber der Nachmittag vorschritt, um so
-beklommener ward es ihr zu Sinn. Die frohe Zuversicht, die sie heute
-morgen angesichts der Entschlossenheit ihres Bruders beseligt hatte,
-machte schweren Gedanken Platz. War es nicht falsch und schlecht
-von ihr, Frau Cimhuber zu belügen und zu betrügen und zu tun, als
-wäre nichts los, während man einen solch hinterlistigen Fluchtplan
-anzettelte? Gewiß, es war böse und schlecht, aber Suse konnte nicht
-anders. Sie mußte fortlaufen. Sie konnte keinen Tag länger hier
-bleiben. Sie mußte fort, fort nach Hause!</p>
-
-<p>Dann während des Abendessens saß sie mit ängstlich klopfendem Herzen
-der Pfarrfrau gegenüber wie ein Häschen, das den Jäger kommen hört.
-Hans ging es nicht viel besser. Seine Augen flackerten unruhig hin und
-her, und die von Ursel aufgetischten Quellkartoffeln würgten ihn im
-Halse wie Hanfknäuel.</p>
-
-<p>Und als im Laufe der Tischsitzung die Pfarrfrau einige Augenblicke von
-Ursel herausgerufen wurde und die Geschwister allein blieben, sahen sie
-sich scheu um.</p>
-
-<p>„Ich meine grad’, ich ersticke,“ unterbrach Suse die Totenstille.</p>
-
-<p>Der Bruder nickte.</p>
-
-<p>„Hernach wollen wir unsere Sachen zurechtlegen,“ fuhr die Schwester
-leiser fort, „und uns genau den Reiseplan ansehen. &mdash; Hier, nimm den
-Zettel! Du gibst doch besser drauf acht,“ meinte sie, indem sie in die
-Tasche langte und nach dem bewußten Papierstreifen suchte.</p>
-
-<p>Aber plötzlich zog sie ihre Hand zitternd aus der Tasche zurück und
-erklärte stockend: „Er ist fort, ich hab’ ihn verloren.“</p>
-
-<p>„Verloren?“ sagte Hans, noch um einen Schatten blasser als bislang,
-„hoffentlich hast du ihn nicht hier im Haus verloren und Ursel oder
-Frau Cimhuber finden ihn.“</p>
-
-<p>Und als die Pfarrfrau gleich darauf in das Zimmer zurückkehrte, sah er
-sie so hilfeflehend und verstört an, daß sie ganz besorgt fragte: „Was
-fehlt dir, mein Kind? Ist dir nicht wohl?“</p>
-
-<p>Hans blieb stumm.</p>
-
-<p>„Hm, hm!“ meinte sie. „Ihr seid komische Kinder. Was euch fehlt,
-erfährt man eigentlich nie. Hat es vielleicht was in der Schule
-gegeben?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span></p>
-
-<p>Die beiden saßen verschüchtert da und antworteten nicht.</p>
-
-<p>Plötzlich begann die Pfarrfrau unvermittelt: „Eh’ ich’s vergesse, ich
-muß euch noch etwas sagen. Nächste Woche seid ihr bei eurem Onkel
-Gustav eingeladen. Er war heute nachmittag hier und läßt euch vielmals
-grüßen. Es wird sicher ein fröhlicher Tag für euch werden.“</p>
-
-<p>„Schade,“ stotterte Suse, „dann sind wir ja schon fort.“</p>
-
-<p>„Was sagst du da, Kind?“ forschte die Pfarrfrau.</p>
-
-<p>Hans aber ließ vor Schreck die Gabel unter den Tisch fallen.</p>
-
-<p>„Du meinst, ihr seid nicht mehr hier an dem Tage?“ fuhr ihre
-Pflegemutter fort. „Wo seid ihr denn sonst? Habt ihr einen Schulausflug
-vor oder sonst eine Einladung? Die Einladung kann ja auf einen andern
-Tag verlegt werden. Bei eurem Onkel werdet ihr sicher einen schönen
-Nachmittag verleben. Er hat Kinder in eurem Alter, und mit denen könnt
-ihr nach Herzenslust in dem großen Park an seinem Haus herumspringen.“</p>
-
-<p>Suse hörte mit schmerzlichem Empfinden dieser verführerischen
-Beschreibung zu und sagte etwas später nicht ohne Bedauern zu ihrem
-Bruder: „Schade ist’s ja, daß wir nicht zu Onkel Gustav können. Nicht
-wahr, Hans? Aber was meinst du, wenn er uns auch die wunderschönsten
-Sachen schenkte, wir blieben doch nicht hier? Gelt, daheim ist’s viel
-schöner, viel, viel schöner. Viel, viel tausendmal schöner.“</p>
-
-<p>An dem Verschwörungsabende wurden die Kinder etwas früher als sonst zu
-Bett geschickt, weil die Pfarrfrau sich um Hansens Befinden sorgte.
-Aber gegen Mitternacht, als die Lichter im Cimhuberschen Hause gelöscht
-waren und nichts mehr sich regte, standen die beiden Übeltäter wieder
-heimlich von ihrem Lager auf, packten ihre Sachen und probierten an,
-wieviel Leibwäsche sie nach Susens berühmtem Rezept übereinander
-anziehen konnten.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Vier Hosen, vier Hemden, das ging ganz fein. &mdash; Den Rest steckten sie
-in die Hirschtasche, eine gestickte Reisetasche aus Großmutters Zeiten,
-auf der ein brauner Hirschkopf, von einem Eichenkranz umrahmt, prangte.
-Auch eine Pappschachtel mußte noch einige Kleidungsstücke aufnehmen.</p>
-
-<p>Und während der Vorbereitungen sah Suse sich bereits im Geist mit all
-diesen Herrlichkeiten durch die Pforte ihres Vaterhauses schreiten,
-befreit von aller Not und Qual. Nur der Gedanke an den fehlenden Zettel
-flößte ihr zuweilen Besorgnis ein. Je weiter die Stunde vorschritt, je
-unsicherer wurde sie.</p>
-
-<p>„Ich kann nicht schlafen vor Angst,“ meinte sie zu ihrem Bruder. „Am
-Ende haben sie den Zettel gefunden und erwischen uns morgen früh.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span></p>
-
-<p>Jetzt war der Bruder der Mutige und entgegnete: „Ach, Suse, wenn sie
-ihn gefunden hätten, wüßten wir es jetzt schon...“</p>
-
-<p>Derweil saß die zahnwehkranke Ursel stöhnend auf der Kante ihres Bettes
-und buchstabierte an einem kleinen Zettel herum, den sie vorhin am
-Eingang der Negerstube gefunden hatte.</p>
-
-<p>„Ab fünf ein Viertel Uhr,“ stand darauf, „Eilzug Haslach, Schaffner,
-Maria Heil.“ &mdash; Lauter krauses Zeug.</p>
-
-<p>Schließlich ließ ihr’s keine Ruhe mehr, und sie schlich vor die Kammer
-der beiden Kinder, um zu lauschen. &mdash; Hinter der Tür regte sich etwas.
-Sie stutzte und horchte angestrengter. &mdash; Ja, so war’s, Kisten und
-Stühle wurden gerückt. Es flüsterte.</p>
-
-<p>Fester drückte sie ihr Ohr gegen die Tür. &mdash; Doch nun war’s totenstill.
-Eine ganze Weile blieb sie stehen. Jetzt, jetzt regte sich’s wieder.</p>
-
-<p>Da fuhr aber Ursel ein solch heftiger Schmerz in ihren hohlen Zahn, daß
-sie sich mit beiden Händen an den Kopf fuhr und mit schmerzverzerrtem
-Gesicht davonschwankte.</p>
-
-<p>Am andern Morgen um drei Viertel auf fünf ging leise die Tür von
-Frau Cimhubers Wohnung, und zwei Kinder mit blassen, übernächtigen
-Gesichtern traten ins Treppenhaus.</p>
-
-<p>Es waren Hans und Suse, die durch die Menge der übereinander gezogenen
-Kleidungsstücke kugelrund aussahen. Vorsichtig schlossen sie die
-Flurtür hinter sich und gingen auf Zehenspitzen die ausgetretenen
-Stiegen der Treppe hinunter. Ein graues, unfreundliches Licht erhellte
-nur matt ihren Weg. Alles war totenstill. Das Haus schlief noch. Öfters
-blieben sie stehen und horchten. Doch als nichts sich regte, gingen sie
-weiter.</p>
-
-<p>Im zweiten Stock wurde Suse die Hirschtasche zu schwer, und der Bruder
-half ihr beim Tragen. Dann kehrte er zurück, um sein eigenes Gepäck
-nachzuholen.</p>
-
-<p>Gerade als er die unterste Stufe der Treppe wieder erreicht hatte
-und das Haus verlassen wollte, hörte er plötzlich im Treppenhaus ein
-Geräusch. Ihm war es, als sei irgendwo eine Tür gegangen, und als stehe
-nun jemand oben vor Frau Cimhubers Wohnung und lausche mit angehaltenem
-Atem über das Treppengeländer.</p>
-
-<p>Ganz kalt überlief’s ihn, und er schloß schnell die Tür. In der Ferne
-erblickte er Suse. Sie schritt mit großen Schritten rüstig aus, während
-ihre rechte Schulter sich unter der Last der Hirschtasche senkte. Der
-Bruder wollte ihr folgen, hörte aber plötzlich hoch über sich seinen
-Namen rufen. Er blickte am Haus hinauf und gewahrte in schwindelnder
-Höhe ein mit Tüchern umwickeltes Haupt. &mdash; Ursel?</p>
-
-<p>„Hans,“ rief sie, „Hans, Hans, Hans!“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span></p>
-
-<p>Da schrie er auf und rannte wie besessen davon.</p>
-
-<p>„Sie kommt, sie kommt,“ rief er.</p>
-
-<p>Suse stürzte vorwärts, als sei ihr der Tod auf den Fersen. Bald
-erlahmten ihre Kräfte, und Hans nahm ihr die Hirschtasche ab, um sie in
-seinen Armen zur Elektrischen zu tragen. Klingelnd fuhr diese mit den
-beiden Flüchtlingen davon.</p>
-
-<p>Als die zwei verzweifelten Ausreißer schließlich am Bahnhof ankamen,
-war natürlich von dem tüchtigen Theobald weit und breit keine Spur zu
-entdecken.</p>
-
-<p>„Er hat die Zeit verschlafen,“ stöhnte Suse.</p>
-
-<p>„Nein, er kommt,“ sagte Hans bestimmt, „er hat’s versprochen, und was
-er versprochen hat, hält er.“</p>
-
-<p>Damit ging der kleine Junge geradeswegs auf die Bahnhofshalle zu,
-während Suse wie ein aufgescheuchtes Hühnchen hinterdreinflatterte. Am
-Schalter löste er die Karten zu Reise und kehrte dann zum Eingang der
-Bahnhofshalle zurück, um nach dem Vetter auszusehen.</p>
-
-<p>Endlich sah er am Ende der Straße einen Radfahrer auftauchen und
-schaute näher hin. Ja, es war Theobald. Auf der Lenkstange seines Rades
-liegend, kam er wie eine Windsbraut seines Wegs. Jetzt sprang er ab.</p>
-
-<p>„Ursel kommt!“ rief er. „Wie ein tollgewordener Mops macht sie Sätze.
-&mdash; Es ist haarsträubend, wie sie die Ecken nimmt! Kommt, kommt. Sie hat
-die Faust nach mir geschüttelt.“</p>
-
-<p>Im Nu hatte er eine Bahnsteigkarte gelöst, sein Rad einem Gepäckträger
-gegeben, die Hirschtasche auf seinen Rücken geworfen, die Pappschachtel
-in die Hand genommen und stürzte mit den Kindern durch die Sperre.</p>
-
-<p>Susens Knie waren wie gebrochen, die Stimme versagte ihr.</p>
-
-<p>Jetzt waren sie auf dem Bahnsteig. Die letzte Tür des dort haltenden
-Zuges war schon geschlossen. Der Beamte wollte eben das Zeichen zur
-Abfahrt geben, da riß Theobald noch im letzten Augenblick ein Coupé
-auf, drängte die Doktorskinder hinein und schubste ihre Hirschtasche
-hinterdrein, so daß der „Engel“ und die „Geburt Christi“ gegeneinander
-stießen.</p>
-
-<p>Die Tür wurde wieder zugeschlagen, und der Zug fuhr davon. In ein paar
-Sekunden mußte er aus der halle sein. Da beugte sich plötzlich Suse
-weit aus dem Fenster und rief in Todesangst: „Theobald, unser Geld,
-unser Reisegeld! Gib doch, gib doch! &mdash; Das Zwanzigmarkstück!“</p>
-
-<p>Der Vetter schlug sich vor die Stirn.</p>
-
-<p>Im Nu war er an ihrer Seite und wühlte verzweifelt in seiner
-Westentasche.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span></p>
-
-<p>„Hier, hier,“ rief er, und ein blitzender Gegenstand fuhr surrend durch
-die Luft und traf wohlgezielt ins Coupé. &mdash; Die Kinder hatten ihr
-Reisegeld. Da fuhr auch der Zug schon aus der Halle.</p>
-
-<p>Suse war wie erlöst. In ihrer Freude umarmte sie ihren Bruder und
-jubelte: „Jetzt ist alles gut.“</p>
-
-<p>Doch Hans wehrte: „Erst das Geld, Suse, ich will’s in meine Tasche tun.“</p>
-
-<p>Und er eilte auf die Ecke zu, wo die Münze niedergefallen war. Blitzend
-lag sie auf der Bank. Er griff danach, fuhr aber jäh zurück wie vor
-einer zischenden Schlange.</p>
-
-<p>Dort lag..., dort lag...</p>
-
-<p>Er verfärbte sich. Alles drehte sich um ihn. Er rieb sich die Augen.
-&mdash; Nein, es war kein Irrtum. Dort in der Ecke lag kein Geld, sondern
-ein dicker, blinkender Messingknopf. &mdash; Ein abgerissener Hosenknopf von
-Theobald. &mdash; Nichts anderes. Das war also alles, was er ihnen gespendet
-hatte. Deshalb war er wie ein Verrückter neben dem Zug hergesprungen,
-um ihnen einen Hosenknopf hinterherzuwerfen!</p>
-
-<p>„Suse, Suse,“ stotterte Hans „Komm her, guck, was da liegt.“</p>
-
-<p>Sie kam zögernd näher, schaute hin und wurde weiß wie Kreide.</p>
-
-<p>Dieser Hosenknopf von Theobald war also alles, was sie hatten! Ihre
-ganze Barschaft! Damit sollten sie sich Karten für die Reise kaufen und
-außerdem Plätze in der Postkutsche bezahlen! &mdash; Laut weinend setzte sie
-sich vor dem lügnerischen Knopf nieder und starrte ihn angstverzerrt
-an. &mdash; Den sollten sie dem Schalterbeamten in die Hand drücken! &mdash; Der
-würde gucken!</p>
-
-<p>Hans sah wie verhext in derselben Richtung, griff nach dem Knopf und
-schleuderte ihn aus dem Fenster.</p>
-
-<p>Jetzt wußte auch er nicht mehr aus noch ein und saß wie vernichtet auf
-seinem Platz. Der Schwester Schmerz brachte ihn schließlich wieder zur
-Besinnung. Er versuchte, ihr die Hände von den verweinten Augen zu
-ziehen und tröstete: „Weine nicht, Suse, weine nicht. Sei still, Suse,
-sei still, laß uns mal bedenken, was wir jetzt tun.“</p>
-
-<p>Aber ach, er selbst konnte seine bitteren Tränen nicht mehr
-zurückdrängen.</p>
-
-<p>Auf der dritten Station, in Haslach, stiegen die Kinder aus und blieben
-eine Weile unschlüssig auf dem Bahnsteig stehen. Dann gingen sie auf
-den Wartesaal zu. Schüchtern drückten sie sich zur Tür herein und
-suchten nach einem freien Platz. Vom Schenktisch her verbreitete sich
-der verlockende Duft warmen Kaffees und gemahnte sie daran, daß sie
-heute morgen noch nichts genossen hatten. Aber was bedeuteten Hunger
-und Durst im Vergleich zu der Angst, die sie empfanden!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span></p>
-
-<p>Wohin sollten sie sich nun eigentlich wenden? Zur Stadt zurück? &mdash;
-Sie hatten ja kein Geld mehr, selbst nicht für eine Fahrkarte vierter
-Klasse. Und zu Fuß zurückzuwandern, das war ihnen unmöglich. Dazu war
-der Weg ja viel zu weit.</p>
-
-<p>Da kam Hans mit einemmal ein rettender Gedanke.</p>
-
-<p>Wenn sie dem Schalterbeamten irgendein Geschenk machten? &mdash; Vielleicht
-die „Geburt Christi“ von Martin oder den Engel von Christine oder sonst
-irgend etwas Schönes. &mdash; Am Ende gäbe er ihnen dann eine Fahrkarte.</p>
-
-<p>Die Schwester horchte auf, dachte nach; ihre Augen wurden heller, und
-da rief sie auch schon ganz freudig: „Du hast recht und du sollst mal
-sehen, der gibt uns gleich so viele Karten als wir wollen. Der freut
-sich!“</p>
-
-<p>Und das kleine Mädchen, das eben noch ganz verzweifelt gewesen war,
-wiegte sich schon wieder in den schönsten Hoffnungen. Ja, dank ihrer
-üppigen Phantasie hörte sie bereits den Beamten am Schalter, diese
-Seele von einem Menschen, sagen: „Fein, daß man euch mal sieht, her mal
-mit euren wunderschönen Sachen. Wieviel Karten wollt ihr dafür? Auf
-eine Fahrkarte mehr oder weniger kommt’s mir nicht an!“</p>
-
-<p>Hans, der schwerfälliger veranlagt war als seine Schwester, meinte
-beklommen: „Man weiß es nicht, ob er sich freut; vielleicht freut er
-sich nicht.“</p>
-
-<p>Doch Suse hörte und sah nicht mehr und suchte mit beiden Händen
-verzweifelt in der geöffneten Hirschtasche nach ihren Schätzen. Auf
-dem Grunde mußten sie liegen. Eine ganze Schicht Kleider, Strümpfe,
-Schuhe, Bänder hatte sie schon vorsichtig auf die Bank niedergelegt. Da
-stieß sie endlich auf die Geburt Christi und den Engel. Und mit großer
-Befriedigung legte sie die Sachen auf den Stapel Kleider neben sich
-nieder und schickte sich an, den Grund der Hirschtasche zu ordnen.</p>
-
-<p>„Schnell, schnell,“ drängte da Hans, „die Leute gucken.“ Und dabei warf
-er ängstliche Blicke auf die Menschen rund herum, die an Tischen saßen,
-Kaffee tranken und die Kinder aufmerksamen Blickes beobachteten.</p>
-
-<p>Aber am verdächtigsten kam Hans doch ein Beamter vor, der von Zeit zu
-Zeit die Züge abrief und jedesmal neugieriger auf sie zu werden schien.</p>
-
-<p>Eben war er sogar eine ganze Weile an der Tür stehen geblieben und
-hatte die beiden kopfschüttelnd gemustert.</p>
-
-<p>Da wurde des kleinen Jungen Aufmerksamkeit jäh abgelenkt.</p>
-
-<p>Er stieß Suse an, und auch sie schaute auf.</p>
-
-<p>Durch die Tür des Wartesaals, nicht weit von den Kindern, drängte sich
-mit einemmal eine aufgeregte Reisegesellschaft: eine dicke Frau mit
-einem kleinen Knirps auf dem Arm und zwei größeren Kindern an<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span> ihren
-Rockschößen. Der Hut der Frau war verschoben, und ihr Jüngstes griff
-mit beiden Händen danach und machte den Schaden nur noch größer.</p>
-
-<p>Und nun stolperte gar noch ihr Ältestes, ein rechter Guckindieluft von
-einem kleinen Mädchen, über einen Stuhl und brachte die Mutter ins
-Wanken. Und diese packte in ihrem Zorn den Zopf des niedergleitenden
-Töchterleins und schüttelte daran, als wollte sie Sturm läuten.</p>
-
-<p>Dann sah sie sich tief aufatmend nach einem freien Platz um, entdeckte
-die Ecke, wo Hans und Suse sich aufhielten und kam pustend heran. Die
-Geschwister waren so verblüfft von ihrem Anblick, daß sie es ohne ein
-Glied zu rühren, geschehen ließen, wie sich die Frau, ohne sich lang
-umzusehen, mit einem Seufzer der Erleichterung mitten auf ihren Sachen
-niederließ und die Füße von sich streckte. Da saß sie nun auf dem Engel
-und der Geburt Christi, auf Strümpfen und Wäschestücken, als müßte es
-so sein. &mdash; Suse streckte abwehrend die Hände nach ihr aus, als es
-leider zu spät war. Sie fühlte sich anscheinend ganz wohl. Und zu allem
-Elend fielen nun ihre Kinder über die am Boden liegenden Habseligkeiten
-der Geschwister her und wühlten darin herum.</p>
-
-<p>Suse traten die Tränen in die Augen; sie hob schnell alles auf und trat
-dann vor die Frau hin, um sie zu bitten: „Unsere Sachen sind unter
-Ihnen. Möchten Sie nicht, bitte, aufstehen? Die Geburt Christi und der
-Engel sind auch unter Ihnen. Sie zerdrücken sie ja!“</p>
-
-<p>„Was ist unter mir?“ rief die Frau kirschrot vor Zorn. „Was zerdrücke
-ich? Was hast du da gesagt? &mdash; Wollt ihr mich vielleicht zum besten
-haben? Kommt mir nur! Da kommt ihr gerade an die Rechte.“</p>
-
-<p>Die Geschwister wichen weit zurück vor Schrecken. Und Suse mußte mit
-einemmal an Frau Cimhuber und Ursel denken. Ach, wenn doch nur Ursel
-da wäre. Ursel mit dem entrüsteten Auge, das einsam und zornig aus
-seinen Wolltüchern hervorleuchtete. Die würde helfen. Suse fühlte es
-mit einemmal ganz bestimmt. Die würde die Frau sofort am Arm packen und
-aufstehen heißen. Sie konnte es ja nicht leiden, daß irgend jemandem
-Unrecht geschah. Gestern hatte sie auf der Straße einen wildfremden
-Mann angefahren, weil er seinen eigenen Hund geschlagen hatte.</p>
-
-<p>Wenn doch nur Ursel da wäre!</p>
-
-<p>Zum Glück für die Kinder bekam ihre Feindin aber doch ein Einsehen.
-Vielleicht wurde ihr auch das beschwerliche Sitzen auf der Bank mit der
-Zeit unbequem. Denn sie begann langsam einen Gegenstand nach dem andern
-unter sich hervorzuziehen, wobei sie blitzenden Auges rief: ob sich
-die hohen Herrschaften vielleicht einbildeten, die Bänke seien für sie
-allein da. Und ob sie glaubten, andere Leute wollten nicht auch<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span> leben
-und sich irgend wohin setzen. Ja, ob sie das glaubten? Und ob sie das
-nächstemal nicht noch ihr ganzes Bett mitbringen und zur Freude anderer
-Leute hier ausbreiten wollten?</p>
-
-<p>Immer größer wurde nun die Verwirrung in der Ecke, wo Hans und
-Suse sich aufhielten. Denn das Töchterlein der zornigen Frau, der
-Guckindieluft, hatte sich zu seiner Zerstreuung ein Paar Halbstrümpfe
-von Hans als Handschuhe angezogen, eine Schürze von Suse als Krawatte
-umgebunden und tänzelte nun, Gesichter schneidend, vor der Bank auf und
-nieder.</p>
-
-<p>Eh’ sich das Kind aber versah, war die Mutter aufgesprungen, hatte ihm
-die Schürze abgebunden und eilte damit hinter dem Töchterlein her, als
-wär’s eine lästige Fliege, die durch ein paar kräftige Schläge aus der
-Welt zu schaffen sei. Schließlich erwischte sie den Tunichtgut und
-setzte ihn mit großem Nachdruck neben sich nieder. Das Kind sah sich
-verwundert um.</p>
-
-<p>Die Frau aber verkündete mit weithinschallender Stimme, daß sie
-niemals, niemals wieder in ihrem ganzen Leben mit ihren ungezogenen
-Rangen auf Reisen gehe.</p>
-
-<p>Die Umsitzenden lachten.</p>
-
-<p>Und nun kam auch noch der Kellner herbei und schalt auf Hans und Suse,
-die die Unordnung angerichtet hätten. Die beiden steckten hastig ihre
-Sachen kunterbunt durcheinander in die Hirschtasche zurück. Dann
-schlichen sie zur Tür hinaus in die Bahnhofshalle.</p>
-
-<p>„Faß nur schnell in die Tasche herein und hol’ die Geburt Christi
-heraus, so schnell wie du kannst,“ sagte Suse.</p>
-
-<p>Da fuhr der Knabe mit beiden Händen in die Tasche und zog als erstes
-den bewußten Gegenstand hervor.</p>
-
-<p>„Schön,“ sagte Suse wie erlöst. „Jetzt gehst du hin und nimmst zwei
-Karten für Maria Heil. Die Postkutsche ist zwar schon fort, wenn wir
-hinkommen, aber dann gehen wir eben zu Fuß nach Hause. Ich fürchte mich
-heute nicht, auch wenn wir im Wald allein sind. Und wenn wir an der
-Wolfsschlucht vorüberkommen, wo des Nachts in der großen Eiche immer so
-gräßliche Stimmen schreien, da beten wir und dann hilft uns der liebe
-Gott. &mdash; Aber hopp, Hans, hol’ die Karten, ich warte hier,“ mahnte sie.</p>
-
-<p>Noch einer geraumen Zeit bedurfte es, eh sich der Bruder zu dem
-schweren Gang entschließen konnte. Dann schritt er zögernd vorwärts.
-Suse beobachtete ihn aus der Ferne von der Mitte der Bahnhofshalle aus.</p>
-
-<p>Sie sah, wie er wartete, bis nur wenige Menschen noch in der Nähe des
-Schalters waren, und dann herantrat. Jetzt drückte er sich von<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span> rechts
-an das Fenster, jetzt blieb er stehen, jetzt sah er auf die Gegenstände
-in seinem Arm und redete ein paar Worte.</p>
-
-<p>Da fuhr pfeilschnell ein glühendrotes, dickes Gesicht hinter dem
-Schalterfenster hervor, und eine donnernde Lachsalve tönte Hans aus
-zwei geblähten Wangen entgegen.</p>
-
-<p>Und in demselben Augenblick erklang auch hinter dem Knaben Lachen, und
-als er herumfuhr, sah er in das Gesicht des Bahndieners, der ihn schon
-vorhin im Wartesaal beobachtet hatte und ihm jetzt hierher gefolgt war.</p>
-
-<p>„Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte,“ rief der Mann, packte Hans am Arm
-und zog ihn aus dem schmalen Gang, in dem er sich zwischen Schalter und
-dem davorstehenden eisernen Gepäcktische befand, hervor.</p>
-
-<p>Kaum sah Suse dies von der Mitte der Bahnhofshalle aus, wo sie mit
-ihrer Hirschtasche Wache stand, so kam sie herangestürmt wie eine
-Glucke, deren Küchlein in Gefahr sind, faßte ihren Bruder an der Hand
-und sagte ängstlichen Blickes auf den Angreifer: „Das ist mein Bruder
-Hans. Ich bin seine Schwester Suse.“</p>
-
-<p>„So, so,“ sagte der Mann. „Also zwei Ausreißer.“</p>
-
-<p>Beide nickten schuldbewußt und Suse stotterte: „Wir sind von Frau
-Cimhuber und von Ursel fort und wollen nach Hause nach Schwarzenbrunn.
-Die Postkutsche ist wohl schon fort. Wir haben den Zug auch schon
-verfehlt.“</p>
-
-<p>„Also man weiß nicht, daß ihr fort seid?“ fragte der Mann. Sie
-schüttelten ihre Köpfe und standen mit niedergeschlagenen Augen da.</p>
-
-<p>„Und Geld habt ihr auch keins?“ forschte er.</p>
-
-<p>Sie verneinten.</p>
-
-<p>„Nun, dann kommt mal mit. Nun wollen wir mal sehen, was mit euch beiden
-anzufangen ist,“ sagte er dann mit solch dröhnender Stimme, daß beide
-zusammenfuhren. Und zu gleicher Zeit packte er sie an der Hand und zog
-sie mit sich. Sie glaubten, ihr letztes Stündlein sei gekommen und
-bekamen vor Angst ganz verzerrte Gesichter.</p>
-
-<p>Vor einem Raum, auf dessen Tür in roten Buchstaben „Stationsvorsteher“
-zu lesen war, blieb er endlich mit ihnen stehen, öffnete und ließ sie
-eintreten.</p>
-
-<p>In der großen Amtsstube, in die sie nun kamen, saßen und standen Beamte
-herum, schrieben und ordneten Papiere oder redeten miteinander. Und
-alle sahen auf und musterten die Flüchtlinge.</p>
-
-<p>Einer trat sogar näher, stellte sich vor sie hin und betrachtete bald
-den einen, bald den andern wie ein Meerwunder. Suse fühlte, wie der
-Boden unter ihr schwankte und wie ihr ganz schwarz vor den Augen
-wurde.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span></p>
-
-<p>Wie aus der Ferne hörte sie eine Stimme reden und sah einen großen Mann
-mit einem langen Bart wie in Dunst gehüllt vor sich stehen. &mdash; Die
-Tränen liefen ihr über das Gesicht. &mdash; Und an ihrer Seite stotterte
-Hans allerlei dummes Zeug, das kein Mensch verstehen konnte, auch sie
-nicht.</p>
-
-<p>Da, als die Not am höchsten gestiegen war, nahte unversehens Rettung
-aus der Stadt.&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Dort hatten sich inzwischen auch die aufregendsten Szenen abgespielt.
-Sie begannen fast mit dem Augenblick, als Hansens und Susens Zug die
-Halle verließ.</p>
-
-<p>Da atmete Theobald erleichtert auf.</p>
-
-<p>Das erhebende Gefühl, sich wieder einmal durch seine Tatkraft und sein
-forsches Eingreifen ausgezeichnet zu haben, beherrschte ihn ganz. Er
-ahnte ja nicht, der vortreffliche Held, was er eigentlich angerichtet,
-und was er im wohlgezielten Wurf hinter seinen kleinen Verwandten
-hergeschickt hatte. Ihm schien alles über die Maßen gut gelungen, eine
-fein eingefädelte, vortrefflich weitergeführte Sache. Toll genug war’s
-freilich zugegangen.</p>
-
-<p>Nun galt es aber, sich endlich mal wieder ein menschliches Ansehen zu
-verleihen. Schnell nahm er einen kleinen Spiegel zur Hand, betrachtete
-sich, rückte seinen Kragen und Schlips zurecht und strich sich das Haar
-glatt. Noch war er mit dieser Beschäftigung nicht zu Ende, da rief
-jemand neben ihm: „Theobald, sind sie schon fort?“</p>
-
-<p>Und an seiner Seite stand Toni, die atemlos hinter ihm dreingekommen
-war. &mdash; Er nickte.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Die Armen, die Armen,“ jammerte der Backfisch. „Sie haben ja nichts zu
-essen. Ich habe ihnen Schokolade mitgebracht.“</p>
-
-<p>„Zu spät,“ erklärte der Bruder kurz, „du hättest dich mehr beeilen
-müssen, ich hab’ dich ja früh genug geweckt. Jetzt sind sie fort und
-bleiben fort. Ich jedenfalls habe meine Pflicht getan.“</p>
-
-<p>In diesem Augenblick lief aus derselben Richtung, in der Hans und
-Suse verschwunden waren, ein Zug ein. Die Reisenden stiegen aus und
-gingen auf die Sperre zu. Theobald und Toni mischten sich unter sie.
-Theobald suchte in der Westentasche nach seiner Karte. Plötzlich fuhr
-er zusammen, umklammerte seiner Schwester Arm wie mit eisernen Klammern
-und stöhnte: „Hier, hier, schau her! &mdash; Das ist das Zwanzigmarkstück,
-das ich Hans und Suse geben wollte, hier, hier &mdash; schau, schau &mdash;
-begreifst du’s, faßt du’s, weißt du, was das heißt? &mdash; Geht dir eine
-Stallaterne auf? &mdash; Guck doch nicht so dumm. Mein Gott, was hab’ ich
-ihnen denn eigentlich in den Zug geworfen?“ stöhnte er.</p>
-
-<p>Dann faßte er sich an die Stirn und taumelte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span></p>
-
-<p>„Jetzt weiß ich’s,“ entrang es sich seiner Brust. &mdash; „Einen Hosenknopf!
-Den hab’ ich mir gestern abgerissen. Den haben sie jetzt. Das ist ja
-einfach schauerlich! Den können sie jetzt betrachten und an die Lippen
-drücken und sich Karten davon kaufen und damit nach Hause fahren! &mdash;
-Oh, ich Mondkalb!“</p>
-
-<p>Er griff sich mit beiden Händen verzweifelt an den Kopf. Toni zitterte
-wie Espenlaub und murmelte: „Sie sind verloren, und wir sind an ihrem
-Unglück mit schuld. Wir hätten sie warnen sollen. Theobald, du bist
-gewissermaßen ihr Verderber.“</p>
-
-<p>Theobald vernahm kein Wort von ihrem Klagen und stand noch immer da wie
-versteinert.</p>
-
-<p>Die Doktorskinder waren fort mit einem Hosenknopf auf die Reise,
-das war alles, was er denken konnte, sonst nichts. &mdash; Und das hatte
-er verschuldet, er &mdash; er. Wie zu einem Retter hatten sie zu ihm
-aufgesehen, und er hatte sich wie ein Rüpel benommen.</p>
-
-<p>Lange sollte Theobald aber nicht in stummer Selbstanklage verharren;
-denn wie der Sturmwind kam mit einemmal Ursel durch die Sperre, sah
-sich um, erblickte den Tunichtgut, packte ihn am Arm und schüttelte ihn
-hin und her wie eine Medizinflasche.</p>
-
-<p>„Sind sie drin?“ rief sie dabei, „sind sie drin? Antworte doch, Esel!“</p>
-
-<p>Und mit ausgestreckter Hand wies sie auf den wartenden Zug.</p>
-
-<p>Aber Theobald sah sie blöde an. Alle seine geistigen Fähigkeiten
-schienen ihn verlassen zu haben; und auch Toni stand wie eine
-Nachtwandlerin da und krampfte vor Schreck die Hände zusammen.</p>
-
-<p>Da rannte Ursel stracks auf den Zug zu, öffnete schnell eine Tür und
-verschwand im Innern des Wagens. Noch hatte sie sich nicht vollständig
-auf die Bank niedergelassen, da fuhr der Zug auch schon davon.</p>
-
-<p>„Lieber, lieber Gott,“ rief Toni, „sie sitzt ja drin, sie fährt ja in
-der verkehrten Richtung! Ruf sie, Theobald, ruf sie!“</p>
-
-<p>„Was soll ich tun?“ rief Theobald entrüstet. „Hast du eine Ahnung, wie
-die mich am Arm gepackt und gekniffen hat, diese Riesenschere, diese
-Kneifzange, diese wilde Habichtsnase mit ihren Wolltüchern! Außerdem
-hab’ ich jetzt Wichtigeres zu tun, als sie zurückzuholen. Ich renne
-jetzt zu Onkel Fritz und wecke ihn auf. Er muß hinter Hans und Suse
-herfahren und ihnen Geld zur Weiterreise bringen. &mdash; In dreiviertel
-Stunden geht der Bummelzug. Ich würde selbst hinfahren, aber wenn wir
-zur Aufstehenszeit nicht daheim sind, geht’s uns übel. Dann entdecken’s
-der Vater und die Mutter.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span></p>
-
-<div class="figcenter">
- <a id="p059" name="p059">
- <img class="mtop2 mbot2" src="images/p059.jpg"
- alt="Ursel weist auf den wartenden Zug" /></a>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span></p>
-
-<p>„Nein, nein,“ rief Toni, „weiterfahren dürfen Hans und Suse auf keinen
-Fall. Ursel hat uns gesehen. Und wenn’s rauskommt, daß die Kinder
-durch unsere Hilfe fortgekommen sind, dann ist für uns alles aus. &mdash;
-Der Vater hat schon gesagt, noch eine Dummheit von mir, und ich komme
-überhaupt nicht mehr ins Theater. Und ohne künstlerische Genüsse kann
-ich nicht leben.“</p>
-
-<p>„Fahr’ nur lieber gleich in den Himmel,“ sagte der Bruder kaltblütig.
-&mdash; „Was mich aber anbetrifft, so geh ich jetzt zu Onkel Fritz, und
-damit basta.“</p>
-
-<p>„Und ich, wohin geh ich?“ jammerte Toni, „sag, Theobald, wohin soll
-ich gehen? &mdash; Aha, ich weiß es,“ rief sie freudig, „ich gehe zu
-Fräulein Hirt und bitte sie auf den Knien, daß sie Hans und Suse wieder
-zurückholt. Die ist ja immer unsere Zuflucht. Die weiß Rat. Die verläßt
-uns nie.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Mit diesen Worten stoben die Kinder durch die Halle und fuhren in
-entgegengesetzter Richtung auf ihren Rädern davon.</p>
-
-<p>An einem der hohen Häuser in der Hauptstraße der Stadt klingelte
-Theobald, um bei seinem Ideal, dem Onkel Fritz, dem Geber seiner
-meisten Geschenke, Einlaß zu begehren. Eine alte Haushälterin, die
-Katherin, machte ihm verschlafen auf und fragte ungehalten nach seinem
-Begehr.</p>
-
-<p>Als sie erfahren hatte, was ihn herführte, riet sie ihm, doch zu einer
-passenderen Zeit wiederzukommen und nicht, wenn der Mond noch am Himmel
-stehe.</p>
-
-<p>Doch mit einer höflichen Verbeugung schob er die alte Frau zur Seite
-und ging stracks auf das Schlafzimmer seines Onkels zu, der friedlich
-schlummernd in weichen Kissen lag und von den schönsten Träumen
-heimgesucht wurde.</p>
-
-<p>„Onkel Fritz, Onkel Fritz!“ rief der Knabe und schüttelte aus
-Leibeskräften an ihm. Lange rührte sich der Schläfer nicht. Dann aber
-fragte er verschlafen: „Was in aller Welt willst du denn schon hier, du
-mein tägliches Brot? Noch nicht einmal im Bett ist man sicher vor dir.
-Was ist denn jetzt schon wieder mal los? Verdufte, oder ich setze dich
-vor die Tür.“</p>
-
-<p>Aber fester schüttelte der Neffe an seinem Onkel und mahnte: „Du mußt
-sofort aufstehen und hinter Hans und Suse herfahren.“</p>
-
-<p>„Was soll ich tun?“ fragte der Onkel und richtete sich kerzengerade im
-Bett auf. „Wachst du, oder träumst du? Hinter wem soll ich herfahren?“</p>
-
-<p>„Hinter Hans und Suse,“ sagte der Neffe kaltblütig und erzählte alles,
-was sich zugetragen hatte.</p>
-
-<p>Da brach der Onkel in ein schallendes Gelächter aus. Besonders die
-Vorstellung erschien ihm köstlich, daß Ursel in verkehrter Richtung
-davon gefahren sei, und zwar mit Nüstern, die vor Wut ärger gedampft
-hätten als der Lokomotivenschlot, wie sein Neffe beteuerte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span></p>
-
-<p>Der aber blieb heute bei seines Onkels Heiterkeitsausbrüchen eisig kühl
-und mahnte nur immer wieder: „Du mußt hinterherfahren, Onkel, du mußt
-es tun. Denk doch daran, wenn ihnen was passiert! Und es passiert ihnen
-sicher was. Sie sind ja einfach wie die Wickelkinder so dumm.“</p>
-
-<p>Da erklärte sich schließlich der Onkel unter Stöhnen und Schelten
-bereit, die Fahrt anzutreten. So nebenbei frug er dann, ob es sein
-Neffe nicht für angebracht hielte, daß er in jeder Westentasche zwei
-Gummilutscher und zwei Milchfläschchen mitnehme. Überhaupt beabsichtige
-er, nächstens einen Kindergarten zu eröffnen.</p>
-
-<p>Doch Theobald hatte für seines Onkels Geistesblitze heute nur ein
-mitleidiges Achselzucken und half ihm in die Kleider, damit der
-Abmarsch möglichst bald vor sich gehe. Zum Dank hierfür ließ der
-Onkel ein paar Tropfen Kölnischen Wassers auf den Neffen herabregnen.
-Den gleichen Wohlgeruch verbreitend, verließen dann die beiden guten
-Freunde das Haus. Als sie am Bahnhof ankamen, war der Zug schon fort.</p>
-
-<p>Toni hatte inzwischen mehr Glück mit ihrem Bittgang gehabt. Sie war zu
-Fräulein Hirt gelaufen. Das war Tonis und ihrer Schwestern angebetete
-Klavierlehrerin, zu der sie in jeder Bedrängnis ihre Zuflucht nahm.
-Schon seit Jahren verband sie innige Freundschaft mit dieser gütigen
-Dame, in deren stillem, traulichem Zimmer sich’s so herrlich ausruhen
-ließ, nachdem man allerlei Torheiten angestellt hatte. Man fühlte sich
-hier wie auf einer fernen, stillen Insel, um die das gefährliche Meer
-fern grollte und brauste, ohne einen erreichen zu können. Alles war
-anheimelnd und vertrauenerweckend hier: die alte, taube Großmutter, die
-am Fenster im Lehnstuhl saß und zu allem zustimmend nickte, was erzählt
-wurde, weil sie nichts mehr davon verstand; der Dompfaff, der in seinem
-Käfig so schöne Trostesweisen pfiff, und vor allen Dingen Fräulein
-Hirt selbst, die den „Sausewinden“, wie sie Toni und ihre Geschwister
-nannte, stets mit Engelsgeduld zuhörte und nur zuweilen ein leichtes
-Lächeln zeigte. Sogar mit stolz erhobener Stimme konnte man ihr seine
-Heldentaten vortragen, ohne befürchten zu müssen, daß einem plötzlich
-eine treffende Bemerkung alles Selbstbewußtsein nahm, wie es beim Vater
-daheim so leicht geschah.</p>
-
-<p>Fräulein Hirt, der vielerprobte Schutzengel, war ja nun an die
-seltsamsten Überraschungen und Überfälle seitens ihrer Lieblinge
-gewöhnt.</p>
-
-<p>Trotzdem erschrak sie nicht wenig, als sie ihre Toni zu so ungewohnter
-Stunde bleich und verstört zu sich hereinstürzen sah und dann mit
-zitternder Stimme erzählen hörte, was sich zugetragen hatte.</p>
-
-<p>Einen Augenblick stand sie verwirrt da, dann aber hatte sie sich gefaßt
-und sagte kopfschüttelnd: „Also genau so wie ihr sind diese beiden,<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span>
-genau so zwei Sausewinde. Und dabei sahen die beiden neulich, als ich
-sie kennen lernte, doch aus, als könnten sie keine drei zählen.“</p>
-
-<p>Und darauf machte sie es ganz anders wie der berühmte Onkel Fritz.
-Denn anstatt hundertmal zu fragen, was denn eigentlich los sei und zu
-gähnen und sich zu recken und zu strecken, zog sie sich schnell an und
-ging zum Bahnhof. Sie erreichte den Zug noch zur rechten Zeit und kam
-in Haslach in dem Augenblick an, in dem die beiden Flüchtlinge in dem
-Zimmer des Stationsvorstehers verhört wurden. Davon hatte sie natürlich
-keine Ahnung und schritt darum eilends durch alle Wartesäle hindurch
-und sah sich die einzelnen Gruppen der Leute forschend an.</p>
-
-<p>Schließlich lief sie auch dem Bahndiener in die Hände und hielt diesen
-für die geeignetste Persönlichkeit, um ihr Auskunft zu geben. Rasch
-entschlossen fragte sie ihn deshalb, ob er nicht zwei Kinder gesehen
-habe, die durchgebrannt seien: ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen
-und einen Jungen mit großen Augen und.....</p>
-
-<p>„Ei, Fräuleinchen,“ fiel ihr der Beamte ins Wort, „ich glaub’ die
-beiden haben wir schon. Die sitzen beim Stationsvorsteher. &mdash; Ja, ja,
-sie müssen’s sein. &mdash; Ein Mädchen mit langen, blonden Zöpfen und ein
-Bub, na, halt so ein Bub. &mdash; Die müssen’s sein. Kommen Sie mal!“</p>
-
-<p>„Wenn sie’s doch nur wären!“ fiel ihm Fräulein Hirt aufgeregt ins Wort.
-„Dann wär’ ja alles gut! Mir fiel’ ein Stein vom Herzen. Es sind die
-kleinen Verwandten meiner besten Freunde. Stellen Sie sich vor, wenn
-ihnen etwas zugestoßen wäre!“</p>
-
-<p>„Ach, so leicht stößt einem schon nichts zu,“ meinte der Beamte mit
-väterlicher Stimme. „Kommen Sie nur mit, Fräuleinchen, und sehen Sie
-sich die beiden einmal an. Nur nicht so leicht den Mut verlieren!“</p>
-
-<p>Und Fräulein Hirt folgte ihm eilends und trat bald darauf in das Zimmer
-des Stationsvorstehers, wo sie gleich der beiden Ausreißer ansichtig
-wurde. Dort standen sie, wie die Verurteilten, zitternd vor dem
-Stationsvorsteher. Sie rief ihre Namen.</p>
-
-<p>Da fuhr Suse herum und schaute verwundert auf.</p>
-
-<p>Vor ihr an der Seite des Bahndieners stand Fräulein Hirt.</p>
-
-<p>„Ich will euch holen,“ sagte das Fräulein freundlich und kam auf sie
-zu. Das kleine Mädchen konnte nicht reden. Sie schaute nur und schaute,
-und ihr Gesicht wurde röter und röter, und mit einem Male stürzte ein
-heller Tränenbach aus ihren Augen.</p>
-
-<p>„Ach, führen Sie uns doch wieder zu Frau Cimhuber,“ sagte sie leise.</p>
-
-<p>Auch Hans sah dankbar zu der Dame auf. Er war wie erlöst. Vor Suse
-hatte er sich ja noch zusammengenommen und nicht verraten, wie
-jämmerlich ihm zu Sinn war und daß er glaubte, sie beide seien
-verloren. Und nun war alles gut. Nun stand Fräulein Hirt vor ihm und<span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span>
-sah ihn mit ihren guten Augen freundlich an und sagte: „Ihr seid mir
-die Rechten.“</p>
-
-<p>Wie zentnerschwer war ihm die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, auf
-der Brust gelegen. &mdash; Allein zur Stadt zurückzufahren, allein Frau
-Cimhuber aufzusuchen, allein alles zu beichten, was sich zugetragen
-hatte, das war keine Kleinigkeit. &mdash; Und jetzt war er frei.</p>
-
-<p>Es kam ihm alles vor wie ein Traum. Und er hörte, wie sie den Beamten
-für die Freundlichkeit dankte, die sie Hans und Suse gegenüber bewiesen
-hätten, und wie sie dann zu ihm und seiner Schwester sagte: „Nun kommt
-schnell. In zehn Minuten geht unser Zug, und ihr sollt vorher noch eine
-Tasse Kaffee trinken.“</p>
-
-<p>Und als die beiden ihre schweren Gepäckstücke mit schiefgezogenen
-Schultern wieder vorwärts tragen wollten, rief sie einen Träger herbei,
-der ihnen die Last abnahm. Dann ging sie mit ihnen in den Wartsaal,
-zum Glück nicht dorthin, wo die zornmütige Frau noch immer wie eine
-bitterböse Kreuzspinne auf ihrem Posten saß und hervorschoß, wenn
-jemand ihr und ihren Kindern zu nahe kam, sondern in einen andern Raum,
-wo ein freundlicher Kellner dienstbereit herbeiholte, was Fräulein Hirt
-forderte.</p>
-
-<p>Dann als die zehn Minuten um waren, stiegen die Kinder in einen Zug,
-der sie nach der Stadt zurückführte.</p>
-
-<p>Es war aber auch höchste Zeit, daß sie bei Frau Cimhuber ankamen.
-Kein übler Schreck hatte die Pfarrfrau heute morgen durchzuckt, als
-sie das Nest leer und keine Ursel, keine Kinder vorgefunden hatte. &mdash;
-Ihre gute, alte Magd, die sich auf ihre flinken Füße verlassen, hatte
-gehofft, die Kinder noch einzufangen, ehe ihre Herrin aufwachte, und
-hatte sich heimlich davongemacht.</p>
-
-<p>Nun war Frau Cimhuber in dem stillen Haus allein und konnte das Rätsel
-von Ursels und der Kinder Abwesenheit nicht lösen.</p>
-
-<p>„Hans, Suse,“ rief sie. Keine Antwort kam. Alles war wie ausgestorben.
-Nirgends rührte sich ein menschliches Wesen. Sie ging durch alle
-Zimmer, stand still, überlegte, und schüttelte den Kopf. Da sah sie
-zufällig auf dem Tisch in Suses Gemach einen Zettel liegen, der von
-Kinderhand beschrieben war. Sie griff danach und las folgende, in
-sorgfältiger Schrift aufgesetzte Worte:</p>
-
-<p>„Liebe Frau Cimhuber! Wir gehen jetzt nach Hause, weil wir so
-gräßliches Heimweh haben. Seien Sie nicht böse! Der liebe Gott schickt
-Ihnen sicher andere Kinder, die viel artiger sind als wir. Vielen Dank
-für alle guten Gaben.</p>
-
-<p>Viele Grüße an Ursel und Sie von</p>
-
-<p class="right mright2">Hans und Suse.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span></p>
-
-<p>Frau Cimhuber sank auf den nächsten besten Stuhl und strich sich über
-die Stirn. &mdash; Die Kinder waren fort. &mdash; Sie glaubte zu träumen. &mdash;
-Da stand es aber auf dem Zettel, daß sie fort waren. &mdash; Ja, da stand
-es. Hans und Suse waren nicht mehr hier. Sie befanden sich auf dem
-Weg nach Hause. Mein Gott, was war denn los? Was war denn in die
-Kinder gefahren? Was hatte sie dazu gebracht, sich davonzustehlen?
-Sie zitterten ja schon, wenn sie einen größeren Gang durch die Stadt
-machen sollten, und nun waren sie allein auf dem beschwerlichen Weg
-nach Hause. Wieder strich sich die Pfarrfrau über die Stirn und quälte
-sich mit hundert Fragen. Warum waren sie denn so unglücklich? Sie und
-Ursel hatten doch stets das Beste der Kinder gewollt? Und wie oft hatte
-sie darüber nachgedacht, was ihnen bei der Erziehung am dienlichsten
-sei, und war immer wieder zu der Einsicht gekommen, daß sie Ernst und
-Strenge nötig hätten. Und nun waren sie fort.</p>
-
-<p>Und während Frau Cimhuber so verzweifelt dasaß, kam ihr mit einem Male
-der Gedanke an ihren Sohn Edwin, und sie sah ihn als kleinen Jungen
-leibhaftig vor sich stehen. Er hatte ja nichts lieber, der kleine
-Edwin, als wenn sie ihm leise über den Kopf strich und ihn an sich zog
-und liebkoste. &mdash; Und nie, nie hätte sie es fertig gebracht, ihn zu
-fremden Leuten zu geben, denn die hätten ihn vielleicht nicht mit Liebe
-behandelt und wären schroff zu ihm gewesen.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber erschrak.</p>
-
-<p>Und Hans und Suse? Die hatten ja auch eine Mutter daheim, die sie
-liebkoste, und einen Vater, der gut zu ihnen war.</p>
-
-<p>Ein Vorfall von letzter Woche kam ihr in den Sinn und brannte ihr auf
-dem Gewissen.</p>
-
-<p>Sie sah wieder, wie ihr das Garnknäuel auf den Boden fiel und Suse
-wie der Blitz hinterherfuhr, es aufhob und ihr zurückgab. Und als sie
-genickt und freundlich gesagt hatte: Ich danke dir, liebes Kind, da
-hatte das kleine Mädchen sie so strahlend und froh angesehen, als sei
-ihr die größte Freude widerfahren.</p>
-
-<p>Die Pfarrfrau schlug beide Hände vor das Gesicht.</p>
-
-<p>„Mein Gott, wenn sie doch nur wieder hier wären,“ entrang es sich ihrer
-Brust. Wie wollte sie freundlich zu ihnen sein. Wie wollte sie sie mit
-Liebe behandeln. Vielleicht kamen sie aber nicht wieder? &mdash; Vielleicht
-war ihnen unterwegs etwas geschehen. Und der Herr Doktor und die Frau
-Doktor, die ihr die Kinder anvertraut hatten in dem Glauben, daß sie in
-sicherer Hut seien, was würden die sagen, wenn die beiden zu Schaden
-kämen?</p>
-
-<p>Die Hände der Pfarrfrau sanken in den Schoß und falteten sich, und ihr
-Antlitz trug einen Ausdruck, als spräche sie ein Gebet.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span></p>
-
-<p>Da klingelte es. Sie fuhr zusammen und konnte sich zuerst kaum erheben.
-Dann ging sie langsamen Schrittes zur Tür. Ihr Herz klopfte. Zögernd
-öffnete sie. Vor ihr standen die Kinder.</p>
-
-<p>„Mein Gott, mein Gott,“ sprach die Pfarrfrau und streckte beide Hände
-nach ihnen aus. „Ihr seid’s? Seid ihr’s denn wirklich? Seid ihr denn
-wirklich wieder da? Kommt doch herein, welch ein Segen, daß ihr wieder
-da seid! Ist euch denn nichts zugestoßen unterwegs? Kommt doch herein!“</p>
-
-<p>Und sie zog die beiden an sich und umarmte sie in ihrer großen Freude.</p>
-
-<p>„Kommen Sie doch herein, liebes Fräulein!“ wandte sie sich dann an die
-Begleiterin der Kinder und drückte ihr die Hände und sagte einmal über
-das andere: „Wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sie gebracht haben! Wie
-dankbar bin ich Ihnen; ich kann es gar nicht sagen!“</p>
-
-<p>„Warum seid ihr denn fortgegangen?“ wandte sie sich wiederum an die
-Kinder.</p>
-
-<p>Und beide sahen sie erstaunt an und sagten kein Wort als Erwiderung und
-konnten den Umschwung in ihrem Wesen nicht verstehen.</p>
-
-<p>Sie aber redete weiter freundlich zu ihnen wie eine Mutter, führte sie
-in ihr Schlafzimmer, schenkte ihnen warmes Wasser ein und sagte, sie
-möchten zu ihr in die Negerstube kommen, wenn sie sich gewaschen und
-umgezogen hätten.</p>
-
-<p>Und dann führte sie Fräulein Hirt in ihr Staatsgemach und nötigte sie
-in ihr Sofa, damit sie ihr hier alles erzähle, was sie von den Kindern
-wisse.</p>
-
-<p>Und nun begann Fräulein Hirt über das Abenteuer der Ausreißer zu
-sprechen. Und im Laufe der nächsten halben Stunde stellte es sich
-heraus, daß sie bei den Sausewinden in eine gute Schule gegangen war.
-Denn sie wußte so zu reden und zu bitten, daß man glauben mußte, Hans
-und Suse seien die größten Unschuldsengelein, die zurzeit auf dem
-Erdball herumliefen.</p>
-
-<p>Aber es bedurfte gar nicht ihres Zuredens, um Frau Cimhuber
-umzustimmen. Sie dachte ja selbst schon ganz anders über die Kinder als
-früher.</p>
-
-<p>„Was müssen die beiden durchgemacht haben,“ sagte sie einmal über das
-andere, „was müssen sie durchgemacht haben!“</p>
-
-<p>Und als Fräulein Hirt sich schließlich empfahl, weil es Zeit für sie
-war, nach Hause zu gehen, da suchte Frau Cimhuber die Geschwister
-gleich wieder auf und sagte ihnen, sie sollten zu Hause bleiben und
-sich ausruhen und nicht zur Schule gehen.</p>
-
-<p>Aber Hans spürte trotzdem den Wunsch, es zu tun. Er trank schnell
-noch einmal eine Tasse Kaffee und lief davon. &mdash; Der gefährliche Gang
-in das Zimmer des Direktors hatte plötzlich nichts Schreckliches
-mehr für<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span> ihn. &mdash; Lieber zehn Gänge in das Zimmer des Direktors,
-als noch eine solch fürchterliche Flucht mit Suse, wollte es ihm
-scheinen. In den Gefahren des Morgens hatte sich sein Mut gestählt
-und gefestigt. Er fühlte, er würde nun ohne Zittern an der Seite des
-Naturgeschichtslehrers in das Zimmer des Direktors treten, und wenn
-er gefragt würde, mit klarer, heller Stimme antworten: „Ich habe die
-Papierkugel nicht geworfen, Herr Direktor.“ Und man würde ihm glauben.</p>
-
-<p>Aber zu dem schweren Gang kam es gar nicht; denn als Hans vor Beginn
-des Unterrichts sich noch schnell an seinen Platz drückte, rief ihm
-Peter zu: „Du, Hans, ich hab’ gestern gesehen, daß Kurt die Kugel
-geworfen hat, nicht du. Ich hab’ ihm meine Meinung gesagt. Er wird’s
-sagen, sonst treten wir aus dem Fußballklub aus und fordern unser Geld
-zurück.“</p>
-
-<p>Und die andern riefen zustimmend: „Ja.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>So war Hans gerettet. Und er schämte sich nicht wenig, als er inne
-wurde, wie schnell eine Sache, von der er so viel Aufhebens gemacht
-hatte, aus der Welt geschafft worden war.</p>
-
-<p>Suse aber blieb daheim und saß lange Zeit neben Frau Cimhuber auf dem
-Sofa und hatte ihren Kopf an die Schulter ihrer Pflegemutter gelehnt
-und hörte, wie diese freundlich sagte: „Willst du denn nicht mehr bei
-uns bleiben, liebe Suse, gefällt es dir wirklich nicht bei uns? Glaub’
-nicht, daß ich dich nicht lieb habe. Ich muß nur immer an meinen Sohn
-in Afrika denken. Der ist krank, und ich bin in großer Sorge um ihn.“</p>
-
-<p>Und die Pfarrfrau fuhr fort, von ihrem Sohn Edwin zu reden, besonders
-von seiner Kindheit, und betonte immer wieder, was für ein liebes,
-gutes Kind er gewesen sei, und wie er ihr stets nur Freude gemacht habe.</p>
-
-<p>„Der wäre nicht fortgelaufen von fremden Leuten, wie wir!“ sagte Suse
-leise und schuldbewußt.</p>
-
-<p>Ihre Pflegemutter schwieg.</p>
-
-<p>Und während es so still in der Stube wurde, wanderten Susens Blicke
-scheu nach dem Negergotte hin, der mit seinem schiefgezogenen Munde
-aussah, als wollte er durch eine Zahnlücke zischen: Nichtsnutze!
-Nichtsnutze! Schon wieder mal was angestellt? Mein Kopf! Mein Kopf! O
-mein armer Kopf!</p>
-
-<p>„Er guckt!“ flüsterte Suse.</p>
-
-<p>Da nickte die Pfarrfrau, stand langsam auf, ging auf den Götzen zu und
-trug ihn unter viel Beschwerden in ihren Kleiderschrank, damit er dort
-hinter düsteren Gewändern einsam sitze.</p>
-
-<p>Und dann nahm sie wieder neben Suse Platz.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span></p>
-
-<p>Und Suse kam sich mit einem Male geborgen vor, wie bei ihren Eltern
-daheim.</p>
-
-<p>Sie war ja nicht mehr auf dem Bahnhof, wo alle Menschen sie so streng,
-so feindlich ansahen. &mdash; Sie saß hier neben Frau Cimhuber und konnte
-sich fest an sie schmiegen.</p>
-
-<p>Gegen zehn Uhr erschien auch Ursel und war endlich einmal wieder von
-ihren Wolltüchern befreit; denn sie hatte sich ihren kranken Zahn
-ziehen lassen und sah milde und freundlich drein. Und als sie sich auf
-dem Küchenstuhl niedergelassen hatte, begann sie zu erzählen: Bei ihrer
-Abfahrt heute morgen vom Bahnhof habe sie plötzlich entdeckt, daß sie
-verkehrt gefahren wäre, und eine gräßliche, eine fürchterliche Wut habe
-sie gepackt. &mdash; Ihr Zorn sei aber noch zehnmal größer geworden, als
-sie auf der nächsten Station entdeckt habe, daß sie noch zwei Stunden
-warten müsse, bis sie wieder heimfahren könne. Da sei sie davongerannt
-wie von Sinnen in die Stadt hinein, zum ersten, besten Zahnarzt, vier
-Treppen hinauf, und habe sich ihren Zahn ziehen lassen. Und jetzt sei
-ihr so wohl, so wohl, wie in ihrem ganzen Leben noch nicht.</p>
-
-<p>Dann wandte sie sich an Suse und verlangte von ihr zu wissen, was
-sich eigentlich mit Hans und ihr zugetragen habe. Zitternd begann das
-kleine Mädchen seine Beichte. Aber sie war noch ganz im Anfang damit,
-da unterbrach Ursel sie schon: „Hör’ auf, ich will nichts mehr hören.
-&mdash; Wer ist an allem schuld, Frau Cimhuber, wer? &mdash; dieser Nichtsnutz,
-dieser Tunichtgut, dieser Theobald! &mdash; Wissen Sie noch, Frau Pfarrer,
-wie er unserem Spitzchen einmal auf den Schwanz getreten hat? Da haben
-Sie ihm eine Ohrfeige gegeben. So war’s recht. Das tat ihm gut. &mdash;
-Schade, daß er so eine nicht jeden Tag bekommt. Das hab’ ich damals
-gleich gesagt.“</p>
-
-<p>Und nach diesem harten Urteil wurde Ursel wieder friedfertig, sprach
-froh über ihre Erlösung vom Zahnweh und forderte Suse auf, doch ein
-wenig mit ihr in der Küche zu bleiben.</p>
-
-<p>Und die beiden Frauen setzten Suse ein Stück Kuchen vor. Aber als
-sie einmal in den Keller gingen und wiederkamen, fanden sie Suse
-eingeschlafen auf ihrem Küchenstuhl sitzen und brachten sie zu Bett.</p>
-
-<p>Am späten Nachmittag erwachte Suse aus schweren Träumen. Ihr hatte
-geträumt, der Bahnhofvorsteher und die Frau mit den drei Kindern und
-der Kellner seien hinter ihr hergesprungen und hätten sie am Kopf
-gepackt und geschüttelt, daß ihr die Haarschleife davongeflogen sei.</p>
-
-<p>Da schlug sie die Augen auf und sah Hans vor sich stehen, der mit
-heiterer Miene erklärte: „Endlich wachst du auf. Fein war’s heute in
-der Schule. Kurt hat gesagt, daß er die Papierkugel geworfen hat, und
-da war alles wieder gut.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span></p>
-
-<p>Und als Suse noch ganz verschlafen und erstaunt nach ihm hinsah, kam
-Frau Cimhuber, legte ihr die Hand auf die Stirn und fragte, ob ihr
-Kopfweh vorüber sei, und ob sie all ihre Schulaufgaben gemacht habe.</p>
-
-<p>Da fiel Suse etwas ein. Ängstlich hub sie an: „Ich hab’ das Rechnen
-noch nicht gemacht, Frau Pfarrer; das Rechnen ist immer am schwersten
-hier. Bei uns machen sie es ganz anders. Bei uns machen sie es von
-rechts nach links, und hier von links nach rechts. Und jetzt weiß
-ich nicht, ob ich bei der Division den langen Schwanz, die vielen
-Rechenkästchen mein ich, auf die rechte Seite setzen soll oder auf die
-linke.“</p>
-
-<p>Da setzte Frau Cimhuber ihre Brille auf, holte Susens Ranzen herbei,
-verglich das Rechenbuch mit dem Heft und gestand schließlich, daß sie
-es auch anders gelernt habe in der Schule.</p>
-
-<p>Nun sei aber kein Grund, deshalb betrübt zu sein. Sie wolle schon für
-Hilfe sorgen. Und während Suse noch nicht wußte, wie ihr geschah, da
-stand Frau Cimhuber schon zum Ausgehen bereit da und forderte Suse auf,
-mit ihr zu der Tochter ihrer Freundin zu gehen, einem jungen Mädchen,
-die eben jetzt das Lehrerinnenexamen gemacht habe, und die ihr gerne
-helfen werde.</p>
-
-<p>Das junge Mädchen sah sich wirklich auch mit größter Bereitwilligkeit
-Susens Heft an, merkte, daß nur eine Kleinigkeit falsch war und
-erklärte dem Kind noch einmal die ganze Aufgabe von vorn.</p>
-
-<p>Suse verstand in Kürze alles und betrachtete mit dankbarem Blick bald
-die junge Lehrerin, bald strahlend ihr Heft, bald Frau Cimhuber.</p>
-
-<p>Und am Abend da sagte sie zu ihrem Bruder: „Du, Hans, das hätte ich
-doch nicht geglaubt, daß Frau Cimhuber einmal so gut gegen uns wäre!“
-„Ich auch nicht,“ entgegnete der Bruder.</p>
-
-<p>Einige Tage später erhielten die Geschwister Nachricht von ihren
-Eltern, denn Frau Cimhuber hatte diese von allem unterrichtet, was sich
-zugetragen hatte. Die Worte von Vater und Mutter gingen den Kindern
-sehr zu Herzen.</p>
-
-<p>„Mein lieber Hans,“ schrieb der Doktor unter anderm an seinen Sohn,
-„ich hätte nicht gedacht, daß Du Dein Versprechen so bald brechen und
-davonrennen würdest wie ein Soldat, der seine Flinte ins Korn wirft. &mdash;
-Das war kein schöner Streich von Euch. Was soll aus Euch werden, wenn
-Ihr nicht beizeiten lernt, die Zähne zusammenzubeißen und auszuhalten
-auch dann, wenn es Euch nicht gefällt! Und wann wirst Du, lieber Hans,
-endlich anfangen, Deinen Willen durchzusetzen und nicht immer Susens
-dummen Einfällen folgen...“</p>
-
-<p>Dem Knaben stieg das Blut ins Gesicht, und er schlich beschämt zur Tür
-hinaus. &mdash; Wie jämmerlich stand er nun in den Augen der Eltern da!</p>
-
-<p>Suse las derweil den Brief ihrer Mutter mit großer Andacht.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span></p>
-
-<p>„Ich brauche Dir nicht zu sagen, liebe Suse,“ schrieb die Doktorsfrau,
-„daß Dein Vater und ich tief betrübt waren, als wir von Eurer Flucht
-hörten. Wir hätten nie gedacht, daß Ihr so etwas fertig brächtet. &mdash;
-Du schreibst, Du möchtest gern in einem großen Hause wohnen, wo es
-einen Garten gibt, und Blumen und Kinder. Wie gern, wie gern schickten
-wir Euch dorthin, mein liebes Kind! Aber wir können es nicht. Wir sind
-viel zu arm dazu. Glaube mir, wir haben uns wohl den Kopf zerbrochen,
-wie es möglich zu machen wäre. Aber unsere Mittel reichen nicht dazu.
-Ich wollte Dir dies eigentlich nicht sagen, um Dich nicht traurig zu
-machen, aber nun tu’ ich es doch, damit Du siehst, weshalb Ihr bei Frau
-Cimhuber bleiben müßt. &mdash; Du bist ja auch schon ein großes Mädchen und
-mußt vernünftig darüber denken. &mdash; Und dann grüble auch nicht immer
-darüber nach, ob Frau Cimhuber und Ursel und die Kinder in der Schule
-Dich gern haben. Sie kennen Dich ja noch kaum. Du wirst schon sehen,
-wenn sie Dich erst einmal kennen und sehen, daß Du immer freundlich und
-höflich zu ihnen bist, werden sie Dich schon lieb gewinnen. Und nun
-denkt an das Pfingstfest, das bald kommt. Dann dürft Ihr nach Hause
-fahren.“</p>
-
-<p>„Der Vater und die Mutter sind sehr, sehr traurig,“ sagte Suse
-seufzend, als sie mit Lesen fertig war. „Wir müssen ihnen gleich
-schreiben, Hans, daß nun alles gut ist und daß Frau Cimhuber jetzt sehr
-lieb zu uns ist, und daß wir sogar schon vorwärtskommen in der Schule.
-&mdash; Und weißt du, Hans, jetzt schreiben wir noch, wir wollen auch
-Pfingsten nicht nach Haus, dann sparen sie das Geld für die Reise, und
-damit machen wir ihnen eine große Freude.“</p>
-
-<p>Hans war Feuer und Flamme für diesen schönen Plan. Aber die Geschwister
-hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. &mdash; Kaum hatte Ursel davon
-vernommen, so rief sie laut: „Was? jetzt war ich g’rad froh, daß es mal
-Luft gibt, und jetzt wollt ihr hier bleiben. Nein, nein, das gibt’s
-nicht. Ich will doch auch mal aufatmen.“</p>
-
-<p>Und der Doktorskinder Herz begann gar freudig zu klopfen, als ihr
-heldenhafter Entschluß so schnell vereitelt wurde.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-
-<h2 class="left" id="Drittes_Kapitel">Drittes Kapitel.<br />
-
-<b class="s4 mleft2">Das Kamel</b></h2>
-
-</div>
-
-<p class="p0"><span class="initial">H</span>ans und Suse fühlten sich nun ganz wohl bei Frau Cimhuber und lebten
-sich allmählich in der Stadt ein.</p>
-
-<p>Suse hatte sogar schon eine Freundin, die blonde Gretel, die in der
-Schule neben ihr saß. &mdash; Auf eine merkwürdige Weise hatte sie mit<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span>
-diesem kleinen Mädchen Freundschaft geschlossen. &mdash; Eines Morgens, da
-hatte sie auf dem Platz neben ihr zwei Puppenbeine hervorschauen sehen,
-und während sie sich über diese schnurrigen Gegenstände noch gewundert
-hatte, da war neben ihr Gretel aufgerufen worden, um eine Frage der
-Lehrerin zu beantworten.</p>
-
-<p>In demselben Augenblick hatten sich unter der Bank die Puppenbeine
-geregt und wie der Blitz war eine blonde leibhaftige Puppe
-hervorgeschossen, auf Suse zu. Mit beiden Händen hatte sie zugegriffen
-und die Abstürzende tief aufatmend auf ihren Schoß gesetzt.</p>
-
-<p>Gretel aber, der vor Schreck fast das Wort im Munde stecken geblieben
-war, hatte sich hernach herzlich bei dem Doktorskind für die Rettung
-ihres Lieblings bedankt.</p>
-
-<p>Schon am folgenden Sonntag wurde Suse bei ihrer neuen Freundin
-eingeladen, und Gastgeberin und Gast waren so miteinander zufrieden,
-daß Suse von nun an recht oft wiederkam, häufig sogar in Begleitung
-ihrer eigenen Puppe, der Genoveva. Neben den prächtigen, feinen
-Stadtpuppen nahm sich Genoveva, das blöde, ungelenke Landkind,
-allerdings sehr einfach und bescheiden aus. Dafür hatte sie aber den
-Vorzug, ein ereignisvolles Leben hinter sich zu haben. Stundenlang
-konnte Suse davon erzählen. So war dies Puppenkind einmal von dem
-Vetter Theobald an einem Bein an der Wäscheleine aufgehängt worden und
-hatte seit jenem Tag einen Anflug von der Glotzkrankheit behalten, wie
-man an ihren hervorquellenden Augen bemerken konnte. &mdash; Ein andermal
-hatte Suse selbst ihre Tochter eine lange, schreckliche Nacht hindurch
-am Fuchskopf in den Bergen vergessen, und als sie am andern Morgen in
-Schrecken und Angst zu ihr geeilt war, hatte sie das arme Kind mit
-einer lebendigen Eidechse im Schoß vorgefunden, vor Entsetzen halb tot,
-wie die dicken, über ihre Wangen rinnenden Schweißtropfen verrieten. &mdash;
-Ja, ja, man hatte seine Not mit Genoveva gehabt!</p>
-
-<p>Gretel war Feuer und Flamme für diese Geschichten und für die
-Erzählerin nicht minder. Und so kam es, daß sich in Suse schon wieder
-die Eingebildetheit regte und sie anfing, wieder übermütig zu werden
-wie daheim eigentlich immer.</p>
-
-<p>Mit Theobald, ihrem erfahrenen Lehrmeister in aller Stadtweisheit,
-hatte sie sogar schon einen Streit gehabt, weil sie ihn fürwitzig und
-mit erhabener Miene über wichtige Gebäude seiner Vaterstadt belehrte,
-über die er ganz verkehrte Begriffe hatte, während Suse, dank einer
-Unterhaltung mit Frau Cimhuber, großartig Bescheid wußte. Ärgerlich
-hatte der Vetter hierauf sein Wohlwollen Hans zugewandt, der weniger
-eingebildet als Suse war, sich aber reichlich so gut in der Stadt
-zurecht fand wie sie. Theobald hatte ihm deshalb vor einigen Tagen
-in seiner schnur<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span>rigen Manier beide Hände auf das Haupt gelegt und
-gesagt: „Fahre nur so fort, teurer Freund, und du wirst uns noch alle
-überstrahlen, indem daß du gar nicht so dumm bist, wie du aussiehst. Du
-schickst dich sogar besser als Suse, obwohl die wunder wie gescheit tut
-und nicht einmal weiß, wie man von der Elektrischen abspringt und immer
-die verkehrte Hand am verkehrten Griff hat und aus lauter falscher
-Sachkenntnis nächstens mitten auf der Straße sitzt.“</p>
-
-<p>Natürlich waren diese Reibereien harmloser Natur und jedermann, vor
-allem Frau Cimhuber und Ursel, glaubten, daß nun die Stürme vorüber
-seien und daß sich Friede und Ruhe auf alle senken werde. Wie oft
-pflegte nicht die Pfarrfrau in diesen Tagen zu ihrer alten Magd zu
-sagen: „Sehen Sie, sehen Sie, es ist alles gut geworden, man darf nur
-niemals verzagen!“</p>
-
-<p>Da mit einemmal bekamen die Kinder eine Einladung zu Onkel Gustav, dem
-reichen Besitzer des prächtigen Schlosses, das Hans in den ersten Tagen
-seines Hierseins schon einmal mit Theobald aufgesucht hatte.</p>
-
-<p>Übermütig vor Freude eilten sie zu ihren Vettern und Basen, um ihnen
-die frohe Neuigkeit mitzuteilen.</p>
-
-<p>Die aber machten Gesichter, als sei ihnen die Petersilie verhagelt.</p>
-
-<p>„Freut ihr euch denn nicht?“ fragten Hans und Suse. „Ihr seid doch auch
-geladen.“</p>
-
-<p>„Freuen,“ sagte Toni im wegwerfenden Ton, „keineswegs, uns graut sogar
-davor.“</p>
-
-<p>„Graut?“ forschte Suse.</p>
-
-<p>„Ja, es ist uns sehr unangenehm, weil die Fremdlinge &mdash; die Tante und
-ihre Kinder wollte ich sagen &mdash; Protzen sind. Fremdlinge nennen wir sie
-deshalb, weil sie aus Südamerika kommen und so großartig fremdländisch
-tun. Und Protzen sagen wir, weil sie eben Protzen sind.“</p>
-
-<p>„Was sind das, Protzen?“ fragte Suse erstaunt.</p>
-
-<p>„Nun,“ erklärte die Cousine, „das sind Leute, die sich schrecklich viel
-auf ihr Geld einbilden und auf alles, was sie haben.“</p>
-
-<p>„Ach,“ meinte Suse, „nichts Schlimmeres? Das ist doch nicht schlimm!
-Wenn ich ein solch schönes Haus hätte und solch prächtige Sachen und
-solche ausgestopften Tiere wie sie, würde ich mir auch was einbilden.“</p>
-
-<p>„Dann wärest du auch ein Protz,“ fiel Theobald scharf ein, „und das
-sähe dir so recht ähnlich.“</p>
-
-<p>„Das machte nichts,“ entgegnete Suse keck, „wenn ich nur einen einzigen
-ausgestopften Löwen hätte, wäre ich schon froh. Eine ausgestopfte
-Giraffe wäre mir eigentlich noch lieber.“</p>
-
-<p>Hans war es doch nicht recht geheuer, und auf dem Nachhauseweg<span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span> sagte
-er nachdenklich zu seiner Schwester: „Am Ende wird’s doch nicht so
-schön bei Onkel Gustav, wie wir geglaubt haben.“</p>
-
-<p>Suse schwieg und zuckte die Achseln; dank ihres leichten Sinnes hatte
-sie eine ganz andere Meinung und zauberte in den nächsten Tagen ihrem
-Bruder die herrlichsten Bilder über ihren Besuch bei den Fremdlingen
-vor Augen.</p>
-
-<p>An einem großen runden Tisch sitzend, von silbernen Tellern Kuchen
-essend, aus wundervollen Tassen Schokolade trinkend, würden sie den
-seltsamen Abenteuern des Onkels lauschen, meinte sie. Zuckersüße
-Früchte würden phantastisch geschmückte Dienerinnen zu ihnen
-hereintragen.</p>
-
-<p>Als der Tag des Besuches bei Onkel Gustav herangekommen war, zogen Hans
-und Suse sich mit größter Sorgfalt an. Und Ursel, die Ehre mit ihnen
-einlegen wollte, half ihnen dabei. Suse war’s zufrieden. Nachdem sie
-ihr Sonntagskleid angezogen hatte, steckte sie ihre Lieblingsbrosche,
-ein Stiefmütterchen, vor, dessen buntbemalte Blütenblätter ein kleines,
-zorniges Gesicht zeigten. Auf dies, ihr schönstes Schmuckstück, bildete
-sich Suse nicht wenig ein.</p>
-
-<p>Vor zwei Jahren war nämlich ein hoher Herr &mdash; ein Prinz, wie Rosel
-behauptet hatte &mdash; nach Schwarzenbrunn gekommen und durch den Ort
-geschlendert. Und als die Schuljugend ihn verfolgte, hatte er plötzlich
-aus der Schar der Gaffer Suse hervorgeholt, sie betrachtet und
-gefragt: „Wem gehörst du, Kind? Du bist ein feines, kleines Mädchen;
-wer hat dir das schöne Stiefmütterchen geschenkt?“ Und dabei hatte
-er mit Begeisterung ihr Stiefmütterchen angesehen, ein Umstand, den
-Suse mit Befriedigung wahrgenommen hatte. Denn erst am Tage vorher
-hatte sie einen Streit mit Hans gehabt, weil er behauptet hatte, das
-Stiefmütterchen sehe ganz verheult und miserabel streifig aus, seit es
-eine Nacht lang im Regen im Garten liegen geblieben sei.</p>
-
-<p>Darum durfte das Stiefmütterchen in Zukunft nicht mehr fehlen, wenn
-Suse sich putzte.</p>
-
-<p>Hans war mit Anziehen schon längst fertig, da überlegte Suse noch
-immer, wo sie ihr Stiefmütterchen am vorteilhaftesten anbringen könne.</p>
-
-<p>Endlich war ein Platz gefunden und nun konnten Bruder und Schwester von
-dannen gehen.</p>
-
-<p>Beim Abschied schärfte Frau Cimhuber den Kindern mehrmals ein, ja recht
-artig zu sein und auf alles acht zu geben, was sie sähen.</p>
-
-<p>„Ja, ja, das wollen wir,“ rief Suse, „und herrliche Sachen werden wir
-Ihnen erzählen, Frau Pfarrer,“ und damit eilte sie voll hundert schöner
-Erwartungen mit Hans die Treppe hinunter.</p>
-
-<p>Bei dem Kriegerdenkmal, dem Ort der Verabredung, trafen sie mit<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span> Toni
-und ihren Geschwistern zusammen. Die Aufsicht über die Kinder führte
-Liselotte, ihre ältere Schwester, ein junges, feines Mädchen, das viel
-auf Anstand und gutes Benehmen hielt, dafür aber leider bei ihren
-Geschwistern kein Verständnis fand.</p>
-
-<p>Deshalb hatte sie auch vorhin ihren Eltern seufzend erklärt, es sei ein
-schweres, ein hartes Stück Arbeit, die Geschwister zu beaufsichtigen.
-Man meine manchmal, der böse Geist fahre in sie und triebe sie zu immer
-neuen Ungezogenheiten an. &mdash; <span class="nowrap">E<span class="mleft0_2">i</span><span class="mleft0_2">n</span><span class="mleft0_2">e</span><span class="mleft0_2">n</span></span> Volksauflauf gebe es sicher,
-und das sei dann so peinlich für einen erwachsenen Menschen. Jedoch
-die Eltern hatten die Sache nicht so ernst genommen und ihren jüngeren
-Kindern eingeschärft, der älteren Schwester gut zu gehorchen.</p>
-
-<p>Als die Gesellschaft vollzählig war, brach sie gemeinsam nach der
-„Villa Granada“ auf, &mdash; der Wohnung ihrer reichen Verwandten draußen
-vor der Stadt.</p>
-
-<p>Hans und Suse sahen auf dem Wege dorthin erwartungsvoll drein. Ganz
-anders als ihre kleinen Verwandten, die gleichmütigen Stadtherrlein
-und Fräulein, denen ein solcher Besuch etwas ganz Alltägliches zu sein
-schien.</p>
-
-<p>Besonders Suse sah man die Erregung am Gesicht an, und mit tiefem
-Unbehagen nahm sie selbst wahr, daß all ihre Erwartung auf ein schönes
-Fest kläglich zusammenschrumpfte und nur blasse Furcht zurückblieb.
-Sie zweifelte gar nicht mehr daran, daß alles, was Theobald prophezeit
-hatte, auf schreckliche Weise in Erfüllung gehen werde. Und in ihrer
-Verwirrung drängte sie sich schließlich nahe am Ziel an den übermütigen
-Vetter selbst heran, um bei ihm noch einmal Auskunft zu holen.</p>
-
-<p>„Du, Theobald, sag’ mir,“ begann sie ängstlich, „ich wollte dich
-fragen, Theobald. Sag’ mir, wie sieht die Tante aus? Gelt, die ist
-nicht schwarz?“</p>
-
-<p>„Nicht schwarz?“ rief der Vetter. „Ja, wie denn sonst! Vielleicht grün
-wie ein Laubfrosch oder blau wie ein Schmetterling, wenn sie aussieht,
-als wär’ sie in die Tinte gefallen! Und die Kinder erst! Die sind
-schwarz und weiß kariert wie Schachbretter und haben Ringe durch die
-Nase und Federbüsche auf dem Kopf und Bäuche wie Frösche.“</p>
-
-<p>„Das glaub’ ich nicht,“ entgegnete Suse.</p>
-
-<p>„Glaub’s nicht! In der nächsten halben Stunde werden wir uns wieder
-sprechen!“ sagte der Vetter gleichmütig.</p>
-
-<p>„Ich mein’,“ sagte Suse, „ich möchte wissen, Theobald, ob die Tante
-so freundlich zu einem ist, wenn sie einem guten Tag sagt, wie andere
-Damen?“</p>
-
-<p>„Freundlich? freundlich?“ stotterte Theobald. Und seine Stimme<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span> zum
-unheimlichsten Flüsterton dämpfend, raunte er ihr zu: „Sie ist ja eine
-Art Menschenfresserin, Suse, ich hab’s dir ja schon einmal gesagt. Ihr
-Leibgericht sind Menschenohren. Darum rat ich dir, nimm deine Lauscher
-in acht. Sonst stürzt sie sich drauf, reißt sie ab und rauft sie an
-sich. Dann hast du Ohren gehabt und kannst dich außerdem für Geld sehen
-lassen, so schnurrig siehst du dann aus.“</p>
-
-<p>Suse lächelte verlegen.</p>
-
-<p>„So, da wären wir!“ unterbrach sich Theobald mit einemmal.</p>
-
-<p>Ein großes, eisernes Parktor lag vor ihnen. In goldenen Buchstaben
-stand der Name der Villa als ein leuchtender Bogen darüber geschrieben.
-An einem efeuumsponnenen, von Ulmen überschatteten Pförtnerhäuschen
-vorüber ging die Gesellschaft in das Innere des Parkes. Suse zitterte
-das Herz bei jedem weiteren Schritt. Am liebsten wäre sie umgekehrt.</p>
-
-<p>Mit einem Male sagte Toni ganz laut. „Da kommen Concha, Enrique, Sancho
-und Jose.“ „Die prächtigen Granadasöhne,“ setzte Theobald hinzu.</p>
-
-<p>Suse fuhr zusammen.</p>
-
-<p>Aber was mußten ihre Augen sehen? Dort aus der Ferne, von der
-blumenbewachsenen Terrasse herunter, auf der stolz wie ein Schloß die
-Villa Granada stand, kamen ein paar Kinder, die genau aussahen wie
-die Kinder anderer Sterblicher. Nichts von Federbüschen, nichts von
-Nasenringen, nichts von einer karierten Haut war zu sehen, wie Theobald
-angekündigt hatte. Und auch jetzt, als sie ganz in der Nähe angelangt
-waren, verwandelten sie sich noch immer nicht in Kaminfeger. &mdash; Das
-kleine Mädchen sah sogar wunderhübsch aus in ihrem reichgestickten
-Kleid.</p>
-
-<p>„Guten Tag,“ sagten die Kinder mit fremdländischer Betonung, und
-schlossen sich ihren Besuchern an.</p>
-
-<p>Suse mußte sie immer wieder von der Seite ansehen. Ihre Gesichter waren
-ganz weiß, und ihre Gestalten waren geschmeidig und fein, ihre Augen
-dunkel und strahlend.</p>
-
-<p>Der eine der Knaben, der kleinste von den dreien, öffnete einen
-silbernen Zigarettenbehälter und zündete sich eine Zigarette an. Aber
-sonst geschah nichts Außergewöhnliches.</p>
-
-<p>Und jetzt, da ihr erster Schreck verwunden war, empfand Suse etwas
-wie Bedauern über soviel Alltäglichkeit. Es wäre ihr nun gar nicht
-unlieb gewesen, wenn plötzlich einer der Knaben ein paar ausländische
-Purzelbäume geschlagen oder sonstige Allotria getrieben hätte. Aber
-keiner tat ihr den Gefallen. Sie gingen im manierlichsten Schritt von
-der Welt einher.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span></p>
-
-<p>Da raunte Hans plötzlich seiner Schwester zu: „Sieh, dort an der
-Seite des Schlosses, das niedere Haus, das ist die Garage, wo wir das
-Automobil damals besehen haben.“</p>
-
-<p>„Herrgöttle, Herrgöttle, haben wir dabei geschwitzt,“ ließ sich nun
-auch Theobald vernehmen. &mdash; Noch hatte er nicht ausgeredet, da horchte
-Suse erschreckt auf. Ein überaus häßliches Geschrei, wie sie es in
-ihrem ganzen Leben noch nicht vernommen, hatte ihr Ohr getroffen.
-Und als sie in die Richtung blickte, aus der es kam, sah sie auf dem
-grünen Rasenplatz, der sich bis zur Terrasse hinüber erstreckte, einen
-wunderbaren Vogel spazieren gehen.</p>
-
-<p>„Der Pfau,“ sagte Hans mit geheimnisvoller Stimme. &mdash; Suse betrachtete
-das Tier mit Staunen. Wie eine königliche Schleppe ließ er seinen
-prächtigen Schweif am Boden hinschleifen, und ehe sie sich’s versah,
-hatte er ihn wie einen Riesenfächer entfaltet, so daß all die
-schillernden Kreise in seinem Gefieder wie grüngoldene Kugeln glänzten.
-Und der kleine Federputz auf der Mitte seines Hauptes zitterte dazu wie
-feine Perlen, die auf zierlichen Stäbchen stecken.</p>
-
-<p>„Oh, wie schön,“ sagte Suse leise, „wenn der Vater und die Mutter doch
-auch einen solchen Vogel hätten!“</p>
-
-<p>Zögernd, mit rückwärts gewandtem Gesicht folgte Suse der übrigen
-Gesellschaft.</p>
-
-<p>„Komm, komm,“ drängte schließlich der Bruder, sie bei der Hand fassend,
-„die andern sind ja schon fort, wir müssen hinterdrein.“</p>
-
-<p>Und auch Theobald, der wieder zurückgekommen war, mahnte: „Komm
-schnell, Suse, wir wollen gemeinsam in die Höhle der Löwen.“</p>
-
-<p>Widerstrebend folgte sie der Aufforderung.</p>
-
-<p>Da plötzlich blieb Theobald stehen, klapperte mit den Zähnen und sagte
-flüsternd: „Himmel! Himmel! Da vorn steht sie und hat die Kinnladen
-auseinandergeklappt wie ein Scheunentor! Himmel! Himmel! Sie schnalzt
-mit der Zunge! Was wird das geben! Mein Herz! Mein Herz! In den Hosen
-sitzt’s mir schon! Jetzt halt deine Ohrläppchen fest!“</p>
-
-<p>Suse zitterte am ganzen Körper und schaute erbleichend geradeaus.
-Dort mitten im Weg standen zwei kohlpechrabenschwarze Frauen und
-musterten die Kinder. Das Weiß ihrer Augen und die blanken Zähne
-leuchteten gespensterhaft aus ihren nachtschwarzen Gesichtern. Wie mit
-Blutstropfen betupft, so kamen Suse ihre Augenränder vor.</p>
-
-<p>Im Gebüsch des Weges hatten diese unheimlichen Gestalten sicher auf die
-Kinder gelauert und wollten sie nun überfallen.</p>
-
-<p>„Sag’ ihr guten Tag, und küß ihr die Hand. &mdash; Die rechts mit dem
-großen, hohlen Zahn ist’s,“ drängte Theobald. „Schnell, schnell, sonst
-stürzt sie sich auf dich los und dann &mdash; adieu Ohrläppchen.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span></p>
-
-<p>Suse war nicht imstande, einen Schritt zu tun, so lähmte ihr der
-Schreck alle Glieder.</p>
-
-<p>Erst ganz allmählich kam ihr die Besinnung wieder, und dann dachte sie
-nur auf ihre Rettung.</p>
-
-<p>Wie ein Pfeil flog sie über den Rasenplatz der Terrasse zu an dem
-Pfau vorüber, der mit gellendem Geschrei aufflog und wie ein lebendig
-gewordenes Heubündel neben ihr herrauschte.</p>
-
-<p>Drüben auf dem Weg drängte sie sich an ihre ältere Cousine an und
-flüsterte klopfenden Herzens: „Sieh, Liselotte, die gräßlichen Frauen,
-die Tante Josepha geht dort, dort, guck, guck!“</p>
-
-<p>Das junge Mädchen wandte sich um und erblickte die schwarzen Frauen
-jenseits des Rasenplatzes; zu gleicher Zeit aber auch ihren Bruder
-Theobald, der, sich die Seiten vor Lachen haltend, des Weges kam. Da
-wußte das junge Mädchen Bescheid, und die Hand ihrer kleinen Verwandten
-durch ihren Arm ziehend, sagte sie beruhigend: „Das sind zwei
-Dienerinnen, die Kinderfrauen von Concha, Jose und den andern. Die tun
-dir nichts, sei nur still.“</p>
-
-<p>Suse atmete erleichtert auf. Theobald aber blieb weit zurück und zwar
-um so weiter, je häufiger seine Schwester nach ihm hinsah.</p>
-
-<p>Und nun währte es nicht mehr lange, da sollten die Doktorskinder
-die echte, die wirkliche, die leibhaftige Tante Josepha zu Gesicht
-bekommen. Im Kreise der übrigen Kinder betraten Hans und Suse die
-Villa Granada. Es war ein prächtiges Gebäude mit schöngeschnitzten
-Möbeln in allen Zimmern, mit kostbaren Teppichen auf den Fußböden und
-farbenprächtigen Bildern an den Wänden.</p>
-
-<p>Von den einzelnen Gegenständen konnten die Geschwister aber kein
-genaues Bild bekommen. Nur im allgemeinen hatten sie die Empfindung,
-in einem reichen glänzenden Palast zu sein, wo alles herrlich und
-fremdländisch aussah. Da, als sie einen großen Saal betreten hatten,
-rauschte es mit einemmal wie von seidenen Kleidern.</p>
-
-<p>„Sie kommt!“ flüsterte Theobald.</p>
-
-<p>Unwillkürlich faßte sich Suse mit beiden Händen an die Ohren.</p>
-
-<p>Hinter einem Vorhang hervor, der zwischen zwei Türen hing, trat eine
-große, stolz aussehende Dame.</p>
-
-<p>Es war Tante Josepha.</p>
-
-<p>Die Kinder wichen einen Schritt zurück. Die kleinen Mädchen machten
-einen Knicks aus der Ferne und die Knaben ihre Verbeugung.</p>
-
-<p>Eisigkalt wehte es von der fremden Dame her. Und selbst die
-Dreistigkeit der Sausewinde war wie eingefroren.</p>
-
-<p>Und doch war die Dame, die dort eingetreten war, keineswegs die
-Wetterhexe, als die Theobald sie geschildert hatte. Im Gegenteil, sie<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span>
-war eine sehr schöne Frau. Und wie sie so dastand, die großen dunklen
-Augen fragend auf die Kinder geheftet, die Schleppe ihres prächtigen
-Gewandes leicht nach vorn geworfen, erinnerte sie an ein schönes Bild.</p>
-
-<p>Aber an der Nasenspitze konnte man dieser hochmütig blickenden Frau es
-ansehen, wie von Herzen gleichgültig ihr der ganze Besuch war.</p>
-
-<p>Selbst Theobald, der noch vorhin seinen Geschwistern vorgehalten hatte:
-„Merkt euch, liebe Kinder, den schönen Vers: Denn wo du schlecht
-wirst aufgenommen, da mußt du recht bald wiederkommen, und geniert
-euch nicht,“ wünschte sich mit einemmal über alle Berge. Sein Vetter
-Hans aber stand da, die Augen fest auf die fremde Dame gerichtet, als
-erwarte er ein Wunder.</p>
-
-<p>Da fiel Theobald seines Vetters verstörtes Gesicht auf, und er raunte
-ihm zwischen den Zähnen zu: „Guck doch nicht wie ein geschlachteter
-Ziegenbock, der nicht mehr meckern kann!“</p>
-
-<p>Und Hans, der seines Vetters albernste Bemerkungen als köstliche Witze
-empfand, konnte sich nicht mehr zusammennehmen und platzte mit einem
-Male los.</p>
-
-<p>Die fremde Dame sah lange verwundert nach ihm hin. Und er drückte
-entsetzt beide Hände vor seinen Mund.</p>
-
-<p>Aber was nützte es! Noch ärger als zum erstenmal wurde sein Lachen;
-denn Theobald flüsterte ihm in die Ohren: „Du kannst mir’s glauben, die
-Dame Josepha hat den Starrkrampf! Drum starrt sie so!“</p>
-
-<p>Und Hans wünschte sich weit weg auf einen hohen Berg, wo er sich vor
-Lachen hätte wälzen können ob dieser großartigen, dieser herrlichen,
-dieser unvergleichlich schönen Witze.</p>
-
-<p>Nun mußte er aber wie ein Soldat hier stehen und abwarten, was die
-nächste Minute ihm brachte.</p>
-
-<p>Suse war noch immer in ihrer Verzauberung befangen und sah regungslos
-auf die stolze Dame vor ihr. Sie kam ja nicht auf ihre Gäste zu, wie
-Susens Mutter es daheim bei Einladungen zu tun pflegte, und gab jedem
-Kind freundlich die Hand. &mdash; Sie musterte sie nur mit kaltem, leicht
-spöttischem Blick.</p>
-
-<p>Da wäre es schon unterhaltender gewesen, sie wäre wirklich ein
-schwarzes Fabelwesen gewesen und hätte Kuchenstücke und Mohrenköpfe um
-sich geworfen und sonstige lustige Faxen getrieben.</p>
-
-<p>„Uff,“ sagte Theobald mit einemmal, denn seine Tante und Liselotte
-hatten das Zimmer verlassen, und die Kinder waren allein.</p>
-
-<p>Suse und ihre kleine, fremdländische Cousine maßen sich mit stummem
-Blick noch immer aus der Ferne. Toni setzte sich ans Klavier, um ein
-Lied zu spielen. Die Granadasöhne ließen sich in die tiefen, weichen<span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span>
-Sessel fallen, und ihre Vettern aus der Stadt folgten ihrem Beispiel
-mit angenommener Nachlässigkeit.</p>
-
-<p>Wie die Paschas saßen sie dort, die Beine gekreuzt, die Arme
-verschränkt, und sahen einander herausfordernd an.</p>
-
-<p>Nur Hans stand hinter dem Sessel Theobalds wie ein Gewächs, das einer
-Stütze bedarf, denn sein Vetter hatte ihm eben zugeraunt: „Bleibt
-möglichst in meiner Nähe, du und Suse. Sie wollen sich über euch lustig
-machen; das will ich ihnen austreiben.“</p>
-
-<p>„Fein war’s heute in der Reitbahn,“ begann einer der ‚Granadasöhne‘ die
-Unterhaltung. „Ich hatte einen famosen Gaul. Nächstens darf ich in der
-Quadrille mitreiten.“</p>
-
-<p>„Entsetzlich! Sie fangen schon an zu protzen,“ raunte Theobald seinem
-Vetter unter der vorgehaltenen Hand zu.</p>
-
-<p>„Du, Hans, reitest du auch?“ wandte sich der „Granadasohn“ an den
-verblüfften Knaben.</p>
-
-<p>„Ja,“ rief Theobald laut.</p>
-
-<p>„Fällt mir gar nicht ein,“ erwiderte Hans und begann zu lachen. „Ich
-hab’ ja kein Pferd.“</p>
-
-<p>„Dann reitest du also nicht?“</p>
-
-<p>„Mein Gott, bist du schwerhörig?“ rief Theobald, „soll er vielleicht
-auf einem Besenstiel reiten, wenn er kein Pferd hat?“</p>
-
-<p>Alles lachte. Nur Toni warf ihrem Bruder einen entrüsteten Blick zu und
-schüttelte ihr Haupt.</p>
-
-<p>Er aber saß mit unbeweglichem Gesicht da, die Arme fest verschränkt und
-rüstete sich auf weitere Angriffe.</p>
-
-<p>„Dummes Zeug,“ verwies hier einer der Fremdlinge denjenigen seiner
-Brüder, der Hans ausgefragt hatte. „Wie kannst du nur fragen, ob Hans
-reitet. In diesen Kuhdörfern in den Bergen, wo er her ist, gibt’s doch
-keine Pferde. Nichts gibt’s dort, einfach nichts. Schauderhaftes Leben.“</p>
-
-<p>„Ja, selbst die größeren Hammelsbraten und Ochsen findet man hier,“
-warf da Theobald herausfordernd ein.</p>
-
-<p>Die Augen der Fremdlinge blitzten; sie bemeisterten sich aber noch, und
-einer suchte Zigaretten hervor und bot sie im Kreise herum an.</p>
-
-<p>„Du rauchst doch auch,“ wandte er sich an Hans.</p>
-
-<p>„Nein,“ rief Theobald, „er darf es nicht, er ist viel zu klug dazu. Ihr
-wißt doch, je klüger die Leute, je gefährlicher für sie das Rauchen.
-Ich möchte an eurer Stelle gar nicht sagen, daß ich’s so gut vertragen
-kann.“</p>
-
-<p>In diesem Ton ging die Unterhaltung weiter. Es war nun mal so und nicht
-zu ändern. Fremdlinge und Sausewinde konnten einander nicht ausstehen,
-vielleicht weil einer dem andern seine Vollkommenheit<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span> im Protzen
-und Aufschneiden übelnahm. Was das Aufschneiden anbetraf, gebührte
-entschieden Theobald die Palme, was das Protzen anbelangte, eher den
-Fremdlingen.</p>
-
-<p>Im Laufe des Nachmittags gerieten die beiden Parteien häufig hart
-aneinander, und es sah aus, als sollte es zu einer regelrechten
-Schlacht kommen.</p>
-
-<p>Da erschien aber noch zur rechten Zeit der Diener und meldete, daß
-der Teetisch gedeckt sei. Die Kinder sprangen auf und drängten in das
-Eßzimmer, um dort an einem einladend hergerichteten Tisch Platz zu
-nehmen.</p>
-
-<p>Trotzdem verging Suse die Lust auf die appetitlichen Kuchen, die sie
-aus silbernen Körben anlachten; denn gerade als sie einen Mohrenkopf
-zum Munde führen wollte, öffnete sich die Tür und die schwarzen Frauen
-von vorhin tauchten zum zweitenmal auf.</p>
-
-<p>Suse blieb der Bissen im Munde stecken. Lautlos wie Fledermäuse
-strichen die Fremden hinter Susens Stuhl vorüber und kamen jenseits des
-Tisches wieder zum Vorschein, beim Bedienen helfend.</p>
-
-<p>Jedesmal bei ihrem herankommen lief dem kleinen Mädchen ein Gefühl über
-die Haut, als fließe ihr kaltes Wasser den Rücken hinunter.</p>
-
-<p>Während nun Susens Aufmerksamkeit auf die Schwarzen allein gerichtet
-war, hatte ihre kleine Verwandte Concha sie die ganze Zeit mit
-spöttischem Blick angesehen, vor allem aber ihr berühmtes Schmuckstück
-scharf ins Auge gefaßt.</p>
-
-<p>„Ist die Brosche von Gold?“ fragte sie mit einem Male laut.</p>
-
-<p>Alle sahen nach Susens Talisman und lachten.</p>
-
-<p>„Ist sie von Gold?“ fragte Concha noch einmal.</p>
-
-<p>Suse wußte nicht, was antworten. Hans aber wurde es ungemütlich zu
-Sinn, und er hätte gern die Geschichte von dem Prinzen und seiner
-Bewunderung für das Stiefmütterchen erzählt. Aber er fürchtete, in der
-Mitte stecken zu bleiben und die Sache noch schlimmer zu machen.</p>
-
-<p>Suse wäre jetzt am liebsten mitsamt ihrem Stiefmütterchen aufgesprungen
-und davongelaufen, durch die Tür in den Garten und auf die Straße.
-Es war ja nichts hier, wie sie erwartet hatte; im Gegenteil, eine
-Enttäuschung folgte der andern. &mdash; Auch der Onkel war nicht da, der
-doch so viele schöne Geschichten wußte, wie Toni vorhin Suse erzählt
-hatte, und einem die ausgestopften Tiere zeigte. &mdash; Er hatte unerwartet
-verreisen müssen.</p>
-
-<p>Da war es denn eine große Erleichterung, als Liselotte erschien und den
-Kindern verkündete, sie möchten unter der Aufsicht der schwarzen Frauen
-in den Zoologischen Garten gehen. &mdash; Sie bliebe hier bei ihrer Tante.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span></p>
-
-<p>„Wie schön,“ entfuhr es halblaut Susens Mund. Und auch Hans leuchtete
-die Freude aus den Augen.</p>
-
-<p>Die Löwen, Tiger, Leoparden, all die wilden Tiere im Zoologischen
-Garten kamen den Kindern mit einem Male anheimelnder vor als die ganze
-Einwohnerschaft der Villa Granada zusammengenommen.</p>
-
-<p>Schnell fand nun der Aufbruch statt. Von der fremden Dame brauchten
-sich die Kinder nicht zu verabschieden; denn sie hielt sich
-eingeschlossen in einem entfernten Zimmer und wollte niemand sehen. Und
-es war auch ganz gut, daß ihre kleinen Besucher ihr Gesicht nicht zu
-sehen bekamen. Zuviel Widerwillen gegen ihre Gäste malte sich darin,
-als daß es sie nicht hätte bitter kränken können.</p>
-
-<p>Von den schwarzen Frauen geleitet, verließen die Kinder den Garten der
-Villa Granada.</p>
-
-<p>„Jeder lacht, wenn er uns anguckt,“ meinte Theobald, als sie das Freie
-erreicht hatten. „Guck, Suse, wie die dort drüben den Mund aufsperren
-und uns mit unseren schwarzen Tintenfischen angaffen!“</p>
-
-<p>Und damit wies er auf einige Leute jenseits der Straße.</p>
-
-<p>Suse achtete nicht auf ihn und seine Reden. In Gedanken weilte sie
-bereits weit weg, und wie im Nebel verschwand die Villa Granada hinter
-ihr.</p>
-
-<p>Vor dem Zoologischen Garten verabschiedeten sich die beiden ältesten
-Fremdlinge von der Gesellschaft, da sie die fremden Tiere nicht
-interessierten, wie sie behaupteten.</p>
-
-<p>Theobald zauderte einen Augenblick. Auch er wollte den feinen,
-übersättigten Herrn spielen.</p>
-
-<p>Aber mit aller Gewalt zog es ihn doch vorwärts in den Garten hinein.</p>
-
-<p>Als die Kinder den großen, breiten Weg betreten hatten, der mitten
-durch den Zoologischen Garten führte, ging Suse bescheiden in züchtiger
-Haltung vorwärts, als schritte sie durch eine Kirche. Ihr Herz klopfte
-erwartungsvoll. Die bunten Papageien und Kakadus, die, auf hohen
-Stangen an kleinen Ketten angeschmiedet, rechts und links vom Wege
-saßen, schien sie kaum zu beachten.</p>
-
-<p>Ihre Gedanken weilten schon beim König der Tiere.</p>
-
-<p>„Der Löwe,“ murmelte sie leise vor sich hin. „Ach, wenn ich ihn doch
-nur schon sähe!“</p>
-
-<p>„Sollst du, mein Herzblatt, darfst ihm auch einen Kuß geben,“ sagte
-Theobald tröstend an ihrer Seite. Und er richtete es so ein, daß die
-ganze Gesellschaft ihren ersten Gang auf die Raubtierkäfige zu nahm.
-Hinter den Gittern hervor sahen die Doktorskinder zuerst nur die
-gelben Felle der Tiere schimmern. Ihre Gestalten konnten sie noch
-nicht erkennen. &mdash; Aber jetzt, als sie näher kamen, erblickten sie
-den König der<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span> Tiere und stutzten. Ruhig und majestätisch lag er da,
-den mächtigen Kopf mit der schweren Mähne stolz erhoben, das Auge
-regungslos ins Weite gerichtet. Suse klopfte das Herz bis zum Halse;
-sie verlangsamte ihren Schritt und blieb dann zitternd stehen. &mdash; Der
-Löwe war aufgesprungen und dicht an das Gitter getreten und ging jetzt
-mit lautlosen Schritten dort auf und nieder, die Stäbe mit seinem Fell
-streifend. Und gleichsam einer unsichtbaren Macht gehorchend, hielt er
-plötzlich im Wandern inne und wandte sein gewaltiges Haupt Suse zu.</p>
-
-<p>Witternd erhob er seine Nase und richtete seine feurigen, funkelnden
-Augen fest auf sie. Und mit einemmal riß er das Maul auf und brüllte
-schauerlich.</p>
-
-<p>Suse schrie mit und eilte in großen Sprüngen von dannen.</p>
-
-<p>Ängstlich wandte sie sich schließlich um und sah die andern Kinder
-lachend am Käfig des gefährlichen Raubtiers stehen. Da kehrte auch sie
-wieder um, schlich langsam heran und stand lange bei ihnen, den Löwen
-mit Ehrfurcht betrachtend.</p>
-
-<p>Angesichts ihres weibischen Zagens wuchs Theobalds Mannesmut ganz
-gewaltig, und für die nächste halbe Stunde spielte er sich in
-unerträglichster Weise als der Kinder Beschützer und Berater auf. Seine
-weisen Belehrungen nahmen kein Ende.</p>
-
-<p>„Das ist der Königstiger, seht, meine lieben Kinder,“ begann er vor
-einem Käfig, in dem ein abgemagertes Tier sich aufhielt.</p>
-
-<p>„Der Königstiger ist eine aus fremden Erdteilen stammende Bestie und
-keine Kuh, wie ihr euch vielleicht bei diesem Prachtexemplar einbildet.
-Dies ist nämlich der Abklatsch einer Kuh. Es hat magere Beine, Krallen
-wie Hufe und einen spärlichen Haarwuchs. Anstatt, daß er durch das
-Dschungel schleicht und auf Beute auszieht, kann er sich jetzt mit
-seinem ausgefransten Schwanzstummel die Mücken abwedeln.“</p>
-
-<p>„Genau wie Onkel Fritz redest du,“ seufzte Toni, „oh, es ist ein Elend.
-Alles plapperst du ihm nach! Mutter sagt auch, du bist sein ganzer
-Abklatsch.“</p>
-
-<p>Zum Glück hörte außer Toni niemand sonderlich auf des unverbesserlichen
-Theobalds Reden, ging doch jeder seine eigenen Wege.</p>
-
-<p>Hans und Suse waren bald bei den Affen, dann bei den Rehen, dann
-bei den Elefanten, auch beim Wolfe zu sehen. Wie schön war dieser
-Nachmittag nun doch noch geworden! Viel, viel schöner, als es sich die
-Kinder noch vor kurzem hatten träumen lassen.</p>
-
-<p>Wie sie so durch den Garten schritten, kam es, daß ihre Wege sich
-trennten. Hans interessierte sich für die Tiere im Aquarium mehr als
-Suse, und so lief sie denn allein weiter.</p>
-
-<p>Nach geraumer Zeit traf sie mit Theobald zusammen, der sich eine<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span> halbe
-Stunde lang mit dem Wärter eines Schimpansen unterhalten hatte und der
-nun, durch diese Auszeichnung geschmeichelt, wie auf Stelzen ging.</p>
-
-<p>Natürlich zögerte er nicht, seine eben erworbenen Kenntnisse der
-Cousine brühwarm zu unterbreiten. Und über Schimpansen, Gorillas und
-Orang-Utans redend wie ein berühmter Zoologieprofessor, schlenderte er
-mit ihr weiter und hörte erst mit Reden auf, als er mit ihr vor dem
-Vogelkäfig stand und an ihren begeisterten Ausrufen hörte, daß sie
-seine ganze Affenweisheit kalt ließ.</p>
-
-<p>„Ach, wie schön,“ rief sie, „ach, wie schön! hätten wir doch nur
-zwanzig von diesen Vögeln. Mit zehn wäre ich auch zufrieden. Ach, am
-schönsten wäre es doch, die Türe plötzlich zu öffnen und alle Vögel
-herauszulassen,“ meinte sie. „Sicher würde Hans das auch sagen.“</p>
-
-<p>Aber wo war ihr Bruder? Mit einem Male fiel ihr ein, daß sie ihn schon
-eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte.</p>
-
-<p>„Wo ist Hans wohl?“ wandte sie sich an Theobald.</p>
-
-<p>„Ach, der gafft sicher irgendwo durch ein Gitter und sammelt
-Kenntnisse.“</p>
-
-<p>Noch hatte der Knabe nicht ausgeredet, da bekam sein Gesicht einen
-gespannten Ausdruck.</p>
-
-<p>In der Ferne hatte er lautes Schelten gehört. Er lauschte
-angestrengter. Die Stimmen wurden lauter. „Scht,“ mahnte er, „ist das
-nicht Hans?“</p>
-
-<p>Nun horchte Suse auch hin. Und im nächsten Augenblick eilten beide auf
-die Richtung zu, aus der der Lärm kam. &mdash; Sie glaubten, Hans rufen
-gehört zu haben.</p>
-
-<p>Nach einigen Sekunden sahen sie einen seltsamen Aufzug um die Ecke
-biegen: die beiden schwarzen Frauen kamen in großer Aufregung daher.
-Christoph und Henner hefteten sich gestikulierend wie Volksaufwiegler
-an ihre Fersen. Toni und die Fremdlinge redeten aufeinander ein, und
-mitten zwischen ihnen ging stolz wie ein Leu der Wärter und schleppte
-Hans am Rockkragen neben sich her.</p>
-
-<p>Mit verstörten Augen blickte der kleine Knabe um sich und schwebte alle
-paar Schritte, durch einen Ruck seines Führers aufgehoben, über den
-Erdboden dahin.</p>
-
-<p>Suse glaubte bei diesem Anblick, die Erde tue sich auf, und stand
-einige Augenblicke wie versteinert. Dann lief sie schnell auf ihren
-Bruder zu, packte ihn bei der Hand und rief: „Was ist denn? Was ist
-denn? Ach, Hans! Ach, Hans!“</p>
-
-<p>„Ach, bitte, bitte,“ wandte sie sich an den Wärter, „lassen Sie Hans
-los. Weshalb halten Sie ihn so fest?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span></p>
-
-<p>„Ja, Sie reißen ihm ja den Arm ab,“ rief nun Theobald, und schon war
-er mitten im Gewühl drin und fragte unerschrocken, was sein Vetter
-eigentlich verbrochen habe, daß er wie ein wildes Tier durch den
-Zoologischen Garten geschleift würde.</p>
-
-<p>Da rief der Mann, dem die Galle anscheinend überlief, Hans habe dem
-schönsten und teuersten Kamel des Zoologischen Gartens Sand in die
-Augen geworfen. Das Tier werde sicher blind. &mdash; Es sei eine unerhörte
-Frechheit. &mdash; Und mit einem Blick auf Theobald, der herausfordernd
-dastand, erklärte er, Theobald sähe übrigens aus, als brächte er auch
-so was fertig.</p>
-
-<p>Der Knabe wich ein paar Schritte zurück und murmelte: „Unverschämtheit
-sondersgleichen!“</p>
-
-<p>Suse aber weinte bitterlich und sagte: „Hans hat noch keinem Tier was
-zuleid getan. Nie, nie hat er einem Tier was Böses getan.“</p>
-
-<p>Jedoch die Fremdlinge und ihre schwarzen Begleiter nickten fortwährend
-und sagten: „Ja, ja, er hat’s getan.“</p>
-
-<p>„Bist du’s gewesen?“ fragte da Theobald in wohlabgemessener Entfernung
-von dem Wärter seinen Vetter.</p>
-
-<p>Hans antwortete nicht.</p>
-
-<p>Da faßte der Frager kurz entschlossen seines fremden Vetters Jose
-Hand und streckte sie dem Wärter mit den Worten hin: „Sehen Sie, Herr
-Wärter, dem seine Hand ist ganz voll Sand. Der Lügner hat’s getan,
-nicht der andere.“</p>
-
-<p>„Mach, daß du fortkommst, stoppelhaariger Dickkopf!“ fuhr ihn der
-Wärter an, „oder du gehst auch mit.“</p>
-
-<p>In ein paar Sprüngen war Theobald um die nächste Ecke. Der wütende Mann
-aber verschwand mit Hans und seinen Zeugen, den Fremdlingen, auf der
-Direktion.</p>
-
-<p>Lange, bange Augenblicke verstrichen für die Zurückbleibenden. Toni und
-der wiederkehrende Theobald hatten Mühe, Suse zu hindern, ihrem Bruder
-zu folgen.</p>
-
-<p>„Es geschieht Hans doch nichts, kein Mensch rührt ihn an,“
-beschwichtigte Toni immer wieder. Theobald hingegen machte seinen
-Gefühlen in lauten Worten Luft.</p>
-
-<p>„So eine Gemeinheit wie heute hab’ ich doch noch nie gesehen,“ rief
-er. „Pfui! Pfui! &mdash; Unser Vater sagt immer, wir sind das furchtbarste
-Unkraut, das es gibt. Wir färbten auf alle ab. &mdash; Aber so was brächten
-meines Vaters Kinder doch nicht fertig! Nein, gemein wären wir nie!“</p>
-
-<p>„Weißt du, Henner, mit meinem Eichhörnchen hat Jose dasselbe Experiment
-gemacht,“ wandte er sich an seinen Bruder. „Seit dem Tage, als er es
-mit Sand geworfen, hat’s kranke Augen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span></p>
-
-<p>„Ja, ja,“ riefen seine Brüder und brachen in ein wildes Rachegeschrei
-aus.</p>
-
-<p>Während die Kinder nun so in einer sich immer steigernden Aufregung
-durcheinander redeten, war drüben an der Einzäunung, hinter der das
-Rehwild stand, schon eine Weile ein junger Mann zu sehen gewesen, der
-aufmerksam nach dem erregten Häuflein herübergeschaut hatte. Seiner
-Tracht und seiner sehnigen Gestalt nach zu urteilen, gehörte er den
-Gebirgsbewohnern an.</p>
-
-<p>Jetzt, als Suse auf wenige Sekunden die Hände von den Augen ließ, so
-daß ihr Gesicht voll zu erkennen war, nickte er mehrmals befriedigt vor
-sich hin und ging dann geradewegs auf sie zu.</p>
-
-<p>„Guten Tag,“ sagte er, vor ihr stehen bleibend. „Gelt, du bist doch
-Doktors Suse? Ich hab’ mir doch gleich gedacht, das ist Doktors Suse.“</p>
-
-<p>Das kleine Mädchen sah den fremden Mann groß an und wußte einige
-Augenblicke lang nicht, wen sie vor sich hatte.</p>
-
-<p>Aber mit einemmal ging es wie ein Erwachen über ihre Züge; ihre Augen
-strahlten, und sie rief glückselig: „Ach, das ist ja Philipp. Wo kommst
-du her, Philipp? Ach, wie freu’ ich mich! &mdash; Das ist Martins Bruder,“
-sagte sie zu den andern, „sein ältester Bruder Philipp, der ihm die
-schönen Geschenke macht. &mdash; Weißt du, Theobald? du kennst Martin ja
-auch. &mdash; Wie schön, daß du da bist, Philipp,“ rief sie jetzt dem Freund
-aus der Heimat zu.</p>
-
-<p>Der junge Mann hielt etwas verlegen des kleinen Mädchens Hand noch
-immer in der seinen, wußte nicht recht, was damit anfangen und sagte in
-einem fort: „Wie geht’s denn, Suse, geht’s gut? Geht’s gut?“</p>
-
-<p>Das kleine Mädchen antwortete nicht. Sie sah mit immer leuchtenderen
-Augen in sein Gesicht. &mdash; Er war ja von daheim, von zu Hause, wo er
-alles kannte, die Eltern und Michel und Rosel und Christine und den
-Wald und die Berge und das Doktorshaus und den Garten, alles, alles.
-Sie meinte im Augenblick, er sei ihr Bruder. &mdash; Sie wollte ihn nicht
-mehr los lassen.</p>
-
-<p>„Wie geht’s dir denn, Philipp?“ fragte sie schließlich, als sie sich
-wieder gefaßt hatte. „Und wie geht’s deiner Mutter? und was macht
-Martin? hat er uns nicht grüßen lassen?“</p>
-
-<p>Verwundert sah der junge Mann sie an und fragte dann: „Ei, hör’ mal,
-Suse, weißt du denn nicht, daß ich schon viel länger von zu Hause fort
-bin, als ihr zwei? Bald zwei Jahre?“</p>
-
-<p>&mdash; „Ach ja, ach ja!“</p>
-
-<p>Suse hatte es in ihrer Aufregung nur ganz vergessen. Jetzt fiel ihr
-wieder ein, daß Philipp als Holzflößer hinunter in das Tal gezogen war
-und auf einem Lastkahn auf dem Kanal Beschäftigung gefunden haben<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span>
-sollte, wie Martin ihr und Hans erzählt hatte. &mdash; Wie hatte sie nur so
-dumm sein können, es zu vergessen! Hans pflegte ja stets mit Martin die
-Wochen und Monate auf dem Kalender anzustreichen, die der Bruder des
-armen Krüppels noch in der Fremde zu verbringen hatte.</p>
-
-<p>„Schon zwei Jahre bist du fort von daheim?“ fragte Suse nun mit
-Bedauern in der Stimme. &mdash; „Oh, wie lang! Konntest du es so lange
-aushalten, Philipp? Das könnte ich nicht aushalten. Hast du denn kein
-Heimweh gehabt?“</p>
-
-<p>„Das schon,“ meinte Philipp, „aber man hat halt viel zu tun, und da
-vergißt man das Heimweh. Und dann denkt man auch immer, die Zeit geht
-herum. &mdash; Jetzt noch zwei bis drei Wochen, dann bin ich wieder zu
-Hause.“</p>
-
-<p>„Vor Pfingsten schon?“ fragte Suse.</p>
-
-<p>Er nickte.</p>
-
-<p>„Wie schade!“ rief das kleine Mädchen, „wenn du doch noch ein wenig
-warten würdest, könnten wir die Reise zusammen machen. Pfingsten gehen
-wir auch nach Hause. Denke dir, wie schön es wäre, wenn wir alle drei
-zusammen ankämen. &mdash; Martin will uns abholen. Weißt du dort auf dem
-Rain, wo der Weg aus dem Walde kommt, dort wartet er schon am Mittag,
-wenn wir auch erst um fünf Uhr kommen. Er hat’s gesagt, und das letzte
-Stück fährt er in der Postkutsche mit uns.“</p>
-
-<p>Hier sah sich Philipp forschend um und fragte ganz erstaunt: „Wo ist
-denn Hans? Er ist doch nicht krank? Fehlt ihm was? Er ist doch auch mit
-dir hier zum Lernen?“</p>
-
-<p>Da verdunkelte sich Susens Gesicht aufs neue, und sie erzählte
-bitterlich weinend alles, was sich zugetragen hatte. Und plötzlich
-kam Leben in den stillen, zurückhaltenden Gebirgsbewohner, und er
-rief blitzenden Auges: „Ist der Bursch, der mit Sand geworfen hat,
-vielleicht so ein kleiner Knirps, dünn wie ein Wollfaden, der mit den
-beiden schwarzen Weibsgestellen da herumläuft? Himmelsapperment, den
-hab’ ich vorhin gesehen, wie er einem Affen einen kleinen Stein an den
-Kopf geworfen hat. Da hab’ ich mir gesagt, jetzt noch ein Wurf, und du
-langst ihm eine, daß ihm der Hut vom Kopfe fliegt. &mdash; Wo ist er?“</p>
-
-<p>„Da drin,“ rief Theobald, auf das Gebäude der Direktion deutend. Und
-Philipp sprang in großen Sätzen geradeswegs auf die Eingangstüre des
-Hauses zu.</p>
-
-<p>Theobald eilte in gleichen Schritten hinterdrein, kehrte aber wie der
-Wind wieder um, als er im Vorraum des Gebäudes plötzlich die Stimme des
-Wärters hörte.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Nun währte es nicht mehr lange, da kam auch die übrige Gesellschaft
-wieder zum Vorschein. Allen voran schritt Philipp, Hans an der Hand<span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span>
-haltend. Des jungen Mannes Augen blitzten wie die eines Siegers.
-Trotzdem hatte er wenig ausrichten können. Der Wärter und die
-Fremdlinge hatten eben zu fest auf ihrer Behauptung bestanden, Hans sei
-der Missetäter, als daß er etwas dagegen hätte tun können. &mdash; Aber die
-Sache sollte noch einmal untersucht werden, hatte ihm einer der Beamten
-versichert. &mdash; Inzwischen sollte erst mal abgewartet werden, ob das
-Kamel überhaupt erblinde. &mdash; In diesem Falle werde es Hans zugesprochen
-werden, und der müsse fünftausend Mark dafür bezahlen. &mdash; Natürlich
-gehöre das Tier dann ihm.</p>
-
-<p>Nachdem Suse und ihre kleinen Verwandten das Urteil vernommen hatten,
-trennten sie sich voneinander, Toni, um mit ihren jüngeren Brüdern in
-die Villa Granada zu gehen und Liselotte abzuholen, Theobald, um mit
-Philipp und den Doktorskindern ihre Wohnung aufzusuchen.</p>
-
-<p>Suse wich auf dem ganzen Weg dorthin nicht von Philipps Seite. &mdash; Die
-Aussichten, die Hans auf Freisprechung hatte, mußten mit dem Freund
-aus der Heimat eingehend beredet werden. &mdash; „Es wird schon alles gut
-werden, es wird schon alles gut,“ tröstete jener immer wieder. &mdash; Dann
-sprachen die beiden zusammen über Martin und sein Leiden. Von einem
-künstlichen Bein, das Hans und sie dem armen, verkrüppelten Freund
-dermaleinst schenken wollten, wenn sie genügend Geld zusammen hätten,
-plauderte Suse. Auch von Martins Fertigkeit im Schnitzen. &mdash; Einen
-wunderschönen Nähkasten habe er neulich ihrer Mutter geschnitzt, und
-jetzt gedenke er ein Kreuz für die Kirche anzufertigen, erzählte sie.</p>
-
-<p>Mit stillem Stolz hörte Philipp ihren Lobpreisungen zu.</p>
-
-<p>Theobald aber spielte derweil Erzieher bei Hans und rief, ihn am Arm
-schüttelnd: „Ich hab’ gemeint, ihr seid schon daheim hier und wißt,
-wie ihr euch zu benehmen habt. Aber läßt man euch mal aus den Augen,
-wupp, da habt ihr auch schon ein Kamel am Bein und sollt noch außerdem
-fünftausend Mark dafür auf den Tisch des Hauses legen! Wie auf die
-Wickelkinder muß man auf euch aufpassen! Gräßlich! Man läßt sich doch
-nicht so einfach von jedem Lügenbold sagen, daß man was getan hat, wenn
-es nicht wahr ist. Wozu hat man denn seine männliche Faust? Doch nicht
-dazu, daß man sie in die Tasche steckt, sondern daß man damit um sich
-boxt. Verstanden?“</p>
-
-<p>„Ja!“ sagte Hans kleinlaut.</p>
-
-<p>Vor dem Haus der Frau Cimhuber bat Suse ihren Landsmann eindringlich,
-doch ein wenig mit hinauf zu gehen und Frau Cimhubers Wohnung
-anzusehen, damit er allen Freunden und Bekannten daheim erzählen könne,
-wie fein sie wohnten. &mdash; Sie hätten nämlich auch eine Negerstube.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span></p>
-
-<p>Doch Philipp drückte den Hut tiefer in die Stirn und meinte verlegen,
-der Pfarrfrau sei es sicher nicht angenehm, wenn ihr ein fremder Mann
-die Stuben voll Schmutz trage. &mdash; Drum wolle er sich mit ihnen lieber
-an einem dritten Ort noch einmal treffen. &mdash; Einen Tag bliebe er
-voraussichtlich noch hier. So verabredeten die drei aus Schwarzenbrunn
-denn eine Zusammenkunft für den andern Morgen bei der roten Brücke, wo
-Philipps Kahn lag, nicht weit von Frau Cimhubers Wohnung.</p>
-
-<p>Nachdem diese Verabredung getroffen war, verabschiedete sich die
-Gesellschaft voneinander.</p>
-
-<p>Und nun wurde es den Geschwistern mit einemmal wieder recht beklommen
-zu Sinn.</p>
-
-<p>Jetzt hieß es ja, Frau Cimhuber beichten, was sich zugetragen hatte.</p>
-
-<p>Zurzeit saß die Pfarrfrau gerade strickend in der Negerstube und sagte
-so recht voll Behagen zu Ursel: „Nun müssen die Kinder bald kommen.
-Ich freu’ mich schon. Es ist so schön, wenn ihre Augen blitzen und sie
-erzählen. &mdash; Die Jugendzeit kehrt mir wieder ins Gedächtnis zurück.
-&mdash; Sie haben solch eine lebendige Auffassungsgabe für alles und ein
-wirkliches Erzählertalent. Nicht wahr?“</p>
-
-<p>&mdash; Da klingelte es schüchtern.</p>
-
-<p>Die alte Magd ging zur Tür, öffnete, sah zwei kreideweiße Nasen,
-stutzte und schob die beiden Pechvögel stracks vor das Antlitz ihrer
-Herrin. „Ich will gar nichts hören, ich seh’ schon genug,“ sagte sie.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber nahm langsam ihre Brille ab und schaute die Kinder
-erwartungsvoll an. &mdash; Da standen sie nun.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Und Suse begann zu erzählen, und je mehr sie erzählte, um so
-jämmerlicher wurde ihr Ton, und um so größer wurden ihrer Pflegmutter
-Augen; schwer sanken ihre Hände in den Schoß, und zuletzt stieß Suse
-schluchzend hervor: „Und der Herr Direktor hat gesagt, Hans bekommt das
-Kamel. Es kostet fünftausend Mark. Es kommt hierher. Morgen vielleicht
-schon. Wir dürfen’s behalten.“</p>
-
-<p>„Was sagst du da? Ich versteh’ nicht recht!“ sagte Frau Cimhuber und
-ließ vor Schreck ihr Strickzeug samt dem Garnknäuel auf die Erde fallen.</p>
-
-<p>Da wiederholte Suse jämmerlicher als vorher: „Und da hat der
-‚Granadasohn‘ Jose ein Kamel mit Sand geworfen, Frau Pfarrer, und hat
-gesagt, Hans hat’s getan, und da hat der Direktor gesagt: Hans soll
-fünftausend Mark bezahlen und das Kamel gehört dann uns. Ganz bestimmt,
-das hat er gesagt, Frau Pfarrer. Das Kamel ist dann unser!“</p>
-
-<p>„Das ist zuviel,“ sagte Frau Cimhuber.</p>
-
-<p>Suse aber sah unentwegt nach Ursel hin, die wie verwandelt war. Sie saß
-da, die Schürze vors Gesicht gedrückt und weinte. „Ein Kamel,<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span> Frau
-Pfarrer,“ rief sie. „Lieber Gott in deinem gerechten, großen Himmel,
-ein Kamel! Wer denkt denn so was! Alles andere hätt’ ich mir eher
-träumen lassen, nur kein Kamel! Wenn das so fortgeht, weiß ich nicht,
-was noch wird. &mdash; Anständige Leute haben überhaupt kein Kamel!“</p>
-
-<p>„Vielleicht hat der Herr Edwin in Afrika eins,“ warf Suse kaum hörbar
-ein und hoffte durch diesen gescheiten Einfall Ursel umzustimmen.</p>
-
-<p>Aber nichts dergleichen traf ein.</p>
-
-<p>Vielmehr jammerte sie ärger als bislang weiter: „Frau Cimhuber, haben
-Sie jemals daran gedacht, daß wir noch einmal in unserem Leben ein
-Kamel bekommen werden? Ich nicht. Nur Bärenführer ziehen damit herum.“</p>
-
-<p>„Aber Ursel, beruhigen Sie sich doch!“ rief Frau Cimhuber. „Das Kamel
-ist ja überhaupt noch nicht da. Wir wissen ja noch gar nicht, ob es
-kommt.“</p>
-
-<p>„Es kommt, haben Sie keine Angst, es kommt!“ rief Ursel. „Das sag’ ich
-Ihnen aber, ich verreise, wenn es kommt. Ich will nicht sehen, wie die
-Leute die Fenster und Türen aufreißen und lachen, wenn sie’s da unten
-vor unserer Haustür stehen sehen und warten.“</p>
-
-<p>Hansens Verstörtheit nahm angesichts dieser Verzweiflung zu. Und es
-war ihm zu Sinn, als habe sich das gräßliche Tier bereits zur Tür
-hereingedrängelt und wolle nicht mehr weichen.</p>
-
-<p>Mit Suse schlich er hinaus.</p>
-
-<p>„Du brauchst keine Angst zu haben,“ sagte die Schwester, den Arm um
-ihren Bruder schlingend. „Du hast das Kamel nicht geworfen, und deshalb
-darf dir auch keiner was tun.“</p>
-
-<p>„Wenn sie’s aber doch glauben, daß ich es gewesen bin.“</p>
-
-<p>„Aber sag’ mal, Hans,“ meinte hier Suse vorwurfsvoll. „Weshalb hast du
-denn nicht gleich gesagt, daß du’s nicht gewesen bist?“</p>
-
-<p>„Ich hab’ mich so geschämt,“ sagte er leise, „wie sie so gelogen haben.
-&mdash; Ich habe kein Wort sagen können vor Schreck, Suse. &mdash; Die lügen ja,
-Suse! Die lügen!“</p>
-
-<p>„Aber Hans, wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen,“ mahnte die
-Schwester. „Das hat auch Theobald gesagt. Wenn wir recht haben, dürfen
-wir auch sagen, daß wir recht haben.</p>
-
-<p>Du hättest überhaupt nicht bei dem gräßlichen Jose stehen bleiben und
-zugucken dürfen, daß er geworfen hat. Du hättest weitergehen sollen.“</p>
-
-<p>„Ich bin gar nicht stehen geblieben. Sieh, Suse, ich bin gerade dazu
-gekommen, wie er das Kamel geworfen hat. Und wie es vor Schreck mit den
-Augen gezwinkert hat, hat er gelacht. Da hab’ ich ihm gesagt: Laß das
-sein, das tut ihm weh!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span></p>
-
-<p>Da sind alle miteinander wütend geworden, am wütendsten die schwarzen
-Frauen, und haben gesagt: Geh fort, du hast uns hier nichts zu sagen.
-Du und Suse, ihr seid beide schmutzig und arm.“</p>
-
-<p>„Was?“ rief Suse blitzenden Auges und kirschrot vor Zorn. „Das haben
-sie gesagt? Oh, wie häßlich!</p>
-
-<p>Das sind die gräßlichsten Menschen auf der ganzen Welt. Und wir sind
-viel sauberer als sie. Und wir baden uns jeden Tag. Und das schreib’
-ich jetzt alles dem Vater und der Mutter hin, und der Vater soll ihnen
-die Wahrheit sagen. Und sie sollen so Angst bekommen, so Angst, daß sie
-sich gar nicht mehr aus ihrem Garten ’raus trauen.“ Und die Rede der
-Fremdlinge wurmte Suse so, daß sie heute abend an nichts anderes mehr
-denken konnte, sondern mit dem Gedanken daran ihr Lager aufsuchte.</p>
-
-<p>Hans drehte und wendete sich des Nachts unter Stöhnen hin und her. Suse
-merkte nichts davon.</p>
-
-<p>Am andern Morgen ganz früh waren die beiden schon wach und rüsteten
-sich für ihren Gang zu Philipp. Frau Cimhuber und Ursel waren mit
-dem Vorhaben der Kinder einverstanden, denn alle Schritte, die Hans
-in seinem Abenteuer mit dem Kamel von Vorteil sein konnten, sollten
-gefördert werden.</p>
-
-<p>Besonders Ursel drängte zum Aufbruch.</p>
-
-<p>„Die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, gerad’ zusammengeschlagen
-bin ich,“ jammerte sie. „Kein Auge hab’ ich zutun können. Leibhaftig
-hab’ ich das Kamel vor mir gesehen.“</p>
-
-<p>Die Kinder waren derartig mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, daß
-sie Ursels Klagen kaum verstanden! Schnell packten sie ein schönes
-Notizbuch sowie einen Bleistift für Martin zusammen und traten schon
-um halb sieben Uhr vor die Haustür. Quer liefen sie über die Straße
-hinüber zum Ufer des Kanals, um an ihm entlang den Weg auf die rote
-Brücke zu nehmen.</p>
-
-<p>Suse war so ausgelassen und froh heute, wie sonst nur auf ihren
-Schulwegen daheim. Sie warf den Kopf in den Nacken und rief dem
-strahlenden Himmelsgestirn über sich voll Übermut zu: „Brenn’ mich ins
-Gesicht, liebe Sonne, brenn’ mich, es macht mir nichts. Heute macht’s
-mir nichts.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Gedörrte Zwetschgen und Apfelschnitzen will Philipp uns schenken,“
-fuhr sie dann eifrig zu ihrem Bruder fort. „Er hat’s mir gestern
-versprochen. Er hat noch welche von zu Hause. Gestern hat er gesagt, er
-will uns heute welche geben.“</p>
-
-<p>„Oh, wie freu’ ich mich,“ rief Hans, „die mag ich ja so gern.“</p>
-
-<p>Die beiden eilten schneller als bislang vorwärts. Nur zehn Minuten<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span>
-hatten sie noch bis zum Ziel ihrer Wanderung. Je näher sie ihm kamen,
-desto aufgeregter wurden sie. Zuletzt sprachen sie kaum noch ein Wort.
-Ihre Blicke richteten sich gespannt geradeaus. Jetzt tauchte das
-Gemäuer der roten Brücke auf und die eisernen Lichterträger an ihren
-Enden. Jeden Augenblick mußte jetzt ihres Freundes Philipp hohe Gestalt
-dort zu sehen sein. Sicher wartete auch er schon voll Ungeduld auf
-seine Landsleute. Nur noch ein paar Schritte, dann standen sie am Ziel.
-Doch enttäuscht sahen sie sich um. &mdash; Kein Philipp war zu sehen, und
-am Ufer lag sein Kahn nicht mehr. Weithin auf und nieder konnten sie
-über das Wasser des Kanals sehen, aber kein Lastkahn schwamm auf seinen
-toten Fluten. Nur der Sonnenschein spielte darauf, und der Strahlen
-Blinken traf zuweilen wie spitze Nadeln die Augen der Kinder.</p>
-
-<p>Keines von den Geschwistern sprach ein Wort. Traurig sah Suse auf
-Martins Geschenk und dachte bei sich, daß Philipp wohl im Morgengrauen,
-als alle noch schliefen, an Frau Cimhubers Haus vorübergefahren sei und
-keinen Gruß in die Heimat mitgenommen habe.</p>
-
-<p>Minutenlang verharrten die beiden so in gedrücktem Schweigen, bis Hans
-schließlich leise sagte: „Er ist fort.“</p>
-
-<p>Suse nickte mit Tränen im Auge. Wieder verfielen die beiden in
-Stillschweigen. Dann zupfte Hans plötzlich seine Schwester am Ärmel
-und zeigte auf ein paar Arbeiter, die am Rande des Kanals standen und
-Steine aufschichteten.</p>
-
-<p>„Wollen wir die nicht fragen, ob sie nicht wissen, wann Philipp fort
-ist?“ meinte er schüchtern.</p>
-
-<p>Suse stimmte ihm zu.</p>
-
-<p>Und er ging langsam von der Kanalbrücke herab auf eine Treppe zu, die
-von dem hochaufgebauten Straßendamm hinunter zum Kanal führte. Suse
-folgte ihrem Bruder herzklopfend und hörte, wie er den Arbeitern, die
-hemdsärmelig und sich laut unterhaltend, am Ufer verweilten, seinen
-Morgengruß bot.</p>
-
-<p>Jene hielten mit Arbeiten inne und hörten dem Anliegen zu, das er
-ihnen vorbrachte. Der eine von den Leuten, ein stämmiger und verwegen
-aussehender Geselle, nickte mehrmals zu Hansens Reden. Und plötzlich
-spie er einen Mund voll ausgekauten Priemtabaks scharf über Hansens
-Kopf weg, mitten in die Steine hinein, worauf er, auf Suse deutend,
-fragte: „Gehört die zu dir?“</p>
-
-<p>Das kleine Mädchen fuhr erschreckt zusammen und nickte mehrmals aus der
-Ferne.</p>
-
-<p>„Dann stimmt’s mit euch,“ meinte der Riese da vor ihnen in
-versöhnlichem Ton. &mdash; „Dann gehört ihr dem Doktor aus Schwarzenbrunn?
-So ist’s doch? Gelt?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span></p>
-
-<p>„Ja,“ riefen beide.</p>
-
-<p>„Dann kommt mal her. &mdash; Einer von denen, die heute morgen mit dem Kahn
-fort sind, hat gesagt, es kommt ein Bub und ein Mädchen, die gehören
-dem Doktor aus Schwarzenbrunn. &mdash; Das seid ihr doch, gelt? Denen soll
-ich ein Säckchen voll Apfelschnitzen und Zwetschgen geben.“ &mdash; Damit
-griff er in eine Höhlung zwischen den Steinen und holte einen karierten
-Beutel hervor. Über Susens Gesicht ging ein Leuchten, als sie des
-Säckchens ansichtig wurde. Solche karierten Beutel hatten ja alle Leute
-von daheim. Christine und die Eltern von Susens Freundin und Rosel,
-alle, alle. Darin nahmen sie ihr Vesperbrot mit, wenn sie zur Arbeit
-aufs Feld gingen.</p>
-
-<p>„Da nehmt,“ sagte jetzt der Mann, indem er ihnen das Säckchen
-reichte und abermals einen Strahl Tabaksbrühe pfeilgerade zwischen
-Hans und Suse durchschickte. &mdash; „Ich soll euch von dem Philipp aus
-Schwarzenbrunn sagen,“ fuhr er fort, „daß er eure Grüße daheim
-ausrichtet. Er mußte schon früher fort, als er gemeint hat.“</p>
-
-<p>„Danke, danke vielmals,“ rief Suse, und griff nach dem Beutel, in
-dessen straffgespannter Leinwand die Form der getrockneten Früchte
-deutlich zu erkennen war.</p>
-
-<p>„Und wann ist der Kahn fortgefahren? Wissen Sie es noch?“ fragte sie,
-„bitte, bitte.“</p>
-
-<p>„Oh, so eine Stunde,“ meinte einer von den Männern.</p>
-
-<p>„Dann holen wir ihn noch ein,“ jubelte Suse. „Komm, Hans, komm. Martins
-Geschenk soll er ja auch noch mitnehmen.“</p>
-
-<p>Und nachdem die Kinder die Richtung erfahren hatten, die der Kahn
-eingeschlagen hatte, liefen sie davon. Die rote Brücke lag an den
-Grenzen der Stadt, und so kam es, daß sie das Häusermeer bald hinter
-sich hatten. Nur vereinzelte Villen trafen sie noch auf ihrem Wege.
-Doch auch die blieben binnen kurzem hinter ihnen zurück, und sie waren
-im Freien.</p>
-
-<p>Nachdem sie eine halbe Stunde, mehr laufend als gehend, zurückgelegt
-hatten, blieb Hans plötzlich stehen und erklärte, er sei zu müde, um
-weiter zu rennen. Auch Suse hielt erschöpft im Laufen inne.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Drei Kähne hätten sie schon angetroffen, meinte Hans, und auf keinem
-wäre Philipp gewesen. &mdash; Wer wisse, ob er vielleicht nicht doch auf
-einem gewesen sei und sie hätten ihn nur nicht erkannt.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Wir kennen seinen Kahn ja gar nicht,“ erklärte er. „Und wir können
-doch nicht nach jedem Kahn hinüberrufen, ist der Philipp dort?“</p>
-
-<p>Eine Weile blieb Suse nachdenklich stehen, und dann kam auch ihr
-die Einsicht, daß es Torheit sei, weiter zu laufen. So schlug sie
-denn ihrem Bruder vor, eine kleine Rast am Wege zu nehmen. Er war’s
-zufrieden, und beide setzten sich unter einem Pappelbaum auf der<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span>
-grünen Böschung nieder, die zum Kanal hinabführte, und sie fanden es
-sehr schön hier. Niemand störte sie. Tiefe Stille herrschte ringsumher.
-Nur die Blätter der Pappel über ihnen schüttelte leise der Wind, und es
-hörte sich an wie Regenrauschen. Doch nur das helle Sonnengold rieselte
-durch die Zweige zur Erde nieder, wo die Kinder saßen.</p>
-
-<p>Drüben auf der andern Seite des Kanals war eine hohe Parkmauer zu
-sehen. Schwere Buchenzweige hingen darüber. Eine kleine Tür führte aus
-der Mauer zum Wasser hinab. Sicher wohnten dort auch Leute, die ein
-so schönes Haus hatten wie die Granadakinder, durchschoß es Suse. Und
-vielleicht, vielleicht waren auch sie so lieblos und unfreundlich.</p>
-
-<p>Doch sie hatte keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn Hans
-hatte bereits den karierten Beutel geöffnet und ihr den ganzen Inhalt
-in den Schoß geschüttet. &mdash; Apfelschnitze und Birnen lagen kunterbunt
-vor ihren Augen und lachten sie verführerisch an.</p>
-
-<p>„Viel, viel schöner sind sie als die, die uns Ursel kocht,“ meinten
-beide und langten tüchtig zu. Dann teilten sie den Rest in zwei gleiche
-Hälften, eine für Hans, die andere für Suse. &mdash; Gretel und Peter in der
-Schule sollten auch ihr Teil davon bekommen.</p>
-
-<p>Als sich die Kinder nun eine gute Weile ausgeruht hatten, dachten sie
-endlich daran, daß es Zeit sei, in die Stadt zurückzuwandern. Zuvor
-aber faltete Suse schnell noch einmal das Papier auseinander, das
-Martins Geschenke enthielt, betrachtete sie mit seitlicher Kopfhaltung
-zärtlich und sagte leise, indem sie vorsichtig darüber streichelte:
-„Wunderschön.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Wir bringen es Martin mit, wenn wir nach Hause gehen,“ meinte sie halb
-zu Hans gewandt, halb sich selbst zum Trost.</p>
-
-<p>Der Bruder stand auf und steckte seinen karierten Beutel in den Ranzen.
-Dann setzte sich das Geschwisterpaar in Bewegung der Stadt zu.</p>
-
-<p>In der Schule, wo Hans mit Theobald und seinen Geschwistern
-zusammentraf, wurden die Ereignisse des gestrigen Tages mit größter
-Erbitterung durchgesprochen. Unternehmungslustig und rachelüstern
-glänzten die Augen der Vettern wie die von Banditen. Sie hatten
-sich einen Plan zu Hansens Rettung ausgesonnen. Wie das Licht des
-Tages sollte seine Unschuld glänzen, erklärten sie und forderten den
-Pechvogel deshalb auf, sich um drei Uhr mit Suse am Kriegerdenkmal
-einzustellen. Dort sollte er alles erfahren.</p>
-
-<p>„Die Fremdlinge sollen vor uns zittern wie die Hasen,“ riefen sie, „die
-Kinnbacken sollen ihnen schlottern, die Knie sollen ihnen einknicken,
-das Herz soll ihnen in die Hosen rutschen, alles durch unsere tipp
-toppe Umsicht.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span></p>
-
-<div class="figcenter">
- <a id="p093" name="p093">
- <img class="mtop2 mbot2" src="images/p093.jpg"
- alt="Rast unter einer Pappel" /></a>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span></p>
-
-<p>Daheim trafen die kühnen Rettungsengel dann emsig Vorbereitungen zu den
-Taten des Nachmittags. In einer Geheimsprache klärten sie zuerst die
-Schwester und Vertraute Toni über ihre Absichten auf, und nach Tisch
-verschwanden sie in wilder Flucht im Garten.</p>
-
-<p>Wieserl, der kleine, kugelrunde Knirps, ihr jüngstes Schwesterchen,
-das Mühe hatte, auf seinen dicken, kurzen Beinen zu stehen, stolperte
-hinterdrein, um auch ihr Teil an der allgemeinen Aufregung zu haben.
-Sie fiel der Länge nach mitten auf dem Kiesweg hin und lag schreiend
-und zappelnd dort. Dann raffte sie sich wieder auf und setzte die
-Verfolgung fort.</p>
-
-<p>Schließlich, als sie einsah, daß all ihr Laufen nichts nützte, kehrte
-sie wieder um.</p>
-
-<p>„Mutter, Vater,“ sprudelte sie hastig heraus, „der Jockel... und der
-Jockel... und in den Korb gesetzt, und Stroh und Heu... und alle fort,
-aus der Gartentür... der Jockel in dem Korb, und der Jockel und alle
-haben sie einen Stock. &mdash; Und ade, Wieserl, haben sie gesagt, und Toni
-hat geweint.“</p>
-
-<p>Der Vater schüttelte seinen Kopf. Er hätte ihn aber noch viel mehr
-geschüttelt, hätte er jetzt schnell mal einen Blick auf seine
-Sprößlinge werfen können.</p>
-
-<p>Beim Kriegerdenkmal standen sie, Hans und Suse in ihrer Mitte, und
-sahen begeistert zu ihrem Führer Theobald auf, der wie ein Held auf
-der zweiten Stufe des Denkmals stand und einen Korb im Arm hielt.
-Er redete: „Geliebte Freunde, ihr wißt, hier drin im Korb sitzt der
-Jockel, unser Eichhörnchen. Der soll uns heute aus Not und Gefahr
-erretten. Ihr wißt, zweimal hat diesen armen Jockel der miserable
-Granadasohn Jose mit Sand geworfen. &mdash; Also hat er auch das Kamel
-geworfen. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. &mdash; Wer
-das Eichhörnchen mit Sand wirft, wirft auch das Kamel, darum schreiten
-wir jetzt zur Rache. Wir lassen uns zuerst bei dem Onkel Gustav in der
-Villa Granada melden. Ihr haltet euch höflich im Hintergrund. Ich rede.
-Erst kommt die Geschichte von dem Kamel daran, darauf die mit unserem
-Jockel. Auf ein Zeichen von mir trittst du, Henner, vor, öffnest den
-Deckel von dem Korb und hebst das kranke Eichhörnchen ihm entgegen.</p>
-
-<p>Das wird ihn an die Wand werfen. Er wird blaß werden bis in die Lippen
-und an die Schuld seiner nichtsnutzigen Söhne glauben.</p>
-
-<p>Dies wäre Fall Nummer eins.</p>
-
-<p>Nun kommt Fall Nummer zwei. Das wäre, wenn der Onkel nicht da wäre.
-Also ist er nicht da, so müssen wir die Granadasöhne in das große
-Billardzimmer bitten, dort haben wir Platz und können uns umdrehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span></p>
-
-<p>Zuerst verlangen wir kurz und bündig, daß Jose seine Schuld bekennt.
-Ganz gemäßigt werde ich sein. Sagt er die Wahrheit nicht, so öffnest
-du, Henner, auf ein Zeichen meiner Hand den Korb. Schweigend gehen
-meine Blicke zwischen dem Eichhörnchen und den Granadasöhnen hin und
-her. Kein Wort fällt. Macht dies alles nun noch keinen Eindruck, so tut
-ihr das Eichhörnchen hübsch in seinen Korb zurück. Und nun beginnt der
-Kampf. Auf ein Zeichen von mir schreiet ihr alle: „Hurra, hurra, Rache,
-Verderben den Lügnern, den Feiglingen!“ Und dann fallen wir über sie
-her und klopfen sie windelweich, bis sie die Wahrheit bekennen. Dann
-ziehen wir uns befriedigt zurück.</p>
-
-<p>Es wird ein harter Kampf werden. Wir sind vier gegen drei. Die zwei von
-ihnen sind aber viel älter als wir und glatt wie die Aale. &mdash; Ich habe
-mir aber schon gestern und heute die japanische Boxermethode angesehen.
-&mdash; Feines Buch. &mdash; Kostet zehn Pfennig. &mdash; Ich werde mich bewähren.</p>
-
-<p>Es kann auch sein, daß sich das ganze Haus dazwischen wirft. Aber
-aushalten! Verstanden!“</p>
-
-<p>Die Knaben nickten.</p>
-
-<p>Toni und Suse standen zitternd daneben.</p>
-
-<p>„Theobald,“ flehte die erstere, „laß uns doch auch mitgehen, wie die
-Feiglinge können wir doch unmöglich draußen stehen bleiben.“</p>
-
-<p>„Ausgeschlossen,“ erklärte Theobald streng. „Der Vater will nicht mehr,
-daß ihr die Raufereien mitmacht. Auch die Großmutter hat geweint,
-als sie uns das letztemal besucht hat und gesehen hat, wie dir der
-Henner ein Stück vom Zopf geschnitten hat und damit die Friedenspfeife
-geraucht hat. Und obendrein ist es Onkel Rudolf seine gute, geschnitzte
-Pfeife gewesen, und er sagt, man riecht’s noch jetzt zehn Schritt gegen
-den Wind. Es sei eine Barbarei.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Hier habt ihr zehn Pfennig,“ setzte er milder hinzu. „Kauft
-Verbandstoffe und wartet hinter dem Gitter der Villa auf den Gang der
-Ereignisse. Kommen wir in wilder Flucht aus der Villa, so rennt ihr mit
-uns was ihr könnet. Verstanden? Nicht umsehen. Nur rennen, rennen &mdash;
-rennen. &mdash;“</p>
-
-<p>Seufzend nickte Toni und schloß sich mit Suse dem Zug der
-Rachedurstigen an. Alle Knaben, bis auf Hans, trugen einen Stock in der
-Hand; und damit auch er bewaffnet sei, holte ihm Theobald unterwegs aus
-der Wohnung eines seiner Freunde einen derben Eichenknüppel.</p>
-
-<p>Fünfzig Jahre wäre dieser Stock schon in der Familie gewesen und hätte
-bereits dem Urgroßvater gute Dienste getan, hatte der Freund zur
-Empfehlung des Steckens gesagt.</p>
-
-<p>Hans nahm ihn dankend an.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span></p>
-
-<p>Vor dem Eingangstor der Villa Granada verabschiedeten sich die Knaben
-von den Mädchen. Die bewaffnete Schar drang nun in den Garten ein,
-vorüber an dem kleinen efeubesponnenen Pförtnerhäuschen, dessen
-Bewohner ihnen mit Erstaunen nachsahen.</p>
-
-<p>Hansens Gesichtsfarbe wurde jetzt blässer. Die Augen saßen tief in
-ihren Höhlen. Seine Nase schien spitz geworden. Nur die Lippen hielt
-er fest zusammengepreßt mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck.
-Theobald, der Leiter der Bewaffneten, räusperte sich zuweilen und warf
-seinen Kopf herausfordernd in den Nacken, als stehe er bereits an der
-Anklagestätte. Christoph schritt am kecksten einher. Sein spanisches
-Rohr flitzte zuweilen pfeifend durch die Luft, als wittere es bereits
-die Granadasöhne.</p>
-
-<p>Ein gutes Stück hinterher trottete Henner. Ihm war die hohe Aufgabe
-zuteil geworden, den Korb mit dem Jockel zu tragen. Zärtlich schmiegte
-er sein Ohr an das Geflecht des Korbes und flüsterte mit sanfter
-Stimme: „Jockerl, sei still, gutes Tier, sei still. Unser aller
-Rettungsengel bist du. Unser lieber, guter Jockerl. Denen wollen wir
-mal Mores lehren, gelt? Ich werde dich herausnehmen, wenn’s Zeit ist.“</p>
-
-<p>Und als sei der Knabe bereits bei dem Onkel angelangt und walte seines
-Amtes, so begann er jetzt an dem Verschluß des Korbes zu zerren, zu
-rütteln und zu heben. Der Deckel sperrte sich.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Das verflixte Ding,“ grollte er, zerrte heftiger und riß plötzlich den
-ganzen Deckel weit auf. &mdash; Es rührte sich im Korb. Heraus sprang der
-Jockerl und jagte davon.</p>
-
-<p>„Er ist fort,“ schrie da gellend sein Wächter, „er ist fort!“</p>
-
-<p>Die vier Helden vor ihm fuhren wie von der Kugel getroffen herum.</p>
-
-<p>Hans fiel vor Schreck der Eichenknüppel aus der Hand.</p>
-
-<p>Theobald, der in Gedanken gerade zu seinem Onkel gesagt hatte:
-„Angesichts des Eichhörnchens ist Hansens Unschuld erwiesen, so rein,
-so sonnenklar, so hell wie der Tag,“ stürzte laut schreiend auf
-seinen Bruder los. „Unglücklicher, was hast du gemacht!“ rief er. „O
-du jämmerliches Trampeltier, einfältiger Eselskinnbacken! Käsweiser
-Rabenvater! Was jetzt? Was jetzt?“</p>
-
-<p>Der Bruder war leichenblaß, er hatte ein Gefühl, als hätte er einen
-Schlag auf den Kopf bekommen. Seinen Händen entglitt der Korb.</p>
-
-<p>Jockerl jagte derweil auf den nächsten Baum zu, kletterte daran in
-die Höhe und hüpfte bald als ein braunes, kleines Etwas im Gewirr der
-Äste herum. Mit Geschrei verfolgten ihn die Kinder. Auch Toni und Suse
-kamen von draußen herein und schlossen sich der Verfolgung an. Jockerl
-kletterte vom Baum herab, rannte dreimal um das große Blumenbeet und
-verschwand in den Ziersträuchern am Wege. Auf das<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span> gräßliche Geschrei
-der Kinder hin kam nun der Gärtner der Villa herbei, und, sie für
-Eindringlinge von der Straße haltend, warf er ihnen seine Schaufel und
-Hände voll Erdklumpen hintendrein. Der Sand prasselte und stob ihnen um
-die Ohren.</p>
-
-<p>Sie kümmerten sich nicht darum. Sie schlugen mit den Knüppeln an die
-Bäume und schrien: „Jockerl, Jockerl, komm herunter! Jockerl, Jockerl!“</p>
-
-<p>Der Jockerl aber schwang sich immer weiter fort. Noch einmal jagte
-er um die schönsten Blumenbeete herum und in die Ziersträucher
-hinein. Dann verließ er den Garten auf Nimmerwiedersehen. Im Park der
-gegenüberliegenden Villa verschwand er.</p>
-
-<p>Voll dumpfen Grolls auf ihren Bruder Henner traten sie darauf den
-Heimweg an.</p>
-
-<p>In dem Haus der Frau Cimhuber aber wuchs die Angst vor dem Kamel von
-Stunde zu Stunde. Vor allen Dingen Ursel zweifelte nicht mehr daran,
-daß es komme. Erschallte unten auf der Straße Lärm, oder ließen sich
-aufgeregte Stimmen vernehmen, so beugte sie sich ängstlich über die
-Fensterbrüstung und spähte in die Tiefe.</p>
-
-<p>„Es kommt, es kommt,“ rief sie an einem Morgen so laut, daß auch
-Frau Cimhuber herzklopfend herbeieilte und sich weit über die
-Fensterbrüstung beugte. Ihre Brille fiel dabei in die Tiefe.</p>
-
-<p>Die ganze Aufregung war einem Reklamewagen zu verdanken, der mit bunten
-Tierbildern bemalt, am Kanal entlang fuhr.</p>
-
-<p>„Ich sehe Gespenster am hellen Tag,“ erklärte Ursel seufzend, „das
-endet nicht gut.“</p>
-
-<p>An demselben Morgen, an dem sich dieser Zwischenfall ereignete,
-erschien ein Beamter des Zoologischen Gartens, um nach der Adresse von
-Hansens Vater zu fragen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Die Würfel waren gefallen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Keiner zweifelte mehr daran.</p>
-
-<p>Hans war wie verstört. Er sah Kamele an allen Ecken und Enden. Sie
-schauten über seine Schulter, wenn er Diktate schrieb, sie gingen
-vor dem Pult auf und nieder, wo der Lehrer saß; sie warteten an
-der Haustreppe, wenn er aus der Schule kam. Fünf schreckliche Tage
-vergingen.</p>
-
-<p>Da &mdash; am sechsten, als Hans und Suse aus der Schule heimkehrten und
-zur Tür hereintraten, flüsterte ihnen Ursel zu: „Er ist da in der
-Negerstube.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Wer?“ fragten die Kinder erschreckt, „der Direktor? Der Wärter?“</p>
-
-<p>Da erschien Frau Cimhuber und forderte sie auf, in die Negerstube zu
-treten und ihren dort wartenden Onkel Gustav zu begrüßen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[S. 98]</a></span></p>
-
-<p>Schnell brachten sie ihr Haar und ihre Kleider ein wenig in Ordnung und
-schritten dann erwartungsvoll dem hohen Besucher entgegen.</p>
-
-<p>„Schau den Onkel fest an, Hans, und guck nicht auf die Erde,“ ermahnte
-Suse den Bruder, „sonst denkt er, du hast das Kamel geworfen. &mdash; Sieh
-so, Hans,“ und Suse trat mit kühner Miene in die Negerstube und erhob
-ihre Stupsnase so keck, als wollte sie den Onkel damit aufspießen.</p>
-
-<p>Hans versuchte es seiner Schwester gleich zu tun. Aber das war gar
-nicht nötig; denn der Besucher hatte eine so herzlich gewinnende Art
-und sah einen mit seinen hellen Augen so gütig an, daß man gleich
-Zutrauen zu ihm haben mußte. Freundlich forderte er die beiden Kinder
-auf, sich auf einen Stuhl neben ihn zu setzen und begann dann allerlei
-mit ihnen zu reden, das sie interessieren konnte. &mdash; Von ihrer Heimat
-sprach er, von ihren Eltern, von den Bergen. Man konnte meinen, er sei
-schon einmal auf Besuch dort gewesen. Am liebsten hätte Suse ihm gleich
-allerlei von Rosel, Christine, Minnette und dem Käterle von Michel und
-Genoveva anvertraut.</p>
-
-<p>Doch der Onkel leitete das Gespräch geschickt auf den Besuch über, den
-die Kinder vor einigen Tagen in seinem Hause gemacht hatten. Dann mußte
-Hans erzählen, wie es ihm im Zoologischen Garten gefallen habe, welches
-Tier für seinen Geschmack das schönste sei. Und so allmählich kamen die
-drei auch auf das Abenteuer mit dem Kamel zu sprechen.</p>
-
-<p>Durch Suses lebhafte Zeichensprache ermuntert, erzählte Hans frei und
-offen alles, was sich gestern zugetragen hatte.</p>
-
-<p>„Hast du nicht vielleicht auch Lust gehabt, ein ganz klein wenig mit
-Sand zu werfen, wie du sahst, daß die andern es taten?“ forschte sein
-Onkel.</p>
-
-<p>Hans sagte ganz erschreckt: „Das tut man doch nicht, das tut den Tieren
-ja weh.“</p>
-
-<p>Da trat ein bekümmerter Zug in das Gesicht seines Onkels und wich
-nur ganz langsam wieder. Dann leitete der Besucher das Gespräch auf
-harmlosere Dinge über und fragte schließlich die beiden, ob sie nicht
-Lust hätten, ihn und seine Kinder bald einmal wieder zu besuchen. Er
-werde ihnen dann Geschichten erzählen, und seine Sammlung von wilden
-Tieren zeigen.</p>
-
-<p>Da wurden Bruder und Schwester sehr verlegen, bekamen rote Köpfe und
-drucksten an einer Antwort herum. Endlich stotterte Hans: „Ihre Kinder
-und die schwarzen Frauen haben gesagt, wir sind schmutzig und arm, und
-jetzt dürfen wir niemals mehr zu ihnen auf Besuch kommen. Unsere Eltern
-wollen’s nicht.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span></p>
-
-<p>Und Suse setzte verlegen hinzu: „Unsere Mutter hat noch geschrieben,
-sie möchte nicht, daß wir immerzu daran denken, daß wir auch so
-wunderschöne Dinge haben möchten wie Sie, einen so schönen Pfau und
-solch einen schönen Garten und solche ausgestopften Tiere und Schlangen
-in Spiritus. Dann würde sie sich für uns schämen. Wir sollen nicht
-neidisch sein. Wenn wir älter sind, dürfen wir sie einmal wieder
-besuchen, jetzt nicht.“</p>
-
-<p>Wieder kam der bekümmerte Ausdruck in das Gesicht des Onkels. Er sah
-nach seiner Uhr und sagte: „Es ist Zeit, daß ich gehe. Ich habe mich
-schon etwas verspätet. &mdash; Dann also, adieu. &mdash; Das mit dem Kamel wird
-sich machen. &mdash; Wo ist Frau Cimhuber?“ fragte er Suse.</p>
-
-<p>Darauf holte das kleine Mädchen die Pfarrfrau, und als er sich
-freundlich von ihr und den Kindern verabschiedet hatte, ging er die
-Treppe hinunter...</p>
-
-<p>Zwei Stunden mochten seit seinem Weggang verstrichen sein, da klingelte
-es, und als Ursel die Tür aufmachte, befand sie sich dem Briefträger
-gegenüber, der einen großen Brief in der Hand hielt. „Von der Direktion
-des Zoologischen Gartens,“ murmelte sie erschreckt. &mdash; „Also doch, es
-kommt!“</p>
-
-<p>Und mit diesen Worten trug sie den Brief zu ihrer Herrin in die
-Negerstube.</p>
-
-<p>„Lesen Sie, lesen Sie,“ sagte sie bestürzt, „ich will nicht hören, was
-in dem Unglücksbrief steht. &mdash; Ich bin wie geschlagen. Ich fühle es in
-allen Gliedern, es kommt.“</p>
-
-<p>So sprechend hielt sie sich die Ohren zu und lief in die Küche, um hier
-die Tür fest hinter sich abzuschließen.</p>
-
-<p>Hans und Suse, die auf Ursels aufgeregten Ruf von vorhin in die
-Negerstube geeilt waren, standen mit großen Augen neben Frau Cimhuber
-und fühlten ihr Herz klopfen. Ihre Pflegemutter setzte die Brille auf,
-öffnete den Brief mit einem Falzbein und begann langsam zu lesen. Mit
-einemmal seufzte sie tief, tief aus Herzensgrund.</p>
-
-<p>Gleich darauf hörte Ursel in der Küche einen lauten Schrei der Kinder
-und schrie aus Entsetzen mit. &mdash; Jetzt mußte die Nachricht verlesen
-worden sein.</p>
-
-<p>Aber was war das? Das waren ja Jubelrufe!</p>
-
-<p>„Das Kamel ist gesund, das gräßliche Kamel ist gesund,“ tönte es
-draußen, und als Ursel durch eine Türritze spähte, sah sie Hans und
-Suse wie die verzückten Derwische im Gang auf- und niederwirbeln, laut
-jubelnd: „Es ist gesund, das schauderhafte Kamel ist gesund.“</p>
-
-<p>Hans schlug einen Purzelbaum mitten im Gang.</p>
-
-<p>Da liefen Ursel die Tränen über die Backen und sie rief, die Küchen<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[S. 100]</a></span>tür
-weit öffnend: „Lacht und singt, Kinder, lacht und singt! Heute soll’s
-nicht darauf ankommen! Fünftausend Mark! Eure Eltern wären bankerott
-gewesen. &mdash; Und was für eine Schande für uns, wenn es hier angekommen
-wäre. Lacht und singt!“</p>
-
-<p>Und als etwas später Gretel und Peter kamen, um wie gewöhnlich in den
-letzten Tagen des Nachmittags nach einer Nachricht von dem Kamel zu
-fragen, kochte sie den Gästen Schokolade und setzte ihnen kleine Kuchen
-vor. Alles aus reiner, seliger Freude über das genesene Kamel.</p>
-
-<p>Als Hans am andern Morgen seinen Vettern in der Schule die frohe
-Nachricht von dem glücklichen Wechsel der Dinge überbringen wollte,
-ließen sie ihn erst gar nicht zu Worte kommen, so brannte sie eine
-eigene, wichtige Nachricht auf der Zunge.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Die Täter sind entlarvt,“ rief Theobald seinem Vetter von weitem zu.</p>
-
-<p>„Unser Vater war gestern bei den Fremdlingen. Fein hat er’s
-gedeichselt. Und sie haben alles gestanden, diese miserablen
-Granadasöhne, und die schwarzen Ungeheuer auch...“</p>
-
-<p>An demselben Tag traf der Doktorssohn zufällig auf seinem Heimweg
-mit seiner Schwester Suse zusammen, und die beiden gingen die letzte
-Strecke Weges miteinander. Hans lachte und summte fortwährend vor sich
-hin und sprang alle paar Schritte eine Elle hoch vor Freude.</p>
-
-<p>„Nicht wahr, wie schön, daß wir nicht mehr an das Kamel zu denken
-brauchen?“ fragte er.</p>
-
-<p>Seine Schwester nickte beifällig.</p>
-
-<p>Aber trotzdem blieb sie nachdenklich, und mit einemmal seufzte sie tief
-vor sich hin.</p>
-
-<p>„Was hast du?“ fragte der Bruder besorgt.</p>
-
-<p>Eine Weile blieb sie die Antwort schuldig, dann stotterte sie etwas
-verlegen: „Weißt du, Hans, wenn wir recht viel Geld hätten, wäre es
-doch wunderschön, wenn wir ein Kamel für uns ganz alleine hätten. Denke
-dir wie herrlich wäre es, wenn es jetzt bei Frau Cimhuber auf uns
-wartete. Ich möchte wohl eins haben.“</p>
-
-<p>Doch Hans entgegnete: „Nein, weißt du, Suse, früher hab’ ich Kamele
-sehr gern gehabt, aber jetzt wird’s mir ganz schlecht, wenn ich nur
-an eines denke. Noch nicht einmal in Bilderbüchern mag ich sie mehr
-besehen.“</p>
-
-<p>Doch Hans änderte seine Meinung mit der Zeit, als Onkel Fritz ihn und
-Suse des öfteren mit in den Zoologischen Garten nahm, und er das Tier
-in seiner ganzen Harmlosigkeit betrachten konnte. Nur in die Villa
-Granada ging keines von den Kindern mehr. Auch Onkel Sepp hatte nach
-dem Vorfall mit dem Kamel seinen Kindern verboten, ihren Besuch dort
-zu wiederholen. &mdash; Wie an fremder Erde gingen sie nun an der Villa der
-Fremdlinge vorüber. Zuweilen sahen Hans und Suse wohl<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span> den Pfau mit
-seinem prunkenden Gefieder durch die Gitterstäbe leuchten und blieben
-ein Weilchen stehen, um ihn zu betrachten. Aber zu ihm hinein verlangte
-es sie nicht mehr. Und so erfuhren sie auch nie, wie sehr sich Onkel
-Gustav grämte darüber, daß seine Kinder von allen gemieden wurden.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="left" id="Viertes_Kapitel">Viertes Kapitel.<br />
-
-<b class="s4 mleft2">Der Missionar</b></h2>
-
-</div>
-
-<p class="p0"><span class="initial">Z</span>wei Jahre waren vergangen, seit Hans und Suse bei Frau Cimhuber,
-der Pfarrfrau, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, und manch
-inhaltsreicher Brief war in dieser Zeit aus der Stadt nach dem
-Heimatsort der beiden gewandert. Die Eltern und Freunde der Kinder
-waren die glücklichen Empfänger dieser abwechslungsvollen Schreiben
-gewesen.</p>
-
-<p>Da erhielt nun eines Tages Christine, ihre alte Kinderfrau, einen ganz
-besonders langen Brief Susens. Es traf sich, daß bei seiner Ankunft
-gerade Rosel, die Magd der Doktorsleute, zugegen war und die las ihn
-vor.</p>
-
-<p>„Jesus, Maria und Joseph,“ schrie sie mit einemmal und sprang mitten
-in die Stube. „Hört, Tante, was Suse schreibt: Der Herr Edwin kommt zu
-Frau Cimhuber auf Besuch; er hat schon eine Leiche vorausgeschickt. Die
-Leiche ist schon viele tausend Jahre tot. Schon viele Jahre vor Christi
-Geburt. Sie steht im Gang bei Frau Cimhuber. Sie ist etwas größer als
-Hans.“</p>
-
-<p>Das war zuviel für Rosel. Sie schleuderte den Brief weit von sich.</p>
-
-<p>„Scht,“ mahnte Christine, „heb den Brief auf. Das geht nicht mit
-rechten Dingen zu. Das ist nicht geheuer, was Suse schreibt. Wir müssen
-zur Frau Doktor gehn und ihr den Brief zeigen. Sie weiß Rat.“</p>
-
-<p>Der Brief, der Rosel und Christine in solche Verwirrung versetzte,
-war von Suse am vergangenen Sonntag in größter Aufregung geschrieben
-worden; denn vor dem Kirchgang hatte Frau Cimhuber plötzlich zu Hans
-und ihr gesagt: „Mein Sohn Edwin aus Afrika kommt nach Hause.“ Die
-Kinder waren zusammengefahren, und Susens Herz hatte laut geklopft.</p>
-
-<p>Herr Edwin kam! Ihr Held, ihr Vorbild! Alles was groß, schön, herrlich,
-erhaben war, verkörperte sich für sie in seiner Person; denn in den
-zwei Jahren, die sie bei Frau Cimhuber verbracht, hatte sie soviel
-Außergewöhnliches von ihm und seinen Taten gehört, daß er ihr wie ein
-Welt- und Meerwunder vorkam.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span></p>
-
-<p>Herrn Cimhubers Gepäck traf einige Tage vor ihm ein: eine Kiste und
-ein umfangreiches, in Sackleinwand eingenähtes, längliches Bündel.
-Er selbst verzog noch eine Woche in seinem Missionshaus in einer
-entfernten Stadt.</p>
-
-<p>Die Doktorskinder gingen von nun ab nur noch flüsternd durch den Gang,
-die Augen in stiller Ehrfurcht auf des Missionars Gepäck gerichtet. Ein
-Duft von fremden Ländern haftete ihm an.</p>
-
-<p>Sie berieten hin und her, was es wohl enthielte. Suse meinte, die große
-Kiste sei voll schrecklicher Götzen, Schwerter, Spieße und dergleichen
-fremdländischer Gegenstände mehr.</p>
-
-<p>Aber was mochte der große Ballen enthalten? Leise strichen die Kinder
-darüber. Auch Theobald und seine Geschwister wurden eingeweiht
-und tauschten Betrachtungen über den möglichen Inhalt des seltsam
-geformten, in Wachstuch genähten Bündels aus.</p>
-
-<p>„Hört,“ meinte Toni mit einemmal, „ich glaub ich hab’s. Herr Edwin
-interessiert sich für Altertümer. Es könnte eine Mumie sein.“</p>
-
-<p>„Eine Mumie.... was ist das?“ riefen Hans und Suse.</p>
-
-<p>„Nun, ein einbalsamierter Mensch,“ entgegnete Toni. „Oder besser
-gesagt, ein durch Spezereien für alle Zeiten unvergänglich gemachter,
-menschlicher Leichnam.“</p>
-
-<p>„Welch ein Blödsinn,“ seufzte Theobald.</p>
-
-<p>„Durchaus nicht, mein lieber Bruder, vielleicht ist die von Herrn
-Edwin herbeigeschaffte Mumie sogar eine ägyptische... ein Pharao, ein
-ägyptischer König.“</p>
-
-<p>„Ja,“ rief Suse, „ein Pharao.“</p>
-
-<p>Sie war Feuer und Flamme für die Erklärung. Das Bündel, das bei Frau
-Cimhuber im Gang stand, konnte nur eine Mumie sein... ein ägyptischer
-König, vielleicht jener, der die Kinder Israel aus Ägypten getrieben
-hatte. Wie geheimnisvoll!</p>
-
-<p>Auf Zehenspitzen schlich sie von nun an daran vorüber. Alle ihre
-Freunde und Bekannten wurden von dem interessanten Paket unterrichtet,
-und so geschah es, daß jener oben erwähnte Brief an Christine
-geschrieben wurde.</p>
-
-<p>Hans redete weniger von der Mumie als seine Schwester, brannte aber in
-demselben Maße wie sie darauf, jene von Angesicht zu Angesicht zu sehen.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber mochte er nicht behelligen. So fragte er denn eines
-Tages die alte Magd: „Was will denn der Herr Missionar mit der Mumie
-anfangen, Ursel?“ Die Magd sperrte den Mund auf. „Was schnatterst du
-da?“ rief sie endlich. „Was für ein Kauderwelsch? Willst du mich utzen,
-raucht’s dir im Kamin?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span></p>
-
-<p>„Nein... nein, Ursel, durchaus nicht... die Mumie mein ich... da
-draußen auf dem Gang. &mdash; Er... er... der Pharao, der König von Ägypten.
-Kommen Sie, schauen Sie doch her... hier.“</p>
-
-<p>Er lockte die Magd hinaus.</p>
-
-<p>„Saperlott,“ schrie Ursel, als sie nichts sah wie das Bündel. „Willst
-du mich zum Besten haben? Soweit ist’s denn doch noch nicht mit uns
-gekommen. Ich will sehen, wer Meister ist, du oder ich...“</p>
-
-<p>Hans stürzte Hals über Kopf die Vorplatztür hinaus und in fünf Sätzen
-die Treppe hinab.</p>
-
-<p>Am andern Tag hatte er sich aber bereits wieder soweit gefaßt, daß er
-von neuem beginnen konnte: „Ursel, sollen denn die Sachen noch lang im
-Gang stehen, die Kiste und das andere Paket?“</p>
-
-<p>„Warum frägst du?“ entgegnete die Magd. „Sind sie dir im Weg?“</p>
-
-<p>„Nein, nein, durchaus nicht, im Gegenteil. Ich freue mich, daß die
-Sachen da sind. Ich interessiere mich dafür, auch Suse. Wir möchten die
-Gegenstände mal von inwendig besehen.“</p>
-
-<p>„Was?“ rief Ursel erzürnt. &mdash; „Die ‚Gegenstände‘ &mdash; &mdash; &mdash;. Die
-‚Gegenstände‘ wollt ihr durchschmusen? Was habt ihr in meinen Sachen
-verloren? Überall müßt ihr eure Nase drin haben.“</p>
-
-<p>„Das sind Ihre Sachen?“ stotterte Hans und machte überlebensgroße
-Augen, „den König von Ägypten schenkt er Ihnen &mdash; Ihnen &mdash; Ihnen &mdash; na,
-da können Sie sich aber freuen.“</p>
-
-<p>„Freuen soll ich mich?“ rief Ursel und rückte ihm auf den Leib. „Sag’s
-noch einmal, und du wirst es büßen.“</p>
-
-<p>Hans flüchtete. Verwirrt keuchte er: „Da können Sie sich aber freuen.
-Das hätt’ ich nicht im Schlaf gedacht &mdash; Ihnen &mdash; Ihnen schenkt er den
-Pharao.“</p>
-
-<p>Hinterdrein kam Ursel. „Ich will euch lehren, mir Mordgeschichten vom
-Pharao zu erzählen,“ schalt sie. „Wartet, euch sticht der Hafer. Nichts
-hört man mehr von dir und Suse als vom Pharao. Euch ist eine Schraube
-los. Gleich will ich dir einen Pharao mit dem Kochlöffel geben.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Kriegen wir bald zu sehen, was in den Paketen ist?“ fragte Suse einige
-Tage darauf schüchtern Ursel, als Hans sie auf Kundschaft ausgeschickt
-hatte.</p>
-
-<p>„Niemals,“ entgegnete Ursel, „zur Strafe für eure Neugier.“</p>
-
-<p>Theobald, der sich ebenfalls für die Mumie interessierte, erklärte
-eines Tages, er werde, um allen Streitigkeiten ein für allemal ein Ende
-zu machen, hingehen und die Mumie rauben.</p>
-
-<p>„Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni mit erschrecktem Gesicht. „Du
-weißt doch, Frau Cimhuber verachtet dich. Wie kannst du es wagen, ihr
-Haus zu betreten?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span></p>
-
-<p>„Abwarten,“ entgegnete Theobald, „die Sache will überlegt sein.“</p>
-
-<p>Inzwischen kam der Tag immer näher heran, an dem der Missionar erwartet
-wurde. Immer aufgeregter wurde Frau Cimhuber, und eines Morgens da
-konnte sie sich endlich, endlich sagen: „Heute kommt mein Sohn.“ Hoch
-schlug ihr Herz, und immer wieder suchte sie das Zimmer auf, das zu
-seinem Empfang bereitet war. &mdash; Es war Susens Zimmer, das der Missionar
-in seiner Kindheit bewohnt hatte und das er jetzt wieder beziehen
-sollte. Drum war das kleine Mädchen in ein Gemach neben der Negerstube
-verbannt worden.</p>
-
-<p>Ein Waldstrauß, den die Kinder am Sonntag mit Ursel geholt hatten,
-schmückte Herrn Edwins zukünftiges Reich. Die Mullgardinen am Fenster
-leuchteten blütenweiß, und in der Ecke stand ein kleiner Schrank,
-der angefüllt war mit den Spielsachen aus des Missionars Kinderzeit.
-An Frau Cimhubers Seite durften sich die Doktorskinder das festlich
-geschmückte Zimmer betrachten. Ihre leuchtenden Augen flogen bewundernd
-durch den Raum, und Suse sagte leise vor sich hin: „Wie an einem
-Weihnachtsfest so schön ist’s hier.“</p>
-
-<p>Die Pfarrfrau küßte sie und sagte leise: „Mein liebes, liebes Kind.“</p>
-
-<p>Geschmeichelt fuhr das kleine Mädchen fort: „Ach, wenn wir doch so
-artig wären, wie Ihr Sohn gewesen ist, nicht wahr, Frau Pfarrer? Dann
-hätten Sie mehr Freude als jetzt. Dann würden Sie sich niemals über uns
-ärgern.“</p>
-
-<p>Die alte Dame strich Suse liebkosend über den blonden Scheitel.</p>
-
-<p>Hier runzelte Hans die Brauen und sagte seiner Schwester etwas
-später erzürnt: „Du wolltest dich natürlich bei ihr anschmusen, alte
-Schmeichelkatze; ich merkte es wohl. Schäme dich. Gepiepst hast du, als
-könntest du keine drei zählen.“</p>
-
-<p>Jetzt aber fragte Suse Frau Cimhuber weiter: „Er bleibt doch lange da,
-der Herr Edwin, nicht wahr, Frau Pfarrer?“</p>
-
-<p>„Ich weiß es nicht, Kind,“ erwiderte jene. „Mein Edwin ist krank. Aber
-wir pflegen ihn wieder gesund, nicht wahr? Jeden Tag muß er spazieren
-gehen. Bald bekommt er wieder rote Backen und wird frisch und blühend.
-Alle seine Leibgerichte bekommt er.“</p>
-
-<p>„Ißt er auch Kalbshaxen und Knödel gern?“ fiel Hans schüchtern ein.</p>
-
-<p>Hier war es nun an Suse, die Brauen zu runzeln und hernach ungehalten
-zu ihm zu sagen: „Sie hat natürlich gemerkt, daß nur du die Kalbshaxen
-wolltest. Du brauchtest sie doch an einem solch schönen Tag durch deine
-Gefräßigkeit nicht zu kränken. Toni hat auch gesagt: ‚Das ist ein
-Markstein in Frau Cimhubers Leben.‘“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Inwiefern man an einem Markstein in seinem Leben nicht an Kalbshaxen
-mit Knödeln erinnert werden dürfe, war Hans schleierhaft, und er<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span> sah
-Suse deshalb wie versteinert an, um hernach zu erklären: „Aber so
-was Dummes, aber so was Dummes, Suse! Seit der Herr Missionar kommt,
-meint man grad, du bist närrisch. Wie verdreht bist du. Immer piepst
-du so und gehst wie auf Eiern und tust so fein, grad als wärst du
-die Kaiserin. Ich kann es bald nicht mehr mit ansehen. Theobald hat
-auch gesagt, wenn du so fortmachst, wirst du eine auf Draht gefädelte
-Zierpuppe.“</p>
-
-<p>Um vier Uhr wurde der Missionar erwartet. Kurz nach eins lagen auf der
-Pfarrfrau Bett schon der schwarze Hut, ihr Schleier und die Handschuhe
-bereit, die sie anziehen wollte, um ihrem Sohn zum Bahnhof entgegen zu
-gehen. Je weiter die Stunde vorschritt, je unruhiger wurde sie. Ursel
-fürchtete schon, sie würde krank werden.</p>
-
-<p>Auch die Doktorskinder waren in großer Aufregung. Nach Schulschluß
-eilten sie zum Bahnhof, wo Toni und Theobald sich bereits eine Nische
-neben dem Hauptportal ausgesucht hatten; und hier erwartete die ganze
-Gesellschaft nun Mutter und Sohn.</p>
-
-<p>Sie mußten sich eine gute Weile gedulden. Ein Schwarm junger Mädchen
-kam durch das Portal, ein Herr, der seine Zigarre wegwarf, ein paar
-schwatzende Frauen. &mdash; Frau Cimhuber mit ihrem Sohn kam immer noch
-nicht.</p>
-
-<p>„Da sind sie,“ flüsterte plötzlich eins der Kinder. &mdash; Suse fühlte, wie
-ihr Herz still stand.</p>
-
-<p>Die Pfarrfrau kam daher und an ihrer Seite &mdash; er... er... nein, das
-konnte doch nicht er sein, nicht Herr Edwin. &mdash; Wie den Engel Gabriel
-hatte sie sich ihn vorgestellt. Und nun ging dort ein gebrechlicher,
-kranker Mann.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Suse mußte an ihren Zeichenlehrer denken, den alle Mitschülerinnen sehr
-häßlich fanden. Dem sah Herr Edwin ähnlich. Konnte er’s denn sein?</p>
-
-<p>Hans stieß seine Schwester an und sah ihr bedeutungsvoll in die Augen.
-Susens Herz zog sich immer mehr zusammen und schmerzte sie wie von
-lauter kleinen Glassplittern angeritzt.</p>
-
-<p>„Rappeldürr wie ein Fenchelstock ist der Edwin,“ brach endlich Theobald
-das Schweigen. Entrüstet fuhr Toni auf: „Dummes Geschwätz. Über einen
-Missionar spottet man nicht. Vater sagt auch, du bist der grünste
-Junge, der ihm vorgekommen ist.“</p>
-
-<p>Eine Zornesröte stieg Theobald in das Gesicht. &mdash; „Weil du mich so
-abkanzelst,“ rief er, „werde ich mich rächen. Ich breche heute noch bei
-Frau Cimhuber ein und mache mich an die Mumie ran.“</p>
-
-<p>Alle durchfuhr ein Schreck.</p>
-
-<p>„Nein, Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni. Auch Suse wollte<span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span>
-zürnen. Aber in ihrem Herzen lockte plötzlich der Versucher: „Theobald
-hat recht. Gewiß, er hat recht. Eine Enttäuschung habt ihr schon
-erlebt. Nun sollt ihr wenigstens eine Überraschung haben, eine freudige
-Überraschung. Nur Mut, nur nicht so kleinlich.“</p>
-
-<p>„Toni,“ stotterte sie da, „Toni, am Ende ist es keine Sünde. &mdash; Eine
-Mumie ist doch nicht wie ein gewöhnliches Paket aus Europa. Das ist
-doch was Außergewöhnliches.“</p>
-
-<p>„Ich leid’ es auf keinen Fall, Suse.“</p>
-
-<p>„Wir wollen’s ja nur begucken, nur einmal schnell angucken,“ drängte
-Suse. „Du hast ja selbst gesagt, Toni, der gebildete Mensch muß wissen,
-wie eine Mumie aussieht.“</p>
-
-<p>„Natürlich gehen wir ihr an den Kragen,“ rief Theobald laut dazwischen.</p>
-
-<p>Seine Schwester seufzte tief.</p>
-
-<p>„Aber, Toni, sei doch nicht so sauer wie ein Essighafen,“ bat Theobald,
-„und mach lieber mit.“</p>
-
-<p>Wieder seufzte die Schwester und sagte dann schweren Herzens: „Allein
-laß ich dich nicht hingehen, Theobald, sonst gibt’s wieder gräßliches
-Unheil.“</p>
-
-<p>„Wann soll die Mumie durchforscht werden?“ fragte der Bruder jetzt.</p>
-
-<p>„Um acht Uhr, gelt, Suse,“ meinte Hans.</p>
-
-<p>„Ja, ja, das ist die rechte Zeit. &mdash; Frau Cimhuber hat nämlich gesagt,
-wir sollen gleich nach Tisch in unser Zimmer gehen. Und dann ist Ursel
-in der Küche und wäscht das Geschirr und klappert gräßlich damit und
-singt Volkslieder und Choräle und hört nichts.“</p>
-
-<p>„Vorzüglich,“ rief Theobald, „dann setzt eure Lampe auf die Fensterbank
-zum Zeichen, daß alles sicher ist und daß wir kommen können.“</p>
-
-<p>Nach dieser Vereinbarung trennten sich die Verschwörer, Suse mit einem
-tiefen Seufzer.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Bei Tisch daheim im Hause der Frau Cimhuber ging es heute recht
-feierlich zu.</p>
-
-<p>Unnahbar und ihnen weltenfern entrückt, kam der Missionar Hans und Suse
-vor. Susens tiefen Knicks beim Eintreten schien er ebensowenig beachtet
-zu haben wie Hansens Verbeugung, die tiefste Ehrerbietung bekundete.
-&mdash; Und nachher während des Mahles, als er ein Glas Wasser verlangte
-und Hans auf ein Zeichen der Pfarrfrau davonstob und wiederkehrend
-stolperte und sich und Herrn Edwin bis zum Ellbogen naß goß und
-Entschuldigungen stammelte wie ein verwirrter Kellner, verzog er keine
-Miene.</p>
-
-<p>Suse aber glaubte unter den Tisch kriechen zu müssen aus Scham für
-ihren Bruder.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span></p>
-
-<p>Da hob der Missionar plötzlich seine Augen, sah Suse lange an, dann
-Hans.</p>
-
-<p>Dem kleinen Mädchen klopfte das Herz, und Hans verschluckte sich vor
-Schrecken. &mdash; Jetzt sah Edwin Suse wieder an. Ihr Atem stockte. &mdash;
-Sollte er? &mdash; Sollte er...</p>
-
-<p>Nein, das ging ja nicht an. &mdash; Er war ja nicht der liebe Gott. &mdash; Er
-konnte ja nicht wissen, daß sie vorhatte, einmal Missionarin zu werden.</p>
-
-<p>Einen Augenblick schwand ihre Angst. Da kam ihr plötzlich ein anderer
-schrecklicher Gedanke.</p>
-
-<p>Vielleicht hatte er ihren Plan mit der Mumie erraten! Wie ein Frevel
-kam ihr jetzt der Vorsatz vor, den sie vorhin so leichten Herzens
-gefaßt hatte.</p>
-
-<p>Und nach Tisch, als die Zeit immer näher kam, in der die kleinen
-Verschwörer eintreffen mußten, wurde sie ganz mutlos.</p>
-
-<p>„Hans, lauf’ runter,“ drängte sie schließlich, „und sag’ Toni und
-Theobald, sie sollen nicht kommen.“</p>
-
-<p>„Warum nicht gar, ich bleib’ hier,“ entgegnete er.</p>
-
-<p>„Nein, Hans, du gehst.“</p>
-
-<p>„Nein, ich bleib’ hier.“</p>
-
-<p>„Doch, du gehst.“</p>
-
-<p>„Das tu ich nicht, ich beseh’ mir die Mumie.“</p>
-
-<p>„Nein, nein, Hans, das dürfen wir nicht. Wir stellen kein Licht ans
-Fenster, wie wir gesagt haben. Mit einemmal fühl’ ich ganz genau, daß
-es nicht recht ist.“</p>
-
-<p>„Aber, Suse, das ist jetzt zu spät, das hättest du früher fühlen
-müssen. &mdash; Ich will jetzt, daß wir das Licht hinstellen.“</p>
-
-<p>Und damit hatte er auch schon die Lampe ergriffen und wollte zum
-Fenster gehen.</p>
-
-<p>In demselben Augenblick griff auch Suse danach und mahnte: „Hans, laß
-los; es gibt eine Feuersbrunst.“</p>
-
-<p>„Nein, laß du los.“</p>
-
-<p>Feindlich sahen sich die beiden an. Da klingelte es schwach an der
-Flurtür.</p>
-
-<p>Sie fuhren zusammen und setzten zitternd die Lampe hin.</p>
-
-<p>„Sie sind da,“ hauchte Suse. „Hans, jetzt ist es zu spät.“</p>
-
-<p>Leise öffneten die beiden die Tür, die ins Treppenhaus führte, und
-herein schlichen der Stadtvetter und die Base. Toni flüsterte: „Der
-Vater und die Mutter sind ins Konzert. &mdash; Keiner weiß, daß wir hier
-sind.“</p>
-
-<p>Theobald aber drängte: „Wo ist die Mumie?“</p>
-
-<p>Zitternd zeigte Suse auf den Ballen in der Ecke. Theobald umfing ihn
-mit kräftigen Armen und schleppte ihn in Susens Zimmer neben<span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span> der
-Negerstube. Aus der Küche tönte es laut: „Weißt du, wieviel Sternlein
-stehen?“ Wie im Takt klapperte dazu das Geschirr.</p>
-
-<p>Theobald rollte den Ballen einige Male mit seinem Fuß hin und her und
-murmelte: „Na, wenn das ein Pharao ist, bin ich der Sultan von Marokko.“</p>
-
-<p>„Rasch, rasch, mach auf, daß wir sie wieder an ihren Platz
-zurückstellen,“ flehte Suse, „rasch, Theobald.“</p>
-
-<p>Die Vettern begannen im Schweiß ihres Angesichts geräuschlos die dicken
-Stricke zu lösen, während Suse das Licht hielt und Toni mit einer
-Schere die Nähte löste.</p>
-
-<p>Im Nebenzimmer hörte man Frau Cimhuber und ihren Sohn reden. Doch es
-währte nicht lange, so verstummten die beiden, und es wurde still.</p>
-
-<p>„Jetzt packt er seine Geschenke aus,“ flüsterte Theobald.</p>
-
-<p>Aber schon nach einer Weile wurde es im Nebenzimmer wieder laut: eine
-Geige wurde gestimmt, und gleich darauf begann ein wunderschönes Spiel.</p>
-
-<p>Der Missionar geigte.</p>
-
-<p>„Er spielt,“ sagte Suse verklärt, und ihr ganzes Gesicht leuchtete.
-Ihr Vorbild war also doch etwas Besonderes und überstrahlte die andern
-Sterblichen. Er spielte so schön, wie sie es noch nie gehört hatte.</p>
-
-<p>„Hans, horch,“ flüsterte sie und faßte ihn am Arm, „horch.“</p>
-
-<p>Aber es bedurfte dieser Aufforderung nicht. Hans stand da mit gänzlich
-verändertem Gesicht. Auch ihm kam es vor, als habe er noch nie jemand
-so schön spielen hören.</p>
-
-<p>Selbst Theobald lauschte erstaunt und meinte: „Das kann doch nicht Herr
-Edwin sein.“</p>
-
-<p>In diesem Augenblick machte Toni ein Zeichen Und wies auf ein Loch
-oben in der Wand, durch das einmal ein Klingelzug geführt hatte, und
-das unverschlossen geblieben war. Dort konnte man durchsehen. Sofort
-schleppten die beiden Mädchen einen Tisch herbei, kletterten darauf und
-spähten in das Zimmer nebenan.</p>
-
-<p>„Und ist sein Antlitz auch noch so verbrannt, das Mutteraug’ hat ihn
-doch gleich erkannt,“ deklamierte Toni leise vor sich hin; denn im
-Nebenzimmer bot sich ihr ein rührendes Bild.</p>
-
-<p>Im Lehnstuhl saß mit gefalteten Händen die Mutter des Missionars,
-wandte kein Auge von ihrem Sohn und achtete nicht der Tränen, die
-in ihren Schoß fielen. Ihr Kind spielte immer schöner mit einem
-weltentrückten Ausdruck, und nur von Zeit zu Zeit streifte ein
-leuchtender Blick seine Mutter.</p>
-
-<p>Inzwischen waren auch Hans und Theobald auf den Tisch gestiegen und
-drängten ihre Köpfe zwischen den beiden Mädchen durch. Keiner<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span> sagte
-ein Wort. Alle lauschten atemlos. Schließlich brach der Missionar sein
-Spiel ab, legte seine Geige vorsichtig auf das Klavier und sah sich
-nach einem Stuhl um.</p>
-
-<p>„Setz dich, Edwin,“ bat die Mutter, „setz dich, mein liebes Kind, und
-ruh’ dich aus, es wird dir sonst zuviel für den ersten Abend.“ Und sie
-führte ihn zum Sofa und legte ihm vorsichtig ein Kissen in den Rücken.</p>
-
-<p>„Wie schön ist es daheim bei dir, Mutter,“ sagte er und griff dankbar
-nach ihrer Hand. &mdash; „Wie schön!“ Er lehnte sich müde zurück und sah sie
-leuchtenden Auges an.</p>
-
-<p>„Nimmt der Edwin seiner Mutter alle weichen Kissen weg,“ flüsterte
-Theobald. „Na, wenn ich einmal nach Hause käme, und es wär’ vom Krieg
-und ich hätt’ eine Kugel im Rücken und könnt’ nur auf einem Bein
-herumhuppen, soviel weiß ich, meiner Mutter nähm’ ich die Kissen nicht
-weg. Wie unmännlich! &mdash; Komm, Hans, an die Gewehre,“ fuhr er dann fort.
-&mdash; Sie kehrten zu der Mumie zurück.</p>
-
-<p>Toni und Suse blieben auf ihrem Beobachtungsposten stehen und
-gewahrten, wie Frau Cimhuber sich neben ihrem Sohn niederließ.</p>
-
-<p>„Gelt, Edwin?“ fragte sie, seine Hand nehmend, „nun bist du doch auch
-glücklich? Schwer ist dein Beruf. Aber es geschieht ja zur Ehre des
-Herrn. Nicht jeder kann ein großer Künstler werden. Und es ist ja auch
-der Wunsch deines Vaters immer gewesen, daß du Missionar würdest, und
-du bist doch auch glücklich? Nicht wahr? Vielleicht hättest du ja ein
-großer Künstler werden können. Aber so führst du doch ein reicheres,
-gottwohlgefälligeres Leben?“</p>
-
-<p>Er hustete, und man merkte ihm wohl an, wie erschöpft er war. Dann
-sagte er einfach: „Ja, Mutter.“</p>
-
-<p>„Er wollte Künstler werden,“ flüsterte Toni, „genau wie ich. Aber ich
-glaube, es wird nichts draus. Der Vater will nichts mehr davon hören.
-&mdash; ‚Schwamm drüber‘, hat er gestern gesagt.“</p>
-
-<p>Suse hörte nicht zu. Sie stand noch immer da mit gefalteten Händen und
-strahlenden Augen.</p>
-
-<p>Wie schön, wie schön hatte Herr Edwin gegeigt. So schön wie sonst
-niemand auf der Welt!</p>
-
-<p>Jetzt sah Toni, wie im Nebenzimmer die Tür zum Gang aufging und Ursel
-eintrat. Sich mit ihrer Küchenschürze die Augen abwischend, sagte sie:
-„So schön hat der Herr Missionar gespielt, so schön, ich habe gemeint,
-die Orgel geht am Sonntag in der Kirche.“</p>
-
-<p>„Setzen Sie sich zu uns, Ursel,“ bat Edwin.</p>
-
-<p>„Ach nein, vielen Dank, ich habe soviel zu tun.“</p>
-
-<p>„Immer, immer zu tun, Ursel,“ meinte Edwin Cimhuber, „gerade noch wie
-früher.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span></p>
-
-<p>„Ja, die Pflicht geht vor, Herr Edwin,“ philosophierte Ursel, „und
-Arbeit versüßt das Leben.“</p>
-
-<p>Wenige Minuten später war sie schon wieder nach der Küche unterwegs.</p>
-
-<p>Toni war begeistert von der Szene, die sie von ihrem Auslug in der Höhe
-wahrgenommen hatte.</p>
-
-<p>„Selbst Ursel hat einen versöhnlichen Gesichtsausdruck heute,“
-flüsterte sie.</p>
-
-<p>Im nächsten Augenblick aber zitterte sie wie Espenlaub und suchte vor
-Schreck nach einem Halt. Auf dem Flur erscholl Geschrei. &mdash; Ursels
-Stimme. &mdash; Theobald, Hans und Suse ließen vor Schreck das Bündel, an
-dem sie trennten, hinfallen und schauten sich entsetzt an.</p>
-
-<p>„Gestohlen, gestohlen, die Matratze ist fort. Diebe, Diebe,“ rief
-es vor der Tür. &mdash; Jetzt in Frau Cimhubers Stube: „Denken Sie, Frau
-Pfarrer, die Matratze ist fort, sie ist gestohlen. Vor einer halben
-Stunde noch war sie da. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen.
-Die Kinder, die haben mal wieder die Tür aufstehen lassen. Sie ist
-gestohlen, sie ist gestohlen.“</p>
-
-<p>„Was sagt sie... die Matratze?“ stotterte Theobald.</p>
-
-<p>Im nächsten Augenblick schoß Ursel auch schon wie eine Glucke mit
-gesträubtem Gefieder zur Tür herein und erblickte die Kinder mit der
-Trennschere und den Messern in der Hand. Sie ergriff ohne Federlesens
-das halb ausgepackte Bündel, riß die letzte Hülle los und entrollte vor
-den Augen der Verschwörer eine blau und weiß gestreifte Matratze. Keine
-Mumie. &mdash; Die geheimnisvolle Mumie war Ursels Matratze.</p>
-
-<p>Suse war blaß wie der Tod.</p>
-
-<p>Und nun stand auch die Pfarrfrau in der Stube, entdeckte den kostbaren
-Gegenstand und atmete erleichtert auf.</p>
-
-<p>„Da ist sie ja, Ihre Matratze, Ursel,“ sagte sie, „und schon fix und
-fertig ausgepackt.“</p>
-
-<p>„Habt ihr das getan?“ fragte sie Suse. Diese nickte mit schuldigem
-Gesicht. Toni aber kletterte beschämt von ihrem Tisch herunter,
-Theobald sprang mit höflicher Verbeugung in die Höhe, und Hans machte
-ein Gesicht wie die Katze, wenn’s donnert.</p>
-
-<p>Den vier Ertappten war es schwül zumute. Die Pfarrfrau sagte: „Ihr
-wolltet Ursel überraschen, ihr wolltet ihr eine Freude machen, nicht
-wahr? Sie hat sich eine Matratze von ihren Verwandten kommen lassen.
-Ihre eigene hat sie in mein Bett geschafft und meine hat sie meinem
-Sohn gegeben. Edwins Matratze ist zu hart. Er muß zwei haben, sonst
-kann er nicht schlafen. Er ist krank. &mdash; Ihr lieben, lieben Kinder! Ihr
-wußtet, wie sie heute vor lauter Arbeit nicht zu Atem kommt. Nun kommt
-mal mit zu meinem Sohn!“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span></p>
-
-<p>„Hier sind die Diebe, die Missetäter,“ begann sie zu dem Missionar,
-indem sie Hans und Suse zärtlich bei der Hand faßte, „unsere kleinen
-Heinzelmännchen, die Ursel die Matratze geöffnet haben. Sie wollten ihr
-die Arbeit abnehmen. Nicht wahr?“ fragte sie und strich den beiden über
-den Kopf.</p>
-
-<p>„Nein, nein,“ stotterte Suse, „helfen wollten wir nicht, wir wollten ja
-nur sehen... wir wollten nachsehen &mdash; wir meinten, die Mumie sei drin.“</p>
-
-<p>„Oh, dieser Blödsinn von Suse,“ dachte Theobald und schlug die Augen
-zur Decke empor.</p>
-
-<p>„Was sagtest du, mein Kind?“ forschte Frau Cimhuber. Da fühlte Suse
-Theobalds Blick auf sich ruhen. Sie schluckte nur zweimal trocken
-runter vor Schrecken und stotterte: „Wir... wir... wir...“</p>
-
-<p>Doch Frau Cimhuber drang auch gar nicht weiter in sie, sondern forderte
-sie auf, Platz zu nehmen und eingemachte Früchte zu essen und Kuchen,
-den sie ihnen hinreichte.</p>
-
-<p>„Du ißt doch auch gern Kuchen, Theobald,“ wandte sie sich an den
-Stadtvetter.</p>
-
-<p>„Da, nimm dir hier dieses Stück. Dieses ist besonders gut. Du hast’s
-verdient.“</p>
-
-<p>Theobald knirschte innerlich vor Ärger. Wie die kleinen Kinder wurden
-sie behandelt, wie die richtigen kleinen Kinder. Und man fütterte sie
-wie die Piepmätze.</p>
-
-<p>Lieber schon wäre es ihm gewesen, Ursel und der Missionar wären
-plötzlich aufgesprungen und hätten mit ihm zu boxen angefangen. Aber
-dazu war wenig Aussicht vorhanden.</p>
-
-<p>Erleichtert atmete er deshalb auf, als Toni nach zehn Minuten aufstand
-und sich verabschiedete. Und draußen wurde es ihm erst recht klar, in
-was für einem Backofen er gesessen hatte, und mit dem Ruf: „Wie die
-Kamele, gerade wie die Kamele haben wir uns benommen,“ sprang er die
-Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal nehmend.</p>
-
-<p>Auch Hans und Suse zogen sich bald zurück, denn ihr Gewissen schlug
-schuldbewußt angesichts der vielen Liebenswürdigkeiten, die Frau
-Cimhuber ihnen erwies.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Am andern Tag zur Mittagszeit sahen sie dann den Missionar wieder. Er
-war heute wie in der folgenden Zeit sehr zurückhaltend.</p>
-
-<p>In der Schule, wo Suse so viel von dem Besuch des interessanten
-Afrikareisenden erzählt hatte, der Frau Cimhuber und mit ihr ein wenig
-auch Hans und Suse beehren werde, begann man sich bereits zu wundern,
-daß die spannenden Geschichten, die Suse von ihm erhofft hatte,
-ausblieben.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span></p>
-
-<p>Nun nahm in diesen Tagen Susens Klasse in der Geographiestunde gerade
-die Westküste Afrikas durch. &mdash; Dorther kam Herr Edwin &mdash; von der
-Goldküste.</p>
-
-<p>„Ach, wenn er doch einmal reden würde,“ dachte Suse voll Verlangens.</p>
-
-<p>Welche interessanten Dinge würde man da zu hören bekommen! Und welch
-bedeutenden Eindruck würde Suse in der Schule hervorrufen, wenn sie
-verkündete, daß sie einen Menschen kenne, der selbst in jenen Ländern
-gewesen war, der mit eigenen Augen die Menschen, die Tiere, die
-Pflanzen dort, alles, alles gesehen hatte, der viel mehr wußte, als in
-den Geographiebüchern stand. Wenn er nur redete!</p>
-
-<p>Da, am Tage vor der Geographiestunde, konnte Suse sich nicht mehr
-beherrschen und fragte mit einemmal bei Tisch, zu Hans gewandt, während
-sie im Grunde Herrn Edwin meinte: „Du Hans, wo seid ihr jetzt in der
-Geographiestunde? Wir sind jetzt an der Elfenbein-, Sklaven- und
-Goldküste; da herum.“</p>
-
-<p>„Wir nicht!“ sagte Hans und aß ruhig weiter. „Wir nehmen Deutschland
-durch.“</p>
-
-<p>Frau Cimhuber und ihr Sohn aber hatten von der Unterhaltung überhaupt
-nichts gehört.</p>
-
-<p>Suse räusperte sich deshalb und sagte lauter als vorher: „Hans, wir
-sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen Sklaven-, Gold- und
-Elfenbeinküste.“</p>
-
-<p>„Das hast du ja eben erst gesagt,“ meinte Hans und sah sie groß an.</p>
-
-<p>Da wandte sich Suse unter heftigem Erröten an Frau Cimhuber selbst,
-indem sie sagte: „Wir sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen
-Sklaven-, Gold- und Elfenbeinküste, Frau Pfarrer.“</p>
-
-<p>„Nein, das ist ja interessant,“ meinte die Pflegemutter mit einemmal
-aufmerksam. „Wie gut trifft sich das. Du, Edwin, die Kinder nehmen
-jetzt in der Schule die Goldküste durch,“ sagte sie zu ihrem Sohne. &mdash;
-„Da weißt du ja am besten Bescheid.</p>
-
-<p>Soll euch mein Sohn einmal davon erzählen?“ fragte sie die Geschwister.</p>
-
-<p>„Ja,“ riefen beide hochbeglückt.</p>
-
-<p>„Heute abend könntest du’s tun, wenn wir vom Spaziergang zurückkommen!“
-forderte die Mutter ihren Sohn auf. „Wie denkst du darüber? hast du
-Lust?“</p>
-
-<p>„Warum nicht? Sehr gern!“ antwortete er und nickte den beiden zu.
-Und sie nahmen seine wohlwollenden Blicke hin, als wär’ es schon der
-schönste Anfang einer Geschichte.</p>
-
-<p>Am Abend nach Tisch versammelte sich dann die ganze Gesellschaft;<span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span> Frau
-Cimhuber und ihr Sohn saßen im Sofa, Ursel und die Kinder auf Stühlen,
-und auf seinem Ständer in der Ecke der Negergott, der wieder auf seinen
-alten Platz verpflanzt worden war, nachdem die Kinder vor anderthalb
-Jahren ihre Pflegemutter gebeten hatten, ihn doch wieder hervorzuholen,
-sie fürchteten sich nicht mehr vor ihm.</p>
-
-<p>Totenstille herrschte, als Herr Edwin zu erzählen begann. Alles
-lauschte. Nur zuweilen hörte man Hans und Suse tief atmen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Von den großen Weltmeeren, über die er gefahren war, erzählte er,
-von den großen afrikanischen Wüsten, wo nachts der Ruf wilder
-Tiere herüberklang, von den undurchdringlichen Urwäldern, wo sich
-Schlingpflanzen mit Tausenden von bunten Blumen von Baum zu Baum zögen
-und ein köstliches Gewebe vor den Türen des geheimnisvollen Waldes
-bildeten.</p>
-
-<p>Hansens und Susens Augen glänzten.</p>
-
-<p>Wie ein Schauer ging es zuweilen durch sie durch, als er von der Größe
-und Schönheit von Gottes wunderbarer Welt sprach, und eine große
-Sehnsucht nach der Ferne kam über sie.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Das war ja alles viel, viel tausendmal schöner, als sie sich
-vorgestellt hatten.</p>
-
-<p>Da redete Herr Edwin aber mit einemmal von ganz anderen Dingen, und die
-Mienen der Kinder verdüsterten sich. Von den armen, elenden Menschen in
-den Tropenländern sprach er, die zuweilen ein Leben führten, schlimmer
-als die Tiere, die verkamen in geistiger und leiblicher Not. In
-ihrer Angst errichteten sie sich selbst Götter, aber was für Götter!
-Jammerbilder, Fratzen, sogenannte Fetische, die zuweilen nichts anderes
-waren als ein Stück bemalten Holzes oder bemalten Steines.</p>
-
-<p>„Dort die Figur in der Ecke,“ meinte Herr Edwin, auf das Negergöttlein
-auf seinem Ständer zeigend, „ist ein ganz besonders schöner Gott,
-verglichen mit vielen andern, die ich gesehen habe. &mdash; Ein wirklicher
-Staatsgott!“</p>
-
-<p>„Ein Staatsgott?“ sagte Suse ungläubig.</p>
-
-<p>Hans mußte das Lachen verbeißen, wenn er an den drolligen Wicht dort
-hinten in der Ecke dachte, dem der rechte Mundwinkel herabhing, als
-hätte er jahrelang eine Tabakspfeife drin gehalten und könne die Lippen
-nun nicht mehr heraufziehen.</p>
-
-<p>„Den beten sie an?“ fragte Suse erschreckt.</p>
-
-<p>„Ja, das ist ihre Gottheit!“ sagte Herr Edwin fast schmerzlich. „Ein
-solches Stück Holz ist ihr Gott.“ &mdash; „Ach, wie leiden sie unter dem
-Aberglauben!“ fuhr er fort. „Sie glauben sich von hunderten von bösen
-Dämonen umgeben. Das sind die Seelen der Verstorbenen, die sie Tag
-und Nacht verfolgen und nur auf Greuel sinnen. &mdash; All ihr Unglück<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span>
-schreiben sie ihnen zu, alle ihre Krankheiten, und dabei ist es doch
-nur die eigene Unsauberkeit und Unwissenheit, die ihre Krankheiten
-begünstigen.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Der Herr Missionar erzählte nun den Kindern einzelne Fälle von
-besonders unglücklichen Menschen, die er kennen gelernt hatte.</p>
-
-<p>Hans und Suse rückten mit ihren Stühlen immer näher an den Erzähler
-heran, fast auf ihn drauf.</p>
-
-<p>Sie waren jetzt ganz mit ihm in Afrika. &mdash; Es war Nachmittag. Sie
-fühlten die heiße Tropensonne, die auf sie herunterglühte, sie gingen
-durch hohen, gelben Sand, der ihnen stechend wie Nadeln durch die
-Kleider drang, sie sahen die Blätter der Palmen, die am Wege in der
-Glut der Sonne welkend herabhingen. Sie litten in der erstickenden
-Schwüle brennenden Durst. Sie fühlten, wie sie gleich Herrn Edwin von
-Fieberschauern geschüttelt wurden und vor Müdigkeit kaum mehr vorwärts
-schreiten konnten. &mdash; Aber sie mußten weiter, sie mußten vorwärts,
-denn vor dem nächsten Dorf am Wege lag ein Sklave &mdash; man hatte es
-ihnen gesagt &mdash; der vom Innern aus den Bergen mit einer Last gekommen
-war, und dem durch einen Unfall beide Beine zerschmettert worden
-waren. Voll rohen Sinnes hatten ihn seine Begleiter am Wege liegen
-lassen, unbekümmert darum, ob er in der Hitze sterbe oder nicht. &mdash;
-Nur ein Fetischpriester hatte ihm ein Amulett aus Leopardenhaar und
-Katzenwirbelknochen verkauft, das sollte ihn wieder gesund machen.</p>
-
-<p>Der Missionar und Hans und Suse erreichten den armen Menschen und sahen
-ihn vor sich liegen, ein Bild des Jammers. Herr Edwin verband ihn unter
-ihren Augen, und ihr Herz war von Dankbarkeit gegen den Helfer erfüllt.</p>
-
-<p>Je mehr der Herr Missionar erzählte, um so mehr empfand Suse einen
-schweren Druck auf ihrer Brust. Es waren ihre Pläne über Afrika, die
-sie quälten und bedrückten. Sie sah sich wieder dort mit ihrem Hofstaat
-von Affen und Papageien in einem Schloß wohnend, das viel schöner war
-als das der „Fremdlinge“, umgeben von Sklaven und gefeiert wie eine
-Königin. &mdash; Und daneben erblickte sie Herrn Edwin, der ein so hartes,
-ein so einsames und entbehrungsreiches Leben führte, ohne Lohn, ohne
-Dank, nur von dem Glauben beseelt, daß er Gutes tue Gott zur Ehre.</p>
-
-<p>Vor Beschämung wagte Suse nicht mehr aufzusehen. Und schließlich, in
-einer Pause, da hielt sie’s nicht mehr aus und sagte: „Ich hab’ mir
-auch vorgenommen, ich wollte Missionarin werden, Herr Edwin!“</p>
-
-<p>Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen. Suse saß da wie vor ihrem
-Todesurteil.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span></p>
-
-<p>Aber der Herr Missionar sagte ruhig: „Warum solltest du das nicht
-werden, Kind?“</p>
-
-<p>Suse glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. &mdash; Was hatte er gesagt? Sie
-durfte auch Missionarin werden, sie?</p>
-
-<p>„Das darf ich auch werden?“ fragte sie glückselig. „Gerade so wie Sie,
-Herr Missionar?“</p>
-
-<p>„Ja,“ sagte er.</p>
-
-<p>Auch Hans sah begeistert zu ihm hin. Da verdüsterte sich aber Susens
-Miene wieder und sie beichtete stockend: „Ich hab’ aber immer gedacht,
-Herr Missionar, wenn ich einmal Missionarin bin, möchte ich dafür
-schöne Sachen aus fremden Ländern haben.“</p>
-
-<p>„Aber, Suse!“ rief die Pfarrfrau entsetzt.</p>
-
-<p>„Nun,“ sagte der Missionar ganz ruhig, „das ist gar nicht so schlimm.
-Du kannst auch schöne Sachen dafür haben. Ich glaube aber, du wirst
-selbst bald einsehen, daß die im Grunde nebensächlich sind, und daß
-deine schönste Belohnung das Gefühl ist, den Menschen geholfen zu
-haben.“</p>
-
-<p>„Helfen wollte ich immer, Herr Missionar,“ sagte Suse mehr flüsternd
-als redend.</p>
-
-<p>„Die Helferei kenn’ ich,“ murmelte Ursel. Aber keiner hörte auf diesen
-Einwurf. Die Kinder achteten nur auf Herrn Edwin, der jetzt sagte:
-„Das ist ein schöner Vorsatz, den du da gefaßt hast, Suse, andern zu
-helfen und Gutes zu tun. &mdash; Die Welt ist ja so groß, und für jeden ist
-Platz drin, der etwas Tüchtiges und Gutes leisten will. Auch ihr könnt
-helfen. Ihr müßt nur die Zeit in euerer Jugend anwenden, damit ihr was
-lernt und hernach auch was könnt. Denn wer selbst nichts kann, kann
-auch andern nicht helfen.“</p>
-
-<p>„Das hat auch unser Vater schon gesagt,“ fiel Hans ein, „wenn ihr
-andern helfen wollt, müßt ihr erst selbst was können.“</p>
-
-<p>Herr Edwin nickte und erzählte weiter, und die beiden hingen jetzt mit
-doppelter Begeisterung an seinen Lippen, denn sie hatten die stolze
-Empfindung, daß auch sie ein Recht hätten, dermaleinst große Taten zu
-vollbringen wie Herr Edwin.</p>
-
-<p>„Sehen Sie, Ursel!“ sagte Suse vor dem Zubettgehen strahlend zu der
-alten Magd. „Ich kann auch Missionarin werden. Der Herr Edwin hat’s
-gesagt.“</p>
-
-<p>Ursel seufzte und sagte: „Wenn’s der Herr Edwin gesagt hat, wird’s wohl
-stimmen.“</p>
-
-<p>Lange konnten die Geschwister heute abend nicht einschlafen. Herrn
-Edwins Worte beschäftigten sie noch immer, und sie hatten ein Gefühl,
-als wären sie heute ein paar Jahre älter geworden und wüßten mehr als
-andere Leute. Die Welt erschien ihnen so groß und wunderbar wie nie
-zuvor.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span></p>
-
-<p>Von Tag zu Tag schlossen sich die Kinder nun mehr an den Besucher an
-und hörten manches gute Wort von ihm, das sie nicht so leicht vergaßen.
-Fast täglich sah man sie, glühend vor heimlicher Freude, an seiner
-Seite durch die Straßen gehen. Wer konnte sich auch rühmen, mit einem
-richtigen, leibhaftigen Missionar spazieren zu gehen, der so viele
-fremde Länder kannte, und so viel zu erzählen wußte? &mdash; Auch lustige
-Dinge berichtete er ihnen hin und wieder. Ach, einmal war sogar ein
-Neger, der nicht mehr viel sah, zu Herrn Edwin gekommen und hatte ihn
-gebeten, ihm ein paar Hunde- oder Katzenaugen einzusetzen, damit er
-wieder besser sehen könne.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Leider verging die schöne Zeit, in der Herr Edwin da war, nur allzu
-rasch. Nach ein paar Wochen schon, als er sich erholt hatte, ging er
-wieder fort. Hans und Suse begleiteten ihn allein zur Bahn, da die
-Pfarrfrau, von Abschiedsschmerz überwältigt, ihm das Geleite nicht
-geben konnte. Sie hatte eine Ahnung, daß sie ihn nie mehr wiedersehen
-werde.</p>
-
-<p>Hans sah auf dem Gang zur Bahn finster drein, um seine schmerzlichen
-Gefühle zu verbergen. Suse weinte zum Herzzerbrechen. Sie ließ es sich
-nicht nehmen, Herrn Edwins Geige bis zuletzt zu tragen und eigenhändig
-in das Gepäcknetz über seinen Platz zu legen.</p>
-
-<p>Noch einmal drückte er ihnen die Hand zum Abschied und sagte: „Ich
-bitte euch, bewahret euer reines Herz und bleibet immer gut!“</p>
-
-<p>Dann fuhr er davon.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Sie sahen ihn niemals wieder. Eines Tages starb er in den fremden
-Ländern, von denen er Hans und Suse so viel Wunderbares erzählt hatte,
-und wurde dort im Schatten einer Palme begraben.</p>
-
-<p>Aber das geschah alles zu einer Zeit, als die Doktorskinder nicht mehr
-bei Frau Cimhuber weilten.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="left" id="Fuenftes_Kapitel">Fünftes Kapitel.<br />
-
-<b class="s4 mleft2">Christines Reise</b></h2>
-
-</div>
-
-<p class="p0"><span class="initial">A</span>m nächsten Pfingstfest wurden Theobald und seine Geschwister von ihrem
-Onkel und ihrer Tante in das Doktorshaus eingeladen. Die Ferienzeit
-mit Hans und Suse verlief lustig, wie es zu erwarten war. Die ganze
-Gesellschaft tollte sich nach Herzenslust aus. Ausflüge in die Berge
-wurden gemacht, alte Bekannte im Dorf aufgesucht. Hans und Theobald
-strichen die Gartenmöbel an und besserten den Holzzaun des Vorgärtchens
-aus. Christoph und Henner machten gerade soviel dumme Streiche wie
-einst ihr Bruder Theobald vor Jahren.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span></p>
-
-<p>Am letzten freien Tag waren die Kinder bei Christine, dem alten
-Mütterchen mit dem freundlichen, guten Gesicht zu Gaste gebeten. Punkt
-zwölf Uhr sollten sie bei ihr sein. Sie zögerten lange.</p>
-
-<p>Da hörte sie endlich helles Lachen und das Laufen von vielen Füßen.
-Gleich darauf flitzen ein paar helle Köpfe am Fenster vorüber. Die
-Gäste waren gekommen.</p>
-
-<p>In zwei Sprüngen nahmen sie die steinerne Treppe vor dem Haus und
-standen atemlos im Stübchen.</p>
-
-<p>„Entschuldige, entschuldige,“ rief Suse, „wir konnten nicht eher
-kommen. Der Henner ist in den Brunnentrog gefallen und mußte sich erst
-trocknen und umziehen.“</p>
-
-<p>„Wirst du dich auch nicht erkälten, Kind?“ wandte Christine sich an
-Henner und strich ihm über das noch feuchte Haar.</p>
-
-<p>„Nein, nein, alles geht vorzüglich,“ meinte der.</p>
-
-<p>Da trippelte sie in die Küche, um das Essen anzurichten.</p>
-
-<p>„Kalbsbraten?“ fragte Suse ganz erstaunt, als sie in die Schüssel sah,
-die die alte Frau auf den Tisch stellte. &mdash; Das war ja ein Luxus, den
-sich die armen Gebirgsbewohner sonst nur an hohen Festtagen leisteten.</p>
-
-<p>„Kalbfleisch?“ fragte sie deshalb noch einmal in vorwurfsvollem Ton.</p>
-
-<p>Doch Christine verstand Suse falsch und flüsterte mit erschrockenem
-Blick nach den übrigen Kindern hin: „Mögen sie es nicht, Suse? Ist es
-ihnen nicht gut genug? Gelt, sie sind an Besseres gewöhnt? Es ist aber
-doch das Feinste, das wir hier haben.“</p>
-
-<p>„Viel zu fein ist’s,“ rief das Doktorskind. „Eine Suppe wäre gerade gut
-genug für uns gewesen.“</p>
-
-<p>„Nein, nein,“ wehrte Christine, „Kalbfleisch ist besser.“</p>
-
-<p>Nun halfen Toni und Suse beim Auftragen der Speisen, und die
-Gesellschaft fing zu essen an.</p>
-
-<p>Die Kinder mäßigten ihren Appetit etwas, weil der Doktor ihnen daheim
-anbefohlen hatte, Rücksicht auf der alten Frau geringe Vorräte zu
-nehmen.</p>
-
-<p>Aber Christine beängstigte ihr Maßhalten, und sie fragte deshalb
-wiederum erschreckt Suse: „Gelt, sie mögen mein Essen nicht? Gelt, sie
-ekeln sich vor mir, weil ich eine alte Frau bin?“</p>
-
-<p>Da flüsterte Theobald seinen Brüdern zu: „Eßt, ihr Dächse, wie die
-Nudelgänse, sonst geht’s euch schlecht. Immer Takt haben.“</p>
-
-<p>Da begann die Gesellschaft zuzulangen, daß Christine ihre helle Freude
-dran hatte.</p>
-
-<p>Ein halber Laib Brot verschwand, ein Kuchen folgte ihm nach, und von
-dem Kalbfleisch blieb auch nicht mehr viel übrig. In den Wassergläsern
-schenkte Christine den Kindern Waldbeerwein ein.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span></p>
-
-<p>Unter fröhlichen Gesprächen verging das Mahl.</p>
-
-<p>Die Doktorskinder brachten Christine einen ihrer alten Lieblingswünsche
-vor.</p>
-
-<p>„Christine, besuch uns doch einmal in der Stadt!“ rief Suse, „tu es
-doch.“</p>
-
-<p>„Ja,“ fielen auch die andern ein, „tun Sie es, bitte.“</p>
-
-<p>„Tu es, es wird herrlich,“ meinte Hans. „Dann sollst du alles in der
-Stadt zu sehen bekommen. Alles, alles.</p>
-
-<p>Den Zoologischen Garten, wo mein Kamel drin steht. Weißt du, das ich
-mal fast bekommen habe, das gräßliche Tier!“</p>
-
-<p>„Wenn ich dran denke, wie Ursel damals gejammert hat,“ rief Suse, „muß
-ich noch jetzt lachen. Ich hab’ gemeint, sie wird verrückt.“</p>
-
-<p>„Christine muß vor allen Dingen Ursel selbst sehen,“ erklärte hier
-Theobald, „diese blitzsaubere Person. Das Herz lacht einem im
-Leib, wenn man sie ansieht. So gut ist die, so liebenswürdig, so
-entgegenkommend, ein Engel in Menschengestalt.“</p>
-
-<p>„Und Frau Cimhuber, die ist auch sehr interessant,“ rief Toni.</p>
-
-<p>„Ja, die wird Ihnen den ganzen Tag von ihrem Sohn erzählen,“ meinte
-Theobald, „bis Ihnen ein Mühlrad im Kopf herumgeht. Edwin, Edwin,
-weiter hört man nichts von ihr.“</p>
-
-<p>„Das kann ich vollständig begreifen,“ erklärte Toni. „Sie hat nur einen
-einzigen Sohn, also redet sie von ihm. Der ist nämlich in Afrika,
-müssen Sie wissen, Christine, und den größten Gefahren ausgesetzt.
-Jeden Tag kann ihn der Tod überraschen, und seine Mutter ist fern von
-ihm.“</p>
-
-<p>Suse nickte.</p>
-
-<p>„Toni hat ganz recht,“ wandte sie sich an die alte Frau. „Nicht wahr,
-du würdest doch auch in großer Sorge sein, wenn du nur ein einziges
-Kind hättest und das wäre nicht bei dir und stürbe womöglich eines
-Tages. Ich denke es mir gräßlich, wenn man nur ein einziges Kind hat
-und das stirbt einem noch obendrein.“</p>
-
-<p>Christine nickte traurig vor sich hin und faltete ihre Hände.</p>
-
-<p>Da stieß Hans seine Schwester unter dem Tisch an, und Suse biß sich
-auf die Lippen, erinnerte sie sich doch plötzlich, daß sie eine große
-Taktlosigkeit begangen hatte.</p>
-
-<p>Christine hatte ja auch nur ein einziges Kind gehabt, eine Tochter, und
-die war gestorben in demselben Jahre, als Suse geboren wurde.</p>
-
-<p>Rosel hatte den Kindern einmal von diesem Trauerfall gesprochen und
-zwar mit geheimnisvoll düsterer Miene.</p>
-
-<p>„Gräßlich, gräßlich ist’s gewesen,“ hatte sie geflüstert, „man sollte
-nicht meinen, daß es solche Menschen gibt. Aber redet nicht davon. &mdash;<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span>
-Redet nicht davon, redet nicht davon.“ Mehr hatten sie nicht vernommen.
-Und die Frau Doktor, die von ihren Kindern gebeten worden war,
-ihnen einiges von Christines Tochter zu verraten, hatte nur gesagt:
-„Christine hat sehr viel Trauriges durchgemacht, aber erinnert sie
-nicht daran. Wenn ihr einmal größer seid, sollt ihr’s wissen.“</p>
-
-<p>Und nun hatte Suse eine solche Dummheit gesagt. Schnell rief sie
-deshalb dem alten Mütterlein zu, um sie abzulenken: „Das Haus von den
-Fremdlingen mußt du auch sehen, Christine. Wir führen dich dran vorbei.“</p>
-
-<p>„Und die herrlichen Granadasöhne auch,“ warf Christoph ein. „Wie die
-geschniegelten Äffchen auf der Stange sehen sie aus. So unmännlich,“
-sagte Theobald.</p>
-
-<p>„Und die Kathedrale müssen Sie sich auch betrachten, Christine,“ rief
-Toni. „Es ist ein rein gotischer, wunderbarer Bau. Wir haben ihn in der
-Kunstgeschichte neulich durchgenommen.“</p>
-
-<p>„Ja, Kirchen magst du ja so gern,“ stimmte Suse bei. „Da kannst du
-beten, und Hans und ich werden derweil hinten im Dunkeln zwischen den
-Säulen auf dich warten.“</p>
-
-<p>„Ins Kino muß Christine auch,“ rief Henner. „Vielleicht dürfen wir mit.
-Wir dürfen nur jedes Jahr einmal an unserem Geburtstag hin. Und auch
-nur, wenn’s ein Seestück zu sehen gibt oder ein Aquarium.“</p>
-
-<p>„Und das Museum sehen wir uns alle an,“ rief Hans.</p>
-
-<p>So zählten die Kinder immer weitere Sehenswürdigkeiten der Stadt auf.
-Einer wollte noch mehr wissen als der andere, jeder den besten Rat
-erteilen. Schließlich verstand keiner sein eigenes Wort mehr. Christine
-lachte fröhlich mit. Dabei ermahnte sie die Kinder immer wieder, ja
-auch tüchtig zu essen. Beim Abschied drängten Hans und Suse noch
-einmal: „Besuch uns ja, Christine, besuch uns in der Stadt!“</p>
-
-<p>„Vielleicht,“ antwortete die alte Frau nachdenklich, „vielleicht.“</p>
-
-<p>Da sprangen sie die steinerne Treppe hinunter, blieben aber an der
-kleinen Gartentür noch einmal stehen und riefen: „Gelt, Christine, du
-kommst? Gelt, du kommst? Sag’ ja, sag’ ja.“</p>
-
-<p>„Wenn der liebe Gott mich gesund erhält, komm’ ich,“ antwortete die
-alte Frau, und die Kinder stürmten freudig davon.</p>
-
-<p>Auf dem Weg, der zum Dorf hinaufführte, drehten sie sich zum letztenmal
-um und winkten ihr zu: „Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen.“ Dann waren
-sie ihren Blicken entschwunden. Die alte Frau aber blieb noch lange,
-in schweren Gedanken versunken, an ihrem Gartenzaun stehen. Sie dachte
-an die ferne, fremde Stadt, von der ihr soviel erzählt worden war und
-die sie schon lange einmal besuchen wollte. Nicht der Wunsch nach
-ihrer Schönheit und ihren Wundern trieb sie dorthin, auch<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span> nicht die
-Doktorskinder allein, sondern Dinge, von denen sie nicht reden wollte...</p>
-
-<p>Seit Wochen waren die Kinder nun schon in der Stadt, und Christine
-war noch immer nicht gekommen. Sicher hatte sie ihr Versprechen ganz
-vergessen.</p>
-
-<p>Und auch die Kinder, die in der ersten Zeit viel von ihrem Besuch
-gesprochen hatten, dachten zurzeit nicht mehr daran. Ganz andere Dinge
-bewegten sie. Ursel war wieder einmal nicht gut auf sie zu sprechen.
-&mdash; Hans trieb nach Ursels Ansicht die Anmaßung zu weit. Er wollte
-Geigenstunde nehmen. &mdash; Geigenstunde. Außer dem Herrn Missionar hatte
-nach ihrer Ansicht kaum noch ein anderer Sterblicher die Berechtigung
-zu geigen. &mdash; Und nun Hans erst. &mdash; „Der werde doch nie etwas
-Vernünftiges lernen,“ meinte sie. &mdash; „Der Herr Edwin hingegen, der Herr
-Edwin! Den hätten die Kinder in seiner Jugend mal geigen hören sollen.
-&mdash; Das war eine Freude, das war ein Hochgenuß. Der ergriff den Bogen
-und die Geige und geigte herrlich wie die Engel im Himmel.“</p>
-
-<p>„Wer’s glaubt!“ hatte Suse keck dazwischen gerufen. „Der Herr Edwin
-wird grad auch kein Orchestrion gewesen sein, wo man einen Groschen
-hineinwirft und dann musiziert’s und donnert’s los.“</p>
-
-<p>Kaum war Suse das Wort entfahren, so sagte sie über und über rot:
-„Nein, das war zu frech von mir. &mdash; Ich glaube wirklich, daß Herr Edwin
-mehr konnte als andere Kinder.“</p>
-
-<p>„Suse, du verdienst den Teller Suppe nicht, den du ißt,“ rief Ursel.</p>
-
-<p>„Und ich?“ forschte Hans, „am Ende ich auch nicht? Aber denken Sie
-daran, Ursel, meine Eltern wollen es, daß ich Geigenstunde nehme.“</p>
-
-<p>„Meinetwegen,“ brummte Ursel, „geige wo du willst, aber nicht in der
-Negerstube.“</p>
-
-<p>Die Kinder spitzten die Ohren. Aha, da lag der Hase im Pfeffer! Sie
-wollte nicht, daß die von Sauberkeit blinkende und blitzende Negerstube
-verwohnt werde.</p>
-
-<p>Zum Glück nahm sich diesmal die Pfarrfrau Hansens an und bestimmte, daß
-die Geigenstunde wirklich stattfände.</p>
-
-<p>Zweimal in der Woche geschah’s. Dann kam Herr Schnurr, der Lehrer.</p>
-
-<p>Welch ein verstruwelter, zerzauster Herr! Wie sehr stach Hans daneben
-ab, gar als er sich jedesmal vor der Stunde schniegelte und bügelte wie
-ein Offizier und mit blankgewichsten Schuhen und glänzendem Scheitel
-daherkam.</p>
-
-<p>Sein Lehrer war der Tumult selbst. Sobald sich die Tür der Negerstube
-hinter ihm geschlossen hatte, traf er umständliche Vorbereitungen
-zur Stunde. Er band seinen Schlips und Kragen ab, warf sie auf den<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span>
-nächsten besten Stuhl und reckte seinen Hals einige Male befreit in die
-Höhe. Dann klopfte er mit dem Geigenstock auf den Tisch zum Zeichen,
-daß der Unterricht beginne. Hans kletterte herzklopfend auf ein noch
-von Edwin Cimhuber stammendes Pult und stimmte mit Herrn Schnurr seine
-Geige. Das Spiel begann. Wehe, wenn die Töne falsch herauskamen oder
-der kleine Junge nicht im Takt spielte! Dann wurde Herr Schnurr zum
-wilden Löwen. Er stampfte mit dem Fuße auf, er rüttelte an den Stühlen,
-er sprang im Zimmer umher und fuhr sich in die Haare. Hans zitterte.
-Der Lehrer drückte seine Geige fester unter das Kinn, zählte laut eins,
-zwei, drei, sang a, a, a, wand sich in ohrwurmartigen Windungen immer
-höher, immer höher, bis er auf den Zehenspitzen stand wie eine Tänzerin
-und mit schmerzlich verzogenem Gesicht in dieser Stellung verharrte.</p>
-
-<p>„Halt, halt,“ schrie er plötzlich und warf die Geige hin, „willst du
-wohl aufhören, willst du mich ins Irrenhaus bringen!“</p>
-
-<p>Und Hans stand einen Augenblick da mit verglasten Augen und
-Schweißperlen auf der Stirn.</p>
-
-<p>Dann, als der Geigenlehrer wieder zu sich gekommen war, ging der Tanz
-aufs neue los.</p>
-
-<p>Im Zimmer nebenan saß Suse und konnte ihr Lachen nicht bändigen.
-Von Zeit zu Zeit spähte Ursel mit argwöhnischer Miene zur Tür
-der Negerstube herein, als fürchte sie, der Geigenlehrer prügele
-die Negerprunkstücke von den Wänden herab oder trommele auf den
-Polstermöbeln herum, anstatt zu geigen.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber aber ging jedesmal spazieren, wenn Herr Schnurr kam.</p>
-
-<p>Einmal trat Ursel bei Suse ein, und als sie das kleine Mädchen lachend
-vorfand, wollte sie zornig werden. Aber Suse umarmte sie und rief: „Ich
-kann nicht mehr. So was Schönes hab’ ich noch nie gehört.“</p>
-
-<p>„Laß die Albernheiten,“ meinte Ursel streng.</p>
-
-<p>Aber als sie aus dem Zimmer ging, merkte Suse doch an dem Wackeln
-ihrer Schultern, wie sehr sie lachte. Also war selbst Ursel für die
-Geigenstunde gewonnen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Nun mußte nur noch für Suse Rat geschaffen werden. Das Doktorskind
-wollte gern, daß die alte Magd ihr für eine Einladung, die nächste
-Woche stattfinden sollte, zwei Napfkuchen backe. Ursel aber wollte von
-einer solch üppigen Tafelei nichts wissen.</p>
-
-<p>„Umstände werden nicht gemacht,“ erklärte sie klipp und klar.
-„Honigbrot und Butterbrot bekommt ihr und jede zwei Tassen Malzkaffee.
-Und damit basta.“</p>
-
-<p>„Das ist alles?“ rief Suse und faltete vor Schreck die Hände. „Ist das
-Ihr Ernst, Ursel? Aber denken Sie an, was das für einen Eindruck<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span> auf
-den Besuch macht. &mdash; Meine Freundinnen haben immer Marzipan und Kuchen
-und Biskuit und Schokolade und Schlagsahne, die reine Konditorei.“</p>
-
-<p>„So, und da schämt ihr euch nicht und eßt das alles auf einmal auf?“
-rügte Ursel. „Und das erzählst du mir auch noch? So ein Schwelgerleben
-steht noch nicht einmal im Kalender. &mdash; Sodom und Gomorrha werden nicht
-mehr lange auf sich warten lassen bei eurem Sündentrubel.“</p>
-
-<p>Suse lachte hell.</p>
-
-<p>Kaum hatte sie sich aber soweit vergessen, da bereute sie es auch
-schon; denn Ursel sah sie an wie die strafende Gerechtigkeit. Umsonst
-schmeichelte Suse jetzt: „Bitte, bitte, liebe Ursel, machen Sie mir
-doch einen Stärkepudding und zwei Napfkuchen. Hans und ich wollen auch
-eine ganze Woche lang kein Fleisch essen.“</p>
-
-<p>Die Magd schwieg. Suse flehte weiter: „Wenn Sie wüßten, wie gut es
-die andern Mädchen haben im Vergleich zu mir, würden Sie barmherzig
-werden. Denken Sie sich, bei manchen gibt es auch süßen Likör und
-Blumensträußchen.“</p>
-
-<p>„Blumensträußchen könnt ihr haben, soviel ihr wollt. Die könnt ihr euch
-im Walde holen. Dagegen hab’ ich nichts, aber Stärkepudding gibt’s
-nicht und keinen Kuchen.“</p>
-
-<p>„Und in der Negerstube wird auch nicht getafelt. Eßt in deiner Stube.“</p>
-
-<p>„Was,“ rief Suse, „fünfzehn Kinder kommen ja gar nicht in mein Zimmer
-rein. Das ist doch nicht fein für eine Einladung, daß man aufeinander
-sitzt wie die Heringe. Heutzutage ist alles für Licht und Luft. Meine
-Freundinnen werden krank vor Hitze in meinem kleinen Zimmer.“</p>
-
-<p>„Ach was, so leicht wird sich’s nicht krank,“ meinte Ursel kaltblütig.
-„Eßt nicht zu viel und trinkt schön langsam und nicht so viel auf
-einmal, macht fleißig Durchzug mit Türen und Fenstern und trinkt kaltes
-Wasser von der Leitung, dann bleibt ihr frisch wie die Fische im
-Wasser.“</p>
-
-<p>„Aber Ursel,“ rief Suse entrüstet, „glauben Sie, meine Freundinnen
-kommen zu mir, weil sie Wasser schlucken wollen wie die Fische. Die
-wollen doch unterhalten sein und was Feines essen.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Das Doktorskind weinte.</p>
-
-<p>Ursel blieb hart.</p>
-
-<p>„Anderer Leute Kinder haben’s viel besser als wir,“ seufzte Suse etwas
-später zu ihrem Bruder.</p>
-
-<p>„Warum nicht gar!“ rief der entrüstet. „Wer denkt denn an solche
-Sachen! Wer hat denn so gute Eltern wie du und ich?“</p>
-
-<p>„Freilich, freilich, du hast recht,“ antwortete die Schwester
-kleinlaut, „aber sie sind ja so weit.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span></p>
-
-<p>Suse seufzte für sich allein weiter. Sie hatte große Bedenken, ob
-ihre Einladung auch schön genug ausfallen würde. Von jeher hatte sie
-es ja schmerzlich empfunden, daß die meisten Kinder ihrer Umgebung in
-glänzenderen Verhältnissen lebten, schönere Feste gaben und feinere
-Kleider anziehen konnten als sie selbst.</p>
-
-<p>Hans und seine Freunde fragten viel weniger nach diesen
-Äußerlichkeiten. Was machte es aus, wenn einer der Knaben auch mal
-einen besseren Anzug anhatte als der andere! Das merkte Hans kaum.
-Außerdem fiel es ihm und seinen Freunden auch nicht ein, einander
-einzuladen oder mit schönen Dingen zu beschenken.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Zum Glück hielten aber auch bei Suse die trüben Betrachtungen über
-des Lebens verschieden ausgeteilte Lose nicht lange an. Und sie sah
-voll geheimer Freude dem Fest, das sie ihren Mitschülerinnen geben
-wollte, entgegen. Von daheim traf zur rechten Zeit noch ein Paket
-mit Blumen und Gebäck ein und ließ Susens Herz vor Freuden hüpfen.
-Stolz konnte sie nun zur Schule gehen und ihre Einladungen dort
-verteilen. Jubelnd wurden diese von den Schülerinnen ihrer Klasse in
-Empfang genommen, weil sie wohl wußten, wie gar lustig es bei der
-muntern Suse hergehen werde. Nur einige von ihren Schulgefährtinnen
-überging Suse mit ihrer Einladung. Zu ihnen gehörte auch die schwarze
-Karla, das hübscheste, begabteste Mädchen der Klasse, dessen Eltern
-in glänzenden Verhältnissen lebten. Von jeher hatte dieses Mädchen
-Susens größte Bewunderung auf sich gezogen wegen ihrer Sicherheit,
-Schönheit und Klugheit. Aber gerade weil das Doktorskind jenen Stern
-unter den Schülerinnen so sehr bewunderte, hielt sie sich abseits.
-&mdash; Sie mochte sich nicht auch noch aufdrängen, wo schon so viele
-andere Schulgefährtinnen um die Gunst jenes Mädchens warben. Und dann
-fürchtete sie auch die Spottlust der schwarzen Karla. Denn als Suse
-vor Jahren aus ihrem kleinen Gebirgsdorf gekommen war, hatte niemand
-belustigter hinter ihr hergesehen, als jenes Mädchen.</p>
-
-<p>Zu ihrem größten Erstaunen bemerkte nun Suse, wie Karla betrübt und
-enttäuscht drein sah, als sie mit der Einladung übersehen worden war,
-und nach Schulschluß, als Suse die Treppe hinunterging, kam sie sogar
-hinter ihr her und steckte ihren Arm unter den des Doktorskindes und
-fragte in ihrer liebenswürdigen Weise: „Weshalb lädst du mich nicht
-auch ein, Suse? Ich möchte doch so gerne zu dir kommen. Sicher wird es
-sehr fein bei dir.“</p>
-
-<p>Susens Herz klopfte laut. Sie konnte vor freudiger Erregung zuerst kein
-Wort herausbringen. Das schönste und begabteste Mädchen der Klasse
-bemühte sich um sie. Andere warben um Karlas Gunst, und sie trug ihr
-die Freundschaft selbst an.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span></p>
-
-<p>Arm in Arm trat sie jetzt mit ihrer neuen Freundin durch das Tor hinaus
-auf die Straße. &mdash; Noch immer vermochte sie kaum zu reden.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Jenseits, auf dem Steig der Fußgänger, hatte wohl schon eine halbe
-Stunde lang ein altes Mütterchen gestanden, die Augen sehnsüchtig auf
-das Tor ihr gegenüber geheftet. &mdash; Sie war in die Tracht der alten
-Frauen vom Lande gekleidet und trug am Arm einen Henkelkorb mit einem
-weißen Tuch bedeckt und in der Hand einen dicken Schirm. Als die ersten
-kleinen Mädchen aus der Tür traten, leuchtete ihr Gesicht hell auf.
-Man sah’s ihr an, sie hatte auf eins von ihnen gewartet. &mdash; Zufällig
-flogen Susens Blicke zu ihr hinüber und sie fuhr zusammen. &mdash; Das war
-ja &mdash; das war Christine! Wie kam sie hierher? War ihr wirklich kein
-Weg zu weit gewesen, keine Reise zu mühselig, um die geliebten Kinder
-aufzusuchen? Sie wartete auf Suse. Man sah’s ihr an. Sie wollte auf sie
-zukommen. Aber weshalb lief Suse jetzt nicht zu ihr hin und umarmte sie
-und zeigte ihr Entzücken? Weshalb wendete sie sich krampfhaft auf die
-andere Seite?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Sah denn Christine wirklich so komisch und armselig aus mit ihrem
-Kapothut, der ihr wie ein kleiner Kobold auf dem Kopfwirbel saß und
-seine Bänder flattern ließ, mit ihrem Rock, der viel zu kurz war, so
-daß man ihre mageren Beine mit den grauen Strümpfen und die bunten
-Pantoffeln sehen konnte? Mußte man sich ihrer wirklich schämen?</p>
-
-<p>Schämen gerade nicht. &mdash; Aber die feine, stolze Karla! Was würde die
-darüber denken? Suse ging weiter, ohne Christine zu grüßen.</p>
-
-<p>Eine Weile stand die alte Frau erschrocken da und blickte Suse nach.
-Das kleine Mädchen mußte sie erkannt haben. &mdash; Deutlich hatte sie
-ihren Blick gefühlt. Doch warum hatte sie sich abgewandt und war nicht
-jubelnd auf sie zugekommen wie sonst wohl? Langsam, langsam wurde es da
-der alten Frau klar, daß sich Suse ihrer schäme und sie nicht kennen
-wolle. Noch einen langen, sehnsüchtigen Blick schickte sie hinter
-dem jungen Mädchen her, dann wandte sie sich traurig um und ging mit
-gesenktem Kopf die Straße hinunter. Ihr war es, als habe sie ihr Herz
-verloren. Sie kam sich so ausgestoßen und fremd vor, hier in dieser
-großen Stadt, wie in einer Wildnis. Suse hätte doch fühlen müssen, wie
-einsam sie hier war und hätte zu ihr kommen müssen. Aber sie hatte es
-nicht getan.</p>
-
-<p>Die alte Frau wanderte nun ratlos hin und her durch mancherlei Gassen
-und Straßen, ohne zu wissen wohin. Schließlich brachte ihr Weg sie in
-die Anlagen der Stadt, wo frischer Rasen grünte, hohe Bäume wuchsen und
-hier und da vor blühenden Sträuchern Bänke standen. Auf einer davon
-ließ sich Christine müde nieder. Sie sah noch immer erschrocken
-drein. Aber kein bitterer Gedanke gegen das kleine Mädchen bewegte ihr
-Herz.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span></p>
-
-<div class="figcenter">
- <a id="p125" name="p125">
- <img class="mtop2 mbot2" src="images/p125.jpg"
- alt="Christine in der Stadt" /></a>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span></p>
-
-<p>Suse hatte ja recht, daß sie so vornehm tat. &mdash; Suse war ja ein so
-großes, kluges Mädchen geworden und hatte so viel gesehen und so viel
-gelernt in dieser herrlichen Stadt.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Und Christine war die arme, alte, unwissende Frau geblieben, mit der
-man keinen Staat machen konnte. Längst vergangen waren ja die Zeiten,
-in denen Suse ein kleines unschuldiges Kind war, das Christine über
-alles liebte. Aber die alte Frau murrte nicht, sie wußte wohl, alles
-Schöne und alles Gute hatte der liebe Gott ihr nur für eine bestimmte
-Zeit gegeben, um es ihr dann wieder zu nehmen. So war es sein Ratschluß.</p>
-
-<p>Lange Zeit saß Christine, in diesen Gedanken versunken, auf der Bank
-und konnte noch immer keinen Entschluß fassen, wohin sich wenden. Zu
-Frau Cimhuber wollte sie nicht gehen. &mdash; Sie fürchtete, auch dort nicht
-willkommen zu sein. &mdash; Und dann hatte sie noch einen andern Besuch vor,
-den wichtigsten und schwersten, der ihr Geheimnis war, von dem selbst
-die Doktorskinder nichts wissen sollten. &mdash; Den wagte sie nun nicht
-mehr auszuführen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Wenn Suse schon so ablehnend zu ihr tat, was konnte sie erst von jenen
-fremden Leuten erwarten, denen der Besuch gelten sollte?</p>
-
-<p>Mitten in diesen Betrachtungen fuhr sie zusammen. Ein Windstoß hatte
-das weiße Tuch, das über ihren Korb gebreitet war, aufgehoben und trieb
-es in die Sträucher hinter ihr. Ein Heidelbeerkuchen, den sie den
-Kindern mitgebracht hatte, wurde im Korbe sichtbar.</p>
-
-<p>Die alte Frau erhob sich umständlich, legte ihren Schirm vorsichtig
-neben sich und sah sich nach ihrem Tuche um. In diesem Augenblick
-ertönte ein Jubelschrei, und von dem Wege her, der in einiger
-Entfernung von der Bank vorüberführte, kamen zwei Knaben auf sie
-zugerannt. Es waren Hans und Theobald. Zufällig hatten die beiden
-Vettern ihren Heimweg aus der Schule durch die Anlagen genommen und
-trafen jetzt unerwartet auf Christine. Beide gerieten in große Freude.
-Hans sagte in einemfort, Christines Hand drückend: „Wo kommst du her,
-wo kommst du her? Oh, wenn Suse wüßte, daß ich dich zuerst getroffen
-habe, wie würde die sich ärgern!“</p>
-
-<p>Theobald aber schlang seinen Arm um das alte Mütterchen und deklamierte
-in seiner närrischen Art: „Habe ich dich endlich wieder gefunden? Ruhe
-an meinem Herzen, mein süßer Schatz.</p>
-
-<p>Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben...</p>
-
-<p>Wissen Sie noch, in jener Zeit, Christine, als Sie mich im Bett
-versteckt haben, weil der Schmied mit dem Dreschflegel vor der Tür
-stand<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span> und mich versohlen wollte, weil ich seinem jüngsten Flachskopf
-auf den Kopf gespien hatte?“</p>
-
-<p>Die alte Frau hatte sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholt.
-&mdash; Hier war Hans, und da war Theobald, die beiden Knaben, und einer
-freute sich noch mehr als der andere. &mdash; War es denn kein Traum? &mdash;
-Merkten sie denn nicht, daß immerzu fremde Leute vorübergingen und
-zusahen, wie sie eine arme, alte Frau voll Liebe begrüßten. Die Knaben
-sahen es wohl, aber sie machten sich nichts daraus.</p>
-
-<p>Da breitete sich langsam über Christines Gesicht ein glückliches
-Lächeln, und sie drückte Hans dankbar die Hand.</p>
-
-<p>„Sie müssen natürlich bei uns zu Mittag essen,“ fiel Theobald hier ein,
-„meine Mutter hat schon immer gesagt: ‚Wenn Christine kommt, ladet sie
-ein.‘ Was wollen Sie auch bei der Cimberklinkerin und der Ursel? Ich
-sage Ihnen, das unzutunlichste Geschöpf meines Lebens. Die rechnet ja
-doch gleich nach, wieviel Margarine und sonstigen Tutti Frutti sie in
-die Pfanne tun muß, wenn Sie mitessen!“</p>
-
-<p>Und mit diesen Worten hatte der Stadtvetter auch schon den Schirm der
-alten Frau ergriffen und Hans ihren Korb übergeben. Dann machte sich
-das seltsame Kleeblatt auf den Weg nach Hause.</p>
-
-<p>„Eins, zwei, drei,“ kommandierte plötzlich Theobald, und die Knaben
-gingen in einen Polkaschritt über.</p>
-
-<p>„Laßt doch, laßt doch,“ wehrte Christine, „das darf man ja nicht hier.“</p>
-
-<p>„Was darf man nicht?“ rief Theobald, „alles darf man, was man will. &mdash;
-Wenn sich einer untersteht und seinen Mund auftut, so spieße ich ihm
-Ihren Paraplü mitten durch den Leib.“</p>
-
-<p>Und nachdem der Stadtvetter also großspurig geredet hatte, wurde er
-wieder liebenswürdig und erkundigte sich nach allem aus Christines
-Heimatsort, nach ihrem Häuschen und ihrer Ziege, nach ihren Kartoffeln
-und Bohnen, selbst nach dem Reiserbesen, den er ihr in den letzten
-Ferien gebunden hatte. Und zuletzt steuerte er mit seinen Begleitern
-auf ein schmuckes Haus in einem großen Garten zu, indem er erklärte:
-„Nun wollen wir gemeinsam in unsern Wigwam einfallen.“</p>
-
-<p>Damit öffnete er weit und einladend die Tür seines Vaterhauses...</p>
-
-<p>Was war inzwischen aus Suse geworden? &mdash; An der Seite der schwarzen
-Karla war sie in entgegengesetzter Richtung davongegangen wie
-Christine, beherrscht von dem Gefühl des Triumphes, den sie errungen
-hatte. &mdash; Wie in einem Taumel war sie zuerst befangen. Sie war die
-Königin der Klasse geworden, umworben von dem einflußreichsten Mädchen
-unter ihren Mitschülerinnen. Und an ihrer Seite redete jenes schöne
-Mädchen nun lauter angenehme Dinge, die ihr kleines, eitles Herz
-erfreuten. &mdash; Sie beide gehörten zusammen, meinte<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span> Karla. Sie seien ja
-die begabtesten Kinder der Klasse. Suse müsse sie recht oft besuchen,
-ihre Eltern hätten schon häufig darum gebeten. Was für schöne Stunden
-würden sie gemeinsam verbringen!</p>
-
-<p>Doch je weiter sie sich von der Schule entfernten, je weniger achtete
-das Doktorskind auf der Freundin schmeichlerische Reden. Scheu blickte
-sie sich einmal um und sah Christine ganz in der Ferne davongehen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Da wurde des kleinen Mädchens Gang zögernder, ihre Antworten
-unsicherer, ihr ganzes Wesen unruhig. Sie zog ihren Arm unter dem ihrer
-Freundin hervor und blieb unschlüssig stehen.</p>
-
-<p>„Was hast du, Suse?“ fragte ihre Freundin.</p>
-
-<p>Das Doktorskind antwortete nicht und ging langsam mit ihr weiter. &mdash;
-Sie sah jetzt immer Christines erschreckte Augen hilflos auf sich
-gerichtet, und langsam wurde ihr klar, was sie eigentlich getan hatte.
-Mit verstörtem Gesicht sah sie sich abermals um. Da sah sie ihre
-Freundin Gretel, die sich in der Schule etwas verspätet hatte, des
-Weges kommen.</p>
-
-<p>Und das kleine Mädchen erzählte ganz aufgeregt von einem armseligen,
-altmodisch gekleideten Mütterchen, das vor der Schule gestanden sei und
-so verirrt und traurig ausgesehen habe, daß es sie gedauert habe.</p>
-
-<p>„Sicher ist sie vom Lande,“ meinte Gretel, „und wußte nicht wohin. Ach,
-wie tat sie mir leid. Sie sah so ängstlich um sich. Am liebsten hätte
-ich sie mitgenommen.“</p>
-
-<p>Schon gleich bei den ersten Worten ihrer Freundin war Suse
-zusammengefahren.</p>
-
-<p>Nun gab es kein Halten mehr für sie.</p>
-
-<p>„Das war Christine,“ rief sie, „Christine, von der ich dir schon so
-viel erzählt habe, Gretel. Aus meinem Heimatsort. Hansens und meine
-alte Kinderfrau. Sie ist gekommen und will uns besuchen, Hans und mich.
-Sie hat uns so lieb und ist so gut zu uns, und ich hab’ sie verleugnet.
-Ach, wenn sie jetzt fort ist, ist alles aus.“</p>
-
-<p>Und vor den erstaunten Augen ihrer Freundin riß sie sich los und flog
-davon zur Schule zurück. Aber als sie dort ankam, war weit und breit
-niemand mehr zu sehen. Da irrte sie weiter durch die Straßen und
-Gassen, in denen sich die heiße Glut des Mittags fing, und suchte nach
-der alten Frau. Umsonst. Auch im Hause von Frau Cimhuber, wo sie nach
-ihr forschte, war sie nicht gesehen worden. So bestand denn nur noch
-die Möglichkeit, daß sie mit dem nächsten Zug in die Heimat gefahren
-sei. Aber auch vom Bahnhof mußte Suse unverrichteter Sache wieder
-umkehren. Erschöpft kam sie daheim an. Ein freundlicher Empfang ward
-ihr hier nicht zuteil. Denn als sie ängstlich durch die Küchentür
-spähte, sah sie von Ursels Scheuerwasser Spritzer und Strahlen
-aufsteigen, wie von spielenden Delphinen, und ihr entgegen klang es
-zor<span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span>nig: „Zweimal ist schon nach dir gefragt worden. Christine und Hans
-sind bei deiner Tante Hedi und essen zu Mittag. Jeder ist schon in
-Angst um dich. Frau Cimhuber hat schon ihre Migräne.“</p>
-
-<p>Da machte Suse, so schnell sie konnte, die Tür hinter sich zu und lief
-in ihr Zimmer. Dort schloß sie sich ein und weinte. Christine war da,
-Christine war gefunden. Kein Mensch hatte ihr ein Leid zufügen dürfen.
-Kein Weg hatte sie irre geleitet. Sie war in Gottes Hand gewesen.</p>
-
-<p>Noch saß Suse stumm da, die Hände wie im Gebet gefaltet, da hörte sie
-Besuch kommen. Sie horchte hin und hörte Hans reden und noch eine
-andere liebe Stimme. &mdash; Christine war gekommen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Im nächsten Augenblick rüttelte Hans auch schon an ihrer Tür und rief:
-„Mach auf, mach auf, wir sind draußen.“</p>
-
-<p>Und als sie öffnete, stürmte er über die Schwelle, Christine mit sich
-ziehend, und rief mit blitzenden Augen: „Hier, hier, sieh, wen ich hier
-habe, ich habe sie gefunden. &mdash; Was sagst du nun, was sagst du nun?“</p>
-
-<p>„Was ich sage,“ tönte da ungefragt eine Stimme aus der Küche, wo Ursel
-herumwirtschaftete. &mdash; „Was ich sage, in einer Minute kommt Herr
-Schnurr. &mdash; Kein Pult ist zurecht gerückt, kein Geigenkasten steht am
-Platz, kein Bogen ist eingerieben! Soll ich’s vielleicht besorgen?“</p>
-
-<p>Diese Nachfrage fuhr Hans derartig in die Glieder, daß er auf der
-Stelle zurückflog, in die Negerstube eilte, dort rückte und schob und
-in den Gang zurückkehrte, wo er sich bürstete und glättete, und gleich
-darauf mit höflicher Miene den Lehrer empfing.</p>
-
-<p>Christine aber stand auf der Türschwelle mit ihrem Korb und Schirm in
-der Hand und wagte nicht einzutreten.</p>
-
-<p>„Christine komm, Christine komm,“ sagte Suse und zog sie an der Hand
-herein.</p>
-
-<p>Und mitten in der Stube blieb sie plötzlich stehen, drückte beide
-Handrücken vor die Augen, wie sie oft als Kind getan, und begann
-bitterlich zu weinen. Da nahm die alte Frau ihr die Hände vom Gesicht
-weg, zog sie fest an ihre Brust und hielt sie dort verborgen.</p>
-
-<p>„Weine nur nicht,“ tröstete sie, „der liebe Herrgott weiß alles, und er
-macht alles, alles gut. Sei still Suse. Sei jetzt nur ganz still, Kind.
-&mdash; Ich habe euch auch Heidelbeerkuchen mitgebracht. &mdash; Sieh her! Es
-sind nicht mehr viele Beeren darauf, du weißt ja, ich kann nicht mehr
-so weit gehen und sie suchen. Ich bin eine alte Frau. &mdash; Ganz nahe am
-Fuchskopf, wo ich sie sonst immer geholt habe, finde ich jetzt keine
-mehr. Die Kinder holen sie alle weg. &mdash; Aber er hat euch ja immer am
-besten geschmeckt, der Heidelbeerkuchen. &mdash; Glaubst du, du magst ihn
-noch? &mdash; Er ist ja sicher nicht so gut wie der, den ihr in der Stadt
-bekommt. &mdash; Und ihr scheut mich doch nicht, weil ich eine arme alte
-Frau bin?“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span></p>
-
-<p>Und Christine hob vorsichtig den Kuchen heraus, der auf einem Teller im
-Korb stand, und stellte ihn auf den Tisch. Und Suse schnitt sich ein
-Stück ab und fing an zu essen, obwohl der Kuchen und die Tränen sie am
-Schlucken hinderten.</p>
-
-<p>„Gelt, Christine, du denkst jetzt nicht mehr gut von mir?“ fragte sie,
-nachdem sie sich ausgeweint hatte. „Es liegt dir jetzt nichts mehr an
-mir. Und du frägst auch nichts mehr nach der Stadt?“</p>
-
-<p>„Aber freilich, Suse. Ich will doch die schöne Stadt sehen, von der du
-mir immer so viel erzählt hast. Ich bin ja nur einmal in meinem Leben
-hierher gekommen, und wenn ich jetzt fortgehe, komm’ ich niemals mehr
-wieder. Das spür’ ich, ich bin viel zu alt dazu.“</p>
-
-<p>„Wollen wir gleich gehen und alles besehen?“ drängte Suse.</p>
-
-<p>„Nein, nein, wir warten erst, bis Hans mitgehen kann.“</p>
-
-<p>„Gelt, du hast Hans jetzt lieber als mich,“ flüsterte Suse. Christine
-schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich habe euch alle gleich lieb.“ Und
-sie wischte Suse mit ihrem Taschentuch das Gesicht ab.</p>
-
-<p>Danach führte das Mädchen die alte Frau durch ihr Zimmer und zeigte ihr
-die ganze Einrichtung, auch den Schrank mit ihren Heften und Büchern.
-Mit gefalteten Händen stand die alte Frau davor und richtete ihre
-Blicke bewundernd auf Suse. &mdash; Alle diese Hefte hatte ihr Liebling, die
-Suse, vollgeschrieben, in all diesen Büchern konnte sie lesen, fremde
-Sprachen lernte sie sogar. &mdash; Was war sie doch für ein bedeutendes
-Mädchen geworden.</p>
-
-<p>Aber noch heller strahlten Christines Augen, als sie plötzlich ihren
-Wachsengel im Glaskasten auf der Kommode entdeckte. &mdash; Unversehrt stand
-er dort, heilig gehalten von den Kindern. Wie waren sie doch gut!</p>
-
-<p>Ein dankbarer Blick traf Suse, aber dem jungen Mädchen stieg eine heiße
-Röte in die Wangen, und schnell führte sie ihren Besuch zum Fenster,
-damit sie einen Blick in die schwindelnde Tiefe tue, wo die Menschen
-klein wie Mücken spazieren gingen. &mdash; Gerade beugte sich Christine voll
-Staunen über die Fensterbrüstung, da trafen laute Stimmen ihr Ohr und
-sie fuhr zusammen. Der Lärm kam aus der Negerstube, wo Herr Schnurr
-wieder einmal außer Rand und Band umherhüpfte, weil Hans aus lauter
-Freude über den Besuch seiner alten Kinderfrau zum Erbarmen spielte.</p>
-
-<p>Als der Lärm lauter wurde, bekreuzigte sich Christine, nahm Suse bei
-der Hand und sagte gefaßt: „Komm, Kind, wir gehen, hier ist es nicht
-geheuer.“ Aber Suse hielt sie zurück und erklärte: „Ach, Christine, das
-ist ja nur Hans seine Geigenstunde.“</p>
-
-<p>„Seine Geigenstunde?“ fragte Christine ganz verstört. &mdash; So was
-vermochte sie nicht zu fassen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span></p>
-
-<p>„Wir wollen ihm helfen,“ sagte sie deshalb. „Das endet nicht gut.“</p>
-
-<p>„Nein, nein, Christine, so geht’s immer. Zuerst ist Herr Schnurr oft
-wie außer sich, und hernach streicht er Hans über den Kopf Und sagt:
-‚Brav, Büberl, mach’s das nächstemal wieder so.‘“</p>
-
-<p>Trotz dieser zuversichtlichen Rede beruhigte sich Christine keineswegs.
-Bei jedem neuen Schelten fuhr sie zusammen. Ihren Schirm und Korb in
-der Hand stand sie auf dem Sprung da.</p>
-
-<p>Ihre Angst vor der großen Stadt, wo alles drüber und drunter ging,
-wo man nicht ein noch aus wußte, wurde immer größer, und schließlich
-beschlich sie ein unheimliches Gefühl, als könne sie den weiten Weg
-nach Hause nicht mehr zurückfinden.</p>
-
-<p>„Christine, gelt, du bleibst noch ein paar Tage bei uns?“ bat Suse.</p>
-
-<p>„Nein, nein, ich will morgen wieder fort,“ sagte die alte Frau
-ängstlich. „Ich muß nach meiner Ziege sehen und nach meinem Garten.“</p>
-
-<p>Suse machte ein trauriges Gesicht und fragte leise: „Gelt, Christine,
-du willst wieder fort, weil ich so häßlich zu dir war?“</p>
-
-<p>„Nein, nein, ich bin ja nicht zu euch allein gekommen, Suse, ich
-bin noch wegen einem andern kleinen Mädchen gekommen, das will ich
-aufsuchen.“</p>
-
-<p>Suse horchte verwundert auf.</p>
-
-<p>„Zu einem andern kleinen Mädchen?“</p>
-
-<p>Die alte Frau nickte. „Freilich.“</p>
-
-<p>„Aber, Christine, hast du Verwandte hier?“</p>
-
-<p>„Ja, es ist eine Enkelin von mir, ein kleines Mädchen, so alt wie du.“</p>
-
-<p>„Was, Christine, du hast eine Enkelin?“ rief Suse ganz erstaunt, „und
-wir wissen’s nicht. Weiß es denn niemand auf der Welt?“</p>
-
-<p>„Doch, dein Vater und deine Mutter wissen’s. Euch hab’ ich nur nie
-davon erzählt, weil ihr zu klein wart und weil ich nicht wollte, daß
-ihr auch traurig würdet.“</p>
-
-<p>„Ach, Christine, bitte, bitte, erzähl’ mir. Ich bin ja jetzt schon
-sehr groß und werde mich beherrschen, auch wenn deine Erzählung
-sterbenstraurig wird. Ganz still will ich sein und dich nicht durch
-dummes Reden stören,“ drängte Suse.</p>
-
-<p>&mdash; So erzählte denn Christine, die sonst ihre Sorgen ängstlich vor
-aller Welt hütete, ganz verwirrt durch die Ereignisse des Morgens und
-erschreckt durch die Eindrücke der geräuschvollen Geigenstunde, Suse
-den schweren Kummer ihres Lebens.</p>
-
-<p>Das Doktorskind hörte still zu, und je mehr sie erfuhr, um so schwerer
-wurde ihr Herz.</p>
-
-<p>Von einer einzigen Tochter hörte sie ihre Kinderfrau erzählen, die sich
-an einen bösen Menschen verheiratet, der getrunken und seine Frau<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span>
-schlecht behandelt habe und schuld an ihrem Tod geworden sei. Das Kind
-aus dieser Ehe, ein kleines Töchterchen, Resi genannt, habe die alte
-Frau nach dem Tode ihrer Tochter zu sich nehmen und erziehen wollen.
-Aber der Vater des Kindes habe verlangt, sie solle ihr Haus verkaufen,
-ihm den Erlös davon geben und mit ihm zusammen in die Stadt ziehen.</p>
-
-<p>Durch Susens Vater sei indes jener Plan vereitelt worden, und Christine
-sei von Not und Elend verschont geblieben, wie der „Herr Doktor“ schon
-so und so oft gesagt habe.</p>
-
-<p>Der Schwiegersohn der alten Frau habe sich schnell wieder verheiratet
-und sei in die Stadt gezogen. Von ihrem Enkelkind habe Christine nie
-mehr etwas erfahren, auch dann nicht, wenn sie ihm Geschenke gemacht
-oder um seinen Besuch gebeten habe. Nur um Geld habe ihr Schwiegersohn
-immer wieder geschrieben. Jetzt sei Christine gekommen, um ihr
-Enkelkind zu suchen, damit sie es vor ihrem Tod noch einmal sehe, denn
-sie wisse ja nicht, ob sie noch lange lebe.</p>
-
-<p>Da nahm Suse Christine in den Arm und sagte in demselben Ton, in dem
-sie gewohnt war, ihre alte Kinderfrau sonst selbst reden zu hören:
-„Sei still, Christine, der liebe Gott weiß alles und hilft uns sicher.
-Christine, wir finden dein Resi ganz gewiß, und du wirst sehen, es wird
-dir viel Freude machen.“</p>
-
-<p>Doch die alte Frau meinte mit Tränen im Auge: „Am Ende läßt mich der
-Vater das Kind nicht sehen und schickt mich fort von seinem Hause.“</p>
-
-<p>„Aber nein, Christine, wir gehen ja alle mit, Hans und ich und Theobald
-und Toni. &mdash; Wenn wir gleich fünf Mann hoch anrücken, wird er schon
-Respekt bekommen. &mdash; Und dann fällt mir noch was ein, Christine, ich
-hab’ noch ein Fünfmarkstück von Onkel Fritz für ein schönes Buch
-geschenkt bekommen. Das geb’ ich deinem Schwiegersohn. Wenn dieser
-scheußliche, geizige Mann das Geldstück sieht, läßt er sicher viel
-besser mit sich reden. Und eines von meinen Kleidern nehmen wir auch
-mit und eine Schürze und Strümpfe und Schuh.“</p>
-
-<p>Und in Suses Phantasie wurde dieser Gang zu Christines bösartigem
-Schwiegersohn zu einem glänzenden Triumphzug, in dem sie sich alle mit
-Ruhm bedeckten und Freude über Freude einheimsten.</p>
-
-<p>„Wo wohnt denn dein Enkelkind?“ fragte die eifrige Suse.</p>
-
-<p>Und die alte Frau zog ein Stück Papier hervor, auf dem eine Adresse von
-Rosels Hand geschrieben stand.</p>
-
-<p>„Kleinstraße,“ las Suse und schüttelte den Kopf. &mdash; „Kleinstraße, die
-kenn’ ich nicht.“</p>
-
-<p>Aber mit einemmal ging ein Leuchten über ihr Gesicht, und sie rief
-strahlend: „Weißt du, wer sie kennt? Fräulein Hirt kennt sie, die
-kennt<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span> alle Straßen und alle armen Kinder. &mdash; Die ist in vielen frommen
-Vereinen. Die weiß es. Komm, komm. Ich glaube bestimmt, daß sie es
-weiß. Sie wohnt jetzt über uns im vierten Stock, seit ihre Großmutter
-gestorben ist.“</p>
-
-<p>Christine folgte ihr eilig mit trippelnden Schritten, das Herz schon
-viel froher und zuversichtlicher als bisher. Nur im Gang blieb sie
-wieder einmal erschreckt stehen. Hier streckte nämlich Ursel ihren
-Kopf zur Küchentür heraus und verkündete: „Um vier Uhr ist der Kaffee
-fertig,“ mit einer Miene, als wollte sie sagen: „Um vier Uhr sollt ihr
-alle gefressen werden!“</p>
-
-<p>„Vergelt’s Gott,“ sagte die alte Frau und folgte Suse zur Tür hinaus
-und die Treppe hinauf.</p>
-
-<p>In Fräulein Hirts Zimmer wurden die beiden von der liebenswürdigen
-Lehrerin auf das freundlichste begrüßt, und Christine bekam sogar den
-Ehrenplatz im Sofa angewiesen. Während sie nun dort verschüchtert und
-ängstlich saß, den Blick trostheischend auf Suse gerichtet, erzählte
-diese mit glühenden Wangen, ganz durchdrungen von dem Ernst der Stunde
-und von der Wichtigkeit ihrer Rolle, Christines Schicksal. Ab und zu
-flog ein mütterlich beruhigender Blick zu ihrer alten Kinderfrau hin
-oder sie streichelte jener sanft die Hand, indem sie sagte: „Es wird
-schon gut, es wird schon gut, Christine.“</p>
-
-<p>Fräulein Hirt aber hörte gespannt Susens Erzählungen zu. Und
-schließlich, als diese fragte: „Kennen Sie die Straße, wo Resi wohnt?“
-antwortete sie lächelnd: „Nicht nur die Straße, ich kenne Resi selbst.
-&mdash; Sie ist bei mir in der Sonntagsschule.“</p>
-
-<p>„Resi selbst?“</p>
-
-<p>Suse wurde dunkelrot vor Freude, sprang auf und rief: „Siehst du,
-siehst du, Christine! Alles kennt sie, alle Leute, und allen hilft sie
-und uns auch. Wir sind gerettet.“</p>
-
-<p>Und das Doktorskind sprang auf, umarmte Fräulein Hirt und Christine und
-hätte sie am liebsten sofort zu Resi entführt.</p>
-
-<p>„Weißt du was,“ rief sie, „jetzt warten wir keine Minute mehr! Jetzt
-gehen wir sofort zu Resi. Warum noch lange warten! Je eher du Resi
-siehst, Christine, je lieber ist’s dir ja doch.“</p>
-
-<p>„Nein, nein,“ wehrte da Fräulein Hirt, „ich hole das Kind allein
-hierher. Es ist besser, Christine macht den weiten Weg dorthin nicht.
-So viele Anstrengungen nach einer solch langen Reise kann sie nicht
-ertragen.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Aber den wahren Grund, weshalb sie den Besuch Christinens bei ihren
-Verwandten verhindern wollte, verschwieg sie. Sie fürchtete, daß die
-alte Frau von ihres Schwiegersohns Tür gewiesen würde.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span></p>
-
-<p>Zur Zeit des Nachmittagskaffes verließen die alte Frau und das kleine
-Mädchen ihre liebenswürdige Helferin.</p>
-
-<p>In der Cimhuberschen Wohnung wurden die beiden in größter Ungeduld
-von Hans erwartet, dem es gar nicht angenehm gewesen war, unter Herrn
-Schnurrs Lehrmethode zu schwitzen, während seine Schwester ihr Leben
-genoß.</p>
-
-<p>Auch Toni hatte sich eingefunden, um die Doktorskinder samt ihrem
-Besuch zu einer Wagenfahrt abzuholen. Strahlend erzählte sie, ihr Vater
-habe ihr fünf Mark für das Vergnügen geschenkt, und Theobald käme
-gleich in einer Droschke an.</p>
-
-<p>Bei der Spazierfahrt mit den Kindern konnte Christine von dem weichen
-Sitz des Wagens aus bequem die Wunder der Stadt erschauen. Aber so
-schön sie auch waren, ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, zurück
-nach Frau Cimhubers Haus, wo etwas viel Schöneres und Besseres ihrer
-wartete. &mdash; Ihr Enkelkind.</p>
-
-<p>Und nach ihrer Rückkehr aus der Stadt bekam sie das Kind endlich zu
-sehen. An Fräulein Hirts Hand drückte sich Resi schüchtern zur Tür
-herein und stand verwirrt vor ihr.</p>
-
-<p>Der alten Frau liefen die Tränen über das Gesicht, und sie brachte nur
-mühsam die Worte hervor: „Ich bin deine Großmutter, Resi.“</p>
-
-<p>Stumm sah das kleine Mädchen zu ihr auf.</p>
-
-<p>Da nahm Suse sie bei der Hand und sagte strahlend: „Ja, deine
-Großmutter, deine liebe Großmutter, unsere gute Christine. Die haben
-wir alle schrecklich lieb. Sie gehört dir. &mdash; Willst du ein Stück
-Heidelbeerkuchen haben? Den hat Christine uns mitgebracht. Wunderschön
-schmeckt er. Komm, iß. &mdash; Und du besuchst deine Großmutter, gelt? Und
-dann werden wir Freundinnen. Und Christine hat eine weiße Ziege und
-ein kleines Häuschen und viele Blumen im Garten. Das wird dir Freude
-machen, wenn du das alles siehst.“</p>
-
-<p>Aber trotz dieser sprudelnden Rede taute Resi nicht auf, und kein Wort
-ging über ihre Lippen. Nur ganz am Schluß ihres Besuches, als Suse
-sie aufforderte, doch zum Abendessen zu bleiben, schüttelte sie den
-Kopf und sagte ängstlich: „Nein, nein, ich muß fort, ich werde sonst
-gescholten.“</p>
-
-<p>So wurde sie denn entlassen, nachdem sie aber Fräulein Hirt versprochen
-hatte, am andern Tag noch einmal wiederzukommen.</p>
-
-<p>Als Resi fortgegangen, war für Hans endlich der langersehnte Augenblick
-gekommen, an dem er Suse über die geheimnisvollen Dinge zur Rede
-stellen konnte, die sich hinter seinem Rücken abgespielt hatten. Er
-wünschte zu wissen, was für Beziehungen zwischen Christine und dem
-kleinen, fremden Mädchen beständen, und warum man gerade ihn nicht
-eingeweiht habe.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span></p>
-
-<p>Nichts Angenehmeres konnte Suse widerfahren, als ihn über alles, was
-sich während der Geigenstunde zugetragen hatte, drei lang, drei breit
-aufzuklären.</p>
-
-<p>„Christine schien wirklich froh zu sein, daß sie eine Stütze an mir
-hatte,“ schloß Suse voll Eingebildetheit ihren Bericht. „Ohne mich
-hätte sie Resi sicher nicht so leicht gefunden.“</p>
-
-<p>Sei es nun, daß diese Aufgeblasenheit Hansens Zorn entfachte, oder daß
-ihn das schlechte Betragen von Resis Vater Christine gegenüber wirklich
-empörte, jedenfalls ergriff er plötzlich den ersten besten Stuhl und
-stieß ihn mit einer Gebärde auf, als wolle er ihn seiner vier Beine
-berauben. Dazu rief er: „Den Kopf sollte man ihm abhacken, diesem
-Lumpen, diesem scheußlichen, gemeinen Kerl, diesem Vater von Resi.“</p>
-
-<p>„Sei still, sei doch still,“ mahnte Suse, „man meint ja gerade, du
-seist Herr Schnurr. Nächstens springst du auch hier herum wie von
-Sinnen. Wer benimmt sich denn so ungebildet!“</p>
-
-<p>Etwas später, als Suse zu Bett gegangen war, da kam ihr wieder die
-Begegnung von heute morgen ins Gedächtnis zurück, und die Schamröte
-stieg ihr heiß ins Gesicht.</p>
-
-<p>Sie mußte an die Zeit denken, als Herr Edwin dagewesen war und an ihre
-Vorsätze von damals, dem Missionar nachzueifern und immer nur Gutes
-zu tun. &mdash; Große Taten wollte sie vollbringen &mdash; in fremde Länder
-wollte sie ziehen und unbekannten Menschen helfen. &mdash; Und nun? Ihre
-alte Christine hatte sie verleugnet, die Frau, die, solange sie lebte,
-ihr nur Gutes getan hatte! &mdash; Wie hatte Herr Edwin doch beim Abschied
-gesagt: „Bewahret euch euer reines Herz.“ Da begann Suse laut zu
-schluchzen und schlüpfte unter die Bettdecke. Und bat Gott um Hilfe
-gegen ihr eitles Herz.</p>
-
-<p>Am folgenden Tage rüstete sich Christine zur Abreise. Ihr Gesicht
-strahlte wieder in dem lieben, freundlichen Glanze. Der schwere Gang
-in die Stadt war ihr schließlich doch zum Segen ausgeschlagen. Von all
-den fremden Menschen, die sie hier kennen gelernt hatte, war ihr nur
-Gutes widerfahren. Und was das Schönste war, sie hatte ihr Enkelkind
-wiedergefunden. Es bestand sogar Aussicht, daß sie das kleine Mädchen
-bald für immer zu sich nehmen konnte.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Fräulein Hirt hatte ihr Hoffnungen darauf gemacht. Mit mütterlich
-beschirmendem Blick hatte Suse ihre Versprechungen angehört und war
-sich fast erwachsen vorgekommen. Wußte sie doch viel mehr als Christine
-und Hans, nämlich, daß Resi mit Gewalt ihren Eltern genommen werden
-würde, weil sie so schlecht behandelt wurde.</p>
-
-<p>Aber Christine sollte davon nichts wissen. Sie sollte leichten Herzens
-in ihre Heimat zurückkehren.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span></p>
-
-<h2 class="left" id="Sechstes_Kapitel">Sechstes Kapitel.<br />
-
-<b class="s4 mleft2">Schluß</b></h2>
-
-</div>
-
-<p class="p0"><span class="initial">E</span>s war im Winter vor Susens vierzehntem Geburtstag. Das Doktorskind war
-ein großes, schlankes Mädchen geworden, und ihr Haar, das Rosel einst
-mit soviel Geschick in zwei knochenharte, steif abstehende Zöpfchen
-verwandelt hatte, hing ihr jetzt als langer, loser Zopf über den
-Rücken. Heimlich freute sich Suse an dieser leuchtenden Haarpracht,
-aber im Kreise ihrer Freundinnen hütete sie sich wohl, ihre Eitelkeit
-durchblicken zu lassen.</p>
-
-<p>Auch Hans war genau wie sie, lang und rank geworden, und seine
-Jackenärmel waren ihm immer gleich viel zu kurz.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber und Ursel waren nun genötigt, zu ihren Pfleglingen
-aufzublicken, nachdem sie noch vor zwei Jahren so erhaben auf sie
-herabgesehen hatten.</p>
-
-<p>Der Pfarrfrau Urteil lautete im allgemeinen über der Kinder Charakter:
-„Gute, liebe Kinder.“</p>
-
-<p>„Zu ausgelassen,“ setzte dann Ursel jedesmal hinzu, „zu ausgelassen.
-Am liebsten sprängen sie über Tisch und Stühle. Immer über Tisch und
-Stühle, vom Morgen bis zum Abend.“</p>
-
-<p>Nun hatte ja allerdings niemand mehr, als gerade die alte Magd, unter
-der Ausgelassenheit der Kinder zu leiden.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Wie oft geschah es, daß die zwei, als Antwort auf eine von Ursels
-Ermahnungen, die Predigerin ohne viel Federlesens auf ihre zum Sitz
-geschlungenen Hände setzten und mit ihr im Sturmschritt durch das Haus
-rannten! All ihr Schreien, all ihr Wehren nützte der alten Magd nichts.
-&mdash; Sie mußte eben aushalten. &mdash; In einer Redeschlacht zog Ursel erst
-recht den Kürzeren, namentlich der mundfertigen Suse gegenüber.</p>
-
-<p>Wenn Ursel etwa anhub: „Zuviel Dummheiten macht ihr, zuviel Dummheiten.
-&mdash; Ihr wart eben von jeher zu sehr verwöhnt. Schon im Wickelkissen
-ist es euch zu gut ergangen,“ fiel Suse lachend ein: „Im Wickelkissen
-hat’s jedermann gut. &mdash; Ach, Ursel, wenn Sie jetzt mit einem Schlag im
-Wickelkissen drin säßen! Wie herzig müßte das aussehen!“</p>
-
-<p>„Gräßlich dumm,“ ließ sich Ursel vernehmen. „Aus dir und Hans wird euer
-Lebtag nichts. Ihr habt eben zu viel Dummheiten im Kopf. Der Ernst
-fehlt euch. Ernst ist das Leben.“</p>
-
-<p>„Aber, Ursel,“ rief Suse, „unser Vater sagt doch immer, lieber ein
-bißchen zu übermütig, als die Mundwinkel bis unters Kinn herunterhängen
-lassen. Ganz elend kann es einem werden bei mißvergnügten Menschen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span></p>
-
-<p>„Hm, hm,“ sagte Ursel, „mir scheint, das hast du geträumt, so spricht
-ein ernster Mann nicht.“</p>
-
-<p>„Doch, Ursel, so hat er gesprochen, und erst bei unserem letzten Besuch
-hat er gesagt, er ist sehr zufrieden mit uns. Hören Sie, Ursel, sehr,
-sehr zufrieden mit unserem Lernen.“</p>
-
-<p>„Na, das fehlte auch noch, daß ihr nichts lerntet,“ brauste da Ursel
-auf, „bei dem vielen Schulgeld, das ihr bezahlt, und bei der guten
-Kost, die ihr hier bekommt, und bei der guten Aufsicht, und bei den
-Tausenden von Stunden, die ihr schon auf der Schulbank herumgesessen
-seid. &mdash; Das fehlte auch noch, daß ihr da nichts lerntet.“</p>
-
-<p>„Aber, Ursel, es gibt sogar recht viele Kinder, die trotzdem nichts
-lernen.“</p>
-
-<p>„Was sagst du da?“ rief Ursel empört. „Was sagst du da? Wiederhol’s
-noch einmal, die lernen nichts, meinst du? Na, da sollte ich der
-Schuldirektor von euch sein,“ fuhr sie sich auf die Brust schlagend mit
-rollenden Augen fort. „Da würde ich euch an einem schönen Montag oder
-Dienstag alle miteinander auf die Straße jagen, und eure Schulsäcke
-würde ich obendrein hinter euch herwerfen.“</p>
-
-<p>Suse lachte hell und zog sich dann schnell zurück, da die alte Magd
-Miene machte, einem rachesüchtigen Schuldirektor nachzueifern.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber sagte im ganzen wenig zu den Reibereien, die sich
-nicht selten zwischen der alten Magd und den Kindern abspielten. Sie
-wußte, sie vergingen schnell wieder, wie sie gekommen waren, und
-Sonnenschein folgte dem Gewitterregen. Dann kochte Ursel den Kindern
-ihre Leibgerichte und strich ihnen dicke Schichten Zwetschenmus auf
-ihr Brot. „Aha, die Zwetschenmushäfen sind geöffnet, es weht ein guter
-Wind,“ pflegte Suse bei dieser Gelegenheit auszurufen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>In Ursels Gemüt hatte sich mit der Zeit auch ein heilsamer Umschwung
-zugunsten des Herrn Schnurr, Hansens Geigenlehrer, fühlbar gemacht.</p>
-
-<p>Erst hatte sie nichts als finstern Haß gegen den fremden Eindringling
-verspürt, dann war ein gottergebenes Sichfügen in seine Besuche
-gekommen, hierauf ein vorurteilsloses Betrachten seiner Person, dann
-Nachsicht für sein Tun, Verständnis für seine Lehrweise, und ganz
-zuletzt das Keimen freundschaftlicher Gefühle.</p>
-
-<p>Der Grund zu einer wirklichen Freundschaft zwischen ihr und Herrn
-Schnurr wurde aber gelegt, als dieser gemeinsam mit den Doktorskindern
-zu ihrem sechzigsten Geburtstag eine kleine Feier veranstaltete.</p>
-
-<p>Am Nachmittag ihres Wiegenfestes, als die alte Magd ihre Arbeit in der
-Küche vollendet, ihre Werktagsschürze gegen die seidene Sonntagsschürze
-umgetauscht und ihr Haar noch glätter als sonst gestrichen hatte, wurde
-sie an Susens Arm in die Negerstube geführt, wo Hans<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span> mit seiner Geige
-wartete und Herr Schnurr mit verstruweltem Haar am Klavier saß, bereit,
-die Choräle, die er mit Hans zu Ursels Ehre eingeübt hatte, ertönen zu
-lassen.</p>
-
-<p>Auf dem Tisch, über den ein blendend weißes, mit Tannenzweigen
-geschmücktes Tischtuch gebreitet war, lagen die Geschenke für die
-Sechzigjährige ausgebreitet: ein hohes, auf einem Sockel befestigtes
-Alabasterkreuz von Frau Cimhuber, eine Vase mit Immortellen, Ursels
-Lieblingsblumen, ein Geschenk von den Doktorskindern, eine schwarze
-Seidenschürze von der Mutter der beiden und das Bild einer Tänzerin,
-von Herrn Schnurr gestiftet.</p>
-
-<p>Leider hatte er es mit dem richtigen verwechselt, dem Bilde
-Melanchtons, das seine Frau daheim los sein wollte.</p>
-
-<p>Geistesabwesend, wie Herr Schnurr war, hatte er das erste beste
-Paketchen ergriffen und war damit davongegangen. Sein Irrtum störte
-aber die Feier nicht.</p>
-
-<p>Ursel nahm, die Hände gefaltet, auf einem mit Tannengrün geschmückten
-Stuhl Platz und erwartete die Huldigungen. Auf ein Zeichen von Herrn
-Schnurr ergriff Hans die Geige, und unter Violin- und Klavierspiel
-erklangen die schönsten Choräle: „Wer nur den lieben Gott läßt walten.“
-&mdash; „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ &mdash; „Harre, meine Seele.“ &mdash;
-„Befiehl du deine Wege.“ &mdash; Und noch eine Menge andere Lieder.</p>
-
-<p>Eine feierliche, erhebende Stille herrschte in der Negerstube. Ursel
-saß nickend und mit einem weltentrückten Ausdruck auf ihrem Stuhl, und
-vor ihrem Geist zogen all die schweren Jahre ihres Lebens vorüber, in
-denen sie nur Mühe Und Arbeit gehabt und sich zufrieden gefühlt, wenn
-sie am Sonntag mit einer schwarzen Schürze vor dem Tisch in der Küche
-hatte sitzen können, das Gesangbuch offen vor sich und in den Liedern
-Kraft findend. &mdash; Die Tränen liefen ihr in den Schoß.</p>
-
-<p>Auf ihren besonderen Wunsch spielten die beiden Musikanten zum Schluß
-noch ihr Lieblingslied: „Wenn ich einmal soll scheiden.“ &mdash; Man hätte
-meinen können, Ursel selbst werde zu Grabe getragen, so ernst und dumpf
-klang die Weise. Sogar Suse konnte die Tränen nicht zurückhalten, was
-Ursel nicht ohne Genugtuung bemerkte.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Seit jenem Tage nun konnte die alte Magd Herrn Schnurr nicht mehr die
-Tür öffnen, ohne an ihre schöne Geburtstagsfeier zu denken.</p>
-
-<p>„Ja, damals haben Sie sehr schön gespielt,“ sagte sie öfters zu ihm,
-und nickte lebhaft, „oh, so schön.“</p>
-
-<p>„Ja, das macht die Kunst,“ erwiderte Herr Schnurr, indem er den
-Zeigefinger so steil nach oben hob, daß Ursel seiner Richtung folgte.</p>
-
-<p>„Die Kunst, die hebt uns nach oben.“</p>
-
-<p>Ursel nickte beifällig.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span></p>
-
-<p>Allerdings, die Kunst in der Negerstube, die sich in wilden Sprüngen,
-in einem Trommeln auf Tisch und Stühlen anzeigte, die behagte ihr noch
-immer nicht.</p>
-
-<p>Deshalb konnte sie trotz ihres Wohlwollens für den Lehrer es nicht
-unterlassen, ihr Ohr an die Tür der Negerstube zu legen, wenn er drin
-sein Wesen trieb. Und das war schlimm, erfuhr sie auf diese Weise doch
-allerlei, was im Grunde nicht für sie bestimmt war. &mdash; Herr Schnurr,
-der sich in der ersten Zeit seines Amtsantrittes Hans gegenüber als
-finsterer und gestrenger Lehrer gezeigt, hatte mit der Zeit geruht, den
-Knaben zum Freunde zu erwählen. Es war ein merkwürdiges Verhältnis.
-Herr Schnurr erzählte, und Hans hörte mit offenem Mund und offenen
-Augen zu.</p>
-
-<p>Da kamen Bekenntnisse aus des Lehrers schweren Wanderjahren, als er in
-einer größeren Musiktruppe von Ort zu Ort gezogen war. Viel Lug und
-Trug habe er gesehen, aber ein ehrlicher, rechtschaffener Mensch sei er
-doch immer geblieben, erwähnte er stets aufs neue. &mdash; „Rechtschaffen
-müsse der Mensch sein, vor allen Dingen rechtschaffen...“ Auch seine
-häuslichen Sorgen enthielt der Lehrer dem Schüler nicht vor, und dem
-fuhr kein übler Schreck in die Glieder, als er seinen Geigenmeister
-eines Tages in jämmerlichen Tönen von mißratenem Essen erzählen hörte,
-das ihm täglich vorgesetzt werde, von unordentlichen Stuben, in denen
-er sich herumtreiben müsse, und in die er Samstags mit Galoschen an
-den Füßen und einem Besen und Eimer in der Hand eindringe, um eine
-rauschende Sintflut darüber niedergehen zu lassen. Immer beklommener
-wurde es Hans bei diesem Geständnis, und schließlich, als er Herrn
-Schnurr Trost zusprechen wollte, stotterte er verlegen: „Herr Schnurr,
-können Sie sich nicht eine Magd nehmen, wie Ursel, oder unser Rosel
-daheim, wenn Ihre Frau Gemahlin die Haushaltung nicht versteht.“</p>
-
-<p>„Eine Magd!“</p>
-
-<p>Etwas Dümmeres hätte Hans nicht sagen können.</p>
-
-<p>„Was soll ich nehmen?“ rief Herr Schnurr und machte einen Sprung
-rückwärts vor Entrüstung.</p>
-
-<p>Hans hätte vor Schreck fast die Geige hingeworfen.</p>
-
-<p>„Was soll ich nehmen, eine Magd? Was soll denn die essen, wenn wir
-selbst am Hungertuch nagen? Oh, du einfältiger Gockel, komm jetzt her
-und spiele deine Tonleiter, das ist besser, als deine Weisheitssprüche
-Salomonis da herunterzulispeln, unpraktischer Held.“</p>
-
-<p>Und Hans tat, wie ihm gesagt worden war, und atmete dreimal tief auf,
-als er den tüchtigen Lehrer wieder sein Handwerkszeug ergreifen und in
-gemäßigte Bahnen zurückkehren sah.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span></p>
-
-<p>Ursel aber, die Herrn Schnurrs Beichte mit angehört hatte, überlegte,
-ob sie sich nicht augenblicks in die Negerstube zwängen und dem Lehrer
-eine gesalzene Botschaft an seine pflichtvergessene Gattin daheim
-mitgeben solle.</p>
-
-<p>„Lieber nicht,“ sagte sie sich aber voll Klugheit.</p>
-
-<p>Indes sein häusliches Elend ließ ihr keine Ruh, und viel, viel später,
-Anfang des Frühjahrs, da mischte sie sich endlich doch einmal in seine
-Verhältnisse. Allerdings geschah es auf eine recht barmherzige und
-christliche Weise.</p>
-
-<p>„Bringen Sie mir mal Ihre Strümpfe mit, Herr Schnurr,“ sagte sie, als
-sie ihn über sein zerrissenes Zeug klagen hörte. „Ihre Frau stopft sie
-ja doch nicht. Für mich ist das eine Kleinigkeit, und aus Dankbarkeit
-tu ich’s gern.“</p>
-
-<p>Suse, die zufällig hinhorchte, war erstaunt. Sie lachte belustigt.
-Ursel und Herr Schnurr gut Freund! Das war ein Spaß.</p>
-
-<p>Rasch entschloß sie sich, es ihrer Vertrauten, der schwarzen Carla
-mitzuteilen, die mit der Zeit ihre beste Freundin geworden war. Da die
-Herzensgenossin, die häufig leidend war, augenblicklich zur Pflege
-ihrer Gesundheit im Süden weilte, schrieb ihr Suse die längsten Briefe.
-Carla mußte von all den bunten Ereignissen im Cimhuberschen Haus
-unterrichtet werden. Leichtsinnig und unüberlegt pflegte Suse drauf los
-zu plaudern, und genau wie beim Reden, was immer ihr durch den Kopf
-schoß, sofort auszusprechen. So schrieb sie denn an dem Brief, an dem
-sie gerade angefangen hatte, weiter.</p>
-
-<p>„Du erkundigst Dich nach Theobald, liebe Karla, er ist lange nicht
-mehr derselbe gräßliche Geck wie früher, obwohl er noch immer große
-Volksreden hält. Onkel Fritzens Heirat war sein Glück. Sein Vater
-meinte es auch. Er findet, Onkel Fritz hat seinem Sohn nur lauter
-Raupen in den Kopf gesetzt.</p>
-
-<p>Nun frägst Du auch nach Ursel und Herrn Schnurr. Zwischen diesen
-besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets vervollkommnende
-Freundschaft, ein unaustilgbarer Herzensbund. Nächstens geben sie sich
-einen Kuß. Wie die Verlobten sind sie. Wie Braut und Bräutigam. Denke
-Dir, Ursel will sogar dem Herrn Schnurr die Strümpfe stopfen! Jedesmal,
-wenn er erscheint, lächelt sie ihn an, süß wie ein Honighafen. Und
-immer horcht sie an der Negerstube, wenn drin seine süße Stimme
-erschallt, damit sie jedes Wörtlein von ihm aufschnappt.“</p>
-
-<p>Und dieser Brief voll leichtsinniger, loser Redensarten sollte die
-schlimmsten Folgen haben.</p>
-
-<p>Es fügte sich nämlich, daß Suse während des schriftlichen Ausbruches<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span>
-ihrer buntschillernden Geistesraketen von ihrer Freundin Grete
-überrascht und zu einem Spaziergang abgeholt wurde.</p>
-
-<p>Kurz entschlossen packte die Schreiberin den unvollendeten Brief
-nebst ihrem Tagebuch in das Bett, das neben ihrem Tisch stand, da
-jenes ihr heute als sehr gutes Versteck erschien, alldieweil Hans den
-Kommodenschlüssel mitgenommen hatte und sie nicht an den eigentlichen
-Aufbewahrungsort ihrer Schreibsachen &mdash; die Kommodenschublade &mdash;
-gelangen konnte.</p>
-
-<p>Frohgemut nahm sie hierauf von Frau Cimhuber und Ursel Abschied und
-ging von dannen.</p>
-
-<p>„Bleib nicht zu lange,“ rief Ursel ihr nach, „du weißt, wir haben große
-Wäsche, und du sollst mir helfen.“</p>
-
-<p>„In anderthalb Stunden bin ich wieder da,“ tönte es zurück.</p>
-
-<p>Klar wie der Himmel, der sich hoch über ihr wölbte, war es Suse zu
-Sinn, und munter schritt sie fürbaß.</p>
-
-<p>Daheim ging inzwischen Ursel ihrer Beschäftigung nach und brummte
-allerlei mißmutige Worte vor sich hin. Die Arbeit häufte sich für sie.
-Je weiter die Zeit vorschritt, um so mürrischer wurde sie deshalb.</p>
-
-<p>Sonntag war Susens Geburtstag, den sie eingedenk des eigenen genossenen
-Festtages recht schön gestaltet wissen wollte. Aber die Vorbereitungen
-gingen nicht von der Stelle. Die Tannenzweige zum Ausschmücken von
-Susens Stube lagen noch immer im Gang. &mdash; Suse blieb auch lang über
-die Zeit weg und dachte nicht an ihre Arbeit. Dabei sollte sie im
-ganzen Haus die Bettbezüge abnehmen, die Kissen mit neuen Leinen
-bekleiden und die schmutzige Wäsche Ursel an das Waschfaß bringen. &mdash;
-Indessen, das flatterhafte Doktorskind hielt es für besser, im lichten
-Frühlingswäldchen vor der Stadt spazieren zu gehen.</p>
-
-<p>Als nahezu drei Stunden seit ihrem Fortgang verstrichen waren und
-noch keine Spur von ihr zu entdecken war, machte sich Ursel selbst an
-die Arbeit, die sie dem jungen Mädchen zugedacht hatte. Schlürfenden
-Schrittes ging sie von einem Bett zum andern und nahm die Bezüge ab. So
-kam sie schließlich auch an Susens Lagerstatt, in der, verhängnisvoll
-wie ein Geschenk aus der Büchse der Pandora, der leichtsinnige Brief
-schlummerte. Seufzend trat sie an das Bett. Jetzt breitete sie ihre
-mageren Arme aus, um das Deckbett zu heben. &mdash; Hätte sich in diesem
-Augenblick die Tür geöffnet und Suse sich gezeigt, so wäre alles noch
-zu retten gewesen. &mdash; Aber die Übeltäterin war ja weit. Zorniger als
-bei den ersten Betten zog Ursel an Susens Leinenbezug, schleuderte ihn
-in die Höhe und riß ihn zu sich heran in die Stube. Polternd fiel etwas
-Schweres hinterher. Ursel bückte sich und hob ein Buch und einen Brief
-auf.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span></p>
-
-<p>„Unordnung, Unordnung,“ murmelte sie. „Wozu ist denn die Kommode da?
-Aber das wird alles hingestopft, wo es gerade hingeht.“</p>
-
-<p>Vielleicht hätte nun die alte Magd den Brief ungelesen zur Seite
-gelegt, wenn nicht auf dem ersten Blatt, nahe seinem untern Rande ein
-großer Tintenklecks gewesen wäre, der ihre Blicke auf sich gezogen
-hätte. Ganz mechanisch griff sie danach und prüfte, ob er auch trocken
-sei. Und da legte sie ihren Finger mitten auf ihren eigenen Namen.
-Ursel stand dort, dick und groß geschrieben. &mdash; „Ursel.“ &mdash; Sie sah
-näher hin. Ja, es hieß Ursel. Sie hielt den Brief dichter vor ihre
-Augen. Wahrhaftig, es war ihr Name. Ursel, Ursel stand dort.</p>
-
-<p>Und nun begann sie zu lesen, und ihr Gesicht wurde immer länger. Sie
-glaubte schließlich, sie sei nicht mehr recht bei Verstand.</p>
-
-<p>„Du erkundigst dich nach Ursel und Herrn Schnurr,“ stand dort.
-„Zwischen diesen besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets
-vervollkommnende Freundschaft..., ein unaustilgbarer Herzensbund.
-Nächstens geben sie sich einen Kuß... Wie die Verlobten sind sie, wie
-Braut und Bräutigam.“ Ursel konnte nicht mehr weiter lesen. Träumte sie
-denn, ging denn die Welt unter?</p>
-
-<p>Nein, nein, da stand klar und deutlich, „nächstens geben sie sich einen
-Kuß, wie die Verlobten sind sie. Wenn er erscheint, lächelt sie ihn an,
-süß wie ein Honighafen.“</p>
-
-<p>Das war zuviel. Stöhnend sank Ursel auf Susens Bett.</p>
-
-<p>Das war die Schändlichkeit in ihrer höchsten Vollendung! Das war der
-Gipfel der Erbsünde! Das war schlecht, schlecht, erbärmlich! Das war
-höllisches Gift!</p>
-
-<p>Ursel faßte sich an den Kopf.</p>
-
-<p>In diesem Augenblick klingelte es, und die alte Frau, in dem Wahne,
-Suse komme, sprang mit Brief und Buch in die Höhe auf den Flur und
-öffnete die Tür, um die Sünderin zu packen und zu richten.</p>
-
-<p>Der Einlaß Begehrende, der draußen stand, war aber nicht Suse, sondern
-der unschuldige Knabe Hans, der einen großen Sprung rückwärts tat, als
-er Ursels zornfunkelndes Gesicht vor sich sah.</p>
-
-<p>„Heilige Maria und Joseph, was ist denn los!“ rief er. „Sie blasen mich
-ja um, Ursel, Sie blasen mich um.“</p>
-
-<p>„Soll ich vielleicht noch nicht mal mehr blasen?“ schrie Ursel.
-„Unverschämter Bub! Hinter die Ohren will ich dir eins geben! Was los
-ist, willst du wissen? Hier, hier steht, was deine saubere Schwester
-von mir geschrieben hat. ‚Wie Braut und Bräutigam sind sie, wie die
-Verlobten küssen sie sich, sie stopft Herrn Schnurr seine Strümpfe,
-sie lächelt ihn wie ein Honighafen an.‘ &mdash; Willst du’s hören, willst
-du’s hören?“ Und die alte Magd drückte ihm das Tagebuch mitsamt dem
-Brief so<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span> fest gegen das Gesicht, daß er kaum imstande war, zu atmen,
-geschweige denn ein Wörtlein zu piepsen.</p>
-
-<p>Nur ein eiskalter Schreck schoß ihm durchs Gebein. &mdash; Er wußte, nun war
-Susens Geburtstag verdorben.</p>
-
-<p>„Wo, wo, wo haben Sie denn das gefunden?“ stotterte er.</p>
-
-<p>„Wo, wo, wo! Ei, da, wo’s lag. Und jetzt kommt’s in den Herd.“</p>
-
-<p>Und mit diesen erregten Worten eilte die alte Magd an Hans und Frau
-Cimhuber vorüber, die seit dem ersten Entsetzensschrei ihrer alten
-Dienerin bestürzt herbeigekommen und nicht mehr gewichen, sondern
-händeringend gefolgt war.</p>
-
-<p>Ursel nahm ihren Weg in die Küche. Dort riß sie die eisernen Herdringe
-zur Seite, und mit einem Schwung lagen Brief und Tagebuch im Feuer.</p>
-
-<p>„Halt, halt,“ rief Hans, „halt, halt,“ faßte in die Glut und zog das
-versengte Tagebuch wieder heraus.</p>
-
-<p>Nun stürzte die alte Magd auf den Knaben zu, um ihm den Schatz zu
-entreißen, und eine tolle Jagd um den Tisch herum hub an. Ursel
-sprang hinter Hans her wie der Hund hinter dem Wild. Jetzt hatte sie
-ihn beinahe gepackt, da war er um die Tischecke herum, und sie schoß
-geradeaus gegen die Tür.</p>
-
-<p>Dann war sie wieder hinter ihm und riß im Laufen einen irdenen Topf vom
-Tisch herunter, der polternd auf den Boden stürzte. Da brach Hans in
-lautes Lachen aus, so lustig fand er das Spiel.</p>
-
-<p>Hierauf ging Ursel stumm hinaus.</p>
-
-<p>Aber es währte nicht lange, Hans stand noch immer auf derselben Stelle
-wie vorhin und schnappte nach Luft, da öffnete sich die Tür wieder, und
-Ursel kam zum Vorschein und trug eine große Pappschachtel schweigend
-vor sich her.</p>
-
-<p>„Sie will fort,“ durchschoß es Hansens verängstigtes Gemüt. &mdash; „Jetzt
-packt sie.“</p>
-
-<p>Aber vor seinen erstaunten Augen löste die alte Magd die Schnüre
-der Schachtel und entnahm ihr ein schwarzes Kaschmirkleid, einen
-Orangeblütenkranz und einen Schleier, indem sie mit Tränen im Auge
-sagte: „Da ist mein Brautkleid und mein Schleier und mein Kranz, und
-bei Königgrätz ist mein Bräutigam gefallen. Und mein ganzes Leben lang
-bin ich ihm treu geblieben. Und hier ist seine Photographie. Und nun
-muß ich auf meine alten Tage soviel Schande erleben.“</p>
-
-<p>Hans wurde es ganz schwarz vor den Augen bei dieser Beichte und so
-beklommen und elend zu Sinn, als habe er selbst auf Ursels Bräutigam
-die Todeskugel abgefeuert. Was sollte er nur sagen! Was sollte er nur
-sagen!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span></p>
-
-<p>„Aber Ursel, das ist ja doch nicht Susens Ernst, das ist doch Spaß,“
-stotterte er schließlich.</p>
-
-<p>Noch hatte er seine Worte nicht ausgesprochen, da klingelte es
-wiederum, und allen dreien fuhr es wie ein Schlag durch den Sinn, daß
-jetzt Herr Schnurr zur Stunde komme.</p>
-
-<p>„Er bleibt draußen,“ rief Ursel mit halberstickter Stimme. „Ich will
-ihn nicht sehen. Er soll mir nicht mehr vor die Augen kommen.“</p>
-
-<p>Frau Cimhuber war so verwirrt von den Ereignissen der letzten
-Viertelstunde, daß sie nicht mehr recht wußte, was sie tat und selbst
-zur Türe ging, um Herrn Schnurr abzuweisen und zwar mit einer Lüge, der
-ersten, die sie seit Jahren über die Lippen brachte. Aber die Sorge um
-Ursel machte selbst ihre Grundsätze wankend.</p>
-
-<p>„Hans ist krank,“ sagte sie leise.</p>
-
-<p>Kaum hatte der Lehrer das Wort „krank“ vernommen, so bestand er erst
-recht darauf, seinen Schüler zu sehen und trat, Frau Cimhuber sanft auf
-die Seite schiebend, in den Gang. Als er an der Küchentür vorüberging,
-erspähte er Ursel, die dort vor ihrem Brautstaat tränenden Auges stand.
-Den Finger schalkhaft erhebend, meinte er: „Na, na, Ursel. &mdash; Sie
-werden doch nicht. &mdash; Ein schwerer Schritt das Heiraten! Da heißt’s
-überlegen.“</p>
-
-<p>Hier fielen seine Blicke auf Hans, der wie ein verschämter Bräutigam
-errötend hinter Ursel stand. Und kurz entschlossen nahm er ihn am Arm
-und führte ihn mit sich fort.</p>
-
-<p>Nach Herrn Schnurrs wilden Ausrufen und dem Schall seiner Schritte, die
-aus der Negerstube drangen, konnte man erkennen, wie eifrig er bei der
-Sache war.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Der temperamentvolle Lehrer war schon längst wieder von dannen gezogen,
-da kam endlich die Ausreißerin Suse nach Hause.</p>
-
-<p>Wie ein gezackter Gebirgsstock, über dem ein schwarzes Wetter steht,
-kam ihr Ursels Gesicht bei der Begrüßung vor. Und in dem Glauben, die
-Ursache von soviel finsterem Groll zu kennen, begann sie schmeichelnd:
-„Bitte, bitte, liebe Ursel, entschuldigen Sie, daß ich so lange fort
-war, seien Sie mir, bitte, nicht böse. Ich werde ihnen jetzt mit neuen
-Kräften helfen wie eine Scheuerfrau. Es ging einfach nicht, daß ich
-früher kam. Wir haben eine unserer Lehrerinnen getroffen, die wir so
-gerne haben, und sie nahm uns mit in den Wald und zeigte uns Plätze,
-wo schöne Anemonen stehen, herrlich! Ursel, es ist so herrlich, in
-das Pflanzenleben einzudringen, dies Wachsen und Blühen und Gedeihen.
-Überhaupt das ganze Pflanzenleben. Wie schön ist doch die Natur!“</p>
-
-<p>Ursel verzog keine Miene.</p>
-
-<p>Suse schwärmte weiter: „Sehen Sie, ich habe Frau Cimhuber einen<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span> ganzen
-Arm voll Blumen mitgebracht. Wie ein Frühlingsgarten wird’s bei uns
-sein. Ursel, der Vorfrühling ist gekommen. Man spürt’s. Und der Kuckuck
-ruft. &mdash; Und der Waldesduft, und das Moos...“</p>
-
-<p>Ursel blieb stumm wie das Grab. Eine dicke Hornhaut schien sich über
-ihr Gemüt gelegt zu haben; über die eindruckslos wie Zephyrfächeln über
-Felsgestein Susens Schmeichelworte hinstrichen.</p>
-
-<p>Da beschloß das Doktorskind, die alte Magd nicht mehr durch Worte,
-sondern durch Taten zu versöhnen, und sie ging von dannen, um sich eine
-große Schürze vorzubinden und Arbeit zu suchen.</p>
-
-<p>Zu ihrem Erstaunen erwiderte aber auch Frau Cimhuber, die eben in die
-Küche trat, ihren Gruß nur mit knappem Dank.</p>
-
-<p>„Wie auf einem Geisterschiff,“ murmelte das Doktorskind leise vor sich
-hin, als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.</p>
-
-<p>„Komm nur herein, komm nur herein!“ tönte es ihr dort aus dem
-Hintergrund entgegen. „Was Gutes hast du angerichtet! Was Sauberes!
-Einen feinen Salat, den wir jetzt zusammen ausgrasen können!“</p>
-
-<p>Und in die Stube tretend, sah sie ihren Bruder auf Zehenspitzen
-umherlaufen, während er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte
-und beschwichtigende Bewegungen machte.</p>
-
-<p>„Es hat zwölf geschlagen, es hat zwölf geschlagen,“ rief er. „So was
-haben wir noch nie erlebt, noch nie.“</p>
-
-<p>„Was ist denn los?“ fragte Suse. „Was ist geschehen? Was läufst du denn
-so närrisch da herum?“</p>
-
-<p>„Schau,“ sagte Hans und deutete mit ausgestreckter Hand auf Susens
-Bett, „guck, dann weißt du alles.“</p>
-
-<p>Suse folgte mit ihren Augen der Richtung seines Fingers, stieß dann
-einen lauten Schreckensruf aus und ließ sämtliche Anemonen zu Boden
-fallen, so daß sie mit verwirrten Köpfchen und Stielen dort lagen, wie
-vom Sturmwind zerwühlt.</p>
-
-<p>„Wer hat das Bett abgezogen?“ stotterte Suse.</p>
-
-<p>„Ursel.“</p>
-
-<p>„Und meinen ganzen Brief hat sie gelesen?“</p>
-
-<p>„Ja.“</p>
-
-<p>„Alles, was ich zusammengeschmiert habe von Braut und Bräutigam und
-Verlobtsein und Küssen und herrlicher Freundschaft und Herrn Schnurr
-und gestopften Strümpfen und all das dumme Zeug?“</p>
-
-<p>„Ja, von A bis Z.“</p>
-
-<p>„Und schlecht ist mir’s noch,“ fuhr Hans fort, „wenn ich nur daran
-denke, wie sie gejammert hat. Und ihr Brautkleid in einer Lade hat sie
-hinterher geholt und hat drauf geweint. Entsetzlich!“</p>
-
-<p>„Aber eine so alte Frau kann sich doch ihr Lebtag nicht in einen solch<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span>
-jungen Mann wie Herrn Schnurr verlieben,“ jammerte Suse, ihr Gesicht in
-den Händen vergrabend und laut weinend. „Da lachen ja die Hühner. Sie
-muß doch wissen, daß es nur Unsinn war.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Nun ist alles, alles aus, mein ganzer Geburtstag. Und nie in meinem
-ganzen Leben hab’ ich mich so auf einen Geburtstag gefreut, wie auf
-diesen. Gelt Hans, nun ist alles verloren?“</p>
-
-<p>Der Bruder nickte begossen.</p>
-
-<p>„Was wolltet ihr denn eigentlich anfangen an meinem Geburtstag?“ fragte
-Suse nach einer Weile, in Tränen zerfließend.</p>
-
-<p>„Ich kann dir’s jetzt ja sagen,“ entgegnete Hans zage, „denn aus ist’s
-ja doch. &mdash; Die Papierschlangen und Lampions sind bereits wieder zu
-Pastor Brauers zurückgeschickt worden, die sie uns geliehen hatten.
-Wir hatten dir herrliche, dreistimmige Lieder eingeübt, Herr Schnurr,
-Ursel und ich. Herr Schnurr ist zuweilen fast aus der Haut gefahren,
-so falsch hat Ursel gesungen. Aber schließlich hat sie’s doch kapiert.
-Und zur Dankbarkeit für Herrn Schnurrs Bemühungen wollte sie ihm die
-Strümpfe stopfen. Dann beabsichtigten wir, dir noch eine wunderbare
-Laube aufzubauen, von Tannenzweigen und Papierschlangen, und die ganze
-Negerstube abends mit Lampions zu erleuchten, zu singen und zu tanzen.“</p>
-
-<p>Susens Tränen flossen reichlicher bei dem Gedanken an den prunkvollen
-Ehrensitz, um den sie sich durch ihren Leichtsinn gebracht hatte.
-Hans aber fuhr fort: „Außerdem wollten Christoph und Henner mit ihrem
-Kasperletheater ankommen und ein selbsterfundenes Stück vorspielen. Es
-heißt: „Wie die Fremdlinge die Kühe melken.“ Und das darf ich nicht
-vergessen, Ursel wollte sich eine ganze Marzipantorte von einem halben
-Meter Durchmesser abzwacken. Das ist nun alles Essig. &mdash; Ich glaub’,
-sie wollen jetzt sogar der Mutter abschreiben, daß sie nicht kommt.“</p>
-
-<p>„Die Mutter wollte kommen?“ rief Suse aufspringend. „Die Mutter? Seit
-wann wollte sie denn kommen? Seit wann? Sag’ Hans, seit wann? Gelt, das
-ist meine Überraschung von daheim?“</p>
-
-<p>„Ach, ich dummer Papagei,“ rief Hans, sich mit beiden Händen an den
-Mund fassend. „Das ist mir jetzt herausgewitscht. Ich weiß nichts, ich
-weiß nichts. Ob sie kommt, ob sie nicht kommt, frag’ mich nicht.“</p>
-
-<p>Suse erhob sich langsam, sammelte ihre Blumen vom Boden auf und ordnete
-sie zierlich. Köpfchen neben Köpfchen, und Stiel neben Stiel, und
-steckte sie, mit Tränen benetzt, in eine Vase.</p>
-
-<p>Eigentlich waren die Anemonen für Frau Cimhuber bestimmt gewesen, aber
-wie hätte sie es unter diesen Umständen gewagt, der Pfarrfrau Blumen
-anzubieten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span></p>
-
-<p>Nach einer Weile schlich sich Hans in die Küche, um dort zu sehen,
-wie der Wind wehe. Aber schneller, als Suse gedacht, kehrte er wieder
-zurück und flüsterte: „Ursel sitzt noch immer, in Tränen gebadet, auf
-ihrem Stuhl und hat die Schachtel mit dem Brautkleid offen vor sich
-stehen.“</p>
-
-<p>Susens Herz klopfte schuldbewußt. Und der Abend verlief in gedrückter
-Stimmung. Nur Hans fühlte, obwohl von Mitleid für Suse ergriffen,
-wie sich ein kleiner Freudefunken in seinem Herzen rührte, der immer
-lebhafter wurde, so daß er ihn schließlich herausspringen lassen mußte.</p>
-
-<p>„Bin ein fahrender Gesell, kenne keine Sorgen,“ tönte es erst leise,
-dann immer lauter werdend von seinen Lippen, „labt mich heut der
-Felsenquell, tut es Rheinwein morgen...“</p>
-
-<p>Morgen ging es ja fort von hier, fort, hinaus in die köstliche
-Freiheit, in die Berge, wo der frische Wind wehte. Mit Theobald und
-Peter und einigen andern Knaben hatte er eine Wanderung verabredet.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Zwei Tage war ja keine Schule des Examens wegen. &mdash; Seine Brust dehnte
-sich, und seine Augen leuchteten, und sein Gesicht rötete sich, und mit
-einemmal stieß er einen solch durchdringenden Jauchzer aus, daß Ursel
-und Frau Cimhuber in der Küche zusammenflogen.</p>
-
-<p>Schnell erinnerte er sich aber wieder an die unheimlichen
-Nachtgespenster, die zurzeit im Cimhuberschen Haus umgingen, und er
-schwieg.</p>
-
-<p>Behutsam holte er seinen Rucksack von der Wand herunter, schnürte
-ihn auf und packte alle möglichen Dinge ein, die er zur Wanderschaft
-brauchte: Strümpfe, Wäsche, Nähzeug, auch Brot in einen Beutel und
-Suppenwürfel. Dann nähte er sich die grüne Schnur, die von seinem
-Lodenhut abgerissen war, wieder kunstgerecht fest und erzählte Suse
-dabei allerlei von seinen Wanderplänen. &mdash; Die erste Nacht gedachten
-Theobald, Peter und er in einem größeren Ort, Wildershausen, zu
-übernachten. &mdash; Wie Suse sich vielleicht noch entsinne, meinte der
-Bruder, habe der Vater diesen Ort in seinem Brief ein- oder zweimal
-erwähnt, und zwar mit dem Vermerk, Hans solle das Städtchen auf
-seiner Wanderung doch einmal aufsuchen und ihm dann schreiben, wie
-es ihm gefallen habe. &mdash; Weshalb der Vater das wissen wolle, sei ihm
-allerdings nicht klar.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Ach, könnt’ ich doch nur mit, ach, könnt’ ich doch nur mit,“ seufzte
-Suse.</p>
-
-<p>„Sei nicht traurig,“ tröstete Hans, „Samstag abend komme ich ganz
-bestimmt wieder, und wenn Ursel uns nicht haben will, so wird dein
-Geburtstag eben bei Tante Hedi gefeiert. Ich werde schon dafür sorgen.
-Das Theaterstück bekommst du auf alle Fälle zu sehen. Es ist, um an<span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span>
-den Wänden heraufzukrabbeln vor Lachen. Solche verrückten Dinge, wie
-drin vorkommen, hast du noch nie gesehen. Die Reden für das Kasperle
-hat Theobald gedichtet.“</p>
-
-<p>Hier holte Hans seine nägelbeschlagenen Gebirgsschuhe aus dem Schrank
-hervor und beschloß, sie in die Küche zu tragen und dort einzufetten.</p>
-
-<p>„Heute muß ich acht geben, daß ich keinen einzigen Spritzer Öl
-vorbeitröpfeln lasse,“ flüsterte er Suse zu, als er zur Türe
-hinausging, „sonst schlägt mir Ursel die Hasenpfoten um die Ohren, die
-ich ihr neulich eigenhändig zum Schuheinschmieren gestiftet habe.“</p>
-
-<p>Etwas später suchte Suse Frau Cimhuber auf, um sie zu bitten, doch den
-dummen Brief zu entschuldigen und ein Wörtlein zu ihren Gunsten bei
-Ursel einzulegen. Aber die Pfarrfrau sagte streng: „Selbst im Spaß
-schreibt man keine solch’ dummen Verleumdungen, wie du es getan hast,
-Suse. Ich verstehe Ursels Empörung vollständig. Wenn sich zwei junge
-Mädchen weiter nichts zu schreiben haben als Narrheiten wie ihr, dann
-geben sie das Briefschreiben besser ganz auf.“</p>
-
-<p>„Wir schreiben uns doch auch noch andere Sachen,“ entgegnete Suse
-kleinlaut.</p>
-
-<p>„Herrliche Naturbeschreibungen stehen manchmal in unseren Briefen,
-und noch andere, viel, viel ernstere Dinge, von denen ich nicht reden
-darf, so ernst sind sie. Über manchen Brief von Karla hab’ ich schon
-geweint. Wir schreiben uns nämlich zurzeit gerade darüber, daß wir uns
-später einen Beruf erwählen wollen, in dem wir recht viel zum Glück
-der Menschheit beitragen. Ich habe in diesen Tagen auch schon an Herrn
-Edwin deshalb geschrieben.“</p>
-
-<p>Aber Frau Cimhuber war nicht umzustimmen. Und Ursel verschloß ihr Gemüt
-erst recht.</p>
-
-<p>Sie antwortete nicht. Sie seufzte nicht. Sie war ein Fels geworden. Sie
-deckte den Tisch auf wie eine Salzsäule. Sie deckte ihn wieder ab. Sie
-räusperte sich noch nicht einmal. Und das Brautkleid lag noch immer in
-der Küche und quälte Suse durch seinen Anblick.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Am andern Morgen in aller Herrgottsfrühe, als die andern noch
-schliefen, machte sich Hans dann auf die Wanderung.</p>
-
-<p>Nun war Suse allein. Trübselige Tage folgten. Die Welt erschien ihr wie
-ein Grab. Kein Kuchen-, kein Schokoladeduft verkündete ihr, daß ein
-Umschwung zu ihren Gunsten eingetreten sei. Die Kuchenbleche blieben
-unangetastet an der Wand hängen, die Rosinen ruhten in ihrer Tüte,
-die Vanillestangen in ihrer Büchse. Es roch nach Negerstube, nach
-Schmierseife, nach den altbekannten Düften des Cimhuberschen Hauses,
-nach nichts anderem.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span></p>
-
-<p>Endlich, endlich kam der Samstagabend heran, und mit ihm das Ende ihrer
-Qual, wie Suse hoffte. Heute mußte Hans ja wiederkommen. Er hatte es
-versprochen. Und vielleicht auch, vielleicht auch &mdash; die Mutter. Ganz
-auszudenken wagte Suse diesen herrlichen Gedanken nicht. Als es aber
-Abend war, lief sie zum Zug, der aus ihrer Heimat kam, um die Mutter in
-Empfang zu nehmen. Doch umsonst.</p>
-
-<p>Auch Hans kam nicht.</p>
-
-<p>Den ganzen Abend wartete sie vergebens auf ihn. Es schlug zehn, es
-schlug elf, es ging auf Mitternacht. Er kam immer noch nicht. Müde und
-verängstigt suchte sie da ihr Bett auf. Erst spät fand sie den Schlaf.</p>
-
-<p>Der erste Gedanke, der Suse am andern Morgen beim Erwachen durchfuhr,
-war der an ihren Geburtstag. Vierzehn Jahre war sie heute alt. Vierzehn
-Jahre! Es war ein Sonntag heute. Die strahlende Sonne lachte über die
-ganze Welt. Die Anemonen am Fenster hatten ihre Kelche weit geöffnet
-und fingen das helle Licht in ihrem kleinen Blütentellerchen auf.</p>
-
-<p>Die Uhr sagte Suse, daß es schon sehr spät sei. Schon neun Uhr.</p>
-
-<p>Nicht wie sonst hatte Ursel sie um sieben geweckt, damit sie zur Kirche
-gehe. Sie hatte sie schlafen lassen. Kein Laut regte sich im Haus.
-Totenstill war es, als wären Ursel und Frau Cimhuber gestorben. Auch
-Hans war nicht gekommen. Suse schlüpfte unter die Decke und machte
-die Augen zu. Am liebsten wäre sie in einen hundertjährigen Schlaf
-verfallen. Aber wie das anfangen.</p>
-
-<p>Es blieb ihr nichts anderes übrig als aufzustehen, sich anzuziehen und
-Frau Cimhuber und Ursel, die aus der Kirche kamen, zu begrüßen und
-nachzusehen, wie der Wind heute wehe. &mdash; Die Geburtstagswünsche fielen
-mager genug aus. Und als Suse heimlich den Tisch in der Negerstube
-betrachtete, auf dem sonst die Geschenke ausgebreitet lagen, sah sie,
-daß er leer war wie eine frischgemähte Wiese. Keine einzige Gabe
-schmückte ihn. Noch nicht einmal ein Brief aus der Heimat war zu
-sehen. Wüstenartig öde kam Suse die Welt vor. Auch kein Kuchen war in
-der Speisekammer zu entdecken, wohin Suse ihre Streifzüge ausdehnte.
-Und als sie ihre Pflegemutter schüchtern fragte, was aus ihrer
-Nachmittagseinladung werden solle, wurde ihr der betrübende Bescheid,
-daß diese unter den obwaltenden Umständen natürlich unterbleiben müsse.
-So fiel Suse denn die recht beschämende, peinliche Aufgabe zu, ihre
-sämtlichen Gäste wieder auszuladen.</p>
-
-<p>Auf ihrer Morgenwanderung kam sie auch in das Haus von Onkel Sepp und
-Tante Hedi und fand hier die ganze Bewohnerschaft in großer Aufregung.</p>
-
-<p>Theobald war genau wie Hans am gestrigen Abend nicht zurück<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span>gekehrt,
-und hatte auch kein Wort der Entschuldigung geschickt. Hingegen war ein
-Trupp ihm befreundeter Knaben, die auf einer Wanderschaft begriffen
-waren, aus einer entfernten Stadt eingetroffen, und jetzt wußte kein
-Mensch, was mit ihnen anfangen. Auch sonst hatte es noch allerlei
-gegeben, was die Gemüter in Aufruhr versetzte. Am Abend vorher hatte
-sich Liselotte, Theobalds älteste Schwester, verlobt, eine Gelegenheit,
-die Christoph und Henner dazu benutzt hatten, sich in ihrem vollsten
-Glanze zu zeigen.</p>
-
-<p>Bei der Verabschiedung des Bräutigams von der Braut hatten sie durch
-das Treppenhaus einen bekleisterten Zeitungsausschnitt mit dem Aufruf:
-„Wasche dein Haupt mit Javol“ auf die Glatze ihres zukünftigen
-Schwagers fallen gelassen und saßen nun, eine harte Strafe verbüßend,
-eingesperrt in der Bodenkammer.</p>
-
-<p>Kein Wunder, daß unter diesen Umständen Tante Hedi ihrer jungen Nichte
-Geburtstag ganz vergaß.</p>
-
-<p>Das Doktorskind mußte darum betrübter, als sie gekommen war, von dannen
-gehen. Im Vorgarten des Hauses traf sie mit Liselottes Bräutigam, einem
-sehr feinen Herrn, zusammen, der mit höflicher Verbeugung zu ihr die
-Worte sprach: „Guten Morgen, gnädiges Fräulein, wie geht es Ihnen?“</p>
-
-<p>Gnädiges Fräulein, wie achtungsvoll, wie angenehm das klang! &mdash;
-Suse richtete sich an dem Gruße auf wie der erschöpfte Wanderer an
-einem Stab. Nach all den Niederlagen der letzten Tage war ihr diese
-Erfrischung zu gönnen.</p>
-
-<p>Allein, als sie wieder zu Hause angekommen war, ging ihr Freudefünkchen
-jäh in der allgemeinen Begräbnisstimmung unter.</p>
-
-<p>Von Hans war noch immer keine Nachricht gekommen. Und Frau Cimhuber und
-Ursel fingen an, sich zu ängstigen. Wie zwei aufgescheuchte Fledermäuse
-huschten sie durch das Haus.</p>
-
-<p>Und nach Tisch zog sich jeder in seinen besonderen Unterschlupf zurück,
-Frau Cimhuber in die Negerstube, Ursel in die Küche, Suse in ihr
-Zimmer, um die Nachmittagsstunden nach Einsiedlerart, in sich gekehrt,
-zu verbringen. Aber die Trauergesellschaft hatte die Rechnung ohne den
-Wirt, in diesem Falle ohne Herrn Schnurr, gemacht.</p>
-
-<p>Mit einemmal trat er lächelnd mit einem Blumenstrauß in der Hand durch
-die Tür der Negerstube und begehrte, Susens Wiegenfest in der geplanten
-Weise zu feiern, ohne Auslassung einer einzigen Programmnummer.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen bei seinem Anblick und quälten
-sich mit dem Gedanken an das Versäumnis, das sie begangen hatten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span></p>
-
-<p>Sie hatten ja ganz und gar vergessen, den Lehrer abzubestellen.
-Sie hatten ihm ja kein einziges Wörtlein von der verhängnisvollen
-Donnerstagkatastrophe verraten, durch die das Cimhubersche Haus
-sozusagen auf den Kopf gestellt war. Nichts wußte er. Unschuldig
-wie ein neugeborenes Kind stand er da. Treuherzig lächelte er Frau
-Cimhuber und Ursel an. Seine Seele war rein und durchsichtig wie ein
-Bergkristall. Kein Schatten trübte sie.</p>
-
-<p>Und nun war es zu spät, ihn wegzuschicken. Das sagten sich die zwei
-Frauen, die ihn genau kannten und wohl wußten, daß er sich nicht mehr
-verdrängen lasse. Er war ja störrisch wie ein Maultier.</p>
-
-<p>„Wo steckt denn der Hans?“ rief er. „Ich bin doch nicht für die
-Katz gekommen, wir haben doch nicht wochenlang im Schweiße unseres
-Angesichts gespielt und gesungen, daß wir uns heute stumm wie die
-Fische gratulieren.“</p>
-
-<p>„Hans ist auf einer Wanderung,“ stotterte Suse.</p>
-
-<p>„Noch besser,“ sagte Herr Schnurr, „geht der auf eine Wanderung, wenn
-ich hierher bestellt bin. Das ist so die Art der modernen Kinder.
-Rücksicht auf Eltern und Erzieher kennen sie nicht.“</p>
-
-<p>„Hans hat Ihnen doch einen Brief geschrieben, eh’ er fortging,“ sagte
-Suse stotternd. „Ich selbst hab’s gesehen. Haben Sie ihn denn nicht
-bekommen? Mein Geburtstag darf nämlich nicht gefeiert werden, weil hier
-allerlei vorgefallen ist.“</p>
-
-<p>„Brief &mdash; Brief?“ fragte Herr Schnurr. „Ich hab’ keinen Brief bekommen.
-Na, ich kann’s mir schon denken, wo der hingekommen ist,“ sagte er mit
-einemmal. &mdash; „Der ist mal wieder bei uns in den Papierkorb gewandert
-mit den Drucksachen. &mdash; Das kommt öfters bei uns vor.“</p>
-
-<p>„Ja, Susens Betragen war sehr ungehörig in den letzten Tagen,“ fiel
-hier die Pfarrfrau ein, „und deshalb haben wir von einer Feier ihres
-Geburtstages abgesehen.“</p>
-
-<p>Herr Schnurr setzte sich auf einen Stuhl und erklärte kalt lächelnd,
-er sei jetzt da, und er bleibe auch da. Und die einstudierten Lieder
-würden trotz allem gesungen.</p>
-
-<p>„Gelt, Ursel?“ wandte er sich vertrauensvoll an die erschrockene Magd.
-„Wir zwei singen zusammen. Wir zwei haben uns ja immer gut miteinander
-vertragen. Wir zwei werden jetzt unser Licht leuchten lassen.“</p>
-
-<p>Ursel fuhr zusammen und wurde blaß bis an die Nasenspitze. Ihr Herz
-zitterte vor Zorn.</p>
-
-<p>Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als vor der Sünderin Suse zu
-singen. Wie Knödel steckten ihr die Töne im Hals, aber tapfer sang sie
-ein Lied nach dem andern, aus lauter Angst vor ihrem Peiniger.</p>
-
-<p>Suse aber fühlte angesichts des fleißigen Vortrags eine tiefe, tiefe<span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span>
-Beschämung über sich kommen, so daß ihr die Tränen in die Augen traten.</p>
-
-<p>Dort stand die gute Ursel in ihrem Sonntagsstaat und sang voller
-Verzweiflung die schönsten Lieder.</p>
-
-<p>Und hier saß sie wie eine Königin und ließ sich feiern und hatte es so
-wenig verdient.</p>
-
-<p>Schließlich konnte sie nicht mehr zuhören und beschloß heimlich davon
-zu schleichen und die zwei allein weiter singen zu lassen.</p>
-
-<p>Aber Herr Schnurr hatte erraten, was sie wollte, packte sie am Arm und
-drückte sie unerbittlich auf ihren Stuhl zurück.</p>
-
-<p>„Innsbruck, ich muß dich lassen,“ klang es begeistert von seinen Lippen
-in Gemeinschaft mit Ursel.</p>
-
-<p>Dann empfahl er sich.</p>
-
-<p>Ein Alpdruck wich von den drei Frauen. Suse stürzte, einen verwirrten
-Dank stammelnd, an Ursel vorbei in ihr Zimmer und wollte keinen
-Menschen mehr sehen.</p>
-
-<p>Allein nur wenige Minuten verstrichen nach Abbruch des Vortrags, dann
-öffnete sich die Tür ihres Stübchens, und Frau Cimhuber trat ein, um
-ein Paket auf den Tisch zu legen.</p>
-
-<p>Es sei schon einige Tage da, aber in dem allgemeinen Aufruhr der
-letzten Woche vergessen worden, sagte sie entschuldigend.</p>
-
-<p>Suse betrachtete das Paket mit freudigem Erröten und entdeckte, daß
-es von Christine sei. Zärtlich wie einen lieben Bekannten drückte
-sie das Geschenk an sich. Es war ihr erster Gruß aus der Heimat. Mit
-aufgeregten Fingern löste sie die Schnur der Schachtel und entnahm
-ihrem Innern ein buntbesticktes Seidentuch, ein Erbstück von Christines
-Großmutter, das sie oft bei ihrer alten Kinderfrau bewundert und um
-ihre Schultern gelegt hatte.</p>
-
-<p>Sie erfreute sich auch heute wieder an dem Glanz der leuchtenden Rosen-
-und Veilchensträußchen, die in das lila Tuch gestickt waren, und
-spürte mit Entzücken den Duft getrockneter Kräuter, der aus Christines
-Kommode kam, wo Steinklee in Büscheln zwischen Hauben, Tüchern und
-den sonstigen Habseligkeiten der alten Frau lag. Leibhaftig sah
-Suse Christines friedliches Reich vor Augen, und es wurde ihr ganz
-sehnsüchtig zu Sinn. Zu unterst in der Schachtel entdeckte sie dann
-einen Brief, der von Rosel geschrieben, aber von Christine diktiert war.</p>
-
-<p>„Mein liebes, liebes Kind,“ stand darin, „Du weißt, ich kann nicht
-schreiben. Ich hab’ es in der Schule nicht gelernt. Wir brauchten nicht
-in die Schule. Rosel schreibt diesen Brief für mich. Und sie soll
-Dir viel Glück wünschen und Gesundheit und ein langes Leben. Und das
-Seidentuch in der Lade will ich Dir schenken, weil Du es ja immer so<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span>
-gerne hast leiden mögen. Und ich weiß ja nicht, ob ich noch lange lebe.
-Und vielleicht, wenn ich einmal gestorben bin, gibt’s Dir keiner.</p>
-
-<p>Und wenn ich auch schreiben gelernt hätte, so könnt’ ich doch jetzt
-nicht mehr schreiben, liebe Suse, denn ich bin blind geworden, ganz
-blind. Du kannst es auch Hans sagen. Schon Weihnachten, wie Ihr daheim
-gewesen seid, und wie Du mir unter dem Tannenbaum so schön vorgelesen
-hast, unter dem Tannenbaum hab’ ich’s gespürt. Ich kann Euch jetzt
-nicht mehr sehen, wenn Ihr heimkommt, aber ich kann Euch noch sprechen
-hören und Eure Hände in meine nehmen. Erst im Himmel, wenn wir wieder
-alle zusammen kommen, kann ich Euch anschauen und sehen, ob Ihr noch
-Eure lieben, guten Gesichter behalten habt.</p>
-
-<p>Es ist mir immer schwärzer vor den Augen geworden, und zuletzt habe ich
-nur noch einen dicken Nebel gesehen, und jetzt ist es ganz dunkel um
-mich wie in der Nacht. Euer Vater sagt, mir ist nicht mehr zu helfen.
-Jetzt kann ich die schöne Welt nicht mehr sehen. Siebzig Jahre lang
-hat unser Herrgott sie mich sehen lassen und hat es immer so gut mit
-mir gemeint, und jetzt hat er mir die Augen zugemacht, und ich bin
-blind. Und jetzt sitz’ ich immer draußen in der Sonne auf der Treppe
-und rieche die Veilchen, die aus der Erde kommen, und höre die Vögel.
-Und ich weiß doch, wie alles aussieht. Resi führt mich an der Hand
-durch den Garten und den Weg ins Dorf hinauf, wenn ich zu Euern Eltern
-gehe. Ich weiß, daß Ihr bald fortziehen werdet, weit, weit fort, und
-nicht mehr wiederkommt. Eure Mutter hat’s mir gesagt. Ich weiß auch,
-dann sehen wir uns hier nicht mehr wieder. Ich weiß, daß ich nicht mehr
-lange leben werde. Der liebe Gott hat mir die Augen zugemacht, das ist
-ein Zeichen, daß ich zu ihm kommen soll. Aber ich kann ruhig sterben,
-denn jetzt ist alles gut. Für mein Kind sorgt der Herr Doktor und die
-Frau Doktor, und ich weiß, daß auch Ihr gut zu ihm sein werdet. Alle
-Leute hier sind traurig, weil Ihr fort wollt, und sie sagen, so ein
-guter Doktor kommt nicht wieder...“</p>
-
-<p>Da konnte Suse vor Weinen nicht mehr weiter lesen. Christine war blind
-geworden, und die Eltern wollten von zu Hause fort. Das war zuviel
-des Traurigen auf einmal. Sie legte den Kopf auf das bunte Tuch und
-schluchzte zum Herzzerbrechen.</p>
-
-<p>Ursel hörte sie draußen weinen. Aber sie hatte jetzt keine Zeit,
-nach dem Grund ihres Schmerzes zu forschen. Eine merkwürdige
-Zeitungsnachricht, die sie im Sonntagsblatt gelesen, hatte sie
-erschreckt.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ein Brandunglück war dort vom Freitag abend aus einem Ort namens
-Wildershausen gemeldet. &mdash; An verschiedenen Stellen sollte es gebrannt
-haben. Mehrere Scheunen sollten eingeäschert, und drei Knaben, die im
-Heu übernachtet hätten, schwer zu Schaden gekommen sein.<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span> Wildershausen
-&mdash; Wildershausen, ging es Ursel durch den Sinn. Das war ja der Ort,
-in dem Hans am Freitag abend übernachten wollte. Ja, ja, so hieß der
-Ort. Er hatte ihn ihr genannt, als er beim Schuheinfetten am Donnerstag
-abend in der Küche neben ihr gesessen war und sie auf andere Gedanken
-zu bringen versucht hatte.</p>
-
-<p>Und nun war er nicht heimgekommen.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ursel hatte sich schon den ganzen Morgen um ihn geängstigt. &mdash; Am
-Ende... Ursel wurde es ganz schwarz vor den Augen..., die Knaben waren
-ja immer noch nicht da. Es ging auf fünf Uhr. Kein Mensch wußte, wo sie
-waren. Gestern abend hatte Hans bestimmt kommen wollen.</p>
-
-<p>„Frau Pfarrer,“ rief da Ursel, „Frau Pfarrer, hieß der Ort nicht
-Wildershausen, in dem Hans übernachten wollte?“</p>
-
-<p>„Ja, Wildershausen,“ sagte Frau Cimhuber.</p>
-
-<p>„Sehen Sie,“ rief die alte Magd und reichte ihrer Herrin das
-Zeitungsblatt, „sehen Sie, da steht’s, Brand. Die Scheune brannte
-nieder. Zwei Knaben kamen ums Leben. Nein, zu Schaden,“ verbesserte sie.</p>
-
-<p>„Hören Sie, das ist Wildershausen, und da wollte Hans die erste Nacht
-hin. Am Ende er wird doch nicht... es wird doch nicht... unser Hans...
-ich sag’s ja immer, das ist nichts mit diesen gräßlichen Wanderungen.
-Da erkälten sie sich, sie essen schlecht, und zuletzt fallen sie in die
-Flammen hinein. Das ist das Ende vom Lied. Haben sie es daheim nicht
-viel besser!“</p>
-
-<p>Ursel begann nun um den Doktorssohn laut zu klagen. Er, den sie am
-Donnerstag abend noch einen unverschämten Bub genannt hatte, war mit
-einmal der liebe, gute, freundliche Hans, der ihr so oft das Geschirr
-abgetrocknet und das Feuer angemacht hatte, wenn ihre Hände vom
-Rheumatismus angeschwollen waren. Immer wieder hatte er ihr neue Mittel
-zur Heilung gebracht.</p>
-
-<p>Noch einmal vertiefte sie sich in die Zeitungsnachricht und erklärte
-dann: „Er ist’s. Drei Knaben steht hier. Das ist Theobald und Hans und
-Peter. Die schlafen ja immer des Nachts in Kuhställen und auf Heuböden.
-Ich will jetzt mal hingehen und sehen, was mit Theobald los ist, ob der
-immer noch nicht da ist.“</p>
-
-<p>Damit legte sie ihren Sonntagsstaat an, einen abgelegten Capothut von
-Frau Cimhuber und eine schwarze Pelerine, und machte sich auf den Weg
-zu Susens Verwandten. Leider verfehlte sie Toni um einige Minuten, die
-mit einer inhaltsreichen Depesche von Theobald in der Hand ihren Weg zu
-Frau Cimhubers Wohnung hinauf genommen hatte.</p>
-
-<p>Während sich all dies in der Stadt zutrug, hatten Hans und Theobald
-ereignisreiche Tage verlebt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span></p>
-
-<p>Im Kreise einiger Freunde waren sie am Freitag morgen dem Gebirge
-zugefahren, hatten dort die Bahn verlassen und waren zur Höhe
-emporgestiegen, von wo sie eine Kammwanderung angetreten hatten.</p>
-
-<p>Hans fühlte sich am Wandertage nach den beklemmenden, letzten
-Ereignissen im Cimhuberschen Haus so frei wie der Vogel in der Luft.
-Sein Hut hing am Rucksack. Der Wind spielte ihm frisch um die Stirn.
-Ein herber, stärkender Hauch wehte hier oben. Große landschaftliche
-Schönheit breitete sich vor seinen Augen aus. Von der Ebene her
-leuchteten die Dörfer und Ortschaften, von der Sonne beschienen, weiß
-herauf. Am Bergeshang tief unten lag ein zarter Schleier über den Wald
-gebreitet. Es war das erste Frühlingsgrün, duftig wie ein feiner Hauch.
-Hier oben, wo es nur niedere Tannen und verkrüppelte Buchen gab, merkte
-man noch nichts vom Blühen und Wachsen.</p>
-
-<p>In dem unermeßlichen Äther in der gleichen Höhe mit den Knaben zog ein
-Bussard über der Tiefe des Tals in wunderbarer Ruhe seine Kreise. Die
-Knaben blieben eine Weile stehen und folgten ihm mit den Blicken. Dann
-zogen sie weiter auf dem Gebirgskamm, der sich wie eine hochgespannte
-Brücke unter Gottes Himmel hinzog. Mittagsrast hielten sie in einer
-verlassenen Burgruine, die auf einem Gebirgsvorsprung lag und zu der
-sie nach einer zweistündigen Wanderung vom Kamm heruntergestiegen
-waren. In dem alten, eingeschlafenen Burghof machten sie sich ein Feuer
-an, um abzukochen. Bald brodelte eine kräftige Suppe im Kochtopf.</p>
-
-<p>Hans langte mit großem Heißhunger zu. Die Vorstellung, daß jetzt eine
-gräßliche, dumpfe Stimmung über dem Cimhuberschen Haus brüte, schien
-seinen Appetit noch zu verdoppeln.</p>
-
-<p>Nach beendigter Mahlzeit holten einige Knaben von einem nahegelegenen
-Quell Wasser und wuschen das Geschirr ab. Einer der Wanderer, ein
-begeisterter Redner und Sänger, drückte sich von der Küchenarbeit
-und erklomm das Gemäuer des verfallenen Rittersaals, um von einer
-Fensterhöhlung herab eine flammende Rede zu halten über die Zeit, als
-hier der Bauernkrieg wütete. &mdash; Hans hörte, den Kopf im Nacken, mit
-großem Interesse zu. Theobald hingegen zuckte die Achseln und verzog
-sich auf den Bergfried, wo er aus schwindelnder Höhe sich das Tal
-betrachtete und sich an der Hand einer Karte orientierte.</p>
-
-<p>Nach einer guten Stunde fand der Aufbruch der Knaben statt, und die
-fröhliche Schar zog singend von dannen.</p>
-
-<p>Bald lag der Burghof wieder vereinsamt da. Eine Eule, die erschreckt
-beim Nahen der Knaben davongeflogen war, kehrte mit schwerem
-Flügelschlag in ihr Reich zurück. Von unten, vom Bergeshang, tönte der
-Gesang der Wanderer verhallend herauf.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span></p>
-
-<p>Es fing schon an zu dunkeln, als die Knaben ins Tal zurückkamen. Drei
-von ihnen beschlossen, in einem kleinen Dorf am Fuß des Gebirges zu
-übernachten, die andern, Theobald, Peter und Hans, weiter in die
-Ebene hinaus zu gehen, nach dem eine Stunde entfernten Städtchen
-Wildershausen.</p>
-
-<p>Hans, der schon etwas müde war, gähnte und zog die Füße nach. Theobald
-pfiff einen Marsch, um seinen Vetter aufzumuntern.</p>
-
-<p>Plötzlich aber stieß er einen Jauchzer aus und rief: „Famos wird
-das heute, Hans. Wir logieren beim Onkel Brettelkern, beim Doktor
-Brettelkern. Das hat mir der Vater geraten.</p>
-
-<p>Kennst du den Brettelkern?“</p>
-
-<p>Hans schüttelte den Kopf.</p>
-
-<p>„Hat dein Vater nie davon erzählt?“</p>
-
-<p>„Nein.“</p>
-
-<p>„Das wundert mich,“ meinte Theobald, „der Doktor Brettelkern ist ein
-Onkel von uns, ‚zehnmal um die Ecke rum‘, das heißt von meinem Alten.
-Dein Vater kennt ihn aber genau, denn dein Vater und meiner waren schon
-in ihrer Jugend unzertrennliche Freunde. Und der Onkel Brettelkern hat
-an den beiden einen Narren gefressen gehabt, bis es eines Tages zum
-Krach gekommen ist. Widerspruch konnte der Brettelkern nämlich nicht
-ertragen. Und als die beiden jungen Dächse einmal in irgend einer
-Frage, ich glaube, es war die Alkoholfrage, gegen ihn gewesen sind, da
-wurde er fuchsteufelswild und hat sie vor die Tür gesetzt. Ich glaube,
-jetzt nach Jahren hat er endlich mal wieder an deinen Vater geschrieben
-wegen seiner Praxis, die er abgeben will.“</p>
-
-<p>„Davon weiß ich nichts,“ meinte Hans ganz verwundert.</p>
-
-<p>„Na, das ist ja auch nebensächlich, die Hauptsache ist, daß wir auf
-seinem Heuboden übernachten wollen,“ erklärte der Vetter. „Und am
-andern Morgen bringen wir ihm ein Ständchen und stellen uns vor als die
-Söhne vom Sepp und vom Hermann. Schmeißt er uns dann zum Hof hinaus, so
-ist’s ja noch immer Zeit zum Laufen meint der Vater.“</p>
-
-<p>Dieser Plan wollte Hans keineswegs einleuchten. Und auch Peter schien
-es viel besser, sich einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen, wo man
-am andern Morgen aufrechten Ganges davongehen konnte.</p>
-
-<p>Indes die beiden fügten sich schließlich doch Theobalds Anordnungen.
-Bald hatten sie das freundliche Städtchen Wildershausen erreicht, und
-mußten nun den ganzen Ort durchwandern, ehe sie die Wohnung ihres
-Onkels gefunden hatten. Sie lag an der breiten Hauptstraße, ganz am
-andern Ende der Stadt.</p>
-
-<p>„Aha, da sind wir,“ meinte Theobald, der zuerst das Schild mit dem<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span>
-Namen des Doktors an einem der weißgetünchten Häuser entdeckt hatte.
-„Dann können wir also drei Mann stark in seinen Wigwam einfallen.
-Hoffentlich laufen wir ihm nicht gleich in den Weg. Sonst wirft er am
-Ende einen Blick auf unsere klassischen Gesichter und drauf uns alle
-drei am Kragen hinaus.“</p>
-
-<p>Durch die Gitterstäbe des großen eisernen Hoftores mit dem kleinen
-Eingangstor an seiner Seite spähten die Knaben in den Hof. Im
-Hintergrund gewährten sie eine Scheune mit einem Stall, zu dem
-rechtwinklig ein Schuppen angebaut war. Eine Menge Holz war darunter
-aufgeschichtet.</p>
-
-<p>Daneben stand ein Mann, augenscheinlich der Kutscher, der damit
-beschäftigt war, Pferdegeschirr zu reinigen.</p>
-
-<p>„Sollen wir’s wagen, sollen wir’s wagen?“ fragte Theobald. &mdash; „Hopp,
-wagen wir’s.“</p>
-
-<p>Und die drei traten schnellen Schrittes ein, grüßten höflich und trugen
-ihr Anliegen vor. Theobald redete dabei wie ein Wasserfall. Der Mann
-vor ihm sah ihn zuerst mit leichtgeöffnetem Mund ganz verständnislos
-an. Dann aber begriff er langsam, langsam, lächelte verschmitzt und
-nickte beifällig.</p>
-
-<p>„Guter Vetter, ich weiß schon, was du willst,“ meinte er, Theobald
-kameradschaftlich auf die Schulter klopfend. „Wir verstehen uns in der
-Angelegenheit. &mdash; Die letzte Woche sind nämlich schon ein paar von
-eurer Sorte dagewesen. Die haben bei uns übernachtet. So jemand wie
-euch können wir schon unterbringen. Das tun wir gern. Das macht dem
-Doktor Freude. Die letzten hat er sogar im Bette schlafen lassen.“</p>
-
-<p>„Nur nicht in dem Brettelkern seiner Betten schlafen,“ riefen die
-Knaben und dachten mit Schrecken an das Erstaunen des Doktors, wenn
-dieser plötzlich die Sprößlinge der mit ihm verkrachten Verwandtschaft
-in seinen warmen Federbetten entdeckte.</p>
-
-<p>„Auf dem Heuboden, wo es am dunkelsten ist, wollen wir schlafen,“ rief
-Theobald. „Der Heuboden, das ist unser Fall. Der Heugeruch, der ist
-gesund. Der schläfert ein. Wir sind sehr für die Natur, immer für die
-Natur. Gucken Sie unsere Kräfte. Alles von der Natur!“</p>
-
-<p>Und damit ergriff er den verdutzten Peter am Kragen und hielt ihn mit
-ausgestrecktem Arm dem Mann hin, indem er sagte: „Hier sehen Sie, alles
-mit einem Griff. Alles von der Natur.“</p>
-
-<p>„Du gefällst mir, du kannst so bleiben,“ meinte der Kutscher und
-klopfte Theobald wieder befriedigt auf den Rücken.</p>
-
-<p>„Kommt jetzt mit herein,“ setzte er zu den andern hinzu. „Die Luise
-soll euch ein gutes Abendessen kochen. In einer Stunde wird der Doktor
-da sein. Der wird seine Freude an euch haben. Es kommen auch noch<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span>
-andere Herrschaften mit, ein Herr und eine Dame. Was sehr Feines,
-glaube ich.“</p>
-
-<p>„Heilige Genoveva,“ rief Theobald erschreckt, „nur nichts sehr Feines
-heute abend. Für Herrschaften sind wir nicht angezogen. Und dann fallen
-uns die Augen zu. Man muß uns so wie so schon Hölzchen dazwischen
-stecken, damit sie offen bleiben. Aber morgen um fünf Uhr bringen wir
-dem Doktor ein Ständchen. Was sagen Sie dazu? Studentenlieder spielen
-wir ihm auf. Die beiden da geigen wie die Engel im Himmel und ich singe
-wie eine Orgel.“</p>
-
-<p>„Das wird den Doktor freuen,“ erwiderte der Mann lachend, „ja, das
-könnte ihm Freude machen.“</p>
-
-<p>Hierauf brachte er den Knaben heißes Wasser aus der Küche, womit diese
-sich schnell einige Tassen Kakao anrührten.</p>
-
-<p>Hans äugte ständig nach dem Hoftor hin wie eine Gemse, die auf
-Wachtposten steht. „Hoffentlich kommt er nicht,“ murmelte er vor sich
-hin. „Der wirft uns ja raus.“</p>
-
-<p>„Iß und jammere nicht,“ mahnte Theobald.</p>
-
-<p>Die Knaben verzehrten nun ein paar Stücke Brot und tranken ihren Kakao
-dazu und schickten sich hierauf an, ihr Eßgeschirr zu reinigen.</p>
-
-<p>Da sagte der Kutscher so beiläufig mit größter Ruhe vom Hoftor herüber:
-„Dort unten kommt der Doktor.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Die Knaben rafften ihre Rucksäcke und ihr Geschirr zusammen und rannten
-davon wie die Räuber.</p>
-
-<p>„Kommen Sie, kommen Sie,“ rief Theobald, den Kutscher mit sich ziehend,
-„und zeigen Sie uns unser Nachtquartier! Erst morgen früh wollen wir
-den Doktor sehen.“</p>
-
-<p>Und wie die Katzen kletterten sie an einer Leiter in der Scheune auf
-den Heuboden.</p>
-
-<p>Sich die Seiten vor Lachen haltend, wackelte der Kutscher hinterdrein.
-Und oben breitete er ihnen ein Segeltuch auf das Heu, um es zu schonen,
-damit die empfindlichen Pferde morgens nicht seine Annahme verweigerten.</p>
-
-<p>„Endlich, endlich in Sicherheit,“ meinte Theobald sich streckend und
-dehnend, als der Kutscher gegangen war. „So einen Heuboden, den lob’
-ich mir. Das ist doch das Beste. Neulich der Kuhstall, der war zuviel
-für meines Vaters Sohn. Erst der Kuhgeruch und dann der Hühnergeruch,
-und kaum ist das überstanden und man ist eingeschlummert, da erwachen
-gleich so ein paar gefiederte Bestien, die mit uns zusammen logieren,
-und fühlen sofort das Bedürfnis, Eier zu legen und ihre Funktionen mit
-lautem Geschrei in die vier Winde zu rufen. Schauderhaft! Und dann, als
-sie damit fertig sind, fällt es ihnen ein, spazieren<span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span> zu gehen, und
-sie nehmen ihren Weg direkt über unsere Köpfe und unsere Brust hinweg,
-voran der Gockel. Und wie ich aufwach’, steht mir der, weiß Gott,
-mitten auf der Brust und schlägt mir seine Flügel um die Ohren und
-schreit ‚Kikeriki‘, daß ich aufgefahren bin und ihn gepackt habe. Fast
-hab’ ich ihn ermördert.“</p>
-
-<p>Hans und Peter lachten und vergruben sich im Heu.</p>
-
-<p>„Sei still, Theobald,“ rief sein Vetter, „sonst hört uns der
-Brettelkern und holt uns von seinem Heuboden runter.“</p>
-
-<p>„Lacht doch nicht bei dieser ernsten Geschichte,“ wehrte Theobald,
-„es kommt noch besser. Kaum sind die Hühner fort und wälzen sich mit
-dem vermalefitzten Gockel, dem ich ein paar Schwanzfedern abgebrochen
-habe, in den Hof hinaus, so fängt einer von unsern Freunden, der
-Philipp, so laut an zu schnarchen, daß man es durch drei Wände hören
-konnte. Und denkt euch, da sitzen in demselben Stall mit uns ein paar
-Truthähne. Die bilden sich ein, wir wollen sie uzen mit dem Schnarchen.
-Und jedesmal, wenn der Philipp mit der Stimme überschnappt, fangen die
-an so mordsmäßig zu kollern und zu glucksern, als wollten sie an den
-Wänden in die Höhe fahren vor Geschrei. Wißt ihr, eine Musik war in
-dem Stall, als wenn einer Ziehharmonika spielt, und der andere fällt
-der Länge nach von rückwärts auf das Klavier, auf sämtliche Tasten mit
-einem Schlag. Hinreißend! Na, da bin ich aufgestanden...“</p>
-
-<p>„Und?“ fragte Hans.</p>
-
-<p>„Laß mir meine Ruh,“ sagte Theobald, „ich will jetzt schlafen.“</p>
-
-<p>Und damit drehte er sich auf die andere Seite. Bald verrieten seine
-tiefen Atemzüge, daß er schliefe. Und auch seine beiden Begleiter
-ruhten bald, von tiefem Schlaf übermannt, auf ihrer Lagerstatt.</p>
-
-<p>Da &mdash; es mochte so vier Uhr morgens sein, wachte Hans plötzlich von
-einem lauten Geräusch auf, das im Pferdestall nebenan erklungen war. Er
-hörte Pferde wiehern. Mühsam richtete er sich auf und spürte, wie ihm
-ein schwerer Druck auf der Brust lag. Sein Kopf schwindelte. &mdash; Es roch
-nach Qualm und Rauch. Weit riß er die Augen auf und sah einen roten
-Schein von der Öffnung, die zum Pferdestall führte, herüberleuchten. Da
-war ihm plötzlich klar, was hier geschehen war. Mit einem Sprung war
-er auf den Beinen, riß seinen Freund Peter mit in die Höhe und schrie
-durchdringend: „Hier brennt’s! Es brennt! Feuer!“</p>
-
-<p>Der Freund war sofort wach, und nun rüttelten die beiden an Theobald,
-der noch immer schlief wie ein Sack. Als sie ihn endlich aufgeweckt
-hatten, bedurfte es nur noch weniger Sekunden, bis er sich gefaßt
-hatte. Dann kommandierte er wie ein General: „Jetzt erst mal raus an
-die Luft.“</p>
-
-<p>Mit großer Schnelligkeit ließen sich die Knaben an der Leiter hinunter
-und eilten durch die Scheune ins Freie.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span></p>
-
-<p>Hier sahen sie den Hof tagehell erleuchtet. Der Holzstoß unter dem
-Schuppen brannte lichterloh, die Flammen schlugen zum Dach hinaus und
-griffen nach dem Stall hinüber.</p>
-
-<p>„Schöne Bescherung,“ murmelte Theobald.</p>
-
-<p>„Wir müssen die Pferde rauslassen,“ meinte da Hans Und die Knaben
-drangen sofort in den Stall ein, schirrten die Füchse los und führten
-sie ins Freie. Die Tiere drängten aufgeregt dem Feuer zu. Theobald
-wurde dabei zu Boden geschleudert und schlug seinen Kopf gegen einen
-Stein. Hans und Peter wurden gegen die Wand gedrückt und scheuerten
-sich das Gesicht blutig.</p>
-
-<p>Noch rechtzeitig kam ihnen ihr Freund von gestern, der Kutscher, zu
-Hilfe und brachte die Pferde, unterstützt durch einige Männer von der
-Straße, ins Freie.</p>
-
-<p>„Es brennt an verschiedenen Stellen in der Stadt,“ hörte Hans jene
-Leute rufen, und atmete erleichtert auf. Der Kutscher hatte ihn eben,
-anscheinend nicht recht bei Sinnen, angefahren: „Ihr vermalefitzten
-Lausbuben, habt ihr vielleicht das Feuer angemacht!“ &mdash; Fast wären sie
-also noch in den Geruch von Brandstiftern gekommen.</p>
-
-<p>Theobald hatte sich inzwischen die Wunde mit ein paar Taschentüchern
-umwickelt und ging auf das Wohnhaus zu, indem er Peter erklärte: Er
-werde jetzt den Onkel „Zehnmal um die Ecke“ retten, ihn auf seinen
-Händen ins Freie tragen und im Namen seiner Familie Versöhnung feiern.</p>
-
-<p>Als Theobald in den Hausflur eingetreten war, bemerkte er gleich auf
-der Spitze der Treppe im ersten Stock einen Herrn im Nachtgewand und
-rief ganz bescheiden hinauf: „Herr Doktor, kommen Sie gefälligst. Es
-brennt bei Ihnen. Soll ich Ihnen helfen? Es ist nicht gefährlich.“</p>
-
-<p>„Aber Theobald, Junge, wo kommst du her?“ tönte da oben eine
-wohlbekannte Stimme herunter. Theobald stutzte. Dann hatte er den Rufer
-erkannt. Es war sein Onkel Hermann, der Vater von Hans Und in einigen
-Sprüngen war er bei ihm.</p>
-
-<p>„Du hier, Onkel?“ rief er.</p>
-
-<p>„Ja, du hier? das frag ich dich auch, Theobald,“ antwortete jener ganz
-betroffen. „Wo kommst du her?“</p>
-
-<p>„Auf einer Wandertour, Onkel. Hans ist auch da.“</p>
-
-<p>Und in demselben Augenblick kam der Knabe, von dem eben die Rede war,
-im Sturm die Treppe hinauf und rannte den Vater fast über den Haufen.
-Und nun erschien auch die Frau Doktor und war ganz bestürzt, als sie in
-dem unheimlichen Lichtschein, der das Treppenhaus erleuchtete, ihren
-Sohn gewahrte.&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Bis vor einer Stunde noch war sie mit ihrem Mann und dem Be<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span>sitzer des
-Hauses, dem Doktor, aufgewesen, und nun war sie im ersten Schlaf durch
-einen furchtbaren Lärm emporgerissen worden.</p>
-
-<p>Gerade wollten Theobald und Hans den Doktorsleuten die nötigen
-Erklärungen über ihr Hiersein geben, da rannte ein dicker, alter Herr
-im Sturm an der Gruppe vorüber und warf sich seinen Rock über.</p>
-
-<p>Es war der Doktor Brettelkern.</p>
-
-<p>„Entschuldigt, ich muß mit in den Betrieb,“ rief Theobald und folgte
-seinem Onkel in den Hof. Schreiende Menschen drängten hier zur Tür
-herein, die Feuerwehr rasselte heran, die Pumpen wurden in Tätigkeit
-gesetzt und die Spritzen auf das Haus gerichtet.</p>
-
-<p>Theobald suchte sofort irgendwo einzugreifen und half beim Pumpen mit
-einem Eifer, als hänge das Geschick Wildershausens von seinen Muskeln
-ab. Mitten im schönsten Arbeiten fühlte er plötzlich, wie ihm jemand
-die Taschentücher vom Kopfe riß, ein dickes Stück Watte mit einer
-brennenden Flüssigkeit in die Wunde stopfte und dann seinen Kopf mit
-einer Gazebinde so fest umwickelte, daß er sich zwischen die Kinnbacken
-eines Riesennußknackers geraten glaubte.</p>
-
-<p>Es war der Doktor Brettelkern, der ihn verbunden hatte.</p>
-
-<p>Unverzagt pumpte Theobald weiter, unterstützt von Hans und Peter.</p>
-
-<p>Als nach einer Stunde der Brand gelöscht war und die Menschen sich vom
-Hofe verzogen hatten, fanden sich der Besitzer des Hauses und seine
-Gäste, die Doktorsleute von Schwarzenbrunn und die drei Knaben aus der
-Stadt, in dem gemütlichen Eßzimmer ein, wo sie sich an einer Tasse
-warmen Kaffees stärkten, die ihnen die Haushälterin des Doktors schnell
-bereitet hatte. Das Fragen und Erklären nahm nun kein Ende.</p>
-
-<p>Hans, der sich schon die zwei letzten Stunden über den Kopf zerbrochen
-hatte, warum seine Eltern wohl hier seien und allerlei Ahnungen
-verspürte, erfuhr nun, daß sein Vater gekommen sei, um mit dem Doktor
-Brettelkern über seine Praxis in Wildershausen zu reden, die er in
-aller Kürze übernehmen werde. &mdash; Von Pfingsten ab sei der Doktorsleute
-und ihrer Kinder Wohnort Wildershausen.</p>
-
-<p>Da stieg dem Knaben das Blut so heiß zu Kopf, daß seine Schrammen im
-Gesicht wie Feuer brannten. Für die nächste halbe Stunde kam ihm kein
-Wort über die Lippen.</p>
-
-<p>Theobald aber betrachtete fortwährend mit sichtlichem Wohlgefallen sein
-zu einem Riesenkürbis angewachsenes Haupt im Spiegel ihm gegenüber.</p>
-
-<p>Was Schöneres konnte er sich nicht denken, als hier sozusagen als Held
-zu sitzen.</p>
-
-<p>Am schweigsamsten war der Hausherr, der Doktor Brettelkern. Aber
-schließlich riß er sich von seinen Gedanken los, sprang auf und meinte<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span>
-kopfschüttelnd: „Da hört man zwanzig Jahre nichts von einander. Und nun
-sieht man sich so wieder. Der ist genau wie sein Vater,“ meinte er, auf
-Theobald zeigend. „Der redete einen auch tot und lebendig.“</p>
-
-<p>Seines Neffen Gesicht rötete sich vor Stolz, und er erklärte: „Ja, die
-Mutter sagt auch immer, Sepp, das haben sie von dir.“</p>
-
-<p>Bis zum Sonntag blieb nun die Gesellschaft noch im Hause des
-gastfreundlichen Doktors. Früh am Morgen sollte eigentlich der
-Aufbruch in die Stadt vor sich gehen, aber da die Knaben in einen
-Murmeltierschlaf versunken und nicht aufzuwecken waren, bat ihr
-Gastgeber, daß man die Reise noch bis zum Mittag verschiebe. So kam es,
-daß Hansens Eltern erst gegen Abend von Susens Geburtstag im Hause der
-Frau Cimhuber eintrafen.</p>
-
-<p>Kaum hatte Suse, die in inniger Umarmung mit Toni auf dem Sofa saß
-und die Depesche, die jene gebracht hatte, durchlas, die Stimme ihres
-Vaters und ihrer Mutter vernommen, da fuhr sie mit einem Jubelruf in
-die Höhe und stürmte auf den Flur zur Begrüßung.</p>
-
-<p>Sie wollte ihren Vater und ihre Mutter nicht mehr loslassen. Sie
-umarmte sie immer wieder. Auch Hans zog sie an sich.</p>
-
-<p>Aber der Bruder geriet gleich in Ursels Fänge, die ihn mit Fragen
-bestürmte. Sie hatte nur ein Auge für ihn.</p>
-
-<p>„Lebst du noch Hans?“ rief sie. „Gelt, du bist’s doch gewesen, von dem
-in der Zeitung geschrieben stand?“ fragte sie ihn. „Komm her und sieh
-mich an. Dein ganzes Gesicht ist ja zerkratzt. Gott sei Dank, daß du
-noch lebst.“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Seit wann soll ich denn gestorben sein?“ fragte Hans erstaunt.</p>
-
-<p>„Seit’s in der Zeitung stand,“ erwiderte Ursel. „So was Ähnliches hab’
-ich gelesen.“</p>
-
-<p>Nachdem der erste Begrüßungssturm vorüber war und Suse an Ursels mildem
-Gesichtsausdruck merkte, daß Hader und Groll von ihr gewichen waren,
-wagte sie verstohlen ihren Arm unter den der alten Magd zu schieben und
-zu fragen: „Sind Sie mir böse? Haben Sie alles vergessen?“</p>
-
-<p>„Das wäre ja eine Sünde, jetzt böse zu sein,“ entgegnete Ursel.
-„Wir wollen froh sein, daß Hans wieder da ist, und nicht an unsere
-Fehltritte denken. Wir wollen alles vergessen. Unser Kummer ist jetzt
-nebensächlich.“</p>
-
-<p>Und sie rief die beiden in ihr Zimmer und holte aus ihrer Kommode ein
-silbernes Kreuz hervor, das sie Suse zum Geburtstag bestimmt, heute
-aber in ihrem Zorn unterschlagen hatte, und band es dem Doktorskind um.
-Und dann griff sie nach der berühmten, von Hans schon beschriebenen
-Marzipantorte, die mitten auf ihrem Bett stand, und reichte<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span> sie den
-beiden hin. Arm in Arm mit ihrer gütigen Geberin traten die Geschwister
-wieder vor das Angesicht ihrer Eltern, und so erfuhren diese nie, wie
-heftig die Wirbelstürme gewesen waren, die in der vergangenen Woche die
-Freundschaft des Kleeblattes hin- und hergezaust hatten.</p>
-
-<p>Den Abend verbrachten die Doktorsleute nun mit ihren Kindern bei
-Theobalds Eltern in der Stadt, und erst am andern Tage setzten sie
-Frau Cimhuber von all den Beschlüssen, die sie in letzter Zeit gefaßt
-hatten, in Kenntnis.</p>
-
-<p>Nach dem Städtchen Wildershausen wollten sie verziehen.</p>
-
-<p>Ihre Kinder wollten sie zu sich nehmen, da in ihrem neuen Wohnort
-höhere Schulen seien.</p>
-
-<p>Frau Cimhuber traf die Nachricht wie ein Schlag.</p>
-
-<p>„Jetzt hat man sich gerade an die Kinder gewöhnt, und jetzt soll man
-sie wieder hergeben,“ sagte sie wehmütig vor sich hin. „Scheiden und
-Meiden, das ist das Leben.“</p>
-
-<p>Ursel weinte drei Tage lang, als sie die traurige Nachricht erfahren
-hatte. Dann aber faßte sie sich und sagte zu Hans und Suse: „Ja, es ist
-viel besser für euch, daß ihr fortgeht. Besonders für dich, Suse. Ich
-habe es jetzt gesehen. Euer Vater ist ein ernster Mann. Er wird euch
-zum Ernst erziehen. Suse, nächstes Jahr wirst du konfirmiert. Da hast
-du eine strenge Aufsicht nötig und eine ernste Umgebung.“</p>
-
-<p>Die schwersten Stunden aber standen Ursel noch bevor. Das waren die
-Wochen nach dem Fortziehen der Kinder. Mittags, wann die Zeit gekommen
-war, zu der die beiden sonst aus der Schule zu kommen pflegten, horchte
-sie oft, ob nicht ein stürmisches Klingeln erschalle und ob nicht zwei
-fröhliche Stimmen riefen: „Was gibt’s heute zu essen? Was Feines? Was
-Gutes?“ Oder sie meinte zuweilen zwei Hände zu fühlen, die sich ihr von
-rückwärts um die Augen legten und jemand fragen zu hören: „Wer ist’s,
-Hans oder Suse?“</p>
-
-<p>Am Tage aber, an dem sonst Herr Schnurr zu erwarten war, übermannte sie
-häufig eine große Wehmut. Wie im Traum befangen, rückte sie dann die
-Stühle und Tische in der Negerstube zurecht und dachte voll Sehnsucht
-der Zeiten, in denen er hier wie ein verzückter Derwisch seine Tänze
-aufgeführt hatte.</p>
-
-<p>Ja, die Einsamkeit im Cimhuberschen Haus wurde mit der Zeit so drückend
-für sie, daß sie nicht ruhte, bis ihre Herrin neue Zöglinge aufgenommen
-hatte.</p>
-
-<p>Und von ihren Lippen ertönte zur Ermunterung der eben eingezogenen
-Kinder ständig der Ausspruch: „Oh, Hans und Suse hättet ihr sehen
-sollen! Ja, Hans und Suse. Die waren artig, die waren gut! Die hatten
-ein Herz wie Gold! Und so fleißig, so gescheit waren sie! Der Hans<span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span>
-konnte geigen wie die Engel im Himmel! Und an den Augen sahen sie einem
-ab, was sie einem helfen konnten. Und immer waren sie vergnügt. Bei
-denen war’s immer Sonntag. Nie ließen sie die Ohren hängen. Hans hatte
-sich einmal den Daumen gebrochen in der Turnstunde und dazu pfiff er...“</p>
-
-<p>Es war ein Glück, daß die Doktorskinder die Lobpreisungen nicht hörten.
-Wie hoch sonst Suse wohl ihre Nase getragen hätte.</p>
-
-<p>Daheim aber in Schwarzenbrunn im Doktorshaus wurde es still, sehr
-still. Für lange Zeit kam kein Arzt mehr in das einsame Dorf, und das
-Haus stand leer. Die Fensterläden blieben geschlossen. Der Hof war
-vereinsamt. Büsche und Blumen wuchsen wild im Garten. Es wurde ein
-Märchengarten daraus.</p>
-
-<p>Babette Buntrock und die übrigen Hühner waren mit ausgewandert nach
-Wildershausen. Minnette und das Käterle hatten bei Rosel, die sich
-kürzlich verheiratet hatte, eine Heimat gefunden. Michel war zum
-Förster gekommen. &mdash; Der Aufenthalt in der Stadt tauge ja doch nichts
-für ihn, hatte der Doktor behauptet. Es sei die reine Quälerei.</p>
-
-<p>So konnte der tüchtige Waldbursche Michel denn jetzt ununterbrochen in
-seinem geliebten Forst bleiben, wo es ihm so wohl gefiel. Zum großen
-Glück hatte der Förster auch keine Kinder. Und so brauchte die Bracke,
-die mit zunehmendem Alter immer hochmütiger und abwehrender gegen die
-Menschen geworden war, sich ihre unangenehmen Aufdringlichkeiten und
-albernen Zärtlichkeiten auch nicht mehr gefallen lassen. &mdash; Zuweilen
-führte ihn sein Weg am Doktorshaus vorüber. Stolz kam er die Straße
-herunter, seinen Schwanz trug er wagrecht abstehend wie ein Lineal.
-Einmal blieb er stehen und sah zum Hause hinüber, als entsinne er sich
-vergangener Zeiten. Doch niemand könnte sagen, ob das wirklich der Fall
-war.</p>
-
-<p>Minnette und das Käterle dehnten ihre Streifzüge noch immer auf den Hof
-und die Scheune ihres alten Wohnhauses aus. Aber abends fanden sie sich
-regelmäßig bei Rosels Milchtöpfen ein.</p>
-
-<p>Manchmal saßen sie auch noch auf der hintern Gartenmauer, wo im
-Frühjahr der Schlehdorn schneeweiß leuchtete, und sonnten sich wie in
-den Zeiten, als Hans und Suse noch hier waren.</p>
-
-<p>Und die alte Tanne, die dort hinten in der Ecke stand, rauschte noch
-immer so geheimnisvoll wie früher, als das kleine Mädchen zu ihrem
-Bruder gesagt hatte: „Hörst du, Hans, jetzt kommt der Wind. Jetzt fängt
-die Tanne leise zu singen an. Und der Wind erzählt ihr was. Ein feines
-Lied. Das hat die Mutter gesagt. Hörst du, summ, summ...“</p>
-
-<hr class="r10" />
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of Project Gutenberg's Hans und Suse in der Stadt, by Trude Bruns
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT ***
-
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diff --git a/old/60878-h/images/p002_serie.jpg b/old/60878-h/images/p002_serie.jpg
deleted file mode 100644
index be3cebb..0000000
--- a/old/60878-h/images/p002_serie.jpg
+++ /dev/null
Binary files differ
diff --git a/old/60878-h/images/p003_titel.jpg b/old/60878-h/images/p003_titel.jpg
deleted file mode 100644
index 1239264..0000000
--- a/old/60878-h/images/p003_titel.jpg
+++ /dev/null
Binary files differ
diff --git a/old/60878-h/images/p039.jpg b/old/60878-h/images/p039.jpg
deleted file mode 100644
index 3226c18..0000000
--- a/old/60878-h/images/p039.jpg
+++ /dev/null
Binary files differ
diff --git a/old/60878-h/images/p059.jpg b/old/60878-h/images/p059.jpg
deleted file mode 100644
index 9fa2864..0000000
--- a/old/60878-h/images/p059.jpg
+++ /dev/null
Binary files differ
diff --git a/old/60878-h/images/p093.jpg b/old/60878-h/images/p093.jpg
deleted file mode 100644
index a97d45d..0000000
--- a/old/60878-h/images/p093.jpg
+++ /dev/null
Binary files differ
diff --git a/old/60878-h/images/p125.jpg b/old/60878-h/images/p125.jpg
deleted file mode 100644
index 482937d..0000000
--- a/old/60878-h/images/p125.jpg
+++ /dev/null
Binary files differ