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You may copy it, give it away or -re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included -with this eBook or online at www.gutenberg.org/license - - -Title: Hans und Suse in der Stadt - -Author: Trude Bruns - -Release Date: December 8, 2019 [EBook #60878] - -Language: German - -Character set encoding: UTF-8 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT *** - - - - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -http://www.pgdp.net - - - - - - - #################################################################### - - Anmerkungen zur Transkription - - Der vorliegende Text wurde anhand der 1921 erschienenen Buchausgabe - so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische - Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und - heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber - dem Original unverändert. - - Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersicht halber vom Bearbeiter - eingefügt. - - Eine gesperrte Passage wurde mit +Pluszeichen+ umgeben. - - #################################################################### - - - - - [Illustration] - - - - - Jungmädchen - Bücher - - Herausgeber: - - Ernst Wilmanns - - [Illustration] - - K. Thienemanns Verlag Stuttgart - - 1921 - - - - - Hans und Suse - in der Stadt - - von - - Trude Bruns - - [Illustration] - - K. Thienemanns Verlag Stuttgart - - 1921 - - - - - Buchausstattung nach Entwurf von Fritz Eich, Bielefeld. - Die Bilder zu diesem Bande sind von Ralf Winkler gezeichnet. - Copyright 1921 by K. Thienemanns Verlag in Stuttgart. - Druck von J. F. Steinkopf in Stuttgart. - - - - -Inhalt - - - Erstes Kapitel -- Die gefährliche Stadt 5 - - Zweites Kapitel -- Die Flucht 35 - - Drittes Kapitel -- Das Kamel 69 - - Viertes Kapitel -- Der Missionar 101 - - Fünftes Kapitel -- Christines Reise 116 - - Sechstes Kapitel -- Schluß 136 - - - - -Erstes Kapitel - -Die gefährliche Stadt - - -Es war noch früh am Morgen, gegen ein halb sieben ungefähr, da waren -Hans und Suse, die beiden Doktorskinder, die bei Frau Cimhuber, der -Pfarrwitwe, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, schon wach. Voll -Unruhe hatten sie ihr Lager verlassen, sich angezogen und saßen nun fix -und fertig am Tisch in Susens Zimmer, bereit zur Schule zu gehen. - -Dabei waren es ganze anderthalb Stunden vor Schulanfang. Aber die -beiden hatten nun mal keine Ruh und Rast, seit sie hier in der Stadt -weilten, und ihre Aufregung verriet sich in ihrem ganzen Wesen und -Aussehen. Wie Schatten ihrer selbst sahen sie aus. - -Suse, die kecke, übermütige Suse, die sonst ihren Kopf mit der -fürwitzigen Nase so hoch zu tragen pflegte, hielt ihn trübselig -gesenkt. Und ihr Bruder Hans sah aus seinen großen, dunklen Augen -verängstigt um sich. Die beiden fühlten sich ebenso verlassen und -ausgestoßen hier in dieser fremden Stadt, in der sie gerade einen Tag -verbracht hatten und in der sie doch eine lange Zeit bleiben sollten, -um die höheren Schulen zu besuchen. -- Weit weg, an das andere Ende -der Welt, schien ihnen ihr Elternhaus, das freundliche Arzthäuschen, -gerückt; und dabei war es doch nur eine Tagereise entfernt und lag in -den Bergen, deren Umrisse man an hellen Tagen wie eine feine Linie am -Horizont wahrnehmen konnte. - -„Hans,“ sagte das kleine Mädchen plötzlich, „was meinst du, sind Frau -Cimhuber und Ursel schon wach?“ - -„Ich glaub’, mir ist’s, als hätt’ ich jemand auf Pantoffeln gehen -hören,“ erwiderte der Bruder... „vielleicht war’s Ursel.“ - -Suse nickte. - -Und halb zu Hans gewandt, halb wie im Selbstgespräch fuhr sie fort: -„Gräßlich alt ist Ursel schon. Über sechzig Jahre. Und vierzig Jahre -ist sie schon bei Frau Cimhuber gewesen. Das ist viel länger als unsere -Rosel. Rosel ist gerade neun Jahre bei uns. Das ist einunddreißig Jahre -weniger als Ursel.“ - -„Du Suse,“ fragte Hans mit einem Male, „was hat eigentlich gestern -abend Frau Cimhuber über Ursel gesagt, als sie vor uns auf dem Sofa -gesessen ist und deine Hand gehalten hat und uns so lange angesehen -hat?“ - -„Das weißt du schon nicht mehr!“ rügte Suse, die so gern dem jüngeren -Bruder gegenüber die Überlegene, Belehrende spielte. „Wirklich, das -weißt du nicht mehr? -- Sie hat gesagt: ihr sollt Ursel stets mit -Rücksichtnahme und Respekt begegnen; denn sie ist über vierzig Jahre in -meinem Dienst und ist mir eine getreue Beraterin und bewährte Freundin -gewesen, eine Stütze meines Hauses in Not und Gefahr. Nicht nur in -fröhlichen Zeiten, sondern auch in trüben Zeiten voller Aufopferung und -Liebe und echt christlichen Sinnes. Gehorcht ihr wie mir!“ - -„Aber, Suse, so viel hat sie nicht gesagt,“ fiel Hans ein. - -„Doch, Hans, ganz bestimmt!“ - -Und Suse wiederholte noch einmal: „Nicht nur in fröhlichen Zeiten, -sondern auch in trüben Zeiten, voller Aufopferung und Liebe. Gehorcht -ihr wie mir!“ -- Liebte sie es doch über die Maßen, feierliche Worte -mit schöner Betonung aufzusagen, vor allem Gesangbuchverse oder Stellen -aus Predigten, die sie Sonntags in der Kirche daheim auffing und nicht -immer dem Sinn nach verstand. -- Und mit großer Genugtuung bemerkte -sie bei diesen Gelegenheiten jedesmal, wie Hans, der schwerfälliger -beim Auswendiglernen war als sie, bewundernd zu der begabten Schwester -aufsah. - -Wieder war es nun still in dem Zimmer, bis Hans plötzlich leise fragte: -„Magst du eigentlich Frau Cimhuber gern?“ - -Das kleine Mädchen wurde feuerrot, sah verlegen vor sich hin und -schüttelte dann ihr Haupt. - -Da stieg auch dem Bruder die Verlegenheitsröte in die Wangen, und er -gestand der Schwester, daß er die Pfarrfrau ebensowenig leiden möge. - -„Aber, Hans, wir müssen sie lieb haben,“ rügte da Suse, sich flugs -ihres Amtes als Lehrmeisterin in allen Tugenden dem Bruder gegenüber -entsinnend, „wir müssen sie lieb haben, das haben der Vater und die -Mutter uns ausdrücklich befohlen.“ - -„Wenn ich aber nicht kann,“ meinte Hans gedrückt, „was soll ich da -machen?“ Und als die Schwester schwieg, forschte er halblaut weiter: -„magst du Ursel gern, Suse?“ - -„Ja,“ wollte die Schwester sagen, aber ihr fiel ein, daß dies gelogen -wäre, und so verweigerte sie dem Bruder lieber jede Auskunft. - -Er wartete noch ein Weilchen und fuhr dann mehr flüsternd als redend -fort: „Eine gräßlich große Nase hat Ursel. Gelt? -- Und eine solch’ -dicke Warze mit einem langen Haare drauf.“ - -„Ja, ja,“ fiel Suse mit einem Male lebhaft ein, „ein ganz stacheliges -Haar ist’s. -- Weißt du, Hans, genau so wie die Hexe in dem -Märchenbuch, das uns Tante Anna geschenkt hat.“ - -„Ja, daran hab’ ich auch schon gedacht,“ meinte der Bruder ebenso -lebhaft wie sie. - -„Hans, Hans, jetzt haben wir schon wieder was Schlechtes gesprochen,“ -meinte Suse schuldbewußt. „Immer fangen wir wieder von der Nase an. -Diesmal hast du angefangen. Das dürfen wir doch nicht. Der Vater und -die Mutter haben uns doch befohlen, daß wir nicht von den Fehlern und -Gebrechen anderer Leute reden.“ - -„Aber von großen Nasen haben sie nichts gesagt. Und große Nasen sind -auch nichts Schlimmes. Die von dem Großvater von unserem Pfarrer, -der vorigen Herbst zu Besuch bei ihm war, die war noch viel größer. -Weißt du denn nicht mehr? Weißt du denn nicht mehr, wie viel wir davon -gesprochen haben? Und du hast am meisten davon gesprochen. Und wie hast -du gelacht, als Theobald gesagt hat, seine Nase ist so groß wie die von -einem Nußknacker!“ - -„Da waren wir auch noch viel jünger, Hans.“ - -„Jünger, Suse? Ein halbes Jahr ist’s her.“ - -Hier achtete die Schwester nicht weiter auf des Bruders Reden, sondern -sah mit gespanntem Ausdruck nach der Tür, vor der schlürfende Schritte -und Stimmen zu hören waren. -- Sicher gingen Frau Cimhuber und ihre -Magd vorüber. Ganz still verhielten sich nun die Kinder, bis die -Geräusche draußen verklungen waren, dann stand Hans leise auf, ging auf -den Zehenspitzen zur Türe und spähte über den langen Gang. - -„Du, Suse,“ flüsterte er im nächsten Augenblick zurück, „sie sind jetzt -in der Küche. Ich höre sie. Und hör’ mal, Suse, die Negerstube ist -offen. Komm’ mal, wenn du sie sehen willst.“ - -„Wo, wo? Wirklich, laß’ mich mal sehen,“ rief Suse und war in zwei -Sprüngen an der Seite des Bruders. Ganz aufgeregt sah sie über den Gang -nach Frau Cimhubers Staatsgemach, der „Negerstube“, hin. -- So hatten -die Kinder das Zimmer der Pfarrfrau getauft, weil es die merkwürdigsten -Dinge aus fremden Ländern enthielt: Löwen- und Tigerfelle, ausgestopfte -Affen, Vögel, Waffen und Bilder von Negern, Gefäße aus Holz und Stein -und einen großen Götzen. - -„Dort hinten, guck, dort hinten sitzt der Gott,“ flüsterte Suse, ihren -Bruder am Arm packend. „Dort sitzt er.“ - -Und die beiden sahen wie gebannt auf das seltsamste Stück des ganzen -Raumes, einen schwarz angestrichenen Negergott, der mit seinem -bienenkorbdicken Leib und runden Schädel vergnügt von einer Säule in -der Ecke herüber grinste. - -„Man meint, er lebt,“ flüsterte Suse „Für hundert Tafeln Schokolade -möchte ich ihn nicht anfassen. Und du, Hans?“ - -In diesem Augenblicke hörten die beiden wieder Schritte und flohen in -ihr Zimmer zurück. Irgend jemand kam -- Ursel oder die Pfarrfrau. - -Gleich darauf wurde die Klinke ihrer Tür niedergedrückt, und Frau -Cimhuber stand auf der Schwelle. - -Sie war gekommen, die Kinder zu wecken. - -Langsamen Schrittes wich sie zurück, als sie der beiden ansichtig wurde. - -„Aber Kinder,“ sagte sie dann vorwurfsvoll, „ihr solltet ja noch -schlafen! Ich wollte euch jetzt erst wecken. Was soll das heißen?“ - -„Wir sind schon aufgewacht, und dann sind wir aufgestanden,“ stotterte -Suse, „entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, wir sind schon aufgestanden.“ - -Dann schluckte das Kind dreimal trocken runter vor Schrecken und -fuhr noch verwirrter als bislang fort: „Entschuldigen Sie, wir haben -gemeint, Sie haben keine Kinder. Und da verschlafen Sie, weil Sie keine -Kinder haben, haben wir gemeint. Und da hat auch Hans gesagt, es ist -der Frau Cimhuber sicher sehr angenehm, wenn wir aufstehen. Und da sind -wir aufgestanden.“ - -Der Bruder, der daneben stand, biß sich auf die Lippen, aus Beschämung -über all das krause Zeug, das seine Schwester daherredete. - -Frau Cimhuber aber schüttelte ihren Kopf und sagte: „Aber Kinder, ich -habe euch gestern abend doch ausdrücklich gesagt, ihr sollt liegen -bleiben, bis wir euch wecken. Ich habe es zweimal gesagt. Ihr müßt euch -besser an das Gehorchen gewöhnen.“ - -Die Kinder fuhren zusammen und sahen sich erschrocken an. Sie aber -merkte nichts davon und fuhr mit vorwurfsvoller Stimme fort: „Vor einer -halben Stunde ist der Kaffee überhaupt nicht fertig. Wir trinken immer -erst zehn Minuten vor ein halb acht Uhr Kaffee. So lange müßt ihr euch -gedulden.“ - -Und nach diesen Worten ging sie wiederum zur Türe hinaus. - -„Jetzt ist sie böse auf uns,“ sagte Suse, als sie gegangen war, und -Hans nickte. - -„Wenn sie uns aber den Kaffee zu spät gibt?“ sagte er schließlich. „Was -dann?“ - -„Dann laufen wir ohne Kaffee fort!“ erklärte Suse. Inzwischen war Frau -Cimhuber wieder langsam zur Küche zurückgegangen, um mit Ursel, ihrer -alten Magd und Vertrauten, über die Kinder zu reden. Vor der Tür von -Ursels Reich stieß sie einen schmerzlichen Seufzer aus, den die alte -Magd sicher gehört hätte, wenn sie nicht gerade dabei gewesen wäre, der -alten abgeleierten Kaffeemühle einen Klaps zu geben, damit die paar -letzten Bohnen, die widerspenstig über dem Mahlwerk herumhüpften, den -schon zerriebenen nachpolterten. - -Gleich darauf trat nun die Pfarrfrau dicht vor Ursel, und diese mußte -aufsehen. Und in dem Augenblick, in dem sie ihr Haupt hob, konnte -man den Schrecken verstehen, den ihr Anblick den Kindern einflößte. -Von ihrem dichtvermummten Haupt waren nur eine lange Nase und ein -entrüstetes Auge zu sehen, denn alles andere war durch Wolltücher -verhüllt, deren Wärme der alten Magd heftige Zahnschmerzen vertreiben -sollte. - -„Ursel, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber, indem sie ihre gefalteten Hände -auf ihre schwarze Schürze sinken ließ. „Die Kinder sind schon wach. Sie -sitzen schon angezogen in der Stube.“ - -„Was, schon wach?“ fragte Ursel fast triumphierend, „da haben wir’s! -Das hab’ ich ja gleich gesagt. Die beiden bringen alles zuwege. -Merkwürdige Kinder sind’s. Solche Kinder hab’ ich hier herum noch gar -nicht gesehen. Sehen Sie einmal den Buben an, wie dem die Augen im Kopf -herumfahren. Und das Mädchen, das geht ja auf der Straße gar nicht wie -andere Leute. Die ist gestern mitten im Weg stehen geblieben und hat -die Leute angesehen wie Meerwunder. Und wie ich sie gefragt habe, was -sie denn sieht, hat sie gestottert und keine Antwort gegeben. -- Die -rechten Hinterwäldler. Eine Elektrische haben sie hier zum erstenmal -gesehen, ein Auto ist ihnen auch was ganz Neues. -- Nur einmal haben -sie zwei ganz weit weg im Tal gesehen, hat der Bub gesagt. -- Und -denken Sie sich an, Frau Pfarrer, gestern fährt da ein Auto an uns -vorbei, da fällt das Mädchen gleich auf mich drauf vor Schrecken und -jammert: ‚Oh, wie hat der Wagen geschrien, wie eine Kuh! haben Sie -nicht gehört, Ursel?‘ Ich habe noch blaue Flecke am Arm. Wie ein Krebs -ist’s an mir gehängt.“ - -„Ja, Ursel, wir müssen Geduld haben,“ fiel Frau Cimhuber ein, „wir -müssen Geduld haben. Bedenken Sie doch, die Kinder waren noch nie -aus ihrem Gebirgsdorf fort und nun kommen sie zum erstenmal hierher. -Recht ist es ja nicht von den Eltern gewesen, daß sie noch nie vorher -eine Reise mit ihnen gemacht haben. Eine kleine Reise hätten sie -wohl schon machen können. Jetzt ist’s zu spät. Jetzt ist ihnen alles -fremd, und alles verwirrt sie. Und dann... und dann... das muß ich ja -selbst zugeben, ein bißchen unerzogen sind sie, auch ein klein wenig -verwildert. Das sind solche Landkinder immer. Jetzt müssen wir sie eben -zu Gehorsam und Pünktlichkeit erziehen, und alles andere wird sich -finden.“ - -„Gewiß, Frau Pfarrer, aber wir werden uns noch verwundern,“ meinte -Ursel. „Ich hab’ ja immer gesagt, lassen Sie es sein, nehmen Sie keine -Kinder, wir sind zu alt dazu.“ - -„Ja, aber Edwin wollte es doch. Sie wissen es doch auch, Ursel. Er -hat immer gesagt: nimm dir ein paar Kinder ins Haus, Mutter, damit du -Zerstreuung hast und nicht auf traurige Gedanken kommst. Mit Kindern -bleibt man jung. Erst in seinem letzten Brief hat er mir wieder davon -geschrieben. Und wie da bei mir angefragt wurde, ob ich die beiden -Kinder von dem Doktor aus Schwarzenbrunn nehmen wollte, da hab’ ich ja -gesagt. Denn es ist mir vorgekommen wie ein Wink des Himmels.“ - -„Na, wir wollen sehen, wie noch alles wird,“ meinte Ursel. „An viel -Gutes glaub’ ich nicht.“ - -Inzwischen warteten die Kinder sehnsüchtig auf den Kaffee, und als er -nach einer halben Stunde immer noch nicht da war, konnten sie ihre -Unruhe nicht mehr bemeistern. Suse schnallte ihren Ranzen auf, ging -unruhig im Zimmer hin und her und blieb schließlich an der Tür stehen, -die Klinke in der Hand. - -„Sie rufen immer noch nicht, Hans,“ meinte sie ungeduldig. „Sie rufen -immer noch nicht. -- Weißt du was, wir laufen ohne Kaffee fort.“ - -„Das dürfen wir nicht, da wird Frau Cimhuber böse,“ entgegnete er. - -„Aber wir kommen ja zu spät,“ sagte sie, hin und her trippelnd, „wir -kommen zu spät. Und wir dürfen doch nicht zu spät kommen, Hans; ich -will nicht zu spät kommen. Ich traue mich sowieso schon nicht in die -Schule. Dann traue ich mich erst recht nicht. Lieber will ich keinen -Kaffee.“ - -„Hopp, wir gehen,“ ermunterte das kleine Mädchen den Bruder, öffnete -im selben Augenblick die Tür und eilte auf den Vorplatz. Gerade wollte -sie mit dem Bruder in das Treppenhaus huschen und ein Stückchen von -seinem Ranzen schwebte noch um die Ecke, da schaute Ursel verwundert -zur Küche hinaus und hörte auf den Lärm. Mit einem Sprung war sie auf -dem Vorplatz und von dort auf der Treppe, holte die beiden Flüchtlinge -ein und führte sie in die Wohnung zurück. - -„Nicht übel, nicht übel,“ sagte sie. „Wenn ich’s mir nicht gedacht -hätte! Wollt ihr schon durchbrennen? Jetzt mal hier herein ins Eßzimmer -und trinkt euern Kaffee.“ - -Und gleich darauf saßen die beiden mit erhitzten Gesichtern der -Pfarrfrau gegenüber am Kaffeetisch und sahen, wie ihre Pflegemutter -traurig den Kopf schüttelte, wobei sich die Perlenschnüre ihres -Häubchens verwirrten und sie mit anklagender Stimme sagte: „Ihr müßt -euch mehr an das Gehorchen gewöhnen. Ihr wißt doch, daß wir euer -Bestes, euer Allerbestes wollen.“ - -„Ja, das haben Vater und Mutter auch gesagt, daß Sie so gut zu uns -sind,“ stotterte Suse, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Aber -wir haben so Angst, daß wir zu spät zur Schule kommen. Wir möchten -lieber keinen Kaffee.“ - -„Wir sorgen dafür, daß ihr nicht zu spät kommt,“ sagte die Pfarrfrau. -„Ich habe es schon einmal gesagt, ihr müßt Vertrauen zu uns haben. -Ursel und ich wollen euer Allerbestes.“ - -Die Kinder aßen und tranken verschüchtert und ängstlich, fast mit -Widerstreben und waren froh, als sie endlich aufstehen und sich -entfernen durften. - -In großer Eile liefen sie die Treppe hinunter auf die Straße. Jetzt -waren sie ja frei. Frau Cimhubers Haus gegenüber führte eine Brücke -über den Kanal, und dort hinüber ging ihr Weg. Gerade als sie die -Brücke überschritten, kam ein mit Steinen beladenes Schiff daher. -Düster aussehende Männer, die an die Holzhauer in der Doktorskinder -Heimatsort erinnerten, standen auf dem Kahn und stießen ihn mit langen -Stangen vorwärts. Langsam zog er unter der Brücke durch, dumpf hallten -die Stimmen der Männer herauf, und langsam kam er auf der andern Seite -wieder zum Vorschein. - -Eine Weile folgten ihm die Kinder mit ihren Blicken, dann gingen sie -weiter. Und während sie so dahinschlenderten, fiel Suse mit einemmal -eine Reihe hoher, freischwebender Buchstaben ins Auge, die auf dem -Dachfirst eines Hauses jenseits des Kanals standen. Sie machte ihren -Bruder darauf aufmerksam. - -„Hans, dort oben, guck, dort,“ rief sie, „war es nicht dort, wo gestern -die hellen Buchstaben herumgehüpft sind, als die Lichter angezündet -wurden und wir aus dem Fenster gesehen haben? Weißt du nicht mehr? -Herrlich war das, gelt, wie immer einer hinter dem andern hergesprungen -ist. Und wupp, waren sie alle miteinander weg und ausgelöscht. Und -dann kamen sie wieder und sind wieder hintereinander hergesprungen. -Das ist das Allerschönste hier. Am liebsten möchte ich eigentlich, daß -wir auch daheim auf unserem Haus solche große Buchstaben hätten. Das -wäre herrlich. Dann kämen alle Leute des Abends herbei und guckten sich -unser Haus an. Und der Vater und die Mutter und wir ständen am Fenster -und freuten uns über unser schönes Haus. Nicht wahr?“ - -Der Bruder nickte, hatte aber wenig acht auf der Schwester Rede, -sondern mehr auf den Weg; denn er hatte die Führung übernommen und Suse -versprochen, sie an ihrer Schule abzuliefern. - -So war es ja immer. In gewöhnlichen Zeiten leitete die Schwester den -Bruder gern, aber in schweren Tagen, wenn Not an den Mann trat, war er -der leicht eingeschüchterten Suse treuster Führer. Wie ein geschickter -Steuermann führte er sie jetzt, mit den Augen scharf nach allen Seiten -spähend, und sie benutzte die Zeit derweil, um ihren Gefühlen in den -merkwürdigsten Stoßseufzern Luft zu machen. - -„Ach, ich möcht’, ich wäre schon in der Schule,“ sagte sie einmal. Dann -wieder: „Ach, ich möcht’, ich wäre schon wieder aus der Schule heraus. --- Ach, ich möcht’, ich wäre bei den Eltern..., ach, ich möchte, Frau -Cimhuber wäre nicht so alt und Ursel sähe nicht so böse aus.“ - -Und plötzlich packte sie den erschreckten Bruder am Arm und raunte ihm -zu: „Jetzt, Hans, jetzt paß auf, jetzt darfst du nicht auf die rechte -Seite gucken. Da kommt das Haus, von dem ich dir gesagt habe, vor dem -die toten Rehe auf der Straße liegen. Und alle haben sie ihre Köpfe -herumgedreht, und ihre Hälse sind wie gebrochen. Und blutig sind sie, -lauter Blut ist um sie herum, große Blutlachen schwimmen um sie herum. - -Mir ist’s ganz schlecht geworden. Und du glaubst gar nicht, wie traurig -sie mich angesehen haben. Und Hasen hängen dort, sicher hundert, an den -Beinen.“ - -„Wo hängen die Hasen an den Beinen?“ fragte Hans aufgeregt. - -„Guck nicht hin, Hans,“ wehrte Suse, „ich bitte dich, guck nicht hin, -Hans!“ Und dann flüsterte sie ihm mit erschrecktem Gesichte zu: „Ein -Mörder wohnt dort, ganz gewiß, Hans. Ich habe darüber nachgedacht, es -ist ein Mörder.“ - -Es stimmte. Suse hatte gestern darüber nachgesonnen und dank ihrer -lebhaften Phantasie eine wahre Schauergeschichte zusammengestellt, -wonach ein Zauberer viel hundert Prinzessinnen in Rehe verwandelt und -getötet hatte, weil sie ihm nicht gehorcht hatten. - -Um den Bruder nun möglichst schnell aus dem Bereich des gefährlichen -Zauberers zu bringen, packte sie Hans am Arm und zog ihn mit sich. Er -aber widersetzte sich und fragte hastiger als vorher: „Wo sind die Rehe -und Hasen, die an den Beinen hängen, Suse; wo hast du sie gesehen? Ich -möchte sie auch sehen.“ - -„Nein, nein,“ wehrte sie. - -Es währte aber nicht lange, so entdeckte er selbst die Tiere, die vor -einem Verkaufsladen am Wege lagen, und blieb davor stehen. - -„Brr, blutig,“ sagte er und begann dann von einem Firmenschild über dem -Eingang die Inschrift abzulesen: Wildbret- und Geflügelhändler Moormann. - -„Der verkauft die Rehe,“ erklärte er seiner Schwester. - -„Nein, das tut er nicht,“ widersprach sie, packte ihn fester am Ärmel -und bat: „Lieber, lieber Hans, komm doch mit. Du sollst hier nicht -stehen bleiben und dir das gräßliche Blut ansehen und alles ablesen. -Wir müssen uns ja schämen.“ - -„Warum müssen wir uns schämen?“ fragte er verwundert. „Und warum soll -ich nicht alles ablesen? Der Vater und die Mutter haben doch selbst -gesagt, wir sollen auf alles aufpassen!“ - -Die beiden maßen sich mit feindlichen Blicken. Und es wäre zwischen -ihnen sicher zum Streit gekommen, wenn sie nicht daran gedacht hätten, -daß sie in dieser gefährlichen Zeit ja treu zueinander halten müßten. - -Drum folgte der Bruder der Schwester willig. - -„Der halbe Weg ist jetzt um,“ sagte Suse mit einem Seufzer. „Aber das -Allerärgste kommt noch. Jetzt müssen wir noch über den großen Platz -’rüber. -- Wenn wir über den ’rüber sind, dann ist alles gut!“ - -„Warum fürchtest du dich?“ fragte Hans. „Der ist doch nicht schlimm!“ - -„Nicht schlimm, Hans? Am aller-, allerschlimmsten in der ganzen Stadt! -Denke doch, da fahren die Elektrischen und die Wagen und die Radfahrer -und die Autos, das sind die allergräßlichsten Dinger, die es gibt. -- -Hans, hab’ ich dir denn schon gesagt, daß ich gestern mit Ursel eins -gesehen habe, das hat gebrüllt wie eine wilde Kuh.“ - -„Was hat’s gemacht?“ fragte Hans und blieb wie angewurzelt stehen. „Was -hast du gesagt, wie eine wilde Kuh hat’s gebrüllt? So was hab’ ich aber -doch noch nicht gehört. Ein Automobil brüllt doch nicht, es tutet. Die -Kühe brüllen und die Automobile tuten.“ - -„Nein, Hans, es gibt Autos, die brüllen wie Kühe, so wahr und gewiß, -wie ich hier stehe. Sie fangen ganz leise an, und dann schreien sie -laut auf, daß du meinst, die Ohren wackeln dir, und dann weinen sie -leise wie der Michel, wenn er an die Kette gelegt wird, und dann sind -sie ganz still.“ - -„Das möcht ich aber gern mal hören,“ sagte Hans begeistert. „Wann hast -du das gehört? Wo hast du das gehört?“ - -„Nein, Hans, wünsch’ dir das nicht; dann muß ich so laut an zu weinen -fangen, wie du noch niemals von mir gehört hast. Da sollst du mal -sehen!“ - -Hans ging in Gedanken weiter und achtete lange nicht seines Weges, -bis er mit einem Male einen Knaben mit einem Ranzen anrannte und sich -erinnerte, daß ihre Zeit knapper wurde. - -Auch Suse fuhr aus Träumen auf. Denn ihre Gedanken waren weit -ab gewandert, der fernen Heimat zu, und sie hatte den Schulweg -ihres Dörfleins verlockend vor sich liegen sehen. Dort war sie -stets in größter Seelenruhe und im gemütlichen Schritt die Straße -hinuntergeschlendert und hatte im Übermut auch wohl mal die Augen -geschlossen gehalten, wenn es ihr gerade beliebt hatte. Was konnte ihr -dort auch Gefährliches in den Weg kommen! Ein Hühnchen, ein Hund, eine -Katze vielleicht; was lag denn dran? Stolperte sie auch drüber und fiel -auf die Nase, so bedeutete das doch kein Unglück. - -Aber hier! - -Suse schaute sich erschreckt um. Sie waren ja schon in der Straße -angekommen, die auf den gefährlichen Platz führte. -- Gewiß, dort zur -rechten Seite nah’ ihrer Mündung auf den Platz, lag das Schilderhaus, -an dem sie gestern mit Ursel vorübergegangen war, und das sie sich -gemerkt hatte, weil dort ein gefährlich aussehender, brummiger, -grimmiger Soldat gestanden war. - -„Dort hinten steht der Soldat!“ flüsterte sie jetzt ihrem Bruder zu. -„Dort möchte ich nicht gern vorbei, Hans. Denn er hat mich gestern so -zornig angesehen, als ich vorbeiging, als wollte er mich erschießen.“ - -„Das meinst du nur so,“ beruhigte Hans. „Er schießt nicht. Er tut -keinem Menschen etwas. Der steht Wache. Komm nur mit und guck ihn dir -ruhig an.“ - -Langsam und zögernd setzte das kleine Mädchen einen Fuß vor den andern. - -Noch einige Schritte fehlten, dann mußten sie bei der Wache sein -- da -sah sie ihr entgegen auf demselben Bürgersteig einen Offizier kommen. -Sein Säbel rasselte hinter ihm her. - -Und nun horchte Suse plötzlich erschreckt auf und blieb wie angewurzelt -stehen. Hinter sich hatte sie einen Ton vernommen, der ihr Blut -erstarren ließ. -- Ach, sich umzusehen hätte sie nicht gewagt, um alle -Schätze der Welt nicht. -- Ein Huschen, Sausen und Gleiten war zu -hören -- und sie wußte jetzt, jetzt kam’s hinter ihr her, ihr Feind, -das Automobil. Eines von den Ungeheuern, die wie auf Filzpantoffeln -heranglitten, einen mit ihren Augen, groß wie Messingkübel, frech -anstarrten und dann aufschrien wie wilde Kühe. - -Das kleine Mädchen zitterte und bebte am ganzen Körper und zog den Kopf -aus Schrecken über den ersten fürchterlichen Ton, der kommen müsse, -leicht zwischen die Schultern. - -Und jetzt war sie mit Hans bei dem Soldaten angelangt, und auch der -Offizier war ganz nahe. - -Da -- hui -- flog das Automobil daher und mitten vor dem Schilderhaus -gellte und schrie es laut auf, als wollte es zerspringen. Schauerlich -war’s. - -Da sprang der Soldat vor sein Schilderhaus, scharrte mit den Füßen, riß -sein Gewehr von der Schulter und streckte es dem Offizier hin. - -Und in demselben Augenblick erklang in dem Automobil ein Krachen, als -wolle es in hundert Stücke zerbersten. - -Da schrie Suse laut um Hilfe, ließ ihre Butterbrotbüchse fallen und -stürmte in verkehrter Richtung davon. - -„Ach, Mutter,“ jammerte sie, „ach, Mutter.“ - -Sie hatte bestimmt gesehen, wie der Offizier, der Soldat und das -Automobil aufeinander drauf geflogen waren und geborsten waren. - -Sie hatte ganz und gar den Kopf verloren, die arme Suse. - -„Suse,“ rief der Bruder und eilte so schnell er konnte, hinter ihr her. -„Bleib doch stehen, wart doch!“ - -In einer entlegenen Straße holte er sie endlich ein. - -„Sie sind alle tot,“ rief sie ihm zu, „gelt, und das Schilderhaus ist -auch kaput?“ - -„Nein, sie sind alle lebendig,“ rief er. - -„Ach, wär’ ich doch daheim, ach, wär’ ich doch daheim,“ jammerte Suse -da. - -Hans war kreidebleich. Der Schrecken über Suses Flucht und der -Spektakel am Schilderhaus hatten ihm auch etwas die Fassung geraubt. -Und nun sagte er sich, daß sie sich verlaufen hätten und wohl zu spät -zur Schule kämen. - -Wie die beiden noch so rat- und hilflos dastanden, nahte mit einem Male -ein Retter. - -Ein Knabe kam des Wegs, der die beiden Dorfkinder schon aus der Ferne -musterte. - -Unter seinem Arm schleppte er ein Paket Bücher, die Nase mit den -Sommersprossen trug er keck in der Luft, die Mütze hatte er tief in die -Stirn gezogen, und seine blitzenden blauen Augen richteten sich dreist -jedem Vorübergehenden in das Gesicht. - -„Servus,“ rief er plötzlich, daß es über die Straße schallte, „da -schlag doch einer lang hin! Seh’ ich recht?“ - -Hans und Suse horchten auf, folgten der Richtung des Rufes, erkannten -den Rufer und jubelten laut: „Theobald, Theobald!“ - -Ja, er war’s! Theobald, einer ihrer zahlreichen Vettern. Die Krone -ihrer Vettern sozusagen. - -Dieser Knabe hatte sie nämlich schon einige Male mit seinen Besuchen -in ihrem einsamen Gebirgsdorfe beehrt und auch seine letzten Ferien -dort verbracht. Damals war zwar viel öfters als sonst in der Hand ihres -Vaters, des Doktors, eine geschmeidige Haselgerte zu sehen gewesen, die -dann auf Theobalds Rücken lustige Tänze ausgeführt hatte. - -Aber schöne Zeiten waren’s doch gewesen. - -„Na, seh’ ich recht, das seid ihr,“ rief er noch einmal. „Ihr seht gut -aus. Was ist denn los mit euch? Der Hans schaut aus wie der schönste -Rahmkäse, und die Suse weint Tränen, als hätte sie eine Schüssel mit -gehackten Zwiebeln zum Frühstück bekommen. - -Was tut ihr eigentlich hier in dieser Straße, die euch gar nichts -angeht? Hat eure Pflegedame euch schon vor die Türe gesetzt? Seid ihr -eurer Cimhuberin schon ausgekniffen?“ - -„Frau Cimhuber heißt’s,“ verbesserte Suse. - -„Wir haben uns verlaufen,“ erklärte Hans. - -„Und deshalb dies Lamento und die verheulten Gesichter?“ meinte der -Vetter wegwerfend. „Ihr gehört wirklich noch ins Wickelkissen! Heftet -euch von nun an an meine Fersen! Ich werde euch sicher führen.“ - -Suse zog ihr Taschentuch hervor, trocknete ihre Tränen und sah -zuversichtlich auf Theobald, der ihr sicher und großartig vorkam, wie -die feinen Stadtherren, die sich nicht fürchteten, und wenn ihnen die -Automobile wie ein Rudel Wölfe hinterher kamen. - -„Hört, meine Kleinen,“ fuhr der Vetter mit wichtiger Miene fort. „Erst -bringen wir den geknickten Lilienstengel, die Suse in ihre Schule, dann -gehen Hans und ich weiter und schreiten stolz erhabenen Hauptes durch -die Pforten unseres Pennals...“ - -Hier unterbrach der Vetter seine eigene Rede, runzelte die Brauen -und betrachtete in Nachdenken versunken die Haltestelle der Trambahn -jenseits der Straße. - -„Hm! Hm!“ - -Er hatte einen Gedanken. - -Wenn er jetzt aber seinen Vetter und seine Cousine auf eigene Kosten -zur Schule fahren ließe! Das wäre fein! Da hätte er ja Gelegenheit, -sich wie der herrlichste Millionär diesen Dorfkindlein gegenüber -aufzuspielen, so recht von oben herab wohltätig. Vorgestern waren -die beiden Hinterwäldler ja zum ersten Male in ihrem Leben in einer -Eisenbahn gefahren und gestern in einer Elektrischen. - -Und da hatte seine Cousine voll Begeisterung zu ihm gesagt, man -meine, man fahre mit der Elektrischen in den Himmel hinein. Eine -solche Himmelfahrt konnte man ihnen ja leicht verschaffen. Noch einen -Augenblick überlegte der Vetter, dann faßte er in seine Westentasche, -zog drei Zehnpfennigstücke hervor und sagte: „Hört, unsere Zeit ist -knapp. Wir fahren jetzt zur Schule. Ich stifte euch die Fahrscheine.“ - -In den Augen der Kinder leuchtete es hell auf, ein Umstand, den -Theobald mit Befriedigung wahrnahm. - -„Die nächste Elektrische, die kommt,“ belehrte er sie, „müssen wir -nehmen! Verstanden? Und zwar im Sturm. Sonst kommen wir zu spät. -Verstanden? Ihr habt also keine Zeit, die sämtlichen Reklameschilder -und Aufschriften daran zu studieren, bevor ihr einsteigt. Merkt’s -euch! Und dann laßt euch nicht etwa einfallen, andere Leute vor euch -einsteigen zu lassen und um sie herum zu scharwenzeln und zu sagen: -bitte, bitte, gehen Sie zuerst hinein und treten Sie uns ruhig auf die -Hühneraugen; das ist uns eine ganz besondere Freude. -- Nein, sobald -ihr den Wagen seht, rennt ihr drauf los wie die Wilden, schiebt alle -Leute zur Seite und schreit: Verzeihung, Verzeihung, und klettert auf -die Plattform wie die Affen.“ - -„Sie kommt,“ rief Theobald, „jetzt drauf los.“ - -Und er stürmte vor ihnen her wie ein Held zur Schlacht. „Verzeihung, -Verzeihung,“ schrie er und drängte die Leute zur Seite. - -„Verzeihung,“ rief Hans hinter ihm. - -„Verzeihung,“ sagte Suse kleinlaut. - -Und den Kopf ein wenig geneigt eilte sie vorwärts, sich an Hansens -Ranzen festhaltend. - -Theobald schob eine Frau zur Seite, einen alten Herrn, ein Kind. -- -Jetzt hatte er den Griff der Elektrischen gefaßt und schwang sich -hinauf. Da stauten sich die Menschen. Hans und Suse konnten ihren -Vetter nicht mehr sehen. Auf der Plattform aber entstand jetzt ein -fürchterliches Gedränge, ein Schieben und Stoßen, ein Reißen und -Wühlen. Und eine zornige Stimme übertönte alle: „Wer schreit mir da -fortwährend Verzeihung in die Ohren? Wart’ einmal!“ - -Und im nächsten Augenblick sahen Hans und Suse, wie ein Mann ihren -Vetter, das feine Stadtherrlein Theobald, am Kragen gepackt hielt und -heftig hin und her schüttelte, als wär’s eine Pflanze, deren Erdreich -gelockert werden müsse. Und mit einem Schwung wollte er ihn auf die -Straße setzen. Aber da wandte Theobald sich um, hielt sich an dem Herrn -fest und nahm ihn gleich zwei Stufen die Elektrische mit hinunter. Ums -Haar wären beide am Boden gelegen. - -Da klingelte die Elektrische und fuhr davon. Im letzten Augenblick -konnte der Herr noch aufspringen. - -Theobald aber, der seinen Hut verloren hatte, mußte diesen erst mal -suchen. In der Mitte der Straße erblickte ihn da sein Vetter Hans, hob -ihn auf und übergab ihn dem Raufbold Theobald, indem er vor peinlicher -Verlegenheit über und über rot wurde, denn Theobalds rechte Wange -glühte wie ein Rosenbusch, und fünf schneeweiße Finger kamen allmählich -darauf zum Vorschein. - -Der kaltblütige Theobald aber hatte sich schnell wieder gefaßt und -murmelte entrüstet: „Feige Gesellschaft! Sobald einer nur etwas forsch -auftritt, bekommen sie alle gleich Angst für ihr Leben. Ich hätte nur -meine rechte Hand frei haben sollen, da hätten mich keine zehn Pferde -da oben runter gebracht.“ - -Und diese Worte brachten flugs der Doktorskinder Bewunderung für den -herrlichen Vetter wieder zum Blühen. Erwartungsvoll sahen sie jetzt zu -ihm auf und beobachteten, wie er mit gerunzelten Brauen seine silberne -Uhr aus der Tasche zog und wichtig drauf nieder sah. - -„Jetzt aber vorwärts,“ rief er mit scharfer Stimme. „Noch fünf Minuten, -dann beginnt die Schule.“ - -Im nächsten Augenblick flogen die Kinder dahin wie die Windspiele. Vor -der Tür von Susens Schule ließen die Knaben das kleine Mädchen zurück. - -„Ich hol dich ab, Suse,“ waren des Bruders letzte Worte; dann war er -fort. Suse war allein. - -Sie ging zögernden Schrittes durch ein großes, eisernes Gittertor in -den Hof, der vor ihr lag, und von dort in das hohe rote Schulgebäude, -über dessen Eingang in großen schwarzen Buchstaben: höhere -Mädchenschule zu lesen war. - -Im ersten Stock befand sich ihre Klasse. Sie hatte es gestern erfahren, -als sie zur Aufnahme in die Schule geprüft wurde, und ging nun dorthin. - -Lautes Sprechen, Lachen und Lärmen drang aus dem Innern der Schulstube -heraus und verkündete ihr, daß ihre Mitschülerinnen wohl schon -vollzählig versammelt seien. - -Das Herz klopfte ihr. Langsam nahm sie ihren Hut und ihre Jacke ab und -hängte sie an einem Hakenbrett im Gange auf. Ängstlich schielte sie -nach der Klassentüre. -- Eine Weile zögerte sie noch; dann faßte sie -mit schnellem Entschluß den Griff der Tür, drückte ihn nieder und trat -ein. - -Totenstille empfing sie. Wie auf einen Schlag waren Lachen und Lärmen -verstummt, und die Augen sämtlicher kleinen Mädchen richteten sich auf -Suse. Sie glaubte in den Boden sinken zu müssen vor Verwirrung, und -ihre Füße waren schwer wie Blei. Endlich konnte sie sich wieder regen -und ging nun langsam vorwärts, der letzten Bank zu, in der sie einen -freien Platz entdeckt hatte. Leise sagte sie zu den kleinen Mädchen an -ihrer Seite guten Tag, erhielt aber keine Antwort, da ihr Gruß nicht -gehört worden war. Und nun begann auch plötzlich wieder das Kichern, -das Lärmen und Reden und verstummte erst, als es punkt acht Uhr war und -die Lehrerin eintrat. - -An dem Pult ganz vorne nahm sie Platz. Das kleine Mädchen hob -schüchtern seine Augen, konnte aber nur ein Stückchen ihres rechten -Ohres erkennen; alles übrige war durch zwei kleine vor Suse sitzende -Mädchen verdeckt, die ihre Köpfe zusammensteckten. - -Und dann hörte sie mit einem Male die laute, tiefe Stimme der Lehrerin, -die jedes Wort deutlich und scharf aussprach. Aber den Sinn ihrer Rede -vermochte sie nicht zu verstehen; denn alles um sie her verwirrte sie -noch zu viel, als daß sie einen klaren Gedanken hätte fassen können. -- -Wie fremd, wie kalt war doch alles hier, kein bißchen gemütlich, wie -daheim. Daheim, da war es viel tausendmal schöner -- da kannte Suse -jedes Kind, und den Lehrer gar! Den kannte sie seit dem ersten Tag, -da sie zur Schule gegangen war. -- Dort gab es ja nur einen einzigen -Lehrer, der kam jeden Morgen behaglich in die Schule geschlendert und -brachte einen großen Kaffeetopf mit, aus dem er trank, wenn es ihm -gerade paßte. Und vor Beginn des Unterrichts pflegte er sich jedesmal -dreimal feierlich in ein rot kariertes Taschentuch zu schneuzen, die -Kinder über die Brille zu mustern und dann zu beten. - -Manchmal freilich konnte er auch böse werden, der gute Mann; dann, -wenn die Kinder zu viel Unfug trieben und ihn reizten. Dann sprang er -plötzlich wie der Blitz mit seinem Stöckchen von dem Pult herunter, -packte die Bösewichter und bestrafte sie hart. Unter den ertappten -Sündern war zuweilen auch Hans; denn er steckte voll Übermut. So hatte -er die üble Angewohnheit, sich beim Melden der Länge nach über die Bank -zu werfen, und beide Hände mit den ausgestreckten Zeigefingern dem -vor ihm sitzenden Knaben auf die abstehenden Ohren zu legen, wobei es -diesem heiß wurde wie in einem Backofen. - -Dann kam der Lehrer dahergesprungen, fragte, was das für eine Frechheit -sei, befreite den Gefangenen aus seiner üblen Lage und lehrte den -übermütigen Hans ein schönes gesittetes Melden. Ach -- fein und lustig -war das gewesen! - -„Susanna,“ rief da die Lehrerin, „willst du wiederholen, was ich eben -gesagt habe?“ - -Das kleine Mädchen errötete bis in die Haarwurzeln, stand auf, -stotterte, konnte kein Wort herausbringen und wußte überhaupt nicht -mehr, was sie gefragt worden war. Aller Blicke richteten sich auf sie. -Zum Glück machte die Lehrerin ihr ein Zeichen, sich zu setzen, und -beschämt ließ sie sich auf ihren Platz nieder. Nun saß sie noch scheuer -dort als vorher. - -Schließlich klingelte es, und die Pause begann. Die kleinen Mädchen -sprangen in die Höhe und eilten wie erlöst zur Tür hinaus. Suse -folgte ihnen langsam nach. Am liebsten wäre sie hier im Schulzimmer -geblieben; aber das war ja nicht erlaubt! So ging sie denn auch in -den Hof hinunter, stand mutterseelenallein an einem Baum und sah den -Spielen der Kinder zu, die lachten und hüpften und tollten. -- Aber -keines forderte sie auf, doch mitzuspielen. -- Da endlich rief eine -fröhliche Stimme: „Guten Morgen, Suse.“ Und vor ihr stand ein Mädchen -mit roten, frischen Wangen und freundlichen, lachenden Augen. Es war -Toni, Theobalds Schwester, die einige Jahre älter als Suse war. - -„Na, seid ihr gut in die Schule gekommen?“ fragte sie freundlich. -- -„Theobald wollte euch eigentlich heute morgen abholen. Aber er hat die -Zeit verschlafen, das Murmeltier. Weißt du, er hat gesagt, er muß sich -eurer annehmen und euch beschützen, als Dank für die Gastfreundschaft, -die er bei euch genossen hat. Der Hanswurst! Das gehört sich so, hat er -gesagt. -- Ach, Suse, du glaubst gar nicht, wie er sich daheim mit euch -aufspielt. Es ist einfach gräßlich! Er hat gesagt, euer Vater hat euch -ihm ganz besonders ans Herz gelegt, und wenn er nicht ganz genau auf -euch aufpaßte, kämt ihr sicher unter die Räder.“ - -Suse errötete und hütete sich wohl zu sagen, wie nah sie heute morgen -schon an den Rädern gewesen waren, dank des Vetters gütiger Führung. - -„Komm, Suse,“ rief hier ihre kleine Cousine und führte sie hin zu den -Mädchen, die in Susens Klasse gingen. - -„Spielt mit meiner kleinen Cousine,“ rief sie den muntern Dingern zu. - -„Suse ist gar nicht so still, wie sie aussieht. Die ist sogar sehr -lustig, viel lustiger, als ihr alle miteinander. Und rennen kann sie, -famos, tadellos! Mein Bruder Theobald sagt auch, da kann keiner mit.“ - -Hier griff eines der vorüberlaufenden Mädchen nach Tonis Arm und zog -sie in der Hast mit sich fort. - -So war Suse denn wieder allein. Eines und das andere der Mädchen -begannen nun mit ihr zu reden, aber Suse war so schüchtern, daß sie -nur leise ja und nein zu antworten wagte. Auch das Laufen schien sie -verlernt zu haben. Da war es denn ganz gut, daß die Klingel bald -erschallte und die Kinder in die Klasse zurückrief. - -An dem Pult saß jetzt eine ganz andere Lehrerin als vorher. Aber obwohl -sie viel munterer und lebhafter sprach als jene, konnte Suse ihr doch -nicht folgen. Des Doktorkindes Aufmerksamkeit war außerdem von etwas -ganz anderem in Anspruch genommen. Auf dem Pult vor der Lehrerin sah -sie mit einem Male eine große Kugel stehen, die auf einem schwarzen -Stengel steckte. - -Wie war sie dorthin gekommen? Was bedeutete sie? War sie zum Schmuck -da? Liebte die Lehrerin solche Kugeln? - -Diese und andere Fragen quälten Suse. Und plötzlich entsann sie -sich, daheim in des Pfarrers Garten eine ähnliche gesehen zu haben. -Allerdings eine viel größere, leuchtendere, eine gar närrische Kugel. --- Kam man ihr nahe, so warf sie einem das Spiegelbild schrecklich -verzerrt zurück, die Nase zur Kartoffel angeschwollen, die Ohren weit -abstehend, wie bei einer Springmaus. Laut jubelnd hatten Hans und -Suse stets ihren verschandelten Anblick in dem Zauberspiegel begrüßt. -Dann hatte auch ihr Freund, der Michel, ein feiner Jagdhund mit einem -schmalen, vornehmen Kopf, hineinsehen und es dulden müssen, daß sich -sein Kopf in der Zauberkugel zu einem auseinanderfließenden Pudding -wandelte. An dieses lustige Spiel in des Pfarrers Garten mußte Suse -nun immerfort denken und erwachte erst aus ihren Träumereien, als -ein kleines Mädchen aufgerufen wurde, an das Pult trat und mit dem -Finger auf der Kugel herumzeigte. Oh, wie sehr beneidete Suse ihre -Mitschülerin um dies Vergnügen, und wie brannte sie darauf, ihrem -Bruder von dieser aufregenden Sache zu erzählen! Jener hatte ihr ja -versprochen, sie von der Schule abzuholen. Da sollte er gleich mal -Wunderdinge vernehmen. -- - -Nach Schluß des Unterrichts, da stand der Bruder Hans wirklich draußen -vor dem eisernen Gitter des Schulhofs und wartete auf die Schwester. -Als letzte sah er sie aus dem Hofe kommen, ein ganzes Stück hinter den -andern Mädchen her. - -Jetzt erkannte sie ihn, eilte auf ihn zu und sah erstaunt in sein -Gesicht. Denn er sah so froh aus, als wären die Lobsprüche seines -Lehrers nur so dutzendweise auf ihn herabgekommen. - -„Hans, hast du alles verstanden? Hast du viel gelernt, hast du auch -schon viel geantwortet?“ fragte sie ängstlich. - -„Nein“, sagte er da gedehnt, mit ganz langem Gesicht. „Nein, gar -nicht, Suse. Ich habe nichts verstanden, nichts gelernt und nichts -geantwortet!“ - -„Na, das ist nur gut,“ entgegnete sie erleichtert. „Das ist doch -viel besser, als daß der eine was lernt und der andere nichts. -Meinst du nicht auch? Ich glaub’ wirklich, dies ist den Eltern so am -angenehmsten.“ - -Hans zuckte die Achseln und ging mit gerunzelter Stirn schweigend -weiter. So einleuchtend schien ihm der Schwester Bemerkung denn doch -nicht zu sein. - -Aber langsam, wie die Sonne durch Wolken bricht, erschien das Lächeln -wieder auf seinem Gesicht, und er kam endlich mit dem zutage, was ihn -so froh stimmte. - -„Suse, ich weiß jetzt, warum die Autos so brüllen; daran sind die Tuten -schuld, die Trompeten, die Sirenen, die Lärm machen, damit die Leute -aus dem Weg gehen. Hör’, ich weiß jetzt alles, wie es zugeht. Da wird -durch einen Gummiball die Luft hineingedrückt, dann dreht sich eine -Scheibe drin herum mit Löchern, und durch die fährt die Luft wieder -heraus und bläst so fürchterlich.“ - -„Aber Hans, so was glaub’ ich nicht,“ fiel Suse erschreckt ein. „So was -hab’ ich noch nie gehört. Das ist sicher nicht wahr. Das glaubt doch -kein Mensch, daß eine Scheibe herumfährt und so laut bläst, als würde -sie schreien.“ - -„Doch, Theobald hat’s gesagt,“ entgegnete der Bruder ganz beleidigt. - -Er nahm es sehr übel, daß seines Vetters Reden angezweifelt wurden, -stammte seine Weisheit doch von niemand anderem als von dem erfahrenen -Theobald, der ihn in einer Pause zur Seite genommen und über die Wunder -und Merkwürdigkeiten der Stadt aufgeklärt hatte. - -„Ja, Suse, gräßliche Unglücke passieren manchmal mit den Autos,“ fuhr -er hastig fort. - -„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein, „das ist schon möglich.“ - -„Höre, höre,“ fuhr er fort. „Da ist ein Rad, das Steuer. -- Das hat der -Chauffeur in der Hand und lenkt damit den Wagen. Und wenn er ihn nicht -zur rechten Zeit zum Stehen bringt, dann fahren die Autos womöglich -rückwärts den Berg runter und überschlagen sich und werfen alles, was -drin ist, raus, und die Leute brechen sich dabei den Hals.“ - -„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein. „Aber das, was du von den Sirenen -gesagt hast, das glaub’ ich nicht, und wenn ich hundert Jahre alt -werde. Das ist nicht wahr. Das hat uns Theobald nur so aufgebunden. -Glaub’ mir, Hans. Und es ist frech von Theobald, daß er so was zu sagen -traut und uns so belügt.“ - -„Aber nein, Suse, er belügt uns nicht,“ wehrte Hans. „Theobald lügt -uns hier in der Stadt doch nicht an. Nur zu Hause. Und du sollst -selbst sehen, daß alles wahr ist, was er gesagt hat. Hör’ doch, Suse, -das will ich dir ja noch sagen, wir wollen heute nachmittag den Onkel -Gustav besuchen und seine Autos ansehen. -- Der Onkel Gustav, der -wohnt draußen vor der Stadt und hat ein wundervolles Schloß und ist in -fremden Ländern gewesen, wo es Löwen und Tiger und Elefanten gibt, und -seine Frau ist auch von dort. -- Fein, gelt? Und Kinder hat er, schwarz -wie die Neger. Fein, gelt?“ - -„Aber, Hans, da können wir doch nicht hingehen, wenn wir nicht -eingeladen sind,“ meinte die Schwester. - -„Doch, Suse, -- Theobald hat gemeint, es geht schon. Wir wollen ja -nicht zu dem Onkel und zu der Tante und zu ihren albernen Kindern. Wir -wollen ganz einfach zu den Autos gehen und sie uns in einem Schuppen -ansehen...“ - -Unter diesen Gesprächen waren die beiden allmählich vor Frau Cimhubers -Haus angelangt, das schmal und hoch in einer Häuserreihe eingeklemmt -lag. - -Scheu sahen sie zum vierten Stock hinauf. - -„Ich glaub’, Ursel guckt schon,“ sagte Suse halblaut. - -Die beiden sahen sich an, als empfänden sie Furcht, gingen dann ins -Haus, erstiegen schnell die Treppe, legten droben Hut, Jacke und Ranzen -ab und standen einige Minuten später in dem Eßzimmer der Pfarrfrau. - -Bescheiden und schüchtern nahmen sie hier Platz und zeigten wieder -ganz ihr gedrücktes Wesen von heute morgen. Dahin war Hansens stolzes -Siegergefühl, eine Frucht seines Unterrichts bei Theobald, und der -Stolz auf seine Automobilkenntnisse schwand wie Butter an der Sonne -angesichts der forschenden Blicke seiner Pflegemutter, die nicht von -ihm und Suse ließen. - -Und mit einem Male hob sie an: „Na, Kinder, ihr habt doch sicher recht -aufgepaßt in der Schule und allerlei behalten. Denn ihr wollt ja was -lernen hier; dazu seid ihr ja hierhergekommen, nicht wahr? Und dazu -haben eure Eltern euch hierhergeschickt. Und ihr wollt euern Eltern -doch Freude machen. Nicht wahr? Was für Stunden habt ihr heute schon -gehabt, erzählt mal!“ - -Da saßen sie da wie die ertappten Sünder, stießen sich unter dem Tisch -an und wußten nicht, was antworten. - -Hans sah errötend und hilfesuchend nach Suse hin. Aber auch sie -stotterte hin und her und erklärte schließlich, auf dem Pult sei eine -blaue Kugel gestanden, und die Kinder hätten mit dem Finger darauf -herumfahren dürfen. - -„Das ist alles, was du gesehen hast, Kind?“ fragte die Pfarrfrau und -legte vor Überraschung Messer und Gabel hin. „Das ist alles, Suse? Mehr -hast du nicht gesehen, Kind?“ - -Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. - -„Aber, Suse, wo hast du denn die Augen gehabt,“ fuhr ihre Pflegemutter -vorwurfsvoll fort. „Hast du denn nicht aufgepaßt? Weshalb gehst du denn -überhaupt in die Schule, wenn du nicht aufpassen willst. Ihr geht doch -hier in die Schule, um etwas zu lernen.“ - -Suse sah die Pfarrfrau hilflos an; ihre Augen füllten sich mit Tränen; -mit einem Male sagte sie kaum hörbar: „Ich hab’ immer hingehört und -aufpassen wollen, aber da hab’ ich immer an unseren Michel daheim und -den Lehrer denken müssen, und da hab’ ich nicht aufgepaßt.“ - -„Und ich hab’ auch nicht aufgepaßt,“ sagte Hans und saß wie das -verkörperte schlechte Gewissen da. - -Frau Cimhuber schaute lange vorwurfsvoll von einem Kind zum andern und -fuhr dann mit ernster Stimme fort: „Aber ihr müßt aufpassen, Kinder. -Das ist eure Pflicht. Das wünschen eure Eltern. Daran müßt ihr immer -denken; und wenn der Unterricht auch schwer fällt, müßt ihr eben -doppelt aufpassen.“ - -Ursel aber, die bei Tisch bediente, schlug einmal übers anderemal -die Augen zur Decke empor, und nach dem Essen begann sie: „Ich hab’ -grad gemeint, ich hab’ einen Schlag an den Kopf bekommen, wie ich das -Gestammel und Gestotter gehört hab’. -- Auf einer blauen Kugel haben -sie herumfahren dürfen! Ist das nicht fürchterlich? Das hab’ ich doch -jetzt all mein Lebtag noch nicht gehört, daß in der Schule Kugeln sind, -auf denen man herumfährt. Bei den Kindern stimmt’s nicht. Irgendwo -stimmt’s nicht.“ - -Der Pfarrfrau wurde es angst und bange angesichts von Ursels -Aufgeregtheit, und sie sann darüber nach, wie sie die alte Magd -besänftigen könne. Denn es läßt sich nun mal nicht leugnen, daß Ursel -in den langen Jahren, in denen sie bei Frau Cimhuber Magd gewesen war, -sich zur Gewalthaberin im Hause ausgebildet hatte, die oft selbst ihre -eigene Herrin einzuschüchtern verstand. - -„Es hilft nichts, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber jetzt in beruhigendem -Ton, „wir müssen Geduld haben.“ - -„Wenn ich da an unseren Edwin denke,“ fuhr Ursel unbeirrt fort, -„wenn der aus der Schule kam, der wußte immer alles, der saß nie so -verdattert da. Das war eine Freude, den anzusehen, bei dem konnte man -noch was lernen.“ - -„Ja, ja, unser Edwin,“ sagte Frau Cimhuber, und ein glückliches Lächeln -ging über ihr Gesicht, „der machte uns stets nur Freude.“ - -Auch Ursels Gedanken wanderten auf dem eingeschlagenen Weg fort, und -sie sagte nachdenklich: „Wann er wohl schreibt, der Herr Edwin? -- Er -hat so lange nicht geschrieben. Aber man braucht ja nicht in Sorge zu -sein. Das dauert ja immer lange, bis die Briefe die weite Reise gemacht -haben.“ - -„Mir ist gerade, als schriebe er heute,“ sagte Frau Cimhuber, versonnen -vor sich hinblickend. „Ich habe so ein Gefühl, als müßte ich heute noch -einen Brief von ihm in Händen halten.“ - -Während dieser Unterredung hatten Hans und Suse sich in ihr Zimmer -zurückgezogen und begannen wieder froh zu werden. - -Sie wollten heute nachmittag ja den Onkel Gustav besuchen. - -Keinem von beiden kam der Gedanke, ein Gang zu ihrem Onkel könnte -ihnen verwehrt werden, waren sie doch von Hause aus gewöhnt, in ihrer -freien Zeit zu tun und zu treiben, was ihnen beliebte. Hans putzte -sich und kämmte sich und richtete sich säuberlich her, gerade als -sei ein Auto eine hochgestellte Persönlichkeit, der man durch ein -geschniegeltes Äußeres Achtung abzwingen könne. Dazu erzählte er in -einemfort von den Plänen, die er mit Theobald gefaßt hatte. - -„Um drei Uhr will er uns abholen,“ erklärte er, „ich hab’ ihm gesagt, -er soll doch zu uns herauskommen, aber er will nicht. -- Er will nicht -vor Frau Cimhuber dienern und scharwenzeln, weil sie ihm nicht ganz -grün ist.“ - -Lange vor der festgesetzten Zeit standen die beiden Kinder am Fenster -und sahen erwartungsvoll nach dem Vetter aus. Endlich, endlich tauchte -er in der Ferne auf, dicht am Geländer des Kanals entlang schlendernd. -Jetzt war er fast dem Haus der Frau Cimhuber gegenüber. Jetzt sah er -auf und entdeckte die beiden am Fenster. Sie machten ihm ein Zeichen, -zu warten und beschlossen dann, ihrer Pflegemutter zu sagen, was sie -vorhätten, um sich von ihr zu verabschieden. - -Da ging die Tür auf und sie selbst trat ein, und zwar zum Ausgehen -bereit. Auf ihrem Kopf trug sie einen kleinen Kapothut, der mit langen -Bändern unter dem Kinn gebunden war, und über ihre Schultern hing ein -langer Spitzenüberwurf. „Ich wollte sehen, was ihr treibt,“ begann sie -eintretend. „Ihr müßt nämlich ein paar Stunden allein hier bleiben; -denn Ursel und ich gehen in die Stadt und wollen das Haus von Bekannten -ausschmücken, die von einer Reise zurückkommen. Ihr macht derweil -eure Aufgaben oder schreibt Briefe nach Hause. -- Das scheint mir das -Richtigste. -- Du, Suse, arbeitest vielleicht auch an einer Handarbeit. -Du hast sicher ein Strickzeug?“ - -„Ja, ein Puppenunterröckchen hab’ ich mitgebracht,“ sagte Suse kaum -hörbar. - -„Du nimmst also dein Strickzeug und strickst. Kleine Mädchen dürfen nie -unbeschäftigt dasitzen.“ - -Suse nickte. - -„Halt, noch etwas wollte ich sagen,“ meinte die Pfarrfrau, „wenn -es klingelt, so geht ihr hin und macht auf. Es kann sein, daß der -Briefträger kommt.“ - -Die beiden konnten fast nicht atmen, so fuhr ihnen der Schreck in die -Glieder. -- Nun konnten sie ja gar nicht fort. -- Wie verwundete Rehe, -so traurig sahen sie Frau Cimhuber an. Sie aber merkte nichts von ihrer -Niedergeschlagenheit und sagte ganz freundlich: „Lebt wohl, Kinder! -Ihr habt doch verstanden, daß ihr auf das Klingeln achten sollt? Nicht -wahr?“ - -Und damit hatte sie auch schon das Zimmer verlassen. - -Das Geschwisterpaar hörte die Flurtür schlagen, und Frau Cimhuber samt -Ursel von dannen gehen. -- Nun war alles aus. - -Suse ließ sich mit gefalteten Händen auf einen Stuhl nieder. Hans -schlich sich zum Fenster und blickte wehmütig hinter den beiden her. -Er sah sie aus dem Hause treten und die Straße kreuzen. In demselben -Augenblick gewahrte er, wie der Vetter, der am Kanal lustwandelte, auch -der Pfarrfrau und ihrer Begleiterin ansichtig wurde und kehrt machte, -als sei ihm ein Schuß in die Glieder gefahren. Weit beugte er sich -über das Geländer des Kanals und stierte lange in das trübe Gewässer. -Endlich, als er annahm, daß sie außer Sicht seien, drehte er sich um, -machte einen Luftsprung und eilte auf das Haus, aus dem sein Vetter -sah, zu, nahm die Treppen im Sturm und klingelte im vierten Stock, daß -es nur so durch die Stuben hallte. - -„Fein, daß ihr da seid,“ meinte er zu seinen kleinen Verwandten. „Jetzt -kann man doch mal mit Muße in eurem Wigwam herumäugen. Wißt ihr, wenn -Frau Cimhuber und ihre Hofdame, der Igel Ursel, da sind, ist’s mir -nicht recht geheuer. Da ist so ein dunkler Punkt zwischen uns. Übel, -übel, sag’ ich euch.“ - -Suse errötete tief, denn ihr war plötzlich eine Erzählung von Theobald -eingefallen, wonach ihn Frau Cimhuber einmal mit ihren „spitzen -Krallen“ gepackt und mit „pöbelhaftem Ungestüm“ vor die Tür gesetzt -hatte, weil er ihren Hund, den Karo, auf die linke Hinterpfote getreten -hatte. -- - -Der dunkle Punkt vermutlich. -- - -Und taktvoll leitete die Base das Gespräch auf andere Dinge. - -„Hast du unsere Negerstube schon gesehen?“ fragte sie mit -geheimnisvoller Stimme. - -„Was soll ich gesehen haben?“ entgegnete er und sperrte den Mund weit -auf. - -„Komm, komm,“ drängte Suse und eilte voraus, den Gang hinunter, um mit -einem strahlenden Ausdruck im Gesicht Frau Cimhubers Negerstube zu -öffnen, als wäre sie ihr ureigenstes Besitztum. - -„Fein, gelt?“ sagte sie, den Vetter erwartungsvoll anblickend. „Sieh -mal die herrlichen Dinge an, Theobald.“ - -Der Vetter musterte mit Stirnrunzeln die Prunkstücke des Raums, hatte -sofort den Negergott entdeckt, der grinsend auf seinem Ständer in der -Ecke saß, und ging stracks auf ihn zu. - -Suse klopfte das Herz bei dieser Vermessenheit und sie rief: „Nicht -doch, nicht doch!“ - -Theobald aber streichelte dem Götzen zärtlich die Wangen und sein -schwarzes, aus Holz geschnitztes Haar, als wär’s das Fell eines -Schoßhündchens, und ging dann, ein Liedchen pfeifend, von einem -Gegenstand des Raumes zum andern, als wäre er im Schatten von -Negerschwertern und -messern groß geworden. - -„Ihr wißt natürlich nicht, von wem die Sachen eigentlich sind,“ begann -er schließlich. - -Sie schüttelten ihre Köpfe. - -„Nun, so will ich’s euch sagen. Sie sind nämlich alle von dem Edwin -Cimhuber, das ist der Sohn von eurer Pflegedame. Der ist Missionar in -Afrika bei den Negern und Hottentotten; die bekehrt er.“ - -„Was ist er?“ fragte Suse plötzlich lebhaft und aufgeregt, „Missionar? -In den fremden Ländern ist er Missionar? Ist er schon lange dort? - -Kommt er nicht mal? Unser Herr Pfarrer hat uns auch schon von -den Missionaren erzählt, Theobald, und jedesmal hat er uns die -wunderschönsten Bilder gezeigt. Palmenwälder waren drauf und beladene -Kamele, die durch die Wüste wandern. Und das Meer und fremde Vögel und -Affen, die in die Bäume klettern, und alle waren aus Afrika und Asien. --- Und dort lebt der Herr Missionar, Theobald, hast du gesagt?“ - -„Ja, und der Herr Edwin ist das Schönste und Beste und Herrlichste, das -es auf der Welt gibt. Wenigstens für die Frau Cimhuber, für mich nicht.“ - -Suse war noch ganz in Gedanken und meinte mit einem Male: „Es ist -doch schön, daß wir hier wohnen! Nicht wahr, Theobald? Hier haben wir -richtige ausgestopfte Affen, die der Herr Missionar geschenkt hat, und -vielleicht kommt er selbst einmal. Nicht wahr, Theobald? Möchtest du -nicht auch hier wohnen?“ - -„Ich hier wohnen,“ rief der Vetter und auf seinem sonst so -gleichmütigen Gesicht mit der erhabenen Miene malte sich ein ehrlicher -Schrecken...... „Brr!“ - -„Ach, weißt du was,“ meinte Suse voll Schonung, „wenn man immer höflich -und artig zu Frau Cimhuber ist, dann passiert einem nichts. Vielleicht -wird sie uns sogar Geschichten von ihrem Sohn aus Afrika erzählen.“ - -„Ein Glück, daß ich die nicht zu hören brauche,“ fiel Theobald ein. -„Gott sei Dank! Überhaupt, das will ich euch sagen, ihr braucht euch -gar nicht so gräßlich viel auf die Sachen hier einzubilden. Da sind -wir hier in der Stadt doch an ganz andere Dinge gewöhnt. Wenn wir -jetzt zum Beispiel zu unserem Onkel Gustav gehen, da werdet ihr mal -was erleben. Der hat Tiere, wie ihr sie haben wollt; die schönsten und -die wildesten, mit und ohne Gerippe, mit und ohne Haut, mit und ohne -Federn. Ganz nach Wunsch. -- - -Und schwarze Dienerinnen hat er, die haben Lippen, wie aufgeplatzte -Rotwürste. -- - -Aber hopp,“ unterbrach er seinen eigenen Redeschwall, „wir haben jetzt -keine Zeit zu verlieren, macht euch fertig.“ - -Suse warf Hans einen betrübten Blick zu und sagte dann ängstlich: „Wir -müssen ja hier bleiben, Theobald, und die Tür aufmachen, wenn einer -kommt.“ - -Der Vetter graulte sich hinter den Ohren und überlegte. - -„Wißt ihr, was wir machen?“ rief er plötzlich. „Einer von euch kommt -mit, der andere bleibt hier.“ - -Suse fing einen wehmütig bittenden Blick ihres Bruders auf, kämpfte -einen schweren Kampf und sagte schließlich: „Hans, geh’ du nur hin, ich -bleib hier. Du möchtest dir ja so gern die Autos ansehen, ich frage -nicht soviel danach wie du.“ - -Des Bruders Gesicht erhellte sich, und er sagte leuchtenden Auges: „Ich -komme auch recht bald wieder, Suse! In einer Stunde bin ich wieder da.“ - -„Ja, tu das,“ entgegnete sie. - -Und da rannten die Knaben auch schon davon. - -Sie horchte hinter ihnen her, wie sie die Treppe hinuntereilten, und -wollte hierauf in ihr Stübchen gehen. Aber wie von unsichtbaren Händen -gezogen, mußte sie sich der Negerstube zuwenden. - -Langsam kam sie näher und stand lange unschlüssig davor. Zögernd legte -sie die Hand auf die Türklinke und wollte sie niederdrücken. Da fuhr -die Tür von selbst weit auf, und sie befand sich mit einemmal frei und -ungeschützt dem Negergott gegenüber. Grinsend sah der Götze sie an. Wie -erstarrt schaute sie nieder. Da klirrte ein Negerschwert leise, ein -großer ausgestopfter Affe knurrte und der Negergott grunzte. -- - -Hm... Hm... Ho... Ho... Ha... H... klang es irgendwo. - -Suse stieß einen Schrei aus und stürzte den Gang hinunter in ihr Zimmer -zurück. Dort riegelte sie sich ein. Die Tränen liefen ihr über das -Gesicht. - -Suse fürchtete sich fast zu Tode. - -„Ach, Hans, wärst du doch hier geblieben,“ weinte sie vor sich hin. -„Ach, lieber Gott, verlaß mich nicht. Mach doch, daß Hans kommt.“ - -Ängstlich, wie nach Hilfe suchend, flogen ihre Blicke durch die Stube. -Da sah sie plötzlich wie gebannt auf die Kommode, wo die Bilder ihrer -Eltern standen, sowie die Rosels, ihrer Magd, und Christines, der -alten Kinderfrau von daheim. Beruhigend und tröstend sahen die guten, -freundlichen Gesichter zu ihr herüber. - -„Sei nur still, liebes Kind, sei nur still,“ schienen sie zu sagen, -„wir sind ja bei dir.“ - -Da drückte sie ein Bild nach dem andern zärtlich an sich und fühlte, -wie ihr’s viel leichter, viel wohler ums Herz wurde. Zu guter Letzt -fielen ihre Augen noch auf einen ganz besonderen Tröster. - -Dort stand Michel, der Gefährte ihrer Jugend, ein Jagdhund, und -blickte kühn wie ein Eroberer hinter Glas und Rahmen hervor. Seine -klugen Augen blitzten auf dem Bilde, seine Schnauzbarthaare spreizten -sich keck, sein Schwanz stand wagerecht ab wie ein Lineal. Mit einem -solchen Freund im Bunde brauchte man selbst den Negergott nicht mehr zu -fürchten! - -Vorsichtig trug Suse all ihre Schätze auf den Tisch und baute nun -eine Art Schutz- und Trutzburg von ihnen auf, hinter die sie sich zu -verstecken und einen Brief nach Hause zu schreiben gedachte. - -Allerlei Andenken von daheim vervollständigten noch ihre Festung: -ein Briefbeschwerer, den ein Freund von Hans mit Namen Martin, ein -armer, verkrüppelter Knabe, ihnen am Tage vor ihrer Abreise mit -glückstrahlenden Augen gebracht hatte. - -Das Geschenk stellte eine Kugel dar, die auf einer Alabasterplatte -ruhte, und zeigte in seinem Innern „die heilige Nacht“ in bunten -Figuren. Maria und Joseph saßen, von Schneegestöber umhüllt, vor der -Krippe und beteten das Christkind an. - -Nachdem Suse das Geschenk ein Weilchen zärtlich betrachtet hatte, legte -sie es auf den Tisch nieder und reihte an seine Seite ein Andenken von -Christine, einen Wachsengel in einer Pappschachtel, der zwischen lauter -Papierblumen wie ein blankes, reingewaschenes Badepüppchen hinter -einer Glasscheibe hervorsah. -- Lange Jahre hindurch war dies ärmliche -Kunstwerk Christines Heiligtum gewesen und von ihr bewundert, gehütet -und gepflegt worden. Jetzt gehörte es Hans und Suse. Auch zwei Federn -von Babette Buntrock, dem Lieblingshuhn der Doktorskinder, wurden -zu den Andenken gelegt. Dann rückte sich das kleine Mädchen einen -Rohrstuhl an den Tisch und begann zu schreiben: - - „Liebe, liebe Mutter, lieber, lieber Vater! - -Ich muß immer an Euch und Michel und Christine und an alle, alle -denken. Es ist wunderschön hier. Ach, wäret ihr nur hier! Ist -Christines Ziege wieder besser? Ich bin allein hier, und der Hans -ist fort und besucht den Onkel Gustav. Oh, wie hab’ ich mich -gefürchtet heute morgen, wie ich in die Schule bin. In der Schule -lerne ich nichts. Die Kinder sind alle viel klüger als wir, und viele -Lehrerinnen gibt’s hier. Frau Cimhubers Sohn ist in Afrika, dort ist es -wunderschön. Aber ich möchte, ich wär daheim.“ - -Zu diesem Brief brauchte Suse vielleicht anderthalb Stunden; denn fast -nach jedem Wort machte sie lange Pausen, kaute an ihrer Feder oder -trocknete umständlich ihre Tränen ab, die immer wieder auf das Papier -tropften. - -Zuletzt wußte sie nicht mehr was schreiben, schob ihr Papier zur -Seite und holte ihr Puppenunterröckchen hervor, um ein wenig daran zu -arbeiten, wie Frau Cimhuber ihr ja befohlen hatte. - -Aber es wollte nicht so recht mit der Arbeit vorwärts gehen, denn das -Kind mußte immerwährend an seinen Bruder Hans denken. - -Wenn er nun nicht zur rechten Zeit nach Hause käme? Was dann? - -Da klingelte es. Suse flog zur Tür. „Hans, Hans!“ rief sie. Aber -als sie öffnete, stand niemand anders vor ihr als Ursel, und zwar -anscheinend in großer Aufregung. - -Suse zitterte wie Espenlaub. Sie glaubte bestimmt, die Magd habe Hans -irgendwo auf der Straße mit Theobald gesehen und wolle nun nachsehen, -ob sie sich nicht getäuscht habe. - -Forschend richtete die alte Magd jetzt ihre Augen auf Suse und fragte -barsch: „Warum hast du geweint. Hast du dich mit Hans gezankt?“ - -Suse schüttelte den Kopf. „Warum hast du geweint?“ fragte Ursel noch -einmal. - -„Ich hab’ nach Hause geschrieben und da hab’ ich weinen müssen,“ -flüsterte Suse. - -„Dummes Zeug,“ murmelte Ursel und ging kopfschüttelnd in die Küche, um -Hans und Suse den Kaffee zu wärmen und einige Stücke Brot zu schneiden. -Sie glaubte, beide Geschwister seien zu Hause. - -„Darf ich den Kaffeetisch decken?“ fragte Suse schüchtern und zitterte -für den Bruder. Die alte Magd nickte. - -Das kleine Mädchen holte geschäftig Tassen, Unterschälchen, Zuckerdose -und Milchtöpfchen aus dem Schrank, stellte sie schön ordentlich auf -ein Servierbrett und wollte damit in die Stube gehen. Da klingelte es -wieder. - -Hu, wie fuhren da die Tassen und Unterschälchen durcheinander und -rasselten und klirrten! Ums Haar wären sie auf dem Boden gelegen. -Schnell stellte Suse sie zur Seite, eilte zur Tür hinaus und den Gang -hinunter, während ihr die Zöpfe hinterherflogen, wie einem Kellner die -Rockschöße und die Serviette. - -„Halt!“ rief Ursel. „Was läufst du so? Wo willst du hin? Halt! Halt!“ - -Aber das kleine Mädchen war schon an der Flurtür, öffnete, und rannte -dem Briefträger stracks in die Arme. - -„Scht, scht,“ mahnte dieser, „nur nicht so stürmisch. Ich hab’ einen -Brief an Frau Cimhuber.“ - -Ursel sah auf das Schreiben in des Postboten Hand und erkannte die -fremde Marke und eine vertraute Schrift. „Danke, danke,“ sagte sie -zitternd. - -„Er ist von Herrn Edwin,“ fuhr sie fort, das Schreiben um und um -wendend. „Da wird sich Frau Cimhuber freuen. Darauf warten wir schon -lange. Großer Gott, wir danken dir, du verläßt uns nicht. -- Gleich, -gleich will ich jetzt zu der Frau Pfarrer gehen und ihr den Brief -bringen. Sie wird so froh sein. Sie wird überglücklich sein.“ - -Und Suse sah mit Verwunderung, wie der alten Frau die Tränen in die -Augen traten und die Röte der Erregung die Nasenspitze leuchtend -färbte. Und wie sie dann ihre Küchenschürze hastig gegen ihre -baumwollene schwarze Staatsschürze umtauschte, indem sie eifrig sagte: -„Eßt, liebe Kinder, und trinkt euren Kaffee, und seid nicht ungeduldig, -daß wir euch allein lassen. Wartet noch ein Weilchen, wir sind bald -wieder da. Lebt wohl, lebt wohl.“ - -Das Kind blickte nur immer nach Ursels Augen, die so hell strahlten wie -Lichter, während sie doch noch vor kurzem so düster, so unfreundlich -dreingesehen hatten. - -„Sie sind froh, gelt, Ursel?“ fragte das kleine Mädchen, als sie der -alten Magd das Geleite zur Tür gab. - -„Ja, wir sind froh, Frau Cimhuber und ich sind sehr froh. Wir hatten so -Angst um das arme, arme Kind. Was hat der Herr Edwin alles in Afrika -auszustehen! Ich werde euch einmal davon erzählen, wenn ich Zeit habe.“ - -„Danke, danke,“ rief Suse, und ihr Herz klopfte bei der schönen -Aussicht auf die künftigen Erzählungen. - -Als Ursel gegangen war, kam dem Doktorskind aber gleich wieder der -Gedanke an den abwesenden Bruder, und sie zitterte vor Angst. Wenn -Frau Cimhuber wiederkehrte, und er wäre noch nicht da, so würde es -ihm schlecht ergehen. Suse lehnte sich aus dem Fenster und spähte -die Straße hinunter, ob er noch nicht komme. Die Tür ließ sie -sperrangelweit hinter sich offen, und der Götze hätte jetzt bequem -hereinkommen und Suse ein wenig zwicken können, wenn er der Unhold -gewesen wäre, als den sie ihn erkannt hatte. - -„Wenn Hans doch nur käme, wenn Hans doch nur käme, ach, wenn Hans doch -nur käme,“ sagte sie in Gedanken immer wieder vor sich hin. - -Eine Stunde wollte er ja nur fortbleiben! Wenn er doch nur käme! Bald -würden Frau Cimhuber und Ursel wiederkommen, dann wär’ er nicht da, und -dann.... - -Da sah sie ihn am Kanal entlang laufen. Nun erblickte auch er seine -Schwester am Fenster und winkte zu ihr hinauf. Gleich darauf war er bei -ihr. - -„Oh, Suse, wie schön war es! Was hab’ ich alles gesehen!“ rief er mit -fliegendem Atem. - -„Da war ein großes Schloß. Und den Schuppen mit den Automobilen haben -wir uns besonders angesehen, und die schwarzen Dienerinnen hab’ ich -auch gesehen. Und einen Pfau mit wundervollen Augen im Schwanz.“ - -„Ach, wär’ ich doch auch mitgegangen,“ sagte Suse schmerzlich. - -„Sei nicht traurig,“ tröstete er, „ein andermal gehst du auch mit.“ -Und hastig fuhr er fort: „Und von den Automobilen weiß ich jetzt -noch besser Bescheid als heute morgen. Der Herr Willy, das ist der -Chauffeur, der hat Theobald alles genau erklärt, und ich habe zugehört.“ - -Suse zuckte ungeduldig die Achseln. Der Kraftwagen und seine -Bestandteile ließen sie kalt. - -Aber gespannter hörte sie wieder zu, als er fortfuhr: „Und gefürchtet -haben wir uns, Suse, gefürchtet, einfach schrecklich.“ - -„Siehst du, siehst du,“ triumphierte Suse, „was ist denn wieder mal -passiert? Gelt, das Auto hat wieder einmal gebrüllt?“ - -„Nein, nein, ich mein’ ja was ganz anderes. Hör’, was ich dir -erzähle. Wie wir uns so das Automobil angucken, da kommt, oh, es war -schrecklich! da kommt, denke dir, da kommt...“ - -„So sprich doch, Hans!“ - -„Da kommt sie.....“ - -„Welche sie, Hans?“ - -„Ei, die Frau von Onkel Gustav.“ - -„Bloß die Frau von Onkel Gustav,“ sagte Suse enttäuscht. „Hast du ihr -denn guten Tag gesagt, Hans?“ - -„Oh, was glaubst du denn,“ wehrte er entrüstet, „das trau ich doch -nicht.“ - -„Aber, Hans, vor der Dame hast du noch nicht einmal den Hut abgenommen, -und weißt doch, daß wir immer guten Tag sagen sollen, wenn wir irgendwo -hinkommen. Das haben doch der Vater und die Mutter uns befohlen.“ - -„Das weiß ich wohl, aber der trau ich doch nicht guten Tag sagen.“ - -„Warum denn nicht?“ - -„Oh, sie ist eine gräßliche Rippe,“ hat Theobald gesagt, „und böse wie -ein Tiger.“ - -Suse schauderte es. - -„Ist sie auch eine Negerin?“ forschte sie atemlos. „Vielleicht stammt -sie von den Menschenfressern ab, und da hat Onkel Gustav sie in den -fremden Ländern geheiratet. Es könnte schon sein. Gelt Hans?“ - -„Das weiß ich nicht.“ - -„Wie sieht sie denn aus?“ - -„Das weiß ich auch nicht.“ - -„Hast du sie denn gar nicht gesehen?“ - -„Nein, mit einemmal hat Theobald gerufen: ‚Da kommt sie!‘ und da hab’ -ich gar nichts mehr gesehen und gehört. Und da hat Theobald die Tür von -dem Automobil aufgerissen und ist mit beiden Füßen hineingesprungen, -und ich bin hinterdrein und hab’ die Tür zugeschlagen. Und da haben wir -uns beide unter die Bänke geworfen. Der Theobald ist mitten auf meinen -Kopf gelegen. Ich hab’ gemeint, ich ersticke. Und mit einemmal legt -sich eine Hand auf die Tür, und denke dir, da wollte sie reingucken. -Aber der Herr Chauffeur hat ihr schnell was vom Onkel Gustav gesagt, -und da hat sie die Tür wieder fahren lassen. -- Denke dir, wenn sie -reingekommen wäre und auf unsere Köpfe getreten hätte!“ - -„Die hätte euch tot getreten,“ sagte Suse, die ihre Tante sofort als -ein gräßliches Ungeheuer erkannt hatte. - -„Erzähl’ mir noch mehr von der gräßlichen Frau, Hans,“ drängte sie, -„bitte, bitte.“ -- - -Schauerliche Dinge erleben mochte Suse beileibe nicht, aber sie -anzuhören, war ihr nicht unangenehm. „Am Ende frißt sie wirklich -Menschen,“ sagte sie, sich fester an den Bruder anschmiegend, mit dem -sie Hand in Hand auf dem Sofa in ihrem Stübchen saß. „Erzähl’ weiter.“ - -„Ich weiß nichts mehr von ihr. Gesehen hab’ ich sie nicht.“ - -„Dann erzähl’ mir noch, bitte, von dem herrlichen Schloß in dem Garten.“ - -„Ich hab’ einmal von der Veranda in das Zimmer geguckt und schöne -Sachen drin gesehen.“ - -„Und die ausgestopften Tiere? Die waren nirgends, Hans?“ - -„Ich hab’ sie nicht gesehen.“ - -„Ach, Hans, wann kommen wir mal hin?“ - -„Oh, bald, bald, der Onkel Gustav will, daß wir oft kommen, hat -Theobald gesagt. Er will, daß unsere guten Manieren und unser deutsches -Gemüt auf seine Kaffern abfärbe. -- Die Kaffern sind nämlich seine -Kinder.“ - -So fuhr Hans noch lange eifrig fort, Suse ein merkwürdiges Licht über -die neue Verwandtschaft aufzustecken. Erst als es Zeit zum Abendessen -war, beendete er seine Erzählung und ging mit Suse zu Frau Cimhuber -hinüber. - -„Hans,“ ermahnte ihn seine kleine Schwester unterwegs, „wir müssen -sagen, was wir heute nachmittag gemacht haben, wo du gewesen bist; denn -wenn Frau Cimhuber erfährt, daß du fortgelaufen bist, und es ihr nicht -erzählt hast, denkt sie, wir wollen sie belügen.“ - -„Ja, ja,“ sagte Hans, „das will ich tun.“ - -Aber als sie bei Tisch saßen und er davon anfangen wollte, begann Frau -Cimhuber von der Familie zu erzählen, die sie heute nachmittag besucht -hatte, und deren artigen Kindern. - -Endlich, als sie einmal eine Pause machte, sprach Suse ihrem Bruder -unter dem Tisch durch heftige Stöße Mut zu, und er begann stockend: -„Frau Pfarrer, ich bin... Frau Pfarrer, ich bin heute nachmittag...“ - -Da unterbrach ihn die Pfarrfrau mit den Worten: „Kinder, ihr müßt euch -daran gewöhnen, Erwachsene nicht durch eure Reden zu unterbrechen. Ihr -müßt immer erst dann reden, wenn man euch etwas fragt.“ - -Und diese Worte der Pfarrfrau schüchterten die Kinder so ein, daß sie -ihr gute Nacht boten, ohne ihr ein Wort von dem zu sagen, was sie heute -nachmittag erlebt hatten. - -„Ich fürchte mich vor der Schule morgen,“ flüsterte Suse, als sie -allein mit ihrem Bruder war. - -„Das mußt du nicht,“ meinte er, „denk nicht dran! Ich denk auch nicht -dran.“ - -Und in der Absicht, sie auf andere Gedanken zu bringen, fuhr er mit -geheimnisvoller Stimme fort: „Laß uns aus dem Fenster sehen, jetzt -springen vielleicht auf dem Dach wieder die herrlichen Buchstaben herum -wie gestern abend.“ - -„Ja, ja, du hast recht,“ sagte die Schwester und machte sich schnell -fertig, um mit ihrem Bruder an das Fenster zu treten und die nächtliche -Stadt zu betrachten. Wie Tausende von Leuchtkäfern funkelten dort die -Lichter aus dem Dunkel auf, wie schillernde Schlangen glitten die -Elektrischen am Kanal entlang, und aus den engen Straßen kamen die -Menschen als vermummte Gestalten ans Licht. Und pünktlich, wie der -Mond und die Sterne daheim über dem Nußbaum im Hofe der Doktorskinder, -erschienen auf dem Dach des hohen Hauses jenseits des Kanals die -leuchtenden Buchstaben, deren Sinn Hans und Suse nicht erkunden -konnten. Ein Buchstabe nach dem andern blitzte auf und lief über den -Dachfirst. Leuchtend standen dort ein paar Worte und erloschen wieder, -um nach einigen Sekunden in neuem Glanz zu erstehen. - -„Wie schön, wie schön,“ sagte Hans leise. - -Suse aber faltete die Hände und wiederholte die Worte von heute -morgen: „Ach, wenn doch daheim auf unserem Dach auch mit einemmal -solche herrliche Buchstaben herumsprängen! Der Vater und die Mutter, -die würden sich gewiß freuen, gelt Hans? Die Buchstaben sind doch das -aller-, allerschönste hier! Wenn die nicht wären, dann wär’ es so -häßlich wie nirgends sonst auf der Welt!“ - - - - -Zweites Kapitel - -Die Flucht - - -Für den Sonntagnachmittag waren Hans und Suse bei Onkel Sepp und -Tante Hedi, Theobalds Eltern, eingeladen. Aber im letzten Augenblick -wurde die Einladung zurückgenommen, und die Geschwister mußten daheim -bleiben. Ihre Vettern und Basen durften an dem Tag keinen Besuch -empfangen; es waren eben unverbesserliche Sausewinde, die nichts wie -tolle Streiche verübten, für welche sie dann büßen mußten. Diesmal -handelte es sich um eine recht dunkle Sache, von der Theobald nur in -unklaren Andeutungen sprach. Danach war eine Papiertüte voll Wasser -zufällig von der Gartenmauer seines Vaterhauses gefallen, einer -vorübergehenden Marktfrau auf den Kopf und dort geplatzt, worauf die -Frau vor Schreck sich mitten auf der Straße niedergelassen hatte. - -Und für diesen harmlosen Vorfall, an dem nach Theobalds Ausspruch kein -Mensch Schuld hatte, waren Onkel Sepps Kinder hart bestraft worden und -hatten heute Stubenarrest. - -So waren Hans und Suse denn auf sich allein angewiesen. -- Frau -Cimhuber war ausgegangen und hatte den Kindern versprochen, sie gegen -Abend zu einem Spaziergang abzuholen. Ursel hatte sich in die Küche -zurückgezogen, denn sie litt noch immer an starkem Zahnweh, und auf -ihrem vermummten Kopf standen die Zipfel ihres Tuches steil aufrecht -wie zwei Hasenohren. - -Die ganzen letzten Tage hatte sie zwar versprochen, den Kindern heute -Missionarsgeschichten zu erzählen; aber nun, da es so weit war, warf -sie Blicke um sich wie der Drache in der Höhle, und die Kinder mieden -sie ängstlich. - -Die meiste Zeit des Nachmittags verbrachten sie in ihrem Zimmer, wo -Suse in eine immer gedrücktere Stimmung verfiel. Sie hielt einen Brief -ihrer Mutter in Händen, den sie heute morgen erhalten hatte und in dem -sie immer wieder las. - -„Mein liebes Kind,“ stand in dem Brief geschrieben, „die Veilchen -blühen noch immer und tragen viele Knospen und Rosel begießt sie -täglich und schaut nach ihnen. Die Sonne scheint jetzt schon so wohlig -und warm im Garten, und alles beginnt zu blühen und zu grünen. Minnette -hab’ ich ihr Glöckchen weggenommen, das Du ihr zum Abschied umgebunden -hast, und beiseite gelegt, weil es sie belästigte; aber wenn Du -wiederkommst, darfst Du es wieder hervorholen und ihr umbinden, liebes -Kind. Michel liegt in der Sonne auf der Hoftreppe und grollt mit uns, -wie Euer Vater sagt, weil wir Euch fortgehen ließen, und nun läßt er -seinen Zorn an den Hühnern und Katzen der Nachbarschaft aus und beißt -und schüttelt sie, wo er nur kann. Zur Strafe soll er mal wieder für -einige Zeit zum Förster in die Nachbarschaft kommen, damit er sich -wieder bessere Manieren angewöhnt. Christine und Rosel sprechen immerzu -von Euch und haben sich heute wunderbare Briefbogen mit Vergißmeinnicht -und verschlungenen Händen gekauft, und nun wollen sie Euch Briefe -schreiben. Christine wird ihren Rosel diktieren. Auch Eure Freunde und -Freundinnen waren schon da und haben nach Euch gefragt.“ - -Schließlich stand Suse auf, ging ans Fenster, drückte ihr Gesicht gegen -die Scheiben und sah hinunter auf den Kanal, der heute frei von Kähnen -war. Auch die Straßen waren weniger belebt als sonst. Die Menschen -waren wohl hinausgewandert in das Freie, wo der Sonnenschein über -Feldern und Wiesen lachte. - -Nur hoch oben an der blauen Himmelsdecke, da ging es lustig her. Da -flogen die munteren, kleinen Federwölkchen vorüber, die Suse so gern -hatte. Sie glänzten wie schimmernder Atlas und flatterten und wehten -wie weiße Tüchlein, die unsichtbare Hände schwenken. - -„Komm mit, komm mit,“ schienen sie zu rufen. -- Sie wanderten weiter, -immer weiter, bis sie zu den Bergen von Susens Heimat kamen. Noch heute -trafen sie dort ein. Das kleine Mädchen spürte es so deutlich, so klar. -Dann sahen sie in den Doktorsgarten, wo die Blumen blühten und die -Büsche grünten, wo an der Mauer der Schlehdorn schneeig schimmerte, -wo vor der Tür Minnette saß und im Hof Michel sich sonnte. Und in das -gemütliche Wohnzimmer schauten sie, wo der Vater und die Mutter am -Kaffeetisch saßen und miteinander redeten. - -„Wie schön ist es heute, wir wollen durch den Garten gehen,“ sagte die -Mutter. „Komm, Hermann. Was wohl unsere lieben Kinder heute treiben?“ - -Und Suse hörte genau die Stimme ihrer Mutter. - -Da räusperte sich Hans, und sie fuhr herum und zeigte ein verweintes -Gesicht. Er schaute sie erschrocken an. Und da begann sie auch schon -von Tränen überströmt: „Jetzt will ich dir auch sagen, Hans, was ich -schon immer gedacht habe. Wir wollen fort von hier, nach Hause.“ - -Der Knabe fuhr zusammen und wiederholte langsam: „Nach Hause?“ - -„Ja, Hans!“ - -„Aber, Suse, wir sind ja eigens hierher gekommen in die Stadt, damit -wir was lernen, und jetzt wollen wir schon wieder fort?“ - -„Ei, Hans, wir können ja in eine andere Stadt gehen, wo’s viel schöner -ist. Es gibt ja noch viele Städte.“ - -„Nein, Suse, der Vater und die Mutter haben gesagt, sie haben sich -lange bedacht, warum sie uns gerade in diese Stadt schicken. Sie -wollen, daß wir uns an fremde Menschen gewöhnen und hier bleiben und -was lernen. Und jetzt sind wir hier, und jetzt bleiben wir hier.“ - -„Dann sterb’ ich, Hans. Ich hab’ immer so Weh hier...“ Und das kleine -Mädchen zeigte weinend auf sein Herz. - -„Sieh, hier, Hans, und essen mag ich auch nichts mehr, es drückt mich -immer im Hals und ich kann nicht schlucken. Du wirst sehen, ich sterbe. -Ich habe schon immer gebetet, daß der liebe Gott macht, daß wir wieder -nach Hause kommen, sonst sterb’ ich.“ - -„Bald sind ja Ferien, Suse!“ - -„Dann bin ich schon tot. Ich will fort, ich will fort!“ - -Und Suse drückte weinend beide Handrücken vor die Augen und wiederholte -immer wieder: „Ich hab’ so Weh hier, Hans, ich hab’ so Weh hier! Ich -will fort!“ - -Dem Bruder wurde es angst und bange. Er suchte nach Trostesworten und -fand keine. - -Seine kleine Schwester aber fuhr immer trauriger fort: „Ich mag auch -nicht mehr in der Elektrischen fahren. -- Und die hellen Buchstaben -find’ ich auch nicht mehr schön. Ich mag nichts mehr. Kein Kind will -mit mir spielen. Alle haben sie Freundinnen, nur ich nicht. Und Frau -Cimhuber hat uns auch nicht lieb, und Ursel erst recht nicht.“ - -Hier schluchzte sie laut auf. - -Dann sagte sie wieder leise vor sich hin: „Wir wollen fort, wir wollen -fort. Ich will zum Vater und zur Mutter und zu den Kindern, die mich -lieb haben.“ - -„Aber, Suse, was wollen wir denn machen?“ fragte Hans in größter -Aufregung. „Frau Cimhuber läßt uns ja nicht fort!“ - -„Sie braucht es ja nicht zu wissen, daß wir fort wollen, Hans! Wir -schleichen uns ganz in der Frühe fort, wenn alle noch schlafen.“ - -„Und unsere Sachen, Suse?“ - -„Die ziehen wir alle übereinander an. Du ziehst vier Hosen und -vier Hemden an und zwei Anzüge, und ich auch; meine zwei schönen -Sonntagskleider leg ich fein ordentlich in eine Pappschachtel, und -deinen Matrosenanzug auch. Das trägst du dann an einer Schnur. -Ich nehme das andere; die Geburt Christi und den Engel und die -Taschentücher und Strümpfe, alles, alles in der Hirschtasche.“ - -„Nein, Suse, das geht nicht. Das dürfen wir nicht. Wir sind hier und -wir bleiben hier. Und es ist auch schön hier.“ - -„Schön?“ fragte Suse ganz entgeistert. „Aber, Hans, das glaubst du -doch selbst nicht! -- Weißt du, Hans,“ fuhr sie flüsternd fort, -„nachts träum’ ich immer, der Negergott springt mit einem von den -vielen Negermessern hinter uns her, drei Schritte vorwärts und einen -zurück, und dazu ruft er: Halloh! Halloh! wo steckt ihr? -- Und eines -Nachts ist er wirklich an unsere Tür gekommen. Ich hab’ ihn deutlich -schleichen hören. Und dann hat er leise, erst wie ein Neger, dann -deutsch gesagt: ich krieg euch doch. -- Wartet nur, brr... hu... hu...“ - -„Dummes Zeug,“ wehrte Hans. „So was Dummes brauchst du nicht zu -träumen. Du weißt ja, er ist aus Holz. Und nun paß mal auf. Ich gehe -jetzt in die Negerstube und hol’ ihn von dem Ständer herab. Dann sollst -du ihn selbst mal anfassen.“ - -„Nein, nein,“ rief Suse. „Er tötet uns.“ - -„Er denkt nicht dran. Er ist ja der rechte Ölgötze. Das hat auch -Theobald gesagt.“ - -Und nach diesen Worten ging Hans stolz, hoch erhobenen Hauptes zur -Tür hinaus, dem Staatsgemach der Frau Cimhuber zu und trat ein. -Erwartungsvoll sah ihn der Götze daherschreiten. - -„Er guckt, er guckt,“ rief Suse. - -„Darf er ruhig,“ meinte Hans, räusperte sich, ging stracks auf das -Ungeheuer zu, klopfte ihm ein paarmal auf den hölzernen Lockenkopf und -packte dann mit festem Griffe zu. Die Figur wog schwer wie Blei. Und -Hans hatte Mühe, sie auf seine Schulter zu heben, und trug sie dann mit -eingeknickten Knien wie ein alter Mann hinter Suse her, die sich aus -Angst vor dem Ungeheuer langsam immer weiter zurückzog. - -„Wart’ doch, wart’ doch!“ rief er. - -Fast war er bei der Schwester, da fiel plötzlich mit Getöse ein -Negerschwert von der Wand herunter. - -Hans glaubte, die Decke stürze ein, sperrte vor Schrecken die Arme weit -auf und ließ den Negergott auf den Teppich plumpsen. Er stand Kopf und -schlug dann krachend einen Purzelbaum. - -„Der Götze, der Götze,“ schrie Suse, sprang in die Höhe wie eine -Heuschrecke und glaubte, er käme hinter ihr hergerutscht und packe sie -am Bein. Wenn er sie plötzlich festgehalten, hätte sie es gar nicht -verwundert. - -„Der Götze, der Götze!“ rief sie noch einmal. - -Da kam Ursel herbei, erblickte die Figur, die mitten im Zimmer auf dem -Rücken lag, und stürmte drauf zu. - -„Der Götze, der Götze,“ rief sie. Sie kniete daneben nieder, wendete -ihn um und um wie ein Wickelkind, und entdeckte den Spalt in seinem -Kopf. Dann jammerte sie: „Jetzt ist er kaput! Da liegt er nun, der -treue Götze. Wer hat euch denn geheißen, ihn von seinem Platz herunter -zu holen,“ brauste sie auf. „Müßt ihr alles anfassen, was ihr seht? -Natürlich hattet ihr keine Ruh’, bis er kaput war.“ - -[Illustration] - -„Frau Cimhuber wird böse sein,“ stotterte Hans. - -„Vielleicht nicht?“ brauste Ursel auf. „Soll sie vielleicht Zuckerkind -zu dir sagen und dir einen Kuchen backen zur Belohnung, weil du den -Götzen kaput gemacht hast!“ - -„Nein, das möcht ich nicht,“ sagte Hans noch verwirrter als bislang. -„Der Götze ist ja von dem Herrn Missionar, nicht wahr?“ - -„Von wem denn sonst, vielleicht von einem Zwetschenbaum? Meinst du, -solche fremdländischen Figuren wachsen hier auf Bäumen, und wir holen -sie uns herunter?“ - -„Nein... nein..., ich weiß ja, daß er aus Afrika ist,“ sagte Hans -schüchtern. „Frau Cimhuber hat’s ja gesagt.“ - -„Jetzt fort mit euch ungezogenen Kindern!“ fuhr Ursel die Pechvögel an. -„Ihr könnt nichts, wie Dummheiten machen.“ - -Und die beiden verließen gesenkten Hauptes die Negerstube und wußten -nicht wohin sehen vor Beschämung. - -Es verging geraume Zeit, dann hörten sie, wie die Pfarrfrau -wiederkehrte, mit Ursel redete und von ihr in die Negerstube geführt -wurde. - -Sie lauschten atemlos. - -„Jetzt weiß sie’s,“ flüsterte Suse. - -Hans fuhr zusammen und saß blaß und regungslos in der Ecke und -erwartete jede Minute, Frau Cimhuber werde mit dem Götzen auf dem Arm -hereinkommen und ihn zur Rede stellen. - -Aber sie kam nicht, und auch später, als die Kinder mit ihr beim -Abendessen zusammentrafen, machte sie ihnen keine Vorwürfe. Sie sah -nur still vor sich nieder. Da konnte Hans schließlich ihren stummen -Anblick nicht mehr ertragen, und er sagte leise und beklommen: „Frau -Pfarrer,... Frau Pfarrer...“ Dreimal schluckte er trocken runter, dann -begann er wieder: „Ich bitte Sie um Entschuldigung wegen dem Götzen, -Frau Pfarrer. -- Er -- ist so rutschig und glitschig wie ein Fisch. Er -ist mir aus den Armen gefallen. -- Ich glaub’ -- ich mein’ --,“ fuhr -er stotternd fort, „wenn Sie erlauben, Frau Pfarrer, mein’ ich, möcht’ -ich Ihnen einen neuen Gott schenken. Ich könnte Ihnen einen schnitzen -lassen. Ich habe einen Freund Martin, der schnitzt sehr schön, der -könnte Ihnen einen neuen schnitzen. Meiner Mutter hat er einen -Nähkasten geschnitzt. Spazierstöcke kann er auch machen. Der würde -sicher einen schönen Negergott fertig bringen.“ - -„Es kommt nicht auf die Schönheit an,“ sagte Frau Cimhuber schmerzlich. -„Diese Figur war mir nur deshalb lieb, weil sie ein Geschenk meines -Sohnes aus Afrika ist. Aber wie kommt gerade ihr darauf, sie -herunterzunehmen? Ihr möchtet doch gewiß auch nicht, daß wir euere -Sachen in euerer Abwesenheit anfassen und kaput machen.“ - -„Nein... nein,“ stotterten die Kinder, und Hans sagte kleinlaut: „Wir -wollten ihn nicht kaput machen. Und wir faßten ihn auch sonst nicht an, -aber...“ - -„Ich hab’ gemeint, er ist lebendig,“ fiel hier Suse weinend ein. -„Entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, ich fürcht’ mich so vor ihm. Und da -hat Hans gesagt: er ist nicht lebendig. Und da wollten wir sehen, ob er -lebendig ist. Und da war er gerade wie lebendig. Und ich habe ihn schon -ganz sicher mal gehört, wie er des Nachts vor meiner Tür gesessen ist -und leise geklopft hat und gesagt hat: Macht auf; seid ihr drin; ich -komme.“ - -„Aber Kind, du phantasierst,“ sagte die Pfarrfrau und sah Suse -erschreckt an. „Aber, Kind,“ begann sie dann wieder, „du mußt acht -geben auf alles, was du sagst. Sonst sagst du die Unwahrheit, und das -ist das Schlimmste, was ein Kind tun kann.“ - -Suse fuhr zusammen. Hans sah ängstlich auf und verteidigte seine -Schwester: „Suse träumt immer so. Und dann wacht sie auf und dann hat -sie gehört, wie jemand draußen war und dann hat sie gemeint, es ist der -Götze.“ - -Die Frau Pfarrer schien der Sache nicht recht zu trauen, denn sie -antwortete nichts, und die Unterhaltung verstummte ganz und gar. - -Die Kinder waren froh, als das Abendessen vorüber war und sie sich -entfernen konnten. - -In Suse stand der Entschluß zu fliehen fester denn je. Und als sie mit -ihrem Bruder allein war, begann sie: „Wir wollen fort, Hans. Nun willst -du doch auch, daß wir fortgehen. Wir machen ja doch alles verkehrt, -wenn wir uns auch noch so viele Mühe geben. Was nützt es, daß wir -noch hier bleiben. Noch kein einziges Mal ist Frau Cimhuber gut zu -uns gewesen und hat uns gelobt. Glaub’ mir, sie ist froh, wenn wir -wieder fort sind. Und dann lassen Ursel und sie sich eben andere Kinder -kommen, die viel artiger sind als wir. Und daheim sind sie froh, wenn -wir kommen.“ - -Und stockend fuhr Suse fort: „Und schlechte Zeugnisse bekommen wir -auch. Ich versteh’ immer noch nichts in der Schule, und daheim war ich -immer die erste.“ - -„Ich versteh’ jetzt schon mehr,“ sagte Hans schüchtern. - -Suse aber fuhr fort: „Du gehst aber doch mit mir fort? Gelt? Du bleibst -nicht hier? Wir gehen nach Hause. Ach laß uns doch nach Hause gehen.“ - -Der Bruder schüttelte sein Haupt und sagte standhaft wie ein -Erwachsener: „Nein, Suse, die Eltern haben gesagt, wir bleiben hier, -und jetzt bleiben wir hier.“ - -Allein das Unglück heftete sich an des Knaben Fersen, und ehe noch der -folgende Tag vorüber war, sollte sein Heldentum jäh in die Brüche gehen. - -Morgens früh ging er ganz zuversichtlich zur Schule. Der Aufenthalt -dort war ihm lange nicht so unangenehm, als der in Frau Cimhubers Haus, -wo alles ihn vorwurfsvoll ansah, heute selbst der Negergott, der mit -seinem geborstenen Haupt ein Bild des Schreckens bot. - -Die Schule dagegen war Hans lange nicht mehr so fremd wie in den ersten -Tagen seines Hierseins. Lehrer und Schüler waren ihm bekannter, der -ganze Unterricht vertrauter geworden. - -Heute nun brachte er es sogar fertig, in der ersten Hälfte des Morgens -ein paar gute Antworten zu geben und war ganz angetan von sich. - -So kam die letzte Stunde, eine Naturgeschichtsstunde, heran. -- Der -Lehrer wollte mit den Kindern in der Besprechung des Hausrindes -fortfahren, mit der er schon das letztemal begonnen hatte. - -Es würde sehr lustig und ulkig zugehen, meinten einige von Hansens -Mitschülern, die sitzen geblieben waren und deshalb vom letzten Jahre -her über alles genau Bescheid wußten. - -Herr Meyer werde nämlich einen Kuhmagen mitbringen, um ihn aufzublasen -und dessen Form deutlich zu zeigen. Bei diesem Beginnen pflege er -selbst so heftig mit anzuschwellen, daß die Klasse in lautes Lachen -ausbreche und nicht mehr zu halten sei. - -Fuchsteufelswild werde er darüber. - -Nun war die Pause vorüber und die Schüler suchten ihre Plätze auf. -Rechts und links von Hans saßen seine Nebenmänner schon, und zwar -auf der einen Seite sein Freund Peter, ein Knabe mit einem freien, -aufgeweckten Wesen. Hans und er waren gleich Freunde geworden, stammte -Peter doch auch aus den Bergen, und so hatten die beiden einander -gleich viel zu erzählen gehabt. -- Für Peters größtes Heiligtum, eine -Tierschädel- und Vogeleiersammlung, wollte Hans aus den nächsten Ferien -einige neue wertvolle Stücke mitbringen. - -Weniger freundschaftliche Beziehungen bestanden zwischen Hans und dem -Knaben an seiner andern Seite. Dieser, Kurt, war das gerade Gegenteil -von Peter, ein unaufrichtiger, verschlagener Junge, der aber trotzdem -einen großen Einfluß auf seine Mitschüler ausübte. Er hatte den -Fußballklub „Germania“ gegründet und schon eine große Anzahl Mitglieder -gewonnen. Auch Hans sollte diesem Verein beitreten, hatte es aber bis -jetzt noch abgelehnt, da ihn einstweilen in der Stadt noch viel anderes -Neues lockte. - -Gerade hatte der sporteifrige Kurt Hans wieder in ein Gespräch über -seinen Fußballklub verstrickt, da öffnete sich die Tür, und der -Lehrer, Herr Meyer, trat ein. Unter dem Arm trug er eine Pappschachtel -und einige Bücher. Der Lärm in der Klasse ließ nach. Ganz still wurde -es allerdings noch nicht. So recht in Respekt zu setzen wußte dieser -Lehrer sich nämlich nicht. - -Er ging nun auf das Pult zu und nahm dort Platz. Hinter ihm erhob sich -die weißgekalkte, mit Bildern Schillers und Uhlands geschmückte Wand. -Die Pappschachtel stellte er neben sich nieder. In der Klasse war noch -Flüstern, Klappern, sowie Schurren mit den Füßen zu hören. - -„Ruhe,“ rief der Lehrer, und die Stunde begann. - -„Welches ist das nützlichste Haustier des Menschen?“ leitete er seinen -Unterricht ein. - -„Das Hausrind,“ kam als Antwort zurück. - -Herr Meyer war mit dieser Erwiderung zufrieden und legte nun den -Kindern andere Fragen vor, die sie ebenfalls zu seiner Zufriedenheit -beantworteten. Dann reihte er gemeinsam mit ihnen das Tier in die -Klasse der Wiederkäuer, Pflanzenfresser und Huftiere ein, und mehrere -Male mußten die Knaben die Merkmale dieser Tiere wiederholen. - -Hans paßte gut auf, damit ihm kein Wort entgehe. Die Beschaffenheit -der Zunge, des Gebisses, der Hufe, der Muskulatur, alles war ihm klar. -Auch die Einteilung des Kuhmagens leuchtete ihm ein; Pansen, Netzmagen, -Blättermagen und Labmagen hießen die verschiedenen Abteilungen. - -Als der Lehrer mit seinen Erklärungen fertig war, griff er nach der -Pappschachtel. -- Die Kinder stießen einander an und sahen gespannt -nach dem Pult. Jetzt war der langersehnte, aufregendste Augenblick der -Stunde gekommen. Der Lehrer hob den Deckel der Schachtel auf und holte -ein lederfarbenes Hautgemengsel heraus, indem er sagte: „Nun wollen wir -uns einmal einen richtigen, echten Kuhmagen ansehen.“ Hierauf setzte -er eine Glasröhre in die Öffnung des Magens und begann zu pusten. -Die Knaben verwandten keinen Blick von ihrem Lehrer und seinem Tun. -Langsam schwoll der Magen an, eine Abteilung nach der andern, und in -dem Maße, als er an Umfang zunahm, schien auch des Oberlehrers Gestalt -anzuschwellen. Der Zwischenraum zwischen ihm und dem Pultdeckel wurde -immer geringer. Leise kicherten einige Knaben. Zürnend blickte der -Lehrer in die Klasse und wurde krebsrot im Gesicht. Aber sein Mund ließ -die Glasröhre nicht los. Da platzte einer der Knaben laut aus. Der -Oberlehrer ließ die Glasröhre in seiner Hand fahren, und der Kuhmagen -sank mit einem leise pfeifenden Ton in sich zusammen. Am lautesten -mußte Hans lachen. Das Unglück wollte ja immer, daß er da am lautesten -lachte, wo es am wenigsten angebracht war. - -Puterrot vor Zorn schlug der Lehrer auf das Pult, daß der Kuhmagen wie -ein lederner Tabaksbeutel in die Höhe flog und rief: „Wenn jetzt noch -einmal einer lacht, dann bekommt ihr alle Arrest. -- Verstanden? -- -Es ist doch seltsam, daß gerade die immer am meisten lachen, die am -wenigsten können,“ meinte er mit einem durchbohrenden Blick nach Hans -hin. - -Dieser wurde käsweiß. - -„Die Schule ist doch nicht dazu da, daß wir uns im Lachen und Schreien -üben,“ fuhr der Lehrer lauter fort. „Wenn wir das wollen, können wir -lieber in unseren Hinterwäldern bleiben und mit unseren Kühen auf die -Weide gehen.“ - -Hans spürte, wie seine Stirn eiskalt wurde. -- Der Lehrer meinte -natürlich ihn. Ja, er hätte daheim bleiben sollen in Schwarzenbrunn. - -Zitternd vor Ärger ergriff Herr Meyer jetzt den Kuhmagen zum zweitenmal -und pustete ihn auf. Nun bedurfte es nur noch einiger schwacher -Atemzüge, dann war dieser ganz und gar mit Luft gefüllt. - -Da geschah etwas Unerwartetes. - -Durch die Klasse schwirrte plötzlich eine Papierkugel und fiel mitten -auf des Lehrers Nase nieder. Sein Kopf fuhr auf, und die Glasröhre fiel -zur Erde. Es war totenstill in der Klasse. Dann sprang Herr Meyer in -die Höhe und fuhr die Knaben an: „Wer hat das getan?“ Keiner antwortete. - -Fest hefteten sich da die Augen des Lehrers auf Hans. -- Unsicher -flogen des kleinen Knaben Blicke durch die Klasse. -- War nicht seine -Hand wie von einem Wurf ermattet unter die Bank gesunken, als der -Lehrer aufgeblickt hatte? - -„Ich weiß genau, wer es getan hat,“ rief der Lehrer lauter als vorher. - -„Du, der Neue, da hinten in der Ecke, komm mal her! Wie heißt du doch -gleich?“ - -Mechanisch ging der Junge auf das Pult zu und sah den Lehrer -hilfesuchend und verstört an. - -„Gesteh mal, du hast’s getan,“ donnerte ihm dieser entgegen. - -Hans würgte an einer Antwort, aber sie kam nicht über seine Lippen. Der -Ausdruck seiner Augen wurde immer unglücklicher und hilfloser. - -„Antworte,“ rief der Lehrer. - -Er schwieg. - -„Ah, du bist auch noch trotzig,“ fuhr Herr Meyer ihn an. „Marsch, geh’ -wieder auf deinen Platz. Ich kenne dich, Bürschchen. Aber jetzt hab’ -ich keine Zeit für dich. Doch morgen früh wirst du mit mir zum Herrn -Direktor gehen.“ - -Hans konnte noch immer keinen Laut hervorbringen. Wie ein zum Tode -Verurteilter stand er da. Dann kehrte er langsam um, und als er an -seinem Platz angelangt war, warf er seinem Nebenmann Kurt einen langen, -verängstigten Blick zu. - -Zwischen diesem und Peter war ein hartnäckiger Streit ausgebrochen. -Hansens Freund angelte mit Armen und Beinen an Hans vorüber nach dem -Klubgründer hin, und als er ihn schließlich am Bein erwischt hatte, riß -er ihn mit einem Ruck fast von der Bank. Sein Mitschüler kehrte ihm ein -finsteres, verschlagenes Gesicht zu. - -Hans merkte nichts von alledem. Vor seinen Augen war es finster wie in -einem Sack. Die Worte des Lehrers klangen wie fernes Gemurmel an seinen -Ohren. Nichts ging ihm mehr ein, nur der eine Gedanke beherrschte ihn -ganz und gar, er wollte fort von hier, fort. Im Grunde hatte er ja -genau dasselbe Heimweh wie Suse. Bis jetzt hatte er es nur sorgsam -versteckt. -- Die Schwester hatte ja so recht, sie machten ja doch -alles verkehrt hier, sie konnten anfangen, was sie wollten. Und morgen -gar sollte er zum Direktor! Und gingen sie nicht von selbst, so -schickten ihre Lehrer sie schließlich fort. Drum sagte Hans, als er -heute nach Hause kam, zu seiner Schwester: „Suse, wir wollen heim.“ - -Die Schwester glaubte zuerst nicht recht gehört zu haben, dann aber -rief sie laut: „Nach Hause! Oh, wie schön! Oh, wie schön! Oh, wie freu’ -ich mich! Wie freu’ ich mich! Heim! Heim! Zu unseren Eltern!“ - -Der Bruder antwortete nichts, Suse aber handelte. -- Eine wichtige -Frage galt es in erster Linie zu erledigen. Woher sollten sie das -Reisegeld nehmen? -- Die drei Mark, die Suse noch hatte, und die paar -Groschen von Hans reichten lange nicht. Da kam ihr ein herrlicher -Gedanke. Sie hatten ja einen treuen Beschützer und Freund hier in der -Stadt, den Vetter Theobald. -- So böse und übermütig, wie der einst in -Susens Elternhaus gewesen, so fürsorglich war er jetzt. Erst gestern -hatte er ihnen beiden Schokolade aus einem Automaten geschenkt. Der -Vetter würde helfen! - -So schaute Suse denn gegen drei Uhr nachmittags fleißig nach -ihrem Vetter aus, da er täglich zu dieser Zeit auf seinem Weg zur -Schwimmanstalt an Frau Cimhubers Haus vorübergehen mußte. - -Auch heute tauchte er zur gewohnten Stunde auf, und Suse konnte -hinuntereilen und sich ihm anschließen. Lange Zeit fand sie nicht -den Mut zum rechten Wort und verfiel in Stillschweigen. Er aber -hielt ihr ehrfurchtsvolles Verstummen für eine Huldigung, die sie -seiner bedeutenden Persönlichkeit darbrachte, und erzählte in der -aufgeblasensten Weise von seinen Erlebnissen. - -Er könne all den Freunden und Belustigungen, die in dieser -interessanten Stadt auf ihn einstürmten, kaum Herr werden, meinte er -mit einem Seufzer. So gehe er heute abend mit seinem Onkel Fritz in -den Zirkus, um sich eine Vorstellung von Akrobaten und Kunstradfahrern -anzusehen. Es sei fabelhaft. Es sei unglaublich. Es sei überwältigend, -was diese Künstler leisteten. -- Auf dem Hinterrad ihrer Maschine -fahrend, würfen sie das Vorderrad in die Höhe, sausten in dieser -Stellung rund um den Zirkus, stellten sich mit dem Kopf auf den Sattel -und strampelten mit den Beinen. Forschend sah der Vetter in seiner -Cousine Gesicht und erwartete dort Bewunderung, Überraschung, Staunen. -Aber nichts dergleichen war zu sehen. - -Suse hing eigenen Gedanken nach. Und während er sie noch so -betrachtete, platzte sie mit einem Male los: „Du, Theobald, du möchtest -mir zwanzig Mark geben. Wir gehen morgen nach Hause.“ - -„Was?“ rief Theobald und sank auf einer Bank am Kanale nieder. Er -starrte Suse an wie von Sinnen. - -„Was?“ stotterte er. - -Und mit einemmal trampelte er mit den Füßen auf dem Boden, schlug sich -mit den Händen auf die Knie und fing so laut und heftig an zu lachen, -daß Suse meinte, er ersticke. Ganz blaurot war er im Gesicht und -zappelte auf der Bank herum wie ein Fisch, der auf das Trockene geraten -ist. Ja, in seinem Übermut wurde er wieder ganz der ausgelassene -Theobald, als den Suse ihn in ihrem Heimatsort kennen gelernt hatte, -lief auf seinen Händen wie ein Zirkuskünstler ein Stück durch die -Anlagen, kehrte dann um, sprang auf seine Füße, ließ sich wieder auf -die Bank plumpsen und dazu rief er: „Herrlich, herrlich! Ich möchte die -Spatzen auf den Dächern umarmen vor Freude. So was Schönes hab’ ich -lange nicht gehört. Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte. Und dabei habt -ihr immer so geprahlt mit eurer Negerstube und eurer Pflegedame und dem -Kirschenpudding, den sie euch macht, und dem dicken Apfelmus auf euren -Bröten. Und dabei habt ihr immer gesagt, Frau Cimhuber ist so fromm, -daß sie sicher in den Himmel kommt. Und jetzt wollt ihr fort von eurer -frommen Frau. Weiß sie’s denn schon, daß ihr geht?“ forschte er. - -Suse schüttelte ihr Haupt. - -Da lachte Theobald lauter denn je, schlug sich auf die Knie, warf sich -hinten über die Bank, konnte sich aber noch zur rechten Zeit an der -Lehne festhalten und daran emporziehen und trieb so lange Unfug, bis -Suse ihn am Ärmel packte und auf die Leute aufmerksam machte, die rund -herum standen und lachten. - -Da entsann er sich flugs seiner Würde als wohlerzogener Stadtmensch, -ließ sich gesittet auf der Bank nieder und forderte seine Base auf, -neben ihm Platz zu nehmen, damit sie alles besprächen. - -Dann begann er sein Verhör. „Also das Reisegeld willst du. Zwanzig Mark -stehen zu deiner Verfügung. Die hab’ ich letzte Woche von Onkel Fritz -zum Geburtstag bekommen. Aber Toni hat sie mir gestern abgebettelt für -ein Bild, das sie ihrer Freundin schenken will. -- - -Na, das ist ein Bild! Die Toteninsel heißt’s! Einfach schauderhaft! Die -Haare stehen mir zu Berge, wenn ich’s nur angucke. Ich versichere dich, -wenn man sich unterstände, mir ein solches Bild zu schenken, würd’ -ich’s als die größte Beleidigung auffassen und dem gütigen Geber die -Freundschaft für immer kündigen. -- - -Das Bild ist also schon gekauft und mein Geld ausgegeben. Aber beruhigt -euch. Ihr bekommt anderes. Ich lasse mir heute welches von Onkel Fritz -geben, wenn wir im Zirkus sind. Der läßt mich nicht in der Patsche. --- Bin ich morgen früh zur rechten Zeit nicht am Bahnhof, so nehmt -einstweilen von eurem Geld eine Karte bis Haslach. Dort müßt ihr -sowieso den Eilzug verlassen und eine neue Karte für den Bummelzug -nehmen. - -Den Reiseplan hast du dir natürlich noch nicht zurecht gelegt. Nicht -wahr?“ fuhr er mit gerunzelter Stirn fort. -- - -„Das kannst du auch nicht. Du hast ja keine Erfahrung im Reisen. Mit -mir ist das ganz was anderes.“ -- - -Dabei war der Prahlhans auch nicht viel weiter gekommen als nach -Hansens und Susens Heimatsort. Allein, nach dem Ton seiner Worte zu -urteilen, hatte er schon eine Weltreise gemacht. - -Jetzt holte er den Fahrplan aus der Tasche, blätterte sich räuspernd -drin herum und meinte, Suse Papier und Bleistift reichend: „Schreib’ -dir auf, was ich dir sage. Um fünf ein Viertel Uhr fahrt ihr hier -ab und nehmt den Eilzug bis Haslach. Drei Stationen von hier. Gut! -Merk’ dir’s! Drei Stationen von hier. Ihr zählt sie. Gut! Dort steigt -ihr um und fahrt bis zur Endstation Maria Heil. Merk’ dir’s! Gut. Du -frägst den Schaffner in Haslach, wo der Zug nach Maria Heil steht. -Gut. In Maria Heil steigt ihr aus und schlängelt euch in die dort -wartende Postkutsche. Merk’ dir’s! Schreib’ Postkutsche auf. In diese -Postkutsche kriecht ihr dann und fahrt nun, den Regenschirm und Koffer -fest in der Hand, in die Arme eurer hochbeglückten Eltern hinein. -Schreib’ ‚hochbeglückte Eltern‘ auf! Verstanden? Und bestellt Grüße von -mir. Gut!“ - -Jetzt zog Theobald seine Uhr und sagte in ernstem Ton: „Es ist höchste -Zeit, daß ich gehe, wenn ich noch schwimmen will. Drum leb’ wohl. -Tipp, topp, nur Mut, die Sache wird schon schief gehen,“ sagte er mit -kräftigem Händedruck. - -„Theobald,“ flüsterte sie mit einemmal, banger Ahnungen voll. „Du -verrätst doch nicht daheim, was wir anfangen wollen?“ - -Theobald tippte sich an die Stirn, zuckte die Achseln und murmelte: -„Man hat doch auch Charakter.“ Damit ging er von dannen. - -So war denn alles zur Flucht geordnet. Das Reisegeld war den Kindern -sicher, der Fluchtplan stand auf dem Papier, und die Sachen mußten -heute abend gepackt werden. - -Langsam ging Suse nach Hause und sagte zu ihrem Bruder: „Es ist alles -gut, Theobald gibt uns das Geld. Wir gehen.“ - -Der Bruder nickte. Je weiter aber der Nachmittag vorschritt, um so -beklommener ward es ihr zu Sinn. Die frohe Zuversicht, die sie heute -morgen angesichts der Entschlossenheit ihres Bruders beseligt hatte, -machte schweren Gedanken Platz. War es nicht falsch und schlecht -von ihr, Frau Cimhuber zu belügen und zu betrügen und zu tun, als -wäre nichts los, während man einen solch hinterlistigen Fluchtplan -anzettelte? Gewiß, es war böse und schlecht, aber Suse konnte nicht -anders. Sie mußte fortlaufen. Sie konnte keinen Tag länger hier -bleiben. Sie mußte fort, fort nach Hause! - -Dann während des Abendessens saß sie mit ängstlich klopfendem Herzen -der Pfarrfrau gegenüber wie ein Häschen, das den Jäger kommen hört. -Hans ging es nicht viel besser. Seine Augen flackerten unruhig hin und -her, und die von Ursel aufgetischten Quellkartoffeln würgten ihn im -Halse wie Hanfknäuel. - -Und als im Laufe der Tischsitzung die Pfarrfrau einige Augenblicke von -Ursel herausgerufen wurde und die Geschwister allein blieben, sahen sie -sich scheu um. - -„Ich meine grad’, ich ersticke,“ unterbrach Suse die Totenstille. - -Der Bruder nickte. - -„Hernach wollen wir unsere Sachen zurechtlegen,“ fuhr die Schwester -leiser fort, „und uns genau den Reiseplan ansehen. -- Hier, nimm den -Zettel! Du gibst doch besser drauf acht,“ meinte sie, indem sie in die -Tasche langte und nach dem bewußten Papierstreifen suchte. - -Aber plötzlich zog sie ihre Hand zitternd aus der Tasche zurück und -erklärte stockend: „Er ist fort, ich hab’ ihn verloren.“ - -„Verloren?“ sagte Hans, noch um einen Schatten blasser als bislang, -„hoffentlich hast du ihn nicht hier im Haus verloren und Ursel oder -Frau Cimhuber finden ihn.“ - -Und als die Pfarrfrau gleich darauf in das Zimmer zurückkehrte, sah er -sie so hilfeflehend und verstört an, daß sie ganz besorgt fragte: „Was -fehlt dir, mein Kind? Ist dir nicht wohl?“ - -Hans blieb stumm. - -„Hm, hm!“ meinte sie. „Ihr seid komische Kinder. Was euch fehlt, -erfährt man eigentlich nie. Hat es vielleicht was in der Schule -gegeben?“ - -Die beiden saßen verschüchtert da und antworteten nicht. - -Plötzlich begann die Pfarrfrau unvermittelt: „Eh’ ich’s vergesse, ich -muß euch noch etwas sagen. Nächste Woche seid ihr bei eurem Onkel -Gustav eingeladen. Er war heute nachmittag hier und läßt euch vielmals -grüßen. Es wird sicher ein fröhlicher Tag für euch werden.“ - -„Schade,“ stotterte Suse, „dann sind wir ja schon fort.“ - -„Was sagst du da, Kind?“ forschte die Pfarrfrau. - -Hans aber ließ vor Schreck die Gabel unter den Tisch fallen. - -„Du meinst, ihr seid nicht mehr hier an dem Tage?“ fuhr ihre -Pflegemutter fort. „Wo seid ihr denn sonst? Habt ihr einen Schulausflug -vor oder sonst eine Einladung? Die Einladung kann ja auf einen andern -Tag verlegt werden. Bei eurem Onkel werdet ihr sicher einen schönen -Nachmittag verleben. Er hat Kinder in eurem Alter, und mit denen könnt -ihr nach Herzenslust in dem großen Park an seinem Haus herumspringen.“ - -Suse hörte mit schmerzlichem Empfinden dieser verführerischen -Beschreibung zu und sagte etwas später nicht ohne Bedauern zu ihrem -Bruder: „Schade ist’s ja, daß wir nicht zu Onkel Gustav können. Nicht -wahr, Hans? Aber was meinst du, wenn er uns auch die wunderschönsten -Sachen schenkte, wir blieben doch nicht hier? Gelt, daheim ist’s viel -schöner, viel, viel schöner. Viel, viel tausendmal schöner.“ - -An dem Verschwörungsabende wurden die Kinder etwas früher als sonst zu -Bett geschickt, weil die Pfarrfrau sich um Hansens Befinden sorgte. -Aber gegen Mitternacht, als die Lichter im Cimhuberschen Hause gelöscht -waren und nichts mehr sich regte, standen die beiden Übeltäter wieder -heimlich von ihrem Lager auf, packten ihre Sachen und probierten an, -wieviel Leibwäsche sie nach Susens berühmtem Rezept übereinander -anziehen konnten. -- - -Vier Hosen, vier Hemden, das ging ganz fein. -- Den Rest steckten sie -in die Hirschtasche, eine gestickte Reisetasche aus Großmutters Zeiten, -auf der ein brauner Hirschkopf, von einem Eichenkranz umrahmt, prangte. -Auch eine Pappschachtel mußte noch einige Kleidungsstücke aufnehmen. - -Und während der Vorbereitungen sah Suse sich bereits im Geist mit all -diesen Herrlichkeiten durch die Pforte ihres Vaterhauses schreiten, -befreit von aller Not und Qual. Nur der Gedanke an den fehlenden Zettel -flößte ihr zuweilen Besorgnis ein. Je weiter die Stunde vorschritt, je -unsicherer wurde sie. - -„Ich kann nicht schlafen vor Angst,“ meinte sie zu ihrem Bruder. „Am -Ende haben sie den Zettel gefunden und erwischen uns morgen früh.“ - -Jetzt war der Bruder der Mutige und entgegnete: „Ach, Suse, wenn sie -ihn gefunden hätten, wüßten wir es jetzt schon...“ - -Derweil saß die zahnwehkranke Ursel stöhnend auf der Kante ihres Bettes -und buchstabierte an einem kleinen Zettel herum, den sie vorhin am -Eingang der Negerstube gefunden hatte. - -„Ab fünf ein Viertel Uhr,“ stand darauf, „Eilzug Haslach, Schaffner, -Maria Heil.“ -- Lauter krauses Zeug. - -Schließlich ließ ihr’s keine Ruhe mehr, und sie schlich vor die Kammer -der beiden Kinder, um zu lauschen. -- Hinter der Tür regte sich etwas. -Sie stutzte und horchte angestrengter. -- Ja, so war’s, Kisten und -Stühle wurden gerückt. Es flüsterte. - -Fester drückte sie ihr Ohr gegen die Tür. -- Doch nun war’s totenstill. -Eine ganze Weile blieb sie stehen. Jetzt, jetzt regte sich’s wieder. - -Da fuhr aber Ursel ein solch heftiger Schmerz in ihren hohlen Zahn, daß -sie sich mit beiden Händen an den Kopf fuhr und mit schmerzverzerrtem -Gesicht davonschwankte. - -Am andern Morgen um drei Viertel auf fünf ging leise die Tür von -Frau Cimhubers Wohnung, und zwei Kinder mit blassen, übernächtigen -Gesichtern traten ins Treppenhaus. - -Es waren Hans und Suse, die durch die Menge der übereinander gezogenen -Kleidungsstücke kugelrund aussahen. Vorsichtig schlossen sie die -Flurtür hinter sich und gingen auf Zehenspitzen die ausgetretenen -Stiegen der Treppe hinunter. Ein graues, unfreundliches Licht erhellte -nur matt ihren Weg. Alles war totenstill. Das Haus schlief noch. Öfters -blieben sie stehen und horchten. Doch als nichts sich regte, gingen sie -weiter. - -Im zweiten Stock wurde Suse die Hirschtasche zu schwer, und der Bruder -half ihr beim Tragen. Dann kehrte er zurück, um sein eigenes Gepäck -nachzuholen. - -Gerade als er die unterste Stufe der Treppe wieder erreicht hatte -und das Haus verlassen wollte, hörte er plötzlich im Treppenhaus ein -Geräusch. Ihm war es, als sei irgendwo eine Tür gegangen, und als stehe -nun jemand oben vor Frau Cimhubers Wohnung und lausche mit angehaltenem -Atem über das Treppengeländer. - -Ganz kalt überlief’s ihn, und er schloß schnell die Tür. In der Ferne -erblickte er Suse. Sie schritt mit großen Schritten rüstig aus, während -ihre rechte Schulter sich unter der Last der Hirschtasche senkte. Der -Bruder wollte ihr folgen, hörte aber plötzlich hoch über sich seinen -Namen rufen. Er blickte am Haus hinauf und gewahrte in schwindelnder -Höhe ein mit Tüchern umwickeltes Haupt. -- Ursel? - -„Hans,“ rief sie, „Hans, Hans, Hans!“ - -Da schrie er auf und rannte wie besessen davon. - -„Sie kommt, sie kommt,“ rief er. - -Suse stürzte vorwärts, als sei ihr der Tod auf den Fersen. Bald -erlahmten ihre Kräfte, und Hans nahm ihr die Hirschtasche ab, um sie in -seinen Armen zur Elektrischen zu tragen. Klingelnd fuhr diese mit den -beiden Flüchtlingen davon. - -Als die zwei verzweifelten Ausreißer schließlich am Bahnhof ankamen, -war natürlich von dem tüchtigen Theobald weit und breit keine Spur zu -entdecken. - -„Er hat die Zeit verschlafen,“ stöhnte Suse. - -„Nein, er kommt,“ sagte Hans bestimmt, „er hat’s versprochen, und was -er versprochen hat, hält er.“ - -Damit ging der kleine Junge geradeswegs auf die Bahnhofshalle zu, -während Suse wie ein aufgescheuchtes Hühnchen hinterdreinflatterte. Am -Schalter löste er die Karten zu Reise und kehrte dann zum Eingang der -Bahnhofshalle zurück, um nach dem Vetter auszusehen. - -Endlich sah er am Ende der Straße einen Radfahrer auftauchen und -schaute näher hin. Ja, es war Theobald. Auf der Lenkstange seines Rades -liegend, kam er wie eine Windsbraut seines Wegs. Jetzt sprang er ab. - -„Ursel kommt!“ rief er. „Wie ein tollgewordener Mops macht sie Sätze. --- Es ist haarsträubend, wie sie die Ecken nimmt! Kommt, kommt. Sie hat -die Faust nach mir geschüttelt.“ - -Im Nu hatte er eine Bahnsteigkarte gelöst, sein Rad einem Gepäckträger -gegeben, die Hirschtasche auf seinen Rücken geworfen, die Pappschachtel -in die Hand genommen und stürzte mit den Kindern durch die Sperre. - -Susens Knie waren wie gebrochen, die Stimme versagte ihr. - -Jetzt waren sie auf dem Bahnsteig. Die letzte Tür des dort haltenden -Zuges war schon geschlossen. Der Beamte wollte eben das Zeichen zur -Abfahrt geben, da riß Theobald noch im letzten Augenblick ein Coupé -auf, drängte die Doktorskinder hinein und schubste ihre Hirschtasche -hinterdrein, so daß der „Engel“ und die „Geburt Christi“ gegeneinander -stießen. - -Die Tür wurde wieder zugeschlagen, und der Zug fuhr davon. In ein paar -Sekunden mußte er aus der halle sein. Da beugte sich plötzlich Suse -weit aus dem Fenster und rief in Todesangst: „Theobald, unser Geld, -unser Reisegeld! Gib doch, gib doch! -- Das Zwanzigmarkstück!“ - -Der Vetter schlug sich vor die Stirn. - -Im Nu war er an ihrer Seite und wühlte verzweifelt in seiner -Westentasche. - -„Hier, hier,“ rief er, und ein blitzender Gegenstand fuhr surrend durch -die Luft und traf wohlgezielt ins Coupé. -- Die Kinder hatten ihr -Reisegeld. Da fuhr auch der Zug schon aus der Halle. - -Suse war wie erlöst. In ihrer Freude umarmte sie ihren Bruder und -jubelte: „Jetzt ist alles gut.“ - -Doch Hans wehrte: „Erst das Geld, Suse, ich will’s in meine Tasche tun.“ - -Und er eilte auf die Ecke zu, wo die Münze niedergefallen war. Blitzend -lag sie auf der Bank. Er griff danach, fuhr aber jäh zurück wie vor -einer zischenden Schlange. - -Dort lag..., dort lag... - -Er verfärbte sich. Alles drehte sich um ihn. Er rieb sich die Augen. --- Nein, es war kein Irrtum. Dort in der Ecke lag kein Geld, sondern -ein dicker, blinkender Messingknopf. -- Ein abgerissener Hosenknopf von -Theobald. -- Nichts anderes. Das war also alles, was er ihnen gespendet -hatte. Deshalb war er wie ein Verrückter neben dem Zug hergesprungen, -um ihnen einen Hosenknopf hinterherzuwerfen! - -„Suse, Suse,“ stotterte Hans „Komm her, guck, was da liegt.“ - -Sie kam zögernd näher, schaute hin und wurde weiß wie Kreide. - -Dieser Hosenknopf von Theobald war also alles, was sie hatten! Ihre -ganze Barschaft! Damit sollten sie sich Karten für die Reise kaufen und -außerdem Plätze in der Postkutsche bezahlen! -- Laut weinend setzte sie -sich vor dem lügnerischen Knopf nieder und starrte ihn angstverzerrt -an. -- Den sollten sie dem Schalterbeamten in die Hand drücken! -- Der -würde gucken! - -Hans sah wie verhext in derselben Richtung, griff nach dem Knopf und -schleuderte ihn aus dem Fenster. - -Jetzt wußte auch er nicht mehr aus noch ein und saß wie vernichtet auf -seinem Platz. Der Schwester Schmerz brachte ihn schließlich wieder zur -Besinnung. Er versuchte, ihr die Hände von den verweinten Augen zu -ziehen und tröstete: „Weine nicht, Suse, weine nicht. Sei still, Suse, -sei still, laß uns mal bedenken, was wir jetzt tun.“ - -Aber ach, er selbst konnte seine bitteren Tränen nicht mehr -zurückdrängen. - -Auf der dritten Station, in Haslach, stiegen die Kinder aus und blieben -eine Weile unschlüssig auf dem Bahnsteig stehen. Dann gingen sie auf -den Wartesaal zu. Schüchtern drückten sie sich zur Tür herein und -suchten nach einem freien Platz. Vom Schenktisch her verbreitete sich -der verlockende Duft warmen Kaffees und gemahnte sie daran, daß sie -heute morgen noch nichts genossen hatten. Aber was bedeuteten Hunger -und Durst im Vergleich zu der Angst, die sie empfanden! -- - -Wohin sollten sie sich nun eigentlich wenden? Zur Stadt zurück? -- -Sie hatten ja kein Geld mehr, selbst nicht für eine Fahrkarte vierter -Klasse. Und zu Fuß zurückzuwandern, das war ihnen unmöglich. Dazu war -der Weg ja viel zu weit. - -Da kam Hans mit einemmal ein rettender Gedanke. - -Wenn sie dem Schalterbeamten irgendein Geschenk machten? -- Vielleicht -die „Geburt Christi“ von Martin oder den Engel von Christine oder sonst -irgend etwas Schönes. -- Am Ende gäbe er ihnen dann eine Fahrkarte. - -Die Schwester horchte auf, dachte nach; ihre Augen wurden heller, und -da rief sie auch schon ganz freudig: „Du hast recht und du sollst mal -sehen, der gibt uns gleich so viele Karten als wir wollen. Der freut -sich!“ - -Und das kleine Mädchen, das eben noch ganz verzweifelt gewesen war, -wiegte sich schon wieder in den schönsten Hoffnungen. Ja, dank ihrer -üppigen Phantasie hörte sie bereits den Beamten am Schalter, diese -Seele von einem Menschen, sagen: „Fein, daß man euch mal sieht, her mal -mit euren wunderschönen Sachen. Wieviel Karten wollt ihr dafür? Auf -eine Fahrkarte mehr oder weniger kommt’s mir nicht an!“ - -Hans, der schwerfälliger veranlagt war als seine Schwester, meinte -beklommen: „Man weiß es nicht, ob er sich freut; vielleicht freut er -sich nicht.“ - -Doch Suse hörte und sah nicht mehr und suchte mit beiden Händen -verzweifelt in der geöffneten Hirschtasche nach ihren Schätzen. Auf -dem Grunde mußten sie liegen. Eine ganze Schicht Kleider, Strümpfe, -Schuhe, Bänder hatte sie schon vorsichtig auf die Bank niedergelegt. Da -stieß sie endlich auf die Geburt Christi und den Engel. Und mit großer -Befriedigung legte sie die Sachen auf den Stapel Kleider neben sich -nieder und schickte sich an, den Grund der Hirschtasche zu ordnen. - -„Schnell, schnell,“ drängte da Hans, „die Leute gucken.“ Und dabei warf -er ängstliche Blicke auf die Menschen rund herum, die an Tischen saßen, -Kaffee tranken und die Kinder aufmerksamen Blickes beobachteten. - -Aber am verdächtigsten kam Hans doch ein Beamter vor, der von Zeit zu -Zeit die Züge abrief und jedesmal neugieriger auf sie zu werden schien. - -Eben war er sogar eine ganze Weile an der Tür stehen geblieben und -hatte die beiden kopfschüttelnd gemustert. - -Da wurde des kleinen Jungen Aufmerksamkeit jäh abgelenkt. - -Er stieß Suse an, und auch sie schaute auf. - -Durch die Tür des Wartesaals, nicht weit von den Kindern, drängte sich -mit einemmal eine aufgeregte Reisegesellschaft: eine dicke Frau mit -einem kleinen Knirps auf dem Arm und zwei größeren Kindern an ihren -Rockschößen. Der Hut der Frau war verschoben, und ihr Jüngstes griff -mit beiden Händen danach und machte den Schaden nur noch größer. - -Und nun stolperte gar noch ihr Ältestes, ein rechter Guckindieluft von -einem kleinen Mädchen, über einen Stuhl und brachte die Mutter ins -Wanken. Und diese packte in ihrem Zorn den Zopf des niedergleitenden -Töchterleins und schüttelte daran, als wollte sie Sturm läuten. - -Dann sah sie sich tief aufatmend nach einem freien Platz um, entdeckte -die Ecke, wo Hans und Suse sich aufhielten und kam pustend heran. Die -Geschwister waren so verblüfft von ihrem Anblick, daß sie es ohne ein -Glied zu rühren, geschehen ließen, wie sich die Frau, ohne sich lang -umzusehen, mit einem Seufzer der Erleichterung mitten auf ihren Sachen -niederließ und die Füße von sich streckte. Da saß sie nun auf dem Engel -und der Geburt Christi, auf Strümpfen und Wäschestücken, als müßte es -so sein. -- Suse streckte abwehrend die Hände nach ihr aus, als es -leider zu spät war. Sie fühlte sich anscheinend ganz wohl. Und zu allem -Elend fielen nun ihre Kinder über die am Boden liegenden Habseligkeiten -der Geschwister her und wühlten darin herum. - -Suse traten die Tränen in die Augen; sie hob schnell alles auf und trat -dann vor die Frau hin, um sie zu bitten: „Unsere Sachen sind unter -Ihnen. Möchten Sie nicht, bitte, aufstehen? Die Geburt Christi und der -Engel sind auch unter Ihnen. Sie zerdrücken sie ja!“ - -„Was ist unter mir?“ rief die Frau kirschrot vor Zorn. „Was zerdrücke -ich? Was hast du da gesagt? -- Wollt ihr mich vielleicht zum besten -haben? Kommt mir nur! Da kommt ihr gerade an die Rechte.“ - -Die Geschwister wichen weit zurück vor Schrecken. Und Suse mußte mit -einemmal an Frau Cimhuber und Ursel denken. Ach, wenn doch nur Ursel -da wäre. Ursel mit dem entrüsteten Auge, das einsam und zornig aus -seinen Wolltüchern hervorleuchtete. Die würde helfen. Suse fühlte es -mit einemmal ganz bestimmt. Die würde die Frau sofort am Arm packen und -aufstehen heißen. Sie konnte es ja nicht leiden, daß irgend jemandem -Unrecht geschah. Gestern hatte sie auf der Straße einen wildfremden -Mann angefahren, weil er seinen eigenen Hund geschlagen hatte. - -Wenn doch nur Ursel da wäre! - -Zum Glück für die Kinder bekam ihre Feindin aber doch ein Einsehen. -Vielleicht wurde ihr auch das beschwerliche Sitzen auf der Bank mit der -Zeit unbequem. Denn sie begann langsam einen Gegenstand nach dem andern -unter sich hervorzuziehen, wobei sie blitzenden Auges rief: ob sich -die hohen Herrschaften vielleicht einbildeten, die Bänke seien für sie -allein da. Und ob sie glaubten, andere Leute wollten nicht auch leben -und sich irgend wohin setzen. Ja, ob sie das glaubten? Und ob sie das -nächstemal nicht noch ihr ganzes Bett mitbringen und zur Freude anderer -Leute hier ausbreiten wollten? - -Immer größer wurde nun die Verwirrung in der Ecke, wo Hans und -Suse sich aufhielten. Denn das Töchterlein der zornigen Frau, der -Guckindieluft, hatte sich zu seiner Zerstreuung ein Paar Halbstrümpfe -von Hans als Handschuhe angezogen, eine Schürze von Suse als Krawatte -umgebunden und tänzelte nun, Gesichter schneidend, vor der Bank auf und -nieder. - -Eh’ sich das Kind aber versah, war die Mutter aufgesprungen, hatte ihm -die Schürze abgebunden und eilte damit hinter dem Töchterlein her, als -wär’s eine lästige Fliege, die durch ein paar kräftige Schläge aus der -Welt zu schaffen sei. Schließlich erwischte sie den Tunichtgut und -setzte ihn mit großem Nachdruck neben sich nieder. Das Kind sah sich -verwundert um. - -Die Frau aber verkündete mit weithinschallender Stimme, daß sie -niemals, niemals wieder in ihrem ganzen Leben mit ihren ungezogenen -Rangen auf Reisen gehe. - -Die Umsitzenden lachten. - -Und nun kam auch noch der Kellner herbei und schalt auf Hans und Suse, -die die Unordnung angerichtet hätten. Die beiden steckten hastig ihre -Sachen kunterbunt durcheinander in die Hirschtasche zurück. Dann -schlichen sie zur Tür hinaus in die Bahnhofshalle. - -„Faß nur schnell in die Tasche herein und hol’ die Geburt Christi -heraus, so schnell wie du kannst,“ sagte Suse. - -Da fuhr der Knabe mit beiden Händen in die Tasche und zog als erstes -den bewußten Gegenstand hervor. - -„Schön,“ sagte Suse wie erlöst. „Jetzt gehst du hin und nimmst zwei -Karten für Maria Heil. Die Postkutsche ist zwar schon fort, wenn wir -hinkommen, aber dann gehen wir eben zu Fuß nach Hause. Ich fürchte mich -heute nicht, auch wenn wir im Wald allein sind. Und wenn wir an der -Wolfsschlucht vorüberkommen, wo des Nachts in der großen Eiche immer so -gräßliche Stimmen schreien, da beten wir und dann hilft uns der liebe -Gott. -- Aber hopp, Hans, hol’ die Karten, ich warte hier,“ mahnte sie. - -Noch einer geraumen Zeit bedurfte es, eh sich der Bruder zu dem -schweren Gang entschließen konnte. Dann schritt er zögernd vorwärts. -Suse beobachtete ihn aus der Ferne von der Mitte der Bahnhofshalle aus. - -Sie sah, wie er wartete, bis nur wenige Menschen noch in der Nähe des -Schalters waren, und dann herantrat. Jetzt drückte er sich von rechts -an das Fenster, jetzt blieb er stehen, jetzt sah er auf die Gegenstände -in seinem Arm und redete ein paar Worte. - -Da fuhr pfeilschnell ein glühendrotes, dickes Gesicht hinter dem -Schalterfenster hervor, und eine donnernde Lachsalve tönte Hans aus -zwei geblähten Wangen entgegen. - -Und in demselben Augenblick erklang auch hinter dem Knaben Lachen, und -als er herumfuhr, sah er in das Gesicht des Bahndieners, der ihn schon -vorhin im Wartesaal beobachtet hatte und ihm jetzt hierher gefolgt war. - -„Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte,“ rief der Mann, packte Hans am Arm -und zog ihn aus dem schmalen Gang, in dem er sich zwischen Schalter und -dem davorstehenden eisernen Gepäcktische befand, hervor. - -Kaum sah Suse dies von der Mitte der Bahnhofshalle aus, wo sie mit -ihrer Hirschtasche Wache stand, so kam sie herangestürmt wie eine -Glucke, deren Küchlein in Gefahr sind, faßte ihren Bruder an der Hand -und sagte ängstlichen Blickes auf den Angreifer: „Das ist mein Bruder -Hans. Ich bin seine Schwester Suse.“ - -„So, so,“ sagte der Mann. „Also zwei Ausreißer.“ - -Beide nickten schuldbewußt und Suse stotterte: „Wir sind von Frau -Cimhuber und von Ursel fort und wollen nach Hause nach Schwarzenbrunn. -Die Postkutsche ist wohl schon fort. Wir haben den Zug auch schon -verfehlt.“ - -„Also man weiß nicht, daß ihr fort seid?“ fragte der Mann. Sie -schüttelten ihre Köpfe und standen mit niedergeschlagenen Augen da. - -„Und Geld habt ihr auch keins?“ forschte er. - -Sie verneinten. - -„Nun, dann kommt mal mit. Nun wollen wir mal sehen, was mit euch beiden -anzufangen ist,“ sagte er dann mit solch dröhnender Stimme, daß beide -zusammenfuhren. Und zu gleicher Zeit packte er sie an der Hand und zog -sie mit sich. Sie glaubten, ihr letztes Stündlein sei gekommen und -bekamen vor Angst ganz verzerrte Gesichter. - -Vor einem Raum, auf dessen Tür in roten Buchstaben „Stationsvorsteher“ -zu lesen war, blieb er endlich mit ihnen stehen, öffnete und ließ sie -eintreten. - -In der großen Amtsstube, in die sie nun kamen, saßen und standen Beamte -herum, schrieben und ordneten Papiere oder redeten miteinander. Und -alle sahen auf und musterten die Flüchtlinge. - -Einer trat sogar näher, stellte sich vor sie hin und betrachtete bald -den einen, bald den andern wie ein Meerwunder. Suse fühlte, wie der -Boden unter ihr schwankte und wie ihr ganz schwarz vor den Augen -wurde. -- - -Wie aus der Ferne hörte sie eine Stimme reden und sah einen großen Mann -mit einem langen Bart wie in Dunst gehüllt vor sich stehen. -- Die -Tränen liefen ihr über das Gesicht. -- Und an ihrer Seite stotterte -Hans allerlei dummes Zeug, das kein Mensch verstehen konnte, auch sie -nicht. - -Da, als die Not am höchsten gestiegen war, nahte unversehens Rettung -aus der Stadt. -- -- -- - -Dort hatten sich inzwischen auch die aufregendsten Szenen abgespielt. -Sie begannen fast mit dem Augenblick, als Hansens und Susens Zug die -Halle verließ. - -Da atmete Theobald erleichtert auf. - -Das erhebende Gefühl, sich wieder einmal durch seine Tatkraft und sein -forsches Eingreifen ausgezeichnet zu haben, beherrschte ihn ganz. Er -ahnte ja nicht, der vortreffliche Held, was er eigentlich angerichtet, -und was er im wohlgezielten Wurf hinter seinen kleinen Verwandten -hergeschickt hatte. Ihm schien alles über die Maßen gut gelungen, eine -fein eingefädelte, vortrefflich weitergeführte Sache. Toll genug war’s -freilich zugegangen. - -Nun galt es aber, sich endlich mal wieder ein menschliches Ansehen zu -verleihen. Schnell nahm er einen kleinen Spiegel zur Hand, betrachtete -sich, rückte seinen Kragen und Schlips zurecht und strich sich das Haar -glatt. Noch war er mit dieser Beschäftigung nicht zu Ende, da rief -jemand neben ihm: „Theobald, sind sie schon fort?“ - -Und an seiner Seite stand Toni, die atemlos hinter ihm dreingekommen -war. -- Er nickte. -- - -„Die Armen, die Armen,“ jammerte der Backfisch. „Sie haben ja nichts zu -essen. Ich habe ihnen Schokolade mitgebracht.“ - -„Zu spät,“ erklärte der Bruder kurz, „du hättest dich mehr beeilen -müssen, ich hab’ dich ja früh genug geweckt. Jetzt sind sie fort und -bleiben fort. Ich jedenfalls habe meine Pflicht getan.“ - -In diesem Augenblick lief aus derselben Richtung, in der Hans und -Suse verschwunden waren, ein Zug ein. Die Reisenden stiegen aus und -gingen auf die Sperre zu. Theobald und Toni mischten sich unter sie. -Theobald suchte in der Westentasche nach seiner Karte. Plötzlich fuhr -er zusammen, umklammerte seiner Schwester Arm wie mit eisernen Klammern -und stöhnte: „Hier, hier, schau her! -- Das ist das Zwanzigmarkstück, -das ich Hans und Suse geben wollte, hier, hier -- schau, schau -- -begreifst du’s, faßt du’s, weißt du, was das heißt? -- Geht dir eine -Stallaterne auf? -- Guck doch nicht so dumm. Mein Gott, was hab’ ich -ihnen denn eigentlich in den Zug geworfen?“ stöhnte er. - -Dann faßte er sich an die Stirn und taumelte. - -„Jetzt weiß ich’s,“ entrang es sich seiner Brust. -- „Einen Hosenknopf! -Den hab’ ich mir gestern abgerissen. Den haben sie jetzt. Das ist ja -einfach schauerlich! Den können sie jetzt betrachten und an die Lippen -drücken und sich Karten davon kaufen und damit nach Hause fahren! -- -Oh, ich Mondkalb!“ - -Er griff sich mit beiden Händen verzweifelt an den Kopf. Toni zitterte -wie Espenlaub und murmelte: „Sie sind verloren, und wir sind an ihrem -Unglück mit schuld. Wir hätten sie warnen sollen. Theobald, du bist -gewissermaßen ihr Verderber.“ - -Theobald vernahm kein Wort von ihrem Klagen und stand noch immer da wie -versteinert. - -Die Doktorskinder waren fort mit einem Hosenknopf auf die Reise, -das war alles, was er denken konnte, sonst nichts. -- Und das hatte -er verschuldet, er -- er. Wie zu einem Retter hatten sie zu ihm -aufgesehen, und er hatte sich wie ein Rüpel benommen. - -Lange sollte Theobald aber nicht in stummer Selbstanklage verharren; -denn wie der Sturmwind kam mit einemmal Ursel durch die Sperre, sah -sich um, erblickte den Tunichtgut, packte ihn am Arm und schüttelte ihn -hin und her wie eine Medizinflasche. - -„Sind sie drin?“ rief sie dabei, „sind sie drin? Antworte doch, Esel!“ - -Und mit ausgestreckter Hand wies sie auf den wartenden Zug. - -Aber Theobald sah sie blöde an. Alle seine geistigen Fähigkeiten -schienen ihn verlassen zu haben; und auch Toni stand wie eine -Nachtwandlerin da und krampfte vor Schreck die Hände zusammen. - -Da rannte Ursel stracks auf den Zug zu, öffnete schnell eine Tür und -verschwand im Innern des Wagens. Noch hatte sie sich nicht vollständig -auf die Bank niedergelassen, da fuhr der Zug auch schon davon. - -„Lieber, lieber Gott,“ rief Toni, „sie sitzt ja drin, sie fährt ja in -der verkehrten Richtung! Ruf sie, Theobald, ruf sie!“ - -„Was soll ich tun?“ rief Theobald entrüstet. „Hast du eine Ahnung, wie -die mich am Arm gepackt und gekniffen hat, diese Riesenschere, diese -Kneifzange, diese wilde Habichtsnase mit ihren Wolltüchern! Außerdem -hab’ ich jetzt Wichtigeres zu tun, als sie zurückzuholen. Ich renne -jetzt zu Onkel Fritz und wecke ihn auf. Er muß hinter Hans und Suse -herfahren und ihnen Geld zur Weiterreise bringen. -- In dreiviertel -Stunden geht der Bummelzug. Ich würde selbst hinfahren, aber wenn wir -zur Aufstehenszeit nicht daheim sind, geht’s uns übel. Dann entdecken’s -der Vater und die Mutter.“ - -[Illustration] - -„Nein, nein,“ rief Toni, „weiterfahren dürfen Hans und Suse auf keinen -Fall. Ursel hat uns gesehen. Und wenn’s rauskommt, daß die Kinder -durch unsere Hilfe fortgekommen sind, dann ist für uns alles aus. -- -Der Vater hat schon gesagt, noch eine Dummheit von mir, und ich komme -überhaupt nicht mehr ins Theater. Und ohne künstlerische Genüsse kann -ich nicht leben.“ - -„Fahr’ nur lieber gleich in den Himmel,“ sagte der Bruder kaltblütig. --- „Was mich aber anbetrifft, so geh ich jetzt zu Onkel Fritz, und -damit basta.“ - -„Und ich, wohin geh ich?“ jammerte Toni, „sag, Theobald, wohin soll -ich gehen? -- Aha, ich weiß es,“ rief sie freudig, „ich gehe zu -Fräulein Hirt und bitte sie auf den Knien, daß sie Hans und Suse wieder -zurückholt. Die ist ja immer unsere Zuflucht. Die weiß Rat. Die verläßt -uns nie.“ -- - -Mit diesen Worten stoben die Kinder durch die Halle und fuhren in -entgegengesetzter Richtung auf ihren Rädern davon. - -An einem der hohen Häuser in der Hauptstraße der Stadt klingelte -Theobald, um bei seinem Ideal, dem Onkel Fritz, dem Geber seiner -meisten Geschenke, Einlaß zu begehren. Eine alte Haushälterin, die -Katherin, machte ihm verschlafen auf und fragte ungehalten nach seinem -Begehr. - -Als sie erfahren hatte, was ihn herführte, riet sie ihm, doch zu einer -passenderen Zeit wiederzukommen und nicht, wenn der Mond noch am Himmel -stehe. - -Doch mit einer höflichen Verbeugung schob er die alte Frau zur Seite -und ging stracks auf das Schlafzimmer seines Onkels zu, der friedlich -schlummernd in weichen Kissen lag und von den schönsten Träumen -heimgesucht wurde. - -„Onkel Fritz, Onkel Fritz!“ rief der Knabe und schüttelte aus -Leibeskräften an ihm. Lange rührte sich der Schläfer nicht. Dann aber -fragte er verschlafen: „Was in aller Welt willst du denn schon hier, du -mein tägliches Brot? Noch nicht einmal im Bett ist man sicher vor dir. -Was ist denn jetzt schon wieder mal los? Verdufte, oder ich setze dich -vor die Tür.“ - -Aber fester schüttelte der Neffe an seinem Onkel und mahnte: „Du mußt -sofort aufstehen und hinter Hans und Suse herfahren.“ - -„Was soll ich tun?“ fragte der Onkel und richtete sich kerzengerade im -Bett auf. „Wachst du, oder träumst du? Hinter wem soll ich herfahren?“ - -„Hinter Hans und Suse,“ sagte der Neffe kaltblütig und erzählte alles, -was sich zugetragen hatte. - -Da brach der Onkel in ein schallendes Gelächter aus. Besonders die -Vorstellung erschien ihm köstlich, daß Ursel in verkehrter Richtung -davon gefahren sei, und zwar mit Nüstern, die vor Wut ärger gedampft -hätten als der Lokomotivenschlot, wie sein Neffe beteuerte. - -Der aber blieb heute bei seines Onkels Heiterkeitsausbrüchen eisig kühl -und mahnte nur immer wieder: „Du mußt hinterherfahren, Onkel, du mußt -es tun. Denk doch daran, wenn ihnen was passiert! Und es passiert ihnen -sicher was. Sie sind ja einfach wie die Wickelkinder so dumm.“ - -Da erklärte sich schließlich der Onkel unter Stöhnen und Schelten -bereit, die Fahrt anzutreten. So nebenbei frug er dann, ob es sein -Neffe nicht für angebracht hielte, daß er in jeder Westentasche zwei -Gummilutscher und zwei Milchfläschchen mitnehme. Überhaupt beabsichtige -er, nächstens einen Kindergarten zu eröffnen. - -Doch Theobald hatte für seines Onkels Geistesblitze heute nur ein -mitleidiges Achselzucken und half ihm in die Kleider, damit der -Abmarsch möglichst bald vor sich gehe. Zum Dank hierfür ließ der -Onkel ein paar Tropfen Kölnischen Wassers auf den Neffen herabregnen. -Den gleichen Wohlgeruch verbreitend, verließen dann die beiden guten -Freunde das Haus. Als sie am Bahnhof ankamen, war der Zug schon fort. - -Toni hatte inzwischen mehr Glück mit ihrem Bittgang gehabt. Sie war zu -Fräulein Hirt gelaufen. Das war Tonis und ihrer Schwestern angebetete -Klavierlehrerin, zu der sie in jeder Bedrängnis ihre Zuflucht nahm. -Schon seit Jahren verband sie innige Freundschaft mit dieser gütigen -Dame, in deren stillem, traulichem Zimmer sich’s so herrlich ausruhen -ließ, nachdem man allerlei Torheiten angestellt hatte. Man fühlte sich -hier wie auf einer fernen, stillen Insel, um die das gefährliche Meer -fern grollte und brauste, ohne einen erreichen zu können. Alles war -anheimelnd und vertrauenerweckend hier: die alte, taube Großmutter, die -am Fenster im Lehnstuhl saß und zu allem zustimmend nickte, was erzählt -wurde, weil sie nichts mehr davon verstand; der Dompfaff, der in seinem -Käfig so schöne Trostesweisen pfiff, und vor allen Dingen Fräulein -Hirt selbst, die den „Sausewinden“, wie sie Toni und ihre Geschwister -nannte, stets mit Engelsgeduld zuhörte und nur zuweilen ein leichtes -Lächeln zeigte. Sogar mit stolz erhobener Stimme konnte man ihr seine -Heldentaten vortragen, ohne befürchten zu müssen, daß einem plötzlich -eine treffende Bemerkung alles Selbstbewußtsein nahm, wie es beim Vater -daheim so leicht geschah. - -Fräulein Hirt, der vielerprobte Schutzengel, war ja nun an die -seltsamsten Überraschungen und Überfälle seitens ihrer Lieblinge -gewöhnt. - -Trotzdem erschrak sie nicht wenig, als sie ihre Toni zu so ungewohnter -Stunde bleich und verstört zu sich hereinstürzen sah und dann mit -zitternder Stimme erzählen hörte, was sich zugetragen hatte. - -Einen Augenblick stand sie verwirrt da, dann aber hatte sie sich gefaßt -und sagte kopfschüttelnd: „Also genau so wie ihr sind diese beiden, -genau so zwei Sausewinde. Und dabei sahen die beiden neulich, als ich -sie kennen lernte, doch aus, als könnten sie keine drei zählen.“ - -Und darauf machte sie es ganz anders wie der berühmte Onkel Fritz. -Denn anstatt hundertmal zu fragen, was denn eigentlich los sei und zu -gähnen und sich zu recken und zu strecken, zog sie sich schnell an und -ging zum Bahnhof. Sie erreichte den Zug noch zur rechten Zeit und kam -in Haslach in dem Augenblick an, in dem die beiden Flüchtlinge in dem -Zimmer des Stationsvorstehers verhört wurden. Davon hatte sie natürlich -keine Ahnung und schritt darum eilends durch alle Wartesäle hindurch -und sah sich die einzelnen Gruppen der Leute forschend an. - -Schließlich lief sie auch dem Bahndiener in die Hände und hielt diesen -für die geeignetste Persönlichkeit, um ihr Auskunft zu geben. Rasch -entschlossen fragte sie ihn deshalb, ob er nicht zwei Kinder gesehen -habe, die durchgebrannt seien: ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen -und einen Jungen mit großen Augen und..... - -„Ei, Fräuleinchen,“ fiel ihr der Beamte ins Wort, „ich glaub’ die -beiden haben wir schon. Die sitzen beim Stationsvorsteher. -- Ja, ja, -sie müssen’s sein. -- Ein Mädchen mit langen, blonden Zöpfen und ein -Bub, na, halt so ein Bub. -- Die müssen’s sein. Kommen Sie mal!“ - -„Wenn sie’s doch nur wären!“ fiel ihm Fräulein Hirt aufgeregt ins Wort. -„Dann wär’ ja alles gut! Mir fiel’ ein Stein vom Herzen. Es sind die -kleinen Verwandten meiner besten Freunde. Stellen Sie sich vor, wenn -ihnen etwas zugestoßen wäre!“ - -„Ach, so leicht stößt einem schon nichts zu,“ meinte der Beamte mit -väterlicher Stimme. „Kommen Sie nur mit, Fräuleinchen, und sehen Sie -sich die beiden einmal an. Nur nicht so leicht den Mut verlieren!“ - -Und Fräulein Hirt folgte ihm eilends und trat bald darauf in das Zimmer -des Stationsvorstehers, wo sie gleich der beiden Ausreißer ansichtig -wurde. Dort standen sie, wie die Verurteilten, zitternd vor dem -Stationsvorsteher. Sie rief ihre Namen. - -Da fuhr Suse herum und schaute verwundert auf. - -Vor ihr an der Seite des Bahndieners stand Fräulein Hirt. - -„Ich will euch holen,“ sagte das Fräulein freundlich und kam auf sie -zu. Das kleine Mädchen konnte nicht reden. Sie schaute nur und schaute, -und ihr Gesicht wurde röter und röter, und mit einem Male stürzte ein -heller Tränenbach aus ihren Augen. - -„Ach, führen Sie uns doch wieder zu Frau Cimhuber,“ sagte sie leise. - -Auch Hans sah dankbar zu der Dame auf. Er war wie erlöst. Vor Suse -hatte er sich ja noch zusammengenommen und nicht verraten, wie -jämmerlich ihm zu Sinn war und daß er glaubte, sie beide seien -verloren. Und nun war alles gut. Nun stand Fräulein Hirt vor ihm und -sah ihn mit ihren guten Augen freundlich an und sagte: „Ihr seid mir -die Rechten.“ - -Wie zentnerschwer war ihm die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, auf -der Brust gelegen. -- Allein zur Stadt zurückzufahren, allein Frau -Cimhuber aufzusuchen, allein alles zu beichten, was sich zugetragen -hatte, das war keine Kleinigkeit. -- Und jetzt war er frei. - -Es kam ihm alles vor wie ein Traum. Und er hörte, wie sie den Beamten -für die Freundlichkeit dankte, die sie Hans und Suse gegenüber bewiesen -hätten, und wie sie dann zu ihm und seiner Schwester sagte: „Nun kommt -schnell. In zehn Minuten geht unser Zug, und ihr sollt vorher noch eine -Tasse Kaffee trinken.“ - -Und als die beiden ihre schweren Gepäckstücke mit schiefgezogenen -Schultern wieder vorwärts tragen wollten, rief sie einen Träger herbei, -der ihnen die Last abnahm. Dann ging sie mit ihnen in den Wartsaal, -zum Glück nicht dorthin, wo die zornmütige Frau noch immer wie eine -bitterböse Kreuzspinne auf ihrem Posten saß und hervorschoß, wenn -jemand ihr und ihren Kindern zu nahe kam, sondern in einen andern Raum, -wo ein freundlicher Kellner dienstbereit herbeiholte, was Fräulein Hirt -forderte. - -Dann als die zehn Minuten um waren, stiegen die Kinder in einen Zug, -der sie nach der Stadt zurückführte. - -Es war aber auch höchste Zeit, daß sie bei Frau Cimhuber ankamen. -Kein übler Schreck hatte die Pfarrfrau heute morgen durchzuckt, als -sie das Nest leer und keine Ursel, keine Kinder vorgefunden hatte. -- -Ihre gute, alte Magd, die sich auf ihre flinken Füße verlassen, hatte -gehofft, die Kinder noch einzufangen, ehe ihre Herrin aufwachte, und -hatte sich heimlich davongemacht. - -Nun war Frau Cimhuber in dem stillen Haus allein und konnte das Rätsel -von Ursels und der Kinder Abwesenheit nicht lösen. - -„Hans, Suse,“ rief sie. Keine Antwort kam. Alles war wie ausgestorben. -Nirgends rührte sich ein menschliches Wesen. Sie ging durch alle -Zimmer, stand still, überlegte, und schüttelte den Kopf. Da sah sie -zufällig auf dem Tisch in Suses Gemach einen Zettel liegen, der von -Kinderhand beschrieben war. Sie griff danach und las folgende, in -sorgfältiger Schrift aufgesetzte Worte: - -„Liebe Frau Cimhuber! Wir gehen jetzt nach Hause, weil wir so -gräßliches Heimweh haben. Seien Sie nicht böse! Der liebe Gott schickt -Ihnen sicher andere Kinder, die viel artiger sind als wir. Vielen Dank -für alle guten Gaben. - -Viele Grüße an Ursel und Sie von - - Hans und Suse.“ - -Frau Cimhuber sank auf den nächsten besten Stuhl und strich sich über -die Stirn. -- Die Kinder waren fort. -- Sie glaubte zu träumen. -- -Da stand es aber auf dem Zettel, daß sie fort waren. -- Ja, da stand -es. Hans und Suse waren nicht mehr hier. Sie befanden sich auf dem -Weg nach Hause. Mein Gott, was war denn los? Was war denn in die -Kinder gefahren? Was hatte sie dazu gebracht, sich davonzustehlen? -Sie zitterten ja schon, wenn sie einen größeren Gang durch die Stadt -machen sollten, und nun waren sie allein auf dem beschwerlichen Weg -nach Hause. Wieder strich sich die Pfarrfrau über die Stirn und quälte -sich mit hundert Fragen. Warum waren sie denn so unglücklich? Sie und -Ursel hatten doch stets das Beste der Kinder gewollt? Und wie oft hatte -sie darüber nachgedacht, was ihnen bei der Erziehung am dienlichsten -sei, und war immer wieder zu der Einsicht gekommen, daß sie Ernst und -Strenge nötig hätten. Und nun waren sie fort. - -Und während Frau Cimhuber so verzweifelt dasaß, kam ihr mit einem Male -der Gedanke an ihren Sohn Edwin, und sie sah ihn als kleinen Jungen -leibhaftig vor sich stehen. Er hatte ja nichts lieber, der kleine -Edwin, als wenn sie ihm leise über den Kopf strich und ihn an sich zog -und liebkoste. -- Und nie, nie hätte sie es fertig gebracht, ihn zu -fremden Leuten zu geben, denn die hätten ihn vielleicht nicht mit Liebe -behandelt und wären schroff zu ihm gewesen. - -Frau Cimhuber erschrak. - -Und Hans und Suse? Die hatten ja auch eine Mutter daheim, die sie -liebkoste, und einen Vater, der gut zu ihnen war. - -Ein Vorfall von letzter Woche kam ihr in den Sinn und brannte ihr auf -dem Gewissen. - -Sie sah wieder, wie ihr das Garnknäuel auf den Boden fiel und Suse -wie der Blitz hinterherfuhr, es aufhob und ihr zurückgab. Und als sie -genickt und freundlich gesagt hatte: Ich danke dir, liebes Kind, da -hatte das kleine Mädchen sie so strahlend und froh angesehen, als sei -ihr die größte Freude widerfahren. - -Die Pfarrfrau schlug beide Hände vor das Gesicht. - -„Mein Gott, wenn sie doch nur wieder hier wären,“ entrang es sich ihrer -Brust. Wie wollte sie freundlich zu ihnen sein. Wie wollte sie sie mit -Liebe behandeln. Vielleicht kamen sie aber nicht wieder? -- Vielleicht -war ihnen unterwegs etwas geschehen. Und der Herr Doktor und die Frau -Doktor, die ihr die Kinder anvertraut hatten in dem Glauben, daß sie in -sicherer Hut seien, was würden die sagen, wenn die beiden zu Schaden -kämen? - -Die Hände der Pfarrfrau sanken in den Schoß und falteten sich, und ihr -Antlitz trug einen Ausdruck, als spräche sie ein Gebet. - -Da klingelte es. Sie fuhr zusammen und konnte sich zuerst kaum erheben. -Dann ging sie langsamen Schrittes zur Tür. Ihr Herz klopfte. Zögernd -öffnete sie. Vor ihr standen die Kinder. - -„Mein Gott, mein Gott,“ sprach die Pfarrfrau und streckte beide Hände -nach ihnen aus. „Ihr seid’s? Seid ihr’s denn wirklich? Seid ihr denn -wirklich wieder da? Kommt doch herein, welch ein Segen, daß ihr wieder -da seid! Ist euch denn nichts zugestoßen unterwegs? Kommt doch herein!“ - -Und sie zog die beiden an sich und umarmte sie in ihrer großen Freude. - -„Kommen Sie doch herein, liebes Fräulein!“ wandte sie sich dann an die -Begleiterin der Kinder und drückte ihr die Hände und sagte einmal über -das andere: „Wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sie gebracht haben! Wie -dankbar bin ich Ihnen; ich kann es gar nicht sagen!“ - -„Warum seid ihr denn fortgegangen?“ wandte sie sich wiederum an die -Kinder. - -Und beide sahen sie erstaunt an und sagten kein Wort als Erwiderung und -konnten den Umschwung in ihrem Wesen nicht verstehen. - -Sie aber redete weiter freundlich zu ihnen wie eine Mutter, führte sie -in ihr Schlafzimmer, schenkte ihnen warmes Wasser ein und sagte, sie -möchten zu ihr in die Negerstube kommen, wenn sie sich gewaschen und -umgezogen hätten. - -Und dann führte sie Fräulein Hirt in ihr Staatsgemach und nötigte sie -in ihr Sofa, damit sie ihr hier alles erzähle, was sie von den Kindern -wisse. - -Und nun begann Fräulein Hirt über das Abenteuer der Ausreißer zu -sprechen. Und im Laufe der nächsten halben Stunde stellte es sich -heraus, daß sie bei den Sausewinden in eine gute Schule gegangen war. -Denn sie wußte so zu reden und zu bitten, daß man glauben mußte, Hans -und Suse seien die größten Unschuldsengelein, die zurzeit auf dem -Erdball herumliefen. - -Aber es bedurfte gar nicht ihres Zuredens, um Frau Cimhuber -umzustimmen. Sie dachte ja selbst schon ganz anders über die Kinder als -früher. - -„Was müssen die beiden durchgemacht haben,“ sagte sie einmal über das -andere, „was müssen sie durchgemacht haben!“ - -Und als Fräulein Hirt sich schließlich empfahl, weil es Zeit für sie -war, nach Hause zu gehen, da suchte Frau Cimhuber die Geschwister -gleich wieder auf und sagte ihnen, sie sollten zu Hause bleiben und -sich ausruhen und nicht zur Schule gehen. - -Aber Hans spürte trotzdem den Wunsch, es zu tun. Er trank schnell -noch einmal eine Tasse Kaffee und lief davon. -- Der gefährliche Gang -in das Zimmer des Direktors hatte plötzlich nichts Schreckliches -mehr für ihn. -- Lieber zehn Gänge in das Zimmer des Direktors, -als noch eine solch fürchterliche Flucht mit Suse, wollte es ihm -scheinen. In den Gefahren des Morgens hatte sich sein Mut gestählt -und gefestigt. Er fühlte, er würde nun ohne Zittern an der Seite des -Naturgeschichtslehrers in das Zimmer des Direktors treten, und wenn -er gefragt würde, mit klarer, heller Stimme antworten: „Ich habe die -Papierkugel nicht geworfen, Herr Direktor.“ Und man würde ihm glauben. - -Aber zu dem schweren Gang kam es gar nicht; denn als Hans vor Beginn -des Unterrichts sich noch schnell an seinen Platz drückte, rief ihm -Peter zu: „Du, Hans, ich hab’ gestern gesehen, daß Kurt die Kugel -geworfen hat, nicht du. Ich hab’ ihm meine Meinung gesagt. Er wird’s -sagen, sonst treten wir aus dem Fußballklub aus und fordern unser Geld -zurück.“ - -Und die andern riefen zustimmend: „Ja.“ -- - -So war Hans gerettet. Und er schämte sich nicht wenig, als er inne -wurde, wie schnell eine Sache, von der er so viel Aufhebens gemacht -hatte, aus der Welt geschafft worden war. - -Suse aber blieb daheim und saß lange Zeit neben Frau Cimhuber auf dem -Sofa und hatte ihren Kopf an die Schulter ihrer Pflegemutter gelehnt -und hörte, wie diese freundlich sagte: „Willst du denn nicht mehr bei -uns bleiben, liebe Suse, gefällt es dir wirklich nicht bei uns? Glaub’ -nicht, daß ich dich nicht lieb habe. Ich muß nur immer an meinen Sohn -in Afrika denken. Der ist krank, und ich bin in großer Sorge um ihn.“ - -Und die Pfarrfrau fuhr fort, von ihrem Sohn Edwin zu reden, besonders -von seiner Kindheit, und betonte immer wieder, was für ein liebes, -gutes Kind er gewesen sei, und wie er ihr stets nur Freude gemacht habe. - -„Der wäre nicht fortgelaufen von fremden Leuten, wie wir!“ sagte Suse -leise und schuldbewußt. - -Ihre Pflegemutter schwieg. - -Und während es so still in der Stube wurde, wanderten Susens Blicke -scheu nach dem Negergotte hin, der mit seinem schiefgezogenen Munde -aussah, als wollte er durch eine Zahnlücke zischen: Nichtsnutze! -Nichtsnutze! Schon wieder mal was angestellt? Mein Kopf! Mein Kopf! O -mein armer Kopf! - -„Er guckt!“ flüsterte Suse. - -Da nickte die Pfarrfrau, stand langsam auf, ging auf den Götzen zu und -trug ihn unter viel Beschwerden in ihren Kleiderschrank, damit er dort -hinter düsteren Gewändern einsam sitze. - -Und dann nahm sie wieder neben Suse Platz. - -Und Suse kam sich mit einem Male geborgen vor, wie bei ihren Eltern -daheim. - -Sie war ja nicht mehr auf dem Bahnhof, wo alle Menschen sie so streng, -so feindlich ansahen. -- Sie saß hier neben Frau Cimhuber und konnte -sich fest an sie schmiegen. - -Gegen zehn Uhr erschien auch Ursel und war endlich einmal wieder von -ihren Wolltüchern befreit; denn sie hatte sich ihren kranken Zahn -ziehen lassen und sah milde und freundlich drein. Und als sie sich auf -dem Küchenstuhl niedergelassen hatte, begann sie zu erzählen: Bei ihrer -Abfahrt heute morgen vom Bahnhof habe sie plötzlich entdeckt, daß sie -verkehrt gefahren wäre, und eine gräßliche, eine fürchterliche Wut habe -sie gepackt. -- Ihr Zorn sei aber noch zehnmal größer geworden, als -sie auf der nächsten Station entdeckt habe, daß sie noch zwei Stunden -warten müsse, bis sie wieder heimfahren könne. Da sei sie davongerannt -wie von Sinnen in die Stadt hinein, zum ersten, besten Zahnarzt, vier -Treppen hinauf, und habe sich ihren Zahn ziehen lassen. Und jetzt sei -ihr so wohl, so wohl, wie in ihrem ganzen Leben noch nicht. - -Dann wandte sie sich an Suse und verlangte von ihr zu wissen, was -sich eigentlich mit Hans und ihr zugetragen habe. Zitternd begann das -kleine Mädchen seine Beichte. Aber sie war noch ganz im Anfang damit, -da unterbrach Ursel sie schon: „Hör’ auf, ich will nichts mehr hören. --- Wer ist an allem schuld, Frau Cimhuber, wer? -- dieser Nichtsnutz, -dieser Tunichtgut, dieser Theobald! -- Wissen Sie noch, Frau Pfarrer, -wie er unserem Spitzchen einmal auf den Schwanz getreten hat? Da haben -Sie ihm eine Ohrfeige gegeben. So war’s recht. Das tat ihm gut. -- -Schade, daß er so eine nicht jeden Tag bekommt. Das hab’ ich damals -gleich gesagt.“ - -Und nach diesem harten Urteil wurde Ursel wieder friedfertig, sprach -froh über ihre Erlösung vom Zahnweh und forderte Suse auf, doch ein -wenig mit ihr in der Küche zu bleiben. - -Und die beiden Frauen setzten Suse ein Stück Kuchen vor. Aber als -sie einmal in den Keller gingen und wiederkamen, fanden sie Suse -eingeschlafen auf ihrem Küchenstuhl sitzen und brachten sie zu Bett. - -Am späten Nachmittag erwachte Suse aus schweren Träumen. Ihr hatte -geträumt, der Bahnhofvorsteher und die Frau mit den drei Kindern und -der Kellner seien hinter ihr hergesprungen und hätten sie am Kopf -gepackt und geschüttelt, daß ihr die Haarschleife davongeflogen sei. - -Da schlug sie die Augen auf und sah Hans vor sich stehen, der mit -heiterer Miene erklärte: „Endlich wachst du auf. Fein war’s heute in -der Schule. Kurt hat gesagt, daß er die Papierkugel geworfen hat, und -da war alles wieder gut.“ - -Und als Suse noch ganz verschlafen und erstaunt nach ihm hinsah, kam -Frau Cimhuber, legte ihr die Hand auf die Stirn und fragte, ob ihr -Kopfweh vorüber sei, und ob sie all ihre Schulaufgaben gemacht habe. - -Da fiel Suse etwas ein. Ängstlich hub sie an: „Ich hab’ das Rechnen -noch nicht gemacht, Frau Pfarrer; das Rechnen ist immer am schwersten -hier. Bei uns machen sie es ganz anders. Bei uns machen sie es von -rechts nach links, und hier von links nach rechts. Und jetzt weiß -ich nicht, ob ich bei der Division den langen Schwanz, die vielen -Rechenkästchen mein ich, auf die rechte Seite setzen soll oder auf die -linke.“ - -Da setzte Frau Cimhuber ihre Brille auf, holte Susens Ranzen herbei, -verglich das Rechenbuch mit dem Heft und gestand schließlich, daß sie -es auch anders gelernt habe in der Schule. - -Nun sei aber kein Grund, deshalb betrübt zu sein. Sie wolle schon für -Hilfe sorgen. Und während Suse noch nicht wußte, wie ihr geschah, da -stand Frau Cimhuber schon zum Ausgehen bereit da und forderte Suse auf, -mit ihr zu der Tochter ihrer Freundin zu gehen, einem jungen Mädchen, -die eben jetzt das Lehrerinnenexamen gemacht habe, und die ihr gerne -helfen werde. - -Das junge Mädchen sah sich wirklich auch mit größter Bereitwilligkeit -Susens Heft an, merkte, daß nur eine Kleinigkeit falsch war und -erklärte dem Kind noch einmal die ganze Aufgabe von vorn. - -Suse verstand in Kürze alles und betrachtete mit dankbarem Blick bald -die junge Lehrerin, bald strahlend ihr Heft, bald Frau Cimhuber. - -Und am Abend da sagte sie zu ihrem Bruder: „Du, Hans, das hätte ich -doch nicht geglaubt, daß Frau Cimhuber einmal so gut gegen uns wäre!“ -„Ich auch nicht,“ entgegnete der Bruder. - -Einige Tage später erhielten die Geschwister Nachricht von ihren -Eltern, denn Frau Cimhuber hatte diese von allem unterrichtet, was sich -zugetragen hatte. Die Worte von Vater und Mutter gingen den Kindern -sehr zu Herzen. - -„Mein lieber Hans,“ schrieb der Doktor unter anderm an seinen Sohn, -„ich hätte nicht gedacht, daß Du Dein Versprechen so bald brechen und -davonrennen würdest wie ein Soldat, der seine Flinte ins Korn wirft. -- -Das war kein schöner Streich von Euch. Was soll aus Euch werden, wenn -Ihr nicht beizeiten lernt, die Zähne zusammenzubeißen und auszuhalten -auch dann, wenn es Euch nicht gefällt! Und wann wirst Du, lieber Hans, -endlich anfangen, Deinen Willen durchzusetzen und nicht immer Susens -dummen Einfällen folgen...“ - -Dem Knaben stieg das Blut ins Gesicht, und er schlich beschämt zur Tür -hinaus. -- Wie jämmerlich stand er nun in den Augen der Eltern da! - -Suse las derweil den Brief ihrer Mutter mit großer Andacht. - -„Ich brauche Dir nicht zu sagen, liebe Suse,“ schrieb die Doktorsfrau, -„daß Dein Vater und ich tief betrübt waren, als wir von Eurer Flucht -hörten. Wir hätten nie gedacht, daß Ihr so etwas fertig brächtet. -- -Du schreibst, Du möchtest gern in einem großen Hause wohnen, wo es -einen Garten gibt, und Blumen und Kinder. Wie gern, wie gern schickten -wir Euch dorthin, mein liebes Kind! Aber wir können es nicht. Wir sind -viel zu arm dazu. Glaube mir, wir haben uns wohl den Kopf zerbrochen, -wie es möglich zu machen wäre. Aber unsere Mittel reichen nicht dazu. -Ich wollte Dir dies eigentlich nicht sagen, um Dich nicht traurig zu -machen, aber nun tu’ ich es doch, damit Du siehst, weshalb Ihr bei Frau -Cimhuber bleiben müßt. -- Du bist ja auch schon ein großes Mädchen und -mußt vernünftig darüber denken. -- Und dann grüble auch nicht immer -darüber nach, ob Frau Cimhuber und Ursel und die Kinder in der Schule -Dich gern haben. Sie kennen Dich ja noch kaum. Du wirst schon sehen, -wenn sie Dich erst einmal kennen und sehen, daß Du immer freundlich und -höflich zu ihnen bist, werden sie Dich schon lieb gewinnen. Und nun -denkt an das Pfingstfest, das bald kommt. Dann dürft Ihr nach Hause -fahren.“ - -„Der Vater und die Mutter sind sehr, sehr traurig,“ sagte Suse -seufzend, als sie mit Lesen fertig war. „Wir müssen ihnen gleich -schreiben, Hans, daß nun alles gut ist und daß Frau Cimhuber jetzt sehr -lieb zu uns ist, und daß wir sogar schon vorwärtskommen in der Schule. --- Und weißt du, Hans, jetzt schreiben wir noch, wir wollen auch -Pfingsten nicht nach Haus, dann sparen sie das Geld für die Reise, und -damit machen wir ihnen eine große Freude.“ - -Hans war Feuer und Flamme für diesen schönen Plan. Aber die Geschwister -hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. -- Kaum hatte Ursel davon -vernommen, so rief sie laut: „Was? jetzt war ich g’rad froh, daß es mal -Luft gibt, und jetzt wollt ihr hier bleiben. Nein, nein, das gibt’s -nicht. Ich will doch auch mal aufatmen.“ - -Und der Doktorskinder Herz begann gar freudig zu klopfen, als ihr -heldenhafter Entschluß so schnell vereitelt wurde. - - - - -Drittes Kapitel - -Das Kamel - - -Hans und Suse fühlten sich nun ganz wohl bei Frau Cimhuber und lebten -sich allmählich in der Stadt ein. - -Suse hatte sogar schon eine Freundin, die blonde Gretel, die in der -Schule neben ihr saß. -- Auf eine merkwürdige Weise hatte sie mit -diesem kleinen Mädchen Freundschaft geschlossen. -- Eines Morgens, da -hatte sie auf dem Platz neben ihr zwei Puppenbeine hervorschauen sehen, -und während sie sich über diese schnurrigen Gegenstände noch gewundert -hatte, da war neben ihr Gretel aufgerufen worden, um eine Frage der -Lehrerin zu beantworten. - -In demselben Augenblick hatten sich unter der Bank die Puppenbeine -geregt und wie der Blitz war eine blonde leibhaftige Puppe -hervorgeschossen, auf Suse zu. Mit beiden Händen hatte sie zugegriffen -und die Abstürzende tief aufatmend auf ihren Schoß gesetzt. - -Gretel aber, der vor Schreck fast das Wort im Munde stecken geblieben -war, hatte sich hernach herzlich bei dem Doktorskind für die Rettung -ihres Lieblings bedankt. - -Schon am folgenden Sonntag wurde Suse bei ihrer neuen Freundin -eingeladen, und Gastgeberin und Gast waren so miteinander zufrieden, -daß Suse von nun an recht oft wiederkam, häufig sogar in Begleitung -ihrer eigenen Puppe, der Genoveva. Neben den prächtigen, feinen -Stadtpuppen nahm sich Genoveva, das blöde, ungelenke Landkind, -allerdings sehr einfach und bescheiden aus. Dafür hatte sie aber den -Vorzug, ein ereignisvolles Leben hinter sich zu haben. Stundenlang -konnte Suse davon erzählen. So war dies Puppenkind einmal von dem -Vetter Theobald an einem Bein an der Wäscheleine aufgehängt worden und -hatte seit jenem Tag einen Anflug von der Glotzkrankheit behalten, wie -man an ihren hervorquellenden Augen bemerken konnte. -- Ein andermal -hatte Suse selbst ihre Tochter eine lange, schreckliche Nacht hindurch -am Fuchskopf in den Bergen vergessen, und als sie am andern Morgen in -Schrecken und Angst zu ihr geeilt war, hatte sie das arme Kind mit -einer lebendigen Eidechse im Schoß vorgefunden, vor Entsetzen halb tot, -wie die dicken, über ihre Wangen rinnenden Schweißtropfen verrieten. -- -Ja, ja, man hatte seine Not mit Genoveva gehabt! - -Gretel war Feuer und Flamme für diese Geschichten und für die -Erzählerin nicht minder. Und so kam es, daß sich in Suse schon wieder -die Eingebildetheit regte und sie anfing, wieder übermütig zu werden -wie daheim eigentlich immer. - -Mit Theobald, ihrem erfahrenen Lehrmeister in aller Stadtweisheit, -hatte sie sogar schon einen Streit gehabt, weil sie ihn fürwitzig und -mit erhabener Miene über wichtige Gebäude seiner Vaterstadt belehrte, -über die er ganz verkehrte Begriffe hatte, während Suse, dank einer -Unterhaltung mit Frau Cimhuber, großartig Bescheid wußte. Ärgerlich -hatte der Vetter hierauf sein Wohlwollen Hans zugewandt, der weniger -eingebildet als Suse war, sich aber reichlich so gut in der Stadt -zurecht fand wie sie. Theobald hatte ihm deshalb vor einigen Tagen -in seiner schnurrigen Manier beide Hände auf das Haupt gelegt und -gesagt: „Fahre nur so fort, teurer Freund, und du wirst uns noch alle -überstrahlen, indem daß du gar nicht so dumm bist, wie du aussiehst. Du -schickst dich sogar besser als Suse, obwohl die wunder wie gescheit tut -und nicht einmal weiß, wie man von der Elektrischen abspringt und immer -die verkehrte Hand am verkehrten Griff hat und aus lauter falscher -Sachkenntnis nächstens mitten auf der Straße sitzt.“ - -Natürlich waren diese Reibereien harmloser Natur und jedermann, vor -allem Frau Cimhuber und Ursel, glaubten, daß nun die Stürme vorüber -seien und daß sich Friede und Ruhe auf alle senken werde. Wie oft -pflegte nicht die Pfarrfrau in diesen Tagen zu ihrer alten Magd zu -sagen: „Sehen Sie, sehen Sie, es ist alles gut geworden, man darf nur -niemals verzagen!“ - -Da mit einemmal bekamen die Kinder eine Einladung zu Onkel Gustav, dem -reichen Besitzer des prächtigen Schlosses, das Hans in den ersten Tagen -seines Hierseins schon einmal mit Theobald aufgesucht hatte. - -Übermütig vor Freude eilten sie zu ihren Vettern und Basen, um ihnen -die frohe Neuigkeit mitzuteilen. - -Die aber machten Gesichter, als sei ihnen die Petersilie verhagelt. - -„Freut ihr euch denn nicht?“ fragten Hans und Suse. „Ihr seid doch auch -geladen.“ - -„Freuen,“ sagte Toni im wegwerfenden Ton, „keineswegs, uns graut sogar -davor.“ - -„Graut?“ forschte Suse. - -„Ja, es ist uns sehr unangenehm, weil die Fremdlinge -- die Tante und -ihre Kinder wollte ich sagen -- Protzen sind. Fremdlinge nennen wir sie -deshalb, weil sie aus Südamerika kommen und so großartig fremdländisch -tun. Und Protzen sagen wir, weil sie eben Protzen sind.“ - -„Was sind das, Protzen?“ fragte Suse erstaunt. - -„Nun,“ erklärte die Cousine, „das sind Leute, die sich schrecklich viel -auf ihr Geld einbilden und auf alles, was sie haben.“ - -„Ach,“ meinte Suse, „nichts Schlimmeres? Das ist doch nicht schlimm! -Wenn ich ein solch schönes Haus hätte und solch prächtige Sachen und -solche ausgestopften Tiere wie sie, würde ich mir auch was einbilden.“ - -„Dann wärest du auch ein Protz,“ fiel Theobald scharf ein, „und das -sähe dir so recht ähnlich.“ - -„Das machte nichts,“ entgegnete Suse keck, „wenn ich nur einen einzigen -ausgestopften Löwen hätte, wäre ich schon froh. Eine ausgestopfte -Giraffe wäre mir eigentlich noch lieber.“ - -Hans war es doch nicht recht geheuer, und auf dem Nachhauseweg sagte -er nachdenklich zu seiner Schwester: „Am Ende wird’s doch nicht so -schön bei Onkel Gustav, wie wir geglaubt haben.“ - -Suse schwieg und zuckte die Achseln; dank ihres leichten Sinnes hatte -sie eine ganz andere Meinung und zauberte in den nächsten Tagen ihrem -Bruder die herrlichsten Bilder über ihren Besuch bei den Fremdlingen -vor Augen. - -An einem großen runden Tisch sitzend, von silbernen Tellern Kuchen -essend, aus wundervollen Tassen Schokolade trinkend, würden sie den -seltsamen Abenteuern des Onkels lauschen, meinte sie. Zuckersüße -Früchte würden phantastisch geschmückte Dienerinnen zu ihnen -hereintragen. - -Als der Tag des Besuches bei Onkel Gustav herangekommen war, zogen Hans -und Suse sich mit größter Sorgfalt an. Und Ursel, die Ehre mit ihnen -einlegen wollte, half ihnen dabei. Suse war’s zufrieden. Nachdem sie -ihr Sonntagskleid angezogen hatte, steckte sie ihre Lieblingsbrosche, -ein Stiefmütterchen, vor, dessen buntbemalte Blütenblätter ein kleines, -zorniges Gesicht zeigten. Auf dies, ihr schönstes Schmuckstück, bildete -sich Suse nicht wenig ein. - -Vor zwei Jahren war nämlich ein hoher Herr -- ein Prinz, wie Rosel -behauptet hatte -- nach Schwarzenbrunn gekommen und durch den Ort -geschlendert. Und als die Schuljugend ihn verfolgte, hatte er plötzlich -aus der Schar der Gaffer Suse hervorgeholt, sie betrachtet und -gefragt: „Wem gehörst du, Kind? Du bist ein feines, kleines Mädchen; -wer hat dir das schöne Stiefmütterchen geschenkt?“ Und dabei hatte -er mit Begeisterung ihr Stiefmütterchen angesehen, ein Umstand, den -Suse mit Befriedigung wahrgenommen hatte. Denn erst am Tage vorher -hatte sie einen Streit mit Hans gehabt, weil er behauptet hatte, das -Stiefmütterchen sehe ganz verheult und miserabel streifig aus, seit es -eine Nacht lang im Regen im Garten liegen geblieben sei. - -Darum durfte das Stiefmütterchen in Zukunft nicht mehr fehlen, wenn -Suse sich putzte. - -Hans war mit Anziehen schon längst fertig, da überlegte Suse noch -immer, wo sie ihr Stiefmütterchen am vorteilhaftesten anbringen könne. - -Endlich war ein Platz gefunden und nun konnten Bruder und Schwester von -dannen gehen. - -Beim Abschied schärfte Frau Cimhuber den Kindern mehrmals ein, ja recht -artig zu sein und auf alles acht zu geben, was sie sähen. - -„Ja, ja, das wollen wir,“ rief Suse, „und herrliche Sachen werden wir -Ihnen erzählen, Frau Pfarrer,“ und damit eilte sie voll hundert schöner -Erwartungen mit Hans die Treppe hinunter. - -Bei dem Kriegerdenkmal, dem Ort der Verabredung, trafen sie mit Toni -und ihren Geschwistern zusammen. Die Aufsicht über die Kinder führte -Liselotte, ihre ältere Schwester, ein junges, feines Mädchen, das viel -auf Anstand und gutes Benehmen hielt, dafür aber leider bei ihren -Geschwistern kein Verständnis fand. - -Deshalb hatte sie auch vorhin ihren Eltern seufzend erklärt, es sei ein -schweres, ein hartes Stück Arbeit, die Geschwister zu beaufsichtigen. -Man meine manchmal, der böse Geist fahre in sie und triebe sie zu immer -neuen Ungezogenheiten an. -- +Einen+ Volksauflauf gebe es sicher, -und das sei dann so peinlich für einen erwachsenen Menschen. Jedoch -die Eltern hatten die Sache nicht so ernst genommen und ihren jüngeren -Kindern eingeschärft, der älteren Schwester gut zu gehorchen. - -Als die Gesellschaft vollzählig war, brach sie gemeinsam nach der -„Villa Granada“ auf, -- der Wohnung ihrer reichen Verwandten draußen -vor der Stadt. - -Hans und Suse sahen auf dem Wege dorthin erwartungsvoll drein. Ganz -anders als ihre kleinen Verwandten, die gleichmütigen Stadtherrlein -und Fräulein, denen ein solcher Besuch etwas ganz Alltägliches zu sein -schien. - -Besonders Suse sah man die Erregung am Gesicht an, und mit tiefem -Unbehagen nahm sie selbst wahr, daß all ihre Erwartung auf ein schönes -Fest kläglich zusammenschrumpfte und nur blasse Furcht zurückblieb. -Sie zweifelte gar nicht mehr daran, daß alles, was Theobald prophezeit -hatte, auf schreckliche Weise in Erfüllung gehen werde. Und in ihrer -Verwirrung drängte sie sich schließlich nahe am Ziel an den übermütigen -Vetter selbst heran, um bei ihm noch einmal Auskunft zu holen. - -„Du, Theobald, sag’ mir,“ begann sie ängstlich, „ich wollte dich -fragen, Theobald. Sag’ mir, wie sieht die Tante aus? Gelt, die ist -nicht schwarz?“ - -„Nicht schwarz?“ rief der Vetter. „Ja, wie denn sonst! Vielleicht grün -wie ein Laubfrosch oder blau wie ein Schmetterling, wenn sie aussieht, -als wär’ sie in die Tinte gefallen! Und die Kinder erst! Die sind -schwarz und weiß kariert wie Schachbretter und haben Ringe durch die -Nase und Federbüsche auf dem Kopf und Bäuche wie Frösche.“ - -„Das glaub’ ich nicht,“ entgegnete Suse. - -„Glaub’s nicht! In der nächsten halben Stunde werden wir uns wieder -sprechen!“ sagte der Vetter gleichmütig. - -„Ich mein’,“ sagte Suse, „ich möchte wissen, Theobald, ob die Tante -so freundlich zu einem ist, wenn sie einem guten Tag sagt, wie andere -Damen?“ - -„Freundlich? freundlich?“ stotterte Theobald. Und seine Stimme zum -unheimlichsten Flüsterton dämpfend, raunte er ihr zu: „Sie ist ja eine -Art Menschenfresserin, Suse, ich hab’s dir ja schon einmal gesagt. Ihr -Leibgericht sind Menschenohren. Darum rat ich dir, nimm deine Lauscher -in acht. Sonst stürzt sie sich drauf, reißt sie ab und rauft sie an -sich. Dann hast du Ohren gehabt und kannst dich außerdem für Geld sehen -lassen, so schnurrig siehst du dann aus.“ - -Suse lächelte verlegen. - -„So, da wären wir!“ unterbrach sich Theobald mit einemmal. - -Ein großes, eisernes Parktor lag vor ihnen. In goldenen Buchstaben -stand der Name der Villa als ein leuchtender Bogen darüber geschrieben. -An einem efeuumsponnenen, von Ulmen überschatteten Pförtnerhäuschen -vorüber ging die Gesellschaft in das Innere des Parkes. Suse zitterte -das Herz bei jedem weiteren Schritt. Am liebsten wäre sie umgekehrt. - -Mit einem Male sagte Toni ganz laut. „Da kommen Concha, Enrique, Sancho -und Jose.“ „Die prächtigen Granadasöhne,“ setzte Theobald hinzu. - -Suse fuhr zusammen. - -Aber was mußten ihre Augen sehen? Dort aus der Ferne, von der -blumenbewachsenen Terrasse herunter, auf der stolz wie ein Schloß die -Villa Granada stand, kamen ein paar Kinder, die genau aussahen wie -die Kinder anderer Sterblicher. Nichts von Federbüschen, nichts von -Nasenringen, nichts von einer karierten Haut war zu sehen, wie Theobald -angekündigt hatte. Und auch jetzt, als sie ganz in der Nähe angelangt -waren, verwandelten sie sich noch immer nicht in Kaminfeger. -- Das -kleine Mädchen sah sogar wunderhübsch aus in ihrem reichgestickten -Kleid. - -„Guten Tag,“ sagten die Kinder mit fremdländischer Betonung, und -schlossen sich ihren Besuchern an. - -Suse mußte sie immer wieder von der Seite ansehen. Ihre Gesichter waren -ganz weiß, und ihre Gestalten waren geschmeidig und fein, ihre Augen -dunkel und strahlend. - -Der eine der Knaben, der kleinste von den dreien, öffnete einen -silbernen Zigarettenbehälter und zündete sich eine Zigarette an. Aber -sonst geschah nichts Außergewöhnliches. - -Und jetzt, da ihr erster Schreck verwunden war, empfand Suse etwas -wie Bedauern über soviel Alltäglichkeit. Es wäre ihr nun gar nicht -unlieb gewesen, wenn plötzlich einer der Knaben ein paar ausländische -Purzelbäume geschlagen oder sonstige Allotria getrieben hätte. Aber -keiner tat ihr den Gefallen. Sie gingen im manierlichsten Schritt von -der Welt einher. - -Da raunte Hans plötzlich seiner Schwester zu: „Sieh, dort an der -Seite des Schlosses, das niedere Haus, das ist die Garage, wo wir das -Automobil damals besehen haben.“ - -„Herrgöttle, Herrgöttle, haben wir dabei geschwitzt,“ ließ sich nun -auch Theobald vernehmen. -- Noch hatte er nicht ausgeredet, da horchte -Suse erschreckt auf. Ein überaus häßliches Geschrei, wie sie es in -ihrem ganzen Leben noch nicht vernommen, hatte ihr Ohr getroffen. -Und als sie in die Richtung blickte, aus der es kam, sah sie auf dem -grünen Rasenplatz, der sich bis zur Terrasse hinüber erstreckte, einen -wunderbaren Vogel spazieren gehen. - -„Der Pfau,“ sagte Hans mit geheimnisvoller Stimme. -- Suse betrachtete -das Tier mit Staunen. Wie eine königliche Schleppe ließ er seinen -prächtigen Schweif am Boden hinschleifen, und ehe sie sich’s versah, -hatte er ihn wie einen Riesenfächer entfaltet, so daß all die -schillernden Kreise in seinem Gefieder wie grüngoldene Kugeln glänzten. -Und der kleine Federputz auf der Mitte seines Hauptes zitterte dazu wie -feine Perlen, die auf zierlichen Stäbchen stecken. - -„Oh, wie schön,“ sagte Suse leise, „wenn der Vater und die Mutter doch -auch einen solchen Vogel hätten!“ - -Zögernd, mit rückwärts gewandtem Gesicht folgte Suse der übrigen -Gesellschaft. - -„Komm, komm,“ drängte schließlich der Bruder, sie bei der Hand fassend, -„die andern sind ja schon fort, wir müssen hinterdrein.“ - -Und auch Theobald, der wieder zurückgekommen war, mahnte: „Komm -schnell, Suse, wir wollen gemeinsam in die Höhle der Löwen.“ - -Widerstrebend folgte sie der Aufforderung. - -Da plötzlich blieb Theobald stehen, klapperte mit den Zähnen und sagte -flüsternd: „Himmel! Himmel! Da vorn steht sie und hat die Kinnladen -auseinandergeklappt wie ein Scheunentor! Himmel! Himmel! Sie schnalzt -mit der Zunge! Was wird das geben! Mein Herz! Mein Herz! In den Hosen -sitzt’s mir schon! Jetzt halt deine Ohrläppchen fest!“ - -Suse zitterte am ganzen Körper und schaute erbleichend geradeaus. -Dort mitten im Weg standen zwei kohlpechrabenschwarze Frauen und -musterten die Kinder. Das Weiß ihrer Augen und die blanken Zähne -leuchteten gespensterhaft aus ihren nachtschwarzen Gesichtern. Wie mit -Blutstropfen betupft, so kamen Suse ihre Augenränder vor. - -Im Gebüsch des Weges hatten diese unheimlichen Gestalten sicher auf die -Kinder gelauert und wollten sie nun überfallen. - -„Sag’ ihr guten Tag, und küß ihr die Hand. -- Die rechts mit dem -großen, hohlen Zahn ist’s,“ drängte Theobald. „Schnell, schnell, sonst -stürzt sie sich auf dich los und dann -- adieu Ohrläppchen.“ -- - -Suse war nicht imstande, einen Schritt zu tun, so lähmte ihr der -Schreck alle Glieder. - -Erst ganz allmählich kam ihr die Besinnung wieder, und dann dachte sie -nur auf ihre Rettung. - -Wie ein Pfeil flog sie über den Rasenplatz der Terrasse zu an dem -Pfau vorüber, der mit gellendem Geschrei aufflog und wie ein lebendig -gewordenes Heubündel neben ihr herrauschte. - -Drüben auf dem Weg drängte sie sich an ihre ältere Cousine an und -flüsterte klopfenden Herzens: „Sieh, Liselotte, die gräßlichen Frauen, -die Tante Josepha geht dort, dort, guck, guck!“ - -Das junge Mädchen wandte sich um und erblickte die schwarzen Frauen -jenseits des Rasenplatzes; zu gleicher Zeit aber auch ihren Bruder -Theobald, der, sich die Seiten vor Lachen haltend, des Weges kam. Da -wußte das junge Mädchen Bescheid, und die Hand ihrer kleinen Verwandten -durch ihren Arm ziehend, sagte sie beruhigend: „Das sind zwei -Dienerinnen, die Kinderfrauen von Concha, Jose und den andern. Die tun -dir nichts, sei nur still.“ - -Suse atmete erleichtert auf. Theobald aber blieb weit zurück und zwar -um so weiter, je häufiger seine Schwester nach ihm hinsah. - -Und nun währte es nicht mehr lange, da sollten die Doktorskinder -die echte, die wirkliche, die leibhaftige Tante Josepha zu Gesicht -bekommen. Im Kreise der übrigen Kinder betraten Hans und Suse die -Villa Granada. Es war ein prächtiges Gebäude mit schöngeschnitzten -Möbeln in allen Zimmern, mit kostbaren Teppichen auf den Fußböden und -farbenprächtigen Bildern an den Wänden. - -Von den einzelnen Gegenständen konnten die Geschwister aber kein -genaues Bild bekommen. Nur im allgemeinen hatten sie die Empfindung, -in einem reichen glänzenden Palast zu sein, wo alles herrlich und -fremdländisch aussah. Da, als sie einen großen Saal betreten hatten, -rauschte es mit einemmal wie von seidenen Kleidern. - -„Sie kommt!“ flüsterte Theobald. - -Unwillkürlich faßte sich Suse mit beiden Händen an die Ohren. - -Hinter einem Vorhang hervor, der zwischen zwei Türen hing, trat eine -große, stolz aussehende Dame. - -Es war Tante Josepha. - -Die Kinder wichen einen Schritt zurück. Die kleinen Mädchen machten -einen Knicks aus der Ferne und die Knaben ihre Verbeugung. - -Eisigkalt wehte es von der fremden Dame her. Und selbst die -Dreistigkeit der Sausewinde war wie eingefroren. - -Und doch war die Dame, die dort eingetreten war, keineswegs die -Wetterhexe, als die Theobald sie geschildert hatte. Im Gegenteil, sie -war eine sehr schöne Frau. Und wie sie so dastand, die großen dunklen -Augen fragend auf die Kinder geheftet, die Schleppe ihres prächtigen -Gewandes leicht nach vorn geworfen, erinnerte sie an ein schönes Bild. - -Aber an der Nasenspitze konnte man dieser hochmütig blickenden Frau es -ansehen, wie von Herzen gleichgültig ihr der ganze Besuch war. - -Selbst Theobald, der noch vorhin seinen Geschwistern vorgehalten hatte: -„Merkt euch, liebe Kinder, den schönen Vers: Denn wo du schlecht -wirst aufgenommen, da mußt du recht bald wiederkommen, und geniert -euch nicht,“ wünschte sich mit einemmal über alle Berge. Sein Vetter -Hans aber stand da, die Augen fest auf die fremde Dame gerichtet, als -erwarte er ein Wunder. - -Da fiel Theobald seines Vetters verstörtes Gesicht auf, und er raunte -ihm zwischen den Zähnen zu: „Guck doch nicht wie ein geschlachteter -Ziegenbock, der nicht mehr meckern kann!“ - -Und Hans, der seines Vetters albernste Bemerkungen als köstliche Witze -empfand, konnte sich nicht mehr zusammennehmen und platzte mit einem -Male los. - -Die fremde Dame sah lange verwundert nach ihm hin. Und er drückte -entsetzt beide Hände vor seinen Mund. - -Aber was nützte es! Noch ärger als zum erstenmal wurde sein Lachen; -denn Theobald flüsterte ihm in die Ohren: „Du kannst mir’s glauben, die -Dame Josepha hat den Starrkrampf! Drum starrt sie so!“ - -Und Hans wünschte sich weit weg auf einen hohen Berg, wo er sich vor -Lachen hätte wälzen können ob dieser großartigen, dieser herrlichen, -dieser unvergleichlich schönen Witze. - -Nun mußte er aber wie ein Soldat hier stehen und abwarten, was die -nächste Minute ihm brachte. - -Suse war noch immer in ihrer Verzauberung befangen und sah regungslos -auf die stolze Dame vor ihr. Sie kam ja nicht auf ihre Gäste zu, wie -Susens Mutter es daheim bei Einladungen zu tun pflegte, und gab jedem -Kind freundlich die Hand. -- Sie musterte sie nur mit kaltem, leicht -spöttischem Blick. - -Da wäre es schon unterhaltender gewesen, sie wäre wirklich ein -schwarzes Fabelwesen gewesen und hätte Kuchenstücke und Mohrenköpfe um -sich geworfen und sonstige lustige Faxen getrieben. - -„Uff,“ sagte Theobald mit einemmal, denn seine Tante und Liselotte -hatten das Zimmer verlassen, und die Kinder waren allein. - -Suse und ihre kleine, fremdländische Cousine maßen sich mit stummem -Blick noch immer aus der Ferne. Toni setzte sich ans Klavier, um ein -Lied zu spielen. Die Granadasöhne ließen sich in die tiefen, weichen -Sessel fallen, und ihre Vettern aus der Stadt folgten ihrem Beispiel -mit angenommener Nachlässigkeit. - -Wie die Paschas saßen sie dort, die Beine gekreuzt, die Arme -verschränkt, und sahen einander herausfordernd an. - -Nur Hans stand hinter dem Sessel Theobalds wie ein Gewächs, das einer -Stütze bedarf, denn sein Vetter hatte ihm eben zugeraunt: „Bleibt -möglichst in meiner Nähe, du und Suse. Sie wollen sich über euch lustig -machen; das will ich ihnen austreiben.“ - -„Fein war’s heute in der Reitbahn,“ begann einer der ‚Granadasöhne‘ die -Unterhaltung. „Ich hatte einen famosen Gaul. Nächstens darf ich in der -Quadrille mitreiten.“ - -„Entsetzlich! Sie fangen schon an zu protzen,“ raunte Theobald seinem -Vetter unter der vorgehaltenen Hand zu. - -„Du, Hans, reitest du auch?“ wandte sich der „Granadasohn“ an den -verblüfften Knaben. - -„Ja,“ rief Theobald laut. - -„Fällt mir gar nicht ein,“ erwiderte Hans und begann zu lachen. „Ich -hab’ ja kein Pferd.“ - -„Dann reitest du also nicht?“ - -„Mein Gott, bist du schwerhörig?“ rief Theobald, „soll er vielleicht -auf einem Besenstiel reiten, wenn er kein Pferd hat?“ - -Alles lachte. Nur Toni warf ihrem Bruder einen entrüsteten Blick zu und -schüttelte ihr Haupt. - -Er aber saß mit unbeweglichem Gesicht da, die Arme fest verschränkt und -rüstete sich auf weitere Angriffe. - -„Dummes Zeug,“ verwies hier einer der Fremdlinge denjenigen seiner -Brüder, der Hans ausgefragt hatte. „Wie kannst du nur fragen, ob Hans -reitet. In diesen Kuhdörfern in den Bergen, wo er her ist, gibt’s doch -keine Pferde. Nichts gibt’s dort, einfach nichts. Schauderhaftes Leben.“ - -„Ja, selbst die größeren Hammelsbraten und Ochsen findet man hier,“ -warf da Theobald herausfordernd ein. - -Die Augen der Fremdlinge blitzten; sie bemeisterten sich aber noch, und -einer suchte Zigaretten hervor und bot sie im Kreise herum an. - -„Du rauchst doch auch,“ wandte er sich an Hans. - -„Nein,“ rief Theobald, „er darf es nicht, er ist viel zu klug dazu. Ihr -wißt doch, je klüger die Leute, je gefährlicher für sie das Rauchen. -Ich möchte an eurer Stelle gar nicht sagen, daß ich’s so gut vertragen -kann.“ - -In diesem Ton ging die Unterhaltung weiter. Es war nun mal so und nicht -zu ändern. Fremdlinge und Sausewinde konnten einander nicht ausstehen, -vielleicht weil einer dem andern seine Vollkommenheit im Protzen -und Aufschneiden übelnahm. Was das Aufschneiden anbetraf, gebührte -entschieden Theobald die Palme, was das Protzen anbelangte, eher den -Fremdlingen. - -Im Laufe des Nachmittags gerieten die beiden Parteien häufig hart -aneinander, und es sah aus, als sollte es zu einer regelrechten -Schlacht kommen. - -Da erschien aber noch zur rechten Zeit der Diener und meldete, daß -der Teetisch gedeckt sei. Die Kinder sprangen auf und drängten in das -Eßzimmer, um dort an einem einladend hergerichteten Tisch Platz zu -nehmen. - -Trotzdem verging Suse die Lust auf die appetitlichen Kuchen, die sie -aus silbernen Körben anlachten; denn gerade als sie einen Mohrenkopf -zum Munde führen wollte, öffnete sich die Tür und die schwarzen Frauen -von vorhin tauchten zum zweitenmal auf. - -Suse blieb der Bissen im Munde stecken. Lautlos wie Fledermäuse -strichen die Fremden hinter Susens Stuhl vorüber und kamen jenseits des -Tisches wieder zum Vorschein, beim Bedienen helfend. - -Jedesmal bei ihrem herankommen lief dem kleinen Mädchen ein Gefühl über -die Haut, als fließe ihr kaltes Wasser den Rücken hinunter. - -Während nun Susens Aufmerksamkeit auf die Schwarzen allein gerichtet -war, hatte ihre kleine Verwandte Concha sie die ganze Zeit mit -spöttischem Blick angesehen, vor allem aber ihr berühmtes Schmuckstück -scharf ins Auge gefaßt. - -„Ist die Brosche von Gold?“ fragte sie mit einem Male laut. - -Alle sahen nach Susens Talisman und lachten. - -„Ist sie von Gold?“ fragte Concha noch einmal. - -Suse wußte nicht, was antworten. Hans aber wurde es ungemütlich zu -Sinn, und er hätte gern die Geschichte von dem Prinzen und seiner -Bewunderung für das Stiefmütterchen erzählt. Aber er fürchtete, in der -Mitte stecken zu bleiben und die Sache noch schlimmer zu machen. - -Suse wäre jetzt am liebsten mitsamt ihrem Stiefmütterchen aufgesprungen -und davongelaufen, durch die Tür in den Garten und auf die Straße. -Es war ja nichts hier, wie sie erwartet hatte; im Gegenteil, eine -Enttäuschung folgte der andern. -- Auch der Onkel war nicht da, der -doch so viele schöne Geschichten wußte, wie Toni vorhin Suse erzählt -hatte, und einem die ausgestopften Tiere zeigte. -- Er hatte unerwartet -verreisen müssen. - -Da war es denn eine große Erleichterung, als Liselotte erschien und den -Kindern verkündete, sie möchten unter der Aufsicht der schwarzen Frauen -in den Zoologischen Garten gehen. -- Sie bliebe hier bei ihrer Tante. - -„Wie schön,“ entfuhr es halblaut Susens Mund. Und auch Hans leuchtete -die Freude aus den Augen. - -Die Löwen, Tiger, Leoparden, all die wilden Tiere im Zoologischen -Garten kamen den Kindern mit einem Male anheimelnder vor als die ganze -Einwohnerschaft der Villa Granada zusammengenommen. - -Schnell fand nun der Aufbruch statt. Von der fremden Dame brauchten -sich die Kinder nicht zu verabschieden; denn sie hielt sich -eingeschlossen in einem entfernten Zimmer und wollte niemand sehen. Und -es war auch ganz gut, daß ihre kleinen Besucher ihr Gesicht nicht zu -sehen bekamen. Zuviel Widerwillen gegen ihre Gäste malte sich darin, -als daß es sie nicht hätte bitter kränken können. - -Von den schwarzen Frauen geleitet, verließen die Kinder den Garten der -Villa Granada. - -„Jeder lacht, wenn er uns anguckt,“ meinte Theobald, als sie das Freie -erreicht hatten. „Guck, Suse, wie die dort drüben den Mund aufsperren -und uns mit unseren schwarzen Tintenfischen angaffen!“ - -Und damit wies er auf einige Leute jenseits der Straße. - -Suse achtete nicht auf ihn und seine Reden. In Gedanken weilte sie -bereits weit weg, und wie im Nebel verschwand die Villa Granada hinter -ihr. - -Vor dem Zoologischen Garten verabschiedeten sich die beiden ältesten -Fremdlinge von der Gesellschaft, da sie die fremden Tiere nicht -interessierten, wie sie behaupteten. - -Theobald zauderte einen Augenblick. Auch er wollte den feinen, -übersättigten Herrn spielen. - -Aber mit aller Gewalt zog es ihn doch vorwärts in den Garten hinein. - -Als die Kinder den großen, breiten Weg betreten hatten, der mitten -durch den Zoologischen Garten führte, ging Suse bescheiden in züchtiger -Haltung vorwärts, als schritte sie durch eine Kirche. Ihr Herz klopfte -erwartungsvoll. Die bunten Papageien und Kakadus, die, auf hohen -Stangen an kleinen Ketten angeschmiedet, rechts und links vom Wege -saßen, schien sie kaum zu beachten. - -Ihre Gedanken weilten schon beim König der Tiere. - -„Der Löwe,“ murmelte sie leise vor sich hin. „Ach, wenn ich ihn doch -nur schon sähe!“ - -„Sollst du, mein Herzblatt, darfst ihm auch einen Kuß geben,“ sagte -Theobald tröstend an ihrer Seite. Und er richtete es so ein, daß die -ganze Gesellschaft ihren ersten Gang auf die Raubtierkäfige zu nahm. -Hinter den Gittern hervor sahen die Doktorskinder zuerst nur die -gelben Felle der Tiere schimmern. Ihre Gestalten konnten sie noch -nicht erkennen. -- Aber jetzt, als sie näher kamen, erblickten sie -den König der Tiere und stutzten. Ruhig und majestätisch lag er da, -den mächtigen Kopf mit der schweren Mähne stolz erhoben, das Auge -regungslos ins Weite gerichtet. Suse klopfte das Herz bis zum Halse; -sie verlangsamte ihren Schritt und blieb dann zitternd stehen. -- Der -Löwe war aufgesprungen und dicht an das Gitter getreten und ging jetzt -mit lautlosen Schritten dort auf und nieder, die Stäbe mit seinem Fell -streifend. Und gleichsam einer unsichtbaren Macht gehorchend, hielt er -plötzlich im Wandern inne und wandte sein gewaltiges Haupt Suse zu. - -Witternd erhob er seine Nase und richtete seine feurigen, funkelnden -Augen fest auf sie. Und mit einemmal riß er das Maul auf und brüllte -schauerlich. - -Suse schrie mit und eilte in großen Sprüngen von dannen. - -Ängstlich wandte sie sich schließlich um und sah die andern Kinder -lachend am Käfig des gefährlichen Raubtiers stehen. Da kehrte auch sie -wieder um, schlich langsam heran und stand lange bei ihnen, den Löwen -mit Ehrfurcht betrachtend. - -Angesichts ihres weibischen Zagens wuchs Theobalds Mannesmut ganz -gewaltig, und für die nächste halbe Stunde spielte er sich in -unerträglichster Weise als der Kinder Beschützer und Berater auf. Seine -weisen Belehrungen nahmen kein Ende. - -„Das ist der Königstiger, seht, meine lieben Kinder,“ begann er vor -einem Käfig, in dem ein abgemagertes Tier sich aufhielt. - -„Der Königstiger ist eine aus fremden Erdteilen stammende Bestie und -keine Kuh, wie ihr euch vielleicht bei diesem Prachtexemplar einbildet. -Dies ist nämlich der Abklatsch einer Kuh. Es hat magere Beine, Krallen -wie Hufe und einen spärlichen Haarwuchs. Anstatt, daß er durch das -Dschungel schleicht und auf Beute auszieht, kann er sich jetzt mit -seinem ausgefransten Schwanzstummel die Mücken abwedeln.“ - -„Genau wie Onkel Fritz redest du,“ seufzte Toni, „oh, es ist ein Elend. -Alles plapperst du ihm nach! Mutter sagt auch, du bist sein ganzer -Abklatsch.“ - -Zum Glück hörte außer Toni niemand sonderlich auf des unverbesserlichen -Theobalds Reden, ging doch jeder seine eigenen Wege. - -Hans und Suse waren bald bei den Affen, dann bei den Rehen, dann -bei den Elefanten, auch beim Wolfe zu sehen. Wie schön war dieser -Nachmittag nun doch noch geworden! Viel, viel schöner, als es sich die -Kinder noch vor kurzem hatten träumen lassen. - -Wie sie so durch den Garten schritten, kam es, daß ihre Wege sich -trennten. Hans interessierte sich für die Tiere im Aquarium mehr als -Suse, und so lief sie denn allein weiter. - -Nach geraumer Zeit traf sie mit Theobald zusammen, der sich eine halbe -Stunde lang mit dem Wärter eines Schimpansen unterhalten hatte und der -nun, durch diese Auszeichnung geschmeichelt, wie auf Stelzen ging. - -Natürlich zögerte er nicht, seine eben erworbenen Kenntnisse der -Cousine brühwarm zu unterbreiten. Und über Schimpansen, Gorillas und -Orang-Utans redend wie ein berühmter Zoologieprofessor, schlenderte er -mit ihr weiter und hörte erst mit Reden auf, als er mit ihr vor dem -Vogelkäfig stand und an ihren begeisterten Ausrufen hörte, daß sie -seine ganze Affenweisheit kalt ließ. - -„Ach, wie schön,“ rief sie, „ach, wie schön! hätten wir doch nur -zwanzig von diesen Vögeln. Mit zehn wäre ich auch zufrieden. Ach, am -schönsten wäre es doch, die Türe plötzlich zu öffnen und alle Vögel -herauszulassen,“ meinte sie. „Sicher würde Hans das auch sagen.“ - -Aber wo war ihr Bruder? Mit einem Male fiel ihr ein, daß sie ihn schon -eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte. - -„Wo ist Hans wohl?“ wandte sie sich an Theobald. - -„Ach, der gafft sicher irgendwo durch ein Gitter und sammelt -Kenntnisse.“ - -Noch hatte der Knabe nicht ausgeredet, da bekam sein Gesicht einen -gespannten Ausdruck. - -In der Ferne hatte er lautes Schelten gehört. Er lauschte -angestrengter. Die Stimmen wurden lauter. „Scht,“ mahnte er, „ist das -nicht Hans?“ - -Nun horchte Suse auch hin. Und im nächsten Augenblick eilten beide auf -die Richtung zu, aus der der Lärm kam. -- Sie glaubten, Hans rufen -gehört zu haben. - -Nach einigen Sekunden sahen sie einen seltsamen Aufzug um die Ecke -biegen: die beiden schwarzen Frauen kamen in großer Aufregung daher. -Christoph und Henner hefteten sich gestikulierend wie Volksaufwiegler -an ihre Fersen. Toni und die Fremdlinge redeten aufeinander ein, und -mitten zwischen ihnen ging stolz wie ein Leu der Wärter und schleppte -Hans am Rockkragen neben sich her. - -Mit verstörten Augen blickte der kleine Knabe um sich und schwebte alle -paar Schritte, durch einen Ruck seines Führers aufgehoben, über den -Erdboden dahin. - -Suse glaubte bei diesem Anblick, die Erde tue sich auf, und stand -einige Augenblicke wie versteinert. Dann lief sie schnell auf ihren -Bruder zu, packte ihn bei der Hand und rief: „Was ist denn? Was ist -denn? Ach, Hans! Ach, Hans!“ - -„Ach, bitte, bitte,“ wandte sie sich an den Wärter, „lassen Sie Hans -los. Weshalb halten Sie ihn so fest?“ - -„Ja, Sie reißen ihm ja den Arm ab,“ rief nun Theobald, und schon war -er mitten im Gewühl drin und fragte unerschrocken, was sein Vetter -eigentlich verbrochen habe, daß er wie ein wildes Tier durch den -Zoologischen Garten geschleift würde. - -Da rief der Mann, dem die Galle anscheinend überlief, Hans habe dem -schönsten und teuersten Kamel des Zoologischen Gartens Sand in die -Augen geworfen. Das Tier werde sicher blind. -- Es sei eine unerhörte -Frechheit. -- Und mit einem Blick auf Theobald, der herausfordernd -dastand, erklärte er, Theobald sähe übrigens aus, als brächte er auch -so was fertig. - -Der Knabe wich ein paar Schritte zurück und murmelte: „Unverschämtheit -sondersgleichen!“ - -Suse aber weinte bitterlich und sagte: „Hans hat noch keinem Tier was -zuleid getan. Nie, nie hat er einem Tier was Böses getan.“ - -Jedoch die Fremdlinge und ihre schwarzen Begleiter nickten fortwährend -und sagten: „Ja, ja, er hat’s getan.“ - -„Bist du’s gewesen?“ fragte da Theobald in wohlabgemessener Entfernung -von dem Wärter seinen Vetter. - -Hans antwortete nicht. - -Da faßte der Frager kurz entschlossen seines fremden Vetters Jose -Hand und streckte sie dem Wärter mit den Worten hin: „Sehen Sie, Herr -Wärter, dem seine Hand ist ganz voll Sand. Der Lügner hat’s getan, -nicht der andere.“ - -„Mach, daß du fortkommst, stoppelhaariger Dickkopf!“ fuhr ihn der -Wärter an, „oder du gehst auch mit.“ - -In ein paar Sprüngen war Theobald um die nächste Ecke. Der wütende Mann -aber verschwand mit Hans und seinen Zeugen, den Fremdlingen, auf der -Direktion. - -Lange, bange Augenblicke verstrichen für die Zurückbleibenden. Toni und -der wiederkehrende Theobald hatten Mühe, Suse zu hindern, ihrem Bruder -zu folgen. - -„Es geschieht Hans doch nichts, kein Mensch rührt ihn an,“ -beschwichtigte Toni immer wieder. Theobald hingegen machte seinen -Gefühlen in lauten Worten Luft. - -„So eine Gemeinheit wie heute hab’ ich doch noch nie gesehen,“ rief -er. „Pfui! Pfui! -- Unser Vater sagt immer, wir sind das furchtbarste -Unkraut, das es gibt. Wir färbten auf alle ab. -- Aber so was brächten -meines Vaters Kinder doch nicht fertig! Nein, gemein wären wir nie!“ - -„Weißt du, Henner, mit meinem Eichhörnchen hat Jose dasselbe Experiment -gemacht,“ wandte er sich an seinen Bruder. „Seit dem Tage, als er es -mit Sand geworfen, hat’s kranke Augen.“ - -„Ja, ja,“ riefen seine Brüder und brachen in ein wildes Rachegeschrei -aus. - -Während die Kinder nun so in einer sich immer steigernden Aufregung -durcheinander redeten, war drüben an der Einzäunung, hinter der das -Rehwild stand, schon eine Weile ein junger Mann zu sehen gewesen, der -aufmerksam nach dem erregten Häuflein herübergeschaut hatte. Seiner -Tracht und seiner sehnigen Gestalt nach zu urteilen, gehörte er den -Gebirgsbewohnern an. - -Jetzt, als Suse auf wenige Sekunden die Hände von den Augen ließ, so -daß ihr Gesicht voll zu erkennen war, nickte er mehrmals befriedigt vor -sich hin und ging dann geradewegs auf sie zu. - -„Guten Tag,“ sagte er, vor ihr stehen bleibend. „Gelt, du bist doch -Doktors Suse? Ich hab’ mir doch gleich gedacht, das ist Doktors Suse.“ - -Das kleine Mädchen sah den fremden Mann groß an und wußte einige -Augenblicke lang nicht, wen sie vor sich hatte. - -Aber mit einemmal ging es wie ein Erwachen über ihre Züge; ihre Augen -strahlten, und sie rief glückselig: „Ach, das ist ja Philipp. Wo kommst -du her, Philipp? Ach, wie freu’ ich mich! -- Das ist Martins Bruder,“ -sagte sie zu den andern, „sein ältester Bruder Philipp, der ihm die -schönen Geschenke macht. -- Weißt du, Theobald? du kennst Martin ja -auch. -- Wie schön, daß du da bist, Philipp,“ rief sie jetzt dem Freund -aus der Heimat zu. - -Der junge Mann hielt etwas verlegen des kleinen Mädchens Hand noch -immer in der seinen, wußte nicht recht, was damit anfangen und sagte in -einem fort: „Wie geht’s denn, Suse, geht’s gut? Geht’s gut?“ - -Das kleine Mädchen antwortete nicht. Sie sah mit immer leuchtenderen -Augen in sein Gesicht. -- Er war ja von daheim, von zu Hause, wo er -alles kannte, die Eltern und Michel und Rosel und Christine und den -Wald und die Berge und das Doktorshaus und den Garten, alles, alles. -Sie meinte im Augenblick, er sei ihr Bruder. -- Sie wollte ihn nicht -mehr los lassen. - -„Wie geht’s dir denn, Philipp?“ fragte sie schließlich, als sie sich -wieder gefaßt hatte. „Und wie geht’s deiner Mutter? und was macht -Martin? hat er uns nicht grüßen lassen?“ - -Verwundert sah der junge Mann sie an und fragte dann: „Ei, hör’ mal, -Suse, weißt du denn nicht, daß ich schon viel länger von zu Hause fort -bin, als ihr zwei? Bald zwei Jahre?“ - --- „Ach ja, ach ja!“ - -Suse hatte es in ihrer Aufregung nur ganz vergessen. Jetzt fiel ihr -wieder ein, daß Philipp als Holzflößer hinunter in das Tal gezogen war -und auf einem Lastkahn auf dem Kanal Beschäftigung gefunden haben -sollte, wie Martin ihr und Hans erzählt hatte. -- Wie hatte sie nur so -dumm sein können, es zu vergessen! Hans pflegte ja stets mit Martin die -Wochen und Monate auf dem Kalender anzustreichen, die der Bruder des -armen Krüppels noch in der Fremde zu verbringen hatte. - -„Schon zwei Jahre bist du fort von daheim?“ fragte Suse nun mit -Bedauern in der Stimme. -- „Oh, wie lang! Konntest du es so lange -aushalten, Philipp? Das könnte ich nicht aushalten. Hast du denn kein -Heimweh gehabt?“ - -„Das schon,“ meinte Philipp, „aber man hat halt viel zu tun, und da -vergißt man das Heimweh. Und dann denkt man auch immer, die Zeit geht -herum. -- Jetzt noch zwei bis drei Wochen, dann bin ich wieder zu -Hause.“ - -„Vor Pfingsten schon?“ fragte Suse. - -Er nickte. - -„Wie schade!“ rief das kleine Mädchen, „wenn du doch noch ein wenig -warten würdest, könnten wir die Reise zusammen machen. Pfingsten gehen -wir auch nach Hause. Denke dir, wie schön es wäre, wenn wir alle drei -zusammen ankämen. -- Martin will uns abholen. Weißt du dort auf dem -Rain, wo der Weg aus dem Walde kommt, dort wartet er schon am Mittag, -wenn wir auch erst um fünf Uhr kommen. Er hat’s gesagt, und das letzte -Stück fährt er in der Postkutsche mit uns.“ - -Hier sah sich Philipp forschend um und fragte ganz erstaunt: „Wo ist -denn Hans? Er ist doch nicht krank? Fehlt ihm was? Er ist doch auch mit -dir hier zum Lernen?“ - -Da verdunkelte sich Susens Gesicht aufs neue, und sie erzählte -bitterlich weinend alles, was sich zugetragen hatte. Und plötzlich -kam Leben in den stillen, zurückhaltenden Gebirgsbewohner, und er -rief blitzenden Auges: „Ist der Bursch, der mit Sand geworfen hat, -vielleicht so ein kleiner Knirps, dünn wie ein Wollfaden, der mit den -beiden schwarzen Weibsgestellen da herumläuft? Himmelsapperment, den -hab’ ich vorhin gesehen, wie er einem Affen einen kleinen Stein an den -Kopf geworfen hat. Da hab’ ich mir gesagt, jetzt noch ein Wurf, und du -langst ihm eine, daß ihm der Hut vom Kopfe fliegt. -- Wo ist er?“ - -„Da drin,“ rief Theobald, auf das Gebäude der Direktion deutend. Und -Philipp sprang in großen Sätzen geradeswegs auf die Eingangstüre des -Hauses zu. - -Theobald eilte in gleichen Schritten hinterdrein, kehrte aber wie der -Wind wieder um, als er im Vorraum des Gebäudes plötzlich die Stimme des -Wärters hörte. -- - -Nun währte es nicht mehr lange, da kam auch die übrige Gesellschaft -wieder zum Vorschein. Allen voran schritt Philipp, Hans an der Hand -haltend. Des jungen Mannes Augen blitzten wie die eines Siegers. -Trotzdem hatte er wenig ausrichten können. Der Wärter und die -Fremdlinge hatten eben zu fest auf ihrer Behauptung bestanden, Hans sei -der Missetäter, als daß er etwas dagegen hätte tun können. -- Aber die -Sache sollte noch einmal untersucht werden, hatte ihm einer der Beamten -versichert. -- Inzwischen sollte erst mal abgewartet werden, ob das -Kamel überhaupt erblinde. -- In diesem Falle werde es Hans zugesprochen -werden, und der müsse fünftausend Mark dafür bezahlen. -- Natürlich -gehöre das Tier dann ihm. - -Nachdem Suse und ihre kleinen Verwandten das Urteil vernommen hatten, -trennten sie sich voneinander, Toni, um mit ihren jüngeren Brüdern in -die Villa Granada zu gehen und Liselotte abzuholen, Theobald, um mit -Philipp und den Doktorskindern ihre Wohnung aufzusuchen. - -Suse wich auf dem ganzen Weg dorthin nicht von Philipps Seite. -- Die -Aussichten, die Hans auf Freisprechung hatte, mußten mit dem Freund -aus der Heimat eingehend beredet werden. -- „Es wird schon alles gut -werden, es wird schon alles gut,“ tröstete jener immer wieder. -- Dann -sprachen die beiden zusammen über Martin und sein Leiden. Von einem -künstlichen Bein, das Hans und sie dem armen, verkrüppelten Freund -dermaleinst schenken wollten, wenn sie genügend Geld zusammen hätten, -plauderte Suse. Auch von Martins Fertigkeit im Schnitzen. -- Einen -wunderschönen Nähkasten habe er neulich ihrer Mutter geschnitzt, und -jetzt gedenke er ein Kreuz für die Kirche anzufertigen, erzählte sie. - -Mit stillem Stolz hörte Philipp ihren Lobpreisungen zu. - -Theobald aber spielte derweil Erzieher bei Hans und rief, ihn am Arm -schüttelnd: „Ich hab’ gemeint, ihr seid schon daheim hier und wißt, -wie ihr euch zu benehmen habt. Aber läßt man euch mal aus den Augen, -wupp, da habt ihr auch schon ein Kamel am Bein und sollt noch außerdem -fünftausend Mark dafür auf den Tisch des Hauses legen! Wie auf die -Wickelkinder muß man auf euch aufpassen! Gräßlich! Man läßt sich doch -nicht so einfach von jedem Lügenbold sagen, daß man was getan hat, wenn -es nicht wahr ist. Wozu hat man denn seine männliche Faust? Doch nicht -dazu, daß man sie in die Tasche steckt, sondern daß man damit um sich -boxt. Verstanden?“ - -„Ja!“ sagte Hans kleinlaut. - -Vor dem Haus der Frau Cimhuber bat Suse ihren Landsmann eindringlich, -doch ein wenig mit hinauf zu gehen und Frau Cimhubers Wohnung -anzusehen, damit er allen Freunden und Bekannten daheim erzählen könne, -wie fein sie wohnten. -- Sie hätten nämlich auch eine Negerstube. - -Doch Philipp drückte den Hut tiefer in die Stirn und meinte verlegen, -der Pfarrfrau sei es sicher nicht angenehm, wenn ihr ein fremder Mann -die Stuben voll Schmutz trage. -- Drum wolle er sich mit ihnen lieber -an einem dritten Ort noch einmal treffen. -- Einen Tag bliebe er -voraussichtlich noch hier. So verabredeten die drei aus Schwarzenbrunn -denn eine Zusammenkunft für den andern Morgen bei der roten Brücke, wo -Philipps Kahn lag, nicht weit von Frau Cimhubers Wohnung. - -Nachdem diese Verabredung getroffen war, verabschiedete sich die -Gesellschaft voneinander. - -Und nun wurde es den Geschwistern mit einemmal wieder recht beklommen -zu Sinn. - -Jetzt hieß es ja, Frau Cimhuber beichten, was sich zugetragen hatte. - -Zurzeit saß die Pfarrfrau gerade strickend in der Negerstube und sagte -so recht voll Behagen zu Ursel: „Nun müssen die Kinder bald kommen. -Ich freu’ mich schon. Es ist so schön, wenn ihre Augen blitzen und sie -erzählen. -- Die Jugendzeit kehrt mir wieder ins Gedächtnis zurück. --- Sie haben solch eine lebendige Auffassungsgabe für alles und ein -wirkliches Erzählertalent. Nicht wahr?“ - --- Da klingelte es schüchtern. - -Die alte Magd ging zur Tür, öffnete, sah zwei kreideweiße Nasen, -stutzte und schob die beiden Pechvögel stracks vor das Antlitz ihrer -Herrin. „Ich will gar nichts hören, ich seh’ schon genug,“ sagte sie. - -Frau Cimhuber nahm langsam ihre Brille ab und schaute die Kinder -erwartungsvoll an. -- Da standen sie nun. -- - -Und Suse begann zu erzählen, und je mehr sie erzählte, um so -jämmerlicher wurde ihr Ton, und um so größer wurden ihrer Pflegmutter -Augen; schwer sanken ihre Hände in den Schoß, und zuletzt stieß Suse -schluchzend hervor: „Und der Herr Direktor hat gesagt, Hans bekommt das -Kamel. Es kostet fünftausend Mark. Es kommt hierher. Morgen vielleicht -schon. Wir dürfen’s behalten.“ - -„Was sagst du da? Ich versteh’ nicht recht!“ sagte Frau Cimhuber und -ließ vor Schreck ihr Strickzeug samt dem Garnknäuel auf die Erde fallen. - -Da wiederholte Suse jämmerlicher als vorher: „Und da hat der -‚Granadasohn‘ Jose ein Kamel mit Sand geworfen, Frau Pfarrer, und hat -gesagt, Hans hat’s getan, und da hat der Direktor gesagt: Hans soll -fünftausend Mark bezahlen und das Kamel gehört dann uns. Ganz bestimmt, -das hat er gesagt, Frau Pfarrer. Das Kamel ist dann unser!“ - -„Das ist zuviel,“ sagte Frau Cimhuber. - -Suse aber sah unentwegt nach Ursel hin, die wie verwandelt war. Sie saß -da, die Schürze vors Gesicht gedrückt und weinte. „Ein Kamel, Frau -Pfarrer,“ rief sie. „Lieber Gott in deinem gerechten, großen Himmel, -ein Kamel! Wer denkt denn so was! Alles andere hätt’ ich mir eher -träumen lassen, nur kein Kamel! Wenn das so fortgeht, weiß ich nicht, -was noch wird. -- Anständige Leute haben überhaupt kein Kamel!“ - -„Vielleicht hat der Herr Edwin in Afrika eins,“ warf Suse kaum hörbar -ein und hoffte durch diesen gescheiten Einfall Ursel umzustimmen. - -Aber nichts dergleichen traf ein. - -Vielmehr jammerte sie ärger als bislang weiter: „Frau Cimhuber, haben -Sie jemals daran gedacht, daß wir noch einmal in unserem Leben ein -Kamel bekommen werden? Ich nicht. Nur Bärenführer ziehen damit herum.“ - -„Aber Ursel, beruhigen Sie sich doch!“ rief Frau Cimhuber. „Das Kamel -ist ja überhaupt noch nicht da. Wir wissen ja noch gar nicht, ob es -kommt.“ - -„Es kommt, haben Sie keine Angst, es kommt!“ rief Ursel. „Das sag’ ich -Ihnen aber, ich verreise, wenn es kommt. Ich will nicht sehen, wie die -Leute die Fenster und Türen aufreißen und lachen, wenn sie’s da unten -vor unserer Haustür stehen sehen und warten.“ - -Hansens Verstörtheit nahm angesichts dieser Verzweiflung zu. Und es -war ihm zu Sinn, als habe sich das gräßliche Tier bereits zur Tür -hereingedrängelt und wolle nicht mehr weichen. - -Mit Suse schlich er hinaus. - -„Du brauchst keine Angst zu haben,“ sagte die Schwester, den Arm um -ihren Bruder schlingend. „Du hast das Kamel nicht geworfen, und deshalb -darf dir auch keiner was tun.“ - -„Wenn sie’s aber doch glauben, daß ich es gewesen bin.“ - -„Aber sag’ mal, Hans,“ meinte hier Suse vorwurfsvoll. „Weshalb hast du -denn nicht gleich gesagt, daß du’s nicht gewesen bist?“ - -„Ich hab’ mich so geschämt,“ sagte er leise, „wie sie so gelogen haben. --- Ich habe kein Wort sagen können vor Schreck, Suse. -- Die lügen ja, -Suse! Die lügen!“ - -„Aber Hans, wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen,“ mahnte die -Schwester. „Das hat auch Theobald gesagt. Wenn wir recht haben, dürfen -wir auch sagen, daß wir recht haben. - -Du hättest überhaupt nicht bei dem gräßlichen Jose stehen bleiben und -zugucken dürfen, daß er geworfen hat. Du hättest weitergehen sollen.“ - -„Ich bin gar nicht stehen geblieben. Sieh, Suse, ich bin gerade dazu -gekommen, wie er das Kamel geworfen hat. Und wie es vor Schreck mit den -Augen gezwinkert hat, hat er gelacht. Da hab’ ich ihm gesagt: Laß das -sein, das tut ihm weh! - -Da sind alle miteinander wütend geworden, am wütendsten die schwarzen -Frauen, und haben gesagt: Geh fort, du hast uns hier nichts zu sagen. -Du und Suse, ihr seid beide schmutzig und arm.“ - -„Was?“ rief Suse blitzenden Auges und kirschrot vor Zorn. „Das haben -sie gesagt? Oh, wie häßlich! - -Das sind die gräßlichsten Menschen auf der ganzen Welt. Und wir sind -viel sauberer als sie. Und wir baden uns jeden Tag. Und das schreib’ -ich jetzt alles dem Vater und der Mutter hin, und der Vater soll ihnen -die Wahrheit sagen. Und sie sollen so Angst bekommen, so Angst, daß sie -sich gar nicht mehr aus ihrem Garten ’raus trauen.“ Und die Rede der -Fremdlinge wurmte Suse so, daß sie heute abend an nichts anderes mehr -denken konnte, sondern mit dem Gedanken daran ihr Lager aufsuchte. - -Hans drehte und wendete sich des Nachts unter Stöhnen hin und her. Suse -merkte nichts davon. - -Am andern Morgen ganz früh waren die beiden schon wach und rüsteten -sich für ihren Gang zu Philipp. Frau Cimhuber und Ursel waren mit -dem Vorhaben der Kinder einverstanden, denn alle Schritte, die Hans -in seinem Abenteuer mit dem Kamel von Vorteil sein konnten, sollten -gefördert werden. - -Besonders Ursel drängte zum Aufbruch. - -„Die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, gerad’ zusammengeschlagen -bin ich,“ jammerte sie. „Kein Auge hab’ ich zutun können. Leibhaftig -hab’ ich das Kamel vor mir gesehen.“ - -Die Kinder waren derartig mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, daß -sie Ursels Klagen kaum verstanden! Schnell packten sie ein schönes -Notizbuch sowie einen Bleistift für Martin zusammen und traten schon -um halb sieben Uhr vor die Haustür. Quer liefen sie über die Straße -hinüber zum Ufer des Kanals, um an ihm entlang den Weg auf die rote -Brücke zu nehmen. - -Suse war so ausgelassen und froh heute, wie sonst nur auf ihren -Schulwegen daheim. Sie warf den Kopf in den Nacken und rief dem -strahlenden Himmelsgestirn über sich voll Übermut zu: „Brenn’ mich ins -Gesicht, liebe Sonne, brenn’ mich, es macht mir nichts. Heute macht’s -mir nichts. -- - -Gedörrte Zwetschgen und Apfelschnitzen will Philipp uns schenken,“ -fuhr sie dann eifrig zu ihrem Bruder fort. „Er hat’s mir gestern -versprochen. Er hat noch welche von zu Hause. Gestern hat er gesagt, er -will uns heute welche geben.“ - -„Oh, wie freu’ ich mich,“ rief Hans, „die mag ich ja so gern.“ - -Die beiden eilten schneller als bislang vorwärts. Nur zehn Minuten -hatten sie noch bis zum Ziel ihrer Wanderung. Je näher sie ihm kamen, -desto aufgeregter wurden sie. Zuletzt sprachen sie kaum noch ein Wort. -Ihre Blicke richteten sich gespannt geradeaus. Jetzt tauchte das -Gemäuer der roten Brücke auf und die eisernen Lichterträger an ihren -Enden. Jeden Augenblick mußte jetzt ihres Freundes Philipp hohe Gestalt -dort zu sehen sein. Sicher wartete auch er schon voll Ungeduld auf -seine Landsleute. Nur noch ein paar Schritte, dann standen sie am Ziel. -Doch enttäuscht sahen sie sich um. -- Kein Philipp war zu sehen, und -am Ufer lag sein Kahn nicht mehr. Weithin auf und nieder konnten sie -über das Wasser des Kanals sehen, aber kein Lastkahn schwamm auf seinen -toten Fluten. Nur der Sonnenschein spielte darauf, und der Strahlen -Blinken traf zuweilen wie spitze Nadeln die Augen der Kinder. - -Keines von den Geschwistern sprach ein Wort. Traurig sah Suse auf -Martins Geschenk und dachte bei sich, daß Philipp wohl im Morgengrauen, -als alle noch schliefen, an Frau Cimhubers Haus vorübergefahren sei und -keinen Gruß in die Heimat mitgenommen habe. - -Minutenlang verharrten die beiden so in gedrücktem Schweigen, bis Hans -schließlich leise sagte: „Er ist fort.“ - -Suse nickte mit Tränen im Auge. Wieder verfielen die beiden in -Stillschweigen. Dann zupfte Hans plötzlich seine Schwester am Ärmel -und zeigte auf ein paar Arbeiter, die am Rande des Kanals standen und -Steine aufschichteten. - -„Wollen wir die nicht fragen, ob sie nicht wissen, wann Philipp fort -ist?“ meinte er schüchtern. - -Suse stimmte ihm zu. - -Und er ging langsam von der Kanalbrücke herab auf eine Treppe zu, die -von dem hochaufgebauten Straßendamm hinunter zum Kanal führte. Suse -folgte ihrem Bruder herzklopfend und hörte, wie er den Arbeitern, die -hemdsärmelig und sich laut unterhaltend, am Ufer verweilten, seinen -Morgengruß bot. - -Jene hielten mit Arbeiten inne und hörten dem Anliegen zu, das er -ihnen vorbrachte. Der eine von den Leuten, ein stämmiger und verwegen -aussehender Geselle, nickte mehrmals zu Hansens Reden. Und plötzlich -spie er einen Mund voll ausgekauten Priemtabaks scharf über Hansens -Kopf weg, mitten in die Steine hinein, worauf er, auf Suse deutend, -fragte: „Gehört die zu dir?“ - -Das kleine Mädchen fuhr erschreckt zusammen und nickte mehrmals aus der -Ferne. - -„Dann stimmt’s mit euch,“ meinte der Riese da vor ihnen in -versöhnlichem Ton. -- „Dann gehört ihr dem Doktor aus Schwarzenbrunn? -So ist’s doch? Gelt?“ - -„Ja,“ riefen beide. - -„Dann kommt mal her. -- Einer von denen, die heute morgen mit dem Kahn -fort sind, hat gesagt, es kommt ein Bub und ein Mädchen, die gehören -dem Doktor aus Schwarzenbrunn. -- Das seid ihr doch, gelt? Denen soll -ich ein Säckchen voll Apfelschnitzen und Zwetschgen geben.“ -- Damit -griff er in eine Höhlung zwischen den Steinen und holte einen karierten -Beutel hervor. Über Susens Gesicht ging ein Leuchten, als sie des -Säckchens ansichtig wurde. Solche karierten Beutel hatten ja alle Leute -von daheim. Christine und die Eltern von Susens Freundin und Rosel, -alle, alle. Darin nahmen sie ihr Vesperbrot mit, wenn sie zur Arbeit -aufs Feld gingen. - -„Da nehmt,“ sagte jetzt der Mann, indem er ihnen das Säckchen -reichte und abermals einen Strahl Tabaksbrühe pfeilgerade zwischen -Hans und Suse durchschickte. -- „Ich soll euch von dem Philipp aus -Schwarzenbrunn sagen,“ fuhr er fort, „daß er eure Grüße daheim -ausrichtet. Er mußte schon früher fort, als er gemeint hat.“ - -„Danke, danke vielmals,“ rief Suse, und griff nach dem Beutel, in -dessen straffgespannter Leinwand die Form der getrockneten Früchte -deutlich zu erkennen war. - -„Und wann ist der Kahn fortgefahren? Wissen Sie es noch?“ fragte sie, -„bitte, bitte.“ - -„Oh, so eine Stunde,“ meinte einer von den Männern. - -„Dann holen wir ihn noch ein,“ jubelte Suse. „Komm, Hans, komm. Martins -Geschenk soll er ja auch noch mitnehmen.“ - -Und nachdem die Kinder die Richtung erfahren hatten, die der Kahn -eingeschlagen hatte, liefen sie davon. Die rote Brücke lag an den -Grenzen der Stadt, und so kam es, daß sie das Häusermeer bald hinter -sich hatten. Nur vereinzelte Villen trafen sie noch auf ihrem Wege. -Doch auch die blieben binnen kurzem hinter ihnen zurück, und sie waren -im Freien. - -Nachdem sie eine halbe Stunde, mehr laufend als gehend, zurückgelegt -hatten, blieb Hans plötzlich stehen und erklärte, er sei zu müde, um -weiter zu rennen. Auch Suse hielt erschöpft im Laufen inne. -- - -Drei Kähne hätten sie schon angetroffen, meinte Hans, und auf keinem -wäre Philipp gewesen. -- Wer wisse, ob er vielleicht nicht doch auf -einem gewesen sei und sie hätten ihn nur nicht erkannt. -- - -„Wir kennen seinen Kahn ja gar nicht,“ erklärte er. „Und wir können -doch nicht nach jedem Kahn hinüberrufen, ist der Philipp dort?“ - -Eine Weile blieb Suse nachdenklich stehen, und dann kam auch ihr -die Einsicht, daß es Torheit sei, weiter zu laufen. So schlug sie -denn ihrem Bruder vor, eine kleine Rast am Wege zu nehmen. Er war’s -zufrieden, und beide setzten sich unter einem Pappelbaum auf der -grünen Böschung nieder, die zum Kanal hinabführte, und sie fanden es -sehr schön hier. Niemand störte sie. Tiefe Stille herrschte ringsumher. -Nur die Blätter der Pappel über ihnen schüttelte leise der Wind, und es -hörte sich an wie Regenrauschen. Doch nur das helle Sonnengold rieselte -durch die Zweige zur Erde nieder, wo die Kinder saßen. - -Drüben auf der andern Seite des Kanals war eine hohe Parkmauer zu -sehen. Schwere Buchenzweige hingen darüber. Eine kleine Tür führte aus -der Mauer zum Wasser hinab. Sicher wohnten dort auch Leute, die ein -so schönes Haus hatten wie die Granadakinder, durchschoß es Suse. Und -vielleicht, vielleicht waren auch sie so lieblos und unfreundlich. - -Doch sie hatte keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn Hans -hatte bereits den karierten Beutel geöffnet und ihr den ganzen Inhalt -in den Schoß geschüttet. -- Apfelschnitze und Birnen lagen kunterbunt -vor ihren Augen und lachten sie verführerisch an. - -„Viel, viel schöner sind sie als die, die uns Ursel kocht,“ meinten -beide und langten tüchtig zu. Dann teilten sie den Rest in zwei gleiche -Hälften, eine für Hans, die andere für Suse. -- Gretel und Peter in der -Schule sollten auch ihr Teil davon bekommen. - -Als sich die Kinder nun eine gute Weile ausgeruht hatten, dachten sie -endlich daran, daß es Zeit sei, in die Stadt zurückzuwandern. Zuvor -aber faltete Suse schnell noch einmal das Papier auseinander, das -Martins Geschenke enthielt, betrachtete sie mit seitlicher Kopfhaltung -zärtlich und sagte leise, indem sie vorsichtig darüber streichelte: -„Wunderschön.“ -- - -„Wir bringen es Martin mit, wenn wir nach Hause gehen,“ meinte sie halb -zu Hans gewandt, halb sich selbst zum Trost. - -Der Bruder stand auf und steckte seinen karierten Beutel in den Ranzen. -Dann setzte sich das Geschwisterpaar in Bewegung der Stadt zu. - -In der Schule, wo Hans mit Theobald und seinen Geschwistern -zusammentraf, wurden die Ereignisse des gestrigen Tages mit größter -Erbitterung durchgesprochen. Unternehmungslustig und rachelüstern -glänzten die Augen der Vettern wie die von Banditen. Sie hatten -sich einen Plan zu Hansens Rettung ausgesonnen. Wie das Licht des -Tages sollte seine Unschuld glänzen, erklärten sie und forderten den -Pechvogel deshalb auf, sich um drei Uhr mit Suse am Kriegerdenkmal -einzustellen. Dort sollte er alles erfahren. - -„Die Fremdlinge sollen vor uns zittern wie die Hasen,“ riefen sie, „die -Kinnbacken sollen ihnen schlottern, die Knie sollen ihnen einknicken, -das Herz soll ihnen in die Hosen rutschen, alles durch unsere tipp -toppe Umsicht.“ - -[Illustration] - -Daheim trafen die kühnen Rettungsengel dann emsig Vorbereitungen zu den -Taten des Nachmittags. In einer Geheimsprache klärten sie zuerst die -Schwester und Vertraute Toni über ihre Absichten auf, und nach Tisch -verschwanden sie in wilder Flucht im Garten. - -Wieserl, der kleine, kugelrunde Knirps, ihr jüngstes Schwesterchen, -das Mühe hatte, auf seinen dicken, kurzen Beinen zu stehen, stolperte -hinterdrein, um auch ihr Teil an der allgemeinen Aufregung zu haben. -Sie fiel der Länge nach mitten auf dem Kiesweg hin und lag schreiend -und zappelnd dort. Dann raffte sie sich wieder auf und setzte die -Verfolgung fort. - -Schließlich, als sie einsah, daß all ihr Laufen nichts nützte, kehrte -sie wieder um. - -„Mutter, Vater,“ sprudelte sie hastig heraus, „der Jockel... und der -Jockel... und in den Korb gesetzt, und Stroh und Heu... und alle fort, -aus der Gartentür... der Jockel in dem Korb, und der Jockel und alle -haben sie einen Stock. -- Und ade, Wieserl, haben sie gesagt, und Toni -hat geweint.“ - -Der Vater schüttelte seinen Kopf. Er hätte ihn aber noch viel mehr -geschüttelt, hätte er jetzt schnell mal einen Blick auf seine -Sprößlinge werfen können. - -Beim Kriegerdenkmal standen sie, Hans und Suse in ihrer Mitte, und -sahen begeistert zu ihrem Führer Theobald auf, der wie ein Held auf -der zweiten Stufe des Denkmals stand und einen Korb im Arm hielt. -Er redete: „Geliebte Freunde, ihr wißt, hier drin im Korb sitzt der -Jockel, unser Eichhörnchen. Der soll uns heute aus Not und Gefahr -erretten. Ihr wißt, zweimal hat diesen armen Jockel der miserable -Granadasohn Jose mit Sand geworfen. -- Also hat er auch das Kamel -geworfen. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. -- Wer -das Eichhörnchen mit Sand wirft, wirft auch das Kamel, darum schreiten -wir jetzt zur Rache. Wir lassen uns zuerst bei dem Onkel Gustav in der -Villa Granada melden. Ihr haltet euch höflich im Hintergrund. Ich rede. -Erst kommt die Geschichte von dem Kamel daran, darauf die mit unserem -Jockel. Auf ein Zeichen von mir trittst du, Henner, vor, öffnest den -Deckel von dem Korb und hebst das kranke Eichhörnchen ihm entgegen. - -Das wird ihn an die Wand werfen. Er wird blaß werden bis in die Lippen -und an die Schuld seiner nichtsnutzigen Söhne glauben. - -Dies wäre Fall Nummer eins. - -Nun kommt Fall Nummer zwei. Das wäre, wenn der Onkel nicht da wäre. -Also ist er nicht da, so müssen wir die Granadasöhne in das große -Billardzimmer bitten, dort haben wir Platz und können uns umdrehen. - -Zuerst verlangen wir kurz und bündig, daß Jose seine Schuld bekennt. -Ganz gemäßigt werde ich sein. Sagt er die Wahrheit nicht, so öffnest -du, Henner, auf ein Zeichen meiner Hand den Korb. Schweigend gehen -meine Blicke zwischen dem Eichhörnchen und den Granadasöhnen hin und -her. Kein Wort fällt. Macht dies alles nun noch keinen Eindruck, so tut -ihr das Eichhörnchen hübsch in seinen Korb zurück. Und nun beginnt der -Kampf. Auf ein Zeichen von mir schreiet ihr alle: „Hurra, hurra, Rache, -Verderben den Lügnern, den Feiglingen!“ Und dann fallen wir über sie -her und klopfen sie windelweich, bis sie die Wahrheit bekennen. Dann -ziehen wir uns befriedigt zurück. - -Es wird ein harter Kampf werden. Wir sind vier gegen drei. Die zwei von -ihnen sind aber viel älter als wir und glatt wie die Aale. -- Ich habe -mir aber schon gestern und heute die japanische Boxermethode angesehen. --- Feines Buch. -- Kostet zehn Pfennig. -- Ich werde mich bewähren. - -Es kann auch sein, daß sich das ganze Haus dazwischen wirft. Aber -aushalten! Verstanden!“ - -Die Knaben nickten. - -Toni und Suse standen zitternd daneben. - -„Theobald,“ flehte die erstere, „laß uns doch auch mitgehen, wie die -Feiglinge können wir doch unmöglich draußen stehen bleiben.“ - -„Ausgeschlossen,“ erklärte Theobald streng. „Der Vater will nicht mehr, -daß ihr die Raufereien mitmacht. Auch die Großmutter hat geweint, -als sie uns das letztemal besucht hat und gesehen hat, wie dir der -Henner ein Stück vom Zopf geschnitten hat und damit die Friedenspfeife -geraucht hat. Und obendrein ist es Onkel Rudolf seine gute, geschnitzte -Pfeife gewesen, und er sagt, man riecht’s noch jetzt zehn Schritt gegen -den Wind. Es sei eine Barbarei.“ -- - -„Hier habt ihr zehn Pfennig,“ setzte er milder hinzu. „Kauft -Verbandstoffe und wartet hinter dem Gitter der Villa auf den Gang der -Ereignisse. Kommen wir in wilder Flucht aus der Villa, so rennt ihr mit -uns was ihr könnet. Verstanden? Nicht umsehen. Nur rennen, rennen -- -rennen. --“ - -Seufzend nickte Toni und schloß sich mit Suse dem Zug der -Rachedurstigen an. Alle Knaben, bis auf Hans, trugen einen Stock in der -Hand; und damit auch er bewaffnet sei, holte ihm Theobald unterwegs aus -der Wohnung eines seiner Freunde einen derben Eichenknüppel. - -Fünfzig Jahre wäre dieser Stock schon in der Familie gewesen und hätte -bereits dem Urgroßvater gute Dienste getan, hatte der Freund zur -Empfehlung des Steckens gesagt. - -Hans nahm ihn dankend an. - -Vor dem Eingangstor der Villa Granada verabschiedeten sich die Knaben -von den Mädchen. Die bewaffnete Schar drang nun in den Garten ein, -vorüber an dem kleinen efeubesponnenen Pförtnerhäuschen, dessen -Bewohner ihnen mit Erstaunen nachsahen. - -Hansens Gesichtsfarbe wurde jetzt blässer. Die Augen saßen tief in -ihren Höhlen. Seine Nase schien spitz geworden. Nur die Lippen hielt -er fest zusammengepreßt mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck. -Theobald, der Leiter der Bewaffneten, räusperte sich zuweilen und warf -seinen Kopf herausfordernd in den Nacken, als stehe er bereits an der -Anklagestätte. Christoph schritt am kecksten einher. Sein spanisches -Rohr flitzte zuweilen pfeifend durch die Luft, als wittere es bereits -die Granadasöhne. - -Ein gutes Stück hinterher trottete Henner. Ihm war die hohe Aufgabe -zuteil geworden, den Korb mit dem Jockel zu tragen. Zärtlich schmiegte -er sein Ohr an das Geflecht des Korbes und flüsterte mit sanfter -Stimme: „Jockerl, sei still, gutes Tier, sei still. Unser aller -Rettungsengel bist du. Unser lieber, guter Jockerl. Denen wollen wir -mal Mores lehren, gelt? Ich werde dich herausnehmen, wenn’s Zeit ist.“ - -Und als sei der Knabe bereits bei dem Onkel angelangt und walte seines -Amtes, so begann er jetzt an dem Verschluß des Korbes zu zerren, zu -rütteln und zu heben. Der Deckel sperrte sich. -- - -„Das verflixte Ding,“ grollte er, zerrte heftiger und riß plötzlich den -ganzen Deckel weit auf. -- Es rührte sich im Korb. Heraus sprang der -Jockerl und jagte davon. - -„Er ist fort,“ schrie da gellend sein Wächter, „er ist fort!“ - -Die vier Helden vor ihm fuhren wie von der Kugel getroffen herum. - -Hans fiel vor Schreck der Eichenknüppel aus der Hand. - -Theobald, der in Gedanken gerade zu seinem Onkel gesagt hatte: -„Angesichts des Eichhörnchens ist Hansens Unschuld erwiesen, so rein, -so sonnenklar, so hell wie der Tag,“ stürzte laut schreiend auf -seinen Bruder los. „Unglücklicher, was hast du gemacht!“ rief er. „O -du jämmerliches Trampeltier, einfältiger Eselskinnbacken! Käsweiser -Rabenvater! Was jetzt? Was jetzt?“ - -Der Bruder war leichenblaß, er hatte ein Gefühl, als hätte er einen -Schlag auf den Kopf bekommen. Seinen Händen entglitt der Korb. - -Jockerl jagte derweil auf den nächsten Baum zu, kletterte daran in -die Höhe und hüpfte bald als ein braunes, kleines Etwas im Gewirr der -Äste herum. Mit Geschrei verfolgten ihn die Kinder. Auch Toni und Suse -kamen von draußen herein und schlossen sich der Verfolgung an. Jockerl -kletterte vom Baum herab, rannte dreimal um das große Blumenbeet und -verschwand in den Ziersträuchern am Wege. Auf das gräßliche Geschrei -der Kinder hin kam nun der Gärtner der Villa herbei, und, sie für -Eindringlinge von der Straße haltend, warf er ihnen seine Schaufel und -Hände voll Erdklumpen hintendrein. Der Sand prasselte und stob ihnen um -die Ohren. - -Sie kümmerten sich nicht darum. Sie schlugen mit den Knüppeln an die -Bäume und schrien: „Jockerl, Jockerl, komm herunter! Jockerl, Jockerl!“ - -Der Jockerl aber schwang sich immer weiter fort. Noch einmal jagte -er um die schönsten Blumenbeete herum und in die Ziersträucher -hinein. Dann verließ er den Garten auf Nimmerwiedersehen. Im Park der -gegenüberliegenden Villa verschwand er. - -Voll dumpfen Grolls auf ihren Bruder Henner traten sie darauf den -Heimweg an. - -In dem Haus der Frau Cimhuber aber wuchs die Angst vor dem Kamel von -Stunde zu Stunde. Vor allen Dingen Ursel zweifelte nicht mehr daran, -daß es komme. Erschallte unten auf der Straße Lärm, oder ließen sich -aufgeregte Stimmen vernehmen, so beugte sie sich ängstlich über die -Fensterbrüstung und spähte in die Tiefe. - -„Es kommt, es kommt,“ rief sie an einem Morgen so laut, daß auch -Frau Cimhuber herzklopfend herbeieilte und sich weit über die -Fensterbrüstung beugte. Ihre Brille fiel dabei in die Tiefe. - -Die ganze Aufregung war einem Reklamewagen zu verdanken, der mit bunten -Tierbildern bemalt, am Kanal entlang fuhr. - -„Ich sehe Gespenster am hellen Tag,“ erklärte Ursel seufzend, „das -endet nicht gut.“ - -An demselben Morgen, an dem sich dieser Zwischenfall ereignete, -erschien ein Beamter des Zoologischen Gartens, um nach der Adresse von -Hansens Vater zu fragen. -- - -Die Würfel waren gefallen. -- - -Keiner zweifelte mehr daran. - -Hans war wie verstört. Er sah Kamele an allen Ecken und Enden. Sie -schauten über seine Schulter, wenn er Diktate schrieb, sie gingen -vor dem Pult auf und nieder, wo der Lehrer saß; sie warteten an -der Haustreppe, wenn er aus der Schule kam. Fünf schreckliche Tage -vergingen. - -Da -- am sechsten, als Hans und Suse aus der Schule heimkehrten und -zur Tür hereintraten, flüsterte ihnen Ursel zu: „Er ist da in der -Negerstube.“ -- - -„Wer?“ fragten die Kinder erschreckt, „der Direktor? Der Wärter?“ - -Da erschien Frau Cimhuber und forderte sie auf, in die Negerstube zu -treten und ihren dort wartenden Onkel Gustav zu begrüßen. - -Schnell brachten sie ihr Haar und ihre Kleider ein wenig in Ordnung und -schritten dann erwartungsvoll dem hohen Besucher entgegen. - -„Schau den Onkel fest an, Hans, und guck nicht auf die Erde,“ ermahnte -Suse den Bruder, „sonst denkt er, du hast das Kamel geworfen. -- Sieh -so, Hans,“ und Suse trat mit kühner Miene in die Negerstube und erhob -ihre Stupsnase so keck, als wollte sie den Onkel damit aufspießen. - -Hans versuchte es seiner Schwester gleich zu tun. Aber das war gar -nicht nötig; denn der Besucher hatte eine so herzlich gewinnende Art -und sah einen mit seinen hellen Augen so gütig an, daß man gleich -Zutrauen zu ihm haben mußte. Freundlich forderte er die beiden Kinder -auf, sich auf einen Stuhl neben ihn zu setzen und begann dann allerlei -mit ihnen zu reden, das sie interessieren konnte. -- Von ihrer Heimat -sprach er, von ihren Eltern, von den Bergen. Man konnte meinen, er sei -schon einmal auf Besuch dort gewesen. Am liebsten hätte Suse ihm gleich -allerlei von Rosel, Christine, Minnette und dem Käterle von Michel und -Genoveva anvertraut. - -Doch der Onkel leitete das Gespräch geschickt auf den Besuch über, den -die Kinder vor einigen Tagen in seinem Hause gemacht hatten. Dann mußte -Hans erzählen, wie es ihm im Zoologischen Garten gefallen habe, welches -Tier für seinen Geschmack das schönste sei. Und so allmählich kamen die -drei auch auf das Abenteuer mit dem Kamel zu sprechen. - -Durch Suses lebhafte Zeichensprache ermuntert, erzählte Hans frei und -offen alles, was sich gestern zugetragen hatte. - -„Hast du nicht vielleicht auch Lust gehabt, ein ganz klein wenig mit -Sand zu werfen, wie du sahst, daß die andern es taten?“ forschte sein -Onkel. - -Hans sagte ganz erschreckt: „Das tut man doch nicht, das tut den Tieren -ja weh.“ - -Da trat ein bekümmerter Zug in das Gesicht seines Onkels und wich -nur ganz langsam wieder. Dann leitete der Besucher das Gespräch auf -harmlosere Dinge über und fragte schließlich die beiden, ob sie nicht -Lust hätten, ihn und seine Kinder bald einmal wieder zu besuchen. Er -werde ihnen dann Geschichten erzählen, und seine Sammlung von wilden -Tieren zeigen. - -Da wurden Bruder und Schwester sehr verlegen, bekamen rote Köpfe und -drucksten an einer Antwort herum. Endlich stotterte Hans: „Ihre Kinder -und die schwarzen Frauen haben gesagt, wir sind schmutzig und arm, und -jetzt dürfen wir niemals mehr zu ihnen auf Besuch kommen. Unsere Eltern -wollen’s nicht.“ - -Und Suse setzte verlegen hinzu: „Unsere Mutter hat noch geschrieben, -sie möchte nicht, daß wir immerzu daran denken, daß wir auch so -wunderschöne Dinge haben möchten wie Sie, einen so schönen Pfau und -solch einen schönen Garten und solche ausgestopften Tiere und Schlangen -in Spiritus. Dann würde sie sich für uns schämen. Wir sollen nicht -neidisch sein. Wenn wir älter sind, dürfen wir sie einmal wieder -besuchen, jetzt nicht.“ - -Wieder kam der bekümmerte Ausdruck in das Gesicht des Onkels. Er sah -nach seiner Uhr und sagte: „Es ist Zeit, daß ich gehe. Ich habe mich -schon etwas verspätet. -- Dann also, adieu. -- Das mit dem Kamel wird -sich machen. -- Wo ist Frau Cimhuber?“ fragte er Suse. - -Darauf holte das kleine Mädchen die Pfarrfrau, und als er sich -freundlich von ihr und den Kindern verabschiedet hatte, ging er die -Treppe hinunter... - -Zwei Stunden mochten seit seinem Weggang verstrichen sein, da klingelte -es, und als Ursel die Tür aufmachte, befand sie sich dem Briefträger -gegenüber, der einen großen Brief in der Hand hielt. „Von der Direktion -des Zoologischen Gartens,“ murmelte sie erschreckt. -- „Also doch, es -kommt!“ - -Und mit diesen Worten trug sie den Brief zu ihrer Herrin in die -Negerstube. - -„Lesen Sie, lesen Sie,“ sagte sie bestürzt, „ich will nicht hören, was -in dem Unglücksbrief steht. -- Ich bin wie geschlagen. Ich fühle es in -allen Gliedern, es kommt.“ - -So sprechend hielt sie sich die Ohren zu und lief in die Küche, um hier -die Tür fest hinter sich abzuschließen. - -Hans und Suse, die auf Ursels aufgeregten Ruf von vorhin in die -Negerstube geeilt waren, standen mit großen Augen neben Frau Cimhuber -und fühlten ihr Herz klopfen. Ihre Pflegemutter setzte die Brille auf, -öffnete den Brief mit einem Falzbein und begann langsam zu lesen. Mit -einemmal seufzte sie tief, tief aus Herzensgrund. - -Gleich darauf hörte Ursel in der Küche einen lauten Schrei der Kinder -und schrie aus Entsetzen mit. -- Jetzt mußte die Nachricht verlesen -worden sein. - -Aber was war das? Das waren ja Jubelrufe! - -„Das Kamel ist gesund, das gräßliche Kamel ist gesund,“ tönte es -draußen, und als Ursel durch eine Türritze spähte, sah sie Hans und -Suse wie die verzückten Derwische im Gang auf- und niederwirbeln, laut -jubelnd: „Es ist gesund, das schauderhafte Kamel ist gesund.“ - -Hans schlug einen Purzelbaum mitten im Gang. - -Da liefen Ursel die Tränen über die Backen und sie rief, die Küchentür -weit öffnend: „Lacht und singt, Kinder, lacht und singt! Heute soll’s -nicht darauf ankommen! Fünftausend Mark! Eure Eltern wären bankerott -gewesen. -- Und was für eine Schande für uns, wenn es hier angekommen -wäre. Lacht und singt!“ - -Und als etwas später Gretel und Peter kamen, um wie gewöhnlich in den -letzten Tagen des Nachmittags nach einer Nachricht von dem Kamel zu -fragen, kochte sie den Gästen Schokolade und setzte ihnen kleine Kuchen -vor. Alles aus reiner, seliger Freude über das genesene Kamel. - -Als Hans am andern Morgen seinen Vettern in der Schule die frohe -Nachricht von dem glücklichen Wechsel der Dinge überbringen wollte, -ließen sie ihn erst gar nicht zu Worte kommen, so brannte sie eine -eigene, wichtige Nachricht auf der Zunge. -- - -„Die Täter sind entlarvt,“ rief Theobald seinem Vetter von weitem zu. - -„Unser Vater war gestern bei den Fremdlingen. Fein hat er’s -gedeichselt. Und sie haben alles gestanden, diese miserablen -Granadasöhne, und die schwarzen Ungeheuer auch...“ - -An demselben Tag traf der Doktorssohn zufällig auf seinem Heimweg -mit seiner Schwester Suse zusammen, und die beiden gingen die letzte -Strecke Weges miteinander. Hans lachte und summte fortwährend vor sich -hin und sprang alle paar Schritte eine Elle hoch vor Freude. - -„Nicht wahr, wie schön, daß wir nicht mehr an das Kamel zu denken -brauchen?“ fragte er. - -Seine Schwester nickte beifällig. - -Aber trotzdem blieb sie nachdenklich, und mit einemmal seufzte sie tief -vor sich hin. - -„Was hast du?“ fragte der Bruder besorgt. - -Eine Weile blieb sie die Antwort schuldig, dann stotterte sie etwas -verlegen: „Weißt du, Hans, wenn wir recht viel Geld hätten, wäre es -doch wunderschön, wenn wir ein Kamel für uns ganz alleine hätten. Denke -dir wie herrlich wäre es, wenn es jetzt bei Frau Cimhuber auf uns -wartete. Ich möchte wohl eins haben.“ - -Doch Hans entgegnete: „Nein, weißt du, Suse, früher hab’ ich Kamele -sehr gern gehabt, aber jetzt wird’s mir ganz schlecht, wenn ich nur -an eines denke. Noch nicht einmal in Bilderbüchern mag ich sie mehr -besehen.“ - -Doch Hans änderte seine Meinung mit der Zeit, als Onkel Fritz ihn und -Suse des öfteren mit in den Zoologischen Garten nahm, und er das Tier -in seiner ganzen Harmlosigkeit betrachten konnte. Nur in die Villa -Granada ging keines von den Kindern mehr. Auch Onkel Sepp hatte nach -dem Vorfall mit dem Kamel seinen Kindern verboten, ihren Besuch dort -zu wiederholen. -- Wie an fremder Erde gingen sie nun an der Villa der -Fremdlinge vorüber. Zuweilen sahen Hans und Suse wohl den Pfau mit -seinem prunkenden Gefieder durch die Gitterstäbe leuchten und blieben -ein Weilchen stehen, um ihn zu betrachten. Aber zu ihm hinein verlangte -es sie nicht mehr. Und so erfuhren sie auch nie, wie sehr sich Onkel -Gustav grämte darüber, daß seine Kinder von allen gemieden wurden. - - - - -Viertes Kapitel - -Der Missionar - - -Zwei Jahre waren vergangen, seit Hans und Suse bei Frau Cimhuber, -der Pfarrfrau, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, und manch -inhaltsreicher Brief war in dieser Zeit aus der Stadt nach dem -Heimatsort der beiden gewandert. Die Eltern und Freunde der Kinder -waren die glücklichen Empfänger dieser abwechslungsvollen Schreiben -gewesen. - -Da erhielt nun eines Tages Christine, ihre alte Kinderfrau, einen ganz -besonders langen Brief Susens. Es traf sich, daß bei seiner Ankunft -gerade Rosel, die Magd der Doktorsleute, zugegen war und die las ihn -vor. - -„Jesus, Maria und Joseph,“ schrie sie mit einemmal und sprang mitten -in die Stube. „Hört, Tante, was Suse schreibt: Der Herr Edwin kommt zu -Frau Cimhuber auf Besuch; er hat schon eine Leiche vorausgeschickt. Die -Leiche ist schon viele tausend Jahre tot. Schon viele Jahre vor Christi -Geburt. Sie steht im Gang bei Frau Cimhuber. Sie ist etwas größer als -Hans.“ - -Das war zuviel für Rosel. Sie schleuderte den Brief weit von sich. - -„Scht,“ mahnte Christine, „heb den Brief auf. Das geht nicht mit -rechten Dingen zu. Das ist nicht geheuer, was Suse schreibt. Wir müssen -zur Frau Doktor gehn und ihr den Brief zeigen. Sie weiß Rat.“ - -Der Brief, der Rosel und Christine in solche Verwirrung versetzte, -war von Suse am vergangenen Sonntag in größter Aufregung geschrieben -worden; denn vor dem Kirchgang hatte Frau Cimhuber plötzlich zu Hans -und ihr gesagt: „Mein Sohn Edwin aus Afrika kommt nach Hause.“ Die -Kinder waren zusammengefahren, und Susens Herz hatte laut geklopft. - -Herr Edwin kam! Ihr Held, ihr Vorbild! Alles was groß, schön, herrlich, -erhaben war, verkörperte sich für sie in seiner Person; denn in den -zwei Jahren, die sie bei Frau Cimhuber verbracht, hatte sie soviel -Außergewöhnliches von ihm und seinen Taten gehört, daß er ihr wie ein -Welt- und Meerwunder vorkam. - -Herrn Cimhubers Gepäck traf einige Tage vor ihm ein: eine Kiste und -ein umfangreiches, in Sackleinwand eingenähtes, längliches Bündel. -Er selbst verzog noch eine Woche in seinem Missionshaus in einer -entfernten Stadt. - -Die Doktorskinder gingen von nun ab nur noch flüsternd durch den Gang, -die Augen in stiller Ehrfurcht auf des Missionars Gepäck gerichtet. Ein -Duft von fremden Ländern haftete ihm an. - -Sie berieten hin und her, was es wohl enthielte. Suse meinte, die große -Kiste sei voll schrecklicher Götzen, Schwerter, Spieße und dergleichen -fremdländischer Gegenstände mehr. - -Aber was mochte der große Ballen enthalten? Leise strichen die Kinder -darüber. Auch Theobald und seine Geschwister wurden eingeweiht -und tauschten Betrachtungen über den möglichen Inhalt des seltsam -geformten, in Wachstuch genähten Bündels aus. - -„Hört,“ meinte Toni mit einemmal, „ich glaub ich hab’s. Herr Edwin -interessiert sich für Altertümer. Es könnte eine Mumie sein.“ - -„Eine Mumie.... was ist das?“ riefen Hans und Suse. - -„Nun, ein einbalsamierter Mensch,“ entgegnete Toni. „Oder besser -gesagt, ein durch Spezereien für alle Zeiten unvergänglich gemachter, -menschlicher Leichnam.“ - -„Welch ein Blödsinn,“ seufzte Theobald. - -„Durchaus nicht, mein lieber Bruder, vielleicht ist die von Herrn -Edwin herbeigeschaffte Mumie sogar eine ägyptische... ein Pharao, ein -ägyptischer König.“ - -„Ja,“ rief Suse, „ein Pharao.“ - -Sie war Feuer und Flamme für die Erklärung. Das Bündel, das bei Frau -Cimhuber im Gang stand, konnte nur eine Mumie sein... ein ägyptischer -König, vielleicht jener, der die Kinder Israel aus Ägypten getrieben -hatte. Wie geheimnisvoll! - -Auf Zehenspitzen schlich sie von nun an daran vorüber. Alle ihre -Freunde und Bekannten wurden von dem interessanten Paket unterrichtet, -und so geschah es, daß jener oben erwähnte Brief an Christine -geschrieben wurde. - -Hans redete weniger von der Mumie als seine Schwester, brannte aber in -demselben Maße wie sie darauf, jene von Angesicht zu Angesicht zu sehen. - -Frau Cimhuber mochte er nicht behelligen. So fragte er denn eines -Tages die alte Magd: „Was will denn der Herr Missionar mit der Mumie -anfangen, Ursel?“ Die Magd sperrte den Mund auf. „Was schnatterst du -da?“ rief sie endlich. „Was für ein Kauderwelsch? Willst du mich utzen, -raucht’s dir im Kamin?“ - -„Nein... nein, Ursel, durchaus nicht... die Mumie mein ich... da -draußen auf dem Gang. -- Er... er... der Pharao, der König von Ägypten. -Kommen Sie, schauen Sie doch her... hier.“ - -Er lockte die Magd hinaus. - -„Saperlott,“ schrie Ursel, als sie nichts sah wie das Bündel. „Willst -du mich zum Besten haben? Soweit ist’s denn doch noch nicht mit uns -gekommen. Ich will sehen, wer Meister ist, du oder ich...“ - -Hans stürzte Hals über Kopf die Vorplatztür hinaus und in fünf Sätzen -die Treppe hinab. - -Am andern Tag hatte er sich aber bereits wieder soweit gefaßt, daß er -von neuem beginnen konnte: „Ursel, sollen denn die Sachen noch lang im -Gang stehen, die Kiste und das andere Paket?“ - -„Warum frägst du?“ entgegnete die Magd. „Sind sie dir im Weg?“ - -„Nein, nein, durchaus nicht, im Gegenteil. Ich freue mich, daß die -Sachen da sind. Ich interessiere mich dafür, auch Suse. Wir möchten die -Gegenstände mal von inwendig besehen.“ - -„Was?“ rief Ursel erzürnt. -- „Die ‚Gegenstände‘ -- -- --. Die -‚Gegenstände‘ wollt ihr durchschmusen? Was habt ihr in meinen Sachen -verloren? Überall müßt ihr eure Nase drin haben.“ - -„Das sind Ihre Sachen?“ stotterte Hans und machte überlebensgroße -Augen, „den König von Ägypten schenkt er Ihnen -- Ihnen -- Ihnen -- na, -da können Sie sich aber freuen.“ - -„Freuen soll ich mich?“ rief Ursel und rückte ihm auf den Leib. „Sag’s -noch einmal, und du wirst es büßen.“ - -Hans flüchtete. Verwirrt keuchte er: „Da können Sie sich aber freuen. -Das hätt’ ich nicht im Schlaf gedacht -- Ihnen -- Ihnen schenkt er den -Pharao.“ - -Hinterdrein kam Ursel. „Ich will euch lehren, mir Mordgeschichten vom -Pharao zu erzählen,“ schalt sie. „Wartet, euch sticht der Hafer. Nichts -hört man mehr von dir und Suse als vom Pharao. Euch ist eine Schraube -los. Gleich will ich dir einen Pharao mit dem Kochlöffel geben.“ -- - -„Kriegen wir bald zu sehen, was in den Paketen ist?“ fragte Suse einige -Tage darauf schüchtern Ursel, als Hans sie auf Kundschaft ausgeschickt -hatte. - -„Niemals,“ entgegnete Ursel, „zur Strafe für eure Neugier.“ - -Theobald, der sich ebenfalls für die Mumie interessierte, erklärte -eines Tages, er werde, um allen Streitigkeiten ein für allemal ein Ende -zu machen, hingehen und die Mumie rauben. - -„Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni mit erschrecktem Gesicht. „Du -weißt doch, Frau Cimhuber verachtet dich. Wie kannst du es wagen, ihr -Haus zu betreten?“ - -„Abwarten,“ entgegnete Theobald, „die Sache will überlegt sein.“ - -Inzwischen kam der Tag immer näher heran, an dem der Missionar erwartet -wurde. Immer aufgeregter wurde Frau Cimhuber, und eines Morgens da -konnte sie sich endlich, endlich sagen: „Heute kommt mein Sohn.“ Hoch -schlug ihr Herz, und immer wieder suchte sie das Zimmer auf, das zu -seinem Empfang bereitet war. -- Es war Susens Zimmer, das der Missionar -in seiner Kindheit bewohnt hatte und das er jetzt wieder beziehen -sollte. Drum war das kleine Mädchen in ein Gemach neben der Negerstube -verbannt worden. - -Ein Waldstrauß, den die Kinder am Sonntag mit Ursel geholt hatten, -schmückte Herrn Edwins zukünftiges Reich. Die Mullgardinen am Fenster -leuchteten blütenweiß, und in der Ecke stand ein kleiner Schrank, -der angefüllt war mit den Spielsachen aus des Missionars Kinderzeit. -An Frau Cimhubers Seite durften sich die Doktorskinder das festlich -geschmückte Zimmer betrachten. Ihre leuchtenden Augen flogen bewundernd -durch den Raum, und Suse sagte leise vor sich hin: „Wie an einem -Weihnachtsfest so schön ist’s hier.“ - -Die Pfarrfrau küßte sie und sagte leise: „Mein liebes, liebes Kind.“ - -Geschmeichelt fuhr das kleine Mädchen fort: „Ach, wenn wir doch so -artig wären, wie Ihr Sohn gewesen ist, nicht wahr, Frau Pfarrer? Dann -hätten Sie mehr Freude als jetzt. Dann würden Sie sich niemals über uns -ärgern.“ - -Die alte Dame strich Suse liebkosend über den blonden Scheitel. - -Hier runzelte Hans die Brauen und sagte seiner Schwester etwas -später erzürnt: „Du wolltest dich natürlich bei ihr anschmusen, alte -Schmeichelkatze; ich merkte es wohl. Schäme dich. Gepiepst hast du, als -könntest du keine drei zählen.“ - -Jetzt aber fragte Suse Frau Cimhuber weiter: „Er bleibt doch lange da, -der Herr Edwin, nicht wahr, Frau Pfarrer?“ - -„Ich weiß es nicht, Kind,“ erwiderte jene. „Mein Edwin ist krank. Aber -wir pflegen ihn wieder gesund, nicht wahr? Jeden Tag muß er spazieren -gehen. Bald bekommt er wieder rote Backen und wird frisch und blühend. -Alle seine Leibgerichte bekommt er.“ - -„Ißt er auch Kalbshaxen und Knödel gern?“ fiel Hans schüchtern ein. - -Hier war es nun an Suse, die Brauen zu runzeln und hernach ungehalten -zu ihm zu sagen: „Sie hat natürlich gemerkt, daß nur du die Kalbshaxen -wolltest. Du brauchtest sie doch an einem solch schönen Tag durch deine -Gefräßigkeit nicht zu kränken. Toni hat auch gesagt: ‚Das ist ein -Markstein in Frau Cimhubers Leben.‘“ -- - -Inwiefern man an einem Markstein in seinem Leben nicht an Kalbshaxen -mit Knödeln erinnert werden dürfe, war Hans schleierhaft, und er sah -Suse deshalb wie versteinert an, um hernach zu erklären: „Aber so -was Dummes, aber so was Dummes, Suse! Seit der Herr Missionar kommt, -meint man grad, du bist närrisch. Wie verdreht bist du. Immer piepst -du so und gehst wie auf Eiern und tust so fein, grad als wärst du -die Kaiserin. Ich kann es bald nicht mehr mit ansehen. Theobald hat -auch gesagt, wenn du so fortmachst, wirst du eine auf Draht gefädelte -Zierpuppe.“ - -Um vier Uhr wurde der Missionar erwartet. Kurz nach eins lagen auf der -Pfarrfrau Bett schon der schwarze Hut, ihr Schleier und die Handschuhe -bereit, die sie anziehen wollte, um ihrem Sohn zum Bahnhof entgegen zu -gehen. Je weiter die Stunde vorschritt, je unruhiger wurde sie. Ursel -fürchtete schon, sie würde krank werden. - -Auch die Doktorskinder waren in großer Aufregung. Nach Schulschluß -eilten sie zum Bahnhof, wo Toni und Theobald sich bereits eine Nische -neben dem Hauptportal ausgesucht hatten; und hier erwartete die ganze -Gesellschaft nun Mutter und Sohn. - -Sie mußten sich eine gute Weile gedulden. Ein Schwarm junger Mädchen -kam durch das Portal, ein Herr, der seine Zigarre wegwarf, ein paar -schwatzende Frauen. -- Frau Cimhuber mit ihrem Sohn kam immer noch -nicht. - -„Da sind sie,“ flüsterte plötzlich eins der Kinder. -- Suse fühlte, wie -ihr Herz still stand. - -Die Pfarrfrau kam daher und an ihrer Seite -- er... er... nein, das -konnte doch nicht er sein, nicht Herr Edwin. -- Wie den Engel Gabriel -hatte sie sich ihn vorgestellt. Und nun ging dort ein gebrechlicher, -kranker Mann. -- - -Suse mußte an ihren Zeichenlehrer denken, den alle Mitschülerinnen sehr -häßlich fanden. Dem sah Herr Edwin ähnlich. Konnte er’s denn sein? - -Hans stieß seine Schwester an und sah ihr bedeutungsvoll in die Augen. -Susens Herz zog sich immer mehr zusammen und schmerzte sie wie von -lauter kleinen Glassplittern angeritzt. - -„Rappeldürr wie ein Fenchelstock ist der Edwin,“ brach endlich Theobald -das Schweigen. Entrüstet fuhr Toni auf: „Dummes Geschwätz. Über einen -Missionar spottet man nicht. Vater sagt auch, du bist der grünste -Junge, der ihm vorgekommen ist.“ - -Eine Zornesröte stieg Theobald in das Gesicht. -- „Weil du mich so -abkanzelst,“ rief er, „werde ich mich rächen. Ich breche heute noch bei -Frau Cimhuber ein und mache mich an die Mumie ran.“ - -Alle durchfuhr ein Schreck. - -„Nein, Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni. Auch Suse wollte -zürnen. Aber in ihrem Herzen lockte plötzlich der Versucher: „Theobald -hat recht. Gewiß, er hat recht. Eine Enttäuschung habt ihr schon -erlebt. Nun sollt ihr wenigstens eine Überraschung haben, eine freudige -Überraschung. Nur Mut, nur nicht so kleinlich.“ - -„Toni,“ stotterte sie da, „Toni, am Ende ist es keine Sünde. -- Eine -Mumie ist doch nicht wie ein gewöhnliches Paket aus Europa. Das ist -doch was Außergewöhnliches.“ - -„Ich leid’ es auf keinen Fall, Suse.“ - -„Wir wollen’s ja nur begucken, nur einmal schnell angucken,“ drängte -Suse. „Du hast ja selbst gesagt, Toni, der gebildete Mensch muß wissen, -wie eine Mumie aussieht.“ - -„Natürlich gehen wir ihr an den Kragen,“ rief Theobald laut dazwischen. - -Seine Schwester seufzte tief. - -„Aber, Toni, sei doch nicht so sauer wie ein Essighafen,“ bat Theobald, -„und mach lieber mit.“ - -Wieder seufzte die Schwester und sagte dann schweren Herzens: „Allein -laß ich dich nicht hingehen, Theobald, sonst gibt’s wieder gräßliches -Unheil.“ - -„Wann soll die Mumie durchforscht werden?“ fragte der Bruder jetzt. - -„Um acht Uhr, gelt, Suse,“ meinte Hans. - -„Ja, ja, das ist die rechte Zeit. -- Frau Cimhuber hat nämlich gesagt, -wir sollen gleich nach Tisch in unser Zimmer gehen. Und dann ist Ursel -in der Küche und wäscht das Geschirr und klappert gräßlich damit und -singt Volkslieder und Choräle und hört nichts.“ - -„Vorzüglich,“ rief Theobald, „dann setzt eure Lampe auf die Fensterbank -zum Zeichen, daß alles sicher ist und daß wir kommen können.“ - -Nach dieser Vereinbarung trennten sich die Verschwörer, Suse mit einem -tiefen Seufzer. -- - -Bei Tisch daheim im Hause der Frau Cimhuber ging es heute recht -feierlich zu. - -Unnahbar und ihnen weltenfern entrückt, kam der Missionar Hans und Suse -vor. Susens tiefen Knicks beim Eintreten schien er ebensowenig beachtet -zu haben wie Hansens Verbeugung, die tiefste Ehrerbietung bekundete. --- Und nachher während des Mahles, als er ein Glas Wasser verlangte -und Hans auf ein Zeichen der Pfarrfrau davonstob und wiederkehrend -stolperte und sich und Herrn Edwin bis zum Ellbogen naß goß und -Entschuldigungen stammelte wie ein verwirrter Kellner, verzog er keine -Miene. - -Suse aber glaubte unter den Tisch kriechen zu müssen aus Scham für -ihren Bruder. - -Da hob der Missionar plötzlich seine Augen, sah Suse lange an, dann -Hans. - -Dem kleinen Mädchen klopfte das Herz, und Hans verschluckte sich vor -Schrecken. -- Jetzt sah Edwin Suse wieder an. Ihr Atem stockte. -- -Sollte er? -- Sollte er... - -Nein, das ging ja nicht an. -- Er war ja nicht der liebe Gott. -- Er -konnte ja nicht wissen, daß sie vorhatte, einmal Missionarin zu werden. - -Einen Augenblick schwand ihre Angst. Da kam ihr plötzlich ein anderer -schrecklicher Gedanke. - -Vielleicht hatte er ihren Plan mit der Mumie erraten! Wie ein Frevel -kam ihr jetzt der Vorsatz vor, den sie vorhin so leichten Herzens -gefaßt hatte. - -Und nach Tisch, als die Zeit immer näher kam, in der die kleinen -Verschwörer eintreffen mußten, wurde sie ganz mutlos. - -„Hans, lauf’ runter,“ drängte sie schließlich, „und sag’ Toni und -Theobald, sie sollen nicht kommen.“ - -„Warum nicht gar, ich bleib’ hier,“ entgegnete er. - -„Nein, Hans, du gehst.“ - -„Nein, ich bleib’ hier.“ - -„Doch, du gehst.“ - -„Das tu ich nicht, ich beseh’ mir die Mumie.“ - -„Nein, nein, Hans, das dürfen wir nicht. Wir stellen kein Licht ans -Fenster, wie wir gesagt haben. Mit einemmal fühl’ ich ganz genau, daß -es nicht recht ist.“ - -„Aber, Suse, das ist jetzt zu spät, das hättest du früher fühlen -müssen. -- Ich will jetzt, daß wir das Licht hinstellen.“ - -Und damit hatte er auch schon die Lampe ergriffen und wollte zum -Fenster gehen. - -In demselben Augenblick griff auch Suse danach und mahnte: „Hans, laß -los; es gibt eine Feuersbrunst.“ - -„Nein, laß du los.“ - -Feindlich sahen sich die beiden an. Da klingelte es schwach an der -Flurtür. - -Sie fuhren zusammen und setzten zitternd die Lampe hin. - -„Sie sind da,“ hauchte Suse. „Hans, jetzt ist es zu spät.“ - -Leise öffneten die beiden die Tür, die ins Treppenhaus führte, und -herein schlichen der Stadtvetter und die Base. Toni flüsterte: „Der -Vater und die Mutter sind ins Konzert. -- Keiner weiß, daß wir hier -sind.“ - -Theobald aber drängte: „Wo ist die Mumie?“ - -Zitternd zeigte Suse auf den Ballen in der Ecke. Theobald umfing ihn -mit kräftigen Armen und schleppte ihn in Susens Zimmer neben der -Negerstube. Aus der Küche tönte es laut: „Weißt du, wieviel Sternlein -stehen?“ Wie im Takt klapperte dazu das Geschirr. - -Theobald rollte den Ballen einige Male mit seinem Fuß hin und her und -murmelte: „Na, wenn das ein Pharao ist, bin ich der Sultan von Marokko.“ - -„Rasch, rasch, mach auf, daß wir sie wieder an ihren Platz -zurückstellen,“ flehte Suse, „rasch, Theobald.“ - -Die Vettern begannen im Schweiß ihres Angesichts geräuschlos die dicken -Stricke zu lösen, während Suse das Licht hielt und Toni mit einer -Schere die Nähte löste. - -Im Nebenzimmer hörte man Frau Cimhuber und ihren Sohn reden. Doch es -währte nicht lange, so verstummten die beiden, und es wurde still. - -„Jetzt packt er seine Geschenke aus,“ flüsterte Theobald. - -Aber schon nach einer Weile wurde es im Nebenzimmer wieder laut: eine -Geige wurde gestimmt, und gleich darauf begann ein wunderschönes Spiel. - -Der Missionar geigte. - -„Er spielt,“ sagte Suse verklärt, und ihr ganzes Gesicht leuchtete. -Ihr Vorbild war also doch etwas Besonderes und überstrahlte die andern -Sterblichen. Er spielte so schön, wie sie es noch nie gehört hatte. - -„Hans, horch,“ flüsterte sie und faßte ihn am Arm, „horch.“ - -Aber es bedurfte dieser Aufforderung nicht. Hans stand da mit gänzlich -verändertem Gesicht. Auch ihm kam es vor, als habe er noch nie jemand -so schön spielen hören. - -Selbst Theobald lauschte erstaunt und meinte: „Das kann doch nicht Herr -Edwin sein.“ - -In diesem Augenblick machte Toni ein Zeichen Und wies auf ein Loch -oben in der Wand, durch das einmal ein Klingelzug geführt hatte, und -das unverschlossen geblieben war. Dort konnte man durchsehen. Sofort -schleppten die beiden Mädchen einen Tisch herbei, kletterten darauf und -spähten in das Zimmer nebenan. - -„Und ist sein Antlitz auch noch so verbrannt, das Mutteraug’ hat ihn -doch gleich erkannt,“ deklamierte Toni leise vor sich hin; denn im -Nebenzimmer bot sich ihr ein rührendes Bild. - -Im Lehnstuhl saß mit gefalteten Händen die Mutter des Missionars, -wandte kein Auge von ihrem Sohn und achtete nicht der Tränen, die -in ihren Schoß fielen. Ihr Kind spielte immer schöner mit einem -weltentrückten Ausdruck, und nur von Zeit zu Zeit streifte ein -leuchtender Blick seine Mutter. - -Inzwischen waren auch Hans und Theobald auf den Tisch gestiegen und -drängten ihre Köpfe zwischen den beiden Mädchen durch. Keiner sagte -ein Wort. Alle lauschten atemlos. Schließlich brach der Missionar sein -Spiel ab, legte seine Geige vorsichtig auf das Klavier und sah sich -nach einem Stuhl um. - -„Setz dich, Edwin,“ bat die Mutter, „setz dich, mein liebes Kind, und -ruh’ dich aus, es wird dir sonst zuviel für den ersten Abend.“ Und sie -führte ihn zum Sofa und legte ihm vorsichtig ein Kissen in den Rücken. - -„Wie schön ist es daheim bei dir, Mutter,“ sagte er und griff dankbar -nach ihrer Hand. -- „Wie schön!“ Er lehnte sich müde zurück und sah sie -leuchtenden Auges an. - -„Nimmt der Edwin seiner Mutter alle weichen Kissen weg,“ flüsterte -Theobald. „Na, wenn ich einmal nach Hause käme, und es wär’ vom Krieg -und ich hätt’ eine Kugel im Rücken und könnt’ nur auf einem Bein -herumhuppen, soviel weiß ich, meiner Mutter nähm’ ich die Kissen nicht -weg. Wie unmännlich! -- Komm, Hans, an die Gewehre,“ fuhr er dann fort. --- Sie kehrten zu der Mumie zurück. - -Toni und Suse blieben auf ihrem Beobachtungsposten stehen und -gewahrten, wie Frau Cimhuber sich neben ihrem Sohn niederließ. - -„Gelt, Edwin?“ fragte sie, seine Hand nehmend, „nun bist du doch auch -glücklich? Schwer ist dein Beruf. Aber es geschieht ja zur Ehre des -Herrn. Nicht jeder kann ein großer Künstler werden. Und es ist ja auch -der Wunsch deines Vaters immer gewesen, daß du Missionar würdest, und -du bist doch auch glücklich? Nicht wahr? Vielleicht hättest du ja ein -großer Künstler werden können. Aber so führst du doch ein reicheres, -gottwohlgefälligeres Leben?“ - -Er hustete, und man merkte ihm wohl an, wie erschöpft er war. Dann -sagte er einfach: „Ja, Mutter.“ - -„Er wollte Künstler werden,“ flüsterte Toni, „genau wie ich. Aber ich -glaube, es wird nichts draus. Der Vater will nichts mehr davon hören. --- ‚Schwamm drüber‘, hat er gestern gesagt.“ - -Suse hörte nicht zu. Sie stand noch immer da mit gefalteten Händen und -strahlenden Augen. - -Wie schön, wie schön hatte Herr Edwin gegeigt. So schön wie sonst -niemand auf der Welt! - -Jetzt sah Toni, wie im Nebenzimmer die Tür zum Gang aufging und Ursel -eintrat. Sich mit ihrer Küchenschürze die Augen abwischend, sagte sie: -„So schön hat der Herr Missionar gespielt, so schön, ich habe gemeint, -die Orgel geht am Sonntag in der Kirche.“ - -„Setzen Sie sich zu uns, Ursel,“ bat Edwin. - -„Ach nein, vielen Dank, ich habe soviel zu tun.“ - -„Immer, immer zu tun, Ursel,“ meinte Edwin Cimhuber, „gerade noch wie -früher.“ - -„Ja, die Pflicht geht vor, Herr Edwin,“ philosophierte Ursel, „und -Arbeit versüßt das Leben.“ - -Wenige Minuten später war sie schon wieder nach der Küche unterwegs. - -Toni war begeistert von der Szene, die sie von ihrem Auslug in der Höhe -wahrgenommen hatte. - -„Selbst Ursel hat einen versöhnlichen Gesichtsausdruck heute,“ -flüsterte sie. - -Im nächsten Augenblick aber zitterte sie wie Espenlaub und suchte vor -Schreck nach einem Halt. Auf dem Flur erscholl Geschrei. -- Ursels -Stimme. -- Theobald, Hans und Suse ließen vor Schreck das Bündel, an -dem sie trennten, hinfallen und schauten sich entsetzt an. - -„Gestohlen, gestohlen, die Matratze ist fort. Diebe, Diebe,“ rief -es vor der Tür. -- Jetzt in Frau Cimhubers Stube: „Denken Sie, Frau -Pfarrer, die Matratze ist fort, sie ist gestohlen. Vor einer halben -Stunde noch war sie da. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. -Die Kinder, die haben mal wieder die Tür aufstehen lassen. Sie ist -gestohlen, sie ist gestohlen.“ - -„Was sagt sie... die Matratze?“ stotterte Theobald. - -Im nächsten Augenblick schoß Ursel auch schon wie eine Glucke mit -gesträubtem Gefieder zur Tür herein und erblickte die Kinder mit der -Trennschere und den Messern in der Hand. Sie ergriff ohne Federlesens -das halb ausgepackte Bündel, riß die letzte Hülle los und entrollte vor -den Augen der Verschwörer eine blau und weiß gestreifte Matratze. Keine -Mumie. -- Die geheimnisvolle Mumie war Ursels Matratze. - -Suse war blaß wie der Tod. - -Und nun stand auch die Pfarrfrau in der Stube, entdeckte den kostbaren -Gegenstand und atmete erleichtert auf. - -„Da ist sie ja, Ihre Matratze, Ursel,“ sagte sie, „und schon fix und -fertig ausgepackt.“ - -„Habt ihr das getan?“ fragte sie Suse. Diese nickte mit schuldigem -Gesicht. Toni aber kletterte beschämt von ihrem Tisch herunter, -Theobald sprang mit höflicher Verbeugung in die Höhe, und Hans machte -ein Gesicht wie die Katze, wenn’s donnert. - -Den vier Ertappten war es schwül zumute. Die Pfarrfrau sagte: „Ihr -wolltet Ursel überraschen, ihr wolltet ihr eine Freude machen, nicht -wahr? Sie hat sich eine Matratze von ihren Verwandten kommen lassen. -Ihre eigene hat sie in mein Bett geschafft und meine hat sie meinem -Sohn gegeben. Edwins Matratze ist zu hart. Er muß zwei haben, sonst -kann er nicht schlafen. Er ist krank. -- Ihr lieben, lieben Kinder! Ihr -wußtet, wie sie heute vor lauter Arbeit nicht zu Atem kommt. Nun kommt -mal mit zu meinem Sohn!“ - -„Hier sind die Diebe, die Missetäter,“ begann sie zu dem Missionar, -indem sie Hans und Suse zärtlich bei der Hand faßte, „unsere kleinen -Heinzelmännchen, die Ursel die Matratze geöffnet haben. Sie wollten ihr -die Arbeit abnehmen. Nicht wahr?“ fragte sie und strich den beiden über -den Kopf. - -„Nein, nein,“ stotterte Suse, „helfen wollten wir nicht, wir wollten ja -nur sehen... wir wollten nachsehen -- wir meinten, die Mumie sei drin.“ - -„Oh, dieser Blödsinn von Suse,“ dachte Theobald und schlug die Augen -zur Decke empor. - -„Was sagtest du, mein Kind?“ forschte Frau Cimhuber. Da fühlte Suse -Theobalds Blick auf sich ruhen. Sie schluckte nur zweimal trocken -runter vor Schrecken und stotterte: „Wir... wir... wir...“ - -Doch Frau Cimhuber drang auch gar nicht weiter in sie, sondern forderte -sie auf, Platz zu nehmen und eingemachte Früchte zu essen und Kuchen, -den sie ihnen hinreichte. - -„Du ißt doch auch gern Kuchen, Theobald,“ wandte sie sich an den -Stadtvetter. - -„Da, nimm dir hier dieses Stück. Dieses ist besonders gut. Du hast’s -verdient.“ - -Theobald knirschte innerlich vor Ärger. Wie die kleinen Kinder wurden -sie behandelt, wie die richtigen kleinen Kinder. Und man fütterte sie -wie die Piepmätze. - -Lieber schon wäre es ihm gewesen, Ursel und der Missionar wären -plötzlich aufgesprungen und hätten mit ihm zu boxen angefangen. Aber -dazu war wenig Aussicht vorhanden. - -Erleichtert atmete er deshalb auf, als Toni nach zehn Minuten aufstand -und sich verabschiedete. Und draußen wurde es ihm erst recht klar, in -was für einem Backofen er gesessen hatte, und mit dem Ruf: „Wie die -Kamele, gerade wie die Kamele haben wir uns benommen,“ sprang er die -Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal nehmend. - -Auch Hans und Suse zogen sich bald zurück, denn ihr Gewissen schlug -schuldbewußt angesichts der vielen Liebenswürdigkeiten, die Frau -Cimhuber ihnen erwies. -- - -Am andern Tag zur Mittagszeit sahen sie dann den Missionar wieder. Er -war heute wie in der folgenden Zeit sehr zurückhaltend. - -In der Schule, wo Suse so viel von dem Besuch des interessanten -Afrikareisenden erzählt hatte, der Frau Cimhuber und mit ihr ein wenig -auch Hans und Suse beehren werde, begann man sich bereits zu wundern, -daß die spannenden Geschichten, die Suse von ihm erhofft hatte, -ausblieben. - -Nun nahm in diesen Tagen Susens Klasse in der Geographiestunde gerade -die Westküste Afrikas durch. -- Dorther kam Herr Edwin -- von der -Goldküste. - -„Ach, wenn er doch einmal reden würde,“ dachte Suse voll Verlangens. - -Welche interessanten Dinge würde man da zu hören bekommen! Und welch -bedeutenden Eindruck würde Suse in der Schule hervorrufen, wenn sie -verkündete, daß sie einen Menschen kenne, der selbst in jenen Ländern -gewesen war, der mit eigenen Augen die Menschen, die Tiere, die -Pflanzen dort, alles, alles gesehen hatte, der viel mehr wußte, als in -den Geographiebüchern stand. Wenn er nur redete! - -Da, am Tage vor der Geographiestunde, konnte Suse sich nicht mehr -beherrschen und fragte mit einemmal bei Tisch, zu Hans gewandt, während -sie im Grunde Herrn Edwin meinte: „Du Hans, wo seid ihr jetzt in der -Geographiestunde? Wir sind jetzt an der Elfenbein-, Sklaven- und -Goldküste; da herum.“ - -„Wir nicht!“ sagte Hans und aß ruhig weiter. „Wir nehmen Deutschland -durch.“ - -Frau Cimhuber und ihr Sohn aber hatten von der Unterhaltung überhaupt -nichts gehört. - -Suse räusperte sich deshalb und sagte lauter als vorher: „Hans, wir -sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen Sklaven-, Gold- und -Elfenbeinküste.“ - -„Das hast du ja eben erst gesagt,“ meinte Hans und sah sie groß an. - -Da wandte sich Suse unter heftigem Erröten an Frau Cimhuber selbst, -indem sie sagte: „Wir sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen -Sklaven-, Gold- und Elfenbeinküste, Frau Pfarrer.“ - -„Nein, das ist ja interessant,“ meinte die Pflegemutter mit einemmal -aufmerksam. „Wie gut trifft sich das. Du, Edwin, die Kinder nehmen -jetzt in der Schule die Goldküste durch,“ sagte sie zu ihrem Sohne. -- -„Da weißt du ja am besten Bescheid. - -Soll euch mein Sohn einmal davon erzählen?“ fragte sie die Geschwister. - -„Ja,“ riefen beide hochbeglückt. - -„Heute abend könntest du’s tun, wenn wir vom Spaziergang zurückkommen!“ -forderte die Mutter ihren Sohn auf. „Wie denkst du darüber? hast du -Lust?“ - -„Warum nicht? Sehr gern!“ antwortete er und nickte den beiden zu. -Und sie nahmen seine wohlwollenden Blicke hin, als wär’ es schon der -schönste Anfang einer Geschichte. - -Am Abend nach Tisch versammelte sich dann die ganze Gesellschaft; Frau -Cimhuber und ihr Sohn saßen im Sofa, Ursel und die Kinder auf Stühlen, -und auf seinem Ständer in der Ecke der Negergott, der wieder auf seinen -alten Platz verpflanzt worden war, nachdem die Kinder vor anderthalb -Jahren ihre Pflegemutter gebeten hatten, ihn doch wieder hervorzuholen, -sie fürchteten sich nicht mehr vor ihm. - -Totenstille herrschte, als Herr Edwin zu erzählen begann. Alles -lauschte. Nur zuweilen hörte man Hans und Suse tief atmen. -- - -Von den großen Weltmeeren, über die er gefahren war, erzählte er, -von den großen afrikanischen Wüsten, wo nachts der Ruf wilder -Tiere herüberklang, von den undurchdringlichen Urwäldern, wo sich -Schlingpflanzen mit Tausenden von bunten Blumen von Baum zu Baum zögen -und ein köstliches Gewebe vor den Türen des geheimnisvollen Waldes -bildeten. - -Hansens und Susens Augen glänzten. - -Wie ein Schauer ging es zuweilen durch sie durch, als er von der Größe -und Schönheit von Gottes wunderbarer Welt sprach, und eine große -Sehnsucht nach der Ferne kam über sie. -- - -Das war ja alles viel, viel tausendmal schöner, als sie sich -vorgestellt hatten. - -Da redete Herr Edwin aber mit einemmal von ganz anderen Dingen, und die -Mienen der Kinder verdüsterten sich. Von den armen, elenden Menschen in -den Tropenländern sprach er, die zuweilen ein Leben führten, schlimmer -als die Tiere, die verkamen in geistiger und leiblicher Not. In -ihrer Angst errichteten sie sich selbst Götter, aber was für Götter! -Jammerbilder, Fratzen, sogenannte Fetische, die zuweilen nichts anderes -waren als ein Stück bemalten Holzes oder bemalten Steines. - -„Dort die Figur in der Ecke,“ meinte Herr Edwin, auf das Negergöttlein -auf seinem Ständer zeigend, „ist ein ganz besonders schöner Gott, -verglichen mit vielen andern, die ich gesehen habe. -- Ein wirklicher -Staatsgott!“ - -„Ein Staatsgott?“ sagte Suse ungläubig. - -Hans mußte das Lachen verbeißen, wenn er an den drolligen Wicht dort -hinten in der Ecke dachte, dem der rechte Mundwinkel herabhing, als -hätte er jahrelang eine Tabakspfeife drin gehalten und könne die Lippen -nun nicht mehr heraufziehen. - -„Den beten sie an?“ fragte Suse erschreckt. - -„Ja, das ist ihre Gottheit!“ sagte Herr Edwin fast schmerzlich. „Ein -solches Stück Holz ist ihr Gott.“ -- „Ach, wie leiden sie unter dem -Aberglauben!“ fuhr er fort. „Sie glauben sich von hunderten von bösen -Dämonen umgeben. Das sind die Seelen der Verstorbenen, die sie Tag -und Nacht verfolgen und nur auf Greuel sinnen. -- All ihr Unglück -schreiben sie ihnen zu, alle ihre Krankheiten, und dabei ist es doch -nur die eigene Unsauberkeit und Unwissenheit, die ihre Krankheiten -begünstigen.“ -- - -Der Herr Missionar erzählte nun den Kindern einzelne Fälle von -besonders unglücklichen Menschen, die er kennen gelernt hatte. - -Hans und Suse rückten mit ihren Stühlen immer näher an den Erzähler -heran, fast auf ihn drauf. - -Sie waren jetzt ganz mit ihm in Afrika. -- Es war Nachmittag. Sie -fühlten die heiße Tropensonne, die auf sie herunterglühte, sie gingen -durch hohen, gelben Sand, der ihnen stechend wie Nadeln durch die -Kleider drang, sie sahen die Blätter der Palmen, die am Wege in der -Glut der Sonne welkend herabhingen. Sie litten in der erstickenden -Schwüle brennenden Durst. Sie fühlten, wie sie gleich Herrn Edwin von -Fieberschauern geschüttelt wurden und vor Müdigkeit kaum mehr vorwärts -schreiten konnten. -- Aber sie mußten weiter, sie mußten vorwärts, -denn vor dem nächsten Dorf am Wege lag ein Sklave -- man hatte es -ihnen gesagt -- der vom Innern aus den Bergen mit einer Last gekommen -war, und dem durch einen Unfall beide Beine zerschmettert worden -waren. Voll rohen Sinnes hatten ihn seine Begleiter am Wege liegen -lassen, unbekümmert darum, ob er in der Hitze sterbe oder nicht. -- -Nur ein Fetischpriester hatte ihm ein Amulett aus Leopardenhaar und -Katzenwirbelknochen verkauft, das sollte ihn wieder gesund machen. - -Der Missionar und Hans und Suse erreichten den armen Menschen und sahen -ihn vor sich liegen, ein Bild des Jammers. Herr Edwin verband ihn unter -ihren Augen, und ihr Herz war von Dankbarkeit gegen den Helfer erfüllt. - -Je mehr der Herr Missionar erzählte, um so mehr empfand Suse einen -schweren Druck auf ihrer Brust. Es waren ihre Pläne über Afrika, die -sie quälten und bedrückten. Sie sah sich wieder dort mit ihrem Hofstaat -von Affen und Papageien in einem Schloß wohnend, das viel schöner war -als das der „Fremdlinge“, umgeben von Sklaven und gefeiert wie eine -Königin. -- Und daneben erblickte sie Herrn Edwin, der ein so hartes, -ein so einsames und entbehrungsreiches Leben führte, ohne Lohn, ohne -Dank, nur von dem Glauben beseelt, daß er Gutes tue Gott zur Ehre. - -Vor Beschämung wagte Suse nicht mehr aufzusehen. Und schließlich, in -einer Pause, da hielt sie’s nicht mehr aus und sagte: „Ich hab’ mir -auch vorgenommen, ich wollte Missionarin werden, Herr Edwin!“ - -Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen. Suse saß da wie vor ihrem -Todesurteil. - -Aber der Herr Missionar sagte ruhig: „Warum solltest du das nicht -werden, Kind?“ - -Suse glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. -- Was hatte er gesagt? Sie -durfte auch Missionarin werden, sie? - -„Das darf ich auch werden?“ fragte sie glückselig. „Gerade so wie Sie, -Herr Missionar?“ - -„Ja,“ sagte er. - -Auch Hans sah begeistert zu ihm hin. Da verdüsterte sich aber Susens -Miene wieder und sie beichtete stockend: „Ich hab’ aber immer gedacht, -Herr Missionar, wenn ich einmal Missionarin bin, möchte ich dafür -schöne Sachen aus fremden Ländern haben.“ - -„Aber, Suse!“ rief die Pfarrfrau entsetzt. - -„Nun,“ sagte der Missionar ganz ruhig, „das ist gar nicht so schlimm. -Du kannst auch schöne Sachen dafür haben. Ich glaube aber, du wirst -selbst bald einsehen, daß die im Grunde nebensächlich sind, und daß -deine schönste Belohnung das Gefühl ist, den Menschen geholfen zu -haben.“ - -„Helfen wollte ich immer, Herr Missionar,“ sagte Suse mehr flüsternd -als redend. - -„Die Helferei kenn’ ich,“ murmelte Ursel. Aber keiner hörte auf diesen -Einwurf. Die Kinder achteten nur auf Herrn Edwin, der jetzt sagte: -„Das ist ein schöner Vorsatz, den du da gefaßt hast, Suse, andern zu -helfen und Gutes zu tun. -- Die Welt ist ja so groß, und für jeden ist -Platz drin, der etwas Tüchtiges und Gutes leisten will. Auch ihr könnt -helfen. Ihr müßt nur die Zeit in euerer Jugend anwenden, damit ihr was -lernt und hernach auch was könnt. Denn wer selbst nichts kann, kann -auch andern nicht helfen.“ - -„Das hat auch unser Vater schon gesagt,“ fiel Hans ein, „wenn ihr -andern helfen wollt, müßt ihr erst selbst was können.“ - -Herr Edwin nickte und erzählte weiter, und die beiden hingen jetzt mit -doppelter Begeisterung an seinen Lippen, denn sie hatten die stolze -Empfindung, daß auch sie ein Recht hätten, dermaleinst große Taten zu -vollbringen wie Herr Edwin. - -„Sehen Sie, Ursel!“ sagte Suse vor dem Zubettgehen strahlend zu der -alten Magd. „Ich kann auch Missionarin werden. Der Herr Edwin hat’s -gesagt.“ - -Ursel seufzte und sagte: „Wenn’s der Herr Edwin gesagt hat, wird’s wohl -stimmen.“ - -Lange konnten die Geschwister heute abend nicht einschlafen. Herrn -Edwins Worte beschäftigten sie noch immer, und sie hatten ein Gefühl, -als wären sie heute ein paar Jahre älter geworden und wüßten mehr als -andere Leute. Die Welt erschien ihnen so groß und wunderbar wie nie -zuvor. - -Von Tag zu Tag schlossen sich die Kinder nun mehr an den Besucher an -und hörten manches gute Wort von ihm, das sie nicht so leicht vergaßen. -Fast täglich sah man sie, glühend vor heimlicher Freude, an seiner -Seite durch die Straßen gehen. Wer konnte sich auch rühmen, mit einem -richtigen, leibhaftigen Missionar spazieren zu gehen, der so viele -fremde Länder kannte, und so viel zu erzählen wußte? -- Auch lustige -Dinge berichtete er ihnen hin und wieder. Ach, einmal war sogar ein -Neger, der nicht mehr viel sah, zu Herrn Edwin gekommen und hatte ihn -gebeten, ihm ein paar Hunde- oder Katzenaugen einzusetzen, damit er -wieder besser sehen könne. -- - -Leider verging die schöne Zeit, in der Herr Edwin da war, nur allzu -rasch. Nach ein paar Wochen schon, als er sich erholt hatte, ging er -wieder fort. Hans und Suse begleiteten ihn allein zur Bahn, da die -Pfarrfrau, von Abschiedsschmerz überwältigt, ihm das Geleite nicht -geben konnte. Sie hatte eine Ahnung, daß sie ihn nie mehr wiedersehen -werde. - -Hans sah auf dem Gang zur Bahn finster drein, um seine schmerzlichen -Gefühle zu verbergen. Suse weinte zum Herzzerbrechen. Sie ließ es sich -nicht nehmen, Herrn Edwins Geige bis zuletzt zu tragen und eigenhändig -in das Gepäcknetz über seinen Platz zu legen. - -Noch einmal drückte er ihnen die Hand zum Abschied und sagte: „Ich -bitte euch, bewahret euer reines Herz und bleibet immer gut!“ - -Dann fuhr er davon. -- - -Sie sahen ihn niemals wieder. Eines Tages starb er in den fremden -Ländern, von denen er Hans und Suse so viel Wunderbares erzählt hatte, -und wurde dort im Schatten einer Palme begraben. - -Aber das geschah alles zu einer Zeit, als die Doktorskinder nicht mehr -bei Frau Cimhuber weilten. - - - - -Fünftes Kapitel - -Christines Reise - - -Am nächsten Pfingstfest wurden Theobald und seine Geschwister von ihrem -Onkel und ihrer Tante in das Doktorshaus eingeladen. Die Ferienzeit -mit Hans und Suse verlief lustig, wie es zu erwarten war. Die ganze -Gesellschaft tollte sich nach Herzenslust aus. Ausflüge in die Berge -wurden gemacht, alte Bekannte im Dorf aufgesucht. Hans und Theobald -strichen die Gartenmöbel an und besserten den Holzzaun des Vorgärtchens -aus. Christoph und Henner machten gerade soviel dumme Streiche wie -einst ihr Bruder Theobald vor Jahren. - -Am letzten freien Tag waren die Kinder bei Christine, dem alten -Mütterchen mit dem freundlichen, guten Gesicht zu Gaste gebeten. Punkt -zwölf Uhr sollten sie bei ihr sein. Sie zögerten lange. - -Da hörte sie endlich helles Lachen und das Laufen von vielen Füßen. -Gleich darauf flitzen ein paar helle Köpfe am Fenster vorüber. Die -Gäste waren gekommen. - -In zwei Sprüngen nahmen sie die steinerne Treppe vor dem Haus und -standen atemlos im Stübchen. - -„Entschuldige, entschuldige,“ rief Suse, „wir konnten nicht eher -kommen. Der Henner ist in den Brunnentrog gefallen und mußte sich erst -trocknen und umziehen.“ - -„Wirst du dich auch nicht erkälten, Kind?“ wandte Christine sich an -Henner und strich ihm über das noch feuchte Haar. - -„Nein, nein, alles geht vorzüglich,“ meinte der. - -Da trippelte sie in die Küche, um das Essen anzurichten. - -„Kalbsbraten?“ fragte Suse ganz erstaunt, als sie in die Schüssel sah, -die die alte Frau auf den Tisch stellte. -- Das war ja ein Luxus, den -sich die armen Gebirgsbewohner sonst nur an hohen Festtagen leisteten. - -„Kalbfleisch?“ fragte sie deshalb noch einmal in vorwurfsvollem Ton. - -Doch Christine verstand Suse falsch und flüsterte mit erschrockenem -Blick nach den übrigen Kindern hin: „Mögen sie es nicht, Suse? Ist es -ihnen nicht gut genug? Gelt, sie sind an Besseres gewöhnt? Es ist aber -doch das Feinste, das wir hier haben.“ - -„Viel zu fein ist’s,“ rief das Doktorskind. „Eine Suppe wäre gerade gut -genug für uns gewesen.“ - -„Nein, nein,“ wehrte Christine, „Kalbfleisch ist besser.“ - -Nun halfen Toni und Suse beim Auftragen der Speisen, und die -Gesellschaft fing zu essen an. - -Die Kinder mäßigten ihren Appetit etwas, weil der Doktor ihnen daheim -anbefohlen hatte, Rücksicht auf der alten Frau geringe Vorräte zu -nehmen. - -Aber Christine beängstigte ihr Maßhalten, und sie fragte deshalb -wiederum erschreckt Suse: „Gelt, sie mögen mein Essen nicht? Gelt, sie -ekeln sich vor mir, weil ich eine alte Frau bin?“ - -Da flüsterte Theobald seinen Brüdern zu: „Eßt, ihr Dächse, wie die -Nudelgänse, sonst geht’s euch schlecht. Immer Takt haben.“ - -Da begann die Gesellschaft zuzulangen, daß Christine ihre helle Freude -dran hatte. - -Ein halber Laib Brot verschwand, ein Kuchen folgte ihm nach, und von -dem Kalbfleisch blieb auch nicht mehr viel übrig. In den Wassergläsern -schenkte Christine den Kindern Waldbeerwein ein. - -Unter fröhlichen Gesprächen verging das Mahl. - -Die Doktorskinder brachten Christine einen ihrer alten Lieblingswünsche -vor. - -„Christine, besuch uns doch einmal in der Stadt!“ rief Suse, „tu es -doch.“ - -„Ja,“ fielen auch die andern ein, „tun Sie es, bitte.“ - -„Tu es, es wird herrlich,“ meinte Hans. „Dann sollst du alles in der -Stadt zu sehen bekommen. Alles, alles. - -Den Zoologischen Garten, wo mein Kamel drin steht. Weißt du, das ich -mal fast bekommen habe, das gräßliche Tier!“ - -„Wenn ich dran denke, wie Ursel damals gejammert hat,“ rief Suse, „muß -ich noch jetzt lachen. Ich hab’ gemeint, sie wird verrückt.“ - -„Christine muß vor allen Dingen Ursel selbst sehen,“ erklärte hier -Theobald, „diese blitzsaubere Person. Das Herz lacht einem im -Leib, wenn man sie ansieht. So gut ist die, so liebenswürdig, so -entgegenkommend, ein Engel in Menschengestalt.“ - -„Und Frau Cimhuber, die ist auch sehr interessant,“ rief Toni. - -„Ja, die wird Ihnen den ganzen Tag von ihrem Sohn erzählen,“ meinte -Theobald, „bis Ihnen ein Mühlrad im Kopf herumgeht. Edwin, Edwin, -weiter hört man nichts von ihr.“ - -„Das kann ich vollständig begreifen,“ erklärte Toni. „Sie hat nur einen -einzigen Sohn, also redet sie von ihm. Der ist nämlich in Afrika, -müssen Sie wissen, Christine, und den größten Gefahren ausgesetzt. -Jeden Tag kann ihn der Tod überraschen, und seine Mutter ist fern von -ihm.“ - -Suse nickte. - -„Toni hat ganz recht,“ wandte sie sich an die alte Frau. „Nicht wahr, -du würdest doch auch in großer Sorge sein, wenn du nur ein einziges -Kind hättest und das wäre nicht bei dir und stürbe womöglich eines -Tages. Ich denke es mir gräßlich, wenn man nur ein einziges Kind hat -und das stirbt einem noch obendrein.“ - -Christine nickte traurig vor sich hin und faltete ihre Hände. - -Da stieß Hans seine Schwester unter dem Tisch an, und Suse biß sich -auf die Lippen, erinnerte sie sich doch plötzlich, daß sie eine große -Taktlosigkeit begangen hatte. - -Christine hatte ja auch nur ein einziges Kind gehabt, eine Tochter, und -die war gestorben in demselben Jahre, als Suse geboren wurde. - -Rosel hatte den Kindern einmal von diesem Trauerfall gesprochen und -zwar mit geheimnisvoll düsterer Miene. - -„Gräßlich, gräßlich ist’s gewesen,“ hatte sie geflüstert, „man sollte -nicht meinen, daß es solche Menschen gibt. Aber redet nicht davon. -- -Redet nicht davon, redet nicht davon.“ Mehr hatten sie nicht vernommen. -Und die Frau Doktor, die von ihren Kindern gebeten worden war, -ihnen einiges von Christines Tochter zu verraten, hatte nur gesagt: -„Christine hat sehr viel Trauriges durchgemacht, aber erinnert sie -nicht daran. Wenn ihr einmal größer seid, sollt ihr’s wissen.“ - -Und nun hatte Suse eine solche Dummheit gesagt. Schnell rief sie -deshalb dem alten Mütterlein zu, um sie abzulenken: „Das Haus von den -Fremdlingen mußt du auch sehen, Christine. Wir führen dich dran vorbei.“ - -„Und die herrlichen Granadasöhne auch,“ warf Christoph ein. „Wie die -geschniegelten Äffchen auf der Stange sehen sie aus. So unmännlich,“ -sagte Theobald. - -„Und die Kathedrale müssen Sie sich auch betrachten, Christine,“ rief -Toni. „Es ist ein rein gotischer, wunderbarer Bau. Wir haben ihn in der -Kunstgeschichte neulich durchgenommen.“ - -„Ja, Kirchen magst du ja so gern,“ stimmte Suse bei. „Da kannst du -beten, und Hans und ich werden derweil hinten im Dunkeln zwischen den -Säulen auf dich warten.“ - -„Ins Kino muß Christine auch,“ rief Henner. „Vielleicht dürfen wir mit. -Wir dürfen nur jedes Jahr einmal an unserem Geburtstag hin. Und auch -nur, wenn’s ein Seestück zu sehen gibt oder ein Aquarium.“ - -„Und das Museum sehen wir uns alle an,“ rief Hans. - -So zählten die Kinder immer weitere Sehenswürdigkeiten der Stadt auf. -Einer wollte noch mehr wissen als der andere, jeder den besten Rat -erteilen. Schließlich verstand keiner sein eigenes Wort mehr. Christine -lachte fröhlich mit. Dabei ermahnte sie die Kinder immer wieder, ja -auch tüchtig zu essen. Beim Abschied drängten Hans und Suse noch -einmal: „Besuch uns ja, Christine, besuch uns in der Stadt!“ - -„Vielleicht,“ antwortete die alte Frau nachdenklich, „vielleicht.“ - -Da sprangen sie die steinerne Treppe hinunter, blieben aber an der -kleinen Gartentür noch einmal stehen und riefen: „Gelt, Christine, du -kommst? Gelt, du kommst? Sag’ ja, sag’ ja.“ - -„Wenn der liebe Gott mich gesund erhält, komm’ ich,“ antwortete die -alte Frau, und die Kinder stürmten freudig davon. - -Auf dem Weg, der zum Dorf hinaufführte, drehten sie sich zum letztenmal -um und winkten ihr zu: „Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen.“ Dann waren -sie ihren Blicken entschwunden. Die alte Frau aber blieb noch lange, -in schweren Gedanken versunken, an ihrem Gartenzaun stehen. Sie dachte -an die ferne, fremde Stadt, von der ihr soviel erzählt worden war und -die sie schon lange einmal besuchen wollte. Nicht der Wunsch nach -ihrer Schönheit und ihren Wundern trieb sie dorthin, auch nicht die -Doktorskinder allein, sondern Dinge, von denen sie nicht reden wollte... - -Seit Wochen waren die Kinder nun schon in der Stadt, und Christine -war noch immer nicht gekommen. Sicher hatte sie ihr Versprechen ganz -vergessen. - -Und auch die Kinder, die in der ersten Zeit viel von ihrem Besuch -gesprochen hatten, dachten zurzeit nicht mehr daran. Ganz andere Dinge -bewegten sie. Ursel war wieder einmal nicht gut auf sie zu sprechen. --- Hans trieb nach Ursels Ansicht die Anmaßung zu weit. Er wollte -Geigenstunde nehmen. -- Geigenstunde. Außer dem Herrn Missionar hatte -nach ihrer Ansicht kaum noch ein anderer Sterblicher die Berechtigung -zu geigen. -- Und nun Hans erst. -- „Der werde doch nie etwas -Vernünftiges lernen,“ meinte sie. -- „Der Herr Edwin hingegen, der Herr -Edwin! Den hätten die Kinder in seiner Jugend mal geigen hören sollen. --- Das war eine Freude, das war ein Hochgenuß. Der ergriff den Bogen -und die Geige und geigte herrlich wie die Engel im Himmel.“ - -„Wer’s glaubt!“ hatte Suse keck dazwischen gerufen. „Der Herr Edwin -wird grad auch kein Orchestrion gewesen sein, wo man einen Groschen -hineinwirft und dann musiziert’s und donnert’s los.“ - -Kaum war Suse das Wort entfahren, so sagte sie über und über rot: -„Nein, das war zu frech von mir. -- Ich glaube wirklich, daß Herr Edwin -mehr konnte als andere Kinder.“ - -„Suse, du verdienst den Teller Suppe nicht, den du ißt,“ rief Ursel. - -„Und ich?“ forschte Hans, „am Ende ich auch nicht? Aber denken Sie -daran, Ursel, meine Eltern wollen es, daß ich Geigenstunde nehme.“ - -„Meinetwegen,“ brummte Ursel, „geige wo du willst, aber nicht in der -Negerstube.“ - -Die Kinder spitzten die Ohren. Aha, da lag der Hase im Pfeffer! Sie -wollte nicht, daß die von Sauberkeit blinkende und blitzende Negerstube -verwohnt werde. - -Zum Glück nahm sich diesmal die Pfarrfrau Hansens an und bestimmte, daß -die Geigenstunde wirklich stattfände. - -Zweimal in der Woche geschah’s. Dann kam Herr Schnurr, der Lehrer. - -Welch ein verstruwelter, zerzauster Herr! Wie sehr stach Hans daneben -ab, gar als er sich jedesmal vor der Stunde schniegelte und bügelte wie -ein Offizier und mit blankgewichsten Schuhen und glänzendem Scheitel -daherkam. - -Sein Lehrer war der Tumult selbst. Sobald sich die Tür der Negerstube -hinter ihm geschlossen hatte, traf er umständliche Vorbereitungen -zur Stunde. Er band seinen Schlips und Kragen ab, warf sie auf den -nächsten besten Stuhl und reckte seinen Hals einige Male befreit in die -Höhe. Dann klopfte er mit dem Geigenstock auf den Tisch zum Zeichen, -daß der Unterricht beginne. Hans kletterte herzklopfend auf ein noch -von Edwin Cimhuber stammendes Pult und stimmte mit Herrn Schnurr seine -Geige. Das Spiel begann. Wehe, wenn die Töne falsch herauskamen oder -der kleine Junge nicht im Takt spielte! Dann wurde Herr Schnurr zum -wilden Löwen. Er stampfte mit dem Fuße auf, er rüttelte an den Stühlen, -er sprang im Zimmer umher und fuhr sich in die Haare. Hans zitterte. -Der Lehrer drückte seine Geige fester unter das Kinn, zählte laut eins, -zwei, drei, sang a, a, a, wand sich in ohrwurmartigen Windungen immer -höher, immer höher, bis er auf den Zehenspitzen stand wie eine Tänzerin -und mit schmerzlich verzogenem Gesicht in dieser Stellung verharrte. - -„Halt, halt,“ schrie er plötzlich und warf die Geige hin, „willst du -wohl aufhören, willst du mich ins Irrenhaus bringen!“ - -Und Hans stand einen Augenblick da mit verglasten Augen und -Schweißperlen auf der Stirn. - -Dann, als der Geigenlehrer wieder zu sich gekommen war, ging der Tanz -aufs neue los. - -Im Zimmer nebenan saß Suse und konnte ihr Lachen nicht bändigen. -Von Zeit zu Zeit spähte Ursel mit argwöhnischer Miene zur Tür -der Negerstube herein, als fürchte sie, der Geigenlehrer prügele -die Negerprunkstücke von den Wänden herab oder trommele auf den -Polstermöbeln herum, anstatt zu geigen. - -Frau Cimhuber aber ging jedesmal spazieren, wenn Herr Schnurr kam. - -Einmal trat Ursel bei Suse ein, und als sie das kleine Mädchen lachend -vorfand, wollte sie zornig werden. Aber Suse umarmte sie und rief: „Ich -kann nicht mehr. So was Schönes hab’ ich noch nie gehört.“ - -„Laß die Albernheiten,“ meinte Ursel streng. - -Aber als sie aus dem Zimmer ging, merkte Suse doch an dem Wackeln -ihrer Schultern, wie sehr sie lachte. Also war selbst Ursel für die -Geigenstunde gewonnen. -- - -Nun mußte nur noch für Suse Rat geschaffen werden. Das Doktorskind -wollte gern, daß die alte Magd ihr für eine Einladung, die nächste -Woche stattfinden sollte, zwei Napfkuchen backe. Ursel aber wollte von -einer solch üppigen Tafelei nichts wissen. - -„Umstände werden nicht gemacht,“ erklärte sie klipp und klar. -„Honigbrot und Butterbrot bekommt ihr und jede zwei Tassen Malzkaffee. -Und damit basta.“ - -„Das ist alles?“ rief Suse und faltete vor Schreck die Hände. „Ist das -Ihr Ernst, Ursel? Aber denken Sie an, was das für einen Eindruck auf -den Besuch macht. -- Meine Freundinnen haben immer Marzipan und Kuchen -und Biskuit und Schokolade und Schlagsahne, die reine Konditorei.“ - -„So, und da schämt ihr euch nicht und eßt das alles auf einmal auf?“ -rügte Ursel. „Und das erzählst du mir auch noch? So ein Schwelgerleben -steht noch nicht einmal im Kalender. -- Sodom und Gomorrha werden nicht -mehr lange auf sich warten lassen bei eurem Sündentrubel.“ - -Suse lachte hell. - -Kaum hatte sie sich aber soweit vergessen, da bereute sie es auch -schon; denn Ursel sah sie an wie die strafende Gerechtigkeit. Umsonst -schmeichelte Suse jetzt: „Bitte, bitte, liebe Ursel, machen Sie mir -doch einen Stärkepudding und zwei Napfkuchen. Hans und ich wollen auch -eine ganze Woche lang kein Fleisch essen.“ - -Die Magd schwieg. Suse flehte weiter: „Wenn Sie wüßten, wie gut es -die andern Mädchen haben im Vergleich zu mir, würden Sie barmherzig -werden. Denken Sie sich, bei manchen gibt es auch süßen Likör und -Blumensträußchen.“ - -„Blumensträußchen könnt ihr haben, soviel ihr wollt. Die könnt ihr euch -im Walde holen. Dagegen hab’ ich nichts, aber Stärkepudding gibt’s -nicht und keinen Kuchen.“ - -„Und in der Negerstube wird auch nicht getafelt. Eßt in deiner Stube.“ - -„Was,“ rief Suse, „fünfzehn Kinder kommen ja gar nicht in mein Zimmer -rein. Das ist doch nicht fein für eine Einladung, daß man aufeinander -sitzt wie die Heringe. Heutzutage ist alles für Licht und Luft. Meine -Freundinnen werden krank vor Hitze in meinem kleinen Zimmer.“ - -„Ach was, so leicht wird sich’s nicht krank,“ meinte Ursel kaltblütig. -„Eßt nicht zu viel und trinkt schön langsam und nicht so viel auf -einmal, macht fleißig Durchzug mit Türen und Fenstern und trinkt kaltes -Wasser von der Leitung, dann bleibt ihr frisch wie die Fische im -Wasser.“ - -„Aber Ursel,“ rief Suse entrüstet, „glauben Sie, meine Freundinnen -kommen zu mir, weil sie Wasser schlucken wollen wie die Fische. Die -wollen doch unterhalten sein und was Feines essen.“ -- - -Das Doktorskind weinte. - -Ursel blieb hart. - -„Anderer Leute Kinder haben’s viel besser als wir,“ seufzte Suse etwas -später zu ihrem Bruder. - -„Warum nicht gar!“ rief der entrüstet. „Wer denkt denn an solche -Sachen! Wer hat denn so gute Eltern wie du und ich?“ - -„Freilich, freilich, du hast recht,“ antwortete die Schwester -kleinlaut, „aber sie sind ja so weit.“ - -Suse seufzte für sich allein weiter. Sie hatte große Bedenken, ob -ihre Einladung auch schön genug ausfallen würde. Von jeher hatte sie -es ja schmerzlich empfunden, daß die meisten Kinder ihrer Umgebung in -glänzenderen Verhältnissen lebten, schönere Feste gaben und feinere -Kleider anziehen konnten als sie selbst. - -Hans und seine Freunde fragten viel weniger nach diesen -Äußerlichkeiten. Was machte es aus, wenn einer der Knaben auch mal -einen besseren Anzug anhatte als der andere! Das merkte Hans kaum. -Außerdem fiel es ihm und seinen Freunden auch nicht ein, einander -einzuladen oder mit schönen Dingen zu beschenken. -- - -Zum Glück hielten aber auch bei Suse die trüben Betrachtungen über -des Lebens verschieden ausgeteilte Lose nicht lange an. Und sie sah -voll geheimer Freude dem Fest, das sie ihren Mitschülerinnen geben -wollte, entgegen. Von daheim traf zur rechten Zeit noch ein Paket -mit Blumen und Gebäck ein und ließ Susens Herz vor Freuden hüpfen. -Stolz konnte sie nun zur Schule gehen und ihre Einladungen dort -verteilen. Jubelnd wurden diese von den Schülerinnen ihrer Klasse in -Empfang genommen, weil sie wohl wußten, wie gar lustig es bei der -muntern Suse hergehen werde. Nur einige von ihren Schulgefährtinnen -überging Suse mit ihrer Einladung. Zu ihnen gehörte auch die schwarze -Karla, das hübscheste, begabteste Mädchen der Klasse, dessen Eltern -in glänzenden Verhältnissen lebten. Von jeher hatte dieses Mädchen -Susens größte Bewunderung auf sich gezogen wegen ihrer Sicherheit, -Schönheit und Klugheit. Aber gerade weil das Doktorskind jenen Stern -unter den Schülerinnen so sehr bewunderte, hielt sie sich abseits. --- Sie mochte sich nicht auch noch aufdrängen, wo schon so viele -andere Schulgefährtinnen um die Gunst jenes Mädchens warben. Und dann -fürchtete sie auch die Spottlust der schwarzen Karla. Denn als Suse -vor Jahren aus ihrem kleinen Gebirgsdorf gekommen war, hatte niemand -belustigter hinter ihr hergesehen, als jenes Mädchen. - -Zu ihrem größten Erstaunen bemerkte nun Suse, wie Karla betrübt und -enttäuscht drein sah, als sie mit der Einladung übersehen worden war, -und nach Schulschluß, als Suse die Treppe hinunterging, kam sie sogar -hinter ihr her und steckte ihren Arm unter den des Doktorskindes und -fragte in ihrer liebenswürdigen Weise: „Weshalb lädst du mich nicht -auch ein, Suse? Ich möchte doch so gerne zu dir kommen. Sicher wird es -sehr fein bei dir.“ - -Susens Herz klopfte laut. Sie konnte vor freudiger Erregung zuerst kein -Wort herausbringen. Das schönste und begabteste Mädchen der Klasse -bemühte sich um sie. Andere warben um Karlas Gunst, und sie trug ihr -die Freundschaft selbst an. - -Arm in Arm trat sie jetzt mit ihrer neuen Freundin durch das Tor hinaus -auf die Straße. -- Noch immer vermochte sie kaum zu reden. -- - -Jenseits, auf dem Steig der Fußgänger, hatte wohl schon eine halbe -Stunde lang ein altes Mütterchen gestanden, die Augen sehnsüchtig auf -das Tor ihr gegenüber geheftet. -- Sie war in die Tracht der alten -Frauen vom Lande gekleidet und trug am Arm einen Henkelkorb mit einem -weißen Tuch bedeckt und in der Hand einen dicken Schirm. Als die ersten -kleinen Mädchen aus der Tür traten, leuchtete ihr Gesicht hell auf. -Man sah’s ihr an, sie hatte auf eins von ihnen gewartet. -- Zufällig -flogen Susens Blicke zu ihr hinüber und sie fuhr zusammen. -- Das war -ja -- das war Christine! Wie kam sie hierher? War ihr wirklich kein -Weg zu weit gewesen, keine Reise zu mühselig, um die geliebten Kinder -aufzusuchen? Sie wartete auf Suse. Man sah’s ihr an. Sie wollte auf sie -zukommen. Aber weshalb lief Suse jetzt nicht zu ihr hin und umarmte sie -und zeigte ihr Entzücken? Weshalb wendete sie sich krampfhaft auf die -andere Seite? -- - -Sah denn Christine wirklich so komisch und armselig aus mit ihrem -Kapothut, der ihr wie ein kleiner Kobold auf dem Kopfwirbel saß und -seine Bänder flattern ließ, mit ihrem Rock, der viel zu kurz war, so -daß man ihre mageren Beine mit den grauen Strümpfen und die bunten -Pantoffeln sehen konnte? Mußte man sich ihrer wirklich schämen? - -Schämen gerade nicht. -- Aber die feine, stolze Karla! Was würde die -darüber denken? Suse ging weiter, ohne Christine zu grüßen. - -Eine Weile stand die alte Frau erschrocken da und blickte Suse nach. -Das kleine Mädchen mußte sie erkannt haben. -- Deutlich hatte sie -ihren Blick gefühlt. Doch warum hatte sie sich abgewandt und war nicht -jubelnd auf sie zugekommen wie sonst wohl? Langsam, langsam wurde es da -der alten Frau klar, daß sich Suse ihrer schäme und sie nicht kennen -wolle. Noch einen langen, sehnsüchtigen Blick schickte sie hinter -dem jungen Mädchen her, dann wandte sie sich traurig um und ging mit -gesenktem Kopf die Straße hinunter. Ihr war es, als habe sie ihr Herz -verloren. Sie kam sich so ausgestoßen und fremd vor, hier in dieser -großen Stadt, wie in einer Wildnis. Suse hätte doch fühlen müssen, wie -einsam sie hier war und hätte zu ihr kommen müssen. Aber sie hatte es -nicht getan. - -Die alte Frau wanderte nun ratlos hin und her durch mancherlei Gassen -und Straßen, ohne zu wissen wohin. Schließlich brachte ihr Weg sie in -die Anlagen der Stadt, wo frischer Rasen grünte, hohe Bäume wuchsen und -hier und da vor blühenden Sträuchern Bänke standen. Auf einer davon -ließ sich Christine müde nieder. Sie sah noch immer erschrocken -drein. Aber kein bitterer Gedanke gegen das kleine Mädchen bewegte ihr -Herz. -- - -[Illustration] - -Suse hatte ja recht, daß sie so vornehm tat. -- Suse war ja ein so -großes, kluges Mädchen geworden und hatte so viel gesehen und so viel -gelernt in dieser herrlichen Stadt. -- - -Und Christine war die arme, alte, unwissende Frau geblieben, mit der -man keinen Staat machen konnte. Längst vergangen waren ja die Zeiten, -in denen Suse ein kleines unschuldiges Kind war, das Christine über -alles liebte. Aber die alte Frau murrte nicht, sie wußte wohl, alles -Schöne und alles Gute hatte der liebe Gott ihr nur für eine bestimmte -Zeit gegeben, um es ihr dann wieder zu nehmen. So war es sein Ratschluß. - -Lange Zeit saß Christine, in diesen Gedanken versunken, auf der Bank -und konnte noch immer keinen Entschluß fassen, wohin sich wenden. Zu -Frau Cimhuber wollte sie nicht gehen. -- Sie fürchtete, auch dort nicht -willkommen zu sein. -- Und dann hatte sie noch einen andern Besuch vor, -den wichtigsten und schwersten, der ihr Geheimnis war, von dem selbst -die Doktorskinder nichts wissen sollten. -- Den wagte sie nun nicht -mehr auszuführen. -- - -Wenn Suse schon so ablehnend zu ihr tat, was konnte sie erst von jenen -fremden Leuten erwarten, denen der Besuch gelten sollte? - -Mitten in diesen Betrachtungen fuhr sie zusammen. Ein Windstoß hatte -das weiße Tuch, das über ihren Korb gebreitet war, aufgehoben und trieb -es in die Sträucher hinter ihr. Ein Heidelbeerkuchen, den sie den -Kindern mitgebracht hatte, wurde im Korbe sichtbar. - -Die alte Frau erhob sich umständlich, legte ihren Schirm vorsichtig -neben sich und sah sich nach ihrem Tuche um. In diesem Augenblick -ertönte ein Jubelschrei, und von dem Wege her, der in einiger -Entfernung von der Bank vorüberführte, kamen zwei Knaben auf sie -zugerannt. Es waren Hans und Theobald. Zufällig hatten die beiden -Vettern ihren Heimweg aus der Schule durch die Anlagen genommen und -trafen jetzt unerwartet auf Christine. Beide gerieten in große Freude. -Hans sagte in einemfort, Christines Hand drückend: „Wo kommst du her, -wo kommst du her? Oh, wenn Suse wüßte, daß ich dich zuerst getroffen -habe, wie würde die sich ärgern!“ - -Theobald aber schlang seinen Arm um das alte Mütterchen und deklamierte -in seiner närrischen Art: „Habe ich dich endlich wieder gefunden? Ruhe -an meinem Herzen, mein süßer Schatz. - -Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben... - -Wissen Sie noch, in jener Zeit, Christine, als Sie mich im Bett -versteckt haben, weil der Schmied mit dem Dreschflegel vor der Tür -stand und mich versohlen wollte, weil ich seinem jüngsten Flachskopf -auf den Kopf gespien hatte?“ - -Die alte Frau hatte sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholt. --- Hier war Hans, und da war Theobald, die beiden Knaben, und einer -freute sich noch mehr als der andere. -- War es denn kein Traum? -- -Merkten sie denn nicht, daß immerzu fremde Leute vorübergingen und -zusahen, wie sie eine arme, alte Frau voll Liebe begrüßten. Die Knaben -sahen es wohl, aber sie machten sich nichts daraus. - -Da breitete sich langsam über Christines Gesicht ein glückliches -Lächeln, und sie drückte Hans dankbar die Hand. - -„Sie müssen natürlich bei uns zu Mittag essen,“ fiel Theobald hier ein, -„meine Mutter hat schon immer gesagt: ‚Wenn Christine kommt, ladet sie -ein.‘ Was wollen Sie auch bei der Cimberklinkerin und der Ursel? Ich -sage Ihnen, das unzutunlichste Geschöpf meines Lebens. Die rechnet ja -doch gleich nach, wieviel Margarine und sonstigen Tutti Frutti sie in -die Pfanne tun muß, wenn Sie mitessen!“ - -Und mit diesen Worten hatte der Stadtvetter auch schon den Schirm der -alten Frau ergriffen und Hans ihren Korb übergeben. Dann machte sich -das seltsame Kleeblatt auf den Weg nach Hause. - -„Eins, zwei, drei,“ kommandierte plötzlich Theobald, und die Knaben -gingen in einen Polkaschritt über. - -„Laßt doch, laßt doch,“ wehrte Christine, „das darf man ja nicht hier.“ - -„Was darf man nicht?“ rief Theobald, „alles darf man, was man will. -- -Wenn sich einer untersteht und seinen Mund auftut, so spieße ich ihm -Ihren Paraplü mitten durch den Leib.“ - -Und nachdem der Stadtvetter also großspurig geredet hatte, wurde er -wieder liebenswürdig und erkundigte sich nach allem aus Christines -Heimatsort, nach ihrem Häuschen und ihrer Ziege, nach ihren Kartoffeln -und Bohnen, selbst nach dem Reiserbesen, den er ihr in den letzten -Ferien gebunden hatte. Und zuletzt steuerte er mit seinen Begleitern -auf ein schmuckes Haus in einem großen Garten zu, indem er erklärte: -„Nun wollen wir gemeinsam in unsern Wigwam einfallen.“ - -Damit öffnete er weit und einladend die Tür seines Vaterhauses... - -Was war inzwischen aus Suse geworden? -- An der Seite der schwarzen -Karla war sie in entgegengesetzter Richtung davongegangen wie -Christine, beherrscht von dem Gefühl des Triumphes, den sie errungen -hatte. -- Wie in einem Taumel war sie zuerst befangen. Sie war die -Königin der Klasse geworden, umworben von dem einflußreichsten Mädchen -unter ihren Mitschülerinnen. Und an ihrer Seite redete jenes schöne -Mädchen nun lauter angenehme Dinge, die ihr kleines, eitles Herz -erfreuten. -- Sie beide gehörten zusammen, meinte Karla. Sie seien ja -die begabtesten Kinder der Klasse. Suse müsse sie recht oft besuchen, -ihre Eltern hätten schon häufig darum gebeten. Was für schöne Stunden -würden sie gemeinsam verbringen! - -Doch je weiter sie sich von der Schule entfernten, je weniger achtete -das Doktorskind auf der Freundin schmeichlerische Reden. Scheu blickte -sie sich einmal um und sah Christine ganz in der Ferne davongehen. -- - -Da wurde des kleinen Mädchens Gang zögernder, ihre Antworten -unsicherer, ihr ganzes Wesen unruhig. Sie zog ihren Arm unter dem ihrer -Freundin hervor und blieb unschlüssig stehen. - -„Was hast du, Suse?“ fragte ihre Freundin. - -Das Doktorskind antwortete nicht und ging langsam mit ihr weiter. -- -Sie sah jetzt immer Christines erschreckte Augen hilflos auf sich -gerichtet, und langsam wurde ihr klar, was sie eigentlich getan hatte. -Mit verstörtem Gesicht sah sie sich abermals um. Da sah sie ihre -Freundin Gretel, die sich in der Schule etwas verspätet hatte, des -Weges kommen. - -Und das kleine Mädchen erzählte ganz aufgeregt von einem armseligen, -altmodisch gekleideten Mütterchen, das vor der Schule gestanden sei und -so verirrt und traurig ausgesehen habe, daß es sie gedauert habe. - -„Sicher ist sie vom Lande,“ meinte Gretel, „und wußte nicht wohin. Ach, -wie tat sie mir leid. Sie sah so ängstlich um sich. Am liebsten hätte -ich sie mitgenommen.“ - -Schon gleich bei den ersten Worten ihrer Freundin war Suse -zusammengefahren. - -Nun gab es kein Halten mehr für sie. - -„Das war Christine,“ rief sie, „Christine, von der ich dir schon so -viel erzählt habe, Gretel. Aus meinem Heimatsort. Hansens und meine -alte Kinderfrau. Sie ist gekommen und will uns besuchen, Hans und mich. -Sie hat uns so lieb und ist so gut zu uns, und ich hab’ sie verleugnet. -Ach, wenn sie jetzt fort ist, ist alles aus.“ - -Und vor den erstaunten Augen ihrer Freundin riß sie sich los und flog -davon zur Schule zurück. Aber als sie dort ankam, war weit und breit -niemand mehr zu sehen. Da irrte sie weiter durch die Straßen und -Gassen, in denen sich die heiße Glut des Mittags fing, und suchte nach -der alten Frau. Umsonst. Auch im Hause von Frau Cimhuber, wo sie nach -ihr forschte, war sie nicht gesehen worden. So bestand denn nur noch -die Möglichkeit, daß sie mit dem nächsten Zug in die Heimat gefahren -sei. Aber auch vom Bahnhof mußte Suse unverrichteter Sache wieder -umkehren. Erschöpft kam sie daheim an. Ein freundlicher Empfang ward -ihr hier nicht zuteil. Denn als sie ängstlich durch die Küchentür -spähte, sah sie von Ursels Scheuerwasser Spritzer und Strahlen -aufsteigen, wie von spielenden Delphinen, und ihr entgegen klang es -zornig: „Zweimal ist schon nach dir gefragt worden. Christine und Hans -sind bei deiner Tante Hedi und essen zu Mittag. Jeder ist schon in -Angst um dich. Frau Cimhuber hat schon ihre Migräne.“ - -Da machte Suse, so schnell sie konnte, die Tür hinter sich zu und lief -in ihr Zimmer. Dort schloß sie sich ein und weinte. Christine war da, -Christine war gefunden. Kein Mensch hatte ihr ein Leid zufügen dürfen. -Kein Weg hatte sie irre geleitet. Sie war in Gottes Hand gewesen. - -Noch saß Suse stumm da, die Hände wie im Gebet gefaltet, da hörte sie -Besuch kommen. Sie horchte hin und hörte Hans reden und noch eine -andere liebe Stimme. -- Christine war gekommen. -- - -Im nächsten Augenblick rüttelte Hans auch schon an ihrer Tür und rief: -„Mach auf, mach auf, wir sind draußen.“ - -Und als sie öffnete, stürmte er über die Schwelle, Christine mit sich -ziehend, und rief mit blitzenden Augen: „Hier, hier, sieh, wen ich hier -habe, ich habe sie gefunden. -- Was sagst du nun, was sagst du nun?“ - -„Was ich sage,“ tönte da ungefragt eine Stimme aus der Küche, wo Ursel -herumwirtschaftete. -- „Was ich sage, in einer Minute kommt Herr -Schnurr. -- Kein Pult ist zurecht gerückt, kein Geigenkasten steht am -Platz, kein Bogen ist eingerieben! Soll ich’s vielleicht besorgen?“ - -Diese Nachfrage fuhr Hans derartig in die Glieder, daß er auf der -Stelle zurückflog, in die Negerstube eilte, dort rückte und schob und -in den Gang zurückkehrte, wo er sich bürstete und glättete, und gleich -darauf mit höflicher Miene den Lehrer empfing. - -Christine aber stand auf der Türschwelle mit ihrem Korb und Schirm in -der Hand und wagte nicht einzutreten. - -„Christine komm, Christine komm,“ sagte Suse und zog sie an der Hand -herein. - -Und mitten in der Stube blieb sie plötzlich stehen, drückte beide -Handrücken vor die Augen, wie sie oft als Kind getan, und begann -bitterlich zu weinen. Da nahm die alte Frau ihr die Hände vom Gesicht -weg, zog sie fest an ihre Brust und hielt sie dort verborgen. - -„Weine nur nicht,“ tröstete sie, „der liebe Herrgott weiß alles, und er -macht alles, alles gut. Sei still Suse. Sei jetzt nur ganz still, Kind. --- Ich habe euch auch Heidelbeerkuchen mitgebracht. -- Sieh her! Es -sind nicht mehr viele Beeren darauf, du weißt ja, ich kann nicht mehr -so weit gehen und sie suchen. Ich bin eine alte Frau. -- Ganz nahe am -Fuchskopf, wo ich sie sonst immer geholt habe, finde ich jetzt keine -mehr. Die Kinder holen sie alle weg. -- Aber er hat euch ja immer am -besten geschmeckt, der Heidelbeerkuchen. -- Glaubst du, du magst ihn -noch? -- Er ist ja sicher nicht so gut wie der, den ihr in der Stadt -bekommt. -- Und ihr scheut mich doch nicht, weil ich eine arme alte -Frau bin?“ - -Und Christine hob vorsichtig den Kuchen heraus, der auf einem Teller im -Korb stand, und stellte ihn auf den Tisch. Und Suse schnitt sich ein -Stück ab und fing an zu essen, obwohl der Kuchen und die Tränen sie am -Schlucken hinderten. - -„Gelt, Christine, du denkst jetzt nicht mehr gut von mir?“ fragte sie, -nachdem sie sich ausgeweint hatte. „Es liegt dir jetzt nichts mehr an -mir. Und du frägst auch nichts mehr nach der Stadt?“ - -„Aber freilich, Suse. Ich will doch die schöne Stadt sehen, von der du -mir immer so viel erzählt hast. Ich bin ja nur einmal in meinem Leben -hierher gekommen, und wenn ich jetzt fortgehe, komm’ ich niemals mehr -wieder. Das spür’ ich, ich bin viel zu alt dazu.“ - -„Wollen wir gleich gehen und alles besehen?“ drängte Suse. - -„Nein, nein, wir warten erst, bis Hans mitgehen kann.“ - -„Gelt, du hast Hans jetzt lieber als mich,“ flüsterte Suse. Christine -schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich habe euch alle gleich lieb.“ Und -sie wischte Suse mit ihrem Taschentuch das Gesicht ab. - -Danach führte das Mädchen die alte Frau durch ihr Zimmer und zeigte ihr -die ganze Einrichtung, auch den Schrank mit ihren Heften und Büchern. -Mit gefalteten Händen stand die alte Frau davor und richtete ihre -Blicke bewundernd auf Suse. -- Alle diese Hefte hatte ihr Liebling, die -Suse, vollgeschrieben, in all diesen Büchern konnte sie lesen, fremde -Sprachen lernte sie sogar. -- Was war sie doch für ein bedeutendes -Mädchen geworden. - -Aber noch heller strahlten Christines Augen, als sie plötzlich ihren -Wachsengel im Glaskasten auf der Kommode entdeckte. -- Unversehrt stand -er dort, heilig gehalten von den Kindern. Wie waren sie doch gut! - -Ein dankbarer Blick traf Suse, aber dem jungen Mädchen stieg eine heiße -Röte in die Wangen, und schnell führte sie ihren Besuch zum Fenster, -damit sie einen Blick in die schwindelnde Tiefe tue, wo die Menschen -klein wie Mücken spazieren gingen. -- Gerade beugte sich Christine voll -Staunen über die Fensterbrüstung, da trafen laute Stimmen ihr Ohr und -sie fuhr zusammen. Der Lärm kam aus der Negerstube, wo Herr Schnurr -wieder einmal außer Rand und Band umherhüpfte, weil Hans aus lauter -Freude über den Besuch seiner alten Kinderfrau zum Erbarmen spielte. - -Als der Lärm lauter wurde, bekreuzigte sich Christine, nahm Suse bei -der Hand und sagte gefaßt: „Komm, Kind, wir gehen, hier ist es nicht -geheuer.“ Aber Suse hielt sie zurück und erklärte: „Ach, Christine, das -ist ja nur Hans seine Geigenstunde.“ - -„Seine Geigenstunde?“ fragte Christine ganz verstört. -- So was -vermochte sie nicht zu fassen. -- - -„Wir wollen ihm helfen,“ sagte sie deshalb. „Das endet nicht gut.“ - -„Nein, nein, Christine, so geht’s immer. Zuerst ist Herr Schnurr oft -wie außer sich, und hernach streicht er Hans über den Kopf Und sagt: -‚Brav, Büberl, mach’s das nächstemal wieder so.‘“ - -Trotz dieser zuversichtlichen Rede beruhigte sich Christine keineswegs. -Bei jedem neuen Schelten fuhr sie zusammen. Ihren Schirm und Korb in -der Hand stand sie auf dem Sprung da. - -Ihre Angst vor der großen Stadt, wo alles drüber und drunter ging, -wo man nicht ein noch aus wußte, wurde immer größer, und schließlich -beschlich sie ein unheimliches Gefühl, als könne sie den weiten Weg -nach Hause nicht mehr zurückfinden. - -„Christine, gelt, du bleibst noch ein paar Tage bei uns?“ bat Suse. - -„Nein, nein, ich will morgen wieder fort,“ sagte die alte Frau -ängstlich. „Ich muß nach meiner Ziege sehen und nach meinem Garten.“ - -Suse machte ein trauriges Gesicht und fragte leise: „Gelt, Christine, -du willst wieder fort, weil ich so häßlich zu dir war?“ - -„Nein, nein, ich bin ja nicht zu euch allein gekommen, Suse, ich -bin noch wegen einem andern kleinen Mädchen gekommen, das will ich -aufsuchen.“ - -Suse horchte verwundert auf. - -„Zu einem andern kleinen Mädchen?“ - -Die alte Frau nickte. „Freilich.“ - -„Aber, Christine, hast du Verwandte hier?“ - -„Ja, es ist eine Enkelin von mir, ein kleines Mädchen, so alt wie du.“ - -„Was, Christine, du hast eine Enkelin?“ rief Suse ganz erstaunt, „und -wir wissen’s nicht. Weiß es denn niemand auf der Welt?“ - -„Doch, dein Vater und deine Mutter wissen’s. Euch hab’ ich nur nie -davon erzählt, weil ihr zu klein wart und weil ich nicht wollte, daß -ihr auch traurig würdet.“ - -„Ach, Christine, bitte, bitte, erzähl’ mir. Ich bin ja jetzt schon -sehr groß und werde mich beherrschen, auch wenn deine Erzählung -sterbenstraurig wird. Ganz still will ich sein und dich nicht durch -dummes Reden stören,“ drängte Suse. - --- So erzählte denn Christine, die sonst ihre Sorgen ängstlich vor -aller Welt hütete, ganz verwirrt durch die Ereignisse des Morgens und -erschreckt durch die Eindrücke der geräuschvollen Geigenstunde, Suse -den schweren Kummer ihres Lebens. - -Das Doktorskind hörte still zu, und je mehr sie erfuhr, um so schwerer -wurde ihr Herz. - -Von einer einzigen Tochter hörte sie ihre Kinderfrau erzählen, die sich -an einen bösen Menschen verheiratet, der getrunken und seine Frau -schlecht behandelt habe und schuld an ihrem Tod geworden sei. Das Kind -aus dieser Ehe, ein kleines Töchterchen, Resi genannt, habe die alte -Frau nach dem Tode ihrer Tochter zu sich nehmen und erziehen wollen. -Aber der Vater des Kindes habe verlangt, sie solle ihr Haus verkaufen, -ihm den Erlös davon geben und mit ihm zusammen in die Stadt ziehen. - -Durch Susens Vater sei indes jener Plan vereitelt worden, und Christine -sei von Not und Elend verschont geblieben, wie der „Herr Doktor“ schon -so und so oft gesagt habe. - -Der Schwiegersohn der alten Frau habe sich schnell wieder verheiratet -und sei in die Stadt gezogen. Von ihrem Enkelkind habe Christine nie -mehr etwas erfahren, auch dann nicht, wenn sie ihm Geschenke gemacht -oder um seinen Besuch gebeten habe. Nur um Geld habe ihr Schwiegersohn -immer wieder geschrieben. Jetzt sei Christine gekommen, um ihr -Enkelkind zu suchen, damit sie es vor ihrem Tod noch einmal sehe, denn -sie wisse ja nicht, ob sie noch lange lebe. - -Da nahm Suse Christine in den Arm und sagte in demselben Ton, in dem -sie gewohnt war, ihre alte Kinderfrau sonst selbst reden zu hören: -„Sei still, Christine, der liebe Gott weiß alles und hilft uns sicher. -Christine, wir finden dein Resi ganz gewiß, und du wirst sehen, es wird -dir viel Freude machen.“ - -Doch die alte Frau meinte mit Tränen im Auge: „Am Ende läßt mich der -Vater das Kind nicht sehen und schickt mich fort von seinem Hause.“ - -„Aber nein, Christine, wir gehen ja alle mit, Hans und ich und Theobald -und Toni. -- Wenn wir gleich fünf Mann hoch anrücken, wird er schon -Respekt bekommen. -- Und dann fällt mir noch was ein, Christine, ich -hab’ noch ein Fünfmarkstück von Onkel Fritz für ein schönes Buch -geschenkt bekommen. Das geb’ ich deinem Schwiegersohn. Wenn dieser -scheußliche, geizige Mann das Geldstück sieht, läßt er sicher viel -besser mit sich reden. Und eines von meinen Kleidern nehmen wir auch -mit und eine Schürze und Strümpfe und Schuh.“ - -Und in Suses Phantasie wurde dieser Gang zu Christines bösartigem -Schwiegersohn zu einem glänzenden Triumphzug, in dem sie sich alle mit -Ruhm bedeckten und Freude über Freude einheimsten. - -„Wo wohnt denn dein Enkelkind?“ fragte die eifrige Suse. - -Und die alte Frau zog ein Stück Papier hervor, auf dem eine Adresse von -Rosels Hand geschrieben stand. - -„Kleinstraße,“ las Suse und schüttelte den Kopf. -- „Kleinstraße, die -kenn’ ich nicht.“ - -Aber mit einemmal ging ein Leuchten über ihr Gesicht, und sie rief -strahlend: „Weißt du, wer sie kennt? Fräulein Hirt kennt sie, die -kennt alle Straßen und alle armen Kinder. -- Die ist in vielen frommen -Vereinen. Die weiß es. Komm, komm. Ich glaube bestimmt, daß sie es -weiß. Sie wohnt jetzt über uns im vierten Stock, seit ihre Großmutter -gestorben ist.“ - -Christine folgte ihr eilig mit trippelnden Schritten, das Herz schon -viel froher und zuversichtlicher als bisher. Nur im Gang blieb sie -wieder einmal erschreckt stehen. Hier streckte nämlich Ursel ihren -Kopf zur Küchentür heraus und verkündete: „Um vier Uhr ist der Kaffee -fertig,“ mit einer Miene, als wollte sie sagen: „Um vier Uhr sollt ihr -alle gefressen werden!“ - -„Vergelt’s Gott,“ sagte die alte Frau und folgte Suse zur Tür hinaus -und die Treppe hinauf. - -In Fräulein Hirts Zimmer wurden die beiden von der liebenswürdigen -Lehrerin auf das freundlichste begrüßt, und Christine bekam sogar den -Ehrenplatz im Sofa angewiesen. Während sie nun dort verschüchtert und -ängstlich saß, den Blick trostheischend auf Suse gerichtet, erzählte -diese mit glühenden Wangen, ganz durchdrungen von dem Ernst der Stunde -und von der Wichtigkeit ihrer Rolle, Christines Schicksal. Ab und zu -flog ein mütterlich beruhigender Blick zu ihrer alten Kinderfrau hin -oder sie streichelte jener sanft die Hand, indem sie sagte: „Es wird -schon gut, es wird schon gut, Christine.“ - -Fräulein Hirt aber hörte gespannt Susens Erzählungen zu. Und -schließlich, als diese fragte: „Kennen Sie die Straße, wo Resi wohnt?“ -antwortete sie lächelnd: „Nicht nur die Straße, ich kenne Resi selbst. --- Sie ist bei mir in der Sonntagsschule.“ - -„Resi selbst?“ - -Suse wurde dunkelrot vor Freude, sprang auf und rief: „Siehst du, -siehst du, Christine! Alles kennt sie, alle Leute, und allen hilft sie -und uns auch. Wir sind gerettet.“ - -Und das Doktorskind sprang auf, umarmte Fräulein Hirt und Christine und -hätte sie am liebsten sofort zu Resi entführt. - -„Weißt du was,“ rief sie, „jetzt warten wir keine Minute mehr! Jetzt -gehen wir sofort zu Resi. Warum noch lange warten! Je eher du Resi -siehst, Christine, je lieber ist’s dir ja doch.“ - -„Nein, nein,“ wehrte da Fräulein Hirt, „ich hole das Kind allein -hierher. Es ist besser, Christine macht den weiten Weg dorthin nicht. -So viele Anstrengungen nach einer solch langen Reise kann sie nicht -ertragen.“ -- - -Aber den wahren Grund, weshalb sie den Besuch Christinens bei ihren -Verwandten verhindern wollte, verschwieg sie. Sie fürchtete, daß die -alte Frau von ihres Schwiegersohns Tür gewiesen würde. -- - -Zur Zeit des Nachmittagskaffes verließen die alte Frau und das kleine -Mädchen ihre liebenswürdige Helferin. - -In der Cimhuberschen Wohnung wurden die beiden in größter Ungeduld -von Hans erwartet, dem es gar nicht angenehm gewesen war, unter Herrn -Schnurrs Lehrmethode zu schwitzen, während seine Schwester ihr Leben -genoß. - -Auch Toni hatte sich eingefunden, um die Doktorskinder samt ihrem -Besuch zu einer Wagenfahrt abzuholen. Strahlend erzählte sie, ihr Vater -habe ihr fünf Mark für das Vergnügen geschenkt, und Theobald käme -gleich in einer Droschke an. - -Bei der Spazierfahrt mit den Kindern konnte Christine von dem weichen -Sitz des Wagens aus bequem die Wunder der Stadt erschauen. Aber so -schön sie auch waren, ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, zurück -nach Frau Cimhubers Haus, wo etwas viel Schöneres und Besseres ihrer -wartete. -- Ihr Enkelkind. - -Und nach ihrer Rückkehr aus der Stadt bekam sie das Kind endlich zu -sehen. An Fräulein Hirts Hand drückte sich Resi schüchtern zur Tür -herein und stand verwirrt vor ihr. - -Der alten Frau liefen die Tränen über das Gesicht, und sie brachte nur -mühsam die Worte hervor: „Ich bin deine Großmutter, Resi.“ - -Stumm sah das kleine Mädchen zu ihr auf. - -Da nahm Suse sie bei der Hand und sagte strahlend: „Ja, deine -Großmutter, deine liebe Großmutter, unsere gute Christine. Die haben -wir alle schrecklich lieb. Sie gehört dir. -- Willst du ein Stück -Heidelbeerkuchen haben? Den hat Christine uns mitgebracht. Wunderschön -schmeckt er. Komm, iß. -- Und du besuchst deine Großmutter, gelt? Und -dann werden wir Freundinnen. Und Christine hat eine weiße Ziege und -ein kleines Häuschen und viele Blumen im Garten. Das wird dir Freude -machen, wenn du das alles siehst.“ - -Aber trotz dieser sprudelnden Rede taute Resi nicht auf, und kein Wort -ging über ihre Lippen. Nur ganz am Schluß ihres Besuches, als Suse -sie aufforderte, doch zum Abendessen zu bleiben, schüttelte sie den -Kopf und sagte ängstlich: „Nein, nein, ich muß fort, ich werde sonst -gescholten.“ - -So wurde sie denn entlassen, nachdem sie aber Fräulein Hirt versprochen -hatte, am andern Tag noch einmal wiederzukommen. - -Als Resi fortgegangen, war für Hans endlich der langersehnte Augenblick -gekommen, an dem er Suse über die geheimnisvollen Dinge zur Rede -stellen konnte, die sich hinter seinem Rücken abgespielt hatten. Er -wünschte zu wissen, was für Beziehungen zwischen Christine und dem -kleinen, fremden Mädchen beständen, und warum man gerade ihn nicht -eingeweiht habe. - -Nichts Angenehmeres konnte Suse widerfahren, als ihn über alles, was -sich während der Geigenstunde zugetragen hatte, drei lang, drei breit -aufzuklären. - -„Christine schien wirklich froh zu sein, daß sie eine Stütze an mir -hatte,“ schloß Suse voll Eingebildetheit ihren Bericht. „Ohne mich -hätte sie Resi sicher nicht so leicht gefunden.“ - -Sei es nun, daß diese Aufgeblasenheit Hansens Zorn entfachte, oder daß -ihn das schlechte Betragen von Resis Vater Christine gegenüber wirklich -empörte, jedenfalls ergriff er plötzlich den ersten besten Stuhl und -stieß ihn mit einer Gebärde auf, als wolle er ihn seiner vier Beine -berauben. Dazu rief er: „Den Kopf sollte man ihm abhacken, diesem -Lumpen, diesem scheußlichen, gemeinen Kerl, diesem Vater von Resi.“ - -„Sei still, sei doch still,“ mahnte Suse, „man meint ja gerade, du -seist Herr Schnurr. Nächstens springst du auch hier herum wie von -Sinnen. Wer benimmt sich denn so ungebildet!“ - -Etwas später, als Suse zu Bett gegangen war, da kam ihr wieder die -Begegnung von heute morgen ins Gedächtnis zurück, und die Schamröte -stieg ihr heiß ins Gesicht. - -Sie mußte an die Zeit denken, als Herr Edwin dagewesen war und an ihre -Vorsätze von damals, dem Missionar nachzueifern und immer nur Gutes -zu tun. -- Große Taten wollte sie vollbringen -- in fremde Länder -wollte sie ziehen und unbekannten Menschen helfen. -- Und nun? Ihre -alte Christine hatte sie verleugnet, die Frau, die, solange sie lebte, -ihr nur Gutes getan hatte! -- Wie hatte Herr Edwin doch beim Abschied -gesagt: „Bewahret euch euer reines Herz.“ Da begann Suse laut zu -schluchzen und schlüpfte unter die Bettdecke. Und bat Gott um Hilfe -gegen ihr eitles Herz. - -Am folgenden Tage rüstete sich Christine zur Abreise. Ihr Gesicht -strahlte wieder in dem lieben, freundlichen Glanze. Der schwere Gang -in die Stadt war ihr schließlich doch zum Segen ausgeschlagen. Von all -den fremden Menschen, die sie hier kennen gelernt hatte, war ihr nur -Gutes widerfahren. Und was das Schönste war, sie hatte ihr Enkelkind -wiedergefunden. Es bestand sogar Aussicht, daß sie das kleine Mädchen -bald für immer zu sich nehmen konnte. -- - -Fräulein Hirt hatte ihr Hoffnungen darauf gemacht. Mit mütterlich -beschirmendem Blick hatte Suse ihre Versprechungen angehört und war -sich fast erwachsen vorgekommen. Wußte sie doch viel mehr als Christine -und Hans, nämlich, daß Resi mit Gewalt ihren Eltern genommen werden -würde, weil sie so schlecht behandelt wurde. - -Aber Christine sollte davon nichts wissen. Sie sollte leichten Herzens -in ihre Heimat zurückkehren. - - - - -Sechstes Kapitel - -Schluß - - -Es war im Winter vor Susens vierzehntem Geburtstag. Das Doktorskind war -ein großes, schlankes Mädchen geworden, und ihr Haar, das Rosel einst -mit soviel Geschick in zwei knochenharte, steif abstehende Zöpfchen -verwandelt hatte, hing ihr jetzt als langer, loser Zopf über den -Rücken. Heimlich freute sich Suse an dieser leuchtenden Haarpracht, -aber im Kreise ihrer Freundinnen hütete sie sich wohl, ihre Eitelkeit -durchblicken zu lassen. - -Auch Hans war genau wie sie, lang und rank geworden, und seine -Jackenärmel waren ihm immer gleich viel zu kurz. - -Frau Cimhuber und Ursel waren nun genötigt, zu ihren Pfleglingen -aufzublicken, nachdem sie noch vor zwei Jahren so erhaben auf sie -herabgesehen hatten. - -Der Pfarrfrau Urteil lautete im allgemeinen über der Kinder Charakter: -„Gute, liebe Kinder.“ - -„Zu ausgelassen,“ setzte dann Ursel jedesmal hinzu, „zu ausgelassen. -Am liebsten sprängen sie über Tisch und Stühle. Immer über Tisch und -Stühle, vom Morgen bis zum Abend.“ - -Nun hatte ja allerdings niemand mehr, als gerade die alte Magd, unter -der Ausgelassenheit der Kinder zu leiden. -- - -Wie oft geschah es, daß die zwei, als Antwort auf eine von Ursels -Ermahnungen, die Predigerin ohne viel Federlesens auf ihre zum Sitz -geschlungenen Hände setzten und mit ihr im Sturmschritt durch das Haus -rannten! All ihr Schreien, all ihr Wehren nützte der alten Magd nichts. --- Sie mußte eben aushalten. -- In einer Redeschlacht zog Ursel erst -recht den Kürzeren, namentlich der mundfertigen Suse gegenüber. - -Wenn Ursel etwa anhub: „Zuviel Dummheiten macht ihr, zuviel Dummheiten. --- Ihr wart eben von jeher zu sehr verwöhnt. Schon im Wickelkissen -ist es euch zu gut ergangen,“ fiel Suse lachend ein: „Im Wickelkissen -hat’s jedermann gut. -- Ach, Ursel, wenn Sie jetzt mit einem Schlag im -Wickelkissen drin säßen! Wie herzig müßte das aussehen!“ - -„Gräßlich dumm,“ ließ sich Ursel vernehmen. „Aus dir und Hans wird euer -Lebtag nichts. Ihr habt eben zu viel Dummheiten im Kopf. Der Ernst -fehlt euch. Ernst ist das Leben.“ - -„Aber, Ursel,“ rief Suse, „unser Vater sagt doch immer, lieber ein -bißchen zu übermütig, als die Mundwinkel bis unters Kinn herunterhängen -lassen. Ganz elend kann es einem werden bei mißvergnügten Menschen.“ - -„Hm, hm,“ sagte Ursel, „mir scheint, das hast du geträumt, so spricht -ein ernster Mann nicht.“ - -„Doch, Ursel, so hat er gesprochen, und erst bei unserem letzten Besuch -hat er gesagt, er ist sehr zufrieden mit uns. Hören Sie, Ursel, sehr, -sehr zufrieden mit unserem Lernen.“ - -„Na, das fehlte auch noch, daß ihr nichts lerntet,“ brauste da Ursel -auf, „bei dem vielen Schulgeld, das ihr bezahlt, und bei der guten -Kost, die ihr hier bekommt, und bei der guten Aufsicht, und bei den -Tausenden von Stunden, die ihr schon auf der Schulbank herumgesessen -seid. -- Das fehlte auch noch, daß ihr da nichts lerntet.“ - -„Aber, Ursel, es gibt sogar recht viele Kinder, die trotzdem nichts -lernen.“ - -„Was sagst du da?“ rief Ursel empört. „Was sagst du da? Wiederhol’s -noch einmal, die lernen nichts, meinst du? Na, da sollte ich der -Schuldirektor von euch sein,“ fuhr sie sich auf die Brust schlagend mit -rollenden Augen fort. „Da würde ich euch an einem schönen Montag oder -Dienstag alle miteinander auf die Straße jagen, und eure Schulsäcke -würde ich obendrein hinter euch herwerfen.“ - -Suse lachte hell und zog sich dann schnell zurück, da die alte Magd -Miene machte, einem rachesüchtigen Schuldirektor nachzueifern. - -Frau Cimhuber sagte im ganzen wenig zu den Reibereien, die sich -nicht selten zwischen der alten Magd und den Kindern abspielten. Sie -wußte, sie vergingen schnell wieder, wie sie gekommen waren, und -Sonnenschein folgte dem Gewitterregen. Dann kochte Ursel den Kindern -ihre Leibgerichte und strich ihnen dicke Schichten Zwetschenmus auf -ihr Brot. „Aha, die Zwetschenmushäfen sind geöffnet, es weht ein guter -Wind,“ pflegte Suse bei dieser Gelegenheit auszurufen. -- - -In Ursels Gemüt hatte sich mit der Zeit auch ein heilsamer Umschwung -zugunsten des Herrn Schnurr, Hansens Geigenlehrer, fühlbar gemacht. - -Erst hatte sie nichts als finstern Haß gegen den fremden Eindringling -verspürt, dann war ein gottergebenes Sichfügen in seine Besuche -gekommen, hierauf ein vorurteilsloses Betrachten seiner Person, dann -Nachsicht für sein Tun, Verständnis für seine Lehrweise, und ganz -zuletzt das Keimen freundschaftlicher Gefühle. - -Der Grund zu einer wirklichen Freundschaft zwischen ihr und Herrn -Schnurr wurde aber gelegt, als dieser gemeinsam mit den Doktorskindern -zu ihrem sechzigsten Geburtstag eine kleine Feier veranstaltete. - -Am Nachmittag ihres Wiegenfestes, als die alte Magd ihre Arbeit in der -Küche vollendet, ihre Werktagsschürze gegen die seidene Sonntagsschürze -umgetauscht und ihr Haar noch glätter als sonst gestrichen hatte, wurde -sie an Susens Arm in die Negerstube geführt, wo Hans mit seiner Geige -wartete und Herr Schnurr mit verstruweltem Haar am Klavier saß, bereit, -die Choräle, die er mit Hans zu Ursels Ehre eingeübt hatte, ertönen zu -lassen. - -Auf dem Tisch, über den ein blendend weißes, mit Tannenzweigen -geschmücktes Tischtuch gebreitet war, lagen die Geschenke für die -Sechzigjährige ausgebreitet: ein hohes, auf einem Sockel befestigtes -Alabasterkreuz von Frau Cimhuber, eine Vase mit Immortellen, Ursels -Lieblingsblumen, ein Geschenk von den Doktorskindern, eine schwarze -Seidenschürze von der Mutter der beiden und das Bild einer Tänzerin, -von Herrn Schnurr gestiftet. - -Leider hatte er es mit dem richtigen verwechselt, dem Bilde -Melanchtons, das seine Frau daheim los sein wollte. - -Geistesabwesend, wie Herr Schnurr war, hatte er das erste beste -Paketchen ergriffen und war damit davongegangen. Sein Irrtum störte -aber die Feier nicht. - -Ursel nahm, die Hände gefaltet, auf einem mit Tannengrün geschmückten -Stuhl Platz und erwartete die Huldigungen. Auf ein Zeichen von Herrn -Schnurr ergriff Hans die Geige, und unter Violin- und Klavierspiel -erklangen die schönsten Choräle: „Wer nur den lieben Gott läßt walten.“ --- „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ -- „Harre, meine Seele.“ -- -„Befiehl du deine Wege.“ -- Und noch eine Menge andere Lieder. - -Eine feierliche, erhebende Stille herrschte in der Negerstube. Ursel -saß nickend und mit einem weltentrückten Ausdruck auf ihrem Stuhl, und -vor ihrem Geist zogen all die schweren Jahre ihres Lebens vorüber, in -denen sie nur Mühe Und Arbeit gehabt und sich zufrieden gefühlt, wenn -sie am Sonntag mit einer schwarzen Schürze vor dem Tisch in der Küche -hatte sitzen können, das Gesangbuch offen vor sich und in den Liedern -Kraft findend. -- Die Tränen liefen ihr in den Schoß. - -Auf ihren besonderen Wunsch spielten die beiden Musikanten zum Schluß -noch ihr Lieblingslied: „Wenn ich einmal soll scheiden.“ -- Man hätte -meinen können, Ursel selbst werde zu Grabe getragen, so ernst und dumpf -klang die Weise. Sogar Suse konnte die Tränen nicht zurückhalten, was -Ursel nicht ohne Genugtuung bemerkte. -- - -Seit jenem Tage nun konnte die alte Magd Herrn Schnurr nicht mehr die -Tür öffnen, ohne an ihre schöne Geburtstagsfeier zu denken. - -„Ja, damals haben Sie sehr schön gespielt,“ sagte sie öfters zu ihm, -und nickte lebhaft, „oh, so schön.“ - -„Ja, das macht die Kunst,“ erwiderte Herr Schnurr, indem er den -Zeigefinger so steil nach oben hob, daß Ursel seiner Richtung folgte. - -„Die Kunst, die hebt uns nach oben.“ - -Ursel nickte beifällig. - -Allerdings, die Kunst in der Negerstube, die sich in wilden Sprüngen, -in einem Trommeln auf Tisch und Stühlen anzeigte, die behagte ihr noch -immer nicht. - -Deshalb konnte sie trotz ihres Wohlwollens für den Lehrer es nicht -unterlassen, ihr Ohr an die Tür der Negerstube zu legen, wenn er drin -sein Wesen trieb. Und das war schlimm, erfuhr sie auf diese Weise doch -allerlei, was im Grunde nicht für sie bestimmt war. -- Herr Schnurr, -der sich in der ersten Zeit seines Amtsantrittes Hans gegenüber als -finsterer und gestrenger Lehrer gezeigt, hatte mit der Zeit geruht, den -Knaben zum Freunde zu erwählen. Es war ein merkwürdiges Verhältnis. -Herr Schnurr erzählte, und Hans hörte mit offenem Mund und offenen -Augen zu. - -Da kamen Bekenntnisse aus des Lehrers schweren Wanderjahren, als er in -einer größeren Musiktruppe von Ort zu Ort gezogen war. Viel Lug und -Trug habe er gesehen, aber ein ehrlicher, rechtschaffener Mensch sei er -doch immer geblieben, erwähnte er stets aufs neue. -- „Rechtschaffen -müsse der Mensch sein, vor allen Dingen rechtschaffen...“ Auch seine -häuslichen Sorgen enthielt der Lehrer dem Schüler nicht vor, und dem -fuhr kein übler Schreck in die Glieder, als er seinen Geigenmeister -eines Tages in jämmerlichen Tönen von mißratenem Essen erzählen hörte, -das ihm täglich vorgesetzt werde, von unordentlichen Stuben, in denen -er sich herumtreiben müsse, und in die er Samstags mit Galoschen an -den Füßen und einem Besen und Eimer in der Hand eindringe, um eine -rauschende Sintflut darüber niedergehen zu lassen. Immer beklommener -wurde es Hans bei diesem Geständnis, und schließlich, als er Herrn -Schnurr Trost zusprechen wollte, stotterte er verlegen: „Herr Schnurr, -können Sie sich nicht eine Magd nehmen, wie Ursel, oder unser Rosel -daheim, wenn Ihre Frau Gemahlin die Haushaltung nicht versteht.“ - -„Eine Magd!“ - -Etwas Dümmeres hätte Hans nicht sagen können. - -„Was soll ich nehmen?“ rief Herr Schnurr und machte einen Sprung -rückwärts vor Entrüstung. - -Hans hätte vor Schreck fast die Geige hingeworfen. - -„Was soll ich nehmen, eine Magd? Was soll denn die essen, wenn wir -selbst am Hungertuch nagen? Oh, du einfältiger Gockel, komm jetzt her -und spiele deine Tonleiter, das ist besser, als deine Weisheitssprüche -Salomonis da herunterzulispeln, unpraktischer Held.“ - -Und Hans tat, wie ihm gesagt worden war, und atmete dreimal tief auf, -als er den tüchtigen Lehrer wieder sein Handwerkszeug ergreifen und in -gemäßigte Bahnen zurückkehren sah. - -Ursel aber, die Herrn Schnurrs Beichte mit angehört hatte, überlegte, -ob sie sich nicht augenblicks in die Negerstube zwängen und dem Lehrer -eine gesalzene Botschaft an seine pflichtvergessene Gattin daheim -mitgeben solle. - -„Lieber nicht,“ sagte sie sich aber voll Klugheit. - -Indes sein häusliches Elend ließ ihr keine Ruh, und viel, viel später, -Anfang des Frühjahrs, da mischte sie sich endlich doch einmal in seine -Verhältnisse. Allerdings geschah es auf eine recht barmherzige und -christliche Weise. - -„Bringen Sie mir mal Ihre Strümpfe mit, Herr Schnurr,“ sagte sie, als -sie ihn über sein zerrissenes Zeug klagen hörte. „Ihre Frau stopft sie -ja doch nicht. Für mich ist das eine Kleinigkeit, und aus Dankbarkeit -tu ich’s gern.“ - -Suse, die zufällig hinhorchte, war erstaunt. Sie lachte belustigt. -Ursel und Herr Schnurr gut Freund! Das war ein Spaß. - -Rasch entschloß sie sich, es ihrer Vertrauten, der schwarzen Carla -mitzuteilen, die mit der Zeit ihre beste Freundin geworden war. Da die -Herzensgenossin, die häufig leidend war, augenblicklich zur Pflege -ihrer Gesundheit im Süden weilte, schrieb ihr Suse die längsten Briefe. -Carla mußte von all den bunten Ereignissen im Cimhuberschen Haus -unterrichtet werden. Leichtsinnig und unüberlegt pflegte Suse drauf los -zu plaudern, und genau wie beim Reden, was immer ihr durch den Kopf -schoß, sofort auszusprechen. So schrieb sie denn an dem Brief, an dem -sie gerade angefangen hatte, weiter. - -„Du erkundigst Dich nach Theobald, liebe Karla, er ist lange nicht -mehr derselbe gräßliche Geck wie früher, obwohl er noch immer große -Volksreden hält. Onkel Fritzens Heirat war sein Glück. Sein Vater -meinte es auch. Er findet, Onkel Fritz hat seinem Sohn nur lauter -Raupen in den Kopf gesetzt. - -Nun frägst Du auch nach Ursel und Herrn Schnurr. Zwischen diesen -besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets vervollkommnende -Freundschaft, ein unaustilgbarer Herzensbund. Nächstens geben sie sich -einen Kuß. Wie die Verlobten sind sie. Wie Braut und Bräutigam. Denke -Dir, Ursel will sogar dem Herrn Schnurr die Strümpfe stopfen! Jedesmal, -wenn er erscheint, lächelt sie ihn an, süß wie ein Honighafen. Und -immer horcht sie an der Negerstube, wenn drin seine süße Stimme -erschallt, damit sie jedes Wörtlein von ihm aufschnappt.“ - -Und dieser Brief voll leichtsinniger, loser Redensarten sollte die -schlimmsten Folgen haben. - -Es fügte sich nämlich, daß Suse während des schriftlichen Ausbruches -ihrer buntschillernden Geistesraketen von ihrer Freundin Grete -überrascht und zu einem Spaziergang abgeholt wurde. - -Kurz entschlossen packte die Schreiberin den unvollendeten Brief -nebst ihrem Tagebuch in das Bett, das neben ihrem Tisch stand, da -jenes ihr heute als sehr gutes Versteck erschien, alldieweil Hans den -Kommodenschlüssel mitgenommen hatte und sie nicht an den eigentlichen -Aufbewahrungsort ihrer Schreibsachen -- die Kommodenschublade -- -gelangen konnte. - -Frohgemut nahm sie hierauf von Frau Cimhuber und Ursel Abschied und -ging von dannen. - -„Bleib nicht zu lange,“ rief Ursel ihr nach, „du weißt, wir haben große -Wäsche, und du sollst mir helfen.“ - -„In anderthalb Stunden bin ich wieder da,“ tönte es zurück. - -Klar wie der Himmel, der sich hoch über ihr wölbte, war es Suse zu -Sinn, und munter schritt sie fürbaß. - -Daheim ging inzwischen Ursel ihrer Beschäftigung nach und brummte -allerlei mißmutige Worte vor sich hin. Die Arbeit häufte sich für sie. -Je weiter die Zeit vorschritt, um so mürrischer wurde sie deshalb. - -Sonntag war Susens Geburtstag, den sie eingedenk des eigenen genossenen -Festtages recht schön gestaltet wissen wollte. Aber die Vorbereitungen -gingen nicht von der Stelle. Die Tannenzweige zum Ausschmücken von -Susens Stube lagen noch immer im Gang. -- Suse blieb auch lang über -die Zeit weg und dachte nicht an ihre Arbeit. Dabei sollte sie im -ganzen Haus die Bettbezüge abnehmen, die Kissen mit neuen Leinen -bekleiden und die schmutzige Wäsche Ursel an das Waschfaß bringen. -- -Indessen, das flatterhafte Doktorskind hielt es für besser, im lichten -Frühlingswäldchen vor der Stadt spazieren zu gehen. - -Als nahezu drei Stunden seit ihrem Fortgang verstrichen waren und -noch keine Spur von ihr zu entdecken war, machte sich Ursel selbst an -die Arbeit, die sie dem jungen Mädchen zugedacht hatte. Schlürfenden -Schrittes ging sie von einem Bett zum andern und nahm die Bezüge ab. So -kam sie schließlich auch an Susens Lagerstatt, in der, verhängnisvoll -wie ein Geschenk aus der Büchse der Pandora, der leichtsinnige Brief -schlummerte. Seufzend trat sie an das Bett. Jetzt breitete sie ihre -mageren Arme aus, um das Deckbett zu heben. -- Hätte sich in diesem -Augenblick die Tür geöffnet und Suse sich gezeigt, so wäre alles noch -zu retten gewesen. -- Aber die Übeltäterin war ja weit. Zorniger als -bei den ersten Betten zog Ursel an Susens Leinenbezug, schleuderte ihn -in die Höhe und riß ihn zu sich heran in die Stube. Polternd fiel etwas -Schweres hinterher. Ursel bückte sich und hob ein Buch und einen Brief -auf. - -„Unordnung, Unordnung,“ murmelte sie. „Wozu ist denn die Kommode da? -Aber das wird alles hingestopft, wo es gerade hingeht.“ - -Vielleicht hätte nun die alte Magd den Brief ungelesen zur Seite -gelegt, wenn nicht auf dem ersten Blatt, nahe seinem untern Rande ein -großer Tintenklecks gewesen wäre, der ihre Blicke auf sich gezogen -hätte. Ganz mechanisch griff sie danach und prüfte, ob er auch trocken -sei. Und da legte sie ihren Finger mitten auf ihren eigenen Namen. -Ursel stand dort, dick und groß geschrieben. -- „Ursel.“ -- Sie sah -näher hin. Ja, es hieß Ursel. Sie hielt den Brief dichter vor ihre -Augen. Wahrhaftig, es war ihr Name. Ursel, Ursel stand dort. - -Und nun begann sie zu lesen, und ihr Gesicht wurde immer länger. Sie -glaubte schließlich, sie sei nicht mehr recht bei Verstand. - -„Du erkundigst dich nach Ursel und Herrn Schnurr,“ stand dort. -„Zwischen diesen besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets -vervollkommnende Freundschaft..., ein unaustilgbarer Herzensbund. -Nächstens geben sie sich einen Kuß... Wie die Verlobten sind sie, wie -Braut und Bräutigam.“ Ursel konnte nicht mehr weiter lesen. Träumte sie -denn, ging denn die Welt unter? - -Nein, nein, da stand klar und deutlich, „nächstens geben sie sich einen -Kuß, wie die Verlobten sind sie. Wenn er erscheint, lächelt sie ihn an, -süß wie ein Honighafen.“ - -Das war zuviel. Stöhnend sank Ursel auf Susens Bett. - -Das war die Schändlichkeit in ihrer höchsten Vollendung! Das war der -Gipfel der Erbsünde! Das war schlecht, schlecht, erbärmlich! Das war -höllisches Gift! - -Ursel faßte sich an den Kopf. - -In diesem Augenblick klingelte es, und die alte Frau, in dem Wahne, -Suse komme, sprang mit Brief und Buch in die Höhe auf den Flur und -öffnete die Tür, um die Sünderin zu packen und zu richten. - -Der Einlaß Begehrende, der draußen stand, war aber nicht Suse, sondern -der unschuldige Knabe Hans, der einen großen Sprung rückwärts tat, als -er Ursels zornfunkelndes Gesicht vor sich sah. - -„Heilige Maria und Joseph, was ist denn los!“ rief er. „Sie blasen mich -ja um, Ursel, Sie blasen mich um.“ - -„Soll ich vielleicht noch nicht mal mehr blasen?“ schrie Ursel. -„Unverschämter Bub! Hinter die Ohren will ich dir eins geben! Was los -ist, willst du wissen? Hier, hier steht, was deine saubere Schwester -von mir geschrieben hat. ‚Wie Braut und Bräutigam sind sie, wie die -Verlobten küssen sie sich, sie stopft Herrn Schnurr seine Strümpfe, -sie lächelt ihn wie ein Honighafen an.‘ -- Willst du’s hören, willst -du’s hören?“ Und die alte Magd drückte ihm das Tagebuch mitsamt dem -Brief so fest gegen das Gesicht, daß er kaum imstande war, zu atmen, -geschweige denn ein Wörtlein zu piepsen. - -Nur ein eiskalter Schreck schoß ihm durchs Gebein. -- Er wußte, nun war -Susens Geburtstag verdorben. - -„Wo, wo, wo haben Sie denn das gefunden?“ stotterte er. - -„Wo, wo, wo! Ei, da, wo’s lag. Und jetzt kommt’s in den Herd.“ - -Und mit diesen erregten Worten eilte die alte Magd an Hans und Frau -Cimhuber vorüber, die seit dem ersten Entsetzensschrei ihrer alten -Dienerin bestürzt herbeigekommen und nicht mehr gewichen, sondern -händeringend gefolgt war. - -Ursel nahm ihren Weg in die Küche. Dort riß sie die eisernen Herdringe -zur Seite, und mit einem Schwung lagen Brief und Tagebuch im Feuer. - -„Halt, halt,“ rief Hans, „halt, halt,“ faßte in die Glut und zog das -versengte Tagebuch wieder heraus. - -Nun stürzte die alte Magd auf den Knaben zu, um ihm den Schatz zu -entreißen, und eine tolle Jagd um den Tisch herum hub an. Ursel -sprang hinter Hans her wie der Hund hinter dem Wild. Jetzt hatte sie -ihn beinahe gepackt, da war er um die Tischecke herum, und sie schoß -geradeaus gegen die Tür. - -Dann war sie wieder hinter ihm und riß im Laufen einen irdenen Topf vom -Tisch herunter, der polternd auf den Boden stürzte. Da brach Hans in -lautes Lachen aus, so lustig fand er das Spiel. - -Hierauf ging Ursel stumm hinaus. - -Aber es währte nicht lange, Hans stand noch immer auf derselben Stelle -wie vorhin und schnappte nach Luft, da öffnete sich die Tür wieder, und -Ursel kam zum Vorschein und trug eine große Pappschachtel schweigend -vor sich her. - -„Sie will fort,“ durchschoß es Hansens verängstigtes Gemüt. -- „Jetzt -packt sie.“ - -Aber vor seinen erstaunten Augen löste die alte Magd die Schnüre -der Schachtel und entnahm ihr ein schwarzes Kaschmirkleid, einen -Orangeblütenkranz und einen Schleier, indem sie mit Tränen im Auge -sagte: „Da ist mein Brautkleid und mein Schleier und mein Kranz, und -bei Königgrätz ist mein Bräutigam gefallen. Und mein ganzes Leben lang -bin ich ihm treu geblieben. Und hier ist seine Photographie. Und nun -muß ich auf meine alten Tage soviel Schande erleben.“ - -Hans wurde es ganz schwarz vor den Augen bei dieser Beichte und so -beklommen und elend zu Sinn, als habe er selbst auf Ursels Bräutigam -die Todeskugel abgefeuert. Was sollte er nur sagen! Was sollte er nur -sagen! - -„Aber Ursel, das ist ja doch nicht Susens Ernst, das ist doch Spaß,“ -stotterte er schließlich. - -Noch hatte er seine Worte nicht ausgesprochen, da klingelte es -wiederum, und allen dreien fuhr es wie ein Schlag durch den Sinn, daß -jetzt Herr Schnurr zur Stunde komme. - -„Er bleibt draußen,“ rief Ursel mit halberstickter Stimme. „Ich will -ihn nicht sehen. Er soll mir nicht mehr vor die Augen kommen.“ - -Frau Cimhuber war so verwirrt von den Ereignissen der letzten -Viertelstunde, daß sie nicht mehr recht wußte, was sie tat und selbst -zur Türe ging, um Herrn Schnurr abzuweisen und zwar mit einer Lüge, der -ersten, die sie seit Jahren über die Lippen brachte. Aber die Sorge um -Ursel machte selbst ihre Grundsätze wankend. - -„Hans ist krank,“ sagte sie leise. - -Kaum hatte der Lehrer das Wort „krank“ vernommen, so bestand er erst -recht darauf, seinen Schüler zu sehen und trat, Frau Cimhuber sanft auf -die Seite schiebend, in den Gang. Als er an der Küchentür vorüberging, -erspähte er Ursel, die dort vor ihrem Brautstaat tränenden Auges stand. -Den Finger schalkhaft erhebend, meinte er: „Na, na, Ursel. -- Sie -werden doch nicht. -- Ein schwerer Schritt das Heiraten! Da heißt’s -überlegen.“ - -Hier fielen seine Blicke auf Hans, der wie ein verschämter Bräutigam -errötend hinter Ursel stand. Und kurz entschlossen nahm er ihn am Arm -und führte ihn mit sich fort. - -Nach Herrn Schnurrs wilden Ausrufen und dem Schall seiner Schritte, die -aus der Negerstube drangen, konnte man erkennen, wie eifrig er bei der -Sache war. -- - -Der temperamentvolle Lehrer war schon längst wieder von dannen gezogen, -da kam endlich die Ausreißerin Suse nach Hause. - -Wie ein gezackter Gebirgsstock, über dem ein schwarzes Wetter steht, -kam ihr Ursels Gesicht bei der Begrüßung vor. Und in dem Glauben, die -Ursache von soviel finsterem Groll zu kennen, begann sie schmeichelnd: -„Bitte, bitte, liebe Ursel, entschuldigen Sie, daß ich so lange fort -war, seien Sie mir, bitte, nicht böse. Ich werde ihnen jetzt mit neuen -Kräften helfen wie eine Scheuerfrau. Es ging einfach nicht, daß ich -früher kam. Wir haben eine unserer Lehrerinnen getroffen, die wir so -gerne haben, und sie nahm uns mit in den Wald und zeigte uns Plätze, -wo schöne Anemonen stehen, herrlich! Ursel, es ist so herrlich, in -das Pflanzenleben einzudringen, dies Wachsen und Blühen und Gedeihen. -Überhaupt das ganze Pflanzenleben. Wie schön ist doch die Natur!“ - -Ursel verzog keine Miene. - -Suse schwärmte weiter: „Sehen Sie, ich habe Frau Cimhuber einen ganzen -Arm voll Blumen mitgebracht. Wie ein Frühlingsgarten wird’s bei uns -sein. Ursel, der Vorfrühling ist gekommen. Man spürt’s. Und der Kuckuck -ruft. -- Und der Waldesduft, und das Moos...“ - -Ursel blieb stumm wie das Grab. Eine dicke Hornhaut schien sich über -ihr Gemüt gelegt zu haben; über die eindruckslos wie Zephyrfächeln über -Felsgestein Susens Schmeichelworte hinstrichen. - -Da beschloß das Doktorskind, die alte Magd nicht mehr durch Worte, -sondern durch Taten zu versöhnen, und sie ging von dannen, um sich eine -große Schürze vorzubinden und Arbeit zu suchen. - -Zu ihrem Erstaunen erwiderte aber auch Frau Cimhuber, die eben in die -Küche trat, ihren Gruß nur mit knappem Dank. - -„Wie auf einem Geisterschiff,“ murmelte das Doktorskind leise vor sich -hin, als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. - -„Komm nur herein, komm nur herein!“ tönte es ihr dort aus dem -Hintergrund entgegen. „Was Gutes hast du angerichtet! Was Sauberes! -Einen feinen Salat, den wir jetzt zusammen ausgrasen können!“ - -Und in die Stube tretend, sah sie ihren Bruder auf Zehenspitzen -umherlaufen, während er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte -und beschwichtigende Bewegungen machte. - -„Es hat zwölf geschlagen, es hat zwölf geschlagen,“ rief er. „So was -haben wir noch nie erlebt, noch nie.“ - -„Was ist denn los?“ fragte Suse. „Was ist geschehen? Was läufst du denn -so närrisch da herum?“ - -„Schau,“ sagte Hans und deutete mit ausgestreckter Hand auf Susens -Bett, „guck, dann weißt du alles.“ - -Suse folgte mit ihren Augen der Richtung seines Fingers, stieß dann -einen lauten Schreckensruf aus und ließ sämtliche Anemonen zu Boden -fallen, so daß sie mit verwirrten Köpfchen und Stielen dort lagen, wie -vom Sturmwind zerwühlt. - -„Wer hat das Bett abgezogen?“ stotterte Suse. - -„Ursel.“ - -„Und meinen ganzen Brief hat sie gelesen?“ - -„Ja.“ - -„Alles, was ich zusammengeschmiert habe von Braut und Bräutigam und -Verlobtsein und Küssen und herrlicher Freundschaft und Herrn Schnurr -und gestopften Strümpfen und all das dumme Zeug?“ - -„Ja, von A bis Z.“ - -„Und schlecht ist mir’s noch,“ fuhr Hans fort, „wenn ich nur daran -denke, wie sie gejammert hat. Und ihr Brautkleid in einer Lade hat sie -hinterher geholt und hat drauf geweint. Entsetzlich!“ - -„Aber eine so alte Frau kann sich doch ihr Lebtag nicht in einen solch -jungen Mann wie Herrn Schnurr verlieben,“ jammerte Suse, ihr Gesicht in -den Händen vergrabend und laut weinend. „Da lachen ja die Hühner. Sie -muß doch wissen, daß es nur Unsinn war.“ -- - -„Nun ist alles, alles aus, mein ganzer Geburtstag. Und nie in meinem -ganzen Leben hab’ ich mich so auf einen Geburtstag gefreut, wie auf -diesen. Gelt Hans, nun ist alles verloren?“ - -Der Bruder nickte begossen. - -„Was wolltet ihr denn eigentlich anfangen an meinem Geburtstag?“ fragte -Suse nach einer Weile, in Tränen zerfließend. - -„Ich kann dir’s jetzt ja sagen,“ entgegnete Hans zage, „denn aus ist’s -ja doch. -- Die Papierschlangen und Lampions sind bereits wieder zu -Pastor Brauers zurückgeschickt worden, die sie uns geliehen hatten. -Wir hatten dir herrliche, dreistimmige Lieder eingeübt, Herr Schnurr, -Ursel und ich. Herr Schnurr ist zuweilen fast aus der Haut gefahren, -so falsch hat Ursel gesungen. Aber schließlich hat sie’s doch kapiert. -Und zur Dankbarkeit für Herrn Schnurrs Bemühungen wollte sie ihm die -Strümpfe stopfen. Dann beabsichtigten wir, dir noch eine wunderbare -Laube aufzubauen, von Tannenzweigen und Papierschlangen, und die ganze -Negerstube abends mit Lampions zu erleuchten, zu singen und zu tanzen.“ - -Susens Tränen flossen reichlicher bei dem Gedanken an den prunkvollen -Ehrensitz, um den sie sich durch ihren Leichtsinn gebracht hatte. -Hans aber fuhr fort: „Außerdem wollten Christoph und Henner mit ihrem -Kasperletheater ankommen und ein selbsterfundenes Stück vorspielen. Es -heißt: „Wie die Fremdlinge die Kühe melken.“ Und das darf ich nicht -vergessen, Ursel wollte sich eine ganze Marzipantorte von einem halben -Meter Durchmesser abzwacken. Das ist nun alles Essig. -- Ich glaub’, -sie wollen jetzt sogar der Mutter abschreiben, daß sie nicht kommt.“ - -„Die Mutter wollte kommen?“ rief Suse aufspringend. „Die Mutter? Seit -wann wollte sie denn kommen? Seit wann? Sag’ Hans, seit wann? Gelt, das -ist meine Überraschung von daheim?“ - -„Ach, ich dummer Papagei,“ rief Hans, sich mit beiden Händen an den -Mund fassend. „Das ist mir jetzt herausgewitscht. Ich weiß nichts, ich -weiß nichts. Ob sie kommt, ob sie nicht kommt, frag’ mich nicht.“ - -Suse erhob sich langsam, sammelte ihre Blumen vom Boden auf und ordnete -sie zierlich. Köpfchen neben Köpfchen, und Stiel neben Stiel, und -steckte sie, mit Tränen benetzt, in eine Vase. - -Eigentlich waren die Anemonen für Frau Cimhuber bestimmt gewesen, aber -wie hätte sie es unter diesen Umständen gewagt, der Pfarrfrau Blumen -anzubieten. - -Nach einer Weile schlich sich Hans in die Küche, um dort zu sehen, -wie der Wind wehe. Aber schneller, als Suse gedacht, kehrte er wieder -zurück und flüsterte: „Ursel sitzt noch immer, in Tränen gebadet, auf -ihrem Stuhl und hat die Schachtel mit dem Brautkleid offen vor sich -stehen.“ - -Susens Herz klopfte schuldbewußt. Und der Abend verlief in gedrückter -Stimmung. Nur Hans fühlte, obwohl von Mitleid für Suse ergriffen, -wie sich ein kleiner Freudefunken in seinem Herzen rührte, der immer -lebhafter wurde, so daß er ihn schließlich herausspringen lassen mußte. - -„Bin ein fahrender Gesell, kenne keine Sorgen,“ tönte es erst leise, -dann immer lauter werdend von seinen Lippen, „labt mich heut der -Felsenquell, tut es Rheinwein morgen...“ - -Morgen ging es ja fort von hier, fort, hinaus in die köstliche -Freiheit, in die Berge, wo der frische Wind wehte. Mit Theobald und -Peter und einigen andern Knaben hatte er eine Wanderung verabredet. -- - -Zwei Tage war ja keine Schule des Examens wegen. -- Seine Brust dehnte -sich, und seine Augen leuchteten, und sein Gesicht rötete sich, und mit -einemmal stieß er einen solch durchdringenden Jauchzer aus, daß Ursel -und Frau Cimhuber in der Küche zusammenflogen. - -Schnell erinnerte er sich aber wieder an die unheimlichen -Nachtgespenster, die zurzeit im Cimhuberschen Haus umgingen, und er -schwieg. - -Behutsam holte er seinen Rucksack von der Wand herunter, schnürte -ihn auf und packte alle möglichen Dinge ein, die er zur Wanderschaft -brauchte: Strümpfe, Wäsche, Nähzeug, auch Brot in einen Beutel und -Suppenwürfel. Dann nähte er sich die grüne Schnur, die von seinem -Lodenhut abgerissen war, wieder kunstgerecht fest und erzählte Suse -dabei allerlei von seinen Wanderplänen. -- Die erste Nacht gedachten -Theobald, Peter und er in einem größeren Ort, Wildershausen, zu -übernachten. -- Wie Suse sich vielleicht noch entsinne, meinte der -Bruder, habe der Vater diesen Ort in seinem Brief ein- oder zweimal -erwähnt, und zwar mit dem Vermerk, Hans solle das Städtchen auf -seiner Wanderung doch einmal aufsuchen und ihm dann schreiben, wie -es ihm gefallen habe. -- Weshalb der Vater das wissen wolle, sei ihm -allerdings nicht klar. -- - -„Ach, könnt’ ich doch nur mit, ach, könnt’ ich doch nur mit,“ seufzte -Suse. - -„Sei nicht traurig,“ tröstete Hans, „Samstag abend komme ich ganz -bestimmt wieder, und wenn Ursel uns nicht haben will, so wird dein -Geburtstag eben bei Tante Hedi gefeiert. Ich werde schon dafür sorgen. -Das Theaterstück bekommst du auf alle Fälle zu sehen. Es ist, um an -den Wänden heraufzukrabbeln vor Lachen. Solche verrückten Dinge, wie -drin vorkommen, hast du noch nie gesehen. Die Reden für das Kasperle -hat Theobald gedichtet.“ - -Hier holte Hans seine nägelbeschlagenen Gebirgsschuhe aus dem Schrank -hervor und beschloß, sie in die Küche zu tragen und dort einzufetten. - -„Heute muß ich acht geben, daß ich keinen einzigen Spritzer Öl -vorbeitröpfeln lasse,“ flüsterte er Suse zu, als er zur Türe -hinausging, „sonst schlägt mir Ursel die Hasenpfoten um die Ohren, die -ich ihr neulich eigenhändig zum Schuheinschmieren gestiftet habe.“ - -Etwas später suchte Suse Frau Cimhuber auf, um sie zu bitten, doch den -dummen Brief zu entschuldigen und ein Wörtlein zu ihren Gunsten bei -Ursel einzulegen. Aber die Pfarrfrau sagte streng: „Selbst im Spaß -schreibt man keine solch’ dummen Verleumdungen, wie du es getan hast, -Suse. Ich verstehe Ursels Empörung vollständig. Wenn sich zwei junge -Mädchen weiter nichts zu schreiben haben als Narrheiten wie ihr, dann -geben sie das Briefschreiben besser ganz auf.“ - -„Wir schreiben uns doch auch noch andere Sachen,“ entgegnete Suse -kleinlaut. - -„Herrliche Naturbeschreibungen stehen manchmal in unseren Briefen, -und noch andere, viel, viel ernstere Dinge, von denen ich nicht reden -darf, so ernst sind sie. Über manchen Brief von Karla hab’ ich schon -geweint. Wir schreiben uns nämlich zurzeit gerade darüber, daß wir uns -später einen Beruf erwählen wollen, in dem wir recht viel zum Glück -der Menschheit beitragen. Ich habe in diesen Tagen auch schon an Herrn -Edwin deshalb geschrieben.“ - -Aber Frau Cimhuber war nicht umzustimmen. Und Ursel verschloß ihr Gemüt -erst recht. - -Sie antwortete nicht. Sie seufzte nicht. Sie war ein Fels geworden. Sie -deckte den Tisch auf wie eine Salzsäule. Sie deckte ihn wieder ab. Sie -räusperte sich noch nicht einmal. Und das Brautkleid lag noch immer in -der Küche und quälte Suse durch seinen Anblick. -- - -Am andern Morgen in aller Herrgottsfrühe, als die andern noch -schliefen, machte sich Hans dann auf die Wanderung. - -Nun war Suse allein. Trübselige Tage folgten. Die Welt erschien ihr wie -ein Grab. Kein Kuchen-, kein Schokoladeduft verkündete ihr, daß ein -Umschwung zu ihren Gunsten eingetreten sei. Die Kuchenbleche blieben -unangetastet an der Wand hängen, die Rosinen ruhten in ihrer Tüte, -die Vanillestangen in ihrer Büchse. Es roch nach Negerstube, nach -Schmierseife, nach den altbekannten Düften des Cimhuberschen Hauses, -nach nichts anderem. - -Endlich, endlich kam der Samstagabend heran, und mit ihm das Ende ihrer -Qual, wie Suse hoffte. Heute mußte Hans ja wiederkommen. Er hatte es -versprochen. Und vielleicht auch, vielleicht auch -- die Mutter. Ganz -auszudenken wagte Suse diesen herrlichen Gedanken nicht. Als es aber -Abend war, lief sie zum Zug, der aus ihrer Heimat kam, um die Mutter in -Empfang zu nehmen. Doch umsonst. - -Auch Hans kam nicht. - -Den ganzen Abend wartete sie vergebens auf ihn. Es schlug zehn, es -schlug elf, es ging auf Mitternacht. Er kam immer noch nicht. Müde und -verängstigt suchte sie da ihr Bett auf. Erst spät fand sie den Schlaf. - -Der erste Gedanke, der Suse am andern Morgen beim Erwachen durchfuhr, -war der an ihren Geburtstag. Vierzehn Jahre war sie heute alt. Vierzehn -Jahre! Es war ein Sonntag heute. Die strahlende Sonne lachte über die -ganze Welt. Die Anemonen am Fenster hatten ihre Kelche weit geöffnet -und fingen das helle Licht in ihrem kleinen Blütentellerchen auf. - -Die Uhr sagte Suse, daß es schon sehr spät sei. Schon neun Uhr. - -Nicht wie sonst hatte Ursel sie um sieben geweckt, damit sie zur Kirche -gehe. Sie hatte sie schlafen lassen. Kein Laut regte sich im Haus. -Totenstill war es, als wären Ursel und Frau Cimhuber gestorben. Auch -Hans war nicht gekommen. Suse schlüpfte unter die Decke und machte -die Augen zu. Am liebsten wäre sie in einen hundertjährigen Schlaf -verfallen. Aber wie das anfangen. - -Es blieb ihr nichts anderes übrig als aufzustehen, sich anzuziehen und -Frau Cimhuber und Ursel, die aus der Kirche kamen, zu begrüßen und -nachzusehen, wie der Wind heute wehe. -- Die Geburtstagswünsche fielen -mager genug aus. Und als Suse heimlich den Tisch in der Negerstube -betrachtete, auf dem sonst die Geschenke ausgebreitet lagen, sah sie, -daß er leer war wie eine frischgemähte Wiese. Keine einzige Gabe -schmückte ihn. Noch nicht einmal ein Brief aus der Heimat war zu -sehen. Wüstenartig öde kam Suse die Welt vor. Auch kein Kuchen war in -der Speisekammer zu entdecken, wohin Suse ihre Streifzüge ausdehnte. -Und als sie ihre Pflegemutter schüchtern fragte, was aus ihrer -Nachmittagseinladung werden solle, wurde ihr der betrübende Bescheid, -daß diese unter den obwaltenden Umständen natürlich unterbleiben müsse. -So fiel Suse denn die recht beschämende, peinliche Aufgabe zu, ihre -sämtlichen Gäste wieder auszuladen. - -Auf ihrer Morgenwanderung kam sie auch in das Haus von Onkel Sepp und -Tante Hedi und fand hier die ganze Bewohnerschaft in großer Aufregung. - -Theobald war genau wie Hans am gestrigen Abend nicht zurückgekehrt, -und hatte auch kein Wort der Entschuldigung geschickt. Hingegen war ein -Trupp ihm befreundeter Knaben, die auf einer Wanderschaft begriffen -waren, aus einer entfernten Stadt eingetroffen, und jetzt wußte kein -Mensch, was mit ihnen anfangen. Auch sonst hatte es noch allerlei -gegeben, was die Gemüter in Aufruhr versetzte. Am Abend vorher hatte -sich Liselotte, Theobalds älteste Schwester, verlobt, eine Gelegenheit, -die Christoph und Henner dazu benutzt hatten, sich in ihrem vollsten -Glanze zu zeigen. - -Bei der Verabschiedung des Bräutigams von der Braut hatten sie durch -das Treppenhaus einen bekleisterten Zeitungsausschnitt mit dem Aufruf: -„Wasche dein Haupt mit Javol“ auf die Glatze ihres zukünftigen -Schwagers fallen gelassen und saßen nun, eine harte Strafe verbüßend, -eingesperrt in der Bodenkammer. - -Kein Wunder, daß unter diesen Umständen Tante Hedi ihrer jungen Nichte -Geburtstag ganz vergaß. - -Das Doktorskind mußte darum betrübter, als sie gekommen war, von dannen -gehen. Im Vorgarten des Hauses traf sie mit Liselottes Bräutigam, einem -sehr feinen Herrn, zusammen, der mit höflicher Verbeugung zu ihr die -Worte sprach: „Guten Morgen, gnädiges Fräulein, wie geht es Ihnen?“ - -Gnädiges Fräulein, wie achtungsvoll, wie angenehm das klang! -- -Suse richtete sich an dem Gruße auf wie der erschöpfte Wanderer an -einem Stab. Nach all den Niederlagen der letzten Tage war ihr diese -Erfrischung zu gönnen. - -Allein, als sie wieder zu Hause angekommen war, ging ihr Freudefünkchen -jäh in der allgemeinen Begräbnisstimmung unter. - -Von Hans war noch immer keine Nachricht gekommen. Und Frau Cimhuber und -Ursel fingen an, sich zu ängstigen. Wie zwei aufgescheuchte Fledermäuse -huschten sie durch das Haus. - -Und nach Tisch zog sich jeder in seinen besonderen Unterschlupf zurück, -Frau Cimhuber in die Negerstube, Ursel in die Küche, Suse in ihr -Zimmer, um die Nachmittagsstunden nach Einsiedlerart, in sich gekehrt, -zu verbringen. Aber die Trauergesellschaft hatte die Rechnung ohne den -Wirt, in diesem Falle ohne Herrn Schnurr, gemacht. - -Mit einemmal trat er lächelnd mit einem Blumenstrauß in der Hand durch -die Tür der Negerstube und begehrte, Susens Wiegenfest in der geplanten -Weise zu feiern, ohne Auslassung einer einzigen Programmnummer. - -Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen bei seinem Anblick und quälten -sich mit dem Gedanken an das Versäumnis, das sie begangen hatten. - -Sie hatten ja ganz und gar vergessen, den Lehrer abzubestellen. -Sie hatten ihm ja kein einziges Wörtlein von der verhängnisvollen -Donnerstagkatastrophe verraten, durch die das Cimhubersche Haus -sozusagen auf den Kopf gestellt war. Nichts wußte er. Unschuldig -wie ein neugeborenes Kind stand er da. Treuherzig lächelte er Frau -Cimhuber und Ursel an. Seine Seele war rein und durchsichtig wie ein -Bergkristall. Kein Schatten trübte sie. - -Und nun war es zu spät, ihn wegzuschicken. Das sagten sich die zwei -Frauen, die ihn genau kannten und wohl wußten, daß er sich nicht mehr -verdrängen lasse. Er war ja störrisch wie ein Maultier. - -„Wo steckt denn der Hans?“ rief er. „Ich bin doch nicht für die -Katz gekommen, wir haben doch nicht wochenlang im Schweiße unseres -Angesichts gespielt und gesungen, daß wir uns heute stumm wie die -Fische gratulieren.“ - -„Hans ist auf einer Wanderung,“ stotterte Suse. - -„Noch besser,“ sagte Herr Schnurr, „geht der auf eine Wanderung, wenn -ich hierher bestellt bin. Das ist so die Art der modernen Kinder. -Rücksicht auf Eltern und Erzieher kennen sie nicht.“ - -„Hans hat Ihnen doch einen Brief geschrieben, eh’ er fortging,“ sagte -Suse stotternd. „Ich selbst hab’s gesehen. Haben Sie ihn denn nicht -bekommen? Mein Geburtstag darf nämlich nicht gefeiert werden, weil hier -allerlei vorgefallen ist.“ - -„Brief -- Brief?“ fragte Herr Schnurr. „Ich hab’ keinen Brief bekommen. -Na, ich kann’s mir schon denken, wo der hingekommen ist,“ sagte er mit -einemmal. -- „Der ist mal wieder bei uns in den Papierkorb gewandert -mit den Drucksachen. -- Das kommt öfters bei uns vor.“ - -„Ja, Susens Betragen war sehr ungehörig in den letzten Tagen,“ fiel -hier die Pfarrfrau ein, „und deshalb haben wir von einer Feier ihres -Geburtstages abgesehen.“ - -Herr Schnurr setzte sich auf einen Stuhl und erklärte kalt lächelnd, -er sei jetzt da, und er bleibe auch da. Und die einstudierten Lieder -würden trotz allem gesungen. - -„Gelt, Ursel?“ wandte er sich vertrauensvoll an die erschrockene Magd. -„Wir zwei singen zusammen. Wir zwei haben uns ja immer gut miteinander -vertragen. Wir zwei werden jetzt unser Licht leuchten lassen.“ - -Ursel fuhr zusammen und wurde blaß bis an die Nasenspitze. Ihr Herz -zitterte vor Zorn. - -Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als vor der Sünderin Suse zu -singen. Wie Knödel steckten ihr die Töne im Hals, aber tapfer sang sie -ein Lied nach dem andern, aus lauter Angst vor ihrem Peiniger. - -Suse aber fühlte angesichts des fleißigen Vortrags eine tiefe, tiefe -Beschämung über sich kommen, so daß ihr die Tränen in die Augen traten. - -Dort stand die gute Ursel in ihrem Sonntagsstaat und sang voller -Verzweiflung die schönsten Lieder. - -Und hier saß sie wie eine Königin und ließ sich feiern und hatte es so -wenig verdient. - -Schließlich konnte sie nicht mehr zuhören und beschloß heimlich davon -zu schleichen und die zwei allein weiter singen zu lassen. - -Aber Herr Schnurr hatte erraten, was sie wollte, packte sie am Arm und -drückte sie unerbittlich auf ihren Stuhl zurück. - -„Innsbruck, ich muß dich lassen,“ klang es begeistert von seinen Lippen -in Gemeinschaft mit Ursel. - -Dann empfahl er sich. - -Ein Alpdruck wich von den drei Frauen. Suse stürzte, einen verwirrten -Dank stammelnd, an Ursel vorbei in ihr Zimmer und wollte keinen -Menschen mehr sehen. - -Allein nur wenige Minuten verstrichen nach Abbruch des Vortrags, dann -öffnete sich die Tür ihres Stübchens, und Frau Cimhuber trat ein, um -ein Paket auf den Tisch zu legen. - -Es sei schon einige Tage da, aber in dem allgemeinen Aufruhr der -letzten Woche vergessen worden, sagte sie entschuldigend. - -Suse betrachtete das Paket mit freudigem Erröten und entdeckte, daß -es von Christine sei. Zärtlich wie einen lieben Bekannten drückte -sie das Geschenk an sich. Es war ihr erster Gruß aus der Heimat. Mit -aufgeregten Fingern löste sie die Schnur der Schachtel und entnahm -ihrem Innern ein buntbesticktes Seidentuch, ein Erbstück von Christines -Großmutter, das sie oft bei ihrer alten Kinderfrau bewundert und um -ihre Schultern gelegt hatte. - -Sie erfreute sich auch heute wieder an dem Glanz der leuchtenden Rosen- -und Veilchensträußchen, die in das lila Tuch gestickt waren, und -spürte mit Entzücken den Duft getrockneter Kräuter, der aus Christines -Kommode kam, wo Steinklee in Büscheln zwischen Hauben, Tüchern und -den sonstigen Habseligkeiten der alten Frau lag. Leibhaftig sah -Suse Christines friedliches Reich vor Augen, und es wurde ihr ganz -sehnsüchtig zu Sinn. Zu unterst in der Schachtel entdeckte sie dann -einen Brief, der von Rosel geschrieben, aber von Christine diktiert war. - -„Mein liebes, liebes Kind,“ stand darin, „Du weißt, ich kann nicht -schreiben. Ich hab’ es in der Schule nicht gelernt. Wir brauchten nicht -in die Schule. Rosel schreibt diesen Brief für mich. Und sie soll -Dir viel Glück wünschen und Gesundheit und ein langes Leben. Und das -Seidentuch in der Lade will ich Dir schenken, weil Du es ja immer so -gerne hast leiden mögen. Und ich weiß ja nicht, ob ich noch lange lebe. -Und vielleicht, wenn ich einmal gestorben bin, gibt’s Dir keiner. - -Und wenn ich auch schreiben gelernt hätte, so könnt’ ich doch jetzt -nicht mehr schreiben, liebe Suse, denn ich bin blind geworden, ganz -blind. Du kannst es auch Hans sagen. Schon Weihnachten, wie Ihr daheim -gewesen seid, und wie Du mir unter dem Tannenbaum so schön vorgelesen -hast, unter dem Tannenbaum hab’ ich’s gespürt. Ich kann Euch jetzt -nicht mehr sehen, wenn Ihr heimkommt, aber ich kann Euch noch sprechen -hören und Eure Hände in meine nehmen. Erst im Himmel, wenn wir wieder -alle zusammen kommen, kann ich Euch anschauen und sehen, ob Ihr noch -Eure lieben, guten Gesichter behalten habt. - -Es ist mir immer schwärzer vor den Augen geworden, und zuletzt habe ich -nur noch einen dicken Nebel gesehen, und jetzt ist es ganz dunkel um -mich wie in der Nacht. Euer Vater sagt, mir ist nicht mehr zu helfen. -Jetzt kann ich die schöne Welt nicht mehr sehen. Siebzig Jahre lang -hat unser Herrgott sie mich sehen lassen und hat es immer so gut mit -mir gemeint, und jetzt hat er mir die Augen zugemacht, und ich bin -blind. Und jetzt sitz’ ich immer draußen in der Sonne auf der Treppe -und rieche die Veilchen, die aus der Erde kommen, und höre die Vögel. -Und ich weiß doch, wie alles aussieht. Resi führt mich an der Hand -durch den Garten und den Weg ins Dorf hinauf, wenn ich zu Euern Eltern -gehe. Ich weiß, daß Ihr bald fortziehen werdet, weit, weit fort, und -nicht mehr wiederkommt. Eure Mutter hat’s mir gesagt. Ich weiß auch, -dann sehen wir uns hier nicht mehr wieder. Ich weiß, daß ich nicht mehr -lange leben werde. Der liebe Gott hat mir die Augen zugemacht, das ist -ein Zeichen, daß ich zu ihm kommen soll. Aber ich kann ruhig sterben, -denn jetzt ist alles gut. Für mein Kind sorgt der Herr Doktor und die -Frau Doktor, und ich weiß, daß auch Ihr gut zu ihm sein werdet. Alle -Leute hier sind traurig, weil Ihr fort wollt, und sie sagen, so ein -guter Doktor kommt nicht wieder...“ - -Da konnte Suse vor Weinen nicht mehr weiter lesen. Christine war blind -geworden, und die Eltern wollten von zu Hause fort. Das war zuviel -des Traurigen auf einmal. Sie legte den Kopf auf das bunte Tuch und -schluchzte zum Herzzerbrechen. - -Ursel hörte sie draußen weinen. Aber sie hatte jetzt keine Zeit, -nach dem Grund ihres Schmerzes zu forschen. Eine merkwürdige -Zeitungsnachricht, die sie im Sonntagsblatt gelesen, hatte sie -erschreckt. -- - -Ein Brandunglück war dort vom Freitag abend aus einem Ort namens -Wildershausen gemeldet. -- An verschiedenen Stellen sollte es gebrannt -haben. Mehrere Scheunen sollten eingeäschert, und drei Knaben, die im -Heu übernachtet hätten, schwer zu Schaden gekommen sein. Wildershausen --- Wildershausen, ging es Ursel durch den Sinn. Das war ja der Ort, -in dem Hans am Freitag abend übernachten wollte. Ja, ja, so hieß der -Ort. Er hatte ihn ihr genannt, als er beim Schuheinfetten am Donnerstag -abend in der Küche neben ihr gesessen war und sie auf andere Gedanken -zu bringen versucht hatte. - -Und nun war er nicht heimgekommen. -- - -Ursel hatte sich schon den ganzen Morgen um ihn geängstigt. -- Am -Ende... Ursel wurde es ganz schwarz vor den Augen..., die Knaben waren -ja immer noch nicht da. Es ging auf fünf Uhr. Kein Mensch wußte, wo sie -waren. Gestern abend hatte Hans bestimmt kommen wollen. - -„Frau Pfarrer,“ rief da Ursel, „Frau Pfarrer, hieß der Ort nicht -Wildershausen, in dem Hans übernachten wollte?“ - -„Ja, Wildershausen,“ sagte Frau Cimhuber. - -„Sehen Sie,“ rief die alte Magd und reichte ihrer Herrin das -Zeitungsblatt, „sehen Sie, da steht’s, Brand. Die Scheune brannte -nieder. Zwei Knaben kamen ums Leben. Nein, zu Schaden,“ verbesserte sie. - -„Hören Sie, das ist Wildershausen, und da wollte Hans die erste Nacht -hin. Am Ende er wird doch nicht... es wird doch nicht... unser Hans... -ich sag’s ja immer, das ist nichts mit diesen gräßlichen Wanderungen. -Da erkälten sie sich, sie essen schlecht, und zuletzt fallen sie in die -Flammen hinein. Das ist das Ende vom Lied. Haben sie es daheim nicht -viel besser!“ - -Ursel begann nun um den Doktorssohn laut zu klagen. Er, den sie am -Donnerstag abend noch einen unverschämten Bub genannt hatte, war mit -einmal der liebe, gute, freundliche Hans, der ihr so oft das Geschirr -abgetrocknet und das Feuer angemacht hatte, wenn ihre Hände vom -Rheumatismus angeschwollen waren. Immer wieder hatte er ihr neue Mittel -zur Heilung gebracht. - -Noch einmal vertiefte sie sich in die Zeitungsnachricht und erklärte -dann: „Er ist’s. Drei Knaben steht hier. Das ist Theobald und Hans und -Peter. Die schlafen ja immer des Nachts in Kuhställen und auf Heuböden. -Ich will jetzt mal hingehen und sehen, was mit Theobald los ist, ob der -immer noch nicht da ist.“ - -Damit legte sie ihren Sonntagsstaat an, einen abgelegten Capothut von -Frau Cimhuber und eine schwarze Pelerine, und machte sich auf den Weg -zu Susens Verwandten. Leider verfehlte sie Toni um einige Minuten, die -mit einer inhaltsreichen Depesche von Theobald in der Hand ihren Weg zu -Frau Cimhubers Wohnung hinauf genommen hatte. - -Während sich all dies in der Stadt zutrug, hatten Hans und Theobald -ereignisreiche Tage verlebt. - -Im Kreise einiger Freunde waren sie am Freitag morgen dem Gebirge -zugefahren, hatten dort die Bahn verlassen und waren zur Höhe -emporgestiegen, von wo sie eine Kammwanderung angetreten hatten. - -Hans fühlte sich am Wandertage nach den beklemmenden, letzten -Ereignissen im Cimhuberschen Haus so frei wie der Vogel in der Luft. -Sein Hut hing am Rucksack. Der Wind spielte ihm frisch um die Stirn. -Ein herber, stärkender Hauch wehte hier oben. Große landschaftliche -Schönheit breitete sich vor seinen Augen aus. Von der Ebene her -leuchteten die Dörfer und Ortschaften, von der Sonne beschienen, weiß -herauf. Am Bergeshang tief unten lag ein zarter Schleier über den Wald -gebreitet. Es war das erste Frühlingsgrün, duftig wie ein feiner Hauch. -Hier oben, wo es nur niedere Tannen und verkrüppelte Buchen gab, merkte -man noch nichts vom Blühen und Wachsen. - -In dem unermeßlichen Äther in der gleichen Höhe mit den Knaben zog ein -Bussard über der Tiefe des Tals in wunderbarer Ruhe seine Kreise. Die -Knaben blieben eine Weile stehen und folgten ihm mit den Blicken. Dann -zogen sie weiter auf dem Gebirgskamm, der sich wie eine hochgespannte -Brücke unter Gottes Himmel hinzog. Mittagsrast hielten sie in einer -verlassenen Burgruine, die auf einem Gebirgsvorsprung lag und zu der -sie nach einer zweistündigen Wanderung vom Kamm heruntergestiegen -waren. In dem alten, eingeschlafenen Burghof machten sie sich ein Feuer -an, um abzukochen. Bald brodelte eine kräftige Suppe im Kochtopf. - -Hans langte mit großem Heißhunger zu. Die Vorstellung, daß jetzt eine -gräßliche, dumpfe Stimmung über dem Cimhuberschen Haus brüte, schien -seinen Appetit noch zu verdoppeln. - -Nach beendigter Mahlzeit holten einige Knaben von einem nahegelegenen -Quell Wasser und wuschen das Geschirr ab. Einer der Wanderer, ein -begeisterter Redner und Sänger, drückte sich von der Küchenarbeit -und erklomm das Gemäuer des verfallenen Rittersaals, um von einer -Fensterhöhlung herab eine flammende Rede zu halten über die Zeit, als -hier der Bauernkrieg wütete. -- Hans hörte, den Kopf im Nacken, mit -großem Interesse zu. Theobald hingegen zuckte die Achseln und verzog -sich auf den Bergfried, wo er aus schwindelnder Höhe sich das Tal -betrachtete und sich an der Hand einer Karte orientierte. - -Nach einer guten Stunde fand der Aufbruch der Knaben statt, und die -fröhliche Schar zog singend von dannen. - -Bald lag der Burghof wieder vereinsamt da. Eine Eule, die erschreckt -beim Nahen der Knaben davongeflogen war, kehrte mit schwerem -Flügelschlag in ihr Reich zurück. Von unten, vom Bergeshang, tönte der -Gesang der Wanderer verhallend herauf. - -Es fing schon an zu dunkeln, als die Knaben ins Tal zurückkamen. Drei -von ihnen beschlossen, in einem kleinen Dorf am Fuß des Gebirges zu -übernachten, die andern, Theobald, Peter und Hans, weiter in die -Ebene hinaus zu gehen, nach dem eine Stunde entfernten Städtchen -Wildershausen. - -Hans, der schon etwas müde war, gähnte und zog die Füße nach. Theobald -pfiff einen Marsch, um seinen Vetter aufzumuntern. - -Plötzlich aber stieß er einen Jauchzer aus und rief: „Famos wird -das heute, Hans. Wir logieren beim Onkel Brettelkern, beim Doktor -Brettelkern. Das hat mir der Vater geraten. - -Kennst du den Brettelkern?“ - -Hans schüttelte den Kopf. - -„Hat dein Vater nie davon erzählt?“ - -„Nein.“ - -„Das wundert mich,“ meinte Theobald, „der Doktor Brettelkern ist ein -Onkel von uns, ‚zehnmal um die Ecke rum‘, das heißt von meinem Alten. -Dein Vater kennt ihn aber genau, denn dein Vater und meiner waren schon -in ihrer Jugend unzertrennliche Freunde. Und der Onkel Brettelkern hat -an den beiden einen Narren gefressen gehabt, bis es eines Tages zum -Krach gekommen ist. Widerspruch konnte der Brettelkern nämlich nicht -ertragen. Und als die beiden jungen Dächse einmal in irgend einer -Frage, ich glaube, es war die Alkoholfrage, gegen ihn gewesen sind, da -wurde er fuchsteufelswild und hat sie vor die Tür gesetzt. Ich glaube, -jetzt nach Jahren hat er endlich mal wieder an deinen Vater geschrieben -wegen seiner Praxis, die er abgeben will.“ - -„Davon weiß ich nichts,“ meinte Hans ganz verwundert. - -„Na, das ist ja auch nebensächlich, die Hauptsache ist, daß wir auf -seinem Heuboden übernachten wollen,“ erklärte der Vetter. „Und am -andern Morgen bringen wir ihm ein Ständchen und stellen uns vor als die -Söhne vom Sepp und vom Hermann. Schmeißt er uns dann zum Hof hinaus, so -ist’s ja noch immer Zeit zum Laufen meint der Vater.“ - -Dieser Plan wollte Hans keineswegs einleuchten. Und auch Peter schien -es viel besser, sich einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen, wo man -am andern Morgen aufrechten Ganges davongehen konnte. - -Indes die beiden fügten sich schließlich doch Theobalds Anordnungen. -Bald hatten sie das freundliche Städtchen Wildershausen erreicht, und -mußten nun den ganzen Ort durchwandern, ehe sie die Wohnung ihres -Onkels gefunden hatten. Sie lag an der breiten Hauptstraße, ganz am -andern Ende der Stadt. - -„Aha, da sind wir,“ meinte Theobald, der zuerst das Schild mit dem -Namen des Doktors an einem der weißgetünchten Häuser entdeckt hatte. -„Dann können wir also drei Mann stark in seinen Wigwam einfallen. -Hoffentlich laufen wir ihm nicht gleich in den Weg. Sonst wirft er am -Ende einen Blick auf unsere klassischen Gesichter und drauf uns alle -drei am Kragen hinaus.“ - -Durch die Gitterstäbe des großen eisernen Hoftores mit dem kleinen -Eingangstor an seiner Seite spähten die Knaben in den Hof. Im -Hintergrund gewährten sie eine Scheune mit einem Stall, zu dem -rechtwinklig ein Schuppen angebaut war. Eine Menge Holz war darunter -aufgeschichtet. - -Daneben stand ein Mann, augenscheinlich der Kutscher, der damit -beschäftigt war, Pferdegeschirr zu reinigen. - -„Sollen wir’s wagen, sollen wir’s wagen?“ fragte Theobald. -- „Hopp, -wagen wir’s.“ - -Und die drei traten schnellen Schrittes ein, grüßten höflich und trugen -ihr Anliegen vor. Theobald redete dabei wie ein Wasserfall. Der Mann -vor ihm sah ihn zuerst mit leichtgeöffnetem Mund ganz verständnislos -an. Dann aber begriff er langsam, langsam, lächelte verschmitzt und -nickte beifällig. - -„Guter Vetter, ich weiß schon, was du willst,“ meinte er, Theobald -kameradschaftlich auf die Schulter klopfend. „Wir verstehen uns in der -Angelegenheit. -- Die letzte Woche sind nämlich schon ein paar von -eurer Sorte dagewesen. Die haben bei uns übernachtet. So jemand wie -euch können wir schon unterbringen. Das tun wir gern. Das macht dem -Doktor Freude. Die letzten hat er sogar im Bette schlafen lassen.“ - -„Nur nicht in dem Brettelkern seiner Betten schlafen,“ riefen die -Knaben und dachten mit Schrecken an das Erstaunen des Doktors, wenn -dieser plötzlich die Sprößlinge der mit ihm verkrachten Verwandtschaft -in seinen warmen Federbetten entdeckte. - -„Auf dem Heuboden, wo es am dunkelsten ist, wollen wir schlafen,“ rief -Theobald. „Der Heuboden, das ist unser Fall. Der Heugeruch, der ist -gesund. Der schläfert ein. Wir sind sehr für die Natur, immer für die -Natur. Gucken Sie unsere Kräfte. Alles von der Natur!“ - -Und damit ergriff er den verdutzten Peter am Kragen und hielt ihn mit -ausgestrecktem Arm dem Mann hin, indem er sagte: „Hier sehen Sie, alles -mit einem Griff. Alles von der Natur.“ - -„Du gefällst mir, du kannst so bleiben,“ meinte der Kutscher und -klopfte Theobald wieder befriedigt auf den Rücken. - -„Kommt jetzt mit herein,“ setzte er zu den andern hinzu. „Die Luise -soll euch ein gutes Abendessen kochen. In einer Stunde wird der Doktor -da sein. Der wird seine Freude an euch haben. Es kommen auch noch -andere Herrschaften mit, ein Herr und eine Dame. Was sehr Feines, -glaube ich.“ - -„Heilige Genoveva,“ rief Theobald erschreckt, „nur nichts sehr Feines -heute abend. Für Herrschaften sind wir nicht angezogen. Und dann fallen -uns die Augen zu. Man muß uns so wie so schon Hölzchen dazwischen -stecken, damit sie offen bleiben. Aber morgen um fünf Uhr bringen wir -dem Doktor ein Ständchen. Was sagen Sie dazu? Studentenlieder spielen -wir ihm auf. Die beiden da geigen wie die Engel im Himmel und ich singe -wie eine Orgel.“ - -„Das wird den Doktor freuen,“ erwiderte der Mann lachend, „ja, das -könnte ihm Freude machen.“ - -Hierauf brachte er den Knaben heißes Wasser aus der Küche, womit diese -sich schnell einige Tassen Kakao anrührten. - -Hans äugte ständig nach dem Hoftor hin wie eine Gemse, die auf -Wachtposten steht. „Hoffentlich kommt er nicht,“ murmelte er vor sich -hin. „Der wirft uns ja raus.“ - -„Iß und jammere nicht,“ mahnte Theobald. - -Die Knaben verzehrten nun ein paar Stücke Brot und tranken ihren Kakao -dazu und schickten sich hierauf an, ihr Eßgeschirr zu reinigen. - -Da sagte der Kutscher so beiläufig mit größter Ruhe vom Hoftor herüber: -„Dort unten kommt der Doktor.“ -- - -Die Knaben rafften ihre Rucksäcke und ihr Geschirr zusammen und rannten -davon wie die Räuber. - -„Kommen Sie, kommen Sie,“ rief Theobald, den Kutscher mit sich ziehend, -„und zeigen Sie uns unser Nachtquartier! Erst morgen früh wollen wir -den Doktor sehen.“ - -Und wie die Katzen kletterten sie an einer Leiter in der Scheune auf -den Heuboden. - -Sich die Seiten vor Lachen haltend, wackelte der Kutscher hinterdrein. -Und oben breitete er ihnen ein Segeltuch auf das Heu, um es zu schonen, -damit die empfindlichen Pferde morgens nicht seine Annahme verweigerten. - -„Endlich, endlich in Sicherheit,“ meinte Theobald sich streckend und -dehnend, als der Kutscher gegangen war. „So einen Heuboden, den lob’ -ich mir. Das ist doch das Beste. Neulich der Kuhstall, der war zuviel -für meines Vaters Sohn. Erst der Kuhgeruch und dann der Hühnergeruch, -und kaum ist das überstanden und man ist eingeschlummert, da erwachen -gleich so ein paar gefiederte Bestien, die mit uns zusammen logieren, -und fühlen sofort das Bedürfnis, Eier zu legen und ihre Funktionen mit -lautem Geschrei in die vier Winde zu rufen. Schauderhaft! Und dann, als -sie damit fertig sind, fällt es ihnen ein, spazieren zu gehen, und -sie nehmen ihren Weg direkt über unsere Köpfe und unsere Brust hinweg, -voran der Gockel. Und wie ich aufwach’, steht mir der, weiß Gott, -mitten auf der Brust und schlägt mir seine Flügel um die Ohren und -schreit ‚Kikeriki‘, daß ich aufgefahren bin und ihn gepackt habe. Fast -hab’ ich ihn ermördert.“ - -Hans und Peter lachten und vergruben sich im Heu. - -„Sei still, Theobald,“ rief sein Vetter, „sonst hört uns der -Brettelkern und holt uns von seinem Heuboden runter.“ - -„Lacht doch nicht bei dieser ernsten Geschichte,“ wehrte Theobald, -„es kommt noch besser. Kaum sind die Hühner fort und wälzen sich mit -dem vermalefitzten Gockel, dem ich ein paar Schwanzfedern abgebrochen -habe, in den Hof hinaus, so fängt einer von unsern Freunden, der -Philipp, so laut an zu schnarchen, daß man es durch drei Wände hören -konnte. Und denkt euch, da sitzen in demselben Stall mit uns ein paar -Truthähne. Die bilden sich ein, wir wollen sie uzen mit dem Schnarchen. -Und jedesmal, wenn der Philipp mit der Stimme überschnappt, fangen die -an so mordsmäßig zu kollern und zu glucksern, als wollten sie an den -Wänden in die Höhe fahren vor Geschrei. Wißt ihr, eine Musik war in -dem Stall, als wenn einer Ziehharmonika spielt, und der andere fällt -der Länge nach von rückwärts auf das Klavier, auf sämtliche Tasten mit -einem Schlag. Hinreißend! Na, da bin ich aufgestanden...“ - -„Und?“ fragte Hans. - -„Laß mir meine Ruh,“ sagte Theobald, „ich will jetzt schlafen.“ - -Und damit drehte er sich auf die andere Seite. Bald verrieten seine -tiefen Atemzüge, daß er schliefe. Und auch seine beiden Begleiter -ruhten bald, von tiefem Schlaf übermannt, auf ihrer Lagerstatt. - -Da -- es mochte so vier Uhr morgens sein, wachte Hans plötzlich von -einem lauten Geräusch auf, das im Pferdestall nebenan erklungen war. Er -hörte Pferde wiehern. Mühsam richtete er sich auf und spürte, wie ihm -ein schwerer Druck auf der Brust lag. Sein Kopf schwindelte. -- Es roch -nach Qualm und Rauch. Weit riß er die Augen auf und sah einen roten -Schein von der Öffnung, die zum Pferdestall führte, herüberleuchten. Da -war ihm plötzlich klar, was hier geschehen war. Mit einem Sprung war -er auf den Beinen, riß seinen Freund Peter mit in die Höhe und schrie -durchdringend: „Hier brennt’s! Es brennt! Feuer!“ - -Der Freund war sofort wach, und nun rüttelten die beiden an Theobald, -der noch immer schlief wie ein Sack. Als sie ihn endlich aufgeweckt -hatten, bedurfte es nur noch weniger Sekunden, bis er sich gefaßt -hatte. Dann kommandierte er wie ein General: „Jetzt erst mal raus an -die Luft.“ - -Mit großer Schnelligkeit ließen sich die Knaben an der Leiter hinunter -und eilten durch die Scheune ins Freie. - -Hier sahen sie den Hof tagehell erleuchtet. Der Holzstoß unter dem -Schuppen brannte lichterloh, die Flammen schlugen zum Dach hinaus und -griffen nach dem Stall hinüber. - -„Schöne Bescherung,“ murmelte Theobald. - -„Wir müssen die Pferde rauslassen,“ meinte da Hans Und die Knaben -drangen sofort in den Stall ein, schirrten die Füchse los und führten -sie ins Freie. Die Tiere drängten aufgeregt dem Feuer zu. Theobald -wurde dabei zu Boden geschleudert und schlug seinen Kopf gegen einen -Stein. Hans und Peter wurden gegen die Wand gedrückt und scheuerten -sich das Gesicht blutig. - -Noch rechtzeitig kam ihnen ihr Freund von gestern, der Kutscher, zu -Hilfe und brachte die Pferde, unterstützt durch einige Männer von der -Straße, ins Freie. - -„Es brennt an verschiedenen Stellen in der Stadt,“ hörte Hans jene -Leute rufen, und atmete erleichtert auf. Der Kutscher hatte ihn eben, -anscheinend nicht recht bei Sinnen, angefahren: „Ihr vermalefitzten -Lausbuben, habt ihr vielleicht das Feuer angemacht!“ -- Fast wären sie -also noch in den Geruch von Brandstiftern gekommen. - -Theobald hatte sich inzwischen die Wunde mit ein paar Taschentüchern -umwickelt und ging auf das Wohnhaus zu, indem er Peter erklärte: Er -werde jetzt den Onkel „Zehnmal um die Ecke“ retten, ihn auf seinen -Händen ins Freie tragen und im Namen seiner Familie Versöhnung feiern. - -Als Theobald in den Hausflur eingetreten war, bemerkte er gleich auf -der Spitze der Treppe im ersten Stock einen Herrn im Nachtgewand und -rief ganz bescheiden hinauf: „Herr Doktor, kommen Sie gefälligst. Es -brennt bei Ihnen. Soll ich Ihnen helfen? Es ist nicht gefährlich.“ - -„Aber Theobald, Junge, wo kommst du her?“ tönte da oben eine -wohlbekannte Stimme herunter. Theobald stutzte. Dann hatte er den Rufer -erkannt. Es war sein Onkel Hermann, der Vater von Hans Und in einigen -Sprüngen war er bei ihm. - -„Du hier, Onkel?“ rief er. - -„Ja, du hier? das frag ich dich auch, Theobald,“ antwortete jener ganz -betroffen. „Wo kommst du her?“ - -„Auf einer Wandertour, Onkel. Hans ist auch da.“ - -Und in demselben Augenblick kam der Knabe, von dem eben die Rede war, -im Sturm die Treppe hinauf und rannte den Vater fast über den Haufen. -Und nun erschien auch die Frau Doktor und war ganz bestürzt, als sie in -dem unheimlichen Lichtschein, der das Treppenhaus erleuchtete, ihren -Sohn gewahrte. -- - -Bis vor einer Stunde noch war sie mit ihrem Mann und dem Besitzer des -Hauses, dem Doktor, aufgewesen, und nun war sie im ersten Schlaf durch -einen furchtbaren Lärm emporgerissen worden. - -Gerade wollten Theobald und Hans den Doktorsleuten die nötigen -Erklärungen über ihr Hiersein geben, da rannte ein dicker, alter Herr -im Sturm an der Gruppe vorüber und warf sich seinen Rock über. - -Es war der Doktor Brettelkern. - -„Entschuldigt, ich muß mit in den Betrieb,“ rief Theobald und folgte -seinem Onkel in den Hof. Schreiende Menschen drängten hier zur Tür -herein, die Feuerwehr rasselte heran, die Pumpen wurden in Tätigkeit -gesetzt und die Spritzen auf das Haus gerichtet. - -Theobald suchte sofort irgendwo einzugreifen und half beim Pumpen mit -einem Eifer, als hänge das Geschick Wildershausens von seinen Muskeln -ab. Mitten im schönsten Arbeiten fühlte er plötzlich, wie ihm jemand -die Taschentücher vom Kopfe riß, ein dickes Stück Watte mit einer -brennenden Flüssigkeit in die Wunde stopfte und dann seinen Kopf mit -einer Gazebinde so fest umwickelte, daß er sich zwischen die Kinnbacken -eines Riesennußknackers geraten glaubte. - -Es war der Doktor Brettelkern, der ihn verbunden hatte. - -Unverzagt pumpte Theobald weiter, unterstützt von Hans und Peter. - -Als nach einer Stunde der Brand gelöscht war und die Menschen sich vom -Hofe verzogen hatten, fanden sich der Besitzer des Hauses und seine -Gäste, die Doktorsleute von Schwarzenbrunn und die drei Knaben aus der -Stadt, in dem gemütlichen Eßzimmer ein, wo sie sich an einer Tasse -warmen Kaffees stärkten, die ihnen die Haushälterin des Doktors schnell -bereitet hatte. Das Fragen und Erklären nahm nun kein Ende. - -Hans, der sich schon die zwei letzten Stunden über den Kopf zerbrochen -hatte, warum seine Eltern wohl hier seien und allerlei Ahnungen -verspürte, erfuhr nun, daß sein Vater gekommen sei, um mit dem Doktor -Brettelkern über seine Praxis in Wildershausen zu reden, die er in -aller Kürze übernehmen werde. -- Von Pfingsten ab sei der Doktorsleute -und ihrer Kinder Wohnort Wildershausen. - -Da stieg dem Knaben das Blut so heiß zu Kopf, daß seine Schrammen im -Gesicht wie Feuer brannten. Für die nächste halbe Stunde kam ihm kein -Wort über die Lippen. - -Theobald aber betrachtete fortwährend mit sichtlichem Wohlgefallen sein -zu einem Riesenkürbis angewachsenes Haupt im Spiegel ihm gegenüber. - -Was Schöneres konnte er sich nicht denken, als hier sozusagen als Held -zu sitzen. - -Am schweigsamsten war der Hausherr, der Doktor Brettelkern. Aber -schließlich riß er sich von seinen Gedanken los, sprang auf und meinte -kopfschüttelnd: „Da hört man zwanzig Jahre nichts von einander. Und nun -sieht man sich so wieder. Der ist genau wie sein Vater,“ meinte er, auf -Theobald zeigend. „Der redete einen auch tot und lebendig.“ - -Seines Neffen Gesicht rötete sich vor Stolz, und er erklärte: „Ja, die -Mutter sagt auch immer, Sepp, das haben sie von dir.“ - -Bis zum Sonntag blieb nun die Gesellschaft noch im Hause des -gastfreundlichen Doktors. Früh am Morgen sollte eigentlich der -Aufbruch in die Stadt vor sich gehen, aber da die Knaben in einen -Murmeltierschlaf versunken und nicht aufzuwecken waren, bat ihr -Gastgeber, daß man die Reise noch bis zum Mittag verschiebe. So kam es, -daß Hansens Eltern erst gegen Abend von Susens Geburtstag im Hause der -Frau Cimhuber eintrafen. - -Kaum hatte Suse, die in inniger Umarmung mit Toni auf dem Sofa saß -und die Depesche, die jene gebracht hatte, durchlas, die Stimme ihres -Vaters und ihrer Mutter vernommen, da fuhr sie mit einem Jubelruf in -die Höhe und stürmte auf den Flur zur Begrüßung. - -Sie wollte ihren Vater und ihre Mutter nicht mehr loslassen. Sie -umarmte sie immer wieder. Auch Hans zog sie an sich. - -Aber der Bruder geriet gleich in Ursels Fänge, die ihn mit Fragen -bestürmte. Sie hatte nur ein Auge für ihn. - -„Lebst du noch Hans?“ rief sie. „Gelt, du bist’s doch gewesen, von dem -in der Zeitung geschrieben stand?“ fragte sie ihn. „Komm her und sieh -mich an. Dein ganzes Gesicht ist ja zerkratzt. Gott sei Dank, daß du -noch lebst.“ -- - -„Seit wann soll ich denn gestorben sein?“ fragte Hans erstaunt. - -„Seit’s in der Zeitung stand,“ erwiderte Ursel. „So was Ähnliches hab’ -ich gelesen.“ - -Nachdem der erste Begrüßungssturm vorüber war und Suse an Ursels mildem -Gesichtsausdruck merkte, daß Hader und Groll von ihr gewichen waren, -wagte sie verstohlen ihren Arm unter den der alten Magd zu schieben und -zu fragen: „Sind Sie mir böse? Haben Sie alles vergessen?“ - -„Das wäre ja eine Sünde, jetzt böse zu sein,“ entgegnete Ursel. -„Wir wollen froh sein, daß Hans wieder da ist, und nicht an unsere -Fehltritte denken. Wir wollen alles vergessen. Unser Kummer ist jetzt -nebensächlich.“ - -Und sie rief die beiden in ihr Zimmer und holte aus ihrer Kommode ein -silbernes Kreuz hervor, das sie Suse zum Geburtstag bestimmt, heute -aber in ihrem Zorn unterschlagen hatte, und band es dem Doktorskind um. -Und dann griff sie nach der berühmten, von Hans schon beschriebenen -Marzipantorte, die mitten auf ihrem Bett stand, und reichte sie den -beiden hin. Arm in Arm mit ihrer gütigen Geberin traten die Geschwister -wieder vor das Angesicht ihrer Eltern, und so erfuhren diese nie, wie -heftig die Wirbelstürme gewesen waren, die in der vergangenen Woche die -Freundschaft des Kleeblattes hin- und hergezaust hatten. - -Den Abend verbrachten die Doktorsleute nun mit ihren Kindern bei -Theobalds Eltern in der Stadt, und erst am andern Tage setzten sie -Frau Cimhuber von all den Beschlüssen, die sie in letzter Zeit gefaßt -hatten, in Kenntnis. - -Nach dem Städtchen Wildershausen wollten sie verziehen. - -Ihre Kinder wollten sie zu sich nehmen, da in ihrem neuen Wohnort -höhere Schulen seien. - -Frau Cimhuber traf die Nachricht wie ein Schlag. - -„Jetzt hat man sich gerade an die Kinder gewöhnt, und jetzt soll man -sie wieder hergeben,“ sagte sie wehmütig vor sich hin. „Scheiden und -Meiden, das ist das Leben.“ - -Ursel weinte drei Tage lang, als sie die traurige Nachricht erfahren -hatte. Dann aber faßte sie sich und sagte zu Hans und Suse: „Ja, es ist -viel besser für euch, daß ihr fortgeht. Besonders für dich, Suse. Ich -habe es jetzt gesehen. Euer Vater ist ein ernster Mann. Er wird euch -zum Ernst erziehen. Suse, nächstes Jahr wirst du konfirmiert. Da hast -du eine strenge Aufsicht nötig und eine ernste Umgebung.“ - -Die schwersten Stunden aber standen Ursel noch bevor. Das waren die -Wochen nach dem Fortziehen der Kinder. Mittags, wann die Zeit gekommen -war, zu der die beiden sonst aus der Schule zu kommen pflegten, horchte -sie oft, ob nicht ein stürmisches Klingeln erschalle und ob nicht zwei -fröhliche Stimmen riefen: „Was gibt’s heute zu essen? Was Feines? Was -Gutes?“ Oder sie meinte zuweilen zwei Hände zu fühlen, die sich ihr von -rückwärts um die Augen legten und jemand fragen zu hören: „Wer ist’s, -Hans oder Suse?“ - -Am Tage aber, an dem sonst Herr Schnurr zu erwarten war, übermannte sie -häufig eine große Wehmut. Wie im Traum befangen, rückte sie dann die -Stühle und Tische in der Negerstube zurecht und dachte voll Sehnsucht -der Zeiten, in denen er hier wie ein verzückter Derwisch seine Tänze -aufgeführt hatte. - -Ja, die Einsamkeit im Cimhuberschen Haus wurde mit der Zeit so drückend -für sie, daß sie nicht ruhte, bis ihre Herrin neue Zöglinge aufgenommen -hatte. - -Und von ihren Lippen ertönte zur Ermunterung der eben eingezogenen -Kinder ständig der Ausspruch: „Oh, Hans und Suse hättet ihr sehen -sollen! Ja, Hans und Suse. Die waren artig, die waren gut! Die hatten -ein Herz wie Gold! Und so fleißig, so gescheit waren sie! Der Hans -konnte geigen wie die Engel im Himmel! Und an den Augen sahen sie einem -ab, was sie einem helfen konnten. Und immer waren sie vergnügt. Bei -denen war’s immer Sonntag. Nie ließen sie die Ohren hängen. Hans hatte -sich einmal den Daumen gebrochen in der Turnstunde und dazu pfiff er...“ - -Es war ein Glück, daß die Doktorskinder die Lobpreisungen nicht hörten. -Wie hoch sonst Suse wohl ihre Nase getragen hätte. - -Daheim aber in Schwarzenbrunn im Doktorshaus wurde es still, sehr -still. Für lange Zeit kam kein Arzt mehr in das einsame Dorf, und das -Haus stand leer. Die Fensterläden blieben geschlossen. Der Hof war -vereinsamt. Büsche und Blumen wuchsen wild im Garten. Es wurde ein -Märchengarten daraus. - -Babette Buntrock und die übrigen Hühner waren mit ausgewandert nach -Wildershausen. Minnette und das Käterle hatten bei Rosel, die sich -kürzlich verheiratet hatte, eine Heimat gefunden. Michel war zum -Förster gekommen. -- Der Aufenthalt in der Stadt tauge ja doch nichts -für ihn, hatte der Doktor behauptet. Es sei die reine Quälerei. - -So konnte der tüchtige Waldbursche Michel denn jetzt ununterbrochen in -seinem geliebten Forst bleiben, wo es ihm so wohl gefiel. Zum großen -Glück hatte der Förster auch keine Kinder. Und so brauchte die Bracke, -die mit zunehmendem Alter immer hochmütiger und abwehrender gegen die -Menschen geworden war, sich ihre unangenehmen Aufdringlichkeiten und -albernen Zärtlichkeiten auch nicht mehr gefallen lassen. -- Zuweilen -führte ihn sein Weg am Doktorshaus vorüber. Stolz kam er die Straße -herunter, seinen Schwanz trug er wagrecht abstehend wie ein Lineal. -Einmal blieb er stehen und sah zum Hause hinüber, als entsinne er sich -vergangener Zeiten. Doch niemand könnte sagen, ob das wirklich der Fall -war. - -Minnette und das Käterle dehnten ihre Streifzüge noch immer auf den Hof -und die Scheune ihres alten Wohnhauses aus. Aber abends fanden sie sich -regelmäßig bei Rosels Milchtöpfen ein. - -Manchmal saßen sie auch noch auf der hintern Gartenmauer, wo im -Frühjahr der Schlehdorn schneeweiß leuchtete, und sonnten sich wie in -den Zeiten, als Hans und Suse noch hier waren. - -Und die alte Tanne, die dort hinten in der Ecke stand, rauschte noch -immer so geheimnisvoll wie früher, als das kleine Mädchen zu ihrem -Bruder gesagt hatte: „Hörst du, Hans, jetzt kommt der Wind. Jetzt fängt -die Tanne leise zu singen an. Und der Wind erzählt ihr was. Ein feines -Lied. Das hat die Mutter gesagt. Hörst du, summ, summ...“ - - - - - -End of Project Gutenberg's Hans und Suse in der Stadt, by Trude Bruns - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT *** - -***** This file should be named 60878-0.txt or 60878-0.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/6/0/8/7/60878/ - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -http://www.pgdp.net - - -Updated editions will replace the previous one--the old editions -will be renamed. - -Creating the works from public domain print editions means that no -one owns a United States copyright in these works, so the Foundation -(and you!) can copy and distribute it in the United States without -permission and without paying copyright royalties. Special rules, -set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to -copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to -protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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You may copy it, give it away or -re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included -with this eBook or online at www.gutenberg.org/license - - -Title: Hans und Suse in der Stadt - -Author: Trude Bruns - -Release Date: December 8, 2019 [EBook #60878] - -Language: German - -Character set encoding: UTF-8 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT *** - - - - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -http://www.pgdp.net - - - - - - -</pre> - - -<div class="transnote"> - -<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p> - -<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der 1921 erschienenen -Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. -Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche -und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem -Original unverändert.</p> - -<p class="p0">Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersicht halber vom -Bearbeiter eingefügt.</p> - -</div> - -<div class="figcenter break-before"> - <a id="p001_signet" name="p001_signet"> - <img class="mtop3 padtop3 w5em" src="images/p001_signet.jpg" - alt="Verlagssignet" /></a> -</div> - -<div class="titelei"> - -<p class="s1 center break-before">Jungmädchen<br /> -Bücher</p> - -<p class="s3 center"><b>Herausgeber:</b></p> - -<p class="s3 center"><b><span class="mleft0_5">E</span><span class="mleft0_5">r</span><span class="mleft0_5">n</span><span class="mleft0_5">s</span><span class="mleft0_5">t</span> -<span class="mleft0_5">W</span><span class="mleft0_5">i</span><span class="mleft0_5">l</span><span class="mleft0_5">m</span><span class="mleft0_5">a</span><span class="mleft0_5">n</span><span class="mleft0_5">n</span><span class="mleft0_5">s</span></b></p> - -<div class="figcenter padtop5"> - <a id="logo_002" name="logo_002"> - <img class="padtop3 w5em" src="images/logo_002.jpg" - alt="Logo" /></a> -</div> - -<p class="s3 center"><b>K. Thienemanns Verlag Stuttgart</b></p> - -<p class="s4 center"><span class="mleft2">1</span><span class="mleft2">9</span><span class="mleft2">2</span><span class="mleft2">1</span></p> - -<div class="figcenter padtop5"> - <a id="p002_serie" name="p002_serie"> - <img class="mtop2" src="images/p002_serie.jpg" - alt="Buchserie" /></a> -</div> - -<h1>Hans und Suse<br /> -in der Stadt</h1> - -<p class="s3 center">von</p> - -<p class="s2 center"><b>Trude Bruns</b></p> - -<div class="figcenter padtop5"> - <a id="logo_003" name="logo_003"> - <img class="padtop3 w5em" src="images/logo_002.jpg" - alt="Logo" /></a> -</div> - -<p class="s3 center"><b>K. Thienemanns Verlag Stuttgart</b></p> - -<p class="s4 center"><span class="mleft2">1</span><span class="mleft2">9</span><span class="mleft2">2</span><span class="mleft2">1</span></p> - -<div class="figcenter padtop5"> - <a id="p003_titel" name="p003_titel"> - <img class="mtop2" src="images/p003_titel.jpg" - alt="Buchserie" /></a> -</div> - -<p class="s5 center padtop5 break-before">Buchausstattung nach Entwurf von Fritz Eich, -Bielefeld.<br /> -Die Bilder zu diesem Bande sind von Ralf Winkler gezeichnet.<br /> -Copyright 1921 by K. Thienemanns Verlag in Stuttgart.<br /> -Druck von J. F. Steinkopf in Stuttgart.</p> - -</div> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Inhalt">Inhalt</h2> - -</div> - -<table summary="Inhaltsverzeichnis"> - <tr> - <td class="s5"> - - </td> - <td class="s5"> - <div class="right">Seite</div> - </td> - </tr> - <tr> - <td> - Erstes Kapitel — Die gefährliche Stadt - </td> - <td> - <div class="right"><a href="#Erstes_Kapitel">5</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td> - Zweites Kapitel — Die Flucht - </td> - <td> - <div class="right"><a href="#Zweites_Kapitel">35</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td> - Drittes Kapitel — Das Kamel - </td> - <td> - <div class="right"><a href="#Drittes_Kapitel">69</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td> - Viertes Kapitel — Der Missionar - </td> - <td> - <div class="right"><a href="#Viertes_Kapitel">101</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td> - Fünftes Kapitel — Christines Reise - </td> - <td> - <div class="right"><a href="#Fuenftes_Kapitel">116</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td> - Sechstes Kapitel — Schluß - </td> - <td> - <div class="right"><a href="#Sechstes_Kapitel">136</a></div> - </td> - </tr> -</table> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[S. 5]</a></span></p> - -<h2 class="left" id="Erstes_Kapitel">Erstes Kapitel.<br /> - -<b class="s4 mleft2">Die gefährliche Stadt</b></h2> - -</div> - -<p class="p0"><span class="initial">E</span>s war noch früh am Morgen, gegen ein halb sieben ungefähr, da waren -Hans und Suse, die beiden Doktorskinder, die bei Frau Cimhuber, der -Pfarrwitwe, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, schon wach. Voll -Unruhe hatten sie ihr Lager verlassen, sich angezogen und saßen nun fix -und fertig am Tisch in Susens Zimmer, bereit zur Schule zu gehen.</p> - -<p>Dabei waren es ganze anderthalb Stunden vor Schulanfang. Aber die -beiden hatten nun mal keine Ruh und Rast, seit sie hier in der Stadt -weilten, und ihre Aufregung verriet sich in ihrem ganzen Wesen und -Aussehen. Wie Schatten ihrer selbst sahen sie aus.</p> - -<p>Suse, die kecke, übermütige Suse, die sonst ihren Kopf mit der -fürwitzigen Nase so hoch zu tragen pflegte, hielt ihn trübselig -gesenkt. Und ihr Bruder Hans sah aus seinen großen, dunklen Augen -verängstigt um sich. Die beiden fühlten sich ebenso verlassen und -ausgestoßen hier in dieser fremden Stadt, in der sie gerade einen Tag -verbracht hatten und in der sie doch eine lange Zeit bleiben sollten, -um die höheren Schulen zu besuchen. — Weit weg, an das andere Ende -der Welt, schien ihnen ihr Elternhaus, das freundliche Arzthäuschen, -gerückt; und dabei war es doch nur eine Tagereise entfernt und lag in -den Bergen, deren Umrisse man an hellen Tagen wie eine feine Linie am -Horizont wahrnehmen konnte.</p> - -<p>„Hans,“ sagte das kleine Mädchen plötzlich, „was meinst du, sind Frau -Cimhuber und Ursel schon wach?“</p> - -<p>„Ich glaub’, mir ist’s, als hätt’ ich jemand auf Pantoffeln gehen -hören,“ erwiderte der Bruder... „vielleicht war’s Ursel.“</p> - -<p>Suse nickte.</p> - -<p>Und halb zu Hans gewandt, halb wie im Selbstgespräch fuhr sie fort: -„Gräßlich alt ist Ursel schon. Über sechzig Jahre. Und vierzig Jahre -ist sie schon bei Frau Cimhuber gewesen. Das ist viel länger als unsere -Rosel. Rosel ist gerade neun Jahre bei uns. Das ist einunddreißig Jahre -weniger als Ursel.“</p> - -<p>„Du Suse,“ fragte Hans mit einem Male, „was hat eigentlich gestern -abend Frau Cimhuber über Ursel gesagt, als sie vor uns auf dem Sofa -gesessen ist und deine Hand gehalten hat und uns so lange angesehen -hat?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_6" id="Seite_6">[S. 6]</a></span></p> - -<p>„Das weißt du schon nicht mehr!“ rügte Suse, die so gern dem jüngeren -Bruder gegenüber die Überlegene, Belehrende spielte. „Wirklich, das -weißt du nicht mehr? — Sie hat gesagt: ihr sollt Ursel stets mit -Rücksichtnahme und Respekt begegnen; denn sie ist über vierzig Jahre in -meinem Dienst und ist mir eine getreue Beraterin und bewährte Freundin -gewesen, eine Stütze meines Hauses in Not und Gefahr. Nicht nur in -fröhlichen Zeiten, sondern auch in trüben Zeiten voller Aufopferung und -Liebe und echt christlichen Sinnes. Gehorcht ihr wie mir!“</p> - -<p>„Aber, Suse, so viel hat sie nicht gesagt,“ fiel Hans ein.</p> - -<p>„Doch, Hans, ganz bestimmt!“</p> - -<p>Und Suse wiederholte noch einmal: „Nicht nur in fröhlichen Zeiten, -sondern auch in trüben Zeiten, voller Aufopferung und Liebe. Gehorcht -ihr wie mir!“ — Liebte sie es doch über die Maßen, feierliche Worte -mit schöner Betonung aufzusagen, vor allem Gesangbuchverse oder Stellen -aus Predigten, die sie Sonntags in der Kirche daheim auffing und nicht -immer dem Sinn nach verstand. — Und mit großer Genugtuung bemerkte -sie bei diesen Gelegenheiten jedesmal, wie Hans, der schwerfälliger -beim Auswendiglernen war als sie, bewundernd zu der begabten Schwester -aufsah.</p> - -<p>Wieder war es nun still in dem Zimmer, bis Hans plötzlich leise fragte: -„Magst du eigentlich Frau Cimhuber gern?“</p> - -<p>Das kleine Mädchen wurde feuerrot, sah verlegen vor sich hin und -schüttelte dann ihr Haupt.</p> - -<p>Da stieg auch dem Bruder die Verlegenheitsröte in die Wangen, und er -gestand der Schwester, daß er die Pfarrfrau ebensowenig leiden möge.</p> - -<p>„Aber, Hans, wir müssen sie lieb haben,“ rügte da Suse, sich flugs -ihres Amtes als Lehrmeisterin in allen Tugenden dem Bruder gegenüber -entsinnend, „wir müssen sie lieb haben, das haben der Vater und die -Mutter uns ausdrücklich befohlen.“</p> - -<p>„Wenn ich aber nicht kann,“ meinte Hans gedrückt, „was soll ich da -machen?“ Und als die Schwester schwieg, forschte er halblaut weiter: -„magst du Ursel gern, Suse?“</p> - -<p>„Ja,“ wollte die Schwester sagen, aber ihr fiel ein, daß dies gelogen -wäre, und so verweigerte sie dem Bruder lieber jede Auskunft.</p> - -<p>Er wartete noch ein Weilchen und fuhr dann mehr flüsternd als redend -fort: „Eine gräßlich große Nase hat Ursel. Gelt? — Und eine solch’ -dicke Warze mit einem langen Haare drauf.“</p> - -<p>„Ja, ja,“ fiel Suse mit einem Male lebhaft ein, „ein ganz stacheliges -Haar ist’s. — Weißt du, Hans, genau so wie die Hexe in dem -Märchenbuch, das uns Tante Anna geschenkt hat.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span></p> - -<p>„Ja, daran hab’ ich auch schon gedacht,“ meinte der Bruder ebenso -lebhaft wie sie.</p> - -<p>„Hans, Hans, jetzt haben wir schon wieder was Schlechtes gesprochen,“ -meinte Suse schuldbewußt. „Immer fangen wir wieder von der Nase an. -Diesmal hast du angefangen. Das dürfen wir doch nicht. Der Vater und -die Mutter haben uns doch befohlen, daß wir nicht von den Fehlern und -Gebrechen anderer Leute reden.“</p> - -<p>„Aber von großen Nasen haben sie nichts gesagt. Und große Nasen sind -auch nichts Schlimmes. Die von dem Großvater von unserem Pfarrer, -der vorigen Herbst zu Besuch bei ihm war, die war noch viel größer. -Weißt du denn nicht mehr? Weißt du denn nicht mehr, wie viel wir davon -gesprochen haben? Und du hast am meisten davon gesprochen. Und wie hast -du gelacht, als Theobald gesagt hat, seine Nase ist so groß wie die von -einem Nußknacker!“</p> - -<p>„Da waren wir auch noch viel jünger, Hans.“</p> - -<p>„Jünger, Suse? Ein halbes Jahr ist’s her.“</p> - -<p>Hier achtete die Schwester nicht weiter auf des Bruders Reden, sondern -sah mit gespanntem Ausdruck nach der Tür, vor der schlürfende Schritte -und Stimmen zu hören waren. — Sicher gingen Frau Cimhuber und ihre -Magd vorüber. Ganz still verhielten sich nun die Kinder, bis die -Geräusche draußen verklungen waren, dann stand Hans leise auf, ging auf -den Zehenspitzen zur Türe und spähte über den langen Gang.</p> - -<p>„Du, Suse,“ flüsterte er im nächsten Augenblick zurück, „sie sind jetzt -in der Küche. Ich höre sie. Und hör’ mal, Suse, die Negerstube ist -offen. Komm’ mal, wenn du sie sehen willst.“</p> - -<p>„Wo, wo? Wirklich, laß’ mich mal sehen,“ rief Suse und war in zwei -Sprüngen an der Seite des Bruders. Ganz aufgeregt sah sie über den Gang -nach Frau Cimhubers Staatsgemach, der „Negerstube“, hin. — So hatten -die Kinder das Zimmer der Pfarrfrau getauft, weil es die merkwürdigsten -Dinge aus fremden Ländern enthielt: Löwen- und Tigerfelle, ausgestopfte -Affen, Vögel, Waffen und Bilder von Negern, Gefäße aus Holz und Stein -und einen großen Götzen.</p> - -<p>„Dort hinten, guck, dort hinten sitzt der Gott,“ flüsterte Suse, ihren -Bruder am Arm packend. „Dort sitzt er.“</p> - -<p>Und die beiden sahen wie gebannt auf das seltsamste Stück des ganzen -Raumes, einen schwarz angestrichenen Negergott, der mit seinem -bienenkorbdicken Leib und runden Schädel vergnügt von einer Säule in -der Ecke herüber grinste.</p> - -<p>„Man meint, er lebt,“ flüsterte Suse „Für hundert Tafeln Schokolade -möchte ich ihn nicht anfassen. Und du, Hans?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span></p> - -<p>In diesem Augenblicke hörten die beiden wieder Schritte und flohen in -ihr Zimmer zurück. Irgend jemand kam — Ursel oder die Pfarrfrau.</p> - -<p>Gleich darauf wurde die Klinke ihrer Tür niedergedrückt, und Frau -Cimhuber stand auf der Schwelle.</p> - -<p>Sie war gekommen, die Kinder zu wecken.</p> - -<p>Langsamen Schrittes wich sie zurück, als sie der beiden ansichtig wurde.</p> - -<p>„Aber Kinder,“ sagte sie dann vorwurfsvoll, „ihr solltet ja noch -schlafen! Ich wollte euch jetzt erst wecken. Was soll das heißen?“</p> - -<p>„Wir sind schon aufgewacht, und dann sind wir aufgestanden,“ stotterte -Suse, „entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, wir sind schon aufgestanden.“</p> - -<p>Dann schluckte das Kind dreimal trocken runter vor Schrecken und -fuhr noch verwirrter als bislang fort: „Entschuldigen Sie, wir haben -gemeint, Sie haben keine Kinder. Und da verschlafen Sie, weil Sie keine -Kinder haben, haben wir gemeint. Und da hat auch Hans gesagt, es ist -der Frau Cimhuber sicher sehr angenehm, wenn wir aufstehen. Und da sind -wir aufgestanden.“</p> - -<p>Der Bruder, der daneben stand, biß sich auf die Lippen, aus Beschämung -über all das krause Zeug, das seine Schwester daherredete.</p> - -<p>Frau Cimhuber aber schüttelte ihren Kopf und sagte: „Aber Kinder, ich -habe euch gestern abend doch ausdrücklich gesagt, ihr sollt liegen -bleiben, bis wir euch wecken. Ich habe es zweimal gesagt. Ihr müßt euch -besser an das Gehorchen gewöhnen.“</p> - -<p>Die Kinder fuhren zusammen und sahen sich erschrocken an. Sie aber -merkte nichts davon und fuhr mit vorwurfsvoller Stimme fort: „Vor einer -halben Stunde ist der Kaffee überhaupt nicht fertig. Wir trinken immer -erst zehn Minuten vor ein halb acht Uhr Kaffee. So lange müßt ihr euch -gedulden.“</p> - -<p>Und nach diesen Worten ging sie wiederum zur Türe hinaus.</p> - -<p>„Jetzt ist sie böse auf uns,“ sagte Suse, als sie gegangen war, und -Hans nickte.</p> - -<p>„Wenn sie uns aber den Kaffee zu spät gibt?“ sagte er schließlich. „Was -dann?“</p> - -<p>„Dann laufen wir ohne Kaffee fort!“ erklärte Suse. Inzwischen war Frau -Cimhuber wieder langsam zur Küche zurückgegangen, um mit Ursel, ihrer -alten Magd und Vertrauten, über die Kinder zu reden. Vor der Tür von -Ursels Reich stieß sie einen schmerzlichen Seufzer aus, den die alte -Magd sicher gehört hätte, wenn sie nicht gerade dabei gewesen wäre, der -alten abgeleierten Kaffeemühle einen Klaps zu geben, damit die paar -letzten Bohnen, die widerspenstig über dem Mahlwerk herumhüpften, den -schon zerriebenen nachpolterten.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span></p> - -<p>Gleich darauf trat nun die Pfarrfrau dicht vor Ursel, und diese mußte -aufsehen. Und in dem Augenblick, in dem sie ihr Haupt hob, konnte -man den Schrecken verstehen, den ihr Anblick den Kindern einflößte. -Von ihrem dichtvermummten Haupt waren nur eine lange Nase und ein -entrüstetes Auge zu sehen, denn alles andere war durch Wolltücher -verhüllt, deren Wärme der alten Magd heftige Zahnschmerzen vertreiben -sollte.</p> - -<p>„Ursel, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber, indem sie ihre gefalteten Hände -auf ihre schwarze Schürze sinken ließ. „Die Kinder sind schon wach. Sie -sitzen schon angezogen in der Stube.“</p> - -<p>„Was, schon wach?“ fragte Ursel fast triumphierend, „da haben wir’s! -Das hab’ ich ja gleich gesagt. Die beiden bringen alles zuwege. -Merkwürdige Kinder sind’s. Solche Kinder hab’ ich hier herum noch gar -nicht gesehen. Sehen Sie einmal den Buben an, wie dem die Augen im Kopf -herumfahren. Und das Mädchen, das geht ja auf der Straße gar nicht wie -andere Leute. Die ist gestern mitten im Weg stehen geblieben und hat -die Leute angesehen wie Meerwunder. Und wie ich sie gefragt habe, was -sie denn sieht, hat sie gestottert und keine Antwort gegeben. — Die -rechten Hinterwäldler. Eine Elektrische haben sie hier zum erstenmal -gesehen, ein Auto ist ihnen auch was ganz Neues. — Nur einmal haben -sie zwei ganz weit weg im Tal gesehen, hat der Bub gesagt. — Und -denken Sie sich an, Frau Pfarrer, gestern fährt da ein Auto an uns -vorbei, da fällt das Mädchen gleich auf mich drauf vor Schrecken und -jammert: ‚Oh, wie hat der Wagen geschrien, wie eine Kuh! haben Sie -nicht gehört, Ursel?‘ Ich habe noch blaue Flecke am Arm. Wie ein Krebs -ist’s an mir gehängt.“</p> - -<p>„Ja, Ursel, wir müssen Geduld haben,“ fiel Frau Cimhuber ein, „wir -müssen Geduld haben. Bedenken Sie doch, die Kinder waren noch nie -aus ihrem Gebirgsdorf fort und nun kommen sie zum erstenmal hierher. -Recht ist es ja nicht von den Eltern gewesen, daß sie noch nie vorher -eine Reise mit ihnen gemacht haben. Eine kleine Reise hätten sie -wohl schon machen können. Jetzt ist’s zu spät. Jetzt ist ihnen alles -fremd, und alles verwirrt sie. Und dann... und dann... das muß ich ja -selbst zugeben, ein bißchen unerzogen sind sie, auch ein klein wenig -verwildert. Das sind solche Landkinder immer. Jetzt müssen wir sie eben -zu Gehorsam und Pünktlichkeit erziehen, und alles andere wird sich -finden.“</p> - -<p>„Gewiß, Frau Pfarrer, aber wir werden uns noch verwundern,“ meinte -Ursel. „Ich hab’ ja immer gesagt, lassen Sie es sein, nehmen Sie keine -Kinder, wir sind zu alt dazu.“</p> - -<p>„Ja, aber Edwin wollte es doch. Sie wissen es doch auch, Ursel. Er<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span> -hat immer gesagt: nimm dir ein paar Kinder ins Haus, Mutter, damit du -Zerstreuung hast und nicht auf traurige Gedanken kommst. Mit Kindern -bleibt man jung. Erst in seinem letzten Brief hat er mir wieder davon -geschrieben. Und wie da bei mir angefragt wurde, ob ich die beiden -Kinder von dem Doktor aus Schwarzenbrunn nehmen wollte, da hab’ ich ja -gesagt. Denn es ist mir vorgekommen wie ein Wink des Himmels.“</p> - -<p>„Na, wir wollen sehen, wie noch alles wird,“ meinte Ursel. „An viel -Gutes glaub’ ich nicht.“</p> - -<p>Inzwischen warteten die Kinder sehnsüchtig auf den Kaffee, und als er -nach einer halben Stunde immer noch nicht da war, konnten sie ihre -Unruhe nicht mehr bemeistern. Suse schnallte ihren Ranzen auf, ging -unruhig im Zimmer hin und her und blieb schließlich an der Tür stehen, -die Klinke in der Hand.</p> - -<p>„Sie rufen immer noch nicht, Hans,“ meinte sie ungeduldig. „Sie rufen -immer noch nicht. — Weißt du was, wir laufen ohne Kaffee fort.“</p> - -<p>„Das dürfen wir nicht, da wird Frau Cimhuber böse,“ entgegnete er.</p> - -<p>„Aber wir kommen ja zu spät,“ sagte sie, hin und her trippelnd, „wir -kommen zu spät. Und wir dürfen doch nicht zu spät kommen, Hans; ich -will nicht zu spät kommen. Ich traue mich sowieso schon nicht in die -Schule. Dann traue ich mich erst recht nicht. Lieber will ich keinen -Kaffee.“</p> - -<p>„Hopp, wir gehen,“ ermunterte das kleine Mädchen den Bruder, öffnete -im selben Augenblick die Tür und eilte auf den Vorplatz. Gerade wollte -sie mit dem Bruder in das Treppenhaus huschen und ein Stückchen von -seinem Ranzen schwebte noch um die Ecke, da schaute Ursel verwundert -zur Küche hinaus und hörte auf den Lärm. Mit einem Sprung war sie auf -dem Vorplatz und von dort auf der Treppe, holte die beiden Flüchtlinge -ein und führte sie in die Wohnung zurück.</p> - -<p>„Nicht übel, nicht übel,“ sagte sie. „Wenn ich’s mir nicht gedacht -hätte! Wollt ihr schon durchbrennen? Jetzt mal hier herein ins Eßzimmer -und trinkt euern Kaffee.“</p> - -<p>Und gleich darauf saßen die beiden mit erhitzten Gesichtern der -Pfarrfrau gegenüber am Kaffeetisch und sahen, wie ihre Pflegemutter -traurig den Kopf schüttelte, wobei sich die Perlenschnüre ihres -Häubchens verwirrten und sie mit anklagender Stimme sagte: „Ihr müßt -euch mehr an das Gehorchen gewöhnen. Ihr wißt doch, daß wir euer -Bestes, euer Allerbestes wollen.“</p> - -<p>„Ja, das haben Vater und Mutter auch gesagt, daß Sie so gut zu uns -sind,“ stotterte Suse, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span> „Aber -wir haben so Angst, daß wir zu spät zur Schule kommen. Wir möchten -lieber keinen Kaffee.“</p> - -<p>„Wir sorgen dafür, daß ihr nicht zu spät kommt,“ sagte die Pfarrfrau. -„Ich habe es schon einmal gesagt, ihr müßt Vertrauen zu uns haben. -Ursel und ich wollen euer Allerbestes.“</p> - -<p>Die Kinder aßen und tranken verschüchtert und ängstlich, fast mit -Widerstreben und waren froh, als sie endlich aufstehen und sich -entfernen durften.</p> - -<p>In großer Eile liefen sie die Treppe hinunter auf die Straße. Jetzt -waren sie ja frei. Frau Cimhubers Haus gegenüber führte eine Brücke -über den Kanal, und dort hinüber ging ihr Weg. Gerade als sie die -Brücke überschritten, kam ein mit Steinen beladenes Schiff daher. -Düster aussehende Männer, die an die Holzhauer in der Doktorskinder -Heimatsort erinnerten, standen auf dem Kahn und stießen ihn mit langen -Stangen vorwärts. Langsam zog er unter der Brücke durch, dumpf hallten -die Stimmen der Männer herauf, und langsam kam er auf der andern Seite -wieder zum Vorschein.</p> - -<p>Eine Weile folgten ihm die Kinder mit ihren Blicken, dann gingen sie -weiter. Und während sie so dahinschlenderten, fiel Suse mit einemmal -eine Reihe hoher, freischwebender Buchstaben ins Auge, die auf dem -Dachfirst eines Hauses jenseits des Kanals standen. Sie machte ihren -Bruder darauf aufmerksam.</p> - -<p>„Hans, dort oben, guck, dort,“ rief sie, „war es nicht dort, wo gestern -die hellen Buchstaben herumgehüpft sind, als die Lichter angezündet -wurden und wir aus dem Fenster gesehen haben? Weißt du nicht mehr? -Herrlich war das, gelt, wie immer einer hinter dem andern hergesprungen -ist. Und wupp, waren sie alle miteinander weg und ausgelöscht. Und -dann kamen sie wieder und sind wieder hintereinander hergesprungen. -Das ist das Allerschönste hier. Am liebsten möchte ich eigentlich, daß -wir auch daheim auf unserem Haus solche große Buchstaben hätten. Das -wäre herrlich. Dann kämen alle Leute des Abends herbei und guckten sich -unser Haus an. Und der Vater und die Mutter und wir ständen am Fenster -und freuten uns über unser schönes Haus. Nicht wahr?“</p> - -<p>Der Bruder nickte, hatte aber wenig acht auf der Schwester Rede, -sondern mehr auf den Weg; denn er hatte die Führung übernommen und Suse -versprochen, sie an ihrer Schule abzuliefern.</p> - -<p>So war es ja immer. In gewöhnlichen Zeiten leitete die Schwester den -Bruder gern, aber in schweren Tagen, wenn Not an den Mann trat, war er -der leicht eingeschüchterten Suse treuster Führer. Wie ein geschickter -Steuermann führte er sie jetzt, mit den Augen scharf<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span> nach allen Seiten -spähend, und sie benutzte die Zeit derweil, um ihren Gefühlen in den -merkwürdigsten Stoßseufzern Luft zu machen.</p> - -<p>„Ach, ich möcht’, ich wäre schon in der Schule,“ sagte sie einmal. Dann -wieder: „Ach, ich möcht’, ich wäre schon wieder aus der Schule heraus. -— Ach, ich möcht’, ich wäre bei den Eltern..., ach, ich möchte, Frau -Cimhuber wäre nicht so alt und Ursel sähe nicht so böse aus.“</p> - -<p>Und plötzlich packte sie den erschreckten Bruder am Arm und raunte ihm -zu: „Jetzt, Hans, jetzt paß auf, jetzt darfst du nicht auf die rechte -Seite gucken. Da kommt das Haus, von dem ich dir gesagt habe, vor dem -die toten Rehe auf der Straße liegen. Und alle haben sie ihre Köpfe -herumgedreht, und ihre Hälse sind wie gebrochen. Und blutig sind sie, -lauter Blut ist um sie herum, große Blutlachen schwimmen um sie herum.</p> - -<p>Mir ist’s ganz schlecht geworden. Und du glaubst gar nicht, wie traurig -sie mich angesehen haben. Und Hasen hängen dort, sicher hundert, an den -Beinen.“</p> - -<p>„Wo hängen die Hasen an den Beinen?“ fragte Hans aufgeregt.</p> - -<p>„Guck nicht hin, Hans,“ wehrte Suse, „ich bitte dich, guck nicht hin, -Hans!“ Und dann flüsterte sie ihm mit erschrecktem Gesichte zu: „Ein -Mörder wohnt dort, ganz gewiß, Hans. Ich habe darüber nachgedacht, es -ist ein Mörder.“</p> - -<p>Es stimmte. Suse hatte gestern darüber nachgesonnen und dank ihrer -lebhaften Phantasie eine wahre Schauergeschichte zusammengestellt, -wonach ein Zauberer viel hundert Prinzessinnen in Rehe verwandelt und -getötet hatte, weil sie ihm nicht gehorcht hatten.</p> - -<p>Um den Bruder nun möglichst schnell aus dem Bereich des gefährlichen -Zauberers zu bringen, packte sie Hans am Arm und zog ihn mit sich. Er -aber widersetzte sich und fragte hastiger als vorher: „Wo sind die Rehe -und Hasen, die an den Beinen hängen, Suse; wo hast du sie gesehen? Ich -möchte sie auch sehen.“</p> - -<p>„Nein, nein,“ wehrte sie.</p> - -<p>Es währte aber nicht lange, so entdeckte er selbst die Tiere, die vor -einem Verkaufsladen am Wege lagen, und blieb davor stehen.</p> - -<p>„Brr, blutig,“ sagte er und begann dann von einem Firmenschild über dem -Eingang die Inschrift abzulesen: Wildbret- und Geflügelhändler Moormann.</p> - -<p>„Der verkauft die Rehe,“ erklärte er seiner Schwester.</p> - -<p>„Nein, das tut er nicht,“ widersprach sie, packte ihn fester am Ärmel -und bat: „Lieber, lieber Hans, komm doch mit. Du sollst hier nicht -stehen bleiben und dir das gräßliche Blut ansehen und alles ablesen. -Wir müssen uns ja schämen.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span></p> - -<p>„Warum müssen wir uns schämen?“ fragte er verwundert. „Und warum soll -ich nicht alles ablesen? Der Vater und die Mutter haben doch selbst -gesagt, wir sollen auf alles aufpassen!“</p> - -<p>Die beiden maßen sich mit feindlichen Blicken. Und es wäre zwischen -ihnen sicher zum Streit gekommen, wenn sie nicht daran gedacht hätten, -daß sie in dieser gefährlichen Zeit ja treu zueinander halten müßten.</p> - -<p>Drum folgte der Bruder der Schwester willig.</p> - -<p>„Der halbe Weg ist jetzt um,“ sagte Suse mit einem Seufzer. „Aber das -Allerärgste kommt noch. Jetzt müssen wir noch über den großen Platz -’rüber. — Wenn wir über den ’rüber sind, dann ist alles gut!“</p> - -<p>„Warum fürchtest du dich?“ fragte Hans. „Der ist doch nicht schlimm!“</p> - -<p>„Nicht schlimm, Hans? Am aller-, allerschlimmsten in der ganzen Stadt! -Denke doch, da fahren die Elektrischen und die Wagen und die Radfahrer -und die Autos, das sind die allergräßlichsten Dinger, die es gibt. — -Hans, hab’ ich dir denn schon gesagt, daß ich gestern mit Ursel eins -gesehen habe, das hat gebrüllt wie eine wilde Kuh.“</p> - -<p>„Was hat’s gemacht?“ fragte Hans und blieb wie angewurzelt stehen. „Was -hast du gesagt, wie eine wilde Kuh hat’s gebrüllt? So was hab’ ich aber -doch noch nicht gehört. Ein Automobil brüllt doch nicht, es tutet. Die -Kühe brüllen und die Automobile tuten.“</p> - -<p>„Nein, Hans, es gibt Autos, die brüllen wie Kühe, so wahr und gewiß, -wie ich hier stehe. Sie fangen ganz leise an, und dann schreien sie -laut auf, daß du meinst, die Ohren wackeln dir, und dann weinen sie -leise wie der Michel, wenn er an die Kette gelegt wird, und dann sind -sie ganz still.“</p> - -<p>„Das möcht ich aber gern mal hören,“ sagte Hans begeistert. „Wann hast -du das gehört? Wo hast du das gehört?“</p> - -<p>„Nein, Hans, wünsch’ dir das nicht; dann muß ich so laut an zu weinen -fangen, wie du noch niemals von mir gehört hast. Da sollst du mal -sehen!“</p> - -<p>Hans ging in Gedanken weiter und achtete lange nicht seines Weges, -bis er mit einem Male einen Knaben mit einem Ranzen anrannte und sich -erinnerte, daß ihre Zeit knapper wurde.</p> - -<p>Auch Suse fuhr aus Träumen auf. Denn ihre Gedanken waren weit -ab gewandert, der fernen Heimat zu, und sie hatte den Schulweg -ihres Dörfleins verlockend vor sich liegen sehen. Dort war sie -stets in größter Seelenruhe und im gemütlichen Schritt die Straße -hinuntergeschlendert und hatte im Übermut auch wohl mal die Augen -geschlossen gehalten, wenn es ihr gerade beliebt hatte. Was konnte ihr<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span> -dort auch Gefährliches in den Weg kommen! Ein Hühnchen, ein Hund, eine -Katze vielleicht; was lag denn dran? Stolperte sie auch drüber und fiel -auf die Nase, so bedeutete das doch kein Unglück.</p> - -<p>Aber hier!</p> - -<p>Suse schaute sich erschreckt um. Sie waren ja schon in der Straße -angekommen, die auf den gefährlichen Platz führte. — Gewiß, dort zur -rechten Seite nah’ ihrer Mündung auf den Platz, lag das Schilderhaus, -an dem sie gestern mit Ursel vorübergegangen war, und das sie sich -gemerkt hatte, weil dort ein gefährlich aussehender, brummiger, -grimmiger Soldat gestanden war.</p> - -<p>„Dort hinten steht der Soldat!“ flüsterte sie jetzt ihrem Bruder zu. -„Dort möchte ich nicht gern vorbei, Hans. Denn er hat mich gestern so -zornig angesehen, als ich vorbeiging, als wollte er mich erschießen.“</p> - -<p>„Das meinst du nur so,“ beruhigte Hans. „Er schießt nicht. Er tut -keinem Menschen etwas. Der steht Wache. Komm nur mit und guck ihn dir -ruhig an.“</p> - -<p>Langsam und zögernd setzte das kleine Mädchen einen Fuß vor den andern.</p> - -<p>Noch einige Schritte fehlten, dann mußten sie bei der Wache sein — da -sah sie ihr entgegen auf demselben Bürgersteig einen Offizier kommen. -Sein Säbel rasselte hinter ihm her.</p> - -<p>Und nun horchte Suse plötzlich erschreckt auf und blieb wie angewurzelt -stehen. Hinter sich hatte sie einen Ton vernommen, der ihr Blut -erstarren ließ. — Ach, sich umzusehen hätte sie nicht gewagt, um alle -Schätze der Welt nicht. — Ein Huschen, Sausen und Gleiten war zu -hören — und sie wußte jetzt, jetzt kam’s hinter ihr her, ihr Feind, -das Automobil. Eines von den Ungeheuern, die wie auf Filzpantoffeln -heranglitten, einen mit ihren Augen, groß wie Messingkübel, frech -anstarrten und dann aufschrien wie wilde Kühe.</p> - -<p>Das kleine Mädchen zitterte und bebte am ganzen Körper und zog den Kopf -aus Schrecken über den ersten fürchterlichen Ton, der kommen müsse, -leicht zwischen die Schultern.</p> - -<p>Und jetzt war sie mit Hans bei dem Soldaten angelangt, und auch der -Offizier war ganz nahe.</p> - -<p>Da — hui — flog das Automobil daher und mitten vor dem Schilderhaus -gellte und schrie es laut auf, als wollte es zerspringen. Schauerlich -war’s.</p> - -<p>Da sprang der Soldat vor sein Schilderhaus, scharrte mit den Füßen, riß -sein Gewehr von der Schulter und streckte es dem Offizier hin.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span></p> - -<p>Und in demselben Augenblick erklang in dem Automobil ein Krachen, als -wolle es in hundert Stücke zerbersten.</p> - -<p>Da schrie Suse laut um Hilfe, ließ ihre Butterbrotbüchse fallen und -stürmte in verkehrter Richtung davon.</p> - -<p>„Ach, Mutter,“ jammerte sie, „ach, Mutter.“</p> - -<p>Sie hatte bestimmt gesehen, wie der Offizier, der Soldat und das -Automobil aufeinander drauf geflogen waren und geborsten waren.</p> - -<p>Sie hatte ganz und gar den Kopf verloren, die arme Suse.</p> - -<p>„Suse,“ rief der Bruder und eilte so schnell er konnte, hinter ihr her. -„Bleib doch stehen, wart doch!“</p> - -<p>In einer entlegenen Straße holte er sie endlich ein.</p> - -<p>„Sie sind alle tot,“ rief sie ihm zu, „gelt, und das Schilderhaus ist -auch kaput?“</p> - -<p>„Nein, sie sind alle lebendig,“ rief er.</p> - -<p>„Ach, wär’ ich doch daheim, ach, wär’ ich doch daheim,“ jammerte Suse -da.</p> - -<p>Hans war kreidebleich. Der Schrecken über Suses Flucht und der -Spektakel am Schilderhaus hatten ihm auch etwas die Fassung geraubt. -Und nun sagte er sich, daß sie sich verlaufen hätten und wohl zu spät -zur Schule kämen.</p> - -<p>Wie die beiden noch so rat- und hilflos dastanden, nahte mit einem Male -ein Retter.</p> - -<p>Ein Knabe kam des Wegs, der die beiden Dorfkinder schon aus der Ferne -musterte.</p> - -<p>Unter seinem Arm schleppte er ein Paket Bücher, die Nase mit den -Sommersprossen trug er keck in der Luft, die Mütze hatte er tief in die -Stirn gezogen, und seine blitzenden blauen Augen richteten sich dreist -jedem Vorübergehenden in das Gesicht.</p> - -<p>„Servus,“ rief er plötzlich, daß es über die Straße schallte, „da -schlag doch einer lang hin! Seh’ ich recht?“</p> - -<p>Hans und Suse horchten auf, folgten der Richtung des Rufes, erkannten -den Rufer und jubelten laut: „Theobald, Theobald!“</p> - -<p>Ja, er war’s! Theobald, einer ihrer zahlreichen Vettern. Die Krone -ihrer Vettern sozusagen.</p> - -<p>Dieser Knabe hatte sie nämlich schon einige Male mit seinen Besuchen -in ihrem einsamen Gebirgsdorfe beehrt und auch seine letzten Ferien -dort verbracht. Damals war zwar viel öfters als sonst in der Hand ihres -Vaters, des Doktors, eine geschmeidige Haselgerte zu sehen gewesen, die -dann auf Theobalds Rücken lustige Tänze ausgeführt hatte.</p> - -<p>Aber schöne Zeiten waren’s doch gewesen.</p> - -<p>„Na, seh’ ich recht, das seid ihr,“ rief er noch einmal. „Ihr seht gut<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span> -aus. Was ist denn los mit euch? Der Hans schaut aus wie der schönste -Rahmkäse, und die Suse weint Tränen, als hätte sie eine Schüssel mit -gehackten Zwiebeln zum Frühstück bekommen.</p> - -<p>Was tut ihr eigentlich hier in dieser Straße, die euch gar nichts -angeht? Hat eure Pflegedame euch schon vor die Türe gesetzt? Seid ihr -eurer Cimhuberin schon ausgekniffen?“</p> - -<p>„Frau Cimhuber heißt’s,“ verbesserte Suse.</p> - -<p>„Wir haben uns verlaufen,“ erklärte Hans.</p> - -<p>„Und deshalb dies Lamento und die verheulten Gesichter?“ meinte der -Vetter wegwerfend. „Ihr gehört wirklich noch ins Wickelkissen! Heftet -euch von nun an an meine Fersen! Ich werde euch sicher führen.“</p> - -<p>Suse zog ihr Taschentuch hervor, trocknete ihre Tränen und sah -zuversichtlich auf Theobald, der ihr sicher und großartig vorkam, wie -die feinen Stadtherren, die sich nicht fürchteten, und wenn ihnen die -Automobile wie ein Rudel Wölfe hinterher kamen.</p> - -<p>„Hört, meine Kleinen,“ fuhr der Vetter mit wichtiger Miene fort. „Erst -bringen wir den geknickten Lilienstengel, die Suse in ihre Schule, dann -gehen Hans und ich weiter und schreiten stolz erhabenen Hauptes durch -die Pforten unseres Pennals...“</p> - -<p>Hier unterbrach der Vetter seine eigene Rede, runzelte die Brauen -und betrachtete in Nachdenken versunken die Haltestelle der Trambahn -jenseits der Straße.</p> - -<p>„Hm! Hm!“</p> - -<p>Er hatte einen Gedanken.</p> - -<p>Wenn er jetzt aber seinen Vetter und seine Cousine auf eigene Kosten -zur Schule fahren ließe! Das wäre fein! Da hätte er ja Gelegenheit, -sich wie der herrlichste Millionär diesen Dorfkindlein gegenüber -aufzuspielen, so recht von oben herab wohltätig. Vorgestern waren -die beiden Hinterwäldler ja zum ersten Male in ihrem Leben in einer -Eisenbahn gefahren und gestern in einer Elektrischen.</p> - -<p>Und da hatte seine Cousine voll Begeisterung zu ihm gesagt, man -meine, man fahre mit der Elektrischen in den Himmel hinein. Eine -solche Himmelfahrt konnte man ihnen ja leicht verschaffen. Noch einen -Augenblick überlegte der Vetter, dann faßte er in seine Westentasche, -zog drei Zehnpfennigstücke hervor und sagte: „Hört, unsere Zeit ist -knapp. Wir fahren jetzt zur Schule. Ich stifte euch die Fahrscheine.“</p> - -<p>In den Augen der Kinder leuchtete es hell auf, ein Umstand, den -Theobald mit Befriedigung wahrnahm.</p> - -<p>„Die nächste Elektrische, die kommt,“ belehrte er sie, „müssen wir -nehmen! Verstanden? Und zwar im Sturm. Sonst kommen wir zu<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span> spät. -Verstanden? Ihr habt also keine Zeit, die sämtlichen Reklameschilder -und Aufschriften daran zu studieren, bevor ihr einsteigt. Merkt’s -euch! Und dann laßt euch nicht etwa einfallen, andere Leute vor euch -einsteigen zu lassen und um sie herum zu scharwenzeln und zu sagen: -bitte, bitte, gehen Sie zuerst hinein und treten Sie uns ruhig auf die -Hühneraugen; das ist uns eine ganz besondere Freude. — Nein, sobald -ihr den Wagen seht, rennt ihr drauf los wie die Wilden, schiebt alle -Leute zur Seite und schreit: Verzeihung, Verzeihung, und klettert auf -die Plattform wie die Affen.“</p> - -<p>„Sie kommt,“ rief Theobald, „jetzt drauf los.“</p> - -<p>Und er stürmte vor ihnen her wie ein Held zur Schlacht. „Verzeihung, -Verzeihung,“ schrie er und drängte die Leute zur Seite.</p> - -<p>„Verzeihung,“ rief Hans hinter ihm.</p> - -<p>„Verzeihung,“ sagte Suse kleinlaut.</p> - -<p>Und den Kopf ein wenig geneigt eilte sie vorwärts, sich an Hansens -Ranzen festhaltend.</p> - -<p>Theobald schob eine Frau zur Seite, einen alten Herrn, ein Kind. — -Jetzt hatte er den Griff der Elektrischen gefaßt und schwang sich -hinauf. Da stauten sich die Menschen. Hans und Suse konnten ihren -Vetter nicht mehr sehen. Auf der Plattform aber entstand jetzt ein -fürchterliches Gedränge, ein Schieben und Stoßen, ein Reißen und -Wühlen. Und eine zornige Stimme übertönte alle: „Wer schreit mir da -fortwährend Verzeihung in die Ohren? Wart’ einmal!“</p> - -<p>Und im nächsten Augenblick sahen Hans und Suse, wie ein Mann ihren -Vetter, das feine Stadtherrlein Theobald, am Kragen gepackt hielt und -heftig hin und her schüttelte, als wär’s eine Pflanze, deren Erdreich -gelockert werden müsse. Und mit einem Schwung wollte er ihn auf die -Straße setzen. Aber da wandte Theobald sich um, hielt sich an dem Herrn -fest und nahm ihn gleich zwei Stufen die Elektrische mit hinunter. Ums -Haar wären beide am Boden gelegen.</p> - -<p>Da klingelte die Elektrische und fuhr davon. Im letzten Augenblick -konnte der Herr noch aufspringen.</p> - -<p>Theobald aber, der seinen Hut verloren hatte, mußte diesen erst mal -suchen. In der Mitte der Straße erblickte ihn da sein Vetter Hans, hob -ihn auf und übergab ihn dem Raufbold Theobald, indem er vor peinlicher -Verlegenheit über und über rot wurde, denn Theobalds rechte Wange -glühte wie ein Rosenbusch, und fünf schneeweiße Finger kamen allmählich -darauf zum Vorschein.</p> - -<p>Der kaltblütige Theobald aber hatte sich schnell wieder gefaßt und -murmelte entrüstet: „Feige Gesellschaft! Sobald einer nur etwas forsch -auftritt, bekommen sie alle gleich Angst für ihr Leben. Ich hätte<span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span> nur -meine rechte Hand frei haben sollen, da hätten mich keine zehn Pferde -da oben runter gebracht.“</p> - -<p>Und diese Worte brachten flugs der Doktorskinder Bewunderung für den -herrlichen Vetter wieder zum Blühen. Erwartungsvoll sahen sie jetzt zu -ihm auf und beobachteten, wie er mit gerunzelten Brauen seine silberne -Uhr aus der Tasche zog und wichtig drauf nieder sah.</p> - -<p>„Jetzt aber vorwärts,“ rief er mit scharfer Stimme. „Noch fünf Minuten, -dann beginnt die Schule.“</p> - -<p>Im nächsten Augenblick flogen die Kinder dahin wie die Windspiele. Vor -der Tür von Susens Schule ließen die Knaben das kleine Mädchen zurück.</p> - -<p>„Ich hol dich ab, Suse,“ waren des Bruders letzte Worte; dann war er -fort. Suse war allein.</p> - -<p>Sie ging zögernden Schrittes durch ein großes, eisernes Gittertor in -den Hof, der vor ihr lag, und von dort in das hohe rote Schulgebäude, -über dessen Eingang in großen schwarzen Buchstaben: höhere -Mädchenschule zu lesen war.</p> - -<p>Im ersten Stock befand sich ihre Klasse. Sie hatte es gestern erfahren, -als sie zur Aufnahme in die Schule geprüft wurde, und ging nun dorthin.</p> - -<p>Lautes Sprechen, Lachen und Lärmen drang aus dem Innern der Schulstube -heraus und verkündete ihr, daß ihre Mitschülerinnen wohl schon -vollzählig versammelt seien.</p> - -<p>Das Herz klopfte ihr. Langsam nahm sie ihren Hut und ihre Jacke ab und -hängte sie an einem Hakenbrett im Gange auf. Ängstlich schielte sie -nach der Klassentüre. — Eine Weile zögerte sie noch; dann faßte sie -mit schnellem Entschluß den Griff der Tür, drückte ihn nieder und trat -ein.</p> - -<p>Totenstille empfing sie. Wie auf einen Schlag waren Lachen und Lärmen -verstummt, und die Augen sämtlicher kleinen Mädchen richteten sich auf -Suse. Sie glaubte in den Boden sinken zu müssen vor Verwirrung, und -ihre Füße waren schwer wie Blei. Endlich konnte sie sich wieder regen -und ging nun langsam vorwärts, der letzten Bank zu, in der sie einen -freien Platz entdeckt hatte. Leise sagte sie zu den kleinen Mädchen an -ihrer Seite guten Tag, erhielt aber keine Antwort, da ihr Gruß nicht -gehört worden war. Und nun begann auch plötzlich wieder das Kichern, -das Lärmen und Reden und verstummte erst, als es punkt acht Uhr war und -die Lehrerin eintrat.</p> - -<p>An dem Pult ganz vorne nahm sie Platz. Das kleine Mädchen hob -schüchtern seine Augen, konnte aber nur ein Stückchen ihres rechten -Ohres erkennen; alles übrige war durch zwei kleine vor Suse sitzende -Mädchen verdeckt, die ihre Köpfe zusammensteckten.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span></p> - -<p>Und dann hörte sie mit einem Male die laute, tiefe Stimme der Lehrerin, -die jedes Wort deutlich und scharf aussprach. Aber den Sinn ihrer Rede -vermochte sie nicht zu verstehen; denn alles um sie her verwirrte sie -noch zu viel, als daß sie einen klaren Gedanken hätte fassen können. — -Wie fremd, wie kalt war doch alles hier, kein bißchen gemütlich, wie -daheim. Daheim, da war es viel tausendmal schöner — da kannte Suse -jedes Kind, und den Lehrer gar! Den kannte sie seit dem ersten Tag, -da sie zur Schule gegangen war. — Dort gab es ja nur einen einzigen -Lehrer, der kam jeden Morgen behaglich in die Schule geschlendert und -brachte einen großen Kaffeetopf mit, aus dem er trank, wenn es ihm -gerade paßte. Und vor Beginn des Unterrichts pflegte er sich jedesmal -dreimal feierlich in ein rot kariertes Taschentuch zu schneuzen, die -Kinder über die Brille zu mustern und dann zu beten.</p> - -<p>Manchmal freilich konnte er auch böse werden, der gute Mann; dann, -wenn die Kinder zu viel Unfug trieben und ihn reizten. Dann sprang er -plötzlich wie der Blitz mit seinem Stöckchen von dem Pult herunter, -packte die Bösewichter und bestrafte sie hart. Unter den ertappten -Sündern war zuweilen auch Hans; denn er steckte voll Übermut. So hatte -er die üble Angewohnheit, sich beim Melden der Länge nach über die Bank -zu werfen, und beide Hände mit den ausgestreckten Zeigefingern dem -vor ihm sitzenden Knaben auf die abstehenden Ohren zu legen, wobei es -diesem heiß wurde wie in einem Backofen.</p> - -<p>Dann kam der Lehrer dahergesprungen, fragte, was das für eine Frechheit -sei, befreite den Gefangenen aus seiner üblen Lage und lehrte den -übermütigen Hans ein schönes gesittetes Melden. Ach — fein und lustig -war das gewesen!</p> - -<p>„Susanna,“ rief da die Lehrerin, „willst du wiederholen, was ich eben -gesagt habe?“</p> - -<p>Das kleine Mädchen errötete bis in die Haarwurzeln, stand auf, -stotterte, konnte kein Wort herausbringen und wußte überhaupt nicht -mehr, was sie gefragt worden war. Aller Blicke richteten sich auf sie. -Zum Glück machte die Lehrerin ihr ein Zeichen, sich zu setzen, und -beschämt ließ sie sich auf ihren Platz nieder. Nun saß sie noch scheuer -dort als vorher.</p> - -<p>Schließlich klingelte es, und die Pause begann. Die kleinen Mädchen -sprangen in die Höhe und eilten wie erlöst zur Tür hinaus. Suse -folgte ihnen langsam nach. Am liebsten wäre sie hier im Schulzimmer -geblieben; aber das war ja nicht erlaubt! So ging sie denn auch in -den Hof hinunter, stand mutterseelenallein an einem Baum und sah den -Spielen der Kinder zu, die lachten und hüpften und tollten. —<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span> Aber -keines forderte sie auf, doch mitzuspielen. — Da endlich rief eine -fröhliche Stimme: „Guten Morgen, Suse.“ Und vor ihr stand ein Mädchen -mit roten, frischen Wangen und freundlichen, lachenden Augen. Es war -Toni, Theobalds Schwester, die einige Jahre älter als Suse war.</p> - -<p>„Na, seid ihr gut in die Schule gekommen?“ fragte sie freundlich. — -„Theobald wollte euch eigentlich heute morgen abholen. Aber er hat die -Zeit verschlafen, das Murmeltier. Weißt du, er hat gesagt, er muß sich -eurer annehmen und euch beschützen, als Dank für die Gastfreundschaft, -die er bei euch genossen hat. Der Hanswurst! Das gehört sich so, hat er -gesagt. — Ach, Suse, du glaubst gar nicht, wie er sich daheim mit euch -aufspielt. Es ist einfach gräßlich! Er hat gesagt, euer Vater hat euch -ihm ganz besonders ans Herz gelegt, und wenn er nicht ganz genau auf -euch aufpaßte, kämt ihr sicher unter die Räder.“</p> - -<p>Suse errötete und hütete sich wohl zu sagen, wie nah sie heute morgen -schon an den Rädern gewesen waren, dank des Vetters gütiger Führung.</p> - -<p>„Komm, Suse,“ rief hier ihre kleine Cousine und führte sie hin zu den -Mädchen, die in Susens Klasse gingen.</p> - -<p>„Spielt mit meiner kleinen Cousine,“ rief sie den muntern Dingern zu.</p> - -<p>„Suse ist gar nicht so still, wie sie aussieht. Die ist sogar sehr -lustig, viel lustiger, als ihr alle miteinander. Und rennen kann sie, -famos, tadellos! Mein Bruder Theobald sagt auch, da kann keiner mit.“</p> - -<p>Hier griff eines der vorüberlaufenden Mädchen nach Tonis Arm und zog -sie in der Hast mit sich fort.</p> - -<p>So war Suse denn wieder allein. Eines und das andere der Mädchen -begannen nun mit ihr zu reden, aber Suse war so schüchtern, daß sie -nur leise ja und nein zu antworten wagte. Auch das Laufen schien sie -verlernt zu haben. Da war es denn ganz gut, daß die Klingel bald -erschallte und die Kinder in die Klasse zurückrief.</p> - -<p>An dem Pult saß jetzt eine ganz andere Lehrerin als vorher. Aber obwohl -sie viel munterer und lebhafter sprach als jene, konnte Suse ihr doch -nicht folgen. Des Doktorkindes Aufmerksamkeit war außerdem von etwas -ganz anderem in Anspruch genommen. Auf dem Pult vor der Lehrerin sah -sie mit einem Male eine große Kugel stehen, die auf einem schwarzen -Stengel steckte.</p> - -<p>Wie war sie dorthin gekommen? Was bedeutete sie? War sie zum Schmuck -da? Liebte die Lehrerin solche Kugeln?</p> - -<p>Diese und andere Fragen quälten Suse. Und plötzlich entsann sie -sich, daheim in des Pfarrers Garten eine ähnliche gesehen zu haben.<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span> -Allerdings eine viel größere, leuchtendere, eine gar närrische Kugel. -— Kam man ihr nahe, so warf sie einem das Spiegelbild schrecklich -verzerrt zurück, die Nase zur Kartoffel angeschwollen, die Ohren weit -abstehend, wie bei einer Springmaus. Laut jubelnd hatten Hans und -Suse stets ihren verschandelten Anblick in dem Zauberspiegel begrüßt. -Dann hatte auch ihr Freund, der Michel, ein feiner Jagdhund mit einem -schmalen, vornehmen Kopf, hineinsehen und es dulden müssen, daß sich -sein Kopf in der Zauberkugel zu einem auseinanderfließenden Pudding -wandelte. An dieses lustige Spiel in des Pfarrers Garten mußte Suse -nun immerfort denken und erwachte erst aus ihren Träumereien, als -ein kleines Mädchen aufgerufen wurde, an das Pult trat und mit dem -Finger auf der Kugel herumzeigte. Oh, wie sehr beneidete Suse ihre -Mitschülerin um dies Vergnügen, und wie brannte sie darauf, ihrem -Bruder von dieser aufregenden Sache zu erzählen! Jener hatte ihr ja -versprochen, sie von der Schule abzuholen. Da sollte er gleich mal -Wunderdinge vernehmen. —</p> - -<p>Nach Schluß des Unterrichts, da stand der Bruder Hans wirklich draußen -vor dem eisernen Gitter des Schulhofs und wartete auf die Schwester. -Als letzte sah er sie aus dem Hofe kommen, ein ganzes Stück hinter den -andern Mädchen her.</p> - -<p>Jetzt erkannte sie ihn, eilte auf ihn zu und sah erstaunt in sein -Gesicht. Denn er sah so froh aus, als wären die Lobsprüche seines -Lehrers nur so dutzendweise auf ihn herabgekommen.</p> - -<p>„Hans, hast du alles verstanden? Hast du viel gelernt, hast du auch -schon viel geantwortet?“ fragte sie ängstlich.</p> - -<p>„Nein“, sagte er da gedehnt, mit ganz langem Gesicht. „Nein, gar -nicht, Suse. Ich habe nichts verstanden, nichts gelernt und nichts -geantwortet!“</p> - -<p>„Na, das ist nur gut,“ entgegnete sie erleichtert. „Das ist doch -viel besser, als daß der eine was lernt und der andere nichts. -Meinst du nicht auch? Ich glaub’ wirklich, dies ist den Eltern so am -angenehmsten.“</p> - -<p>Hans zuckte die Achseln und ging mit gerunzelter Stirn schweigend -weiter. So einleuchtend schien ihm der Schwester Bemerkung denn doch -nicht zu sein.</p> - -<p>Aber langsam, wie die Sonne durch Wolken bricht, erschien das Lächeln -wieder auf seinem Gesicht, und er kam endlich mit dem zutage, was ihn -so froh stimmte.</p> - -<p>„Suse, ich weiß jetzt, warum die Autos so brüllen; daran sind die Tuten -schuld, die Trompeten, die Sirenen, die Lärm machen, damit die Leute -aus dem Weg gehen. Hör’, ich weiß jetzt alles, wie es zu<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span>geht. Da wird -durch einen Gummiball die Luft hineingedrückt, dann dreht sich eine -Scheibe drin herum mit Löchern, und durch die fährt die Luft wieder -heraus und bläst so fürchterlich.“</p> - -<p>„Aber Hans, so was glaub’ ich nicht,“ fiel Suse erschreckt ein. „So was -hab’ ich noch nie gehört. Das ist sicher nicht wahr. Das glaubt doch -kein Mensch, daß eine Scheibe herumfährt und so laut bläst, als würde -sie schreien.“</p> - -<p>„Doch, Theobald hat’s gesagt,“ entgegnete der Bruder ganz beleidigt.</p> - -<p>Er nahm es sehr übel, daß seines Vetters Reden angezweifelt wurden, -stammte seine Weisheit doch von niemand anderem als von dem erfahrenen -Theobald, der ihn in einer Pause zur Seite genommen und über die Wunder -und Merkwürdigkeiten der Stadt aufgeklärt hatte.</p> - -<p>„Ja, Suse, gräßliche Unglücke passieren manchmal mit den Autos,“ fuhr -er hastig fort.</p> - -<p>„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein, „das ist schon möglich.“</p> - -<p>„Höre, höre,“ fuhr er fort. „Da ist ein Rad, das Steuer. — Das hat der -Chauffeur in der Hand und lenkt damit den Wagen. Und wenn er ihn nicht -zur rechten Zeit zum Stehen bringt, dann fahren die Autos womöglich -rückwärts den Berg runter und überschlagen sich und werfen alles, was -drin ist, raus, und die Leute brechen sich dabei den Hals.“</p> - -<p>„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein. „Aber das, was du von den Sirenen -gesagt hast, das glaub’ ich nicht, und wenn ich hundert Jahre alt -werde. Das ist nicht wahr. Das hat uns Theobald nur so aufgebunden. -Glaub’ mir, Hans. Und es ist frech von Theobald, daß er so was zu sagen -traut und uns so belügt.“</p> - -<p>„Aber nein, Suse, er belügt uns nicht,“ wehrte Hans. „Theobald lügt -uns hier in der Stadt doch nicht an. Nur zu Hause. Und du sollst -selbst sehen, daß alles wahr ist, was er gesagt hat. Hör’ doch, Suse, -das will ich dir ja noch sagen, wir wollen heute nachmittag den Onkel -Gustav besuchen und seine Autos ansehen. — Der Onkel Gustav, der -wohnt draußen vor der Stadt und hat ein wundervolles Schloß und ist in -fremden Ländern gewesen, wo es Löwen und Tiger und Elefanten gibt, und -seine Frau ist auch von dort. — Fein, gelt? Und Kinder hat er, schwarz -wie die Neger. Fein, gelt?“</p> - -<p>„Aber, Hans, da können wir doch nicht hingehen, wenn wir nicht -eingeladen sind,“ meinte die Schwester.</p> - -<p>„Doch, Suse, — Theobald hat gemeint, es geht schon. Wir wollen ja -nicht zu dem Onkel und zu der Tante und zu ihren albernen Kin<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span>dern. Wir -wollen ganz einfach zu den Autos gehen und sie uns in einem Schuppen -ansehen...“</p> - -<p>Unter diesen Gesprächen waren die beiden allmählich vor Frau Cimhubers -Haus angelangt, das schmal und hoch in einer Häuserreihe eingeklemmt -lag.</p> - -<p>Scheu sahen sie zum vierten Stock hinauf.</p> - -<p>„Ich glaub’, Ursel guckt schon,“ sagte Suse halblaut.</p> - -<p>Die beiden sahen sich an, als empfänden sie Furcht, gingen dann ins -Haus, erstiegen schnell die Treppe, legten droben Hut, Jacke und Ranzen -ab und standen einige Minuten später in dem Eßzimmer der Pfarrfrau.</p> - -<p>Bescheiden und schüchtern nahmen sie hier Platz und zeigten wieder -ganz ihr gedrücktes Wesen von heute morgen. Dahin war Hansens stolzes -Siegergefühl, eine Frucht seines Unterrichts bei Theobald, und der -Stolz auf seine Automobilkenntnisse schwand wie Butter an der Sonne -angesichts der forschenden Blicke seiner Pflegemutter, die nicht von -ihm und Suse ließen.</p> - -<p>Und mit einem Male hob sie an: „Na, Kinder, ihr habt doch sicher recht -aufgepaßt in der Schule und allerlei behalten. Denn ihr wollt ja was -lernen hier; dazu seid ihr ja hierhergekommen, nicht wahr? Und dazu -haben eure Eltern euch hierhergeschickt. Und ihr wollt euern Eltern -doch Freude machen. Nicht wahr? Was für Stunden habt ihr heute schon -gehabt, erzählt mal!“</p> - -<p>Da saßen sie da wie die ertappten Sünder, stießen sich unter dem Tisch -an und wußten nicht, was antworten.</p> - -<p>Hans sah errötend und hilfesuchend nach Suse hin. Aber auch sie -stotterte hin und her und erklärte schließlich, auf dem Pult sei eine -blaue Kugel gestanden, und die Kinder hätten mit dem Finger darauf -herumfahren dürfen.</p> - -<p>„Das ist alles, was du gesehen hast, Kind?“ fragte die Pfarrfrau und -legte vor Überraschung Messer und Gabel hin. „Das ist alles, Suse? Mehr -hast du nicht gesehen, Kind?“</p> - -<p>Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf.</p> - -<p>„Aber, Suse, wo hast du denn die Augen gehabt,“ fuhr ihre Pflegemutter -vorwurfsvoll fort. „Hast du denn nicht aufgepaßt? Weshalb gehst du denn -überhaupt in die Schule, wenn du nicht aufpassen willst. Ihr geht doch -hier in die Schule, um etwas zu lernen.“</p> - -<p>Suse sah die Pfarrfrau hilflos an; ihre Augen füllten sich mit Tränen; -mit einem Male sagte sie kaum hörbar: „Ich hab’ immer hingehört und -aufpassen wollen, aber da hab’ ich immer an unseren Michel daheim und -den Lehrer denken müssen, und da hab’ ich nicht aufgepaßt.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span></p> - -<p>„Und ich hab’ auch nicht aufgepaßt,“ sagte Hans und saß wie das -verkörperte schlechte Gewissen da.</p> - -<p>Frau Cimhuber schaute lange vorwurfsvoll von einem Kind zum andern und -fuhr dann mit ernster Stimme fort: „Aber ihr müßt aufpassen, Kinder. -Das ist eure Pflicht. Das wünschen eure Eltern. Daran müßt ihr immer -denken; und wenn der Unterricht auch schwer fällt, müßt ihr eben -doppelt aufpassen.“</p> - -<p>Ursel aber, die bei Tisch bediente, schlug einmal übers anderemal -die Augen zur Decke empor, und nach dem Essen begann sie: „Ich hab’ -grad gemeint, ich hab’ einen Schlag an den Kopf bekommen, wie ich das -Gestammel und Gestotter gehört hab’. — Auf einer blauen Kugel haben -sie herumfahren dürfen! Ist das nicht fürchterlich? Das hab’ ich doch -jetzt all mein Lebtag noch nicht gehört, daß in der Schule Kugeln sind, -auf denen man herumfährt. Bei den Kindern stimmt’s nicht. Irgendwo -stimmt’s nicht.“</p> - -<p>Der Pfarrfrau wurde es angst und bange angesichts von Ursels -Aufgeregtheit, und sie sann darüber nach, wie sie die alte Magd -besänftigen könne. Denn es läßt sich nun mal nicht leugnen, daß Ursel -in den langen Jahren, in denen sie bei Frau Cimhuber Magd gewesen war, -sich zur Gewalthaberin im Hause ausgebildet hatte, die oft selbst ihre -eigene Herrin einzuschüchtern verstand.</p> - -<p>„Es hilft nichts, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber jetzt in beruhigendem -Ton, „wir müssen Geduld haben.“</p> - -<p>„Wenn ich da an unseren Edwin denke,“ fuhr Ursel unbeirrt fort, -„wenn der aus der Schule kam, der wußte immer alles, der saß nie so -verdattert da. Das war eine Freude, den anzusehen, bei dem konnte man -noch was lernen.“</p> - -<p>„Ja, ja, unser Edwin,“ sagte Frau Cimhuber, und ein glückliches Lächeln -ging über ihr Gesicht, „der machte uns stets nur Freude.“</p> - -<p>Auch Ursels Gedanken wanderten auf dem eingeschlagenen Weg fort, und -sie sagte nachdenklich: „Wann er wohl schreibt, der Herr Edwin? — Er -hat so lange nicht geschrieben. Aber man braucht ja nicht in Sorge zu -sein. Das dauert ja immer lange, bis die Briefe die weite Reise gemacht -haben.“</p> - -<p>„Mir ist gerade, als schriebe er heute,“ sagte Frau Cimhuber, versonnen -vor sich hinblickend. „Ich habe so ein Gefühl, als müßte ich heute noch -einen Brief von ihm in Händen halten.“</p> - -<p>Während dieser Unterredung hatten Hans und Suse sich in ihr Zimmer -zurückgezogen und begannen wieder froh zu werden.</p> - -<p>Sie wollten heute nachmittag ja den Onkel Gustav besuchen.</p> - -<p>Keinem von beiden kam der Gedanke, ein Gang zu ihrem Onkel<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span> könnte -ihnen verwehrt werden, waren sie doch von Hause aus gewöhnt, in ihrer -freien Zeit zu tun und zu treiben, was ihnen beliebte. Hans putzte -sich und kämmte sich und richtete sich säuberlich her, gerade als -sei ein Auto eine hochgestellte Persönlichkeit, der man durch ein -geschniegeltes Äußeres Achtung abzwingen könne. Dazu erzählte er in -einemfort von den Plänen, die er mit Theobald gefaßt hatte.</p> - -<p>„Um drei Uhr will er uns abholen,“ erklärte er, „ich hab’ ihm gesagt, -er soll doch zu uns herauskommen, aber er will nicht. — Er will nicht -vor Frau Cimhuber dienern und scharwenzeln, weil sie ihm nicht ganz -grün ist.“</p> - -<p>Lange vor der festgesetzten Zeit standen die beiden Kinder am Fenster -und sahen erwartungsvoll nach dem Vetter aus. Endlich, endlich tauchte -er in der Ferne auf, dicht am Geländer des Kanals entlang schlendernd. -Jetzt war er fast dem Haus der Frau Cimhuber gegenüber. Jetzt sah er -auf und entdeckte die beiden am Fenster. Sie machten ihm ein Zeichen, -zu warten und beschlossen dann, ihrer Pflegemutter zu sagen, was sie -vorhätten, um sich von ihr zu verabschieden.</p> - -<p>Da ging die Tür auf und sie selbst trat ein, und zwar zum Ausgehen -bereit. Auf ihrem Kopf trug sie einen kleinen Kapothut, der mit langen -Bändern unter dem Kinn gebunden war, und über ihre Schultern hing ein -langer Spitzenüberwurf. „Ich wollte sehen, was ihr treibt,“ begann sie -eintretend. „Ihr müßt nämlich ein paar Stunden allein hier bleiben; -denn Ursel und ich gehen in die Stadt und wollen das Haus von Bekannten -ausschmücken, die von einer Reise zurückkommen. Ihr macht derweil -eure Aufgaben oder schreibt Briefe nach Hause. — Das scheint mir das -Richtigste. — Du, Suse, arbeitest vielleicht auch an einer Handarbeit. -Du hast sicher ein Strickzeug?“</p> - -<p>„Ja, ein Puppenunterröckchen hab’ ich mitgebracht,“ sagte Suse kaum -hörbar.</p> - -<p>„Du nimmst also dein Strickzeug und strickst. Kleine Mädchen dürfen nie -unbeschäftigt dasitzen.“</p> - -<p>Suse nickte.</p> - -<p>„Halt, noch etwas wollte ich sagen,“ meinte die Pfarrfrau, „wenn -es klingelt, so geht ihr hin und macht auf. Es kann sein, daß der -Briefträger kommt.“</p> - -<p>Die beiden konnten fast nicht atmen, so fuhr ihnen der Schreck in die -Glieder. — Nun konnten sie ja gar nicht fort. — Wie verwundete Rehe, -so traurig sahen sie Frau Cimhuber an. Sie aber merkte nichts von ihrer -Niedergeschlagenheit und sagte ganz freundlich: „Lebt wohl, Kinder! -Ihr habt doch verstanden, daß ihr auf das Klingeln achten sollt? Nicht -wahr?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span></p> - -<p>Und damit hatte sie auch schon das Zimmer verlassen.</p> - -<p>Das Geschwisterpaar hörte die Flurtür schlagen, und Frau Cimhuber samt -Ursel von dannen gehen. — Nun war alles aus.</p> - -<p>Suse ließ sich mit gefalteten Händen auf einen Stuhl nieder. Hans -schlich sich zum Fenster und blickte wehmütig hinter den beiden her. -Er sah sie aus dem Hause treten und die Straße kreuzen. In demselben -Augenblick gewahrte er, wie der Vetter, der am Kanal lustwandelte, auch -der Pfarrfrau und ihrer Begleiterin ansichtig wurde und kehrt machte, -als sei ihm ein Schuß in die Glieder gefahren. Weit beugte er sich -über das Geländer des Kanals und stierte lange in das trübe Gewässer. -Endlich, als er annahm, daß sie außer Sicht seien, drehte er sich um, -machte einen Luftsprung und eilte auf das Haus, aus dem sein Vetter -sah, zu, nahm die Treppen im Sturm und klingelte im vierten Stock, daß -es nur so durch die Stuben hallte.</p> - -<p>„Fein, daß ihr da seid,“ meinte er zu seinen kleinen Verwandten. „Jetzt -kann man doch mal mit Muße in eurem Wigwam herumäugen. Wißt ihr, wenn -Frau Cimhuber und ihre Hofdame, der Igel Ursel, da sind, ist’s mir -nicht recht geheuer. Da ist so ein dunkler Punkt zwischen uns. Übel, -übel, sag’ ich euch.“</p> - -<p>Suse errötete tief, denn ihr war plötzlich eine Erzählung von Theobald -eingefallen, wonach ihn Frau Cimhuber einmal mit ihren „spitzen -Krallen“ gepackt und mit „pöbelhaftem Ungestüm“ vor die Tür gesetzt -hatte, weil er ihren Hund, den Karo, auf die linke Hinterpfote getreten -hatte. —</p> - -<p>Der dunkle Punkt vermutlich. —</p> - -<p>Und taktvoll leitete die Base das Gespräch auf andere Dinge.</p> - -<p>„Hast du unsere Negerstube schon gesehen?“ fragte sie mit -geheimnisvoller Stimme.</p> - -<p>„Was soll ich gesehen haben?“ entgegnete er und sperrte den Mund weit -auf.</p> - -<p>„Komm, komm,“ drängte Suse und eilte voraus, den Gang hinunter, um mit -einem strahlenden Ausdruck im Gesicht Frau Cimhubers Negerstube zu -öffnen, als wäre sie ihr ureigenstes Besitztum.</p> - -<p>„Fein, gelt?“ sagte sie, den Vetter erwartungsvoll anblickend. „Sieh -mal die herrlichen Dinge an, Theobald.“</p> - -<p>Der Vetter musterte mit Stirnrunzeln die Prunkstücke des Raums, hatte -sofort den Negergott entdeckt, der grinsend auf seinem Ständer in der -Ecke saß, und ging stracks auf ihn zu.</p> - -<p>Suse klopfte das Herz bei dieser Vermessenheit und sie rief: „Nicht -doch, nicht doch!“</p> - -<p>Theobald aber streichelte dem Götzen zärtlich die Wangen und sein<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span> -schwarzes, aus Holz geschnitztes Haar, als wär’s das Fell eines -Schoßhündchens, und ging dann, ein Liedchen pfeifend, von einem -Gegenstand des Raumes zum andern, als wäre er im Schatten von -Negerschwertern und -messern groß geworden.</p> - -<p>„Ihr wißt natürlich nicht, von wem die Sachen eigentlich sind,“ begann -er schließlich.</p> - -<p>Sie schüttelten ihre Köpfe.</p> - -<p>„Nun, so will ich’s euch sagen. Sie sind nämlich alle von dem Edwin -Cimhuber, das ist der Sohn von eurer Pflegedame. Der ist Missionar in -Afrika bei den Negern und Hottentotten; die bekehrt er.“</p> - -<p>„Was ist er?“ fragte Suse plötzlich lebhaft und aufgeregt, „Missionar? -In den fremden Ländern ist er Missionar? Ist er schon lange dort?</p> - -<p>Kommt er nicht mal? Unser Herr Pfarrer hat uns auch schon von -den Missionaren erzählt, Theobald, und jedesmal hat er uns die -wunderschönsten Bilder gezeigt. Palmenwälder waren drauf und beladene -Kamele, die durch die Wüste wandern. Und das Meer und fremde Vögel und -Affen, die in die Bäume klettern, und alle waren aus Afrika und Asien. -— Und dort lebt der Herr Missionar, Theobald, hast du gesagt?“</p> - -<p>„Ja, und der Herr Edwin ist das Schönste und Beste und Herrlichste, das -es auf der Welt gibt. Wenigstens für die Frau Cimhuber, für mich nicht.“</p> - -<p>Suse war noch ganz in Gedanken und meinte mit einem Male: „Es ist -doch schön, daß wir hier wohnen! Nicht wahr, Theobald? Hier haben wir -richtige ausgestopfte Affen, die der Herr Missionar geschenkt hat, und -vielleicht kommt er selbst einmal. Nicht wahr, Theobald? Möchtest du -nicht auch hier wohnen?“</p> - -<p>„Ich hier wohnen,“ rief der Vetter und auf seinem sonst so -gleichmütigen Gesicht mit der erhabenen Miene malte sich ein ehrlicher -Schrecken...... „Brr!“</p> - -<p>„Ach, weißt du was,“ meinte Suse voll Schonung, „wenn man immer höflich -und artig zu Frau Cimhuber ist, dann passiert einem nichts. Vielleicht -wird sie uns sogar Geschichten von ihrem Sohn aus Afrika erzählen.“</p> - -<p>„Ein Glück, daß ich die nicht zu hören brauche,“ fiel Theobald ein. -„Gott sei Dank! Überhaupt, das will ich euch sagen, ihr braucht euch -gar nicht so gräßlich viel auf die Sachen hier einzubilden. Da sind -wir hier in der Stadt doch an ganz andere Dinge gewöhnt. Wenn wir -jetzt zum Beispiel zu unserem Onkel Gustav gehen, da werdet ihr mal -was erleben. Der hat Tiere, wie ihr sie haben wollt; die schönsten und -die wildesten, mit und ohne Gerippe, mit und ohne Haut, mit und ohne -Federn. Ganz nach Wunsch. —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span></p> - -<p>Und schwarze Dienerinnen hat er, die haben Lippen, wie aufgeplatzte -Rotwürste. —</p> - -<p>Aber hopp,“ unterbrach er seinen eigenen Redeschwall, „wir haben jetzt -keine Zeit zu verlieren, macht euch fertig.“</p> - -<p>Suse warf Hans einen betrübten Blick zu und sagte dann ängstlich: „Wir -müssen ja hier bleiben, Theobald, und die Tür aufmachen, wenn einer -kommt.“</p> - -<p>Der Vetter graulte sich hinter den Ohren und überlegte.</p> - -<p>„Wißt ihr, was wir machen?“ rief er plötzlich. „Einer von euch kommt -mit, der andere bleibt hier.“</p> - -<p>Suse fing einen wehmütig bittenden Blick ihres Bruders auf, kämpfte -einen schweren Kampf und sagte schließlich: „Hans, geh’ du nur hin, ich -bleib hier. Du möchtest dir ja so gern die Autos ansehen, ich frage -nicht soviel danach wie du.“</p> - -<p>Des Bruders Gesicht erhellte sich, und er sagte leuchtenden Auges: „Ich -komme auch recht bald wieder, Suse! In einer Stunde bin ich wieder da.“</p> - -<p>„Ja, tu das,“ entgegnete sie.</p> - -<p>Und da rannten die Knaben auch schon davon.</p> - -<p>Sie horchte hinter ihnen her, wie sie die Treppe hinuntereilten, und -wollte hierauf in ihr Stübchen gehen. Aber wie von unsichtbaren Händen -gezogen, mußte sie sich der Negerstube zuwenden.</p> - -<p>Langsam kam sie näher und stand lange unschlüssig davor. Zögernd legte -sie die Hand auf die Türklinke und wollte sie niederdrücken. Da fuhr -die Tür von selbst weit auf, und sie befand sich mit einemmal frei und -ungeschützt dem Negergott gegenüber. Grinsend sah der Götze sie an. Wie -erstarrt schaute sie nieder. Da klirrte ein Negerschwert leise, ein -großer ausgestopfter Affe knurrte und der Negergott grunzte. —</p> - -<p>Hm... Hm... Ho... Ho... Ha... H... klang es irgendwo.</p> - -<p>Suse stieß einen Schrei aus und stürzte den Gang hinunter in ihr Zimmer -zurück. Dort riegelte sie sich ein. Die Tränen liefen ihr über das -Gesicht.</p> - -<p>Suse fürchtete sich fast zu Tode.</p> - -<p>„Ach, Hans, wärst du doch hier geblieben,“ weinte sie vor sich hin. -„Ach, lieber Gott, verlaß mich nicht. Mach doch, daß Hans kommt.“</p> - -<p>Ängstlich, wie nach Hilfe suchend, flogen ihre Blicke durch die Stube. -Da sah sie plötzlich wie gebannt auf die Kommode, wo die Bilder ihrer -Eltern standen, sowie die Rosels, ihrer Magd, und Christines, der -alten Kinderfrau von daheim. Beruhigend und tröstend sahen die guten, -freundlichen Gesichter zu ihr herüber.</p> - -<p>„Sei nur still, liebes Kind, sei nur still,“ schienen sie zu sagen, -„wir sind ja bei dir.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span></p> - -<p>Da drückte sie ein Bild nach dem andern zärtlich an sich und fühlte, -wie ihr’s viel leichter, viel wohler ums Herz wurde. Zu guter Letzt -fielen ihre Augen noch auf einen ganz besonderen Tröster.</p> - -<p>Dort stand Michel, der Gefährte ihrer Jugend, ein Jagdhund, und -blickte kühn wie ein Eroberer hinter Glas und Rahmen hervor. Seine -klugen Augen blitzten auf dem Bilde, seine Schnauzbarthaare spreizten -sich keck, sein Schwanz stand wagerecht ab wie ein Lineal. Mit einem -solchen Freund im Bunde brauchte man selbst den Negergott nicht mehr zu -fürchten!</p> - -<p>Vorsichtig trug Suse all ihre Schätze auf den Tisch und baute nun -eine Art Schutz- und Trutzburg von ihnen auf, hinter die sie sich zu -verstecken und einen Brief nach Hause zu schreiben gedachte.</p> - -<p>Allerlei Andenken von daheim vervollständigten noch ihre Festung: -ein Briefbeschwerer, den ein Freund von Hans mit Namen Martin, ein -armer, verkrüppelter Knabe, ihnen am Tage vor ihrer Abreise mit -glückstrahlenden Augen gebracht hatte.</p> - -<p>Das Geschenk stellte eine Kugel dar, die auf einer Alabasterplatte -ruhte, und zeigte in seinem Innern „die heilige Nacht“ in bunten -Figuren. Maria und Joseph saßen, von Schneegestöber umhüllt, vor der -Krippe und beteten das Christkind an.</p> - -<p>Nachdem Suse das Geschenk ein Weilchen zärtlich betrachtet hatte, legte -sie es auf den Tisch nieder und reihte an seine Seite ein Andenken von -Christine, einen Wachsengel in einer Pappschachtel, der zwischen lauter -Papierblumen wie ein blankes, reingewaschenes Badepüppchen hinter -einer Glasscheibe hervorsah. — Lange Jahre hindurch war dies ärmliche -Kunstwerk Christines Heiligtum gewesen und von ihr bewundert, gehütet -und gepflegt worden. Jetzt gehörte es Hans und Suse. Auch zwei Federn -von Babette Buntrock, dem Lieblingshuhn der Doktorskinder, wurden -zu den Andenken gelegt. Dann rückte sich das kleine Mädchen einen -Rohrstuhl an den Tisch und begann zu schreiben:</p> - -<p class="mleft3">„Liebe, liebe Mutter, lieber, lieber Vater!</p> - -<p>Ich muß immer an Euch und Michel und Christine und an alle, alle -denken. Es ist wunderschön hier. Ach, wäret ihr nur hier! Ist -Christines Ziege wieder besser? Ich bin allein hier, und der Hans -ist fort und besucht den Onkel Gustav. Oh, wie hab’ ich mich -gefürchtet heute morgen, wie ich in die Schule bin. In der Schule -lerne ich nichts. Die Kinder sind alle viel klüger als wir, und viele -Lehrerinnen gibt’s hier. Frau Cimhubers Sohn ist in Afrika, dort ist es -wunderschön. Aber ich möchte, ich wär daheim.“</p> - -<p>Zu diesem Brief brauchte Suse vielleicht anderthalb Stunden; denn fast -nach jedem Wort machte sie lange Pausen, kaute an ihrer Feder<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span> oder -trocknete umständlich ihre Tränen ab, die immer wieder auf das Papier -tropften.</p> - -<p>Zuletzt wußte sie nicht mehr was schreiben, schob ihr Papier zur -Seite und holte ihr Puppenunterröckchen hervor, um ein wenig daran zu -arbeiten, wie Frau Cimhuber ihr ja befohlen hatte.</p> - -<p>Aber es wollte nicht so recht mit der Arbeit vorwärts gehen, denn das -Kind mußte immerwährend an seinen Bruder Hans denken.</p> - -<p>Wenn er nun nicht zur rechten Zeit nach Hause käme? Was dann?</p> - -<p>Da klingelte es. Suse flog zur Tür. „Hans, Hans!“ rief sie. Aber -als sie öffnete, stand niemand anders vor ihr als Ursel, und zwar -anscheinend in großer Aufregung.</p> - -<p>Suse zitterte wie Espenlaub. Sie glaubte bestimmt, die Magd habe Hans -irgendwo auf der Straße mit Theobald gesehen und wolle nun nachsehen, -ob sie sich nicht getäuscht habe.</p> - -<p>Forschend richtete die alte Magd jetzt ihre Augen auf Suse und fragte -barsch: „Warum hast du geweint. Hast du dich mit Hans gezankt?“</p> - -<p>Suse schüttelte den Kopf. „Warum hast du geweint?“ fragte Ursel noch -einmal.</p> - -<p>„Ich hab’ nach Hause geschrieben und da hab’ ich weinen müssen,“ -flüsterte Suse.</p> - -<p>„Dummes Zeug,“ murmelte Ursel und ging kopfschüttelnd in die Küche, um -Hans und Suse den Kaffee zu wärmen und einige Stücke Brot zu schneiden. -Sie glaubte, beide Geschwister seien zu Hause.</p> - -<p>„Darf ich den Kaffeetisch decken?“ fragte Suse schüchtern und zitterte -für den Bruder. Die alte Magd nickte.</p> - -<p>Das kleine Mädchen holte geschäftig Tassen, Unterschälchen, Zuckerdose -und Milchtöpfchen aus dem Schrank, stellte sie schön ordentlich auf -ein Servierbrett und wollte damit in die Stube gehen. Da klingelte es -wieder.</p> - -<p>Hu, wie fuhren da die Tassen und Unterschälchen durcheinander und -rasselten und klirrten! Ums Haar wären sie auf dem Boden gelegen. -Schnell stellte Suse sie zur Seite, eilte zur Tür hinaus und den Gang -hinunter, während ihr die Zöpfe hinterherflogen, wie einem Kellner die -Rockschöße und die Serviette.</p> - -<p>„Halt!“ rief Ursel. „Was läufst du so? Wo willst du hin? Halt! Halt!“</p> - -<p>Aber das kleine Mädchen war schon an der Flurtür, öffnete, und rannte -dem Briefträger stracks in die Arme.</p> - -<p>„Scht, scht,“ mahnte dieser, „nur nicht so stürmisch. Ich hab’ einen -Brief an Frau Cimhuber.“</p> - -<p>Ursel sah auf das Schreiben in des Postboten Hand und erkannte die<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span> -fremde Marke und eine vertraute Schrift. „Danke, danke,“ sagte sie -zitternd.</p> - -<p>„Er ist von Herrn Edwin,“ fuhr sie fort, das Schreiben um und um -wendend. „Da wird sich Frau Cimhuber freuen. Darauf warten wir schon -lange. Großer Gott, wir danken dir, du verläßt uns nicht. — Gleich, -gleich will ich jetzt zu der Frau Pfarrer gehen und ihr den Brief -bringen. Sie wird so froh sein. Sie wird überglücklich sein.“</p> - -<p>Und Suse sah mit Verwunderung, wie der alten Frau die Tränen in die -Augen traten und die Röte der Erregung die Nasenspitze leuchtend -färbte. Und wie sie dann ihre Küchenschürze hastig gegen ihre -baumwollene schwarze Staatsschürze umtauschte, indem sie eifrig sagte: -„Eßt, liebe Kinder, und trinkt euren Kaffee, und seid nicht ungeduldig, -daß wir euch allein lassen. Wartet noch ein Weilchen, wir sind bald -wieder da. Lebt wohl, lebt wohl.“</p> - -<p>Das Kind blickte nur immer nach Ursels Augen, die so hell strahlten wie -Lichter, während sie doch noch vor kurzem so düster, so unfreundlich -dreingesehen hatten.</p> - -<p>„Sie sind froh, gelt, Ursel?“ fragte das kleine Mädchen, als sie der -alten Magd das Geleite zur Tür gab.</p> - -<p>„Ja, wir sind froh, Frau Cimhuber und ich sind sehr froh. Wir hatten so -Angst um das arme, arme Kind. Was hat der Herr Edwin alles in Afrika -auszustehen! Ich werde euch einmal davon erzählen, wenn ich Zeit habe.“</p> - -<p>„Danke, danke,“ rief Suse, und ihr Herz klopfte bei der schönen -Aussicht auf die künftigen Erzählungen.</p> - -<p>Als Ursel gegangen war, kam dem Doktorskind aber gleich wieder der -Gedanke an den abwesenden Bruder, und sie zitterte vor Angst. Wenn -Frau Cimhuber wiederkehrte, und er wäre noch nicht da, so würde es -ihm schlecht ergehen. Suse lehnte sich aus dem Fenster und spähte -die Straße hinunter, ob er noch nicht komme. Die Tür ließ sie -sperrangelweit hinter sich offen, und der Götze hätte jetzt bequem -hereinkommen und Suse ein wenig zwicken können, wenn er der Unhold -gewesen wäre, als den sie ihn erkannt hatte.</p> - -<p>„Wenn Hans doch nur käme, wenn Hans doch nur käme, ach, wenn Hans doch -nur käme,“ sagte sie in Gedanken immer wieder vor sich hin.</p> - -<p>Eine Stunde wollte er ja nur fortbleiben! Wenn er doch nur käme! Bald -würden Frau Cimhuber und Ursel wiederkommen, dann wär’ er nicht da, und -dann....</p> - -<p>Da sah sie ihn am Kanal entlang laufen. Nun erblickte auch er seine -Schwester am Fenster und winkte zu ihr hinauf. Gleich darauf war er bei -ihr.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span></p> - -<p>„Oh, Suse, wie schön war es! Was hab’ ich alles gesehen!“ rief er mit -fliegendem Atem.</p> - -<p>„Da war ein großes Schloß. Und den Schuppen mit den Automobilen haben -wir uns besonders angesehen, und die schwarzen Dienerinnen hab’ ich -auch gesehen. Und einen Pfau mit wundervollen Augen im Schwanz.“</p> - -<p>„Ach, wär’ ich doch auch mitgegangen,“ sagte Suse schmerzlich.</p> - -<p>„Sei nicht traurig,“ tröstete er, „ein andermal gehst du auch mit.“ -Und hastig fuhr er fort: „Und von den Automobilen weiß ich jetzt -noch besser Bescheid als heute morgen. Der Herr Willy, das ist der -Chauffeur, der hat Theobald alles genau erklärt, und ich habe zugehört.“</p> - -<p>Suse zuckte ungeduldig die Achseln. Der Kraftwagen und seine -Bestandteile ließen sie kalt.</p> - -<p>Aber gespannter hörte sie wieder zu, als er fortfuhr: „Und gefürchtet -haben wir uns, Suse, gefürchtet, einfach schrecklich.“</p> - -<p>„Siehst du, siehst du,“ triumphierte Suse, „was ist denn wieder mal -passiert? Gelt, das Auto hat wieder einmal gebrüllt?“</p> - -<p>„Nein, nein, ich mein’ ja was ganz anderes. Hör’, was ich dir -erzähle. Wie wir uns so das Automobil angucken, da kommt, oh, es war -schrecklich! da kommt, denke dir, da kommt...“</p> - -<p>„So sprich doch, Hans!“</p> - -<p>„Da kommt sie.....“</p> - -<p>„Welche sie, Hans?“</p> - -<p>„Ei, die Frau von Onkel Gustav.“</p> - -<p>„Bloß die Frau von Onkel Gustav,“ sagte Suse enttäuscht. „Hast du ihr -denn guten Tag gesagt, Hans?“</p> - -<p>„Oh, was glaubst du denn,“ wehrte er entrüstet, „das trau ich doch -nicht.“</p> - -<p>„Aber, Hans, vor der Dame hast du noch nicht einmal den Hut abgenommen, -und weißt doch, daß wir immer guten Tag sagen sollen, wenn wir irgendwo -hinkommen. Das haben doch der Vater und die Mutter uns befohlen.“</p> - -<p>„Das weiß ich wohl, aber der trau ich doch nicht guten Tag sagen.“</p> - -<p>„Warum denn nicht?“</p> - -<p>„Oh, sie ist eine gräßliche Rippe,“ hat Theobald gesagt, „und böse wie -ein Tiger.“</p> - -<p>Suse schauderte es.</p> - -<p>„Ist sie auch eine Negerin?“ forschte sie atemlos. „Vielleicht stammt -sie von den Menschenfressern ab, und da hat Onkel Gustav sie in den -fremden Ländern geheiratet. Es könnte schon sein. Gelt Hans?“</p> - -<p>„Das weiß ich nicht.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span></p> - -<p>„Wie sieht sie denn aus?“</p> - -<p>„Das weiß ich auch nicht.“</p> - -<p>„Hast du sie denn gar nicht gesehen?“</p> - -<p>„Nein, mit einemmal hat Theobald gerufen: ‚Da kommt sie!‘ und da hab’ -ich gar nichts mehr gesehen und gehört. Und da hat Theobald die Tür von -dem Automobil aufgerissen und ist mit beiden Füßen hineingesprungen, -und ich bin hinterdrein und hab’ die Tür zugeschlagen. Und da haben wir -uns beide unter die Bänke geworfen. Der Theobald ist mitten auf meinen -Kopf gelegen. Ich hab’ gemeint, ich ersticke. Und mit einemmal legt -sich eine Hand auf die Tür, und denke dir, da wollte sie reingucken. -Aber der Herr Chauffeur hat ihr schnell was vom Onkel Gustav gesagt, -und da hat sie die Tür wieder fahren lassen. — Denke dir, wenn sie -reingekommen wäre und auf unsere Köpfe getreten hätte!“</p> - -<p>„Die hätte euch tot getreten,“ sagte Suse, die ihre Tante sofort als -ein gräßliches Ungeheuer erkannt hatte.</p> - -<p>„Erzähl’ mir noch mehr von der gräßlichen Frau, Hans,“ drängte sie, -„bitte, bitte.“ —</p> - -<p>Schauerliche Dinge erleben mochte Suse beileibe nicht, aber sie -anzuhören, war ihr nicht unangenehm. „Am Ende frißt sie wirklich -Menschen,“ sagte sie, sich fester an den Bruder anschmiegend, mit dem -sie Hand in Hand auf dem Sofa in ihrem Stübchen saß. „Erzähl’ weiter.“</p> - -<p>„Ich weiß nichts mehr von ihr. Gesehen hab’ ich sie nicht.“</p> - -<p>„Dann erzähl’ mir noch, bitte, von dem herrlichen Schloß in dem Garten.“</p> - -<p>„Ich hab’ einmal von der Veranda in das Zimmer geguckt und schöne -Sachen drin gesehen.“</p> - -<p>„Und die ausgestopften Tiere? Die waren nirgends, Hans?“</p> - -<p>„Ich hab’ sie nicht gesehen.“</p> - -<p>„Ach, Hans, wann kommen wir mal hin?“</p> - -<p>„Oh, bald, bald, der Onkel Gustav will, daß wir oft kommen, hat -Theobald gesagt. Er will, daß unsere guten Manieren und unser deutsches -Gemüt auf seine Kaffern abfärbe. — Die Kaffern sind nämlich seine -Kinder.“</p> - -<p>So fuhr Hans noch lange eifrig fort, Suse ein merkwürdiges Licht über -die neue Verwandtschaft aufzustecken. Erst als es Zeit zum Abendessen -war, beendete er seine Erzählung und ging mit Suse zu Frau Cimhuber -hinüber.</p> - -<p>„Hans,“ ermahnte ihn seine kleine Schwester unterwegs, „wir müssen -sagen, was wir heute nachmittag gemacht haben, wo du gewesen bist; denn -wenn Frau Cimhuber erfährt, daß du fortgelaufen bist, und es ihr nicht -erzählt hast, denkt sie, wir wollen sie belügen.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span></p> - -<p>„Ja, ja,“ sagte Hans, „das will ich tun.“</p> - -<p>Aber als sie bei Tisch saßen und er davon anfangen wollte, begann Frau -Cimhuber von der Familie zu erzählen, die sie heute nachmittag besucht -hatte, und deren artigen Kindern.</p> - -<p>Endlich, als sie einmal eine Pause machte, sprach Suse ihrem Bruder -unter dem Tisch durch heftige Stöße Mut zu, und er begann stockend: -„Frau Pfarrer, ich bin... Frau Pfarrer, ich bin heute nachmittag...“</p> - -<p>Da unterbrach ihn die Pfarrfrau mit den Worten: „Kinder, ihr müßt euch -daran gewöhnen, Erwachsene nicht durch eure Reden zu unterbrechen. Ihr -müßt immer erst dann reden, wenn man euch etwas fragt.“</p> - -<p>Und diese Worte der Pfarrfrau schüchterten die Kinder so ein, daß sie -ihr gute Nacht boten, ohne ihr ein Wort von dem zu sagen, was sie heute -nachmittag erlebt hatten.</p> - -<p>„Ich fürchte mich vor der Schule morgen,“ flüsterte Suse, als sie -allein mit ihrem Bruder war.</p> - -<p>„Das mußt du nicht,“ meinte er, „denk nicht dran! Ich denk auch nicht -dran.“</p> - -<p>Und in der Absicht, sie auf andere Gedanken zu bringen, fuhr er mit -geheimnisvoller Stimme fort: „Laß uns aus dem Fenster sehen, jetzt -springen vielleicht auf dem Dach wieder die herrlichen Buchstaben herum -wie gestern abend.“</p> - -<p>„Ja, ja, du hast recht,“ sagte die Schwester und machte sich schnell -fertig, um mit ihrem Bruder an das Fenster zu treten und die nächtliche -Stadt zu betrachten. Wie Tausende von Leuchtkäfern funkelten dort die -Lichter aus dem Dunkel auf, wie schillernde Schlangen glitten die -Elektrischen am Kanal entlang, und aus den engen Straßen kamen die -Menschen als vermummte Gestalten ans Licht. Und pünktlich, wie der -Mond und die Sterne daheim über dem Nußbaum im Hofe der Doktorskinder, -erschienen auf dem Dach des hohen Hauses jenseits des Kanals die -leuchtenden Buchstaben, deren Sinn Hans und Suse nicht erkunden -konnten. Ein Buchstabe nach dem andern blitzte auf und lief über den -Dachfirst. Leuchtend standen dort ein paar Worte und erloschen wieder, -um nach einigen Sekunden in neuem Glanz zu erstehen.</p> - -<p>„Wie schön, wie schön,“ sagte Hans leise.</p> - -<p>Suse aber faltete die Hände und wiederholte die Worte von heute -morgen: „Ach, wenn doch daheim auf unserem Dach auch mit einemmal -solche herrliche Buchstaben herumsprängen! Der Vater und die Mutter, -die würden sich gewiß freuen, gelt Hans? Die Buchstaben sind doch das -aller-, allerschönste hier! Wenn die nicht wären, dann wär’ es so -häßlich wie nirgends sonst auf der Welt!“</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span></p> - -<h2 class="left" id="Zweites_Kapitel">Zweites Kapitel.<br /> - -<b class="s4 mleft2">Die Flucht</b></h2> - -</div> - -<p class="p0"><span class="initial">F</span>ür den Sonntagnachmittag waren Hans und Suse bei Onkel Sepp und -Tante Hedi, Theobalds Eltern, eingeladen. Aber im letzten Augenblick -wurde die Einladung zurückgenommen, und die Geschwister mußten daheim -bleiben. Ihre Vettern und Basen durften an dem Tag keinen Besuch -empfangen; es waren eben unverbesserliche Sausewinde, die nichts wie -tolle Streiche verübten, für welche sie dann büßen mußten. Diesmal -handelte es sich um eine recht dunkle Sache, von der Theobald nur in -unklaren Andeutungen sprach. Danach war eine Papiertüte voll Wasser -zufällig von der Gartenmauer seines Vaterhauses gefallen, einer -vorübergehenden Marktfrau auf den Kopf und dort geplatzt, worauf die -Frau vor Schreck sich mitten auf der Straße niedergelassen hatte.</p> - -<p>Und für diesen harmlosen Vorfall, an dem nach Theobalds Ausspruch kein -Mensch Schuld hatte, waren Onkel Sepps Kinder hart bestraft worden und -hatten heute Stubenarrest.</p> - -<p>So waren Hans und Suse denn auf sich allein angewiesen. — Frau -Cimhuber war ausgegangen und hatte den Kindern versprochen, sie gegen -Abend zu einem Spaziergang abzuholen. Ursel hatte sich in die Küche -zurückgezogen, denn sie litt noch immer an starkem Zahnweh, und auf -ihrem vermummten Kopf standen die Zipfel ihres Tuches steil aufrecht -wie zwei Hasenohren.</p> - -<p>Die ganzen letzten Tage hatte sie zwar versprochen, den Kindern heute -Missionarsgeschichten zu erzählen; aber nun, da es so weit war, warf -sie Blicke um sich wie der Drache in der Höhle, und die Kinder mieden -sie ängstlich.</p> - -<p>Die meiste Zeit des Nachmittags verbrachten sie in ihrem Zimmer, wo -Suse in eine immer gedrücktere Stimmung verfiel. Sie hielt einen Brief -ihrer Mutter in Händen, den sie heute morgen erhalten hatte und in dem -sie immer wieder las.</p> - -<p>„Mein liebes Kind,“ stand in dem Brief geschrieben, „die Veilchen -blühen noch immer und tragen viele Knospen und Rosel begießt sie -täglich und schaut nach ihnen. Die Sonne scheint jetzt schon so wohlig -und warm im Garten, und alles beginnt zu blühen und zu grünen. Minnette -hab’ ich ihr Glöckchen weggenommen, das Du ihr zum Abschied umgebunden -hast, und beiseite gelegt, weil es sie belästigte; aber wenn Du -wiederkommst, darfst Du es wieder hervorholen und ihr umbinden, liebes -Kind. Michel liegt in der Sonne auf der Hoftreppe und grollt<span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span> mit uns, -wie Euer Vater sagt, weil wir Euch fortgehen ließen, und nun läßt er -seinen Zorn an den Hühnern und Katzen der Nachbarschaft aus und beißt -und schüttelt sie, wo er nur kann. Zur Strafe soll er mal wieder für -einige Zeit zum Förster in die Nachbarschaft kommen, damit er sich -wieder bessere Manieren angewöhnt. Christine und Rosel sprechen immerzu -von Euch und haben sich heute wunderbare Briefbogen mit Vergißmeinnicht -und verschlungenen Händen gekauft, und nun wollen sie Euch Briefe -schreiben. Christine wird ihren Rosel diktieren. Auch Eure Freunde und -Freundinnen waren schon da und haben nach Euch gefragt.“</p> - -<p>Schließlich stand Suse auf, ging ans Fenster, drückte ihr Gesicht gegen -die Scheiben und sah hinunter auf den Kanal, der heute frei von Kähnen -war. Auch die Straßen waren weniger belebt als sonst. Die Menschen -waren wohl hinausgewandert in das Freie, wo der Sonnenschein über -Feldern und Wiesen lachte.</p> - -<p>Nur hoch oben an der blauen Himmelsdecke, da ging es lustig her. Da -flogen die munteren, kleinen Federwölkchen vorüber, die Suse so gern -hatte. Sie glänzten wie schimmernder Atlas und flatterten und wehten -wie weiße Tüchlein, die unsichtbare Hände schwenken.</p> - -<p>„Komm mit, komm mit,“ schienen sie zu rufen. — Sie wanderten weiter, -immer weiter, bis sie zu den Bergen von Susens Heimat kamen. Noch heute -trafen sie dort ein. Das kleine Mädchen spürte es so deutlich, so klar. -Dann sahen sie in den Doktorsgarten, wo die Blumen blühten und die -Büsche grünten, wo an der Mauer der Schlehdorn schneeig schimmerte, -wo vor der Tür Minnette saß und im Hof Michel sich sonnte. Und in das -gemütliche Wohnzimmer schauten sie, wo der Vater und die Mutter am -Kaffeetisch saßen und miteinander redeten.</p> - -<p>„Wie schön ist es heute, wir wollen durch den Garten gehen,“ sagte die -Mutter. „Komm, Hermann. Was wohl unsere lieben Kinder heute treiben?“</p> - -<p>Und Suse hörte genau die Stimme ihrer Mutter.</p> - -<p>Da räusperte sich Hans, und sie fuhr herum und zeigte ein verweintes -Gesicht. Er schaute sie erschrocken an. Und da begann sie auch schon -von Tränen überströmt: „Jetzt will ich dir auch sagen, Hans, was ich -schon immer gedacht habe. Wir wollen fort von hier, nach Hause.“</p> - -<p>Der Knabe fuhr zusammen und wiederholte langsam: „Nach Hause?“</p> - -<p>„Ja, Hans!“</p> - -<p>„Aber, Suse, wir sind ja eigens hierher gekommen in die Stadt, damit -wir was lernen, und jetzt wollen wir schon wieder fort?“</p> - -<p>„Ei, Hans, wir können ja in eine andere Stadt gehen, wo’s viel schöner -ist. Es gibt ja noch viele Städte.“</p> - -<p>„Nein, Suse, der Vater und die Mutter haben gesagt, sie haben sich<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span> -lange bedacht, warum sie uns gerade in diese Stadt schicken. Sie -wollen, daß wir uns an fremde Menschen gewöhnen und hier bleiben und -was lernen. Und jetzt sind wir hier, und jetzt bleiben wir hier.“</p> - -<p>„Dann sterb’ ich, Hans. Ich hab’ immer so Weh hier...“ Und das kleine -Mädchen zeigte weinend auf sein Herz.</p> - -<p>„Sieh, hier, Hans, und essen mag ich auch nichts mehr, es drückt mich -immer im Hals und ich kann nicht schlucken. Du wirst sehen, ich sterbe. -Ich habe schon immer gebetet, daß der liebe Gott macht, daß wir wieder -nach Hause kommen, sonst sterb’ ich.“</p> - -<p>„Bald sind ja Ferien, Suse!“</p> - -<p>„Dann bin ich schon tot. Ich will fort, ich will fort!“</p> - -<p>Und Suse drückte weinend beide Handrücken vor die Augen und wiederholte -immer wieder: „Ich hab’ so Weh hier, Hans, ich hab’ so Weh hier! Ich -will fort!“</p> - -<p>Dem Bruder wurde es angst und bange. Er suchte nach Trostesworten und -fand keine.</p> - -<p>Seine kleine Schwester aber fuhr immer trauriger fort: „Ich mag auch -nicht mehr in der Elektrischen fahren. — Und die hellen Buchstaben -find’ ich auch nicht mehr schön. Ich mag nichts mehr. Kein Kind will -mit mir spielen. Alle haben sie Freundinnen, nur ich nicht. Und Frau -Cimhuber hat uns auch nicht lieb, und Ursel erst recht nicht.“</p> - -<p>Hier schluchzte sie laut auf.</p> - -<p>Dann sagte sie wieder leise vor sich hin: „Wir wollen fort, wir wollen -fort. Ich will zum Vater und zur Mutter und zu den Kindern, die mich -lieb haben.“</p> - -<p>„Aber, Suse, was wollen wir denn machen?“ fragte Hans in größter -Aufregung. „Frau Cimhuber läßt uns ja nicht fort!“</p> - -<p>„Sie braucht es ja nicht zu wissen, daß wir fort wollen, Hans! Wir -schleichen uns ganz in der Frühe fort, wenn alle noch schlafen.“</p> - -<p>„Und unsere Sachen, Suse?“</p> - -<p>„Die ziehen wir alle übereinander an. Du ziehst vier Hosen und -vier Hemden an und zwei Anzüge, und ich auch; meine zwei schönen -Sonntagskleider leg ich fein ordentlich in eine Pappschachtel, und -deinen Matrosenanzug auch. Das trägst du dann an einer Schnur. -Ich nehme das andere; die Geburt Christi und den Engel und die -Taschentücher und Strümpfe, alles, alles in der Hirschtasche.“</p> - -<p>„Nein, Suse, das geht nicht. Das dürfen wir nicht. Wir sind hier und -wir bleiben hier. Und es ist auch schön hier.“</p> - -<p>„Schön?“ fragte Suse ganz entgeistert. „Aber, Hans, das glaubst du -doch selbst nicht! — Weißt du, Hans,“ fuhr sie flüsternd fort, -„nachts träum’ ich immer, der Negergott springt mit einem von den -vielen<span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span> Negermessern hinter uns her, drei Schritte vorwärts und einen -zurück, und dazu ruft er: Halloh! Halloh! wo steckt ihr? — Und eines -Nachts ist er wirklich an unsere Tür gekommen. Ich hab’ ihn deutlich -schleichen hören. Und dann hat er leise, erst wie ein Neger, dann -deutsch gesagt: ich krieg euch doch. — Wartet nur, brr... hu... hu...“</p> - -<p>„Dummes Zeug,“ wehrte Hans. „So was Dummes brauchst du nicht zu -träumen. Du weißt ja, er ist aus Holz. Und nun paß mal auf. Ich gehe -jetzt in die Negerstube und hol’ ihn von dem Ständer herab. Dann sollst -du ihn selbst mal anfassen.“</p> - -<p>„Nein, nein,“ rief Suse. „Er tötet uns.“</p> - -<p>„Er denkt nicht dran. Er ist ja der rechte Ölgötze. Das hat auch -Theobald gesagt.“</p> - -<p>Und nach diesen Worten ging Hans stolz, hoch erhobenen Hauptes zur -Tür hinaus, dem Staatsgemach der Frau Cimhuber zu und trat ein. -Erwartungsvoll sah ihn der Götze daherschreiten.</p> - -<p>„Er guckt, er guckt,“ rief Suse.</p> - -<p>„Darf er ruhig,“ meinte Hans, räusperte sich, ging stracks auf das -Ungeheuer zu, klopfte ihm ein paarmal auf den hölzernen Lockenkopf und -packte dann mit festem Griffe zu. Die Figur wog schwer wie Blei. Und -Hans hatte Mühe, sie auf seine Schulter zu heben, und trug sie dann mit -eingeknickten Knien wie ein alter Mann hinter Suse her, die sich aus -Angst vor dem Ungeheuer langsam immer weiter zurückzog.</p> - -<p>„Wart’ doch, wart’ doch!“ rief er.</p> - -<p>Fast war er bei der Schwester, da fiel plötzlich mit Getöse ein -Negerschwert von der Wand herunter.</p> - -<p>Hans glaubte, die Decke stürze ein, sperrte vor Schrecken die Arme weit -auf und ließ den Negergott auf den Teppich plumpsen. Er stand Kopf und -schlug dann krachend einen Purzelbaum.</p> - -<p>„Der Götze, der Götze,“ schrie Suse, sprang in die Höhe wie eine -Heuschrecke und glaubte, er käme hinter ihr hergerutscht und packe sie -am Bein. Wenn er sie plötzlich festgehalten, hätte sie es gar nicht -verwundert.</p> - -<p>„Der Götze, der Götze!“ rief sie noch einmal.</p> - -<p>Da kam Ursel herbei, erblickte die Figur, die mitten im Zimmer auf dem -Rücken lag, und stürmte drauf zu.</p> - -<p>„Der Götze, der Götze,“ rief sie. Sie kniete daneben nieder, wendete -ihn um und um wie ein Wickelkind, und entdeckte den Spalt in seinem -Kopf. Dann jammerte sie: „Jetzt ist er kaput! Da liegt er nun, der -treue Götze. Wer hat euch denn geheißen, ihn von seinem Platz herunter -zu holen,“ brauste sie auf. „Müßt ihr alles anfassen, was ihr seht? -Natürlich hattet ihr keine Ruh’, bis er kaput war.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span></p> - -<div class="figcenter"> - <a id="p039" name="p039"> - <img class="mtop2 mbot2" src="images/p039.jpg" - alt="Fall des Götzen" /></a> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span></p> - -<p>„Frau Cimhuber wird böse sein,“ stotterte Hans.</p> - -<p>„Vielleicht nicht?“ brauste Ursel auf. „Soll sie vielleicht Zuckerkind -zu dir sagen und dir einen Kuchen backen zur Belohnung, weil du den -Götzen kaput gemacht hast!“</p> - -<p>„Nein, das möcht ich nicht,“ sagte Hans noch verwirrter als bislang. -„Der Götze ist ja von dem Herrn Missionar, nicht wahr?“</p> - -<p>„Von wem denn sonst, vielleicht von einem Zwetschenbaum? Meinst du, -solche fremdländischen Figuren wachsen hier auf Bäumen, und wir holen -sie uns herunter?“</p> - -<p>„Nein... nein..., ich weiß ja, daß er aus Afrika ist,“ sagte Hans -schüchtern. „Frau Cimhuber hat’s ja gesagt.“</p> - -<p>„Jetzt fort mit euch ungezogenen Kindern!“ fuhr Ursel die Pechvögel an. -„Ihr könnt nichts, wie Dummheiten machen.“</p> - -<p>Und die beiden verließen gesenkten Hauptes die Negerstube und wußten -nicht wohin sehen vor Beschämung.</p> - -<p>Es verging geraume Zeit, dann hörten sie, wie die Pfarrfrau -wiederkehrte, mit Ursel redete und von ihr in die Negerstube geführt -wurde.</p> - -<p>Sie lauschten atemlos.</p> - -<p>„Jetzt weiß sie’s,“ flüsterte Suse.</p> - -<p>Hans fuhr zusammen und saß blaß und regungslos in der Ecke und -erwartete jede Minute, Frau Cimhuber werde mit dem Götzen auf dem Arm -hereinkommen und ihn zur Rede stellen.</p> - -<p>Aber sie kam nicht, und auch später, als die Kinder mit ihr beim -Abendessen zusammentrafen, machte sie ihnen keine Vorwürfe. Sie sah -nur still vor sich nieder. Da konnte Hans schließlich ihren stummen -Anblick nicht mehr ertragen, und er sagte leise und beklommen: „Frau -Pfarrer,... Frau Pfarrer...“ Dreimal schluckte er trocken runter, dann -begann er wieder: „Ich bitte Sie um Entschuldigung wegen dem Götzen, -Frau Pfarrer. — Er — ist so rutschig und glitschig wie ein Fisch. Er -ist mir aus den Armen gefallen. — Ich glaub’ — ich mein’ —,“ fuhr -er stotternd fort, „wenn Sie erlauben, Frau Pfarrer, mein’ ich, möcht’ -ich Ihnen einen neuen Gott schenken. Ich könnte Ihnen einen schnitzen -lassen. Ich habe einen Freund Martin, der schnitzt sehr schön, der -könnte Ihnen einen neuen schnitzen. Meiner Mutter hat er einen -Nähkasten geschnitzt. Spazierstöcke kann er auch machen. Der würde -sicher einen schönen Negergott fertig bringen.“</p> - -<p>„Es kommt nicht auf die Schönheit an,“ sagte Frau Cimhuber schmerzlich. -„Diese Figur war mir nur deshalb lieb, weil sie ein Geschenk meines -Sohnes aus Afrika ist. Aber wie kommt gerade ihr darauf, sie -herunterzunehmen? Ihr möchtet doch gewiß auch nicht, daß wir euere -Sachen in euerer Abwesenheit anfassen und kaput machen.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span></p> - -<p>„Nein... nein,“ stotterten die Kinder, und Hans sagte kleinlaut: „Wir -wollten ihn nicht kaput machen. Und wir faßten ihn auch sonst nicht an, -aber...“</p> - -<p>„Ich hab’ gemeint, er ist lebendig,“ fiel hier Suse weinend ein. -„Entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, ich fürcht’ mich so vor ihm. Und da -hat Hans gesagt: er ist nicht lebendig. Und da wollten wir sehen, ob er -lebendig ist. Und da war er gerade wie lebendig. Und ich habe ihn schon -ganz sicher mal gehört, wie er des Nachts vor meiner Tür gesessen ist -und leise geklopft hat und gesagt hat: Macht auf; seid ihr drin; ich -komme.“</p> - -<p>„Aber Kind, du phantasierst,“ sagte die Pfarrfrau und sah Suse -erschreckt an. „Aber, Kind,“ begann sie dann wieder, „du mußt acht -geben auf alles, was du sagst. Sonst sagst du die Unwahrheit, und das -ist das Schlimmste, was ein Kind tun kann.“</p> - -<p>Suse fuhr zusammen. Hans sah ängstlich auf und verteidigte seine -Schwester: „Suse träumt immer so. Und dann wacht sie auf und dann hat -sie gehört, wie jemand draußen war und dann hat sie gemeint, es ist der -Götze.“</p> - -<p>Die Frau Pfarrer schien der Sache nicht recht zu trauen, denn sie -antwortete nichts, und die Unterhaltung verstummte ganz und gar.</p> - -<p>Die Kinder waren froh, als das Abendessen vorüber war und sie sich -entfernen konnten.</p> - -<p>In Suse stand der Entschluß zu fliehen fester denn je. Und als sie mit -ihrem Bruder allein war, begann sie: „Wir wollen fort, Hans. Nun willst -du doch auch, daß wir fortgehen. Wir machen ja doch alles verkehrt, -wenn wir uns auch noch so viele Mühe geben. Was nützt es, daß wir -noch hier bleiben. Noch kein einziges Mal ist Frau Cimhuber gut zu -uns gewesen und hat uns gelobt. Glaub’ mir, sie ist froh, wenn wir -wieder fort sind. Und dann lassen Ursel und sie sich eben andere Kinder -kommen, die viel artiger sind als wir. Und daheim sind sie froh, wenn -wir kommen.“</p> - -<p>Und stockend fuhr Suse fort: „Und schlechte Zeugnisse bekommen wir -auch. Ich versteh’ immer noch nichts in der Schule, und daheim war ich -immer die erste.“</p> - -<p>„Ich versteh’ jetzt schon mehr,“ sagte Hans schüchtern.</p> - -<p>Suse aber fuhr fort: „Du gehst aber doch mit mir fort? Gelt? Du bleibst -nicht hier? Wir gehen nach Hause. Ach laß uns doch nach Hause gehen.“</p> - -<p>Der Bruder schüttelte sein Haupt und sagte standhaft wie ein -Erwachsener: „Nein, Suse, die Eltern haben gesagt, wir bleiben hier, -und jetzt bleiben wir hier.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span></p> - -<p>Allein das Unglück heftete sich an des Knaben Fersen, und ehe noch der -folgende Tag vorüber war, sollte sein Heldentum jäh in die Brüche gehen.</p> - -<p>Morgens früh ging er ganz zuversichtlich zur Schule. Der Aufenthalt -dort war ihm lange nicht so unangenehm, als der in Frau Cimhubers Haus, -wo alles ihn vorwurfsvoll ansah, heute selbst der Negergott, der mit -seinem geborstenen Haupt ein Bild des Schreckens bot.</p> - -<p>Die Schule dagegen war Hans lange nicht mehr so fremd wie in den ersten -Tagen seines Hierseins. Lehrer und Schüler waren ihm bekannter, der -ganze Unterricht vertrauter geworden.</p> - -<p>Heute nun brachte er es sogar fertig, in der ersten Hälfte des Morgens -ein paar gute Antworten zu geben und war ganz angetan von sich.</p> - -<p>So kam die letzte Stunde, eine Naturgeschichtsstunde, heran. — Der -Lehrer wollte mit den Kindern in der Besprechung des Hausrindes -fortfahren, mit der er schon das letztemal begonnen hatte.</p> - -<p>Es würde sehr lustig und ulkig zugehen, meinten einige von Hansens -Mitschülern, die sitzen geblieben waren und deshalb vom letzten Jahre -her über alles genau Bescheid wußten.</p> - -<p>Herr Meyer werde nämlich einen Kuhmagen mitbringen, um ihn aufzublasen -und dessen Form deutlich zu zeigen. Bei diesem Beginnen pflege er -selbst so heftig mit anzuschwellen, daß die Klasse in lautes Lachen -ausbreche und nicht mehr zu halten sei.</p> - -<p>Fuchsteufelswild werde er darüber.</p> - -<p>Nun war die Pause vorüber und die Schüler suchten ihre Plätze auf. -Rechts und links von Hans saßen seine Nebenmänner schon, und zwar -auf der einen Seite sein Freund Peter, ein Knabe mit einem freien, -aufgeweckten Wesen. Hans und er waren gleich Freunde geworden, stammte -Peter doch auch aus den Bergen, und so hatten die beiden einander -gleich viel zu erzählen gehabt. — Für Peters größtes Heiligtum, eine -Tierschädel- und Vogeleiersammlung, wollte Hans aus den nächsten Ferien -einige neue wertvolle Stücke mitbringen.</p> - -<p>Weniger freundschaftliche Beziehungen bestanden zwischen Hans und dem -Knaben an seiner andern Seite. Dieser, Kurt, war das gerade Gegenteil -von Peter, ein unaufrichtiger, verschlagener Junge, der aber trotzdem -einen großen Einfluß auf seine Mitschüler ausübte. Er hatte den -Fußballklub „Germania“ gegründet und schon eine große Anzahl Mitglieder -gewonnen. Auch Hans sollte diesem Verein beitreten, hatte es aber bis -jetzt noch abgelehnt, da ihn einstweilen in der Stadt noch viel anderes -Neues lockte.</p> - -<p>Gerade hatte der sporteifrige Kurt Hans wieder in ein Gespräch über -seinen Fußballklub verstrickt, da öffnete sich die Tür, und der -Leh<span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span>rer, Herr Meyer, trat ein. Unter dem Arm trug er eine Pappschachtel -und einige Bücher. Der Lärm in der Klasse ließ nach. Ganz still wurde -es allerdings noch nicht. So recht in Respekt zu setzen wußte dieser -Lehrer sich nämlich nicht.</p> - -<p>Er ging nun auf das Pult zu und nahm dort Platz. Hinter ihm erhob sich -die weißgekalkte, mit Bildern Schillers und Uhlands geschmückte Wand. -Die Pappschachtel stellte er neben sich nieder. In der Klasse war noch -Flüstern, Klappern, sowie Schurren mit den Füßen zu hören.</p> - -<p>„Ruhe,“ rief der Lehrer, und die Stunde begann.</p> - -<p>„Welches ist das nützlichste Haustier des Menschen?“ leitete er seinen -Unterricht ein.</p> - -<p>„Das Hausrind,“ kam als Antwort zurück.</p> - -<p>Herr Meyer war mit dieser Erwiderung zufrieden und legte nun den -Kindern andere Fragen vor, die sie ebenfalls zu seiner Zufriedenheit -beantworteten. Dann reihte er gemeinsam mit ihnen das Tier in die -Klasse der Wiederkäuer, Pflanzenfresser und Huftiere ein, und mehrere -Male mußten die Knaben die Merkmale dieser Tiere wiederholen.</p> - -<p>Hans paßte gut auf, damit ihm kein Wort entgehe. Die Beschaffenheit -der Zunge, des Gebisses, der Hufe, der Muskulatur, alles war ihm klar. -Auch die Einteilung des Kuhmagens leuchtete ihm ein; Pansen, Netzmagen, -Blättermagen und Labmagen hießen die verschiedenen Abteilungen.</p> - -<p>Als der Lehrer mit seinen Erklärungen fertig war, griff er nach der -Pappschachtel. — Die Kinder stießen einander an und sahen gespannt -nach dem Pult. Jetzt war der langersehnte, aufregendste Augenblick der -Stunde gekommen. Der Lehrer hob den Deckel der Schachtel auf und holte -ein lederfarbenes Hautgemengsel heraus, indem er sagte: „Nun wollen wir -uns einmal einen richtigen, echten Kuhmagen ansehen.“ Hierauf setzte -er eine Glasröhre in die Öffnung des Magens und begann zu pusten. -Die Knaben verwandten keinen Blick von ihrem Lehrer und seinem Tun. -Langsam schwoll der Magen an, eine Abteilung nach der andern, und in -dem Maße, als er an Umfang zunahm, schien auch des Oberlehrers Gestalt -anzuschwellen. Der Zwischenraum zwischen ihm und dem Pultdeckel wurde -immer geringer. Leise kicherten einige Knaben. Zürnend blickte der -Lehrer in die Klasse und wurde krebsrot im Gesicht. Aber sein Mund ließ -die Glasröhre nicht los. Da platzte einer der Knaben laut aus. Der -Oberlehrer ließ die Glasröhre in seiner Hand fahren, und der Kuhmagen -sank mit einem leise pfeifenden Ton in sich zusammen. Am lautesten -mußte Hans lachen. Das Unglück wollte ja immer, daß er da am lautesten -lachte, wo es am wenigsten angebracht war.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span></p> - -<p>Puterrot vor Zorn schlug der Lehrer auf das Pult, daß der Kuhmagen wie -ein lederner Tabaksbeutel in die Höhe flog und rief: „Wenn jetzt noch -einmal einer lacht, dann bekommt ihr alle Arrest. — Verstanden? — -Es ist doch seltsam, daß gerade die immer am meisten lachen, die am -wenigsten können,“ meinte er mit einem durchbohrenden Blick nach Hans -hin.</p> - -<p>Dieser wurde käsweiß.</p> - -<p>„Die Schule ist doch nicht dazu da, daß wir uns im Lachen und Schreien -üben,“ fuhr der Lehrer lauter fort. „Wenn wir das wollen, können wir -lieber in unseren Hinterwäldern bleiben und mit unseren Kühen auf die -Weide gehen.“</p> - -<p>Hans spürte, wie seine Stirn eiskalt wurde. — Der Lehrer meinte -natürlich ihn. Ja, er hätte daheim bleiben sollen in Schwarzenbrunn.</p> - -<p>Zitternd vor Ärger ergriff Herr Meyer jetzt den Kuhmagen zum zweitenmal -und pustete ihn auf. Nun bedurfte es nur noch einiger schwacher -Atemzüge, dann war dieser ganz und gar mit Luft gefüllt.</p> - -<p>Da geschah etwas Unerwartetes.</p> - -<p>Durch die Klasse schwirrte plötzlich eine Papierkugel und fiel mitten -auf des Lehrers Nase nieder. Sein Kopf fuhr auf, und die Glasröhre fiel -zur Erde. Es war totenstill in der Klasse. Dann sprang Herr Meyer in -die Höhe und fuhr die Knaben an: „Wer hat das getan?“ Keiner antwortete.</p> - -<p>Fest hefteten sich da die Augen des Lehrers auf Hans. — Unsicher -flogen des kleinen Knaben Blicke durch die Klasse. — War nicht seine -Hand wie von einem Wurf ermattet unter die Bank gesunken, als der -Lehrer aufgeblickt hatte?</p> - -<p>„Ich weiß genau, wer es getan hat,“ rief der Lehrer lauter als vorher.</p> - -<p>„Du, der Neue, da hinten in der Ecke, komm mal her! Wie heißt du doch -gleich?“</p> - -<p>Mechanisch ging der Junge auf das Pult zu und sah den Lehrer -hilfesuchend und verstört an.</p> - -<p>„Gesteh mal, du hast’s getan,“ donnerte ihm dieser entgegen.</p> - -<p>Hans würgte an einer Antwort, aber sie kam nicht über seine Lippen. Der -Ausdruck seiner Augen wurde immer unglücklicher und hilfloser.</p> - -<p>„Antworte,“ rief der Lehrer.</p> - -<p>Er schwieg.</p> - -<p>„Ah, du bist auch noch trotzig,“ fuhr Herr Meyer ihn an. „Marsch, geh’ -wieder auf deinen Platz. Ich kenne dich, Bürschchen. Aber jetzt hab’ -ich keine Zeit für dich. Doch morgen früh wirst du mit mir zum Herrn -Direktor gehen.“</p> - -<p>Hans konnte noch immer keinen Laut hervorbringen. Wie ein zum<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span> Tode -Verurteilter stand er da. Dann kehrte er langsam um, und als er an -seinem Platz angelangt war, warf er seinem Nebenmann Kurt einen langen, -verängstigten Blick zu.</p> - -<p>Zwischen diesem und Peter war ein hartnäckiger Streit ausgebrochen. -Hansens Freund angelte mit Armen und Beinen an Hans vorüber nach dem -Klubgründer hin, und als er ihn schließlich am Bein erwischt hatte, riß -er ihn mit einem Ruck fast von der Bank. Sein Mitschüler kehrte ihm ein -finsteres, verschlagenes Gesicht zu.</p> - -<p>Hans merkte nichts von alledem. Vor seinen Augen war es finster wie in -einem Sack. Die Worte des Lehrers klangen wie fernes Gemurmel an seinen -Ohren. Nichts ging ihm mehr ein, nur der eine Gedanke beherrschte ihn -ganz und gar, er wollte fort von hier, fort. Im Grunde hatte er ja -genau dasselbe Heimweh wie Suse. Bis jetzt hatte er es nur sorgsam -versteckt. — Die Schwester hatte ja so recht, sie machten ja doch -alles verkehrt hier, sie konnten anfangen, was sie wollten. Und morgen -gar sollte er zum Direktor! Und gingen sie nicht von selbst, so -schickten ihre Lehrer sie schließlich fort. Drum sagte Hans, als er -heute nach Hause kam, zu seiner Schwester: „Suse, wir wollen heim.“</p> - -<p>Die Schwester glaubte zuerst nicht recht gehört zu haben, dann aber -rief sie laut: „Nach Hause! Oh, wie schön! Oh, wie schön! Oh, wie freu’ -ich mich! Wie freu’ ich mich! Heim! Heim! Zu unseren Eltern!“</p> - -<p>Der Bruder antwortete nichts, Suse aber handelte. — Eine wichtige -Frage galt es in erster Linie zu erledigen. Woher sollten sie das -Reisegeld nehmen? — Die drei Mark, die Suse noch hatte, und die paar -Groschen von Hans reichten lange nicht. Da kam ihr ein herrlicher -Gedanke. Sie hatten ja einen treuen Beschützer und Freund hier in der -Stadt, den Vetter Theobald. — So böse und übermütig, wie der einst in -Susens Elternhaus gewesen, so fürsorglich war er jetzt. Erst gestern -hatte er ihnen beiden Schokolade aus einem Automaten geschenkt. Der -Vetter würde helfen!</p> - -<p>So schaute Suse denn gegen drei Uhr nachmittags fleißig nach -ihrem Vetter aus, da er täglich zu dieser Zeit auf seinem Weg zur -Schwimmanstalt an Frau Cimhubers Haus vorübergehen mußte.</p> - -<p>Auch heute tauchte er zur gewohnten Stunde auf, und Suse konnte -hinuntereilen und sich ihm anschließen. Lange Zeit fand sie nicht -den Mut zum rechten Wort und verfiel in Stillschweigen. Er aber -hielt ihr ehrfurchtsvolles Verstummen für eine Huldigung, die sie -seiner bedeutenden Persönlichkeit darbrachte, und erzählte in der -aufgeblasensten Weise von seinen Erlebnissen.</p> - -<p>Er könne all den Freunden und Belustigungen, die in dieser -interessanten Stadt auf ihn einstürmten, kaum Herr werden, meinte er -mit<span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span> einem Seufzer. So gehe er heute abend mit seinem Onkel Fritz in -den Zirkus, um sich eine Vorstellung von Akrobaten und Kunstradfahrern -anzusehen. Es sei fabelhaft. Es sei unglaublich. Es sei überwältigend, -was diese Künstler leisteten. — Auf dem Hinterrad ihrer Maschine -fahrend, würfen sie das Vorderrad in die Höhe, sausten in dieser -Stellung rund um den Zirkus, stellten sich mit dem Kopf auf den Sattel -und strampelten mit den Beinen. Forschend sah der Vetter in seiner -Cousine Gesicht und erwartete dort Bewunderung, Überraschung, Staunen. -Aber nichts dergleichen war zu sehen.</p> - -<p>Suse hing eigenen Gedanken nach. Und während er sie noch so -betrachtete, platzte sie mit einem Male los: „Du, Theobald, du möchtest -mir zwanzig Mark geben. Wir gehen morgen nach Hause.“</p> - -<p>„Was?“ rief Theobald und sank auf einer Bank am Kanale nieder. Er -starrte Suse an wie von Sinnen.</p> - -<p>„Was?“ stotterte er.</p> - -<p>Und mit einemmal trampelte er mit den Füßen auf dem Boden, schlug sich -mit den Händen auf die Knie und fing so laut und heftig an zu lachen, -daß Suse meinte, er ersticke. Ganz blaurot war er im Gesicht und -zappelte auf der Bank herum wie ein Fisch, der auf das Trockene geraten -ist. Ja, in seinem Übermut wurde er wieder ganz der ausgelassene -Theobald, als den Suse ihn in ihrem Heimatsort kennen gelernt hatte, -lief auf seinen Händen wie ein Zirkuskünstler ein Stück durch die -Anlagen, kehrte dann um, sprang auf seine Füße, ließ sich wieder auf -die Bank plumpsen und dazu rief er: „Herrlich, herrlich! Ich möchte die -Spatzen auf den Dächern umarmen vor Freude. So was Schönes hab’ ich -lange nicht gehört. Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte. Und dabei habt -ihr immer so geprahlt mit eurer Negerstube und eurer Pflegedame und dem -Kirschenpudding, den sie euch macht, und dem dicken Apfelmus auf euren -Bröten. Und dabei habt ihr immer gesagt, Frau Cimhuber ist so fromm, -daß sie sicher in den Himmel kommt. Und jetzt wollt ihr fort von eurer -frommen Frau. Weiß sie’s denn schon, daß ihr geht?“ forschte er.</p> - -<p>Suse schüttelte ihr Haupt.</p> - -<p>Da lachte Theobald lauter denn je, schlug sich auf die Knie, warf sich -hinten über die Bank, konnte sich aber noch zur rechten Zeit an der -Lehne festhalten und daran emporziehen und trieb so lange Unfug, bis -Suse ihn am Ärmel packte und auf die Leute aufmerksam machte, die rund -herum standen und lachten.</p> - -<p>Da entsann er sich flugs seiner Würde als wohlerzogener Stadtmensch, -ließ sich gesittet auf der Bank nieder und forderte seine Base auf, -neben ihm Platz zu nehmen, damit sie alles besprächen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span></p> - -<p>Dann begann er sein Verhör. „Also das Reisegeld willst du. Zwanzig Mark -stehen zu deiner Verfügung. Die hab’ ich letzte Woche von Onkel Fritz -zum Geburtstag bekommen. Aber Toni hat sie mir gestern abgebettelt für -ein Bild, das sie ihrer Freundin schenken will. —</p> - -<p>Na, das ist ein Bild! Die Toteninsel heißt’s! Einfach schauderhaft! Die -Haare stehen mir zu Berge, wenn ich’s nur angucke. Ich versichere dich, -wenn man sich unterstände, mir ein solches Bild zu schenken, würd’ -ich’s als die größte Beleidigung auffassen und dem gütigen Geber die -Freundschaft für immer kündigen. —</p> - -<p>Das Bild ist also schon gekauft und mein Geld ausgegeben. Aber beruhigt -euch. Ihr bekommt anderes. Ich lasse mir heute welches von Onkel Fritz -geben, wenn wir im Zirkus sind. Der läßt mich nicht in der Patsche. -— Bin ich morgen früh zur rechten Zeit nicht am Bahnhof, so nehmt -einstweilen von eurem Geld eine Karte bis Haslach. Dort müßt ihr -sowieso den Eilzug verlassen und eine neue Karte für den Bummelzug -nehmen.</p> - -<p>Den Reiseplan hast du dir natürlich noch nicht zurecht gelegt. Nicht -wahr?“ fuhr er mit gerunzelter Stirn fort. —</p> - -<p>„Das kannst du auch nicht. Du hast ja keine Erfahrung im Reisen. Mit -mir ist das ganz was anderes.“ —</p> - -<p>Dabei war der Prahlhans auch nicht viel weiter gekommen als nach -Hansens und Susens Heimatsort. Allein, nach dem Ton seiner Worte zu -urteilen, hatte er schon eine Weltreise gemacht.</p> - -<p>Jetzt holte er den Fahrplan aus der Tasche, blätterte sich räuspernd -drin herum und meinte, Suse Papier und Bleistift reichend: „Schreib’ -dir auf, was ich dir sage. Um fünf ein Viertel Uhr fahrt ihr hier -ab und nehmt den Eilzug bis Haslach. Drei Stationen von hier. Gut! -Merk’ dir’s! Drei Stationen von hier. Ihr zählt sie. Gut! Dort steigt -ihr um und fahrt bis zur Endstation Maria Heil. Merk’ dir’s! Gut. Du -frägst den Schaffner in Haslach, wo der Zug nach Maria Heil steht. -Gut. In Maria Heil steigt ihr aus und schlängelt euch in die dort -wartende Postkutsche. Merk’ dir’s! Schreib’ Postkutsche auf. In diese -Postkutsche kriecht ihr dann und fahrt nun, den Regenschirm und Koffer -fest in der Hand, in die Arme eurer hochbeglückten Eltern hinein. -Schreib’ ‚hochbeglückte Eltern‘ auf! Verstanden? Und bestellt Grüße von -mir. Gut!“</p> - -<p>Jetzt zog Theobald seine Uhr und sagte in ernstem Ton: „Es ist höchste -Zeit, daß ich gehe, wenn ich noch schwimmen will. Drum leb’ wohl. -Tipp, topp, nur Mut, die Sache wird schon schief gehen,“ sagte er mit -kräftigem Händedruck.</p> - -<p>„Theobald,“ flüsterte sie mit einemmal, banger Ahnungen voll. „Du -verrätst doch nicht daheim, was wir anfangen wollen?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span></p> - -<p>Theobald tippte sich an die Stirn, zuckte die Achseln und murmelte: -„Man hat doch auch Charakter.“ Damit ging er von dannen.</p> - -<p>So war denn alles zur Flucht geordnet. Das Reisegeld war den Kindern -sicher, der Fluchtplan stand auf dem Papier, und die Sachen mußten -heute abend gepackt werden.</p> - -<p>Langsam ging Suse nach Hause und sagte zu ihrem Bruder: „Es ist alles -gut, Theobald gibt uns das Geld. Wir gehen.“</p> - -<p>Der Bruder nickte. Je weiter aber der Nachmittag vorschritt, um so -beklommener ward es ihr zu Sinn. Die frohe Zuversicht, die sie heute -morgen angesichts der Entschlossenheit ihres Bruders beseligt hatte, -machte schweren Gedanken Platz. War es nicht falsch und schlecht -von ihr, Frau Cimhuber zu belügen und zu betrügen und zu tun, als -wäre nichts los, während man einen solch hinterlistigen Fluchtplan -anzettelte? Gewiß, es war böse und schlecht, aber Suse konnte nicht -anders. Sie mußte fortlaufen. Sie konnte keinen Tag länger hier -bleiben. Sie mußte fort, fort nach Hause!</p> - -<p>Dann während des Abendessens saß sie mit ängstlich klopfendem Herzen -der Pfarrfrau gegenüber wie ein Häschen, das den Jäger kommen hört. -Hans ging es nicht viel besser. Seine Augen flackerten unruhig hin und -her, und die von Ursel aufgetischten Quellkartoffeln würgten ihn im -Halse wie Hanfknäuel.</p> - -<p>Und als im Laufe der Tischsitzung die Pfarrfrau einige Augenblicke von -Ursel herausgerufen wurde und die Geschwister allein blieben, sahen sie -sich scheu um.</p> - -<p>„Ich meine grad’, ich ersticke,“ unterbrach Suse die Totenstille.</p> - -<p>Der Bruder nickte.</p> - -<p>„Hernach wollen wir unsere Sachen zurechtlegen,“ fuhr die Schwester -leiser fort, „und uns genau den Reiseplan ansehen. — Hier, nimm den -Zettel! Du gibst doch besser drauf acht,“ meinte sie, indem sie in die -Tasche langte und nach dem bewußten Papierstreifen suchte.</p> - -<p>Aber plötzlich zog sie ihre Hand zitternd aus der Tasche zurück und -erklärte stockend: „Er ist fort, ich hab’ ihn verloren.“</p> - -<p>„Verloren?“ sagte Hans, noch um einen Schatten blasser als bislang, -„hoffentlich hast du ihn nicht hier im Haus verloren und Ursel oder -Frau Cimhuber finden ihn.“</p> - -<p>Und als die Pfarrfrau gleich darauf in das Zimmer zurückkehrte, sah er -sie so hilfeflehend und verstört an, daß sie ganz besorgt fragte: „Was -fehlt dir, mein Kind? Ist dir nicht wohl?“</p> - -<p>Hans blieb stumm.</p> - -<p>„Hm, hm!“ meinte sie. „Ihr seid komische Kinder. Was euch fehlt, -erfährt man eigentlich nie. Hat es vielleicht was in der Schule -gegeben?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span></p> - -<p>Die beiden saßen verschüchtert da und antworteten nicht.</p> - -<p>Plötzlich begann die Pfarrfrau unvermittelt: „Eh’ ich’s vergesse, ich -muß euch noch etwas sagen. Nächste Woche seid ihr bei eurem Onkel -Gustav eingeladen. Er war heute nachmittag hier und läßt euch vielmals -grüßen. Es wird sicher ein fröhlicher Tag für euch werden.“</p> - -<p>„Schade,“ stotterte Suse, „dann sind wir ja schon fort.“</p> - -<p>„Was sagst du da, Kind?“ forschte die Pfarrfrau.</p> - -<p>Hans aber ließ vor Schreck die Gabel unter den Tisch fallen.</p> - -<p>„Du meinst, ihr seid nicht mehr hier an dem Tage?“ fuhr ihre -Pflegemutter fort. „Wo seid ihr denn sonst? Habt ihr einen Schulausflug -vor oder sonst eine Einladung? Die Einladung kann ja auf einen andern -Tag verlegt werden. Bei eurem Onkel werdet ihr sicher einen schönen -Nachmittag verleben. Er hat Kinder in eurem Alter, und mit denen könnt -ihr nach Herzenslust in dem großen Park an seinem Haus herumspringen.“</p> - -<p>Suse hörte mit schmerzlichem Empfinden dieser verführerischen -Beschreibung zu und sagte etwas später nicht ohne Bedauern zu ihrem -Bruder: „Schade ist’s ja, daß wir nicht zu Onkel Gustav können. Nicht -wahr, Hans? Aber was meinst du, wenn er uns auch die wunderschönsten -Sachen schenkte, wir blieben doch nicht hier? Gelt, daheim ist’s viel -schöner, viel, viel schöner. Viel, viel tausendmal schöner.“</p> - -<p>An dem Verschwörungsabende wurden die Kinder etwas früher als sonst zu -Bett geschickt, weil die Pfarrfrau sich um Hansens Befinden sorgte. -Aber gegen Mitternacht, als die Lichter im Cimhuberschen Hause gelöscht -waren und nichts mehr sich regte, standen die beiden Übeltäter wieder -heimlich von ihrem Lager auf, packten ihre Sachen und probierten an, -wieviel Leibwäsche sie nach Susens berühmtem Rezept übereinander -anziehen konnten. —</p> - -<p>Vier Hosen, vier Hemden, das ging ganz fein. — Den Rest steckten sie -in die Hirschtasche, eine gestickte Reisetasche aus Großmutters Zeiten, -auf der ein brauner Hirschkopf, von einem Eichenkranz umrahmt, prangte. -Auch eine Pappschachtel mußte noch einige Kleidungsstücke aufnehmen.</p> - -<p>Und während der Vorbereitungen sah Suse sich bereits im Geist mit all -diesen Herrlichkeiten durch die Pforte ihres Vaterhauses schreiten, -befreit von aller Not und Qual. Nur der Gedanke an den fehlenden Zettel -flößte ihr zuweilen Besorgnis ein. Je weiter die Stunde vorschritt, je -unsicherer wurde sie.</p> - -<p>„Ich kann nicht schlafen vor Angst,“ meinte sie zu ihrem Bruder. „Am -Ende haben sie den Zettel gefunden und erwischen uns morgen früh.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span></p> - -<p>Jetzt war der Bruder der Mutige und entgegnete: „Ach, Suse, wenn sie -ihn gefunden hätten, wüßten wir es jetzt schon...“</p> - -<p>Derweil saß die zahnwehkranke Ursel stöhnend auf der Kante ihres Bettes -und buchstabierte an einem kleinen Zettel herum, den sie vorhin am -Eingang der Negerstube gefunden hatte.</p> - -<p>„Ab fünf ein Viertel Uhr,“ stand darauf, „Eilzug Haslach, Schaffner, -Maria Heil.“ — Lauter krauses Zeug.</p> - -<p>Schließlich ließ ihr’s keine Ruhe mehr, und sie schlich vor die Kammer -der beiden Kinder, um zu lauschen. — Hinter der Tür regte sich etwas. -Sie stutzte und horchte angestrengter. — Ja, so war’s, Kisten und -Stühle wurden gerückt. Es flüsterte.</p> - -<p>Fester drückte sie ihr Ohr gegen die Tür. — Doch nun war’s totenstill. -Eine ganze Weile blieb sie stehen. Jetzt, jetzt regte sich’s wieder.</p> - -<p>Da fuhr aber Ursel ein solch heftiger Schmerz in ihren hohlen Zahn, daß -sie sich mit beiden Händen an den Kopf fuhr und mit schmerzverzerrtem -Gesicht davonschwankte.</p> - -<p>Am andern Morgen um drei Viertel auf fünf ging leise die Tür von -Frau Cimhubers Wohnung, und zwei Kinder mit blassen, übernächtigen -Gesichtern traten ins Treppenhaus.</p> - -<p>Es waren Hans und Suse, die durch die Menge der übereinander gezogenen -Kleidungsstücke kugelrund aussahen. Vorsichtig schlossen sie die -Flurtür hinter sich und gingen auf Zehenspitzen die ausgetretenen -Stiegen der Treppe hinunter. Ein graues, unfreundliches Licht erhellte -nur matt ihren Weg. Alles war totenstill. Das Haus schlief noch. Öfters -blieben sie stehen und horchten. Doch als nichts sich regte, gingen sie -weiter.</p> - -<p>Im zweiten Stock wurde Suse die Hirschtasche zu schwer, und der Bruder -half ihr beim Tragen. Dann kehrte er zurück, um sein eigenes Gepäck -nachzuholen.</p> - -<p>Gerade als er die unterste Stufe der Treppe wieder erreicht hatte -und das Haus verlassen wollte, hörte er plötzlich im Treppenhaus ein -Geräusch. Ihm war es, als sei irgendwo eine Tür gegangen, und als stehe -nun jemand oben vor Frau Cimhubers Wohnung und lausche mit angehaltenem -Atem über das Treppengeländer.</p> - -<p>Ganz kalt überlief’s ihn, und er schloß schnell die Tür. In der Ferne -erblickte er Suse. Sie schritt mit großen Schritten rüstig aus, während -ihre rechte Schulter sich unter der Last der Hirschtasche senkte. Der -Bruder wollte ihr folgen, hörte aber plötzlich hoch über sich seinen -Namen rufen. Er blickte am Haus hinauf und gewahrte in schwindelnder -Höhe ein mit Tüchern umwickeltes Haupt. — Ursel?</p> - -<p>„Hans,“ rief sie, „Hans, Hans, Hans!“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span></p> - -<p>Da schrie er auf und rannte wie besessen davon.</p> - -<p>„Sie kommt, sie kommt,“ rief er.</p> - -<p>Suse stürzte vorwärts, als sei ihr der Tod auf den Fersen. Bald -erlahmten ihre Kräfte, und Hans nahm ihr die Hirschtasche ab, um sie in -seinen Armen zur Elektrischen zu tragen. Klingelnd fuhr diese mit den -beiden Flüchtlingen davon.</p> - -<p>Als die zwei verzweifelten Ausreißer schließlich am Bahnhof ankamen, -war natürlich von dem tüchtigen Theobald weit und breit keine Spur zu -entdecken.</p> - -<p>„Er hat die Zeit verschlafen,“ stöhnte Suse.</p> - -<p>„Nein, er kommt,“ sagte Hans bestimmt, „er hat’s versprochen, und was -er versprochen hat, hält er.“</p> - -<p>Damit ging der kleine Junge geradeswegs auf die Bahnhofshalle zu, -während Suse wie ein aufgescheuchtes Hühnchen hinterdreinflatterte. Am -Schalter löste er die Karten zu Reise und kehrte dann zum Eingang der -Bahnhofshalle zurück, um nach dem Vetter auszusehen.</p> - -<p>Endlich sah er am Ende der Straße einen Radfahrer auftauchen und -schaute näher hin. Ja, es war Theobald. Auf der Lenkstange seines Rades -liegend, kam er wie eine Windsbraut seines Wegs. Jetzt sprang er ab.</p> - -<p>„Ursel kommt!“ rief er. „Wie ein tollgewordener Mops macht sie Sätze. -— Es ist haarsträubend, wie sie die Ecken nimmt! Kommt, kommt. Sie hat -die Faust nach mir geschüttelt.“</p> - -<p>Im Nu hatte er eine Bahnsteigkarte gelöst, sein Rad einem Gepäckträger -gegeben, die Hirschtasche auf seinen Rücken geworfen, die Pappschachtel -in die Hand genommen und stürzte mit den Kindern durch die Sperre.</p> - -<p>Susens Knie waren wie gebrochen, die Stimme versagte ihr.</p> - -<p>Jetzt waren sie auf dem Bahnsteig. Die letzte Tür des dort haltenden -Zuges war schon geschlossen. Der Beamte wollte eben das Zeichen zur -Abfahrt geben, da riß Theobald noch im letzten Augenblick ein Coupé -auf, drängte die Doktorskinder hinein und schubste ihre Hirschtasche -hinterdrein, so daß der „Engel“ und die „Geburt Christi“ gegeneinander -stießen.</p> - -<p>Die Tür wurde wieder zugeschlagen, und der Zug fuhr davon. In ein paar -Sekunden mußte er aus der halle sein. Da beugte sich plötzlich Suse -weit aus dem Fenster und rief in Todesangst: „Theobald, unser Geld, -unser Reisegeld! Gib doch, gib doch! — Das Zwanzigmarkstück!“</p> - -<p>Der Vetter schlug sich vor die Stirn.</p> - -<p>Im Nu war er an ihrer Seite und wühlte verzweifelt in seiner -Westentasche.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span></p> - -<p>„Hier, hier,“ rief er, und ein blitzender Gegenstand fuhr surrend durch -die Luft und traf wohlgezielt ins Coupé. — Die Kinder hatten ihr -Reisegeld. Da fuhr auch der Zug schon aus der Halle.</p> - -<p>Suse war wie erlöst. In ihrer Freude umarmte sie ihren Bruder und -jubelte: „Jetzt ist alles gut.“</p> - -<p>Doch Hans wehrte: „Erst das Geld, Suse, ich will’s in meine Tasche tun.“</p> - -<p>Und er eilte auf die Ecke zu, wo die Münze niedergefallen war. Blitzend -lag sie auf der Bank. Er griff danach, fuhr aber jäh zurück wie vor -einer zischenden Schlange.</p> - -<p>Dort lag..., dort lag...</p> - -<p>Er verfärbte sich. Alles drehte sich um ihn. Er rieb sich die Augen. -— Nein, es war kein Irrtum. Dort in der Ecke lag kein Geld, sondern -ein dicker, blinkender Messingknopf. — Ein abgerissener Hosenknopf von -Theobald. — Nichts anderes. Das war also alles, was er ihnen gespendet -hatte. Deshalb war er wie ein Verrückter neben dem Zug hergesprungen, -um ihnen einen Hosenknopf hinterherzuwerfen!</p> - -<p>„Suse, Suse,“ stotterte Hans „Komm her, guck, was da liegt.“</p> - -<p>Sie kam zögernd näher, schaute hin und wurde weiß wie Kreide.</p> - -<p>Dieser Hosenknopf von Theobald war also alles, was sie hatten! Ihre -ganze Barschaft! Damit sollten sie sich Karten für die Reise kaufen und -außerdem Plätze in der Postkutsche bezahlen! — Laut weinend setzte sie -sich vor dem lügnerischen Knopf nieder und starrte ihn angstverzerrt -an. — Den sollten sie dem Schalterbeamten in die Hand drücken! — Der -würde gucken!</p> - -<p>Hans sah wie verhext in derselben Richtung, griff nach dem Knopf und -schleuderte ihn aus dem Fenster.</p> - -<p>Jetzt wußte auch er nicht mehr aus noch ein und saß wie vernichtet auf -seinem Platz. Der Schwester Schmerz brachte ihn schließlich wieder zur -Besinnung. Er versuchte, ihr die Hände von den verweinten Augen zu -ziehen und tröstete: „Weine nicht, Suse, weine nicht. Sei still, Suse, -sei still, laß uns mal bedenken, was wir jetzt tun.“</p> - -<p>Aber ach, er selbst konnte seine bitteren Tränen nicht mehr -zurückdrängen.</p> - -<p>Auf der dritten Station, in Haslach, stiegen die Kinder aus und blieben -eine Weile unschlüssig auf dem Bahnsteig stehen. Dann gingen sie auf -den Wartesaal zu. Schüchtern drückten sie sich zur Tür herein und -suchten nach einem freien Platz. Vom Schenktisch her verbreitete sich -der verlockende Duft warmen Kaffees und gemahnte sie daran, daß sie -heute morgen noch nichts genossen hatten. Aber was bedeuteten Hunger -und Durst im Vergleich zu der Angst, die sie empfanden! —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span></p> - -<p>Wohin sollten sie sich nun eigentlich wenden? Zur Stadt zurück? — -Sie hatten ja kein Geld mehr, selbst nicht für eine Fahrkarte vierter -Klasse. Und zu Fuß zurückzuwandern, das war ihnen unmöglich. Dazu war -der Weg ja viel zu weit.</p> - -<p>Da kam Hans mit einemmal ein rettender Gedanke.</p> - -<p>Wenn sie dem Schalterbeamten irgendein Geschenk machten? — Vielleicht -die „Geburt Christi“ von Martin oder den Engel von Christine oder sonst -irgend etwas Schönes. — Am Ende gäbe er ihnen dann eine Fahrkarte.</p> - -<p>Die Schwester horchte auf, dachte nach; ihre Augen wurden heller, und -da rief sie auch schon ganz freudig: „Du hast recht und du sollst mal -sehen, der gibt uns gleich so viele Karten als wir wollen. Der freut -sich!“</p> - -<p>Und das kleine Mädchen, das eben noch ganz verzweifelt gewesen war, -wiegte sich schon wieder in den schönsten Hoffnungen. Ja, dank ihrer -üppigen Phantasie hörte sie bereits den Beamten am Schalter, diese -Seele von einem Menschen, sagen: „Fein, daß man euch mal sieht, her mal -mit euren wunderschönen Sachen. Wieviel Karten wollt ihr dafür? Auf -eine Fahrkarte mehr oder weniger kommt’s mir nicht an!“</p> - -<p>Hans, der schwerfälliger veranlagt war als seine Schwester, meinte -beklommen: „Man weiß es nicht, ob er sich freut; vielleicht freut er -sich nicht.“</p> - -<p>Doch Suse hörte und sah nicht mehr und suchte mit beiden Händen -verzweifelt in der geöffneten Hirschtasche nach ihren Schätzen. Auf -dem Grunde mußten sie liegen. Eine ganze Schicht Kleider, Strümpfe, -Schuhe, Bänder hatte sie schon vorsichtig auf die Bank niedergelegt. Da -stieß sie endlich auf die Geburt Christi und den Engel. Und mit großer -Befriedigung legte sie die Sachen auf den Stapel Kleider neben sich -nieder und schickte sich an, den Grund der Hirschtasche zu ordnen.</p> - -<p>„Schnell, schnell,“ drängte da Hans, „die Leute gucken.“ Und dabei warf -er ängstliche Blicke auf die Menschen rund herum, die an Tischen saßen, -Kaffee tranken und die Kinder aufmerksamen Blickes beobachteten.</p> - -<p>Aber am verdächtigsten kam Hans doch ein Beamter vor, der von Zeit zu -Zeit die Züge abrief und jedesmal neugieriger auf sie zu werden schien.</p> - -<p>Eben war er sogar eine ganze Weile an der Tür stehen geblieben und -hatte die beiden kopfschüttelnd gemustert.</p> - -<p>Da wurde des kleinen Jungen Aufmerksamkeit jäh abgelenkt.</p> - -<p>Er stieß Suse an, und auch sie schaute auf.</p> - -<p>Durch die Tür des Wartesaals, nicht weit von den Kindern, drängte sich -mit einemmal eine aufgeregte Reisegesellschaft: eine dicke Frau mit -einem kleinen Knirps auf dem Arm und zwei größeren Kindern an<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span> ihren -Rockschößen. Der Hut der Frau war verschoben, und ihr Jüngstes griff -mit beiden Händen danach und machte den Schaden nur noch größer.</p> - -<p>Und nun stolperte gar noch ihr Ältestes, ein rechter Guckindieluft von -einem kleinen Mädchen, über einen Stuhl und brachte die Mutter ins -Wanken. Und diese packte in ihrem Zorn den Zopf des niedergleitenden -Töchterleins und schüttelte daran, als wollte sie Sturm läuten.</p> - -<p>Dann sah sie sich tief aufatmend nach einem freien Platz um, entdeckte -die Ecke, wo Hans und Suse sich aufhielten und kam pustend heran. Die -Geschwister waren so verblüfft von ihrem Anblick, daß sie es ohne ein -Glied zu rühren, geschehen ließen, wie sich die Frau, ohne sich lang -umzusehen, mit einem Seufzer der Erleichterung mitten auf ihren Sachen -niederließ und die Füße von sich streckte. Da saß sie nun auf dem Engel -und der Geburt Christi, auf Strümpfen und Wäschestücken, als müßte es -so sein. — Suse streckte abwehrend die Hände nach ihr aus, als es -leider zu spät war. Sie fühlte sich anscheinend ganz wohl. Und zu allem -Elend fielen nun ihre Kinder über die am Boden liegenden Habseligkeiten -der Geschwister her und wühlten darin herum.</p> - -<p>Suse traten die Tränen in die Augen; sie hob schnell alles auf und trat -dann vor die Frau hin, um sie zu bitten: „Unsere Sachen sind unter -Ihnen. Möchten Sie nicht, bitte, aufstehen? Die Geburt Christi und der -Engel sind auch unter Ihnen. Sie zerdrücken sie ja!“</p> - -<p>„Was ist unter mir?“ rief die Frau kirschrot vor Zorn. „Was zerdrücke -ich? Was hast du da gesagt? — Wollt ihr mich vielleicht zum besten -haben? Kommt mir nur! Da kommt ihr gerade an die Rechte.“</p> - -<p>Die Geschwister wichen weit zurück vor Schrecken. Und Suse mußte mit -einemmal an Frau Cimhuber und Ursel denken. Ach, wenn doch nur Ursel -da wäre. Ursel mit dem entrüsteten Auge, das einsam und zornig aus -seinen Wolltüchern hervorleuchtete. Die würde helfen. Suse fühlte es -mit einemmal ganz bestimmt. Die würde die Frau sofort am Arm packen und -aufstehen heißen. Sie konnte es ja nicht leiden, daß irgend jemandem -Unrecht geschah. Gestern hatte sie auf der Straße einen wildfremden -Mann angefahren, weil er seinen eigenen Hund geschlagen hatte.</p> - -<p>Wenn doch nur Ursel da wäre!</p> - -<p>Zum Glück für die Kinder bekam ihre Feindin aber doch ein Einsehen. -Vielleicht wurde ihr auch das beschwerliche Sitzen auf der Bank mit der -Zeit unbequem. Denn sie begann langsam einen Gegenstand nach dem andern -unter sich hervorzuziehen, wobei sie blitzenden Auges rief: ob sich -die hohen Herrschaften vielleicht einbildeten, die Bänke seien für sie -allein da. Und ob sie glaubten, andere Leute wollten nicht auch<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span> leben -und sich irgend wohin setzen. Ja, ob sie das glaubten? Und ob sie das -nächstemal nicht noch ihr ganzes Bett mitbringen und zur Freude anderer -Leute hier ausbreiten wollten?</p> - -<p>Immer größer wurde nun die Verwirrung in der Ecke, wo Hans und -Suse sich aufhielten. Denn das Töchterlein der zornigen Frau, der -Guckindieluft, hatte sich zu seiner Zerstreuung ein Paar Halbstrümpfe -von Hans als Handschuhe angezogen, eine Schürze von Suse als Krawatte -umgebunden und tänzelte nun, Gesichter schneidend, vor der Bank auf und -nieder.</p> - -<p>Eh’ sich das Kind aber versah, war die Mutter aufgesprungen, hatte ihm -die Schürze abgebunden und eilte damit hinter dem Töchterlein her, als -wär’s eine lästige Fliege, die durch ein paar kräftige Schläge aus der -Welt zu schaffen sei. Schließlich erwischte sie den Tunichtgut und -setzte ihn mit großem Nachdruck neben sich nieder. Das Kind sah sich -verwundert um.</p> - -<p>Die Frau aber verkündete mit weithinschallender Stimme, daß sie -niemals, niemals wieder in ihrem ganzen Leben mit ihren ungezogenen -Rangen auf Reisen gehe.</p> - -<p>Die Umsitzenden lachten.</p> - -<p>Und nun kam auch noch der Kellner herbei und schalt auf Hans und Suse, -die die Unordnung angerichtet hätten. Die beiden steckten hastig ihre -Sachen kunterbunt durcheinander in die Hirschtasche zurück. Dann -schlichen sie zur Tür hinaus in die Bahnhofshalle.</p> - -<p>„Faß nur schnell in die Tasche herein und hol’ die Geburt Christi -heraus, so schnell wie du kannst,“ sagte Suse.</p> - -<p>Da fuhr der Knabe mit beiden Händen in die Tasche und zog als erstes -den bewußten Gegenstand hervor.</p> - -<p>„Schön,“ sagte Suse wie erlöst. „Jetzt gehst du hin und nimmst zwei -Karten für Maria Heil. Die Postkutsche ist zwar schon fort, wenn wir -hinkommen, aber dann gehen wir eben zu Fuß nach Hause. Ich fürchte mich -heute nicht, auch wenn wir im Wald allein sind. Und wenn wir an der -Wolfsschlucht vorüberkommen, wo des Nachts in der großen Eiche immer so -gräßliche Stimmen schreien, da beten wir und dann hilft uns der liebe -Gott. — Aber hopp, Hans, hol’ die Karten, ich warte hier,“ mahnte sie.</p> - -<p>Noch einer geraumen Zeit bedurfte es, eh sich der Bruder zu dem -schweren Gang entschließen konnte. Dann schritt er zögernd vorwärts. -Suse beobachtete ihn aus der Ferne von der Mitte der Bahnhofshalle aus.</p> - -<p>Sie sah, wie er wartete, bis nur wenige Menschen noch in der Nähe des -Schalters waren, und dann herantrat. Jetzt drückte er sich von<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span> rechts -an das Fenster, jetzt blieb er stehen, jetzt sah er auf die Gegenstände -in seinem Arm und redete ein paar Worte.</p> - -<p>Da fuhr pfeilschnell ein glühendrotes, dickes Gesicht hinter dem -Schalterfenster hervor, und eine donnernde Lachsalve tönte Hans aus -zwei geblähten Wangen entgegen.</p> - -<p>Und in demselben Augenblick erklang auch hinter dem Knaben Lachen, und -als er herumfuhr, sah er in das Gesicht des Bahndieners, der ihn schon -vorhin im Wartesaal beobachtet hatte und ihm jetzt hierher gefolgt war.</p> - -<p>„Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte,“ rief der Mann, packte Hans am Arm -und zog ihn aus dem schmalen Gang, in dem er sich zwischen Schalter und -dem davorstehenden eisernen Gepäcktische befand, hervor.</p> - -<p>Kaum sah Suse dies von der Mitte der Bahnhofshalle aus, wo sie mit -ihrer Hirschtasche Wache stand, so kam sie herangestürmt wie eine -Glucke, deren Küchlein in Gefahr sind, faßte ihren Bruder an der Hand -und sagte ängstlichen Blickes auf den Angreifer: „Das ist mein Bruder -Hans. Ich bin seine Schwester Suse.“</p> - -<p>„So, so,“ sagte der Mann. „Also zwei Ausreißer.“</p> - -<p>Beide nickten schuldbewußt und Suse stotterte: „Wir sind von Frau -Cimhuber und von Ursel fort und wollen nach Hause nach Schwarzenbrunn. -Die Postkutsche ist wohl schon fort. Wir haben den Zug auch schon -verfehlt.“</p> - -<p>„Also man weiß nicht, daß ihr fort seid?“ fragte der Mann. Sie -schüttelten ihre Köpfe und standen mit niedergeschlagenen Augen da.</p> - -<p>„Und Geld habt ihr auch keins?“ forschte er.</p> - -<p>Sie verneinten.</p> - -<p>„Nun, dann kommt mal mit. Nun wollen wir mal sehen, was mit euch beiden -anzufangen ist,“ sagte er dann mit solch dröhnender Stimme, daß beide -zusammenfuhren. Und zu gleicher Zeit packte er sie an der Hand und zog -sie mit sich. Sie glaubten, ihr letztes Stündlein sei gekommen und -bekamen vor Angst ganz verzerrte Gesichter.</p> - -<p>Vor einem Raum, auf dessen Tür in roten Buchstaben „Stationsvorsteher“ -zu lesen war, blieb er endlich mit ihnen stehen, öffnete und ließ sie -eintreten.</p> - -<p>In der großen Amtsstube, in die sie nun kamen, saßen und standen Beamte -herum, schrieben und ordneten Papiere oder redeten miteinander. Und -alle sahen auf und musterten die Flüchtlinge.</p> - -<p>Einer trat sogar näher, stellte sich vor sie hin und betrachtete bald -den einen, bald den andern wie ein Meerwunder. Suse fühlte, wie der -Boden unter ihr schwankte und wie ihr ganz schwarz vor den Augen -wurde. —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span></p> - -<p>Wie aus der Ferne hörte sie eine Stimme reden und sah einen großen Mann -mit einem langen Bart wie in Dunst gehüllt vor sich stehen. — Die -Tränen liefen ihr über das Gesicht. — Und an ihrer Seite stotterte -Hans allerlei dummes Zeug, das kein Mensch verstehen konnte, auch sie -nicht.</p> - -<p>Da, als die Not am höchsten gestiegen war, nahte unversehens Rettung -aus der Stadt. — — —</p> - -<p>Dort hatten sich inzwischen auch die aufregendsten Szenen abgespielt. -Sie begannen fast mit dem Augenblick, als Hansens und Susens Zug die -Halle verließ.</p> - -<p>Da atmete Theobald erleichtert auf.</p> - -<p>Das erhebende Gefühl, sich wieder einmal durch seine Tatkraft und sein -forsches Eingreifen ausgezeichnet zu haben, beherrschte ihn ganz. Er -ahnte ja nicht, der vortreffliche Held, was er eigentlich angerichtet, -und was er im wohlgezielten Wurf hinter seinen kleinen Verwandten -hergeschickt hatte. Ihm schien alles über die Maßen gut gelungen, eine -fein eingefädelte, vortrefflich weitergeführte Sache. Toll genug war’s -freilich zugegangen.</p> - -<p>Nun galt es aber, sich endlich mal wieder ein menschliches Ansehen zu -verleihen. Schnell nahm er einen kleinen Spiegel zur Hand, betrachtete -sich, rückte seinen Kragen und Schlips zurecht und strich sich das Haar -glatt. Noch war er mit dieser Beschäftigung nicht zu Ende, da rief -jemand neben ihm: „Theobald, sind sie schon fort?“</p> - -<p>Und an seiner Seite stand Toni, die atemlos hinter ihm dreingekommen -war. — Er nickte. —</p> - -<p>„Die Armen, die Armen,“ jammerte der Backfisch. „Sie haben ja nichts zu -essen. Ich habe ihnen Schokolade mitgebracht.“</p> - -<p>„Zu spät,“ erklärte der Bruder kurz, „du hättest dich mehr beeilen -müssen, ich hab’ dich ja früh genug geweckt. Jetzt sind sie fort und -bleiben fort. Ich jedenfalls habe meine Pflicht getan.“</p> - -<p>In diesem Augenblick lief aus derselben Richtung, in der Hans und -Suse verschwunden waren, ein Zug ein. Die Reisenden stiegen aus und -gingen auf die Sperre zu. Theobald und Toni mischten sich unter sie. -Theobald suchte in der Westentasche nach seiner Karte. Plötzlich fuhr -er zusammen, umklammerte seiner Schwester Arm wie mit eisernen Klammern -und stöhnte: „Hier, hier, schau her! — Das ist das Zwanzigmarkstück, -das ich Hans und Suse geben wollte, hier, hier — schau, schau — -begreifst du’s, faßt du’s, weißt du, was das heißt? — Geht dir eine -Stallaterne auf? — Guck doch nicht so dumm. Mein Gott, was hab’ ich -ihnen denn eigentlich in den Zug geworfen?“ stöhnte er.</p> - -<p>Dann faßte er sich an die Stirn und taumelte.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span></p> - -<p>„Jetzt weiß ich’s,“ entrang es sich seiner Brust. — „Einen Hosenknopf! -Den hab’ ich mir gestern abgerissen. Den haben sie jetzt. Das ist ja -einfach schauerlich! Den können sie jetzt betrachten und an die Lippen -drücken und sich Karten davon kaufen und damit nach Hause fahren! — -Oh, ich Mondkalb!“</p> - -<p>Er griff sich mit beiden Händen verzweifelt an den Kopf. Toni zitterte -wie Espenlaub und murmelte: „Sie sind verloren, und wir sind an ihrem -Unglück mit schuld. Wir hätten sie warnen sollen. Theobald, du bist -gewissermaßen ihr Verderber.“</p> - -<p>Theobald vernahm kein Wort von ihrem Klagen und stand noch immer da wie -versteinert.</p> - -<p>Die Doktorskinder waren fort mit einem Hosenknopf auf die Reise, -das war alles, was er denken konnte, sonst nichts. — Und das hatte -er verschuldet, er — er. Wie zu einem Retter hatten sie zu ihm -aufgesehen, und er hatte sich wie ein Rüpel benommen.</p> - -<p>Lange sollte Theobald aber nicht in stummer Selbstanklage verharren; -denn wie der Sturmwind kam mit einemmal Ursel durch die Sperre, sah -sich um, erblickte den Tunichtgut, packte ihn am Arm und schüttelte ihn -hin und her wie eine Medizinflasche.</p> - -<p>„Sind sie drin?“ rief sie dabei, „sind sie drin? Antworte doch, Esel!“</p> - -<p>Und mit ausgestreckter Hand wies sie auf den wartenden Zug.</p> - -<p>Aber Theobald sah sie blöde an. Alle seine geistigen Fähigkeiten -schienen ihn verlassen zu haben; und auch Toni stand wie eine -Nachtwandlerin da und krampfte vor Schreck die Hände zusammen.</p> - -<p>Da rannte Ursel stracks auf den Zug zu, öffnete schnell eine Tür und -verschwand im Innern des Wagens. Noch hatte sie sich nicht vollständig -auf die Bank niedergelassen, da fuhr der Zug auch schon davon.</p> - -<p>„Lieber, lieber Gott,“ rief Toni, „sie sitzt ja drin, sie fährt ja in -der verkehrten Richtung! Ruf sie, Theobald, ruf sie!“</p> - -<p>„Was soll ich tun?“ rief Theobald entrüstet. „Hast du eine Ahnung, wie -die mich am Arm gepackt und gekniffen hat, diese Riesenschere, diese -Kneifzange, diese wilde Habichtsnase mit ihren Wolltüchern! Außerdem -hab’ ich jetzt Wichtigeres zu tun, als sie zurückzuholen. Ich renne -jetzt zu Onkel Fritz und wecke ihn auf. Er muß hinter Hans und Suse -herfahren und ihnen Geld zur Weiterreise bringen. — In dreiviertel -Stunden geht der Bummelzug. Ich würde selbst hinfahren, aber wenn wir -zur Aufstehenszeit nicht daheim sind, geht’s uns übel. Dann entdecken’s -der Vater und die Mutter.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span></p> - -<div class="figcenter"> - <a id="p059" name="p059"> - <img class="mtop2 mbot2" src="images/p059.jpg" - alt="Ursel weist auf den wartenden Zug" /></a> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span></p> - -<p>„Nein, nein,“ rief Toni, „weiterfahren dürfen Hans und Suse auf keinen -Fall. Ursel hat uns gesehen. Und wenn’s rauskommt, daß die Kinder -durch unsere Hilfe fortgekommen sind, dann ist für uns alles aus. — -Der Vater hat schon gesagt, noch eine Dummheit von mir, und ich komme -überhaupt nicht mehr ins Theater. Und ohne künstlerische Genüsse kann -ich nicht leben.“</p> - -<p>„Fahr’ nur lieber gleich in den Himmel,“ sagte der Bruder kaltblütig. -— „Was mich aber anbetrifft, so geh ich jetzt zu Onkel Fritz, und -damit basta.“</p> - -<p>„Und ich, wohin geh ich?“ jammerte Toni, „sag, Theobald, wohin soll -ich gehen? — Aha, ich weiß es,“ rief sie freudig, „ich gehe zu -Fräulein Hirt und bitte sie auf den Knien, daß sie Hans und Suse wieder -zurückholt. Die ist ja immer unsere Zuflucht. Die weiß Rat. Die verläßt -uns nie.“ —</p> - -<p>Mit diesen Worten stoben die Kinder durch die Halle und fuhren in -entgegengesetzter Richtung auf ihren Rädern davon.</p> - -<p>An einem der hohen Häuser in der Hauptstraße der Stadt klingelte -Theobald, um bei seinem Ideal, dem Onkel Fritz, dem Geber seiner -meisten Geschenke, Einlaß zu begehren. Eine alte Haushälterin, die -Katherin, machte ihm verschlafen auf und fragte ungehalten nach seinem -Begehr.</p> - -<p>Als sie erfahren hatte, was ihn herführte, riet sie ihm, doch zu einer -passenderen Zeit wiederzukommen und nicht, wenn der Mond noch am Himmel -stehe.</p> - -<p>Doch mit einer höflichen Verbeugung schob er die alte Frau zur Seite -und ging stracks auf das Schlafzimmer seines Onkels zu, der friedlich -schlummernd in weichen Kissen lag und von den schönsten Träumen -heimgesucht wurde.</p> - -<p>„Onkel Fritz, Onkel Fritz!“ rief der Knabe und schüttelte aus -Leibeskräften an ihm. Lange rührte sich der Schläfer nicht. Dann aber -fragte er verschlafen: „Was in aller Welt willst du denn schon hier, du -mein tägliches Brot? Noch nicht einmal im Bett ist man sicher vor dir. -Was ist denn jetzt schon wieder mal los? Verdufte, oder ich setze dich -vor die Tür.“</p> - -<p>Aber fester schüttelte der Neffe an seinem Onkel und mahnte: „Du mußt -sofort aufstehen und hinter Hans und Suse herfahren.“</p> - -<p>„Was soll ich tun?“ fragte der Onkel und richtete sich kerzengerade im -Bett auf. „Wachst du, oder träumst du? Hinter wem soll ich herfahren?“</p> - -<p>„Hinter Hans und Suse,“ sagte der Neffe kaltblütig und erzählte alles, -was sich zugetragen hatte.</p> - -<p>Da brach der Onkel in ein schallendes Gelächter aus. Besonders die -Vorstellung erschien ihm köstlich, daß Ursel in verkehrter Richtung -davon gefahren sei, und zwar mit Nüstern, die vor Wut ärger gedampft -hätten als der Lokomotivenschlot, wie sein Neffe beteuerte.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span></p> - -<p>Der aber blieb heute bei seines Onkels Heiterkeitsausbrüchen eisig kühl -und mahnte nur immer wieder: „Du mußt hinterherfahren, Onkel, du mußt -es tun. Denk doch daran, wenn ihnen was passiert! Und es passiert ihnen -sicher was. Sie sind ja einfach wie die Wickelkinder so dumm.“</p> - -<p>Da erklärte sich schließlich der Onkel unter Stöhnen und Schelten -bereit, die Fahrt anzutreten. So nebenbei frug er dann, ob es sein -Neffe nicht für angebracht hielte, daß er in jeder Westentasche zwei -Gummilutscher und zwei Milchfläschchen mitnehme. Überhaupt beabsichtige -er, nächstens einen Kindergarten zu eröffnen.</p> - -<p>Doch Theobald hatte für seines Onkels Geistesblitze heute nur ein -mitleidiges Achselzucken und half ihm in die Kleider, damit der -Abmarsch möglichst bald vor sich gehe. Zum Dank hierfür ließ der -Onkel ein paar Tropfen Kölnischen Wassers auf den Neffen herabregnen. -Den gleichen Wohlgeruch verbreitend, verließen dann die beiden guten -Freunde das Haus. Als sie am Bahnhof ankamen, war der Zug schon fort.</p> - -<p>Toni hatte inzwischen mehr Glück mit ihrem Bittgang gehabt. Sie war zu -Fräulein Hirt gelaufen. Das war Tonis und ihrer Schwestern angebetete -Klavierlehrerin, zu der sie in jeder Bedrängnis ihre Zuflucht nahm. -Schon seit Jahren verband sie innige Freundschaft mit dieser gütigen -Dame, in deren stillem, traulichem Zimmer sich’s so herrlich ausruhen -ließ, nachdem man allerlei Torheiten angestellt hatte. Man fühlte sich -hier wie auf einer fernen, stillen Insel, um die das gefährliche Meer -fern grollte und brauste, ohne einen erreichen zu können. Alles war -anheimelnd und vertrauenerweckend hier: die alte, taube Großmutter, die -am Fenster im Lehnstuhl saß und zu allem zustimmend nickte, was erzählt -wurde, weil sie nichts mehr davon verstand; der Dompfaff, der in seinem -Käfig so schöne Trostesweisen pfiff, und vor allen Dingen Fräulein -Hirt selbst, die den „Sausewinden“, wie sie Toni und ihre Geschwister -nannte, stets mit Engelsgeduld zuhörte und nur zuweilen ein leichtes -Lächeln zeigte. Sogar mit stolz erhobener Stimme konnte man ihr seine -Heldentaten vortragen, ohne befürchten zu müssen, daß einem plötzlich -eine treffende Bemerkung alles Selbstbewußtsein nahm, wie es beim Vater -daheim so leicht geschah.</p> - -<p>Fräulein Hirt, der vielerprobte Schutzengel, war ja nun an die -seltsamsten Überraschungen und Überfälle seitens ihrer Lieblinge -gewöhnt.</p> - -<p>Trotzdem erschrak sie nicht wenig, als sie ihre Toni zu so ungewohnter -Stunde bleich und verstört zu sich hereinstürzen sah und dann mit -zitternder Stimme erzählen hörte, was sich zugetragen hatte.</p> - -<p>Einen Augenblick stand sie verwirrt da, dann aber hatte sie sich gefaßt -und sagte kopfschüttelnd: „Also genau so wie ihr sind diese beiden,<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span> -genau so zwei Sausewinde. Und dabei sahen die beiden neulich, als ich -sie kennen lernte, doch aus, als könnten sie keine drei zählen.“</p> - -<p>Und darauf machte sie es ganz anders wie der berühmte Onkel Fritz. -Denn anstatt hundertmal zu fragen, was denn eigentlich los sei und zu -gähnen und sich zu recken und zu strecken, zog sie sich schnell an und -ging zum Bahnhof. Sie erreichte den Zug noch zur rechten Zeit und kam -in Haslach in dem Augenblick an, in dem die beiden Flüchtlinge in dem -Zimmer des Stationsvorstehers verhört wurden. Davon hatte sie natürlich -keine Ahnung und schritt darum eilends durch alle Wartesäle hindurch -und sah sich die einzelnen Gruppen der Leute forschend an.</p> - -<p>Schließlich lief sie auch dem Bahndiener in die Hände und hielt diesen -für die geeignetste Persönlichkeit, um ihr Auskunft zu geben. Rasch -entschlossen fragte sie ihn deshalb, ob er nicht zwei Kinder gesehen -habe, die durchgebrannt seien: ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen -und einen Jungen mit großen Augen und.....</p> - -<p>„Ei, Fräuleinchen,“ fiel ihr der Beamte ins Wort, „ich glaub’ die -beiden haben wir schon. Die sitzen beim Stationsvorsteher. — Ja, ja, -sie müssen’s sein. — Ein Mädchen mit langen, blonden Zöpfen und ein -Bub, na, halt so ein Bub. — Die müssen’s sein. Kommen Sie mal!“</p> - -<p>„Wenn sie’s doch nur wären!“ fiel ihm Fräulein Hirt aufgeregt ins Wort. -„Dann wär’ ja alles gut! Mir fiel’ ein Stein vom Herzen. Es sind die -kleinen Verwandten meiner besten Freunde. Stellen Sie sich vor, wenn -ihnen etwas zugestoßen wäre!“</p> - -<p>„Ach, so leicht stößt einem schon nichts zu,“ meinte der Beamte mit -väterlicher Stimme. „Kommen Sie nur mit, Fräuleinchen, und sehen Sie -sich die beiden einmal an. Nur nicht so leicht den Mut verlieren!“</p> - -<p>Und Fräulein Hirt folgte ihm eilends und trat bald darauf in das Zimmer -des Stationsvorstehers, wo sie gleich der beiden Ausreißer ansichtig -wurde. Dort standen sie, wie die Verurteilten, zitternd vor dem -Stationsvorsteher. Sie rief ihre Namen.</p> - -<p>Da fuhr Suse herum und schaute verwundert auf.</p> - -<p>Vor ihr an der Seite des Bahndieners stand Fräulein Hirt.</p> - -<p>„Ich will euch holen,“ sagte das Fräulein freundlich und kam auf sie -zu. Das kleine Mädchen konnte nicht reden. Sie schaute nur und schaute, -und ihr Gesicht wurde röter und röter, und mit einem Male stürzte ein -heller Tränenbach aus ihren Augen.</p> - -<p>„Ach, führen Sie uns doch wieder zu Frau Cimhuber,“ sagte sie leise.</p> - -<p>Auch Hans sah dankbar zu der Dame auf. Er war wie erlöst. Vor Suse -hatte er sich ja noch zusammengenommen und nicht verraten, wie -jämmerlich ihm zu Sinn war und daß er glaubte, sie beide seien -verloren. Und nun war alles gut. Nun stand Fräulein Hirt vor ihm und<span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span> -sah ihn mit ihren guten Augen freundlich an und sagte: „Ihr seid mir -die Rechten.“</p> - -<p>Wie zentnerschwer war ihm die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, auf -der Brust gelegen. — Allein zur Stadt zurückzufahren, allein Frau -Cimhuber aufzusuchen, allein alles zu beichten, was sich zugetragen -hatte, das war keine Kleinigkeit. — Und jetzt war er frei.</p> - -<p>Es kam ihm alles vor wie ein Traum. Und er hörte, wie sie den Beamten -für die Freundlichkeit dankte, die sie Hans und Suse gegenüber bewiesen -hätten, und wie sie dann zu ihm und seiner Schwester sagte: „Nun kommt -schnell. In zehn Minuten geht unser Zug, und ihr sollt vorher noch eine -Tasse Kaffee trinken.“</p> - -<p>Und als die beiden ihre schweren Gepäckstücke mit schiefgezogenen -Schultern wieder vorwärts tragen wollten, rief sie einen Träger herbei, -der ihnen die Last abnahm. Dann ging sie mit ihnen in den Wartsaal, -zum Glück nicht dorthin, wo die zornmütige Frau noch immer wie eine -bitterböse Kreuzspinne auf ihrem Posten saß und hervorschoß, wenn -jemand ihr und ihren Kindern zu nahe kam, sondern in einen andern Raum, -wo ein freundlicher Kellner dienstbereit herbeiholte, was Fräulein Hirt -forderte.</p> - -<p>Dann als die zehn Minuten um waren, stiegen die Kinder in einen Zug, -der sie nach der Stadt zurückführte.</p> - -<p>Es war aber auch höchste Zeit, daß sie bei Frau Cimhuber ankamen. -Kein übler Schreck hatte die Pfarrfrau heute morgen durchzuckt, als -sie das Nest leer und keine Ursel, keine Kinder vorgefunden hatte. — -Ihre gute, alte Magd, die sich auf ihre flinken Füße verlassen, hatte -gehofft, die Kinder noch einzufangen, ehe ihre Herrin aufwachte, und -hatte sich heimlich davongemacht.</p> - -<p>Nun war Frau Cimhuber in dem stillen Haus allein und konnte das Rätsel -von Ursels und der Kinder Abwesenheit nicht lösen.</p> - -<p>„Hans, Suse,“ rief sie. Keine Antwort kam. Alles war wie ausgestorben. -Nirgends rührte sich ein menschliches Wesen. Sie ging durch alle -Zimmer, stand still, überlegte, und schüttelte den Kopf. Da sah sie -zufällig auf dem Tisch in Suses Gemach einen Zettel liegen, der von -Kinderhand beschrieben war. Sie griff danach und las folgende, in -sorgfältiger Schrift aufgesetzte Worte:</p> - -<p>„Liebe Frau Cimhuber! Wir gehen jetzt nach Hause, weil wir so -gräßliches Heimweh haben. Seien Sie nicht böse! Der liebe Gott schickt -Ihnen sicher andere Kinder, die viel artiger sind als wir. Vielen Dank -für alle guten Gaben.</p> - -<p>Viele Grüße an Ursel und Sie von</p> - -<p class="right mright2">Hans und Suse.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span></p> - -<p>Frau Cimhuber sank auf den nächsten besten Stuhl und strich sich über -die Stirn. — Die Kinder waren fort. — Sie glaubte zu träumen. — -Da stand es aber auf dem Zettel, daß sie fort waren. — Ja, da stand -es. Hans und Suse waren nicht mehr hier. Sie befanden sich auf dem -Weg nach Hause. Mein Gott, was war denn los? Was war denn in die -Kinder gefahren? Was hatte sie dazu gebracht, sich davonzustehlen? -Sie zitterten ja schon, wenn sie einen größeren Gang durch die Stadt -machen sollten, und nun waren sie allein auf dem beschwerlichen Weg -nach Hause. Wieder strich sich die Pfarrfrau über die Stirn und quälte -sich mit hundert Fragen. Warum waren sie denn so unglücklich? Sie und -Ursel hatten doch stets das Beste der Kinder gewollt? Und wie oft hatte -sie darüber nachgedacht, was ihnen bei der Erziehung am dienlichsten -sei, und war immer wieder zu der Einsicht gekommen, daß sie Ernst und -Strenge nötig hätten. Und nun waren sie fort.</p> - -<p>Und während Frau Cimhuber so verzweifelt dasaß, kam ihr mit einem Male -der Gedanke an ihren Sohn Edwin, und sie sah ihn als kleinen Jungen -leibhaftig vor sich stehen. Er hatte ja nichts lieber, der kleine -Edwin, als wenn sie ihm leise über den Kopf strich und ihn an sich zog -und liebkoste. — Und nie, nie hätte sie es fertig gebracht, ihn zu -fremden Leuten zu geben, denn die hätten ihn vielleicht nicht mit Liebe -behandelt und wären schroff zu ihm gewesen.</p> - -<p>Frau Cimhuber erschrak.</p> - -<p>Und Hans und Suse? Die hatten ja auch eine Mutter daheim, die sie -liebkoste, und einen Vater, der gut zu ihnen war.</p> - -<p>Ein Vorfall von letzter Woche kam ihr in den Sinn und brannte ihr auf -dem Gewissen.</p> - -<p>Sie sah wieder, wie ihr das Garnknäuel auf den Boden fiel und Suse -wie der Blitz hinterherfuhr, es aufhob und ihr zurückgab. Und als sie -genickt und freundlich gesagt hatte: Ich danke dir, liebes Kind, da -hatte das kleine Mädchen sie so strahlend und froh angesehen, als sei -ihr die größte Freude widerfahren.</p> - -<p>Die Pfarrfrau schlug beide Hände vor das Gesicht.</p> - -<p>„Mein Gott, wenn sie doch nur wieder hier wären,“ entrang es sich ihrer -Brust. Wie wollte sie freundlich zu ihnen sein. Wie wollte sie sie mit -Liebe behandeln. Vielleicht kamen sie aber nicht wieder? — Vielleicht -war ihnen unterwegs etwas geschehen. Und der Herr Doktor und die Frau -Doktor, die ihr die Kinder anvertraut hatten in dem Glauben, daß sie in -sicherer Hut seien, was würden die sagen, wenn die beiden zu Schaden -kämen?</p> - -<p>Die Hände der Pfarrfrau sanken in den Schoß und falteten sich, und ihr -Antlitz trug einen Ausdruck, als spräche sie ein Gebet.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span></p> - -<p>Da klingelte es. Sie fuhr zusammen und konnte sich zuerst kaum erheben. -Dann ging sie langsamen Schrittes zur Tür. Ihr Herz klopfte. Zögernd -öffnete sie. Vor ihr standen die Kinder.</p> - -<p>„Mein Gott, mein Gott,“ sprach die Pfarrfrau und streckte beide Hände -nach ihnen aus. „Ihr seid’s? Seid ihr’s denn wirklich? Seid ihr denn -wirklich wieder da? Kommt doch herein, welch ein Segen, daß ihr wieder -da seid! Ist euch denn nichts zugestoßen unterwegs? Kommt doch herein!“</p> - -<p>Und sie zog die beiden an sich und umarmte sie in ihrer großen Freude.</p> - -<p>„Kommen Sie doch herein, liebes Fräulein!“ wandte sie sich dann an die -Begleiterin der Kinder und drückte ihr die Hände und sagte einmal über -das andere: „Wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sie gebracht haben! Wie -dankbar bin ich Ihnen; ich kann es gar nicht sagen!“</p> - -<p>„Warum seid ihr denn fortgegangen?“ wandte sie sich wiederum an die -Kinder.</p> - -<p>Und beide sahen sie erstaunt an und sagten kein Wort als Erwiderung und -konnten den Umschwung in ihrem Wesen nicht verstehen.</p> - -<p>Sie aber redete weiter freundlich zu ihnen wie eine Mutter, führte sie -in ihr Schlafzimmer, schenkte ihnen warmes Wasser ein und sagte, sie -möchten zu ihr in die Negerstube kommen, wenn sie sich gewaschen und -umgezogen hätten.</p> - -<p>Und dann führte sie Fräulein Hirt in ihr Staatsgemach und nötigte sie -in ihr Sofa, damit sie ihr hier alles erzähle, was sie von den Kindern -wisse.</p> - -<p>Und nun begann Fräulein Hirt über das Abenteuer der Ausreißer zu -sprechen. Und im Laufe der nächsten halben Stunde stellte es sich -heraus, daß sie bei den Sausewinden in eine gute Schule gegangen war. -Denn sie wußte so zu reden und zu bitten, daß man glauben mußte, Hans -und Suse seien die größten Unschuldsengelein, die zurzeit auf dem -Erdball herumliefen.</p> - -<p>Aber es bedurfte gar nicht ihres Zuredens, um Frau Cimhuber -umzustimmen. Sie dachte ja selbst schon ganz anders über die Kinder als -früher.</p> - -<p>„Was müssen die beiden durchgemacht haben,“ sagte sie einmal über das -andere, „was müssen sie durchgemacht haben!“</p> - -<p>Und als Fräulein Hirt sich schließlich empfahl, weil es Zeit für sie -war, nach Hause zu gehen, da suchte Frau Cimhuber die Geschwister -gleich wieder auf und sagte ihnen, sie sollten zu Hause bleiben und -sich ausruhen und nicht zur Schule gehen.</p> - -<p>Aber Hans spürte trotzdem den Wunsch, es zu tun. Er trank schnell -noch einmal eine Tasse Kaffee und lief davon. — Der gefährliche Gang -in das Zimmer des Direktors hatte plötzlich nichts Schreckliches -mehr für<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span> ihn. — Lieber zehn Gänge in das Zimmer des Direktors, -als noch eine solch fürchterliche Flucht mit Suse, wollte es ihm -scheinen. In den Gefahren des Morgens hatte sich sein Mut gestählt -und gefestigt. Er fühlte, er würde nun ohne Zittern an der Seite des -Naturgeschichtslehrers in das Zimmer des Direktors treten, und wenn -er gefragt würde, mit klarer, heller Stimme antworten: „Ich habe die -Papierkugel nicht geworfen, Herr Direktor.“ Und man würde ihm glauben.</p> - -<p>Aber zu dem schweren Gang kam es gar nicht; denn als Hans vor Beginn -des Unterrichts sich noch schnell an seinen Platz drückte, rief ihm -Peter zu: „Du, Hans, ich hab’ gestern gesehen, daß Kurt die Kugel -geworfen hat, nicht du. Ich hab’ ihm meine Meinung gesagt. Er wird’s -sagen, sonst treten wir aus dem Fußballklub aus und fordern unser Geld -zurück.“</p> - -<p>Und die andern riefen zustimmend: „Ja.“ —</p> - -<p>So war Hans gerettet. Und er schämte sich nicht wenig, als er inne -wurde, wie schnell eine Sache, von der er so viel Aufhebens gemacht -hatte, aus der Welt geschafft worden war.</p> - -<p>Suse aber blieb daheim und saß lange Zeit neben Frau Cimhuber auf dem -Sofa und hatte ihren Kopf an die Schulter ihrer Pflegemutter gelehnt -und hörte, wie diese freundlich sagte: „Willst du denn nicht mehr bei -uns bleiben, liebe Suse, gefällt es dir wirklich nicht bei uns? Glaub’ -nicht, daß ich dich nicht lieb habe. Ich muß nur immer an meinen Sohn -in Afrika denken. Der ist krank, und ich bin in großer Sorge um ihn.“</p> - -<p>Und die Pfarrfrau fuhr fort, von ihrem Sohn Edwin zu reden, besonders -von seiner Kindheit, und betonte immer wieder, was für ein liebes, -gutes Kind er gewesen sei, und wie er ihr stets nur Freude gemacht habe.</p> - -<p>„Der wäre nicht fortgelaufen von fremden Leuten, wie wir!“ sagte Suse -leise und schuldbewußt.</p> - -<p>Ihre Pflegemutter schwieg.</p> - -<p>Und während es so still in der Stube wurde, wanderten Susens Blicke -scheu nach dem Negergotte hin, der mit seinem schiefgezogenen Munde -aussah, als wollte er durch eine Zahnlücke zischen: Nichtsnutze! -Nichtsnutze! Schon wieder mal was angestellt? Mein Kopf! Mein Kopf! O -mein armer Kopf!</p> - -<p>„Er guckt!“ flüsterte Suse.</p> - -<p>Da nickte die Pfarrfrau, stand langsam auf, ging auf den Götzen zu und -trug ihn unter viel Beschwerden in ihren Kleiderschrank, damit er dort -hinter düsteren Gewändern einsam sitze.</p> - -<p>Und dann nahm sie wieder neben Suse Platz.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span></p> - -<p>Und Suse kam sich mit einem Male geborgen vor, wie bei ihren Eltern -daheim.</p> - -<p>Sie war ja nicht mehr auf dem Bahnhof, wo alle Menschen sie so streng, -so feindlich ansahen. — Sie saß hier neben Frau Cimhuber und konnte -sich fest an sie schmiegen.</p> - -<p>Gegen zehn Uhr erschien auch Ursel und war endlich einmal wieder von -ihren Wolltüchern befreit; denn sie hatte sich ihren kranken Zahn -ziehen lassen und sah milde und freundlich drein. Und als sie sich auf -dem Küchenstuhl niedergelassen hatte, begann sie zu erzählen: Bei ihrer -Abfahrt heute morgen vom Bahnhof habe sie plötzlich entdeckt, daß sie -verkehrt gefahren wäre, und eine gräßliche, eine fürchterliche Wut habe -sie gepackt. — Ihr Zorn sei aber noch zehnmal größer geworden, als -sie auf der nächsten Station entdeckt habe, daß sie noch zwei Stunden -warten müsse, bis sie wieder heimfahren könne. Da sei sie davongerannt -wie von Sinnen in die Stadt hinein, zum ersten, besten Zahnarzt, vier -Treppen hinauf, und habe sich ihren Zahn ziehen lassen. Und jetzt sei -ihr so wohl, so wohl, wie in ihrem ganzen Leben noch nicht.</p> - -<p>Dann wandte sie sich an Suse und verlangte von ihr zu wissen, was -sich eigentlich mit Hans und ihr zugetragen habe. Zitternd begann das -kleine Mädchen seine Beichte. Aber sie war noch ganz im Anfang damit, -da unterbrach Ursel sie schon: „Hör’ auf, ich will nichts mehr hören. -— Wer ist an allem schuld, Frau Cimhuber, wer? — dieser Nichtsnutz, -dieser Tunichtgut, dieser Theobald! — Wissen Sie noch, Frau Pfarrer, -wie er unserem Spitzchen einmal auf den Schwanz getreten hat? Da haben -Sie ihm eine Ohrfeige gegeben. So war’s recht. Das tat ihm gut. — -Schade, daß er so eine nicht jeden Tag bekommt. Das hab’ ich damals -gleich gesagt.“</p> - -<p>Und nach diesem harten Urteil wurde Ursel wieder friedfertig, sprach -froh über ihre Erlösung vom Zahnweh und forderte Suse auf, doch ein -wenig mit ihr in der Küche zu bleiben.</p> - -<p>Und die beiden Frauen setzten Suse ein Stück Kuchen vor. Aber als -sie einmal in den Keller gingen und wiederkamen, fanden sie Suse -eingeschlafen auf ihrem Küchenstuhl sitzen und brachten sie zu Bett.</p> - -<p>Am späten Nachmittag erwachte Suse aus schweren Träumen. Ihr hatte -geträumt, der Bahnhofvorsteher und die Frau mit den drei Kindern und -der Kellner seien hinter ihr hergesprungen und hätten sie am Kopf -gepackt und geschüttelt, daß ihr die Haarschleife davongeflogen sei.</p> - -<p>Da schlug sie die Augen auf und sah Hans vor sich stehen, der mit -heiterer Miene erklärte: „Endlich wachst du auf. Fein war’s heute in -der Schule. Kurt hat gesagt, daß er die Papierkugel geworfen hat, und -da war alles wieder gut.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span></p> - -<p>Und als Suse noch ganz verschlafen und erstaunt nach ihm hinsah, kam -Frau Cimhuber, legte ihr die Hand auf die Stirn und fragte, ob ihr -Kopfweh vorüber sei, und ob sie all ihre Schulaufgaben gemacht habe.</p> - -<p>Da fiel Suse etwas ein. Ängstlich hub sie an: „Ich hab’ das Rechnen -noch nicht gemacht, Frau Pfarrer; das Rechnen ist immer am schwersten -hier. Bei uns machen sie es ganz anders. Bei uns machen sie es von -rechts nach links, und hier von links nach rechts. Und jetzt weiß -ich nicht, ob ich bei der Division den langen Schwanz, die vielen -Rechenkästchen mein ich, auf die rechte Seite setzen soll oder auf die -linke.“</p> - -<p>Da setzte Frau Cimhuber ihre Brille auf, holte Susens Ranzen herbei, -verglich das Rechenbuch mit dem Heft und gestand schließlich, daß sie -es auch anders gelernt habe in der Schule.</p> - -<p>Nun sei aber kein Grund, deshalb betrübt zu sein. Sie wolle schon für -Hilfe sorgen. Und während Suse noch nicht wußte, wie ihr geschah, da -stand Frau Cimhuber schon zum Ausgehen bereit da und forderte Suse auf, -mit ihr zu der Tochter ihrer Freundin zu gehen, einem jungen Mädchen, -die eben jetzt das Lehrerinnenexamen gemacht habe, und die ihr gerne -helfen werde.</p> - -<p>Das junge Mädchen sah sich wirklich auch mit größter Bereitwilligkeit -Susens Heft an, merkte, daß nur eine Kleinigkeit falsch war und -erklärte dem Kind noch einmal die ganze Aufgabe von vorn.</p> - -<p>Suse verstand in Kürze alles und betrachtete mit dankbarem Blick bald -die junge Lehrerin, bald strahlend ihr Heft, bald Frau Cimhuber.</p> - -<p>Und am Abend da sagte sie zu ihrem Bruder: „Du, Hans, das hätte ich -doch nicht geglaubt, daß Frau Cimhuber einmal so gut gegen uns wäre!“ -„Ich auch nicht,“ entgegnete der Bruder.</p> - -<p>Einige Tage später erhielten die Geschwister Nachricht von ihren -Eltern, denn Frau Cimhuber hatte diese von allem unterrichtet, was sich -zugetragen hatte. Die Worte von Vater und Mutter gingen den Kindern -sehr zu Herzen.</p> - -<p>„Mein lieber Hans,“ schrieb der Doktor unter anderm an seinen Sohn, -„ich hätte nicht gedacht, daß Du Dein Versprechen so bald brechen und -davonrennen würdest wie ein Soldat, der seine Flinte ins Korn wirft. — -Das war kein schöner Streich von Euch. Was soll aus Euch werden, wenn -Ihr nicht beizeiten lernt, die Zähne zusammenzubeißen und auszuhalten -auch dann, wenn es Euch nicht gefällt! Und wann wirst Du, lieber Hans, -endlich anfangen, Deinen Willen durchzusetzen und nicht immer Susens -dummen Einfällen folgen...“</p> - -<p>Dem Knaben stieg das Blut ins Gesicht, und er schlich beschämt zur Tür -hinaus. — Wie jämmerlich stand er nun in den Augen der Eltern da!</p> - -<p>Suse las derweil den Brief ihrer Mutter mit großer Andacht.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span></p> - -<p>„Ich brauche Dir nicht zu sagen, liebe Suse,“ schrieb die Doktorsfrau, -„daß Dein Vater und ich tief betrübt waren, als wir von Eurer Flucht -hörten. Wir hätten nie gedacht, daß Ihr so etwas fertig brächtet. — -Du schreibst, Du möchtest gern in einem großen Hause wohnen, wo es -einen Garten gibt, und Blumen und Kinder. Wie gern, wie gern schickten -wir Euch dorthin, mein liebes Kind! Aber wir können es nicht. Wir sind -viel zu arm dazu. Glaube mir, wir haben uns wohl den Kopf zerbrochen, -wie es möglich zu machen wäre. Aber unsere Mittel reichen nicht dazu. -Ich wollte Dir dies eigentlich nicht sagen, um Dich nicht traurig zu -machen, aber nun tu’ ich es doch, damit Du siehst, weshalb Ihr bei Frau -Cimhuber bleiben müßt. — Du bist ja auch schon ein großes Mädchen und -mußt vernünftig darüber denken. — Und dann grüble auch nicht immer -darüber nach, ob Frau Cimhuber und Ursel und die Kinder in der Schule -Dich gern haben. Sie kennen Dich ja noch kaum. Du wirst schon sehen, -wenn sie Dich erst einmal kennen und sehen, daß Du immer freundlich und -höflich zu ihnen bist, werden sie Dich schon lieb gewinnen. Und nun -denkt an das Pfingstfest, das bald kommt. Dann dürft Ihr nach Hause -fahren.“</p> - -<p>„Der Vater und die Mutter sind sehr, sehr traurig,“ sagte Suse -seufzend, als sie mit Lesen fertig war. „Wir müssen ihnen gleich -schreiben, Hans, daß nun alles gut ist und daß Frau Cimhuber jetzt sehr -lieb zu uns ist, und daß wir sogar schon vorwärtskommen in der Schule. -— Und weißt du, Hans, jetzt schreiben wir noch, wir wollen auch -Pfingsten nicht nach Haus, dann sparen sie das Geld für die Reise, und -damit machen wir ihnen eine große Freude.“</p> - -<p>Hans war Feuer und Flamme für diesen schönen Plan. Aber die Geschwister -hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. — Kaum hatte Ursel davon -vernommen, so rief sie laut: „Was? jetzt war ich g’rad froh, daß es mal -Luft gibt, und jetzt wollt ihr hier bleiben. Nein, nein, das gibt’s -nicht. Ich will doch auch mal aufatmen.“</p> - -<p>Und der Doktorskinder Herz begann gar freudig zu klopfen, als ihr -heldenhafter Entschluß so schnell vereitelt wurde.</p> - -<div class="chapter"> - - -<h2 class="left" id="Drittes_Kapitel">Drittes Kapitel.<br /> - -<b class="s4 mleft2">Das Kamel</b></h2> - -</div> - -<p class="p0"><span class="initial">H</span>ans und Suse fühlten sich nun ganz wohl bei Frau Cimhuber und lebten -sich allmählich in der Stadt ein.</p> - -<p>Suse hatte sogar schon eine Freundin, die blonde Gretel, die in der -Schule neben ihr saß. — Auf eine merkwürdige Weise hatte sie mit<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span> -diesem kleinen Mädchen Freundschaft geschlossen. — Eines Morgens, da -hatte sie auf dem Platz neben ihr zwei Puppenbeine hervorschauen sehen, -und während sie sich über diese schnurrigen Gegenstände noch gewundert -hatte, da war neben ihr Gretel aufgerufen worden, um eine Frage der -Lehrerin zu beantworten.</p> - -<p>In demselben Augenblick hatten sich unter der Bank die Puppenbeine -geregt und wie der Blitz war eine blonde leibhaftige Puppe -hervorgeschossen, auf Suse zu. Mit beiden Händen hatte sie zugegriffen -und die Abstürzende tief aufatmend auf ihren Schoß gesetzt.</p> - -<p>Gretel aber, der vor Schreck fast das Wort im Munde stecken geblieben -war, hatte sich hernach herzlich bei dem Doktorskind für die Rettung -ihres Lieblings bedankt.</p> - -<p>Schon am folgenden Sonntag wurde Suse bei ihrer neuen Freundin -eingeladen, und Gastgeberin und Gast waren so miteinander zufrieden, -daß Suse von nun an recht oft wiederkam, häufig sogar in Begleitung -ihrer eigenen Puppe, der Genoveva. Neben den prächtigen, feinen -Stadtpuppen nahm sich Genoveva, das blöde, ungelenke Landkind, -allerdings sehr einfach und bescheiden aus. Dafür hatte sie aber den -Vorzug, ein ereignisvolles Leben hinter sich zu haben. Stundenlang -konnte Suse davon erzählen. So war dies Puppenkind einmal von dem -Vetter Theobald an einem Bein an der Wäscheleine aufgehängt worden und -hatte seit jenem Tag einen Anflug von der Glotzkrankheit behalten, wie -man an ihren hervorquellenden Augen bemerken konnte. — Ein andermal -hatte Suse selbst ihre Tochter eine lange, schreckliche Nacht hindurch -am Fuchskopf in den Bergen vergessen, und als sie am andern Morgen in -Schrecken und Angst zu ihr geeilt war, hatte sie das arme Kind mit -einer lebendigen Eidechse im Schoß vorgefunden, vor Entsetzen halb tot, -wie die dicken, über ihre Wangen rinnenden Schweißtropfen verrieten. — -Ja, ja, man hatte seine Not mit Genoveva gehabt!</p> - -<p>Gretel war Feuer und Flamme für diese Geschichten und für die -Erzählerin nicht minder. Und so kam es, daß sich in Suse schon wieder -die Eingebildetheit regte und sie anfing, wieder übermütig zu werden -wie daheim eigentlich immer.</p> - -<p>Mit Theobald, ihrem erfahrenen Lehrmeister in aller Stadtweisheit, -hatte sie sogar schon einen Streit gehabt, weil sie ihn fürwitzig und -mit erhabener Miene über wichtige Gebäude seiner Vaterstadt belehrte, -über die er ganz verkehrte Begriffe hatte, während Suse, dank einer -Unterhaltung mit Frau Cimhuber, großartig Bescheid wußte. Ärgerlich -hatte der Vetter hierauf sein Wohlwollen Hans zugewandt, der weniger -eingebildet als Suse war, sich aber reichlich so gut in der Stadt -zurecht fand wie sie. Theobald hatte ihm deshalb vor einigen Tagen -in seiner schnur<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span>rigen Manier beide Hände auf das Haupt gelegt und -gesagt: „Fahre nur so fort, teurer Freund, und du wirst uns noch alle -überstrahlen, indem daß du gar nicht so dumm bist, wie du aussiehst. Du -schickst dich sogar besser als Suse, obwohl die wunder wie gescheit tut -und nicht einmal weiß, wie man von der Elektrischen abspringt und immer -die verkehrte Hand am verkehrten Griff hat und aus lauter falscher -Sachkenntnis nächstens mitten auf der Straße sitzt.“</p> - -<p>Natürlich waren diese Reibereien harmloser Natur und jedermann, vor -allem Frau Cimhuber und Ursel, glaubten, daß nun die Stürme vorüber -seien und daß sich Friede und Ruhe auf alle senken werde. Wie oft -pflegte nicht die Pfarrfrau in diesen Tagen zu ihrer alten Magd zu -sagen: „Sehen Sie, sehen Sie, es ist alles gut geworden, man darf nur -niemals verzagen!“</p> - -<p>Da mit einemmal bekamen die Kinder eine Einladung zu Onkel Gustav, dem -reichen Besitzer des prächtigen Schlosses, das Hans in den ersten Tagen -seines Hierseins schon einmal mit Theobald aufgesucht hatte.</p> - -<p>Übermütig vor Freude eilten sie zu ihren Vettern und Basen, um ihnen -die frohe Neuigkeit mitzuteilen.</p> - -<p>Die aber machten Gesichter, als sei ihnen die Petersilie verhagelt.</p> - -<p>„Freut ihr euch denn nicht?“ fragten Hans und Suse. „Ihr seid doch auch -geladen.“</p> - -<p>„Freuen,“ sagte Toni im wegwerfenden Ton, „keineswegs, uns graut sogar -davor.“</p> - -<p>„Graut?“ forschte Suse.</p> - -<p>„Ja, es ist uns sehr unangenehm, weil die Fremdlinge — die Tante und -ihre Kinder wollte ich sagen — Protzen sind. Fremdlinge nennen wir sie -deshalb, weil sie aus Südamerika kommen und so großartig fremdländisch -tun. Und Protzen sagen wir, weil sie eben Protzen sind.“</p> - -<p>„Was sind das, Protzen?“ fragte Suse erstaunt.</p> - -<p>„Nun,“ erklärte die Cousine, „das sind Leute, die sich schrecklich viel -auf ihr Geld einbilden und auf alles, was sie haben.“</p> - -<p>„Ach,“ meinte Suse, „nichts Schlimmeres? Das ist doch nicht schlimm! -Wenn ich ein solch schönes Haus hätte und solch prächtige Sachen und -solche ausgestopften Tiere wie sie, würde ich mir auch was einbilden.“</p> - -<p>„Dann wärest du auch ein Protz,“ fiel Theobald scharf ein, „und das -sähe dir so recht ähnlich.“</p> - -<p>„Das machte nichts,“ entgegnete Suse keck, „wenn ich nur einen einzigen -ausgestopften Löwen hätte, wäre ich schon froh. Eine ausgestopfte -Giraffe wäre mir eigentlich noch lieber.“</p> - -<p>Hans war es doch nicht recht geheuer, und auf dem Nachhauseweg<span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span> sagte -er nachdenklich zu seiner Schwester: „Am Ende wird’s doch nicht so -schön bei Onkel Gustav, wie wir geglaubt haben.“</p> - -<p>Suse schwieg und zuckte die Achseln; dank ihres leichten Sinnes hatte -sie eine ganz andere Meinung und zauberte in den nächsten Tagen ihrem -Bruder die herrlichsten Bilder über ihren Besuch bei den Fremdlingen -vor Augen.</p> - -<p>An einem großen runden Tisch sitzend, von silbernen Tellern Kuchen -essend, aus wundervollen Tassen Schokolade trinkend, würden sie den -seltsamen Abenteuern des Onkels lauschen, meinte sie. Zuckersüße -Früchte würden phantastisch geschmückte Dienerinnen zu ihnen -hereintragen.</p> - -<p>Als der Tag des Besuches bei Onkel Gustav herangekommen war, zogen Hans -und Suse sich mit größter Sorgfalt an. Und Ursel, die Ehre mit ihnen -einlegen wollte, half ihnen dabei. Suse war’s zufrieden. Nachdem sie -ihr Sonntagskleid angezogen hatte, steckte sie ihre Lieblingsbrosche, -ein Stiefmütterchen, vor, dessen buntbemalte Blütenblätter ein kleines, -zorniges Gesicht zeigten. Auf dies, ihr schönstes Schmuckstück, bildete -sich Suse nicht wenig ein.</p> - -<p>Vor zwei Jahren war nämlich ein hoher Herr — ein Prinz, wie Rosel -behauptet hatte — nach Schwarzenbrunn gekommen und durch den Ort -geschlendert. Und als die Schuljugend ihn verfolgte, hatte er plötzlich -aus der Schar der Gaffer Suse hervorgeholt, sie betrachtet und -gefragt: „Wem gehörst du, Kind? Du bist ein feines, kleines Mädchen; -wer hat dir das schöne Stiefmütterchen geschenkt?“ Und dabei hatte -er mit Begeisterung ihr Stiefmütterchen angesehen, ein Umstand, den -Suse mit Befriedigung wahrgenommen hatte. Denn erst am Tage vorher -hatte sie einen Streit mit Hans gehabt, weil er behauptet hatte, das -Stiefmütterchen sehe ganz verheult und miserabel streifig aus, seit es -eine Nacht lang im Regen im Garten liegen geblieben sei.</p> - -<p>Darum durfte das Stiefmütterchen in Zukunft nicht mehr fehlen, wenn -Suse sich putzte.</p> - -<p>Hans war mit Anziehen schon längst fertig, da überlegte Suse noch -immer, wo sie ihr Stiefmütterchen am vorteilhaftesten anbringen könne.</p> - -<p>Endlich war ein Platz gefunden und nun konnten Bruder und Schwester von -dannen gehen.</p> - -<p>Beim Abschied schärfte Frau Cimhuber den Kindern mehrmals ein, ja recht -artig zu sein und auf alles acht zu geben, was sie sähen.</p> - -<p>„Ja, ja, das wollen wir,“ rief Suse, „und herrliche Sachen werden wir -Ihnen erzählen, Frau Pfarrer,“ und damit eilte sie voll hundert schöner -Erwartungen mit Hans die Treppe hinunter.</p> - -<p>Bei dem Kriegerdenkmal, dem Ort der Verabredung, trafen sie mit<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span> Toni -und ihren Geschwistern zusammen. Die Aufsicht über die Kinder führte -Liselotte, ihre ältere Schwester, ein junges, feines Mädchen, das viel -auf Anstand und gutes Benehmen hielt, dafür aber leider bei ihren -Geschwistern kein Verständnis fand.</p> - -<p>Deshalb hatte sie auch vorhin ihren Eltern seufzend erklärt, es sei ein -schweres, ein hartes Stück Arbeit, die Geschwister zu beaufsichtigen. -Man meine manchmal, der böse Geist fahre in sie und triebe sie zu immer -neuen Ungezogenheiten an. — <span class="nowrap">E<span class="mleft0_2">i</span><span class="mleft0_2">n</span><span class="mleft0_2">e</span><span class="mleft0_2">n</span></span> Volksauflauf gebe es sicher, -und das sei dann so peinlich für einen erwachsenen Menschen. Jedoch -die Eltern hatten die Sache nicht so ernst genommen und ihren jüngeren -Kindern eingeschärft, der älteren Schwester gut zu gehorchen.</p> - -<p>Als die Gesellschaft vollzählig war, brach sie gemeinsam nach der -„Villa Granada“ auf, — der Wohnung ihrer reichen Verwandten draußen -vor der Stadt.</p> - -<p>Hans und Suse sahen auf dem Wege dorthin erwartungsvoll drein. Ganz -anders als ihre kleinen Verwandten, die gleichmütigen Stadtherrlein -und Fräulein, denen ein solcher Besuch etwas ganz Alltägliches zu sein -schien.</p> - -<p>Besonders Suse sah man die Erregung am Gesicht an, und mit tiefem -Unbehagen nahm sie selbst wahr, daß all ihre Erwartung auf ein schönes -Fest kläglich zusammenschrumpfte und nur blasse Furcht zurückblieb. -Sie zweifelte gar nicht mehr daran, daß alles, was Theobald prophezeit -hatte, auf schreckliche Weise in Erfüllung gehen werde. Und in ihrer -Verwirrung drängte sie sich schließlich nahe am Ziel an den übermütigen -Vetter selbst heran, um bei ihm noch einmal Auskunft zu holen.</p> - -<p>„Du, Theobald, sag’ mir,“ begann sie ängstlich, „ich wollte dich -fragen, Theobald. Sag’ mir, wie sieht die Tante aus? Gelt, die ist -nicht schwarz?“</p> - -<p>„Nicht schwarz?“ rief der Vetter. „Ja, wie denn sonst! Vielleicht grün -wie ein Laubfrosch oder blau wie ein Schmetterling, wenn sie aussieht, -als wär’ sie in die Tinte gefallen! Und die Kinder erst! Die sind -schwarz und weiß kariert wie Schachbretter und haben Ringe durch die -Nase und Federbüsche auf dem Kopf und Bäuche wie Frösche.“</p> - -<p>„Das glaub’ ich nicht,“ entgegnete Suse.</p> - -<p>„Glaub’s nicht! In der nächsten halben Stunde werden wir uns wieder -sprechen!“ sagte der Vetter gleichmütig.</p> - -<p>„Ich mein’,“ sagte Suse, „ich möchte wissen, Theobald, ob die Tante -so freundlich zu einem ist, wenn sie einem guten Tag sagt, wie andere -Damen?“</p> - -<p>„Freundlich? freundlich?“ stotterte Theobald. Und seine Stimme<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span> zum -unheimlichsten Flüsterton dämpfend, raunte er ihr zu: „Sie ist ja eine -Art Menschenfresserin, Suse, ich hab’s dir ja schon einmal gesagt. Ihr -Leibgericht sind Menschenohren. Darum rat ich dir, nimm deine Lauscher -in acht. Sonst stürzt sie sich drauf, reißt sie ab und rauft sie an -sich. Dann hast du Ohren gehabt und kannst dich außerdem für Geld sehen -lassen, so schnurrig siehst du dann aus.“</p> - -<p>Suse lächelte verlegen.</p> - -<p>„So, da wären wir!“ unterbrach sich Theobald mit einemmal.</p> - -<p>Ein großes, eisernes Parktor lag vor ihnen. In goldenen Buchstaben -stand der Name der Villa als ein leuchtender Bogen darüber geschrieben. -An einem efeuumsponnenen, von Ulmen überschatteten Pförtnerhäuschen -vorüber ging die Gesellschaft in das Innere des Parkes. Suse zitterte -das Herz bei jedem weiteren Schritt. Am liebsten wäre sie umgekehrt.</p> - -<p>Mit einem Male sagte Toni ganz laut. „Da kommen Concha, Enrique, Sancho -und Jose.“ „Die prächtigen Granadasöhne,“ setzte Theobald hinzu.</p> - -<p>Suse fuhr zusammen.</p> - -<p>Aber was mußten ihre Augen sehen? Dort aus der Ferne, von der -blumenbewachsenen Terrasse herunter, auf der stolz wie ein Schloß die -Villa Granada stand, kamen ein paar Kinder, die genau aussahen wie -die Kinder anderer Sterblicher. Nichts von Federbüschen, nichts von -Nasenringen, nichts von einer karierten Haut war zu sehen, wie Theobald -angekündigt hatte. Und auch jetzt, als sie ganz in der Nähe angelangt -waren, verwandelten sie sich noch immer nicht in Kaminfeger. — Das -kleine Mädchen sah sogar wunderhübsch aus in ihrem reichgestickten -Kleid.</p> - -<p>„Guten Tag,“ sagten die Kinder mit fremdländischer Betonung, und -schlossen sich ihren Besuchern an.</p> - -<p>Suse mußte sie immer wieder von der Seite ansehen. Ihre Gesichter waren -ganz weiß, und ihre Gestalten waren geschmeidig und fein, ihre Augen -dunkel und strahlend.</p> - -<p>Der eine der Knaben, der kleinste von den dreien, öffnete einen -silbernen Zigarettenbehälter und zündete sich eine Zigarette an. Aber -sonst geschah nichts Außergewöhnliches.</p> - -<p>Und jetzt, da ihr erster Schreck verwunden war, empfand Suse etwas -wie Bedauern über soviel Alltäglichkeit. Es wäre ihr nun gar nicht -unlieb gewesen, wenn plötzlich einer der Knaben ein paar ausländische -Purzelbäume geschlagen oder sonstige Allotria getrieben hätte. Aber -keiner tat ihr den Gefallen. Sie gingen im manierlichsten Schritt von -der Welt einher.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span></p> - -<p>Da raunte Hans plötzlich seiner Schwester zu: „Sieh, dort an der -Seite des Schlosses, das niedere Haus, das ist die Garage, wo wir das -Automobil damals besehen haben.“</p> - -<p>„Herrgöttle, Herrgöttle, haben wir dabei geschwitzt,“ ließ sich nun -auch Theobald vernehmen. — Noch hatte er nicht ausgeredet, da horchte -Suse erschreckt auf. Ein überaus häßliches Geschrei, wie sie es in -ihrem ganzen Leben noch nicht vernommen, hatte ihr Ohr getroffen. -Und als sie in die Richtung blickte, aus der es kam, sah sie auf dem -grünen Rasenplatz, der sich bis zur Terrasse hinüber erstreckte, einen -wunderbaren Vogel spazieren gehen.</p> - -<p>„Der Pfau,“ sagte Hans mit geheimnisvoller Stimme. — Suse betrachtete -das Tier mit Staunen. Wie eine königliche Schleppe ließ er seinen -prächtigen Schweif am Boden hinschleifen, und ehe sie sich’s versah, -hatte er ihn wie einen Riesenfächer entfaltet, so daß all die -schillernden Kreise in seinem Gefieder wie grüngoldene Kugeln glänzten. -Und der kleine Federputz auf der Mitte seines Hauptes zitterte dazu wie -feine Perlen, die auf zierlichen Stäbchen stecken.</p> - -<p>„Oh, wie schön,“ sagte Suse leise, „wenn der Vater und die Mutter doch -auch einen solchen Vogel hätten!“</p> - -<p>Zögernd, mit rückwärts gewandtem Gesicht folgte Suse der übrigen -Gesellschaft.</p> - -<p>„Komm, komm,“ drängte schließlich der Bruder, sie bei der Hand fassend, -„die andern sind ja schon fort, wir müssen hinterdrein.“</p> - -<p>Und auch Theobald, der wieder zurückgekommen war, mahnte: „Komm -schnell, Suse, wir wollen gemeinsam in die Höhle der Löwen.“</p> - -<p>Widerstrebend folgte sie der Aufforderung.</p> - -<p>Da plötzlich blieb Theobald stehen, klapperte mit den Zähnen und sagte -flüsternd: „Himmel! Himmel! Da vorn steht sie und hat die Kinnladen -auseinandergeklappt wie ein Scheunentor! Himmel! Himmel! Sie schnalzt -mit der Zunge! Was wird das geben! Mein Herz! Mein Herz! In den Hosen -sitzt’s mir schon! Jetzt halt deine Ohrläppchen fest!“</p> - -<p>Suse zitterte am ganzen Körper und schaute erbleichend geradeaus. -Dort mitten im Weg standen zwei kohlpechrabenschwarze Frauen und -musterten die Kinder. Das Weiß ihrer Augen und die blanken Zähne -leuchteten gespensterhaft aus ihren nachtschwarzen Gesichtern. Wie mit -Blutstropfen betupft, so kamen Suse ihre Augenränder vor.</p> - -<p>Im Gebüsch des Weges hatten diese unheimlichen Gestalten sicher auf die -Kinder gelauert und wollten sie nun überfallen.</p> - -<p>„Sag’ ihr guten Tag, und küß ihr die Hand. — Die rechts mit dem -großen, hohlen Zahn ist’s,“ drängte Theobald. „Schnell, schnell, sonst -stürzt sie sich auf dich los und dann — adieu Ohrläppchen.“ —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span></p> - -<p>Suse war nicht imstande, einen Schritt zu tun, so lähmte ihr der -Schreck alle Glieder.</p> - -<p>Erst ganz allmählich kam ihr die Besinnung wieder, und dann dachte sie -nur auf ihre Rettung.</p> - -<p>Wie ein Pfeil flog sie über den Rasenplatz der Terrasse zu an dem -Pfau vorüber, der mit gellendem Geschrei aufflog und wie ein lebendig -gewordenes Heubündel neben ihr herrauschte.</p> - -<p>Drüben auf dem Weg drängte sie sich an ihre ältere Cousine an und -flüsterte klopfenden Herzens: „Sieh, Liselotte, die gräßlichen Frauen, -die Tante Josepha geht dort, dort, guck, guck!“</p> - -<p>Das junge Mädchen wandte sich um und erblickte die schwarzen Frauen -jenseits des Rasenplatzes; zu gleicher Zeit aber auch ihren Bruder -Theobald, der, sich die Seiten vor Lachen haltend, des Weges kam. Da -wußte das junge Mädchen Bescheid, und die Hand ihrer kleinen Verwandten -durch ihren Arm ziehend, sagte sie beruhigend: „Das sind zwei -Dienerinnen, die Kinderfrauen von Concha, Jose und den andern. Die tun -dir nichts, sei nur still.“</p> - -<p>Suse atmete erleichtert auf. Theobald aber blieb weit zurück und zwar -um so weiter, je häufiger seine Schwester nach ihm hinsah.</p> - -<p>Und nun währte es nicht mehr lange, da sollten die Doktorskinder -die echte, die wirkliche, die leibhaftige Tante Josepha zu Gesicht -bekommen. Im Kreise der übrigen Kinder betraten Hans und Suse die -Villa Granada. Es war ein prächtiges Gebäude mit schöngeschnitzten -Möbeln in allen Zimmern, mit kostbaren Teppichen auf den Fußböden und -farbenprächtigen Bildern an den Wänden.</p> - -<p>Von den einzelnen Gegenständen konnten die Geschwister aber kein -genaues Bild bekommen. Nur im allgemeinen hatten sie die Empfindung, -in einem reichen glänzenden Palast zu sein, wo alles herrlich und -fremdländisch aussah. Da, als sie einen großen Saal betreten hatten, -rauschte es mit einemmal wie von seidenen Kleidern.</p> - -<p>„Sie kommt!“ flüsterte Theobald.</p> - -<p>Unwillkürlich faßte sich Suse mit beiden Händen an die Ohren.</p> - -<p>Hinter einem Vorhang hervor, der zwischen zwei Türen hing, trat eine -große, stolz aussehende Dame.</p> - -<p>Es war Tante Josepha.</p> - -<p>Die Kinder wichen einen Schritt zurück. Die kleinen Mädchen machten -einen Knicks aus der Ferne und die Knaben ihre Verbeugung.</p> - -<p>Eisigkalt wehte es von der fremden Dame her. Und selbst die -Dreistigkeit der Sausewinde war wie eingefroren.</p> - -<p>Und doch war die Dame, die dort eingetreten war, keineswegs die -Wetterhexe, als die Theobald sie geschildert hatte. Im Gegenteil, sie<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span> -war eine sehr schöne Frau. Und wie sie so dastand, die großen dunklen -Augen fragend auf die Kinder geheftet, die Schleppe ihres prächtigen -Gewandes leicht nach vorn geworfen, erinnerte sie an ein schönes Bild.</p> - -<p>Aber an der Nasenspitze konnte man dieser hochmütig blickenden Frau es -ansehen, wie von Herzen gleichgültig ihr der ganze Besuch war.</p> - -<p>Selbst Theobald, der noch vorhin seinen Geschwistern vorgehalten hatte: -„Merkt euch, liebe Kinder, den schönen Vers: Denn wo du schlecht -wirst aufgenommen, da mußt du recht bald wiederkommen, und geniert -euch nicht,“ wünschte sich mit einemmal über alle Berge. Sein Vetter -Hans aber stand da, die Augen fest auf die fremde Dame gerichtet, als -erwarte er ein Wunder.</p> - -<p>Da fiel Theobald seines Vetters verstörtes Gesicht auf, und er raunte -ihm zwischen den Zähnen zu: „Guck doch nicht wie ein geschlachteter -Ziegenbock, der nicht mehr meckern kann!“</p> - -<p>Und Hans, der seines Vetters albernste Bemerkungen als köstliche Witze -empfand, konnte sich nicht mehr zusammennehmen und platzte mit einem -Male los.</p> - -<p>Die fremde Dame sah lange verwundert nach ihm hin. Und er drückte -entsetzt beide Hände vor seinen Mund.</p> - -<p>Aber was nützte es! Noch ärger als zum erstenmal wurde sein Lachen; -denn Theobald flüsterte ihm in die Ohren: „Du kannst mir’s glauben, die -Dame Josepha hat den Starrkrampf! Drum starrt sie so!“</p> - -<p>Und Hans wünschte sich weit weg auf einen hohen Berg, wo er sich vor -Lachen hätte wälzen können ob dieser großartigen, dieser herrlichen, -dieser unvergleichlich schönen Witze.</p> - -<p>Nun mußte er aber wie ein Soldat hier stehen und abwarten, was die -nächste Minute ihm brachte.</p> - -<p>Suse war noch immer in ihrer Verzauberung befangen und sah regungslos -auf die stolze Dame vor ihr. Sie kam ja nicht auf ihre Gäste zu, wie -Susens Mutter es daheim bei Einladungen zu tun pflegte, und gab jedem -Kind freundlich die Hand. — Sie musterte sie nur mit kaltem, leicht -spöttischem Blick.</p> - -<p>Da wäre es schon unterhaltender gewesen, sie wäre wirklich ein -schwarzes Fabelwesen gewesen und hätte Kuchenstücke und Mohrenköpfe um -sich geworfen und sonstige lustige Faxen getrieben.</p> - -<p>„Uff,“ sagte Theobald mit einemmal, denn seine Tante und Liselotte -hatten das Zimmer verlassen, und die Kinder waren allein.</p> - -<p>Suse und ihre kleine, fremdländische Cousine maßen sich mit stummem -Blick noch immer aus der Ferne. Toni setzte sich ans Klavier, um ein -Lied zu spielen. Die Granadasöhne ließen sich in die tiefen, weichen<span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span> -Sessel fallen, und ihre Vettern aus der Stadt folgten ihrem Beispiel -mit angenommener Nachlässigkeit.</p> - -<p>Wie die Paschas saßen sie dort, die Beine gekreuzt, die Arme -verschränkt, und sahen einander herausfordernd an.</p> - -<p>Nur Hans stand hinter dem Sessel Theobalds wie ein Gewächs, das einer -Stütze bedarf, denn sein Vetter hatte ihm eben zugeraunt: „Bleibt -möglichst in meiner Nähe, du und Suse. Sie wollen sich über euch lustig -machen; das will ich ihnen austreiben.“</p> - -<p>„Fein war’s heute in der Reitbahn,“ begann einer der ‚Granadasöhne‘ die -Unterhaltung. „Ich hatte einen famosen Gaul. Nächstens darf ich in der -Quadrille mitreiten.“</p> - -<p>„Entsetzlich! Sie fangen schon an zu protzen,“ raunte Theobald seinem -Vetter unter der vorgehaltenen Hand zu.</p> - -<p>„Du, Hans, reitest du auch?“ wandte sich der „Granadasohn“ an den -verblüfften Knaben.</p> - -<p>„Ja,“ rief Theobald laut.</p> - -<p>„Fällt mir gar nicht ein,“ erwiderte Hans und begann zu lachen. „Ich -hab’ ja kein Pferd.“</p> - -<p>„Dann reitest du also nicht?“</p> - -<p>„Mein Gott, bist du schwerhörig?“ rief Theobald, „soll er vielleicht -auf einem Besenstiel reiten, wenn er kein Pferd hat?“</p> - -<p>Alles lachte. Nur Toni warf ihrem Bruder einen entrüsteten Blick zu und -schüttelte ihr Haupt.</p> - -<p>Er aber saß mit unbeweglichem Gesicht da, die Arme fest verschränkt und -rüstete sich auf weitere Angriffe.</p> - -<p>„Dummes Zeug,“ verwies hier einer der Fremdlinge denjenigen seiner -Brüder, der Hans ausgefragt hatte. „Wie kannst du nur fragen, ob Hans -reitet. In diesen Kuhdörfern in den Bergen, wo er her ist, gibt’s doch -keine Pferde. Nichts gibt’s dort, einfach nichts. Schauderhaftes Leben.“</p> - -<p>„Ja, selbst die größeren Hammelsbraten und Ochsen findet man hier,“ -warf da Theobald herausfordernd ein.</p> - -<p>Die Augen der Fremdlinge blitzten; sie bemeisterten sich aber noch, und -einer suchte Zigaretten hervor und bot sie im Kreise herum an.</p> - -<p>„Du rauchst doch auch,“ wandte er sich an Hans.</p> - -<p>„Nein,“ rief Theobald, „er darf es nicht, er ist viel zu klug dazu. Ihr -wißt doch, je klüger die Leute, je gefährlicher für sie das Rauchen. -Ich möchte an eurer Stelle gar nicht sagen, daß ich’s so gut vertragen -kann.“</p> - -<p>In diesem Ton ging die Unterhaltung weiter. Es war nun mal so und nicht -zu ändern. Fremdlinge und Sausewinde konnten einander nicht ausstehen, -vielleicht weil einer dem andern seine Vollkommenheit<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span> im Protzen -und Aufschneiden übelnahm. Was das Aufschneiden anbetraf, gebührte -entschieden Theobald die Palme, was das Protzen anbelangte, eher den -Fremdlingen.</p> - -<p>Im Laufe des Nachmittags gerieten die beiden Parteien häufig hart -aneinander, und es sah aus, als sollte es zu einer regelrechten -Schlacht kommen.</p> - -<p>Da erschien aber noch zur rechten Zeit der Diener und meldete, daß -der Teetisch gedeckt sei. Die Kinder sprangen auf und drängten in das -Eßzimmer, um dort an einem einladend hergerichteten Tisch Platz zu -nehmen.</p> - -<p>Trotzdem verging Suse die Lust auf die appetitlichen Kuchen, die sie -aus silbernen Körben anlachten; denn gerade als sie einen Mohrenkopf -zum Munde führen wollte, öffnete sich die Tür und die schwarzen Frauen -von vorhin tauchten zum zweitenmal auf.</p> - -<p>Suse blieb der Bissen im Munde stecken. Lautlos wie Fledermäuse -strichen die Fremden hinter Susens Stuhl vorüber und kamen jenseits des -Tisches wieder zum Vorschein, beim Bedienen helfend.</p> - -<p>Jedesmal bei ihrem herankommen lief dem kleinen Mädchen ein Gefühl über -die Haut, als fließe ihr kaltes Wasser den Rücken hinunter.</p> - -<p>Während nun Susens Aufmerksamkeit auf die Schwarzen allein gerichtet -war, hatte ihre kleine Verwandte Concha sie die ganze Zeit mit -spöttischem Blick angesehen, vor allem aber ihr berühmtes Schmuckstück -scharf ins Auge gefaßt.</p> - -<p>„Ist die Brosche von Gold?“ fragte sie mit einem Male laut.</p> - -<p>Alle sahen nach Susens Talisman und lachten.</p> - -<p>„Ist sie von Gold?“ fragte Concha noch einmal.</p> - -<p>Suse wußte nicht, was antworten. Hans aber wurde es ungemütlich zu -Sinn, und er hätte gern die Geschichte von dem Prinzen und seiner -Bewunderung für das Stiefmütterchen erzählt. Aber er fürchtete, in der -Mitte stecken zu bleiben und die Sache noch schlimmer zu machen.</p> - -<p>Suse wäre jetzt am liebsten mitsamt ihrem Stiefmütterchen aufgesprungen -und davongelaufen, durch die Tür in den Garten und auf die Straße. -Es war ja nichts hier, wie sie erwartet hatte; im Gegenteil, eine -Enttäuschung folgte der andern. — Auch der Onkel war nicht da, der -doch so viele schöne Geschichten wußte, wie Toni vorhin Suse erzählt -hatte, und einem die ausgestopften Tiere zeigte. — Er hatte unerwartet -verreisen müssen.</p> - -<p>Da war es denn eine große Erleichterung, als Liselotte erschien und den -Kindern verkündete, sie möchten unter der Aufsicht der schwarzen Frauen -in den Zoologischen Garten gehen. — Sie bliebe hier bei ihrer Tante.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span></p> - -<p>„Wie schön,“ entfuhr es halblaut Susens Mund. Und auch Hans leuchtete -die Freude aus den Augen.</p> - -<p>Die Löwen, Tiger, Leoparden, all die wilden Tiere im Zoologischen -Garten kamen den Kindern mit einem Male anheimelnder vor als die ganze -Einwohnerschaft der Villa Granada zusammengenommen.</p> - -<p>Schnell fand nun der Aufbruch statt. Von der fremden Dame brauchten -sich die Kinder nicht zu verabschieden; denn sie hielt sich -eingeschlossen in einem entfernten Zimmer und wollte niemand sehen. Und -es war auch ganz gut, daß ihre kleinen Besucher ihr Gesicht nicht zu -sehen bekamen. Zuviel Widerwillen gegen ihre Gäste malte sich darin, -als daß es sie nicht hätte bitter kränken können.</p> - -<p>Von den schwarzen Frauen geleitet, verließen die Kinder den Garten der -Villa Granada.</p> - -<p>„Jeder lacht, wenn er uns anguckt,“ meinte Theobald, als sie das Freie -erreicht hatten. „Guck, Suse, wie die dort drüben den Mund aufsperren -und uns mit unseren schwarzen Tintenfischen angaffen!“</p> - -<p>Und damit wies er auf einige Leute jenseits der Straße.</p> - -<p>Suse achtete nicht auf ihn und seine Reden. In Gedanken weilte sie -bereits weit weg, und wie im Nebel verschwand die Villa Granada hinter -ihr.</p> - -<p>Vor dem Zoologischen Garten verabschiedeten sich die beiden ältesten -Fremdlinge von der Gesellschaft, da sie die fremden Tiere nicht -interessierten, wie sie behaupteten.</p> - -<p>Theobald zauderte einen Augenblick. Auch er wollte den feinen, -übersättigten Herrn spielen.</p> - -<p>Aber mit aller Gewalt zog es ihn doch vorwärts in den Garten hinein.</p> - -<p>Als die Kinder den großen, breiten Weg betreten hatten, der mitten -durch den Zoologischen Garten führte, ging Suse bescheiden in züchtiger -Haltung vorwärts, als schritte sie durch eine Kirche. Ihr Herz klopfte -erwartungsvoll. Die bunten Papageien und Kakadus, die, auf hohen -Stangen an kleinen Ketten angeschmiedet, rechts und links vom Wege -saßen, schien sie kaum zu beachten.</p> - -<p>Ihre Gedanken weilten schon beim König der Tiere.</p> - -<p>„Der Löwe,“ murmelte sie leise vor sich hin. „Ach, wenn ich ihn doch -nur schon sähe!“</p> - -<p>„Sollst du, mein Herzblatt, darfst ihm auch einen Kuß geben,“ sagte -Theobald tröstend an ihrer Seite. Und er richtete es so ein, daß die -ganze Gesellschaft ihren ersten Gang auf die Raubtierkäfige zu nahm. -Hinter den Gittern hervor sahen die Doktorskinder zuerst nur die -gelben Felle der Tiere schimmern. Ihre Gestalten konnten sie noch -nicht erkennen. — Aber jetzt, als sie näher kamen, erblickten sie -den König der<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span> Tiere und stutzten. Ruhig und majestätisch lag er da, -den mächtigen Kopf mit der schweren Mähne stolz erhoben, das Auge -regungslos ins Weite gerichtet. Suse klopfte das Herz bis zum Halse; -sie verlangsamte ihren Schritt und blieb dann zitternd stehen. — Der -Löwe war aufgesprungen und dicht an das Gitter getreten und ging jetzt -mit lautlosen Schritten dort auf und nieder, die Stäbe mit seinem Fell -streifend. Und gleichsam einer unsichtbaren Macht gehorchend, hielt er -plötzlich im Wandern inne und wandte sein gewaltiges Haupt Suse zu.</p> - -<p>Witternd erhob er seine Nase und richtete seine feurigen, funkelnden -Augen fest auf sie. Und mit einemmal riß er das Maul auf und brüllte -schauerlich.</p> - -<p>Suse schrie mit und eilte in großen Sprüngen von dannen.</p> - -<p>Ängstlich wandte sie sich schließlich um und sah die andern Kinder -lachend am Käfig des gefährlichen Raubtiers stehen. Da kehrte auch sie -wieder um, schlich langsam heran und stand lange bei ihnen, den Löwen -mit Ehrfurcht betrachtend.</p> - -<p>Angesichts ihres weibischen Zagens wuchs Theobalds Mannesmut ganz -gewaltig, und für die nächste halbe Stunde spielte er sich in -unerträglichster Weise als der Kinder Beschützer und Berater auf. Seine -weisen Belehrungen nahmen kein Ende.</p> - -<p>„Das ist der Königstiger, seht, meine lieben Kinder,“ begann er vor -einem Käfig, in dem ein abgemagertes Tier sich aufhielt.</p> - -<p>„Der Königstiger ist eine aus fremden Erdteilen stammende Bestie und -keine Kuh, wie ihr euch vielleicht bei diesem Prachtexemplar einbildet. -Dies ist nämlich der Abklatsch einer Kuh. Es hat magere Beine, Krallen -wie Hufe und einen spärlichen Haarwuchs. Anstatt, daß er durch das -Dschungel schleicht und auf Beute auszieht, kann er sich jetzt mit -seinem ausgefransten Schwanzstummel die Mücken abwedeln.“</p> - -<p>„Genau wie Onkel Fritz redest du,“ seufzte Toni, „oh, es ist ein Elend. -Alles plapperst du ihm nach! Mutter sagt auch, du bist sein ganzer -Abklatsch.“</p> - -<p>Zum Glück hörte außer Toni niemand sonderlich auf des unverbesserlichen -Theobalds Reden, ging doch jeder seine eigenen Wege.</p> - -<p>Hans und Suse waren bald bei den Affen, dann bei den Rehen, dann -bei den Elefanten, auch beim Wolfe zu sehen. Wie schön war dieser -Nachmittag nun doch noch geworden! Viel, viel schöner, als es sich die -Kinder noch vor kurzem hatten träumen lassen.</p> - -<p>Wie sie so durch den Garten schritten, kam es, daß ihre Wege sich -trennten. Hans interessierte sich für die Tiere im Aquarium mehr als -Suse, und so lief sie denn allein weiter.</p> - -<p>Nach geraumer Zeit traf sie mit Theobald zusammen, der sich eine<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span> halbe -Stunde lang mit dem Wärter eines Schimpansen unterhalten hatte und der -nun, durch diese Auszeichnung geschmeichelt, wie auf Stelzen ging.</p> - -<p>Natürlich zögerte er nicht, seine eben erworbenen Kenntnisse der -Cousine brühwarm zu unterbreiten. Und über Schimpansen, Gorillas und -Orang-Utans redend wie ein berühmter Zoologieprofessor, schlenderte er -mit ihr weiter und hörte erst mit Reden auf, als er mit ihr vor dem -Vogelkäfig stand und an ihren begeisterten Ausrufen hörte, daß sie -seine ganze Affenweisheit kalt ließ.</p> - -<p>„Ach, wie schön,“ rief sie, „ach, wie schön! hätten wir doch nur -zwanzig von diesen Vögeln. Mit zehn wäre ich auch zufrieden. Ach, am -schönsten wäre es doch, die Türe plötzlich zu öffnen und alle Vögel -herauszulassen,“ meinte sie. „Sicher würde Hans das auch sagen.“</p> - -<p>Aber wo war ihr Bruder? Mit einem Male fiel ihr ein, daß sie ihn schon -eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte.</p> - -<p>„Wo ist Hans wohl?“ wandte sie sich an Theobald.</p> - -<p>„Ach, der gafft sicher irgendwo durch ein Gitter und sammelt -Kenntnisse.“</p> - -<p>Noch hatte der Knabe nicht ausgeredet, da bekam sein Gesicht einen -gespannten Ausdruck.</p> - -<p>In der Ferne hatte er lautes Schelten gehört. Er lauschte -angestrengter. Die Stimmen wurden lauter. „Scht,“ mahnte er, „ist das -nicht Hans?“</p> - -<p>Nun horchte Suse auch hin. Und im nächsten Augenblick eilten beide auf -die Richtung zu, aus der der Lärm kam. — Sie glaubten, Hans rufen -gehört zu haben.</p> - -<p>Nach einigen Sekunden sahen sie einen seltsamen Aufzug um die Ecke -biegen: die beiden schwarzen Frauen kamen in großer Aufregung daher. -Christoph und Henner hefteten sich gestikulierend wie Volksaufwiegler -an ihre Fersen. Toni und die Fremdlinge redeten aufeinander ein, und -mitten zwischen ihnen ging stolz wie ein Leu der Wärter und schleppte -Hans am Rockkragen neben sich her.</p> - -<p>Mit verstörten Augen blickte der kleine Knabe um sich und schwebte alle -paar Schritte, durch einen Ruck seines Führers aufgehoben, über den -Erdboden dahin.</p> - -<p>Suse glaubte bei diesem Anblick, die Erde tue sich auf, und stand -einige Augenblicke wie versteinert. Dann lief sie schnell auf ihren -Bruder zu, packte ihn bei der Hand und rief: „Was ist denn? Was ist -denn? Ach, Hans! Ach, Hans!“</p> - -<p>„Ach, bitte, bitte,“ wandte sie sich an den Wärter, „lassen Sie Hans -los. Weshalb halten Sie ihn so fest?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span></p> - -<p>„Ja, Sie reißen ihm ja den Arm ab,“ rief nun Theobald, und schon war -er mitten im Gewühl drin und fragte unerschrocken, was sein Vetter -eigentlich verbrochen habe, daß er wie ein wildes Tier durch den -Zoologischen Garten geschleift würde.</p> - -<p>Da rief der Mann, dem die Galle anscheinend überlief, Hans habe dem -schönsten und teuersten Kamel des Zoologischen Gartens Sand in die -Augen geworfen. Das Tier werde sicher blind. — Es sei eine unerhörte -Frechheit. — Und mit einem Blick auf Theobald, der herausfordernd -dastand, erklärte er, Theobald sähe übrigens aus, als brächte er auch -so was fertig.</p> - -<p>Der Knabe wich ein paar Schritte zurück und murmelte: „Unverschämtheit -sondersgleichen!“</p> - -<p>Suse aber weinte bitterlich und sagte: „Hans hat noch keinem Tier was -zuleid getan. Nie, nie hat er einem Tier was Böses getan.“</p> - -<p>Jedoch die Fremdlinge und ihre schwarzen Begleiter nickten fortwährend -und sagten: „Ja, ja, er hat’s getan.“</p> - -<p>„Bist du’s gewesen?“ fragte da Theobald in wohlabgemessener Entfernung -von dem Wärter seinen Vetter.</p> - -<p>Hans antwortete nicht.</p> - -<p>Da faßte der Frager kurz entschlossen seines fremden Vetters Jose -Hand und streckte sie dem Wärter mit den Worten hin: „Sehen Sie, Herr -Wärter, dem seine Hand ist ganz voll Sand. Der Lügner hat’s getan, -nicht der andere.“</p> - -<p>„Mach, daß du fortkommst, stoppelhaariger Dickkopf!“ fuhr ihn der -Wärter an, „oder du gehst auch mit.“</p> - -<p>In ein paar Sprüngen war Theobald um die nächste Ecke. Der wütende Mann -aber verschwand mit Hans und seinen Zeugen, den Fremdlingen, auf der -Direktion.</p> - -<p>Lange, bange Augenblicke verstrichen für die Zurückbleibenden. Toni und -der wiederkehrende Theobald hatten Mühe, Suse zu hindern, ihrem Bruder -zu folgen.</p> - -<p>„Es geschieht Hans doch nichts, kein Mensch rührt ihn an,“ -beschwichtigte Toni immer wieder. Theobald hingegen machte seinen -Gefühlen in lauten Worten Luft.</p> - -<p>„So eine Gemeinheit wie heute hab’ ich doch noch nie gesehen,“ rief -er. „Pfui! Pfui! — Unser Vater sagt immer, wir sind das furchtbarste -Unkraut, das es gibt. Wir färbten auf alle ab. — Aber so was brächten -meines Vaters Kinder doch nicht fertig! Nein, gemein wären wir nie!“</p> - -<p>„Weißt du, Henner, mit meinem Eichhörnchen hat Jose dasselbe Experiment -gemacht,“ wandte er sich an seinen Bruder. „Seit dem Tage, als er es -mit Sand geworfen, hat’s kranke Augen.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span></p> - -<p>„Ja, ja,“ riefen seine Brüder und brachen in ein wildes Rachegeschrei -aus.</p> - -<p>Während die Kinder nun so in einer sich immer steigernden Aufregung -durcheinander redeten, war drüben an der Einzäunung, hinter der das -Rehwild stand, schon eine Weile ein junger Mann zu sehen gewesen, der -aufmerksam nach dem erregten Häuflein herübergeschaut hatte. Seiner -Tracht und seiner sehnigen Gestalt nach zu urteilen, gehörte er den -Gebirgsbewohnern an.</p> - -<p>Jetzt, als Suse auf wenige Sekunden die Hände von den Augen ließ, so -daß ihr Gesicht voll zu erkennen war, nickte er mehrmals befriedigt vor -sich hin und ging dann geradewegs auf sie zu.</p> - -<p>„Guten Tag,“ sagte er, vor ihr stehen bleibend. „Gelt, du bist doch -Doktors Suse? Ich hab’ mir doch gleich gedacht, das ist Doktors Suse.“</p> - -<p>Das kleine Mädchen sah den fremden Mann groß an und wußte einige -Augenblicke lang nicht, wen sie vor sich hatte.</p> - -<p>Aber mit einemmal ging es wie ein Erwachen über ihre Züge; ihre Augen -strahlten, und sie rief glückselig: „Ach, das ist ja Philipp. Wo kommst -du her, Philipp? Ach, wie freu’ ich mich! — Das ist Martins Bruder,“ -sagte sie zu den andern, „sein ältester Bruder Philipp, der ihm die -schönen Geschenke macht. — Weißt du, Theobald? du kennst Martin ja -auch. — Wie schön, daß du da bist, Philipp,“ rief sie jetzt dem Freund -aus der Heimat zu.</p> - -<p>Der junge Mann hielt etwas verlegen des kleinen Mädchens Hand noch -immer in der seinen, wußte nicht recht, was damit anfangen und sagte in -einem fort: „Wie geht’s denn, Suse, geht’s gut? Geht’s gut?“</p> - -<p>Das kleine Mädchen antwortete nicht. Sie sah mit immer leuchtenderen -Augen in sein Gesicht. — Er war ja von daheim, von zu Hause, wo er -alles kannte, die Eltern und Michel und Rosel und Christine und den -Wald und die Berge und das Doktorshaus und den Garten, alles, alles. -Sie meinte im Augenblick, er sei ihr Bruder. — Sie wollte ihn nicht -mehr los lassen.</p> - -<p>„Wie geht’s dir denn, Philipp?“ fragte sie schließlich, als sie sich -wieder gefaßt hatte. „Und wie geht’s deiner Mutter? und was macht -Martin? hat er uns nicht grüßen lassen?“</p> - -<p>Verwundert sah der junge Mann sie an und fragte dann: „Ei, hör’ mal, -Suse, weißt du denn nicht, daß ich schon viel länger von zu Hause fort -bin, als ihr zwei? Bald zwei Jahre?“</p> - -<p>— „Ach ja, ach ja!“</p> - -<p>Suse hatte es in ihrer Aufregung nur ganz vergessen. Jetzt fiel ihr -wieder ein, daß Philipp als Holzflößer hinunter in das Tal gezogen war -und auf einem Lastkahn auf dem Kanal Beschäftigung gefunden haben<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span> -sollte, wie Martin ihr und Hans erzählt hatte. — Wie hatte sie nur so -dumm sein können, es zu vergessen! Hans pflegte ja stets mit Martin die -Wochen und Monate auf dem Kalender anzustreichen, die der Bruder des -armen Krüppels noch in der Fremde zu verbringen hatte.</p> - -<p>„Schon zwei Jahre bist du fort von daheim?“ fragte Suse nun mit -Bedauern in der Stimme. — „Oh, wie lang! Konntest du es so lange -aushalten, Philipp? Das könnte ich nicht aushalten. Hast du denn kein -Heimweh gehabt?“</p> - -<p>„Das schon,“ meinte Philipp, „aber man hat halt viel zu tun, und da -vergißt man das Heimweh. Und dann denkt man auch immer, die Zeit geht -herum. — Jetzt noch zwei bis drei Wochen, dann bin ich wieder zu -Hause.“</p> - -<p>„Vor Pfingsten schon?“ fragte Suse.</p> - -<p>Er nickte.</p> - -<p>„Wie schade!“ rief das kleine Mädchen, „wenn du doch noch ein wenig -warten würdest, könnten wir die Reise zusammen machen. Pfingsten gehen -wir auch nach Hause. Denke dir, wie schön es wäre, wenn wir alle drei -zusammen ankämen. — Martin will uns abholen. Weißt du dort auf dem -Rain, wo der Weg aus dem Walde kommt, dort wartet er schon am Mittag, -wenn wir auch erst um fünf Uhr kommen. Er hat’s gesagt, und das letzte -Stück fährt er in der Postkutsche mit uns.“</p> - -<p>Hier sah sich Philipp forschend um und fragte ganz erstaunt: „Wo ist -denn Hans? Er ist doch nicht krank? Fehlt ihm was? Er ist doch auch mit -dir hier zum Lernen?“</p> - -<p>Da verdunkelte sich Susens Gesicht aufs neue, und sie erzählte -bitterlich weinend alles, was sich zugetragen hatte. Und plötzlich -kam Leben in den stillen, zurückhaltenden Gebirgsbewohner, und er -rief blitzenden Auges: „Ist der Bursch, der mit Sand geworfen hat, -vielleicht so ein kleiner Knirps, dünn wie ein Wollfaden, der mit den -beiden schwarzen Weibsgestellen da herumläuft? Himmelsapperment, den -hab’ ich vorhin gesehen, wie er einem Affen einen kleinen Stein an den -Kopf geworfen hat. Da hab’ ich mir gesagt, jetzt noch ein Wurf, und du -langst ihm eine, daß ihm der Hut vom Kopfe fliegt. — Wo ist er?“</p> - -<p>„Da drin,“ rief Theobald, auf das Gebäude der Direktion deutend. Und -Philipp sprang in großen Sätzen geradeswegs auf die Eingangstüre des -Hauses zu.</p> - -<p>Theobald eilte in gleichen Schritten hinterdrein, kehrte aber wie der -Wind wieder um, als er im Vorraum des Gebäudes plötzlich die Stimme des -Wärters hörte. —</p> - -<p>Nun währte es nicht mehr lange, da kam auch die übrige Gesellschaft -wieder zum Vorschein. Allen voran schritt Philipp, Hans an der Hand<span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span> -haltend. Des jungen Mannes Augen blitzten wie die eines Siegers. -Trotzdem hatte er wenig ausrichten können. Der Wärter und die -Fremdlinge hatten eben zu fest auf ihrer Behauptung bestanden, Hans sei -der Missetäter, als daß er etwas dagegen hätte tun können. — Aber die -Sache sollte noch einmal untersucht werden, hatte ihm einer der Beamten -versichert. — Inzwischen sollte erst mal abgewartet werden, ob das -Kamel überhaupt erblinde. — In diesem Falle werde es Hans zugesprochen -werden, und der müsse fünftausend Mark dafür bezahlen. — Natürlich -gehöre das Tier dann ihm.</p> - -<p>Nachdem Suse und ihre kleinen Verwandten das Urteil vernommen hatten, -trennten sie sich voneinander, Toni, um mit ihren jüngeren Brüdern in -die Villa Granada zu gehen und Liselotte abzuholen, Theobald, um mit -Philipp und den Doktorskindern ihre Wohnung aufzusuchen.</p> - -<p>Suse wich auf dem ganzen Weg dorthin nicht von Philipps Seite. — Die -Aussichten, die Hans auf Freisprechung hatte, mußten mit dem Freund -aus der Heimat eingehend beredet werden. — „Es wird schon alles gut -werden, es wird schon alles gut,“ tröstete jener immer wieder. — Dann -sprachen die beiden zusammen über Martin und sein Leiden. Von einem -künstlichen Bein, das Hans und sie dem armen, verkrüppelten Freund -dermaleinst schenken wollten, wenn sie genügend Geld zusammen hätten, -plauderte Suse. Auch von Martins Fertigkeit im Schnitzen. — Einen -wunderschönen Nähkasten habe er neulich ihrer Mutter geschnitzt, und -jetzt gedenke er ein Kreuz für die Kirche anzufertigen, erzählte sie.</p> - -<p>Mit stillem Stolz hörte Philipp ihren Lobpreisungen zu.</p> - -<p>Theobald aber spielte derweil Erzieher bei Hans und rief, ihn am Arm -schüttelnd: „Ich hab’ gemeint, ihr seid schon daheim hier und wißt, -wie ihr euch zu benehmen habt. Aber läßt man euch mal aus den Augen, -wupp, da habt ihr auch schon ein Kamel am Bein und sollt noch außerdem -fünftausend Mark dafür auf den Tisch des Hauses legen! Wie auf die -Wickelkinder muß man auf euch aufpassen! Gräßlich! Man läßt sich doch -nicht so einfach von jedem Lügenbold sagen, daß man was getan hat, wenn -es nicht wahr ist. Wozu hat man denn seine männliche Faust? Doch nicht -dazu, daß man sie in die Tasche steckt, sondern daß man damit um sich -boxt. Verstanden?“</p> - -<p>„Ja!“ sagte Hans kleinlaut.</p> - -<p>Vor dem Haus der Frau Cimhuber bat Suse ihren Landsmann eindringlich, -doch ein wenig mit hinauf zu gehen und Frau Cimhubers Wohnung -anzusehen, damit er allen Freunden und Bekannten daheim erzählen könne, -wie fein sie wohnten. — Sie hätten nämlich auch eine Negerstube.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span></p> - -<p>Doch Philipp drückte den Hut tiefer in die Stirn und meinte verlegen, -der Pfarrfrau sei es sicher nicht angenehm, wenn ihr ein fremder Mann -die Stuben voll Schmutz trage. — Drum wolle er sich mit ihnen lieber -an einem dritten Ort noch einmal treffen. — Einen Tag bliebe er -voraussichtlich noch hier. So verabredeten die drei aus Schwarzenbrunn -denn eine Zusammenkunft für den andern Morgen bei der roten Brücke, wo -Philipps Kahn lag, nicht weit von Frau Cimhubers Wohnung.</p> - -<p>Nachdem diese Verabredung getroffen war, verabschiedete sich die -Gesellschaft voneinander.</p> - -<p>Und nun wurde es den Geschwistern mit einemmal wieder recht beklommen -zu Sinn.</p> - -<p>Jetzt hieß es ja, Frau Cimhuber beichten, was sich zugetragen hatte.</p> - -<p>Zurzeit saß die Pfarrfrau gerade strickend in der Negerstube und sagte -so recht voll Behagen zu Ursel: „Nun müssen die Kinder bald kommen. -Ich freu’ mich schon. Es ist so schön, wenn ihre Augen blitzen und sie -erzählen. — Die Jugendzeit kehrt mir wieder ins Gedächtnis zurück. -— Sie haben solch eine lebendige Auffassungsgabe für alles und ein -wirkliches Erzählertalent. Nicht wahr?“</p> - -<p>— Da klingelte es schüchtern.</p> - -<p>Die alte Magd ging zur Tür, öffnete, sah zwei kreideweiße Nasen, -stutzte und schob die beiden Pechvögel stracks vor das Antlitz ihrer -Herrin. „Ich will gar nichts hören, ich seh’ schon genug,“ sagte sie.</p> - -<p>Frau Cimhuber nahm langsam ihre Brille ab und schaute die Kinder -erwartungsvoll an. — Da standen sie nun. —</p> - -<p>Und Suse begann zu erzählen, und je mehr sie erzählte, um so -jämmerlicher wurde ihr Ton, und um so größer wurden ihrer Pflegmutter -Augen; schwer sanken ihre Hände in den Schoß, und zuletzt stieß Suse -schluchzend hervor: „Und der Herr Direktor hat gesagt, Hans bekommt das -Kamel. Es kostet fünftausend Mark. Es kommt hierher. Morgen vielleicht -schon. Wir dürfen’s behalten.“</p> - -<p>„Was sagst du da? Ich versteh’ nicht recht!“ sagte Frau Cimhuber und -ließ vor Schreck ihr Strickzeug samt dem Garnknäuel auf die Erde fallen.</p> - -<p>Da wiederholte Suse jämmerlicher als vorher: „Und da hat der -‚Granadasohn‘ Jose ein Kamel mit Sand geworfen, Frau Pfarrer, und hat -gesagt, Hans hat’s getan, und da hat der Direktor gesagt: Hans soll -fünftausend Mark bezahlen und das Kamel gehört dann uns. Ganz bestimmt, -das hat er gesagt, Frau Pfarrer. Das Kamel ist dann unser!“</p> - -<p>„Das ist zuviel,“ sagte Frau Cimhuber.</p> - -<p>Suse aber sah unentwegt nach Ursel hin, die wie verwandelt war. Sie saß -da, die Schürze vors Gesicht gedrückt und weinte. „Ein Kamel,<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span> Frau -Pfarrer,“ rief sie. „Lieber Gott in deinem gerechten, großen Himmel, -ein Kamel! Wer denkt denn so was! Alles andere hätt’ ich mir eher -träumen lassen, nur kein Kamel! Wenn das so fortgeht, weiß ich nicht, -was noch wird. — Anständige Leute haben überhaupt kein Kamel!“</p> - -<p>„Vielleicht hat der Herr Edwin in Afrika eins,“ warf Suse kaum hörbar -ein und hoffte durch diesen gescheiten Einfall Ursel umzustimmen.</p> - -<p>Aber nichts dergleichen traf ein.</p> - -<p>Vielmehr jammerte sie ärger als bislang weiter: „Frau Cimhuber, haben -Sie jemals daran gedacht, daß wir noch einmal in unserem Leben ein -Kamel bekommen werden? Ich nicht. Nur Bärenführer ziehen damit herum.“</p> - -<p>„Aber Ursel, beruhigen Sie sich doch!“ rief Frau Cimhuber. „Das Kamel -ist ja überhaupt noch nicht da. Wir wissen ja noch gar nicht, ob es -kommt.“</p> - -<p>„Es kommt, haben Sie keine Angst, es kommt!“ rief Ursel. „Das sag’ ich -Ihnen aber, ich verreise, wenn es kommt. Ich will nicht sehen, wie die -Leute die Fenster und Türen aufreißen und lachen, wenn sie’s da unten -vor unserer Haustür stehen sehen und warten.“</p> - -<p>Hansens Verstörtheit nahm angesichts dieser Verzweiflung zu. Und es -war ihm zu Sinn, als habe sich das gräßliche Tier bereits zur Tür -hereingedrängelt und wolle nicht mehr weichen.</p> - -<p>Mit Suse schlich er hinaus.</p> - -<p>„Du brauchst keine Angst zu haben,“ sagte die Schwester, den Arm um -ihren Bruder schlingend. „Du hast das Kamel nicht geworfen, und deshalb -darf dir auch keiner was tun.“</p> - -<p>„Wenn sie’s aber doch glauben, daß ich es gewesen bin.“</p> - -<p>„Aber sag’ mal, Hans,“ meinte hier Suse vorwurfsvoll. „Weshalb hast du -denn nicht gleich gesagt, daß du’s nicht gewesen bist?“</p> - -<p>„Ich hab’ mich so geschämt,“ sagte er leise, „wie sie so gelogen haben. -— Ich habe kein Wort sagen können vor Schreck, Suse. — Die lügen ja, -Suse! Die lügen!“</p> - -<p>„Aber Hans, wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen,“ mahnte die -Schwester. „Das hat auch Theobald gesagt. Wenn wir recht haben, dürfen -wir auch sagen, daß wir recht haben.</p> - -<p>Du hättest überhaupt nicht bei dem gräßlichen Jose stehen bleiben und -zugucken dürfen, daß er geworfen hat. Du hättest weitergehen sollen.“</p> - -<p>„Ich bin gar nicht stehen geblieben. Sieh, Suse, ich bin gerade dazu -gekommen, wie er das Kamel geworfen hat. Und wie es vor Schreck mit den -Augen gezwinkert hat, hat er gelacht. Da hab’ ich ihm gesagt: Laß das -sein, das tut ihm weh!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span></p> - -<p>Da sind alle miteinander wütend geworden, am wütendsten die schwarzen -Frauen, und haben gesagt: Geh fort, du hast uns hier nichts zu sagen. -Du und Suse, ihr seid beide schmutzig und arm.“</p> - -<p>„Was?“ rief Suse blitzenden Auges und kirschrot vor Zorn. „Das haben -sie gesagt? Oh, wie häßlich!</p> - -<p>Das sind die gräßlichsten Menschen auf der ganzen Welt. Und wir sind -viel sauberer als sie. Und wir baden uns jeden Tag. Und das schreib’ -ich jetzt alles dem Vater und der Mutter hin, und der Vater soll ihnen -die Wahrheit sagen. Und sie sollen so Angst bekommen, so Angst, daß sie -sich gar nicht mehr aus ihrem Garten ’raus trauen.“ Und die Rede der -Fremdlinge wurmte Suse so, daß sie heute abend an nichts anderes mehr -denken konnte, sondern mit dem Gedanken daran ihr Lager aufsuchte.</p> - -<p>Hans drehte und wendete sich des Nachts unter Stöhnen hin und her. Suse -merkte nichts davon.</p> - -<p>Am andern Morgen ganz früh waren die beiden schon wach und rüsteten -sich für ihren Gang zu Philipp. Frau Cimhuber und Ursel waren mit -dem Vorhaben der Kinder einverstanden, denn alle Schritte, die Hans -in seinem Abenteuer mit dem Kamel von Vorteil sein konnten, sollten -gefördert werden.</p> - -<p>Besonders Ursel drängte zum Aufbruch.</p> - -<p>„Die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, gerad’ zusammengeschlagen -bin ich,“ jammerte sie. „Kein Auge hab’ ich zutun können. Leibhaftig -hab’ ich das Kamel vor mir gesehen.“</p> - -<p>Die Kinder waren derartig mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, daß -sie Ursels Klagen kaum verstanden! Schnell packten sie ein schönes -Notizbuch sowie einen Bleistift für Martin zusammen und traten schon -um halb sieben Uhr vor die Haustür. Quer liefen sie über die Straße -hinüber zum Ufer des Kanals, um an ihm entlang den Weg auf die rote -Brücke zu nehmen.</p> - -<p>Suse war so ausgelassen und froh heute, wie sonst nur auf ihren -Schulwegen daheim. Sie warf den Kopf in den Nacken und rief dem -strahlenden Himmelsgestirn über sich voll Übermut zu: „Brenn’ mich ins -Gesicht, liebe Sonne, brenn’ mich, es macht mir nichts. Heute macht’s -mir nichts. —</p> - -<p>Gedörrte Zwetschgen und Apfelschnitzen will Philipp uns schenken,“ -fuhr sie dann eifrig zu ihrem Bruder fort. „Er hat’s mir gestern -versprochen. Er hat noch welche von zu Hause. Gestern hat er gesagt, er -will uns heute welche geben.“</p> - -<p>„Oh, wie freu’ ich mich,“ rief Hans, „die mag ich ja so gern.“</p> - -<p>Die beiden eilten schneller als bislang vorwärts. Nur zehn Minuten<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span> -hatten sie noch bis zum Ziel ihrer Wanderung. Je näher sie ihm kamen, -desto aufgeregter wurden sie. Zuletzt sprachen sie kaum noch ein Wort. -Ihre Blicke richteten sich gespannt geradeaus. Jetzt tauchte das -Gemäuer der roten Brücke auf und die eisernen Lichterträger an ihren -Enden. Jeden Augenblick mußte jetzt ihres Freundes Philipp hohe Gestalt -dort zu sehen sein. Sicher wartete auch er schon voll Ungeduld auf -seine Landsleute. Nur noch ein paar Schritte, dann standen sie am Ziel. -Doch enttäuscht sahen sie sich um. — Kein Philipp war zu sehen, und -am Ufer lag sein Kahn nicht mehr. Weithin auf und nieder konnten sie -über das Wasser des Kanals sehen, aber kein Lastkahn schwamm auf seinen -toten Fluten. Nur der Sonnenschein spielte darauf, und der Strahlen -Blinken traf zuweilen wie spitze Nadeln die Augen der Kinder.</p> - -<p>Keines von den Geschwistern sprach ein Wort. Traurig sah Suse auf -Martins Geschenk und dachte bei sich, daß Philipp wohl im Morgengrauen, -als alle noch schliefen, an Frau Cimhubers Haus vorübergefahren sei und -keinen Gruß in die Heimat mitgenommen habe.</p> - -<p>Minutenlang verharrten die beiden so in gedrücktem Schweigen, bis Hans -schließlich leise sagte: „Er ist fort.“</p> - -<p>Suse nickte mit Tränen im Auge. Wieder verfielen die beiden in -Stillschweigen. Dann zupfte Hans plötzlich seine Schwester am Ärmel -und zeigte auf ein paar Arbeiter, die am Rande des Kanals standen und -Steine aufschichteten.</p> - -<p>„Wollen wir die nicht fragen, ob sie nicht wissen, wann Philipp fort -ist?“ meinte er schüchtern.</p> - -<p>Suse stimmte ihm zu.</p> - -<p>Und er ging langsam von der Kanalbrücke herab auf eine Treppe zu, die -von dem hochaufgebauten Straßendamm hinunter zum Kanal führte. Suse -folgte ihrem Bruder herzklopfend und hörte, wie er den Arbeitern, die -hemdsärmelig und sich laut unterhaltend, am Ufer verweilten, seinen -Morgengruß bot.</p> - -<p>Jene hielten mit Arbeiten inne und hörten dem Anliegen zu, das er -ihnen vorbrachte. Der eine von den Leuten, ein stämmiger und verwegen -aussehender Geselle, nickte mehrmals zu Hansens Reden. Und plötzlich -spie er einen Mund voll ausgekauten Priemtabaks scharf über Hansens -Kopf weg, mitten in die Steine hinein, worauf er, auf Suse deutend, -fragte: „Gehört die zu dir?“</p> - -<p>Das kleine Mädchen fuhr erschreckt zusammen und nickte mehrmals aus der -Ferne.</p> - -<p>„Dann stimmt’s mit euch,“ meinte der Riese da vor ihnen in -versöhnlichem Ton. — „Dann gehört ihr dem Doktor aus Schwarzenbrunn? -So ist’s doch? Gelt?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span></p> - -<p>„Ja,“ riefen beide.</p> - -<p>„Dann kommt mal her. — Einer von denen, die heute morgen mit dem Kahn -fort sind, hat gesagt, es kommt ein Bub und ein Mädchen, die gehören -dem Doktor aus Schwarzenbrunn. — Das seid ihr doch, gelt? Denen soll -ich ein Säckchen voll Apfelschnitzen und Zwetschgen geben.“ — Damit -griff er in eine Höhlung zwischen den Steinen und holte einen karierten -Beutel hervor. Über Susens Gesicht ging ein Leuchten, als sie des -Säckchens ansichtig wurde. Solche karierten Beutel hatten ja alle Leute -von daheim. Christine und die Eltern von Susens Freundin und Rosel, -alle, alle. Darin nahmen sie ihr Vesperbrot mit, wenn sie zur Arbeit -aufs Feld gingen.</p> - -<p>„Da nehmt,“ sagte jetzt der Mann, indem er ihnen das Säckchen -reichte und abermals einen Strahl Tabaksbrühe pfeilgerade zwischen -Hans und Suse durchschickte. — „Ich soll euch von dem Philipp aus -Schwarzenbrunn sagen,“ fuhr er fort, „daß er eure Grüße daheim -ausrichtet. Er mußte schon früher fort, als er gemeint hat.“</p> - -<p>„Danke, danke vielmals,“ rief Suse, und griff nach dem Beutel, in -dessen straffgespannter Leinwand die Form der getrockneten Früchte -deutlich zu erkennen war.</p> - -<p>„Und wann ist der Kahn fortgefahren? Wissen Sie es noch?“ fragte sie, -„bitte, bitte.“</p> - -<p>„Oh, so eine Stunde,“ meinte einer von den Männern.</p> - -<p>„Dann holen wir ihn noch ein,“ jubelte Suse. „Komm, Hans, komm. Martins -Geschenk soll er ja auch noch mitnehmen.“</p> - -<p>Und nachdem die Kinder die Richtung erfahren hatten, die der Kahn -eingeschlagen hatte, liefen sie davon. Die rote Brücke lag an den -Grenzen der Stadt, und so kam es, daß sie das Häusermeer bald hinter -sich hatten. Nur vereinzelte Villen trafen sie noch auf ihrem Wege. -Doch auch die blieben binnen kurzem hinter ihnen zurück, und sie waren -im Freien.</p> - -<p>Nachdem sie eine halbe Stunde, mehr laufend als gehend, zurückgelegt -hatten, blieb Hans plötzlich stehen und erklärte, er sei zu müde, um -weiter zu rennen. Auch Suse hielt erschöpft im Laufen inne. —</p> - -<p>Drei Kähne hätten sie schon angetroffen, meinte Hans, und auf keinem -wäre Philipp gewesen. — Wer wisse, ob er vielleicht nicht doch auf -einem gewesen sei und sie hätten ihn nur nicht erkannt. —</p> - -<p>„Wir kennen seinen Kahn ja gar nicht,“ erklärte er. „Und wir können -doch nicht nach jedem Kahn hinüberrufen, ist der Philipp dort?“</p> - -<p>Eine Weile blieb Suse nachdenklich stehen, und dann kam auch ihr -die Einsicht, daß es Torheit sei, weiter zu laufen. So schlug sie -denn ihrem Bruder vor, eine kleine Rast am Wege zu nehmen. Er war’s -zufrieden, und beide setzten sich unter einem Pappelbaum auf der<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span> -grünen Böschung nieder, die zum Kanal hinabführte, und sie fanden es -sehr schön hier. Niemand störte sie. Tiefe Stille herrschte ringsumher. -Nur die Blätter der Pappel über ihnen schüttelte leise der Wind, und es -hörte sich an wie Regenrauschen. Doch nur das helle Sonnengold rieselte -durch die Zweige zur Erde nieder, wo die Kinder saßen.</p> - -<p>Drüben auf der andern Seite des Kanals war eine hohe Parkmauer zu -sehen. Schwere Buchenzweige hingen darüber. Eine kleine Tür führte aus -der Mauer zum Wasser hinab. Sicher wohnten dort auch Leute, die ein -so schönes Haus hatten wie die Granadakinder, durchschoß es Suse. Und -vielleicht, vielleicht waren auch sie so lieblos und unfreundlich.</p> - -<p>Doch sie hatte keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn Hans -hatte bereits den karierten Beutel geöffnet und ihr den ganzen Inhalt -in den Schoß geschüttet. — Apfelschnitze und Birnen lagen kunterbunt -vor ihren Augen und lachten sie verführerisch an.</p> - -<p>„Viel, viel schöner sind sie als die, die uns Ursel kocht,“ meinten -beide und langten tüchtig zu. Dann teilten sie den Rest in zwei gleiche -Hälften, eine für Hans, die andere für Suse. — Gretel und Peter in der -Schule sollten auch ihr Teil davon bekommen.</p> - -<p>Als sich die Kinder nun eine gute Weile ausgeruht hatten, dachten sie -endlich daran, daß es Zeit sei, in die Stadt zurückzuwandern. Zuvor -aber faltete Suse schnell noch einmal das Papier auseinander, das -Martins Geschenke enthielt, betrachtete sie mit seitlicher Kopfhaltung -zärtlich und sagte leise, indem sie vorsichtig darüber streichelte: -„Wunderschön.“ —</p> - -<p>„Wir bringen es Martin mit, wenn wir nach Hause gehen,“ meinte sie halb -zu Hans gewandt, halb sich selbst zum Trost.</p> - -<p>Der Bruder stand auf und steckte seinen karierten Beutel in den Ranzen. -Dann setzte sich das Geschwisterpaar in Bewegung der Stadt zu.</p> - -<p>In der Schule, wo Hans mit Theobald und seinen Geschwistern -zusammentraf, wurden die Ereignisse des gestrigen Tages mit größter -Erbitterung durchgesprochen. Unternehmungslustig und rachelüstern -glänzten die Augen der Vettern wie die von Banditen. Sie hatten -sich einen Plan zu Hansens Rettung ausgesonnen. Wie das Licht des -Tages sollte seine Unschuld glänzen, erklärten sie und forderten den -Pechvogel deshalb auf, sich um drei Uhr mit Suse am Kriegerdenkmal -einzustellen. Dort sollte er alles erfahren.</p> - -<p>„Die Fremdlinge sollen vor uns zittern wie die Hasen,“ riefen sie, „die -Kinnbacken sollen ihnen schlottern, die Knie sollen ihnen einknicken, -das Herz soll ihnen in die Hosen rutschen, alles durch unsere tipp -toppe Umsicht.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span></p> - -<div class="figcenter"> - <a id="p093" name="p093"> - <img class="mtop2 mbot2" src="images/p093.jpg" - alt="Rast unter einer Pappel" /></a> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span></p> - -<p>Daheim trafen die kühnen Rettungsengel dann emsig Vorbereitungen zu den -Taten des Nachmittags. In einer Geheimsprache klärten sie zuerst die -Schwester und Vertraute Toni über ihre Absichten auf, und nach Tisch -verschwanden sie in wilder Flucht im Garten.</p> - -<p>Wieserl, der kleine, kugelrunde Knirps, ihr jüngstes Schwesterchen, -das Mühe hatte, auf seinen dicken, kurzen Beinen zu stehen, stolperte -hinterdrein, um auch ihr Teil an der allgemeinen Aufregung zu haben. -Sie fiel der Länge nach mitten auf dem Kiesweg hin und lag schreiend -und zappelnd dort. Dann raffte sie sich wieder auf und setzte die -Verfolgung fort.</p> - -<p>Schließlich, als sie einsah, daß all ihr Laufen nichts nützte, kehrte -sie wieder um.</p> - -<p>„Mutter, Vater,“ sprudelte sie hastig heraus, „der Jockel... und der -Jockel... und in den Korb gesetzt, und Stroh und Heu... und alle fort, -aus der Gartentür... der Jockel in dem Korb, und der Jockel und alle -haben sie einen Stock. — Und ade, Wieserl, haben sie gesagt, und Toni -hat geweint.“</p> - -<p>Der Vater schüttelte seinen Kopf. Er hätte ihn aber noch viel mehr -geschüttelt, hätte er jetzt schnell mal einen Blick auf seine -Sprößlinge werfen können.</p> - -<p>Beim Kriegerdenkmal standen sie, Hans und Suse in ihrer Mitte, und -sahen begeistert zu ihrem Führer Theobald auf, der wie ein Held auf -der zweiten Stufe des Denkmals stand und einen Korb im Arm hielt. -Er redete: „Geliebte Freunde, ihr wißt, hier drin im Korb sitzt der -Jockel, unser Eichhörnchen. Der soll uns heute aus Not und Gefahr -erretten. Ihr wißt, zweimal hat diesen armen Jockel der miserable -Granadasohn Jose mit Sand geworfen. — Also hat er auch das Kamel -geworfen. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. — Wer -das Eichhörnchen mit Sand wirft, wirft auch das Kamel, darum schreiten -wir jetzt zur Rache. Wir lassen uns zuerst bei dem Onkel Gustav in der -Villa Granada melden. Ihr haltet euch höflich im Hintergrund. Ich rede. -Erst kommt die Geschichte von dem Kamel daran, darauf die mit unserem -Jockel. Auf ein Zeichen von mir trittst du, Henner, vor, öffnest den -Deckel von dem Korb und hebst das kranke Eichhörnchen ihm entgegen.</p> - -<p>Das wird ihn an die Wand werfen. Er wird blaß werden bis in die Lippen -und an die Schuld seiner nichtsnutzigen Söhne glauben.</p> - -<p>Dies wäre Fall Nummer eins.</p> - -<p>Nun kommt Fall Nummer zwei. Das wäre, wenn der Onkel nicht da wäre. -Also ist er nicht da, so müssen wir die Granadasöhne in das große -Billardzimmer bitten, dort haben wir Platz und können uns umdrehen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span></p> - -<p>Zuerst verlangen wir kurz und bündig, daß Jose seine Schuld bekennt. -Ganz gemäßigt werde ich sein. Sagt er die Wahrheit nicht, so öffnest -du, Henner, auf ein Zeichen meiner Hand den Korb. Schweigend gehen -meine Blicke zwischen dem Eichhörnchen und den Granadasöhnen hin und -her. Kein Wort fällt. Macht dies alles nun noch keinen Eindruck, so tut -ihr das Eichhörnchen hübsch in seinen Korb zurück. Und nun beginnt der -Kampf. Auf ein Zeichen von mir schreiet ihr alle: „Hurra, hurra, Rache, -Verderben den Lügnern, den Feiglingen!“ Und dann fallen wir über sie -her und klopfen sie windelweich, bis sie die Wahrheit bekennen. Dann -ziehen wir uns befriedigt zurück.</p> - -<p>Es wird ein harter Kampf werden. Wir sind vier gegen drei. Die zwei von -ihnen sind aber viel älter als wir und glatt wie die Aale. — Ich habe -mir aber schon gestern und heute die japanische Boxermethode angesehen. -— Feines Buch. — Kostet zehn Pfennig. — Ich werde mich bewähren.</p> - -<p>Es kann auch sein, daß sich das ganze Haus dazwischen wirft. Aber -aushalten! Verstanden!“</p> - -<p>Die Knaben nickten.</p> - -<p>Toni und Suse standen zitternd daneben.</p> - -<p>„Theobald,“ flehte die erstere, „laß uns doch auch mitgehen, wie die -Feiglinge können wir doch unmöglich draußen stehen bleiben.“</p> - -<p>„Ausgeschlossen,“ erklärte Theobald streng. „Der Vater will nicht mehr, -daß ihr die Raufereien mitmacht. Auch die Großmutter hat geweint, -als sie uns das letztemal besucht hat und gesehen hat, wie dir der -Henner ein Stück vom Zopf geschnitten hat und damit die Friedenspfeife -geraucht hat. Und obendrein ist es Onkel Rudolf seine gute, geschnitzte -Pfeife gewesen, und er sagt, man riecht’s noch jetzt zehn Schritt gegen -den Wind. Es sei eine Barbarei.“ —</p> - -<p>„Hier habt ihr zehn Pfennig,“ setzte er milder hinzu. „Kauft -Verbandstoffe und wartet hinter dem Gitter der Villa auf den Gang der -Ereignisse. Kommen wir in wilder Flucht aus der Villa, so rennt ihr mit -uns was ihr könnet. Verstanden? Nicht umsehen. Nur rennen, rennen — -rennen. —“</p> - -<p>Seufzend nickte Toni und schloß sich mit Suse dem Zug der -Rachedurstigen an. Alle Knaben, bis auf Hans, trugen einen Stock in der -Hand; und damit auch er bewaffnet sei, holte ihm Theobald unterwegs aus -der Wohnung eines seiner Freunde einen derben Eichenknüppel.</p> - -<p>Fünfzig Jahre wäre dieser Stock schon in der Familie gewesen und hätte -bereits dem Urgroßvater gute Dienste getan, hatte der Freund zur -Empfehlung des Steckens gesagt.</p> - -<p>Hans nahm ihn dankend an.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span></p> - -<p>Vor dem Eingangstor der Villa Granada verabschiedeten sich die Knaben -von den Mädchen. Die bewaffnete Schar drang nun in den Garten ein, -vorüber an dem kleinen efeubesponnenen Pförtnerhäuschen, dessen -Bewohner ihnen mit Erstaunen nachsahen.</p> - -<p>Hansens Gesichtsfarbe wurde jetzt blässer. Die Augen saßen tief in -ihren Höhlen. Seine Nase schien spitz geworden. Nur die Lippen hielt -er fest zusammengepreßt mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck. -Theobald, der Leiter der Bewaffneten, räusperte sich zuweilen und warf -seinen Kopf herausfordernd in den Nacken, als stehe er bereits an der -Anklagestätte. Christoph schritt am kecksten einher. Sein spanisches -Rohr flitzte zuweilen pfeifend durch die Luft, als wittere es bereits -die Granadasöhne.</p> - -<p>Ein gutes Stück hinterher trottete Henner. Ihm war die hohe Aufgabe -zuteil geworden, den Korb mit dem Jockel zu tragen. Zärtlich schmiegte -er sein Ohr an das Geflecht des Korbes und flüsterte mit sanfter -Stimme: „Jockerl, sei still, gutes Tier, sei still. Unser aller -Rettungsengel bist du. Unser lieber, guter Jockerl. Denen wollen wir -mal Mores lehren, gelt? Ich werde dich herausnehmen, wenn’s Zeit ist.“</p> - -<p>Und als sei der Knabe bereits bei dem Onkel angelangt und walte seines -Amtes, so begann er jetzt an dem Verschluß des Korbes zu zerren, zu -rütteln und zu heben. Der Deckel sperrte sich. —</p> - -<p>„Das verflixte Ding,“ grollte er, zerrte heftiger und riß plötzlich den -ganzen Deckel weit auf. — Es rührte sich im Korb. Heraus sprang der -Jockerl und jagte davon.</p> - -<p>„Er ist fort,“ schrie da gellend sein Wächter, „er ist fort!“</p> - -<p>Die vier Helden vor ihm fuhren wie von der Kugel getroffen herum.</p> - -<p>Hans fiel vor Schreck der Eichenknüppel aus der Hand.</p> - -<p>Theobald, der in Gedanken gerade zu seinem Onkel gesagt hatte: -„Angesichts des Eichhörnchens ist Hansens Unschuld erwiesen, so rein, -so sonnenklar, so hell wie der Tag,“ stürzte laut schreiend auf -seinen Bruder los. „Unglücklicher, was hast du gemacht!“ rief er. „O -du jämmerliches Trampeltier, einfältiger Eselskinnbacken! Käsweiser -Rabenvater! Was jetzt? Was jetzt?“</p> - -<p>Der Bruder war leichenblaß, er hatte ein Gefühl, als hätte er einen -Schlag auf den Kopf bekommen. Seinen Händen entglitt der Korb.</p> - -<p>Jockerl jagte derweil auf den nächsten Baum zu, kletterte daran in -die Höhe und hüpfte bald als ein braunes, kleines Etwas im Gewirr der -Äste herum. Mit Geschrei verfolgten ihn die Kinder. Auch Toni und Suse -kamen von draußen herein und schlossen sich der Verfolgung an. Jockerl -kletterte vom Baum herab, rannte dreimal um das große Blumenbeet und -verschwand in den Ziersträuchern am Wege. Auf das<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span> gräßliche Geschrei -der Kinder hin kam nun der Gärtner der Villa herbei, und, sie für -Eindringlinge von der Straße haltend, warf er ihnen seine Schaufel und -Hände voll Erdklumpen hintendrein. Der Sand prasselte und stob ihnen um -die Ohren.</p> - -<p>Sie kümmerten sich nicht darum. Sie schlugen mit den Knüppeln an die -Bäume und schrien: „Jockerl, Jockerl, komm herunter! Jockerl, Jockerl!“</p> - -<p>Der Jockerl aber schwang sich immer weiter fort. Noch einmal jagte -er um die schönsten Blumenbeete herum und in die Ziersträucher -hinein. Dann verließ er den Garten auf Nimmerwiedersehen. Im Park der -gegenüberliegenden Villa verschwand er.</p> - -<p>Voll dumpfen Grolls auf ihren Bruder Henner traten sie darauf den -Heimweg an.</p> - -<p>In dem Haus der Frau Cimhuber aber wuchs die Angst vor dem Kamel von -Stunde zu Stunde. Vor allen Dingen Ursel zweifelte nicht mehr daran, -daß es komme. Erschallte unten auf der Straße Lärm, oder ließen sich -aufgeregte Stimmen vernehmen, so beugte sie sich ängstlich über die -Fensterbrüstung und spähte in die Tiefe.</p> - -<p>„Es kommt, es kommt,“ rief sie an einem Morgen so laut, daß auch -Frau Cimhuber herzklopfend herbeieilte und sich weit über die -Fensterbrüstung beugte. Ihre Brille fiel dabei in die Tiefe.</p> - -<p>Die ganze Aufregung war einem Reklamewagen zu verdanken, der mit bunten -Tierbildern bemalt, am Kanal entlang fuhr.</p> - -<p>„Ich sehe Gespenster am hellen Tag,“ erklärte Ursel seufzend, „das -endet nicht gut.“</p> - -<p>An demselben Morgen, an dem sich dieser Zwischenfall ereignete, -erschien ein Beamter des Zoologischen Gartens, um nach der Adresse von -Hansens Vater zu fragen. —</p> - -<p>Die Würfel waren gefallen. —</p> - -<p>Keiner zweifelte mehr daran.</p> - -<p>Hans war wie verstört. Er sah Kamele an allen Ecken und Enden. Sie -schauten über seine Schulter, wenn er Diktate schrieb, sie gingen -vor dem Pult auf und nieder, wo der Lehrer saß; sie warteten an -der Haustreppe, wenn er aus der Schule kam. Fünf schreckliche Tage -vergingen.</p> - -<p>Da — am sechsten, als Hans und Suse aus der Schule heimkehrten und -zur Tür hereintraten, flüsterte ihnen Ursel zu: „Er ist da in der -Negerstube.“ —</p> - -<p>„Wer?“ fragten die Kinder erschreckt, „der Direktor? Der Wärter?“</p> - -<p>Da erschien Frau Cimhuber und forderte sie auf, in die Negerstube zu -treten und ihren dort wartenden Onkel Gustav zu begrüßen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[S. 98]</a></span></p> - -<p>Schnell brachten sie ihr Haar und ihre Kleider ein wenig in Ordnung und -schritten dann erwartungsvoll dem hohen Besucher entgegen.</p> - -<p>„Schau den Onkel fest an, Hans, und guck nicht auf die Erde,“ ermahnte -Suse den Bruder, „sonst denkt er, du hast das Kamel geworfen. — Sieh -so, Hans,“ und Suse trat mit kühner Miene in die Negerstube und erhob -ihre Stupsnase so keck, als wollte sie den Onkel damit aufspießen.</p> - -<p>Hans versuchte es seiner Schwester gleich zu tun. Aber das war gar -nicht nötig; denn der Besucher hatte eine so herzlich gewinnende Art -und sah einen mit seinen hellen Augen so gütig an, daß man gleich -Zutrauen zu ihm haben mußte. Freundlich forderte er die beiden Kinder -auf, sich auf einen Stuhl neben ihn zu setzen und begann dann allerlei -mit ihnen zu reden, das sie interessieren konnte. — Von ihrer Heimat -sprach er, von ihren Eltern, von den Bergen. Man konnte meinen, er sei -schon einmal auf Besuch dort gewesen. Am liebsten hätte Suse ihm gleich -allerlei von Rosel, Christine, Minnette und dem Käterle von Michel und -Genoveva anvertraut.</p> - -<p>Doch der Onkel leitete das Gespräch geschickt auf den Besuch über, den -die Kinder vor einigen Tagen in seinem Hause gemacht hatten. Dann mußte -Hans erzählen, wie es ihm im Zoologischen Garten gefallen habe, welches -Tier für seinen Geschmack das schönste sei. Und so allmählich kamen die -drei auch auf das Abenteuer mit dem Kamel zu sprechen.</p> - -<p>Durch Suses lebhafte Zeichensprache ermuntert, erzählte Hans frei und -offen alles, was sich gestern zugetragen hatte.</p> - -<p>„Hast du nicht vielleicht auch Lust gehabt, ein ganz klein wenig mit -Sand zu werfen, wie du sahst, daß die andern es taten?“ forschte sein -Onkel.</p> - -<p>Hans sagte ganz erschreckt: „Das tut man doch nicht, das tut den Tieren -ja weh.“</p> - -<p>Da trat ein bekümmerter Zug in das Gesicht seines Onkels und wich -nur ganz langsam wieder. Dann leitete der Besucher das Gespräch auf -harmlosere Dinge über und fragte schließlich die beiden, ob sie nicht -Lust hätten, ihn und seine Kinder bald einmal wieder zu besuchen. Er -werde ihnen dann Geschichten erzählen, und seine Sammlung von wilden -Tieren zeigen.</p> - -<p>Da wurden Bruder und Schwester sehr verlegen, bekamen rote Köpfe und -drucksten an einer Antwort herum. Endlich stotterte Hans: „Ihre Kinder -und die schwarzen Frauen haben gesagt, wir sind schmutzig und arm, und -jetzt dürfen wir niemals mehr zu ihnen auf Besuch kommen. Unsere Eltern -wollen’s nicht.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span></p> - -<p>Und Suse setzte verlegen hinzu: „Unsere Mutter hat noch geschrieben, -sie möchte nicht, daß wir immerzu daran denken, daß wir auch so -wunderschöne Dinge haben möchten wie Sie, einen so schönen Pfau und -solch einen schönen Garten und solche ausgestopften Tiere und Schlangen -in Spiritus. Dann würde sie sich für uns schämen. Wir sollen nicht -neidisch sein. Wenn wir älter sind, dürfen wir sie einmal wieder -besuchen, jetzt nicht.“</p> - -<p>Wieder kam der bekümmerte Ausdruck in das Gesicht des Onkels. Er sah -nach seiner Uhr und sagte: „Es ist Zeit, daß ich gehe. Ich habe mich -schon etwas verspätet. — Dann also, adieu. — Das mit dem Kamel wird -sich machen. — Wo ist Frau Cimhuber?“ fragte er Suse.</p> - -<p>Darauf holte das kleine Mädchen die Pfarrfrau, und als er sich -freundlich von ihr und den Kindern verabschiedet hatte, ging er die -Treppe hinunter...</p> - -<p>Zwei Stunden mochten seit seinem Weggang verstrichen sein, da klingelte -es, und als Ursel die Tür aufmachte, befand sie sich dem Briefträger -gegenüber, der einen großen Brief in der Hand hielt. „Von der Direktion -des Zoologischen Gartens,“ murmelte sie erschreckt. — „Also doch, es -kommt!“</p> - -<p>Und mit diesen Worten trug sie den Brief zu ihrer Herrin in die -Negerstube.</p> - -<p>„Lesen Sie, lesen Sie,“ sagte sie bestürzt, „ich will nicht hören, was -in dem Unglücksbrief steht. — Ich bin wie geschlagen. Ich fühle es in -allen Gliedern, es kommt.“</p> - -<p>So sprechend hielt sie sich die Ohren zu und lief in die Küche, um hier -die Tür fest hinter sich abzuschließen.</p> - -<p>Hans und Suse, die auf Ursels aufgeregten Ruf von vorhin in die -Negerstube geeilt waren, standen mit großen Augen neben Frau Cimhuber -und fühlten ihr Herz klopfen. Ihre Pflegemutter setzte die Brille auf, -öffnete den Brief mit einem Falzbein und begann langsam zu lesen. Mit -einemmal seufzte sie tief, tief aus Herzensgrund.</p> - -<p>Gleich darauf hörte Ursel in der Küche einen lauten Schrei der Kinder -und schrie aus Entsetzen mit. — Jetzt mußte die Nachricht verlesen -worden sein.</p> - -<p>Aber was war das? Das waren ja Jubelrufe!</p> - -<p>„Das Kamel ist gesund, das gräßliche Kamel ist gesund,“ tönte es -draußen, und als Ursel durch eine Türritze spähte, sah sie Hans und -Suse wie die verzückten Derwische im Gang auf- und niederwirbeln, laut -jubelnd: „Es ist gesund, das schauderhafte Kamel ist gesund.“</p> - -<p>Hans schlug einen Purzelbaum mitten im Gang.</p> - -<p>Da liefen Ursel die Tränen über die Backen und sie rief, die Küchen<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[S. 100]</a></span>tür -weit öffnend: „Lacht und singt, Kinder, lacht und singt! Heute soll’s -nicht darauf ankommen! Fünftausend Mark! Eure Eltern wären bankerott -gewesen. — Und was für eine Schande für uns, wenn es hier angekommen -wäre. Lacht und singt!“</p> - -<p>Und als etwas später Gretel und Peter kamen, um wie gewöhnlich in den -letzten Tagen des Nachmittags nach einer Nachricht von dem Kamel zu -fragen, kochte sie den Gästen Schokolade und setzte ihnen kleine Kuchen -vor. Alles aus reiner, seliger Freude über das genesene Kamel.</p> - -<p>Als Hans am andern Morgen seinen Vettern in der Schule die frohe -Nachricht von dem glücklichen Wechsel der Dinge überbringen wollte, -ließen sie ihn erst gar nicht zu Worte kommen, so brannte sie eine -eigene, wichtige Nachricht auf der Zunge. —</p> - -<p>„Die Täter sind entlarvt,“ rief Theobald seinem Vetter von weitem zu.</p> - -<p>„Unser Vater war gestern bei den Fremdlingen. Fein hat er’s -gedeichselt. Und sie haben alles gestanden, diese miserablen -Granadasöhne, und die schwarzen Ungeheuer auch...“</p> - -<p>An demselben Tag traf der Doktorssohn zufällig auf seinem Heimweg -mit seiner Schwester Suse zusammen, und die beiden gingen die letzte -Strecke Weges miteinander. Hans lachte und summte fortwährend vor sich -hin und sprang alle paar Schritte eine Elle hoch vor Freude.</p> - -<p>„Nicht wahr, wie schön, daß wir nicht mehr an das Kamel zu denken -brauchen?“ fragte er.</p> - -<p>Seine Schwester nickte beifällig.</p> - -<p>Aber trotzdem blieb sie nachdenklich, und mit einemmal seufzte sie tief -vor sich hin.</p> - -<p>„Was hast du?“ fragte der Bruder besorgt.</p> - -<p>Eine Weile blieb sie die Antwort schuldig, dann stotterte sie etwas -verlegen: „Weißt du, Hans, wenn wir recht viel Geld hätten, wäre es -doch wunderschön, wenn wir ein Kamel für uns ganz alleine hätten. Denke -dir wie herrlich wäre es, wenn es jetzt bei Frau Cimhuber auf uns -wartete. Ich möchte wohl eins haben.“</p> - -<p>Doch Hans entgegnete: „Nein, weißt du, Suse, früher hab’ ich Kamele -sehr gern gehabt, aber jetzt wird’s mir ganz schlecht, wenn ich nur -an eines denke. Noch nicht einmal in Bilderbüchern mag ich sie mehr -besehen.“</p> - -<p>Doch Hans änderte seine Meinung mit der Zeit, als Onkel Fritz ihn und -Suse des öfteren mit in den Zoologischen Garten nahm, und er das Tier -in seiner ganzen Harmlosigkeit betrachten konnte. Nur in die Villa -Granada ging keines von den Kindern mehr. Auch Onkel Sepp hatte nach -dem Vorfall mit dem Kamel seinen Kindern verboten, ihren Besuch dort -zu wiederholen. — Wie an fremder Erde gingen sie nun an der Villa der -Fremdlinge vorüber. Zuweilen sahen Hans und Suse wohl<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span> den Pfau mit -seinem prunkenden Gefieder durch die Gitterstäbe leuchten und blieben -ein Weilchen stehen, um ihn zu betrachten. Aber zu ihm hinein verlangte -es sie nicht mehr. Und so erfuhren sie auch nie, wie sehr sich Onkel -Gustav grämte darüber, daß seine Kinder von allen gemieden wurden.</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="left" id="Viertes_Kapitel">Viertes Kapitel.<br /> - -<b class="s4 mleft2">Der Missionar</b></h2> - -</div> - -<p class="p0"><span class="initial">Z</span>wei Jahre waren vergangen, seit Hans und Suse bei Frau Cimhuber, -der Pfarrfrau, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, und manch -inhaltsreicher Brief war in dieser Zeit aus der Stadt nach dem -Heimatsort der beiden gewandert. Die Eltern und Freunde der Kinder -waren die glücklichen Empfänger dieser abwechslungsvollen Schreiben -gewesen.</p> - -<p>Da erhielt nun eines Tages Christine, ihre alte Kinderfrau, einen ganz -besonders langen Brief Susens. Es traf sich, daß bei seiner Ankunft -gerade Rosel, die Magd der Doktorsleute, zugegen war und die las ihn -vor.</p> - -<p>„Jesus, Maria und Joseph,“ schrie sie mit einemmal und sprang mitten -in die Stube. „Hört, Tante, was Suse schreibt: Der Herr Edwin kommt zu -Frau Cimhuber auf Besuch; er hat schon eine Leiche vorausgeschickt. Die -Leiche ist schon viele tausend Jahre tot. Schon viele Jahre vor Christi -Geburt. Sie steht im Gang bei Frau Cimhuber. Sie ist etwas größer als -Hans.“</p> - -<p>Das war zuviel für Rosel. Sie schleuderte den Brief weit von sich.</p> - -<p>„Scht,“ mahnte Christine, „heb den Brief auf. Das geht nicht mit -rechten Dingen zu. Das ist nicht geheuer, was Suse schreibt. Wir müssen -zur Frau Doktor gehn und ihr den Brief zeigen. Sie weiß Rat.“</p> - -<p>Der Brief, der Rosel und Christine in solche Verwirrung versetzte, -war von Suse am vergangenen Sonntag in größter Aufregung geschrieben -worden; denn vor dem Kirchgang hatte Frau Cimhuber plötzlich zu Hans -und ihr gesagt: „Mein Sohn Edwin aus Afrika kommt nach Hause.“ Die -Kinder waren zusammengefahren, und Susens Herz hatte laut geklopft.</p> - -<p>Herr Edwin kam! Ihr Held, ihr Vorbild! Alles was groß, schön, herrlich, -erhaben war, verkörperte sich für sie in seiner Person; denn in den -zwei Jahren, die sie bei Frau Cimhuber verbracht, hatte sie soviel -Außergewöhnliches von ihm und seinen Taten gehört, daß er ihr wie ein -Welt- und Meerwunder vorkam.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span></p> - -<p>Herrn Cimhubers Gepäck traf einige Tage vor ihm ein: eine Kiste und -ein umfangreiches, in Sackleinwand eingenähtes, längliches Bündel. -Er selbst verzog noch eine Woche in seinem Missionshaus in einer -entfernten Stadt.</p> - -<p>Die Doktorskinder gingen von nun ab nur noch flüsternd durch den Gang, -die Augen in stiller Ehrfurcht auf des Missionars Gepäck gerichtet. Ein -Duft von fremden Ländern haftete ihm an.</p> - -<p>Sie berieten hin und her, was es wohl enthielte. Suse meinte, die große -Kiste sei voll schrecklicher Götzen, Schwerter, Spieße und dergleichen -fremdländischer Gegenstände mehr.</p> - -<p>Aber was mochte der große Ballen enthalten? Leise strichen die Kinder -darüber. Auch Theobald und seine Geschwister wurden eingeweiht -und tauschten Betrachtungen über den möglichen Inhalt des seltsam -geformten, in Wachstuch genähten Bündels aus.</p> - -<p>„Hört,“ meinte Toni mit einemmal, „ich glaub ich hab’s. Herr Edwin -interessiert sich für Altertümer. Es könnte eine Mumie sein.“</p> - -<p>„Eine Mumie.... was ist das?“ riefen Hans und Suse.</p> - -<p>„Nun, ein einbalsamierter Mensch,“ entgegnete Toni. „Oder besser -gesagt, ein durch Spezereien für alle Zeiten unvergänglich gemachter, -menschlicher Leichnam.“</p> - -<p>„Welch ein Blödsinn,“ seufzte Theobald.</p> - -<p>„Durchaus nicht, mein lieber Bruder, vielleicht ist die von Herrn -Edwin herbeigeschaffte Mumie sogar eine ägyptische... ein Pharao, ein -ägyptischer König.“</p> - -<p>„Ja,“ rief Suse, „ein Pharao.“</p> - -<p>Sie war Feuer und Flamme für die Erklärung. Das Bündel, das bei Frau -Cimhuber im Gang stand, konnte nur eine Mumie sein... ein ägyptischer -König, vielleicht jener, der die Kinder Israel aus Ägypten getrieben -hatte. Wie geheimnisvoll!</p> - -<p>Auf Zehenspitzen schlich sie von nun an daran vorüber. Alle ihre -Freunde und Bekannten wurden von dem interessanten Paket unterrichtet, -und so geschah es, daß jener oben erwähnte Brief an Christine -geschrieben wurde.</p> - -<p>Hans redete weniger von der Mumie als seine Schwester, brannte aber in -demselben Maße wie sie darauf, jene von Angesicht zu Angesicht zu sehen.</p> - -<p>Frau Cimhuber mochte er nicht behelligen. So fragte er denn eines -Tages die alte Magd: „Was will denn der Herr Missionar mit der Mumie -anfangen, Ursel?“ Die Magd sperrte den Mund auf. „Was schnatterst du -da?“ rief sie endlich. „Was für ein Kauderwelsch? Willst du mich utzen, -raucht’s dir im Kamin?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span></p> - -<p>„Nein... nein, Ursel, durchaus nicht... die Mumie mein ich... da -draußen auf dem Gang. — Er... er... der Pharao, der König von Ägypten. -Kommen Sie, schauen Sie doch her... hier.“</p> - -<p>Er lockte die Magd hinaus.</p> - -<p>„Saperlott,“ schrie Ursel, als sie nichts sah wie das Bündel. „Willst -du mich zum Besten haben? Soweit ist’s denn doch noch nicht mit uns -gekommen. Ich will sehen, wer Meister ist, du oder ich...“</p> - -<p>Hans stürzte Hals über Kopf die Vorplatztür hinaus und in fünf Sätzen -die Treppe hinab.</p> - -<p>Am andern Tag hatte er sich aber bereits wieder soweit gefaßt, daß er -von neuem beginnen konnte: „Ursel, sollen denn die Sachen noch lang im -Gang stehen, die Kiste und das andere Paket?“</p> - -<p>„Warum frägst du?“ entgegnete die Magd. „Sind sie dir im Weg?“</p> - -<p>„Nein, nein, durchaus nicht, im Gegenteil. Ich freue mich, daß die -Sachen da sind. Ich interessiere mich dafür, auch Suse. Wir möchten die -Gegenstände mal von inwendig besehen.“</p> - -<p>„Was?“ rief Ursel erzürnt. — „Die ‚Gegenstände‘ — — —. Die -‚Gegenstände‘ wollt ihr durchschmusen? Was habt ihr in meinen Sachen -verloren? Überall müßt ihr eure Nase drin haben.“</p> - -<p>„Das sind Ihre Sachen?“ stotterte Hans und machte überlebensgroße -Augen, „den König von Ägypten schenkt er Ihnen — Ihnen — Ihnen — na, -da können Sie sich aber freuen.“</p> - -<p>„Freuen soll ich mich?“ rief Ursel und rückte ihm auf den Leib. „Sag’s -noch einmal, und du wirst es büßen.“</p> - -<p>Hans flüchtete. Verwirrt keuchte er: „Da können Sie sich aber freuen. -Das hätt’ ich nicht im Schlaf gedacht — Ihnen — Ihnen schenkt er den -Pharao.“</p> - -<p>Hinterdrein kam Ursel. „Ich will euch lehren, mir Mordgeschichten vom -Pharao zu erzählen,“ schalt sie. „Wartet, euch sticht der Hafer. Nichts -hört man mehr von dir und Suse als vom Pharao. Euch ist eine Schraube -los. Gleich will ich dir einen Pharao mit dem Kochlöffel geben.“ —</p> - -<p>„Kriegen wir bald zu sehen, was in den Paketen ist?“ fragte Suse einige -Tage darauf schüchtern Ursel, als Hans sie auf Kundschaft ausgeschickt -hatte.</p> - -<p>„Niemals,“ entgegnete Ursel, „zur Strafe für eure Neugier.“</p> - -<p>Theobald, der sich ebenfalls für die Mumie interessierte, erklärte -eines Tages, er werde, um allen Streitigkeiten ein für allemal ein Ende -zu machen, hingehen und die Mumie rauben.</p> - -<p>„Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni mit erschrecktem Gesicht. „Du -weißt doch, Frau Cimhuber verachtet dich. Wie kannst du es wagen, ihr -Haus zu betreten?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span></p> - -<p>„Abwarten,“ entgegnete Theobald, „die Sache will überlegt sein.“</p> - -<p>Inzwischen kam der Tag immer näher heran, an dem der Missionar erwartet -wurde. Immer aufgeregter wurde Frau Cimhuber, und eines Morgens da -konnte sie sich endlich, endlich sagen: „Heute kommt mein Sohn.“ Hoch -schlug ihr Herz, und immer wieder suchte sie das Zimmer auf, das zu -seinem Empfang bereitet war. — Es war Susens Zimmer, das der Missionar -in seiner Kindheit bewohnt hatte und das er jetzt wieder beziehen -sollte. Drum war das kleine Mädchen in ein Gemach neben der Negerstube -verbannt worden.</p> - -<p>Ein Waldstrauß, den die Kinder am Sonntag mit Ursel geholt hatten, -schmückte Herrn Edwins zukünftiges Reich. Die Mullgardinen am Fenster -leuchteten blütenweiß, und in der Ecke stand ein kleiner Schrank, -der angefüllt war mit den Spielsachen aus des Missionars Kinderzeit. -An Frau Cimhubers Seite durften sich die Doktorskinder das festlich -geschmückte Zimmer betrachten. Ihre leuchtenden Augen flogen bewundernd -durch den Raum, und Suse sagte leise vor sich hin: „Wie an einem -Weihnachtsfest so schön ist’s hier.“</p> - -<p>Die Pfarrfrau küßte sie und sagte leise: „Mein liebes, liebes Kind.“</p> - -<p>Geschmeichelt fuhr das kleine Mädchen fort: „Ach, wenn wir doch so -artig wären, wie Ihr Sohn gewesen ist, nicht wahr, Frau Pfarrer? Dann -hätten Sie mehr Freude als jetzt. Dann würden Sie sich niemals über uns -ärgern.“</p> - -<p>Die alte Dame strich Suse liebkosend über den blonden Scheitel.</p> - -<p>Hier runzelte Hans die Brauen und sagte seiner Schwester etwas -später erzürnt: „Du wolltest dich natürlich bei ihr anschmusen, alte -Schmeichelkatze; ich merkte es wohl. Schäme dich. Gepiepst hast du, als -könntest du keine drei zählen.“</p> - -<p>Jetzt aber fragte Suse Frau Cimhuber weiter: „Er bleibt doch lange da, -der Herr Edwin, nicht wahr, Frau Pfarrer?“</p> - -<p>„Ich weiß es nicht, Kind,“ erwiderte jene. „Mein Edwin ist krank. Aber -wir pflegen ihn wieder gesund, nicht wahr? Jeden Tag muß er spazieren -gehen. Bald bekommt er wieder rote Backen und wird frisch und blühend. -Alle seine Leibgerichte bekommt er.“</p> - -<p>„Ißt er auch Kalbshaxen und Knödel gern?“ fiel Hans schüchtern ein.</p> - -<p>Hier war es nun an Suse, die Brauen zu runzeln und hernach ungehalten -zu ihm zu sagen: „Sie hat natürlich gemerkt, daß nur du die Kalbshaxen -wolltest. Du brauchtest sie doch an einem solch schönen Tag durch deine -Gefräßigkeit nicht zu kränken. Toni hat auch gesagt: ‚Das ist ein -Markstein in Frau Cimhubers Leben.‘“ —</p> - -<p>Inwiefern man an einem Markstein in seinem Leben nicht an Kalbshaxen -mit Knödeln erinnert werden dürfe, war Hans schleierhaft, und er<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span> sah -Suse deshalb wie versteinert an, um hernach zu erklären: „Aber so -was Dummes, aber so was Dummes, Suse! Seit der Herr Missionar kommt, -meint man grad, du bist närrisch. Wie verdreht bist du. Immer piepst -du so und gehst wie auf Eiern und tust so fein, grad als wärst du -die Kaiserin. Ich kann es bald nicht mehr mit ansehen. Theobald hat -auch gesagt, wenn du so fortmachst, wirst du eine auf Draht gefädelte -Zierpuppe.“</p> - -<p>Um vier Uhr wurde der Missionar erwartet. Kurz nach eins lagen auf der -Pfarrfrau Bett schon der schwarze Hut, ihr Schleier und die Handschuhe -bereit, die sie anziehen wollte, um ihrem Sohn zum Bahnhof entgegen zu -gehen. Je weiter die Stunde vorschritt, je unruhiger wurde sie. Ursel -fürchtete schon, sie würde krank werden.</p> - -<p>Auch die Doktorskinder waren in großer Aufregung. Nach Schulschluß -eilten sie zum Bahnhof, wo Toni und Theobald sich bereits eine Nische -neben dem Hauptportal ausgesucht hatten; und hier erwartete die ganze -Gesellschaft nun Mutter und Sohn.</p> - -<p>Sie mußten sich eine gute Weile gedulden. Ein Schwarm junger Mädchen -kam durch das Portal, ein Herr, der seine Zigarre wegwarf, ein paar -schwatzende Frauen. — Frau Cimhuber mit ihrem Sohn kam immer noch -nicht.</p> - -<p>„Da sind sie,“ flüsterte plötzlich eins der Kinder. — Suse fühlte, wie -ihr Herz still stand.</p> - -<p>Die Pfarrfrau kam daher und an ihrer Seite — er... er... nein, das -konnte doch nicht er sein, nicht Herr Edwin. — Wie den Engel Gabriel -hatte sie sich ihn vorgestellt. Und nun ging dort ein gebrechlicher, -kranker Mann. —</p> - -<p>Suse mußte an ihren Zeichenlehrer denken, den alle Mitschülerinnen sehr -häßlich fanden. Dem sah Herr Edwin ähnlich. Konnte er’s denn sein?</p> - -<p>Hans stieß seine Schwester an und sah ihr bedeutungsvoll in die Augen. -Susens Herz zog sich immer mehr zusammen und schmerzte sie wie von -lauter kleinen Glassplittern angeritzt.</p> - -<p>„Rappeldürr wie ein Fenchelstock ist der Edwin,“ brach endlich Theobald -das Schweigen. Entrüstet fuhr Toni auf: „Dummes Geschwätz. Über einen -Missionar spottet man nicht. Vater sagt auch, du bist der grünste -Junge, der ihm vorgekommen ist.“</p> - -<p>Eine Zornesröte stieg Theobald in das Gesicht. — „Weil du mich so -abkanzelst,“ rief er, „werde ich mich rächen. Ich breche heute noch bei -Frau Cimhuber ein und mache mich an die Mumie ran.“</p> - -<p>Alle durchfuhr ein Schreck.</p> - -<p>„Nein, Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni. Auch Suse wollte<span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span> -zürnen. Aber in ihrem Herzen lockte plötzlich der Versucher: „Theobald -hat recht. Gewiß, er hat recht. Eine Enttäuschung habt ihr schon -erlebt. Nun sollt ihr wenigstens eine Überraschung haben, eine freudige -Überraschung. Nur Mut, nur nicht so kleinlich.“</p> - -<p>„Toni,“ stotterte sie da, „Toni, am Ende ist es keine Sünde. — Eine -Mumie ist doch nicht wie ein gewöhnliches Paket aus Europa. Das ist -doch was Außergewöhnliches.“</p> - -<p>„Ich leid’ es auf keinen Fall, Suse.“</p> - -<p>„Wir wollen’s ja nur begucken, nur einmal schnell angucken,“ drängte -Suse. „Du hast ja selbst gesagt, Toni, der gebildete Mensch muß wissen, -wie eine Mumie aussieht.“</p> - -<p>„Natürlich gehen wir ihr an den Kragen,“ rief Theobald laut dazwischen.</p> - -<p>Seine Schwester seufzte tief.</p> - -<p>„Aber, Toni, sei doch nicht so sauer wie ein Essighafen,“ bat Theobald, -„und mach lieber mit.“</p> - -<p>Wieder seufzte die Schwester und sagte dann schweren Herzens: „Allein -laß ich dich nicht hingehen, Theobald, sonst gibt’s wieder gräßliches -Unheil.“</p> - -<p>„Wann soll die Mumie durchforscht werden?“ fragte der Bruder jetzt.</p> - -<p>„Um acht Uhr, gelt, Suse,“ meinte Hans.</p> - -<p>„Ja, ja, das ist die rechte Zeit. — Frau Cimhuber hat nämlich gesagt, -wir sollen gleich nach Tisch in unser Zimmer gehen. Und dann ist Ursel -in der Küche und wäscht das Geschirr und klappert gräßlich damit und -singt Volkslieder und Choräle und hört nichts.“</p> - -<p>„Vorzüglich,“ rief Theobald, „dann setzt eure Lampe auf die Fensterbank -zum Zeichen, daß alles sicher ist und daß wir kommen können.“</p> - -<p>Nach dieser Vereinbarung trennten sich die Verschwörer, Suse mit einem -tiefen Seufzer. —</p> - -<p>Bei Tisch daheim im Hause der Frau Cimhuber ging es heute recht -feierlich zu.</p> - -<p>Unnahbar und ihnen weltenfern entrückt, kam der Missionar Hans und Suse -vor. Susens tiefen Knicks beim Eintreten schien er ebensowenig beachtet -zu haben wie Hansens Verbeugung, die tiefste Ehrerbietung bekundete. -— Und nachher während des Mahles, als er ein Glas Wasser verlangte -und Hans auf ein Zeichen der Pfarrfrau davonstob und wiederkehrend -stolperte und sich und Herrn Edwin bis zum Ellbogen naß goß und -Entschuldigungen stammelte wie ein verwirrter Kellner, verzog er keine -Miene.</p> - -<p>Suse aber glaubte unter den Tisch kriechen zu müssen aus Scham für -ihren Bruder.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span></p> - -<p>Da hob der Missionar plötzlich seine Augen, sah Suse lange an, dann -Hans.</p> - -<p>Dem kleinen Mädchen klopfte das Herz, und Hans verschluckte sich vor -Schrecken. — Jetzt sah Edwin Suse wieder an. Ihr Atem stockte. — -Sollte er? — Sollte er...</p> - -<p>Nein, das ging ja nicht an. — Er war ja nicht der liebe Gott. — Er -konnte ja nicht wissen, daß sie vorhatte, einmal Missionarin zu werden.</p> - -<p>Einen Augenblick schwand ihre Angst. Da kam ihr plötzlich ein anderer -schrecklicher Gedanke.</p> - -<p>Vielleicht hatte er ihren Plan mit der Mumie erraten! Wie ein Frevel -kam ihr jetzt der Vorsatz vor, den sie vorhin so leichten Herzens -gefaßt hatte.</p> - -<p>Und nach Tisch, als die Zeit immer näher kam, in der die kleinen -Verschwörer eintreffen mußten, wurde sie ganz mutlos.</p> - -<p>„Hans, lauf’ runter,“ drängte sie schließlich, „und sag’ Toni und -Theobald, sie sollen nicht kommen.“</p> - -<p>„Warum nicht gar, ich bleib’ hier,“ entgegnete er.</p> - -<p>„Nein, Hans, du gehst.“</p> - -<p>„Nein, ich bleib’ hier.“</p> - -<p>„Doch, du gehst.“</p> - -<p>„Das tu ich nicht, ich beseh’ mir die Mumie.“</p> - -<p>„Nein, nein, Hans, das dürfen wir nicht. Wir stellen kein Licht ans -Fenster, wie wir gesagt haben. Mit einemmal fühl’ ich ganz genau, daß -es nicht recht ist.“</p> - -<p>„Aber, Suse, das ist jetzt zu spät, das hättest du früher fühlen -müssen. — Ich will jetzt, daß wir das Licht hinstellen.“</p> - -<p>Und damit hatte er auch schon die Lampe ergriffen und wollte zum -Fenster gehen.</p> - -<p>In demselben Augenblick griff auch Suse danach und mahnte: „Hans, laß -los; es gibt eine Feuersbrunst.“</p> - -<p>„Nein, laß du los.“</p> - -<p>Feindlich sahen sich die beiden an. Da klingelte es schwach an der -Flurtür.</p> - -<p>Sie fuhren zusammen und setzten zitternd die Lampe hin.</p> - -<p>„Sie sind da,“ hauchte Suse. „Hans, jetzt ist es zu spät.“</p> - -<p>Leise öffneten die beiden die Tür, die ins Treppenhaus führte, und -herein schlichen der Stadtvetter und die Base. Toni flüsterte: „Der -Vater und die Mutter sind ins Konzert. — Keiner weiß, daß wir hier -sind.“</p> - -<p>Theobald aber drängte: „Wo ist die Mumie?“</p> - -<p>Zitternd zeigte Suse auf den Ballen in der Ecke. Theobald umfing ihn -mit kräftigen Armen und schleppte ihn in Susens Zimmer neben<span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span> der -Negerstube. Aus der Küche tönte es laut: „Weißt du, wieviel Sternlein -stehen?“ Wie im Takt klapperte dazu das Geschirr.</p> - -<p>Theobald rollte den Ballen einige Male mit seinem Fuß hin und her und -murmelte: „Na, wenn das ein Pharao ist, bin ich der Sultan von Marokko.“</p> - -<p>„Rasch, rasch, mach auf, daß wir sie wieder an ihren Platz -zurückstellen,“ flehte Suse, „rasch, Theobald.“</p> - -<p>Die Vettern begannen im Schweiß ihres Angesichts geräuschlos die dicken -Stricke zu lösen, während Suse das Licht hielt und Toni mit einer -Schere die Nähte löste.</p> - -<p>Im Nebenzimmer hörte man Frau Cimhuber und ihren Sohn reden. Doch es -währte nicht lange, so verstummten die beiden, und es wurde still.</p> - -<p>„Jetzt packt er seine Geschenke aus,“ flüsterte Theobald.</p> - -<p>Aber schon nach einer Weile wurde es im Nebenzimmer wieder laut: eine -Geige wurde gestimmt, und gleich darauf begann ein wunderschönes Spiel.</p> - -<p>Der Missionar geigte.</p> - -<p>„Er spielt,“ sagte Suse verklärt, und ihr ganzes Gesicht leuchtete. -Ihr Vorbild war also doch etwas Besonderes und überstrahlte die andern -Sterblichen. Er spielte so schön, wie sie es noch nie gehört hatte.</p> - -<p>„Hans, horch,“ flüsterte sie und faßte ihn am Arm, „horch.“</p> - -<p>Aber es bedurfte dieser Aufforderung nicht. Hans stand da mit gänzlich -verändertem Gesicht. Auch ihm kam es vor, als habe er noch nie jemand -so schön spielen hören.</p> - -<p>Selbst Theobald lauschte erstaunt und meinte: „Das kann doch nicht Herr -Edwin sein.“</p> - -<p>In diesem Augenblick machte Toni ein Zeichen Und wies auf ein Loch -oben in der Wand, durch das einmal ein Klingelzug geführt hatte, und -das unverschlossen geblieben war. Dort konnte man durchsehen. Sofort -schleppten die beiden Mädchen einen Tisch herbei, kletterten darauf und -spähten in das Zimmer nebenan.</p> - -<p>„Und ist sein Antlitz auch noch so verbrannt, das Mutteraug’ hat ihn -doch gleich erkannt,“ deklamierte Toni leise vor sich hin; denn im -Nebenzimmer bot sich ihr ein rührendes Bild.</p> - -<p>Im Lehnstuhl saß mit gefalteten Händen die Mutter des Missionars, -wandte kein Auge von ihrem Sohn und achtete nicht der Tränen, die -in ihren Schoß fielen. Ihr Kind spielte immer schöner mit einem -weltentrückten Ausdruck, und nur von Zeit zu Zeit streifte ein -leuchtender Blick seine Mutter.</p> - -<p>Inzwischen waren auch Hans und Theobald auf den Tisch gestiegen und -drängten ihre Köpfe zwischen den beiden Mädchen durch. Keiner<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span> sagte -ein Wort. Alle lauschten atemlos. Schließlich brach der Missionar sein -Spiel ab, legte seine Geige vorsichtig auf das Klavier und sah sich -nach einem Stuhl um.</p> - -<p>„Setz dich, Edwin,“ bat die Mutter, „setz dich, mein liebes Kind, und -ruh’ dich aus, es wird dir sonst zuviel für den ersten Abend.“ Und sie -führte ihn zum Sofa und legte ihm vorsichtig ein Kissen in den Rücken.</p> - -<p>„Wie schön ist es daheim bei dir, Mutter,“ sagte er und griff dankbar -nach ihrer Hand. — „Wie schön!“ Er lehnte sich müde zurück und sah sie -leuchtenden Auges an.</p> - -<p>„Nimmt der Edwin seiner Mutter alle weichen Kissen weg,“ flüsterte -Theobald. „Na, wenn ich einmal nach Hause käme, und es wär’ vom Krieg -und ich hätt’ eine Kugel im Rücken und könnt’ nur auf einem Bein -herumhuppen, soviel weiß ich, meiner Mutter nähm’ ich die Kissen nicht -weg. Wie unmännlich! — Komm, Hans, an die Gewehre,“ fuhr er dann fort. -— Sie kehrten zu der Mumie zurück.</p> - -<p>Toni und Suse blieben auf ihrem Beobachtungsposten stehen und -gewahrten, wie Frau Cimhuber sich neben ihrem Sohn niederließ.</p> - -<p>„Gelt, Edwin?“ fragte sie, seine Hand nehmend, „nun bist du doch auch -glücklich? Schwer ist dein Beruf. Aber es geschieht ja zur Ehre des -Herrn. Nicht jeder kann ein großer Künstler werden. Und es ist ja auch -der Wunsch deines Vaters immer gewesen, daß du Missionar würdest, und -du bist doch auch glücklich? Nicht wahr? Vielleicht hättest du ja ein -großer Künstler werden können. Aber so führst du doch ein reicheres, -gottwohlgefälligeres Leben?“</p> - -<p>Er hustete, und man merkte ihm wohl an, wie erschöpft er war. Dann -sagte er einfach: „Ja, Mutter.“</p> - -<p>„Er wollte Künstler werden,“ flüsterte Toni, „genau wie ich. Aber ich -glaube, es wird nichts draus. Der Vater will nichts mehr davon hören. -— ‚Schwamm drüber‘, hat er gestern gesagt.“</p> - -<p>Suse hörte nicht zu. Sie stand noch immer da mit gefalteten Händen und -strahlenden Augen.</p> - -<p>Wie schön, wie schön hatte Herr Edwin gegeigt. So schön wie sonst -niemand auf der Welt!</p> - -<p>Jetzt sah Toni, wie im Nebenzimmer die Tür zum Gang aufging und Ursel -eintrat. Sich mit ihrer Küchenschürze die Augen abwischend, sagte sie: -„So schön hat der Herr Missionar gespielt, so schön, ich habe gemeint, -die Orgel geht am Sonntag in der Kirche.“</p> - -<p>„Setzen Sie sich zu uns, Ursel,“ bat Edwin.</p> - -<p>„Ach nein, vielen Dank, ich habe soviel zu tun.“</p> - -<p>„Immer, immer zu tun, Ursel,“ meinte Edwin Cimhuber, „gerade noch wie -früher.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span></p> - -<p>„Ja, die Pflicht geht vor, Herr Edwin,“ philosophierte Ursel, „und -Arbeit versüßt das Leben.“</p> - -<p>Wenige Minuten später war sie schon wieder nach der Küche unterwegs.</p> - -<p>Toni war begeistert von der Szene, die sie von ihrem Auslug in der Höhe -wahrgenommen hatte.</p> - -<p>„Selbst Ursel hat einen versöhnlichen Gesichtsausdruck heute,“ -flüsterte sie.</p> - -<p>Im nächsten Augenblick aber zitterte sie wie Espenlaub und suchte vor -Schreck nach einem Halt. Auf dem Flur erscholl Geschrei. — Ursels -Stimme. — Theobald, Hans und Suse ließen vor Schreck das Bündel, an -dem sie trennten, hinfallen und schauten sich entsetzt an.</p> - -<p>„Gestohlen, gestohlen, die Matratze ist fort. Diebe, Diebe,“ rief -es vor der Tür. — Jetzt in Frau Cimhubers Stube: „Denken Sie, Frau -Pfarrer, die Matratze ist fort, sie ist gestohlen. Vor einer halben -Stunde noch war sie da. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. -Die Kinder, die haben mal wieder die Tür aufstehen lassen. Sie ist -gestohlen, sie ist gestohlen.“</p> - -<p>„Was sagt sie... die Matratze?“ stotterte Theobald.</p> - -<p>Im nächsten Augenblick schoß Ursel auch schon wie eine Glucke mit -gesträubtem Gefieder zur Tür herein und erblickte die Kinder mit der -Trennschere und den Messern in der Hand. Sie ergriff ohne Federlesens -das halb ausgepackte Bündel, riß die letzte Hülle los und entrollte vor -den Augen der Verschwörer eine blau und weiß gestreifte Matratze. Keine -Mumie. — Die geheimnisvolle Mumie war Ursels Matratze.</p> - -<p>Suse war blaß wie der Tod.</p> - -<p>Und nun stand auch die Pfarrfrau in der Stube, entdeckte den kostbaren -Gegenstand und atmete erleichtert auf.</p> - -<p>„Da ist sie ja, Ihre Matratze, Ursel,“ sagte sie, „und schon fix und -fertig ausgepackt.“</p> - -<p>„Habt ihr das getan?“ fragte sie Suse. Diese nickte mit schuldigem -Gesicht. Toni aber kletterte beschämt von ihrem Tisch herunter, -Theobald sprang mit höflicher Verbeugung in die Höhe, und Hans machte -ein Gesicht wie die Katze, wenn’s donnert.</p> - -<p>Den vier Ertappten war es schwül zumute. Die Pfarrfrau sagte: „Ihr -wolltet Ursel überraschen, ihr wolltet ihr eine Freude machen, nicht -wahr? Sie hat sich eine Matratze von ihren Verwandten kommen lassen. -Ihre eigene hat sie in mein Bett geschafft und meine hat sie meinem -Sohn gegeben. Edwins Matratze ist zu hart. Er muß zwei haben, sonst -kann er nicht schlafen. Er ist krank. — Ihr lieben, lieben Kinder! Ihr -wußtet, wie sie heute vor lauter Arbeit nicht zu Atem kommt. Nun kommt -mal mit zu meinem Sohn!“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span></p> - -<p>„Hier sind die Diebe, die Missetäter,“ begann sie zu dem Missionar, -indem sie Hans und Suse zärtlich bei der Hand faßte, „unsere kleinen -Heinzelmännchen, die Ursel die Matratze geöffnet haben. Sie wollten ihr -die Arbeit abnehmen. Nicht wahr?“ fragte sie und strich den beiden über -den Kopf.</p> - -<p>„Nein, nein,“ stotterte Suse, „helfen wollten wir nicht, wir wollten ja -nur sehen... wir wollten nachsehen — wir meinten, die Mumie sei drin.“</p> - -<p>„Oh, dieser Blödsinn von Suse,“ dachte Theobald und schlug die Augen -zur Decke empor.</p> - -<p>„Was sagtest du, mein Kind?“ forschte Frau Cimhuber. Da fühlte Suse -Theobalds Blick auf sich ruhen. Sie schluckte nur zweimal trocken -runter vor Schrecken und stotterte: „Wir... wir... wir...“</p> - -<p>Doch Frau Cimhuber drang auch gar nicht weiter in sie, sondern forderte -sie auf, Platz zu nehmen und eingemachte Früchte zu essen und Kuchen, -den sie ihnen hinreichte.</p> - -<p>„Du ißt doch auch gern Kuchen, Theobald,“ wandte sie sich an den -Stadtvetter.</p> - -<p>„Da, nimm dir hier dieses Stück. Dieses ist besonders gut. Du hast’s -verdient.“</p> - -<p>Theobald knirschte innerlich vor Ärger. Wie die kleinen Kinder wurden -sie behandelt, wie die richtigen kleinen Kinder. Und man fütterte sie -wie die Piepmätze.</p> - -<p>Lieber schon wäre es ihm gewesen, Ursel und der Missionar wären -plötzlich aufgesprungen und hätten mit ihm zu boxen angefangen. Aber -dazu war wenig Aussicht vorhanden.</p> - -<p>Erleichtert atmete er deshalb auf, als Toni nach zehn Minuten aufstand -und sich verabschiedete. Und draußen wurde es ihm erst recht klar, in -was für einem Backofen er gesessen hatte, und mit dem Ruf: „Wie die -Kamele, gerade wie die Kamele haben wir uns benommen,“ sprang er die -Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal nehmend.</p> - -<p>Auch Hans und Suse zogen sich bald zurück, denn ihr Gewissen schlug -schuldbewußt angesichts der vielen Liebenswürdigkeiten, die Frau -Cimhuber ihnen erwies. —</p> - -<p>Am andern Tag zur Mittagszeit sahen sie dann den Missionar wieder. Er -war heute wie in der folgenden Zeit sehr zurückhaltend.</p> - -<p>In der Schule, wo Suse so viel von dem Besuch des interessanten -Afrikareisenden erzählt hatte, der Frau Cimhuber und mit ihr ein wenig -auch Hans und Suse beehren werde, begann man sich bereits zu wundern, -daß die spannenden Geschichten, die Suse von ihm erhofft hatte, -ausblieben.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span></p> - -<p>Nun nahm in diesen Tagen Susens Klasse in der Geographiestunde gerade -die Westküste Afrikas durch. — Dorther kam Herr Edwin — von der -Goldküste.</p> - -<p>„Ach, wenn er doch einmal reden würde,“ dachte Suse voll Verlangens.</p> - -<p>Welche interessanten Dinge würde man da zu hören bekommen! Und welch -bedeutenden Eindruck würde Suse in der Schule hervorrufen, wenn sie -verkündete, daß sie einen Menschen kenne, der selbst in jenen Ländern -gewesen war, der mit eigenen Augen die Menschen, die Tiere, die -Pflanzen dort, alles, alles gesehen hatte, der viel mehr wußte, als in -den Geographiebüchern stand. Wenn er nur redete!</p> - -<p>Da, am Tage vor der Geographiestunde, konnte Suse sich nicht mehr -beherrschen und fragte mit einemmal bei Tisch, zu Hans gewandt, während -sie im Grunde Herrn Edwin meinte: „Du Hans, wo seid ihr jetzt in der -Geographiestunde? Wir sind jetzt an der Elfenbein-, Sklaven- und -Goldküste; da herum.“</p> - -<p>„Wir nicht!“ sagte Hans und aß ruhig weiter. „Wir nehmen Deutschland -durch.“</p> - -<p>Frau Cimhuber und ihr Sohn aber hatten von der Unterhaltung überhaupt -nichts gehört.</p> - -<p>Suse räusperte sich deshalb und sagte lauter als vorher: „Hans, wir -sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen Sklaven-, Gold- und -Elfenbeinküste.“</p> - -<p>„Das hast du ja eben erst gesagt,“ meinte Hans und sah sie groß an.</p> - -<p>Da wandte sich Suse unter heftigem Erröten an Frau Cimhuber selbst, -indem sie sagte: „Wir sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen -Sklaven-, Gold- und Elfenbeinküste, Frau Pfarrer.“</p> - -<p>„Nein, das ist ja interessant,“ meinte die Pflegemutter mit einemmal -aufmerksam. „Wie gut trifft sich das. Du, Edwin, die Kinder nehmen -jetzt in der Schule die Goldküste durch,“ sagte sie zu ihrem Sohne. — -„Da weißt du ja am besten Bescheid.</p> - -<p>Soll euch mein Sohn einmal davon erzählen?“ fragte sie die Geschwister.</p> - -<p>„Ja,“ riefen beide hochbeglückt.</p> - -<p>„Heute abend könntest du’s tun, wenn wir vom Spaziergang zurückkommen!“ -forderte die Mutter ihren Sohn auf. „Wie denkst du darüber? hast du -Lust?“</p> - -<p>„Warum nicht? Sehr gern!“ antwortete er und nickte den beiden zu. -Und sie nahmen seine wohlwollenden Blicke hin, als wär’ es schon der -schönste Anfang einer Geschichte.</p> - -<p>Am Abend nach Tisch versammelte sich dann die ganze Gesellschaft;<span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span> Frau -Cimhuber und ihr Sohn saßen im Sofa, Ursel und die Kinder auf Stühlen, -und auf seinem Ständer in der Ecke der Negergott, der wieder auf seinen -alten Platz verpflanzt worden war, nachdem die Kinder vor anderthalb -Jahren ihre Pflegemutter gebeten hatten, ihn doch wieder hervorzuholen, -sie fürchteten sich nicht mehr vor ihm.</p> - -<p>Totenstille herrschte, als Herr Edwin zu erzählen begann. Alles -lauschte. Nur zuweilen hörte man Hans und Suse tief atmen. —</p> - -<p>Von den großen Weltmeeren, über die er gefahren war, erzählte er, -von den großen afrikanischen Wüsten, wo nachts der Ruf wilder -Tiere herüberklang, von den undurchdringlichen Urwäldern, wo sich -Schlingpflanzen mit Tausenden von bunten Blumen von Baum zu Baum zögen -und ein köstliches Gewebe vor den Türen des geheimnisvollen Waldes -bildeten.</p> - -<p>Hansens und Susens Augen glänzten.</p> - -<p>Wie ein Schauer ging es zuweilen durch sie durch, als er von der Größe -und Schönheit von Gottes wunderbarer Welt sprach, und eine große -Sehnsucht nach der Ferne kam über sie. —</p> - -<p>Das war ja alles viel, viel tausendmal schöner, als sie sich -vorgestellt hatten.</p> - -<p>Da redete Herr Edwin aber mit einemmal von ganz anderen Dingen, und die -Mienen der Kinder verdüsterten sich. Von den armen, elenden Menschen in -den Tropenländern sprach er, die zuweilen ein Leben führten, schlimmer -als die Tiere, die verkamen in geistiger und leiblicher Not. In -ihrer Angst errichteten sie sich selbst Götter, aber was für Götter! -Jammerbilder, Fratzen, sogenannte Fetische, die zuweilen nichts anderes -waren als ein Stück bemalten Holzes oder bemalten Steines.</p> - -<p>„Dort die Figur in der Ecke,“ meinte Herr Edwin, auf das Negergöttlein -auf seinem Ständer zeigend, „ist ein ganz besonders schöner Gott, -verglichen mit vielen andern, die ich gesehen habe. — Ein wirklicher -Staatsgott!“</p> - -<p>„Ein Staatsgott?“ sagte Suse ungläubig.</p> - -<p>Hans mußte das Lachen verbeißen, wenn er an den drolligen Wicht dort -hinten in der Ecke dachte, dem der rechte Mundwinkel herabhing, als -hätte er jahrelang eine Tabakspfeife drin gehalten und könne die Lippen -nun nicht mehr heraufziehen.</p> - -<p>„Den beten sie an?“ fragte Suse erschreckt.</p> - -<p>„Ja, das ist ihre Gottheit!“ sagte Herr Edwin fast schmerzlich. „Ein -solches Stück Holz ist ihr Gott.“ — „Ach, wie leiden sie unter dem -Aberglauben!“ fuhr er fort. „Sie glauben sich von hunderten von bösen -Dämonen umgeben. Das sind die Seelen der Verstorbenen, die sie Tag -und Nacht verfolgen und nur auf Greuel sinnen. — All ihr Unglück<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span> -schreiben sie ihnen zu, alle ihre Krankheiten, und dabei ist es doch -nur die eigene Unsauberkeit und Unwissenheit, die ihre Krankheiten -begünstigen.“ —</p> - -<p>Der Herr Missionar erzählte nun den Kindern einzelne Fälle von -besonders unglücklichen Menschen, die er kennen gelernt hatte.</p> - -<p>Hans und Suse rückten mit ihren Stühlen immer näher an den Erzähler -heran, fast auf ihn drauf.</p> - -<p>Sie waren jetzt ganz mit ihm in Afrika. — Es war Nachmittag. Sie -fühlten die heiße Tropensonne, die auf sie herunterglühte, sie gingen -durch hohen, gelben Sand, der ihnen stechend wie Nadeln durch die -Kleider drang, sie sahen die Blätter der Palmen, die am Wege in der -Glut der Sonne welkend herabhingen. Sie litten in der erstickenden -Schwüle brennenden Durst. Sie fühlten, wie sie gleich Herrn Edwin von -Fieberschauern geschüttelt wurden und vor Müdigkeit kaum mehr vorwärts -schreiten konnten. — Aber sie mußten weiter, sie mußten vorwärts, -denn vor dem nächsten Dorf am Wege lag ein Sklave — man hatte es -ihnen gesagt — der vom Innern aus den Bergen mit einer Last gekommen -war, und dem durch einen Unfall beide Beine zerschmettert worden -waren. Voll rohen Sinnes hatten ihn seine Begleiter am Wege liegen -lassen, unbekümmert darum, ob er in der Hitze sterbe oder nicht. — -Nur ein Fetischpriester hatte ihm ein Amulett aus Leopardenhaar und -Katzenwirbelknochen verkauft, das sollte ihn wieder gesund machen.</p> - -<p>Der Missionar und Hans und Suse erreichten den armen Menschen und sahen -ihn vor sich liegen, ein Bild des Jammers. Herr Edwin verband ihn unter -ihren Augen, und ihr Herz war von Dankbarkeit gegen den Helfer erfüllt.</p> - -<p>Je mehr der Herr Missionar erzählte, um so mehr empfand Suse einen -schweren Druck auf ihrer Brust. Es waren ihre Pläne über Afrika, die -sie quälten und bedrückten. Sie sah sich wieder dort mit ihrem Hofstaat -von Affen und Papageien in einem Schloß wohnend, das viel schöner war -als das der „Fremdlinge“, umgeben von Sklaven und gefeiert wie eine -Königin. — Und daneben erblickte sie Herrn Edwin, der ein so hartes, -ein so einsames und entbehrungsreiches Leben führte, ohne Lohn, ohne -Dank, nur von dem Glauben beseelt, daß er Gutes tue Gott zur Ehre.</p> - -<p>Vor Beschämung wagte Suse nicht mehr aufzusehen. Und schließlich, in -einer Pause, da hielt sie’s nicht mehr aus und sagte: „Ich hab’ mir -auch vorgenommen, ich wollte Missionarin werden, Herr Edwin!“</p> - -<p>Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen. Suse saß da wie vor ihrem -Todesurteil.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span></p> - -<p>Aber der Herr Missionar sagte ruhig: „Warum solltest du das nicht -werden, Kind?“</p> - -<p>Suse glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. — Was hatte er gesagt? Sie -durfte auch Missionarin werden, sie?</p> - -<p>„Das darf ich auch werden?“ fragte sie glückselig. „Gerade so wie Sie, -Herr Missionar?“</p> - -<p>„Ja,“ sagte er.</p> - -<p>Auch Hans sah begeistert zu ihm hin. Da verdüsterte sich aber Susens -Miene wieder und sie beichtete stockend: „Ich hab’ aber immer gedacht, -Herr Missionar, wenn ich einmal Missionarin bin, möchte ich dafür -schöne Sachen aus fremden Ländern haben.“</p> - -<p>„Aber, Suse!“ rief die Pfarrfrau entsetzt.</p> - -<p>„Nun,“ sagte der Missionar ganz ruhig, „das ist gar nicht so schlimm. -Du kannst auch schöne Sachen dafür haben. Ich glaube aber, du wirst -selbst bald einsehen, daß die im Grunde nebensächlich sind, und daß -deine schönste Belohnung das Gefühl ist, den Menschen geholfen zu -haben.“</p> - -<p>„Helfen wollte ich immer, Herr Missionar,“ sagte Suse mehr flüsternd -als redend.</p> - -<p>„Die Helferei kenn’ ich,“ murmelte Ursel. Aber keiner hörte auf diesen -Einwurf. Die Kinder achteten nur auf Herrn Edwin, der jetzt sagte: -„Das ist ein schöner Vorsatz, den du da gefaßt hast, Suse, andern zu -helfen und Gutes zu tun. — Die Welt ist ja so groß, und für jeden ist -Platz drin, der etwas Tüchtiges und Gutes leisten will. Auch ihr könnt -helfen. Ihr müßt nur die Zeit in euerer Jugend anwenden, damit ihr was -lernt und hernach auch was könnt. Denn wer selbst nichts kann, kann -auch andern nicht helfen.“</p> - -<p>„Das hat auch unser Vater schon gesagt,“ fiel Hans ein, „wenn ihr -andern helfen wollt, müßt ihr erst selbst was können.“</p> - -<p>Herr Edwin nickte und erzählte weiter, und die beiden hingen jetzt mit -doppelter Begeisterung an seinen Lippen, denn sie hatten die stolze -Empfindung, daß auch sie ein Recht hätten, dermaleinst große Taten zu -vollbringen wie Herr Edwin.</p> - -<p>„Sehen Sie, Ursel!“ sagte Suse vor dem Zubettgehen strahlend zu der -alten Magd. „Ich kann auch Missionarin werden. Der Herr Edwin hat’s -gesagt.“</p> - -<p>Ursel seufzte und sagte: „Wenn’s der Herr Edwin gesagt hat, wird’s wohl -stimmen.“</p> - -<p>Lange konnten die Geschwister heute abend nicht einschlafen. Herrn -Edwins Worte beschäftigten sie noch immer, und sie hatten ein Gefühl, -als wären sie heute ein paar Jahre älter geworden und wüßten mehr als -andere Leute. Die Welt erschien ihnen so groß und wunderbar wie nie -zuvor.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span></p> - -<p>Von Tag zu Tag schlossen sich die Kinder nun mehr an den Besucher an -und hörten manches gute Wort von ihm, das sie nicht so leicht vergaßen. -Fast täglich sah man sie, glühend vor heimlicher Freude, an seiner -Seite durch die Straßen gehen. Wer konnte sich auch rühmen, mit einem -richtigen, leibhaftigen Missionar spazieren zu gehen, der so viele -fremde Länder kannte, und so viel zu erzählen wußte? — Auch lustige -Dinge berichtete er ihnen hin und wieder. Ach, einmal war sogar ein -Neger, der nicht mehr viel sah, zu Herrn Edwin gekommen und hatte ihn -gebeten, ihm ein paar Hunde- oder Katzenaugen einzusetzen, damit er -wieder besser sehen könne. —</p> - -<p>Leider verging die schöne Zeit, in der Herr Edwin da war, nur allzu -rasch. Nach ein paar Wochen schon, als er sich erholt hatte, ging er -wieder fort. Hans und Suse begleiteten ihn allein zur Bahn, da die -Pfarrfrau, von Abschiedsschmerz überwältigt, ihm das Geleite nicht -geben konnte. Sie hatte eine Ahnung, daß sie ihn nie mehr wiedersehen -werde.</p> - -<p>Hans sah auf dem Gang zur Bahn finster drein, um seine schmerzlichen -Gefühle zu verbergen. Suse weinte zum Herzzerbrechen. Sie ließ es sich -nicht nehmen, Herrn Edwins Geige bis zuletzt zu tragen und eigenhändig -in das Gepäcknetz über seinen Platz zu legen.</p> - -<p>Noch einmal drückte er ihnen die Hand zum Abschied und sagte: „Ich -bitte euch, bewahret euer reines Herz und bleibet immer gut!“</p> - -<p>Dann fuhr er davon. —</p> - -<p>Sie sahen ihn niemals wieder. Eines Tages starb er in den fremden -Ländern, von denen er Hans und Suse so viel Wunderbares erzählt hatte, -und wurde dort im Schatten einer Palme begraben.</p> - -<p>Aber das geschah alles zu einer Zeit, als die Doktorskinder nicht mehr -bei Frau Cimhuber weilten.</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="left" id="Fuenftes_Kapitel">Fünftes Kapitel.<br /> - -<b class="s4 mleft2">Christines Reise</b></h2> - -</div> - -<p class="p0"><span class="initial">A</span>m nächsten Pfingstfest wurden Theobald und seine Geschwister von ihrem -Onkel und ihrer Tante in das Doktorshaus eingeladen. Die Ferienzeit -mit Hans und Suse verlief lustig, wie es zu erwarten war. Die ganze -Gesellschaft tollte sich nach Herzenslust aus. Ausflüge in die Berge -wurden gemacht, alte Bekannte im Dorf aufgesucht. Hans und Theobald -strichen die Gartenmöbel an und besserten den Holzzaun des Vorgärtchens -aus. Christoph und Henner machten gerade soviel dumme Streiche wie -einst ihr Bruder Theobald vor Jahren.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span></p> - -<p>Am letzten freien Tag waren die Kinder bei Christine, dem alten -Mütterchen mit dem freundlichen, guten Gesicht zu Gaste gebeten. Punkt -zwölf Uhr sollten sie bei ihr sein. Sie zögerten lange.</p> - -<p>Da hörte sie endlich helles Lachen und das Laufen von vielen Füßen. -Gleich darauf flitzen ein paar helle Köpfe am Fenster vorüber. Die -Gäste waren gekommen.</p> - -<p>In zwei Sprüngen nahmen sie die steinerne Treppe vor dem Haus und -standen atemlos im Stübchen.</p> - -<p>„Entschuldige, entschuldige,“ rief Suse, „wir konnten nicht eher -kommen. Der Henner ist in den Brunnentrog gefallen und mußte sich erst -trocknen und umziehen.“</p> - -<p>„Wirst du dich auch nicht erkälten, Kind?“ wandte Christine sich an -Henner und strich ihm über das noch feuchte Haar.</p> - -<p>„Nein, nein, alles geht vorzüglich,“ meinte der.</p> - -<p>Da trippelte sie in die Küche, um das Essen anzurichten.</p> - -<p>„Kalbsbraten?“ fragte Suse ganz erstaunt, als sie in die Schüssel sah, -die die alte Frau auf den Tisch stellte. — Das war ja ein Luxus, den -sich die armen Gebirgsbewohner sonst nur an hohen Festtagen leisteten.</p> - -<p>„Kalbfleisch?“ fragte sie deshalb noch einmal in vorwurfsvollem Ton.</p> - -<p>Doch Christine verstand Suse falsch und flüsterte mit erschrockenem -Blick nach den übrigen Kindern hin: „Mögen sie es nicht, Suse? Ist es -ihnen nicht gut genug? Gelt, sie sind an Besseres gewöhnt? Es ist aber -doch das Feinste, das wir hier haben.“</p> - -<p>„Viel zu fein ist’s,“ rief das Doktorskind. „Eine Suppe wäre gerade gut -genug für uns gewesen.“</p> - -<p>„Nein, nein,“ wehrte Christine, „Kalbfleisch ist besser.“</p> - -<p>Nun halfen Toni und Suse beim Auftragen der Speisen, und die -Gesellschaft fing zu essen an.</p> - -<p>Die Kinder mäßigten ihren Appetit etwas, weil der Doktor ihnen daheim -anbefohlen hatte, Rücksicht auf der alten Frau geringe Vorräte zu -nehmen.</p> - -<p>Aber Christine beängstigte ihr Maßhalten, und sie fragte deshalb -wiederum erschreckt Suse: „Gelt, sie mögen mein Essen nicht? Gelt, sie -ekeln sich vor mir, weil ich eine alte Frau bin?“</p> - -<p>Da flüsterte Theobald seinen Brüdern zu: „Eßt, ihr Dächse, wie die -Nudelgänse, sonst geht’s euch schlecht. Immer Takt haben.“</p> - -<p>Da begann die Gesellschaft zuzulangen, daß Christine ihre helle Freude -dran hatte.</p> - -<p>Ein halber Laib Brot verschwand, ein Kuchen folgte ihm nach, und von -dem Kalbfleisch blieb auch nicht mehr viel übrig. In den Wassergläsern -schenkte Christine den Kindern Waldbeerwein ein.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span></p> - -<p>Unter fröhlichen Gesprächen verging das Mahl.</p> - -<p>Die Doktorskinder brachten Christine einen ihrer alten Lieblingswünsche -vor.</p> - -<p>„Christine, besuch uns doch einmal in der Stadt!“ rief Suse, „tu es -doch.“</p> - -<p>„Ja,“ fielen auch die andern ein, „tun Sie es, bitte.“</p> - -<p>„Tu es, es wird herrlich,“ meinte Hans. „Dann sollst du alles in der -Stadt zu sehen bekommen. Alles, alles.</p> - -<p>Den Zoologischen Garten, wo mein Kamel drin steht. Weißt du, das ich -mal fast bekommen habe, das gräßliche Tier!“</p> - -<p>„Wenn ich dran denke, wie Ursel damals gejammert hat,“ rief Suse, „muß -ich noch jetzt lachen. Ich hab’ gemeint, sie wird verrückt.“</p> - -<p>„Christine muß vor allen Dingen Ursel selbst sehen,“ erklärte hier -Theobald, „diese blitzsaubere Person. Das Herz lacht einem im -Leib, wenn man sie ansieht. So gut ist die, so liebenswürdig, so -entgegenkommend, ein Engel in Menschengestalt.“</p> - -<p>„Und Frau Cimhuber, die ist auch sehr interessant,“ rief Toni.</p> - -<p>„Ja, die wird Ihnen den ganzen Tag von ihrem Sohn erzählen,“ meinte -Theobald, „bis Ihnen ein Mühlrad im Kopf herumgeht. Edwin, Edwin, -weiter hört man nichts von ihr.“</p> - -<p>„Das kann ich vollständig begreifen,“ erklärte Toni. „Sie hat nur einen -einzigen Sohn, also redet sie von ihm. Der ist nämlich in Afrika, -müssen Sie wissen, Christine, und den größten Gefahren ausgesetzt. -Jeden Tag kann ihn der Tod überraschen, und seine Mutter ist fern von -ihm.“</p> - -<p>Suse nickte.</p> - -<p>„Toni hat ganz recht,“ wandte sie sich an die alte Frau. „Nicht wahr, -du würdest doch auch in großer Sorge sein, wenn du nur ein einziges -Kind hättest und das wäre nicht bei dir und stürbe womöglich eines -Tages. Ich denke es mir gräßlich, wenn man nur ein einziges Kind hat -und das stirbt einem noch obendrein.“</p> - -<p>Christine nickte traurig vor sich hin und faltete ihre Hände.</p> - -<p>Da stieß Hans seine Schwester unter dem Tisch an, und Suse biß sich -auf die Lippen, erinnerte sie sich doch plötzlich, daß sie eine große -Taktlosigkeit begangen hatte.</p> - -<p>Christine hatte ja auch nur ein einziges Kind gehabt, eine Tochter, und -die war gestorben in demselben Jahre, als Suse geboren wurde.</p> - -<p>Rosel hatte den Kindern einmal von diesem Trauerfall gesprochen und -zwar mit geheimnisvoll düsterer Miene.</p> - -<p>„Gräßlich, gräßlich ist’s gewesen,“ hatte sie geflüstert, „man sollte -nicht meinen, daß es solche Menschen gibt. Aber redet nicht davon. —<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span> -Redet nicht davon, redet nicht davon.“ Mehr hatten sie nicht vernommen. -Und die Frau Doktor, die von ihren Kindern gebeten worden war, -ihnen einiges von Christines Tochter zu verraten, hatte nur gesagt: -„Christine hat sehr viel Trauriges durchgemacht, aber erinnert sie -nicht daran. Wenn ihr einmal größer seid, sollt ihr’s wissen.“</p> - -<p>Und nun hatte Suse eine solche Dummheit gesagt. Schnell rief sie -deshalb dem alten Mütterlein zu, um sie abzulenken: „Das Haus von den -Fremdlingen mußt du auch sehen, Christine. Wir führen dich dran vorbei.“</p> - -<p>„Und die herrlichen Granadasöhne auch,“ warf Christoph ein. „Wie die -geschniegelten Äffchen auf der Stange sehen sie aus. So unmännlich,“ -sagte Theobald.</p> - -<p>„Und die Kathedrale müssen Sie sich auch betrachten, Christine,“ rief -Toni. „Es ist ein rein gotischer, wunderbarer Bau. Wir haben ihn in der -Kunstgeschichte neulich durchgenommen.“</p> - -<p>„Ja, Kirchen magst du ja so gern,“ stimmte Suse bei. „Da kannst du -beten, und Hans und ich werden derweil hinten im Dunkeln zwischen den -Säulen auf dich warten.“</p> - -<p>„Ins Kino muß Christine auch,“ rief Henner. „Vielleicht dürfen wir mit. -Wir dürfen nur jedes Jahr einmal an unserem Geburtstag hin. Und auch -nur, wenn’s ein Seestück zu sehen gibt oder ein Aquarium.“</p> - -<p>„Und das Museum sehen wir uns alle an,“ rief Hans.</p> - -<p>So zählten die Kinder immer weitere Sehenswürdigkeiten der Stadt auf. -Einer wollte noch mehr wissen als der andere, jeder den besten Rat -erteilen. Schließlich verstand keiner sein eigenes Wort mehr. Christine -lachte fröhlich mit. Dabei ermahnte sie die Kinder immer wieder, ja -auch tüchtig zu essen. Beim Abschied drängten Hans und Suse noch -einmal: „Besuch uns ja, Christine, besuch uns in der Stadt!“</p> - -<p>„Vielleicht,“ antwortete die alte Frau nachdenklich, „vielleicht.“</p> - -<p>Da sprangen sie die steinerne Treppe hinunter, blieben aber an der -kleinen Gartentür noch einmal stehen und riefen: „Gelt, Christine, du -kommst? Gelt, du kommst? Sag’ ja, sag’ ja.“</p> - -<p>„Wenn der liebe Gott mich gesund erhält, komm’ ich,“ antwortete die -alte Frau, und die Kinder stürmten freudig davon.</p> - -<p>Auf dem Weg, der zum Dorf hinaufführte, drehten sie sich zum letztenmal -um und winkten ihr zu: „Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen.“ Dann waren -sie ihren Blicken entschwunden. Die alte Frau aber blieb noch lange, -in schweren Gedanken versunken, an ihrem Gartenzaun stehen. Sie dachte -an die ferne, fremde Stadt, von der ihr soviel erzählt worden war und -die sie schon lange einmal besuchen wollte. Nicht der Wunsch nach -ihrer Schönheit und ihren Wundern trieb sie dorthin, auch<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span> nicht die -Doktorskinder allein, sondern Dinge, von denen sie nicht reden wollte...</p> - -<p>Seit Wochen waren die Kinder nun schon in der Stadt, und Christine -war noch immer nicht gekommen. Sicher hatte sie ihr Versprechen ganz -vergessen.</p> - -<p>Und auch die Kinder, die in der ersten Zeit viel von ihrem Besuch -gesprochen hatten, dachten zurzeit nicht mehr daran. Ganz andere Dinge -bewegten sie. Ursel war wieder einmal nicht gut auf sie zu sprechen. -— Hans trieb nach Ursels Ansicht die Anmaßung zu weit. Er wollte -Geigenstunde nehmen. — Geigenstunde. Außer dem Herrn Missionar hatte -nach ihrer Ansicht kaum noch ein anderer Sterblicher die Berechtigung -zu geigen. — Und nun Hans erst. — „Der werde doch nie etwas -Vernünftiges lernen,“ meinte sie. — „Der Herr Edwin hingegen, der Herr -Edwin! Den hätten die Kinder in seiner Jugend mal geigen hören sollen. -— Das war eine Freude, das war ein Hochgenuß. Der ergriff den Bogen -und die Geige und geigte herrlich wie die Engel im Himmel.“</p> - -<p>„Wer’s glaubt!“ hatte Suse keck dazwischen gerufen. „Der Herr Edwin -wird grad auch kein Orchestrion gewesen sein, wo man einen Groschen -hineinwirft und dann musiziert’s und donnert’s los.“</p> - -<p>Kaum war Suse das Wort entfahren, so sagte sie über und über rot: -„Nein, das war zu frech von mir. — Ich glaube wirklich, daß Herr Edwin -mehr konnte als andere Kinder.“</p> - -<p>„Suse, du verdienst den Teller Suppe nicht, den du ißt,“ rief Ursel.</p> - -<p>„Und ich?“ forschte Hans, „am Ende ich auch nicht? Aber denken Sie -daran, Ursel, meine Eltern wollen es, daß ich Geigenstunde nehme.“</p> - -<p>„Meinetwegen,“ brummte Ursel, „geige wo du willst, aber nicht in der -Negerstube.“</p> - -<p>Die Kinder spitzten die Ohren. Aha, da lag der Hase im Pfeffer! Sie -wollte nicht, daß die von Sauberkeit blinkende und blitzende Negerstube -verwohnt werde.</p> - -<p>Zum Glück nahm sich diesmal die Pfarrfrau Hansens an und bestimmte, daß -die Geigenstunde wirklich stattfände.</p> - -<p>Zweimal in der Woche geschah’s. Dann kam Herr Schnurr, der Lehrer.</p> - -<p>Welch ein verstruwelter, zerzauster Herr! Wie sehr stach Hans daneben -ab, gar als er sich jedesmal vor der Stunde schniegelte und bügelte wie -ein Offizier und mit blankgewichsten Schuhen und glänzendem Scheitel -daherkam.</p> - -<p>Sein Lehrer war der Tumult selbst. Sobald sich die Tür der Negerstube -hinter ihm geschlossen hatte, traf er umständliche Vorbereitungen -zur Stunde. Er band seinen Schlips und Kragen ab, warf sie auf den<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span> -nächsten besten Stuhl und reckte seinen Hals einige Male befreit in die -Höhe. Dann klopfte er mit dem Geigenstock auf den Tisch zum Zeichen, -daß der Unterricht beginne. Hans kletterte herzklopfend auf ein noch -von Edwin Cimhuber stammendes Pult und stimmte mit Herrn Schnurr seine -Geige. Das Spiel begann. Wehe, wenn die Töne falsch herauskamen oder -der kleine Junge nicht im Takt spielte! Dann wurde Herr Schnurr zum -wilden Löwen. Er stampfte mit dem Fuße auf, er rüttelte an den Stühlen, -er sprang im Zimmer umher und fuhr sich in die Haare. Hans zitterte. -Der Lehrer drückte seine Geige fester unter das Kinn, zählte laut eins, -zwei, drei, sang a, a, a, wand sich in ohrwurmartigen Windungen immer -höher, immer höher, bis er auf den Zehenspitzen stand wie eine Tänzerin -und mit schmerzlich verzogenem Gesicht in dieser Stellung verharrte.</p> - -<p>„Halt, halt,“ schrie er plötzlich und warf die Geige hin, „willst du -wohl aufhören, willst du mich ins Irrenhaus bringen!“</p> - -<p>Und Hans stand einen Augenblick da mit verglasten Augen und -Schweißperlen auf der Stirn.</p> - -<p>Dann, als der Geigenlehrer wieder zu sich gekommen war, ging der Tanz -aufs neue los.</p> - -<p>Im Zimmer nebenan saß Suse und konnte ihr Lachen nicht bändigen. -Von Zeit zu Zeit spähte Ursel mit argwöhnischer Miene zur Tür -der Negerstube herein, als fürchte sie, der Geigenlehrer prügele -die Negerprunkstücke von den Wänden herab oder trommele auf den -Polstermöbeln herum, anstatt zu geigen.</p> - -<p>Frau Cimhuber aber ging jedesmal spazieren, wenn Herr Schnurr kam.</p> - -<p>Einmal trat Ursel bei Suse ein, und als sie das kleine Mädchen lachend -vorfand, wollte sie zornig werden. Aber Suse umarmte sie und rief: „Ich -kann nicht mehr. So was Schönes hab’ ich noch nie gehört.“</p> - -<p>„Laß die Albernheiten,“ meinte Ursel streng.</p> - -<p>Aber als sie aus dem Zimmer ging, merkte Suse doch an dem Wackeln -ihrer Schultern, wie sehr sie lachte. Also war selbst Ursel für die -Geigenstunde gewonnen. —</p> - -<p>Nun mußte nur noch für Suse Rat geschaffen werden. Das Doktorskind -wollte gern, daß die alte Magd ihr für eine Einladung, die nächste -Woche stattfinden sollte, zwei Napfkuchen backe. Ursel aber wollte von -einer solch üppigen Tafelei nichts wissen.</p> - -<p>„Umstände werden nicht gemacht,“ erklärte sie klipp und klar. -„Honigbrot und Butterbrot bekommt ihr und jede zwei Tassen Malzkaffee. -Und damit basta.“</p> - -<p>„Das ist alles?“ rief Suse und faltete vor Schreck die Hände. „Ist das -Ihr Ernst, Ursel? Aber denken Sie an, was das für einen Eindruck<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span> auf -den Besuch macht. — Meine Freundinnen haben immer Marzipan und Kuchen -und Biskuit und Schokolade und Schlagsahne, die reine Konditorei.“</p> - -<p>„So, und da schämt ihr euch nicht und eßt das alles auf einmal auf?“ -rügte Ursel. „Und das erzählst du mir auch noch? So ein Schwelgerleben -steht noch nicht einmal im Kalender. — Sodom und Gomorrha werden nicht -mehr lange auf sich warten lassen bei eurem Sündentrubel.“</p> - -<p>Suse lachte hell.</p> - -<p>Kaum hatte sie sich aber soweit vergessen, da bereute sie es auch -schon; denn Ursel sah sie an wie die strafende Gerechtigkeit. Umsonst -schmeichelte Suse jetzt: „Bitte, bitte, liebe Ursel, machen Sie mir -doch einen Stärkepudding und zwei Napfkuchen. Hans und ich wollen auch -eine ganze Woche lang kein Fleisch essen.“</p> - -<p>Die Magd schwieg. Suse flehte weiter: „Wenn Sie wüßten, wie gut es -die andern Mädchen haben im Vergleich zu mir, würden Sie barmherzig -werden. Denken Sie sich, bei manchen gibt es auch süßen Likör und -Blumensträußchen.“</p> - -<p>„Blumensträußchen könnt ihr haben, soviel ihr wollt. Die könnt ihr euch -im Walde holen. Dagegen hab’ ich nichts, aber Stärkepudding gibt’s -nicht und keinen Kuchen.“</p> - -<p>„Und in der Negerstube wird auch nicht getafelt. Eßt in deiner Stube.“</p> - -<p>„Was,“ rief Suse, „fünfzehn Kinder kommen ja gar nicht in mein Zimmer -rein. Das ist doch nicht fein für eine Einladung, daß man aufeinander -sitzt wie die Heringe. Heutzutage ist alles für Licht und Luft. Meine -Freundinnen werden krank vor Hitze in meinem kleinen Zimmer.“</p> - -<p>„Ach was, so leicht wird sich’s nicht krank,“ meinte Ursel kaltblütig. -„Eßt nicht zu viel und trinkt schön langsam und nicht so viel auf -einmal, macht fleißig Durchzug mit Türen und Fenstern und trinkt kaltes -Wasser von der Leitung, dann bleibt ihr frisch wie die Fische im -Wasser.“</p> - -<p>„Aber Ursel,“ rief Suse entrüstet, „glauben Sie, meine Freundinnen -kommen zu mir, weil sie Wasser schlucken wollen wie die Fische. Die -wollen doch unterhalten sein und was Feines essen.“ —</p> - -<p>Das Doktorskind weinte.</p> - -<p>Ursel blieb hart.</p> - -<p>„Anderer Leute Kinder haben’s viel besser als wir,“ seufzte Suse etwas -später zu ihrem Bruder.</p> - -<p>„Warum nicht gar!“ rief der entrüstet. „Wer denkt denn an solche -Sachen! Wer hat denn so gute Eltern wie du und ich?“</p> - -<p>„Freilich, freilich, du hast recht,“ antwortete die Schwester -kleinlaut, „aber sie sind ja so weit.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span></p> - -<p>Suse seufzte für sich allein weiter. Sie hatte große Bedenken, ob -ihre Einladung auch schön genug ausfallen würde. Von jeher hatte sie -es ja schmerzlich empfunden, daß die meisten Kinder ihrer Umgebung in -glänzenderen Verhältnissen lebten, schönere Feste gaben und feinere -Kleider anziehen konnten als sie selbst.</p> - -<p>Hans und seine Freunde fragten viel weniger nach diesen -Äußerlichkeiten. Was machte es aus, wenn einer der Knaben auch mal -einen besseren Anzug anhatte als der andere! Das merkte Hans kaum. -Außerdem fiel es ihm und seinen Freunden auch nicht ein, einander -einzuladen oder mit schönen Dingen zu beschenken. —</p> - -<p>Zum Glück hielten aber auch bei Suse die trüben Betrachtungen über -des Lebens verschieden ausgeteilte Lose nicht lange an. Und sie sah -voll geheimer Freude dem Fest, das sie ihren Mitschülerinnen geben -wollte, entgegen. Von daheim traf zur rechten Zeit noch ein Paket -mit Blumen und Gebäck ein und ließ Susens Herz vor Freuden hüpfen. -Stolz konnte sie nun zur Schule gehen und ihre Einladungen dort -verteilen. Jubelnd wurden diese von den Schülerinnen ihrer Klasse in -Empfang genommen, weil sie wohl wußten, wie gar lustig es bei der -muntern Suse hergehen werde. Nur einige von ihren Schulgefährtinnen -überging Suse mit ihrer Einladung. Zu ihnen gehörte auch die schwarze -Karla, das hübscheste, begabteste Mädchen der Klasse, dessen Eltern -in glänzenden Verhältnissen lebten. Von jeher hatte dieses Mädchen -Susens größte Bewunderung auf sich gezogen wegen ihrer Sicherheit, -Schönheit und Klugheit. Aber gerade weil das Doktorskind jenen Stern -unter den Schülerinnen so sehr bewunderte, hielt sie sich abseits. -— Sie mochte sich nicht auch noch aufdrängen, wo schon so viele -andere Schulgefährtinnen um die Gunst jenes Mädchens warben. Und dann -fürchtete sie auch die Spottlust der schwarzen Karla. Denn als Suse -vor Jahren aus ihrem kleinen Gebirgsdorf gekommen war, hatte niemand -belustigter hinter ihr hergesehen, als jenes Mädchen.</p> - -<p>Zu ihrem größten Erstaunen bemerkte nun Suse, wie Karla betrübt und -enttäuscht drein sah, als sie mit der Einladung übersehen worden war, -und nach Schulschluß, als Suse die Treppe hinunterging, kam sie sogar -hinter ihr her und steckte ihren Arm unter den des Doktorskindes und -fragte in ihrer liebenswürdigen Weise: „Weshalb lädst du mich nicht -auch ein, Suse? Ich möchte doch so gerne zu dir kommen. Sicher wird es -sehr fein bei dir.“</p> - -<p>Susens Herz klopfte laut. Sie konnte vor freudiger Erregung zuerst kein -Wort herausbringen. Das schönste und begabteste Mädchen der Klasse -bemühte sich um sie. Andere warben um Karlas Gunst, und sie trug ihr -die Freundschaft selbst an.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span></p> - -<p>Arm in Arm trat sie jetzt mit ihrer neuen Freundin durch das Tor hinaus -auf die Straße. — Noch immer vermochte sie kaum zu reden. —</p> - -<p>Jenseits, auf dem Steig der Fußgänger, hatte wohl schon eine halbe -Stunde lang ein altes Mütterchen gestanden, die Augen sehnsüchtig auf -das Tor ihr gegenüber geheftet. — Sie war in die Tracht der alten -Frauen vom Lande gekleidet und trug am Arm einen Henkelkorb mit einem -weißen Tuch bedeckt und in der Hand einen dicken Schirm. Als die ersten -kleinen Mädchen aus der Tür traten, leuchtete ihr Gesicht hell auf. -Man sah’s ihr an, sie hatte auf eins von ihnen gewartet. — Zufällig -flogen Susens Blicke zu ihr hinüber und sie fuhr zusammen. — Das war -ja — das war Christine! Wie kam sie hierher? War ihr wirklich kein -Weg zu weit gewesen, keine Reise zu mühselig, um die geliebten Kinder -aufzusuchen? Sie wartete auf Suse. Man sah’s ihr an. Sie wollte auf sie -zukommen. Aber weshalb lief Suse jetzt nicht zu ihr hin und umarmte sie -und zeigte ihr Entzücken? Weshalb wendete sie sich krampfhaft auf die -andere Seite? —</p> - -<p>Sah denn Christine wirklich so komisch und armselig aus mit ihrem -Kapothut, der ihr wie ein kleiner Kobold auf dem Kopfwirbel saß und -seine Bänder flattern ließ, mit ihrem Rock, der viel zu kurz war, so -daß man ihre mageren Beine mit den grauen Strümpfen und die bunten -Pantoffeln sehen konnte? Mußte man sich ihrer wirklich schämen?</p> - -<p>Schämen gerade nicht. — Aber die feine, stolze Karla! Was würde die -darüber denken? Suse ging weiter, ohne Christine zu grüßen.</p> - -<p>Eine Weile stand die alte Frau erschrocken da und blickte Suse nach. -Das kleine Mädchen mußte sie erkannt haben. — Deutlich hatte sie -ihren Blick gefühlt. Doch warum hatte sie sich abgewandt und war nicht -jubelnd auf sie zugekommen wie sonst wohl? Langsam, langsam wurde es da -der alten Frau klar, daß sich Suse ihrer schäme und sie nicht kennen -wolle. Noch einen langen, sehnsüchtigen Blick schickte sie hinter -dem jungen Mädchen her, dann wandte sie sich traurig um und ging mit -gesenktem Kopf die Straße hinunter. Ihr war es, als habe sie ihr Herz -verloren. Sie kam sich so ausgestoßen und fremd vor, hier in dieser -großen Stadt, wie in einer Wildnis. Suse hätte doch fühlen müssen, wie -einsam sie hier war und hätte zu ihr kommen müssen. Aber sie hatte es -nicht getan.</p> - -<p>Die alte Frau wanderte nun ratlos hin und her durch mancherlei Gassen -und Straßen, ohne zu wissen wohin. Schließlich brachte ihr Weg sie in -die Anlagen der Stadt, wo frischer Rasen grünte, hohe Bäume wuchsen und -hier und da vor blühenden Sträuchern Bänke standen. Auf einer davon -ließ sich Christine müde nieder. Sie sah noch immer erschrocken -drein. Aber kein bitterer Gedanke gegen das kleine Mädchen bewegte ihr -Herz. —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span></p> - -<div class="figcenter"> - <a id="p125" name="p125"> - <img class="mtop2 mbot2" src="images/p125.jpg" - alt="Christine in der Stadt" /></a> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span></p> - -<p>Suse hatte ja recht, daß sie so vornehm tat. — Suse war ja ein so -großes, kluges Mädchen geworden und hatte so viel gesehen und so viel -gelernt in dieser herrlichen Stadt. —</p> - -<p>Und Christine war die arme, alte, unwissende Frau geblieben, mit der -man keinen Staat machen konnte. Längst vergangen waren ja die Zeiten, -in denen Suse ein kleines unschuldiges Kind war, das Christine über -alles liebte. Aber die alte Frau murrte nicht, sie wußte wohl, alles -Schöne und alles Gute hatte der liebe Gott ihr nur für eine bestimmte -Zeit gegeben, um es ihr dann wieder zu nehmen. So war es sein Ratschluß.</p> - -<p>Lange Zeit saß Christine, in diesen Gedanken versunken, auf der Bank -und konnte noch immer keinen Entschluß fassen, wohin sich wenden. Zu -Frau Cimhuber wollte sie nicht gehen. — Sie fürchtete, auch dort nicht -willkommen zu sein. — Und dann hatte sie noch einen andern Besuch vor, -den wichtigsten und schwersten, der ihr Geheimnis war, von dem selbst -die Doktorskinder nichts wissen sollten. — Den wagte sie nun nicht -mehr auszuführen. —</p> - -<p>Wenn Suse schon so ablehnend zu ihr tat, was konnte sie erst von jenen -fremden Leuten erwarten, denen der Besuch gelten sollte?</p> - -<p>Mitten in diesen Betrachtungen fuhr sie zusammen. Ein Windstoß hatte -das weiße Tuch, das über ihren Korb gebreitet war, aufgehoben und trieb -es in die Sträucher hinter ihr. Ein Heidelbeerkuchen, den sie den -Kindern mitgebracht hatte, wurde im Korbe sichtbar.</p> - -<p>Die alte Frau erhob sich umständlich, legte ihren Schirm vorsichtig -neben sich und sah sich nach ihrem Tuche um. In diesem Augenblick -ertönte ein Jubelschrei, und von dem Wege her, der in einiger -Entfernung von der Bank vorüberführte, kamen zwei Knaben auf sie -zugerannt. Es waren Hans und Theobald. Zufällig hatten die beiden -Vettern ihren Heimweg aus der Schule durch die Anlagen genommen und -trafen jetzt unerwartet auf Christine. Beide gerieten in große Freude. -Hans sagte in einemfort, Christines Hand drückend: „Wo kommst du her, -wo kommst du her? Oh, wenn Suse wüßte, daß ich dich zuerst getroffen -habe, wie würde die sich ärgern!“</p> - -<p>Theobald aber schlang seinen Arm um das alte Mütterchen und deklamierte -in seiner närrischen Art: „Habe ich dich endlich wieder gefunden? Ruhe -an meinem Herzen, mein süßer Schatz.</p> - -<p>Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben...</p> - -<p>Wissen Sie noch, in jener Zeit, Christine, als Sie mich im Bett -versteckt haben, weil der Schmied mit dem Dreschflegel vor der Tür -stand<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span> und mich versohlen wollte, weil ich seinem jüngsten Flachskopf -auf den Kopf gespien hatte?“</p> - -<p>Die alte Frau hatte sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholt. -— Hier war Hans, und da war Theobald, die beiden Knaben, und einer -freute sich noch mehr als der andere. — War es denn kein Traum? — -Merkten sie denn nicht, daß immerzu fremde Leute vorübergingen und -zusahen, wie sie eine arme, alte Frau voll Liebe begrüßten. Die Knaben -sahen es wohl, aber sie machten sich nichts daraus.</p> - -<p>Da breitete sich langsam über Christines Gesicht ein glückliches -Lächeln, und sie drückte Hans dankbar die Hand.</p> - -<p>„Sie müssen natürlich bei uns zu Mittag essen,“ fiel Theobald hier ein, -„meine Mutter hat schon immer gesagt: ‚Wenn Christine kommt, ladet sie -ein.‘ Was wollen Sie auch bei der Cimberklinkerin und der Ursel? Ich -sage Ihnen, das unzutunlichste Geschöpf meines Lebens. Die rechnet ja -doch gleich nach, wieviel Margarine und sonstigen Tutti Frutti sie in -die Pfanne tun muß, wenn Sie mitessen!“</p> - -<p>Und mit diesen Worten hatte der Stadtvetter auch schon den Schirm der -alten Frau ergriffen und Hans ihren Korb übergeben. Dann machte sich -das seltsame Kleeblatt auf den Weg nach Hause.</p> - -<p>„Eins, zwei, drei,“ kommandierte plötzlich Theobald, und die Knaben -gingen in einen Polkaschritt über.</p> - -<p>„Laßt doch, laßt doch,“ wehrte Christine, „das darf man ja nicht hier.“</p> - -<p>„Was darf man nicht?“ rief Theobald, „alles darf man, was man will. — -Wenn sich einer untersteht und seinen Mund auftut, so spieße ich ihm -Ihren Paraplü mitten durch den Leib.“</p> - -<p>Und nachdem der Stadtvetter also großspurig geredet hatte, wurde er -wieder liebenswürdig und erkundigte sich nach allem aus Christines -Heimatsort, nach ihrem Häuschen und ihrer Ziege, nach ihren Kartoffeln -und Bohnen, selbst nach dem Reiserbesen, den er ihr in den letzten -Ferien gebunden hatte. Und zuletzt steuerte er mit seinen Begleitern -auf ein schmuckes Haus in einem großen Garten zu, indem er erklärte: -„Nun wollen wir gemeinsam in unsern Wigwam einfallen.“</p> - -<p>Damit öffnete er weit und einladend die Tür seines Vaterhauses...</p> - -<p>Was war inzwischen aus Suse geworden? — An der Seite der schwarzen -Karla war sie in entgegengesetzter Richtung davongegangen wie -Christine, beherrscht von dem Gefühl des Triumphes, den sie errungen -hatte. — Wie in einem Taumel war sie zuerst befangen. Sie war die -Königin der Klasse geworden, umworben von dem einflußreichsten Mädchen -unter ihren Mitschülerinnen. Und an ihrer Seite redete jenes schöne -Mädchen nun lauter angenehme Dinge, die ihr kleines, eitles Herz -erfreuten. — Sie beide gehörten zusammen, meinte<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span> Karla. Sie seien ja -die begabtesten Kinder der Klasse. Suse müsse sie recht oft besuchen, -ihre Eltern hätten schon häufig darum gebeten. Was für schöne Stunden -würden sie gemeinsam verbringen!</p> - -<p>Doch je weiter sie sich von der Schule entfernten, je weniger achtete -das Doktorskind auf der Freundin schmeichlerische Reden. Scheu blickte -sie sich einmal um und sah Christine ganz in der Ferne davongehen. —</p> - -<p>Da wurde des kleinen Mädchens Gang zögernder, ihre Antworten -unsicherer, ihr ganzes Wesen unruhig. Sie zog ihren Arm unter dem ihrer -Freundin hervor und blieb unschlüssig stehen.</p> - -<p>„Was hast du, Suse?“ fragte ihre Freundin.</p> - -<p>Das Doktorskind antwortete nicht und ging langsam mit ihr weiter. — -Sie sah jetzt immer Christines erschreckte Augen hilflos auf sich -gerichtet, und langsam wurde ihr klar, was sie eigentlich getan hatte. -Mit verstörtem Gesicht sah sie sich abermals um. Da sah sie ihre -Freundin Gretel, die sich in der Schule etwas verspätet hatte, des -Weges kommen.</p> - -<p>Und das kleine Mädchen erzählte ganz aufgeregt von einem armseligen, -altmodisch gekleideten Mütterchen, das vor der Schule gestanden sei und -so verirrt und traurig ausgesehen habe, daß es sie gedauert habe.</p> - -<p>„Sicher ist sie vom Lande,“ meinte Gretel, „und wußte nicht wohin. Ach, -wie tat sie mir leid. Sie sah so ängstlich um sich. Am liebsten hätte -ich sie mitgenommen.“</p> - -<p>Schon gleich bei den ersten Worten ihrer Freundin war Suse -zusammengefahren.</p> - -<p>Nun gab es kein Halten mehr für sie.</p> - -<p>„Das war Christine,“ rief sie, „Christine, von der ich dir schon so -viel erzählt habe, Gretel. Aus meinem Heimatsort. Hansens und meine -alte Kinderfrau. Sie ist gekommen und will uns besuchen, Hans und mich. -Sie hat uns so lieb und ist so gut zu uns, und ich hab’ sie verleugnet. -Ach, wenn sie jetzt fort ist, ist alles aus.“</p> - -<p>Und vor den erstaunten Augen ihrer Freundin riß sie sich los und flog -davon zur Schule zurück. Aber als sie dort ankam, war weit und breit -niemand mehr zu sehen. Da irrte sie weiter durch die Straßen und -Gassen, in denen sich die heiße Glut des Mittags fing, und suchte nach -der alten Frau. Umsonst. Auch im Hause von Frau Cimhuber, wo sie nach -ihr forschte, war sie nicht gesehen worden. So bestand denn nur noch -die Möglichkeit, daß sie mit dem nächsten Zug in die Heimat gefahren -sei. Aber auch vom Bahnhof mußte Suse unverrichteter Sache wieder -umkehren. Erschöpft kam sie daheim an. Ein freundlicher Empfang ward -ihr hier nicht zuteil. Denn als sie ängstlich durch die Küchentür -spähte, sah sie von Ursels Scheuerwasser Spritzer und Strahlen -aufsteigen, wie von spielenden Delphinen, und ihr entgegen klang es -zor<span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span>nig: „Zweimal ist schon nach dir gefragt worden. Christine und Hans -sind bei deiner Tante Hedi und essen zu Mittag. Jeder ist schon in -Angst um dich. Frau Cimhuber hat schon ihre Migräne.“</p> - -<p>Da machte Suse, so schnell sie konnte, die Tür hinter sich zu und lief -in ihr Zimmer. Dort schloß sie sich ein und weinte. Christine war da, -Christine war gefunden. Kein Mensch hatte ihr ein Leid zufügen dürfen. -Kein Weg hatte sie irre geleitet. Sie war in Gottes Hand gewesen.</p> - -<p>Noch saß Suse stumm da, die Hände wie im Gebet gefaltet, da hörte sie -Besuch kommen. Sie horchte hin und hörte Hans reden und noch eine -andere liebe Stimme. — Christine war gekommen. —</p> - -<p>Im nächsten Augenblick rüttelte Hans auch schon an ihrer Tür und rief: -„Mach auf, mach auf, wir sind draußen.“</p> - -<p>Und als sie öffnete, stürmte er über die Schwelle, Christine mit sich -ziehend, und rief mit blitzenden Augen: „Hier, hier, sieh, wen ich hier -habe, ich habe sie gefunden. — Was sagst du nun, was sagst du nun?“</p> - -<p>„Was ich sage,“ tönte da ungefragt eine Stimme aus der Küche, wo Ursel -herumwirtschaftete. — „Was ich sage, in einer Minute kommt Herr -Schnurr. — Kein Pult ist zurecht gerückt, kein Geigenkasten steht am -Platz, kein Bogen ist eingerieben! Soll ich’s vielleicht besorgen?“</p> - -<p>Diese Nachfrage fuhr Hans derartig in die Glieder, daß er auf der -Stelle zurückflog, in die Negerstube eilte, dort rückte und schob und -in den Gang zurückkehrte, wo er sich bürstete und glättete, und gleich -darauf mit höflicher Miene den Lehrer empfing.</p> - -<p>Christine aber stand auf der Türschwelle mit ihrem Korb und Schirm in -der Hand und wagte nicht einzutreten.</p> - -<p>„Christine komm, Christine komm,“ sagte Suse und zog sie an der Hand -herein.</p> - -<p>Und mitten in der Stube blieb sie plötzlich stehen, drückte beide -Handrücken vor die Augen, wie sie oft als Kind getan, und begann -bitterlich zu weinen. Da nahm die alte Frau ihr die Hände vom Gesicht -weg, zog sie fest an ihre Brust und hielt sie dort verborgen.</p> - -<p>„Weine nur nicht,“ tröstete sie, „der liebe Herrgott weiß alles, und er -macht alles, alles gut. Sei still Suse. Sei jetzt nur ganz still, Kind. -— Ich habe euch auch Heidelbeerkuchen mitgebracht. — Sieh her! Es -sind nicht mehr viele Beeren darauf, du weißt ja, ich kann nicht mehr -so weit gehen und sie suchen. Ich bin eine alte Frau. — Ganz nahe am -Fuchskopf, wo ich sie sonst immer geholt habe, finde ich jetzt keine -mehr. Die Kinder holen sie alle weg. — Aber er hat euch ja immer am -besten geschmeckt, der Heidelbeerkuchen. — Glaubst du, du magst ihn -noch? — Er ist ja sicher nicht so gut wie der, den ihr in der Stadt -bekommt. — Und ihr scheut mich doch nicht, weil ich eine arme alte -Frau bin?“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span></p> - -<p>Und Christine hob vorsichtig den Kuchen heraus, der auf einem Teller im -Korb stand, und stellte ihn auf den Tisch. Und Suse schnitt sich ein -Stück ab und fing an zu essen, obwohl der Kuchen und die Tränen sie am -Schlucken hinderten.</p> - -<p>„Gelt, Christine, du denkst jetzt nicht mehr gut von mir?“ fragte sie, -nachdem sie sich ausgeweint hatte. „Es liegt dir jetzt nichts mehr an -mir. Und du frägst auch nichts mehr nach der Stadt?“</p> - -<p>„Aber freilich, Suse. Ich will doch die schöne Stadt sehen, von der du -mir immer so viel erzählt hast. Ich bin ja nur einmal in meinem Leben -hierher gekommen, und wenn ich jetzt fortgehe, komm’ ich niemals mehr -wieder. Das spür’ ich, ich bin viel zu alt dazu.“</p> - -<p>„Wollen wir gleich gehen und alles besehen?“ drängte Suse.</p> - -<p>„Nein, nein, wir warten erst, bis Hans mitgehen kann.“</p> - -<p>„Gelt, du hast Hans jetzt lieber als mich,“ flüsterte Suse. Christine -schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich habe euch alle gleich lieb.“ Und -sie wischte Suse mit ihrem Taschentuch das Gesicht ab.</p> - -<p>Danach führte das Mädchen die alte Frau durch ihr Zimmer und zeigte ihr -die ganze Einrichtung, auch den Schrank mit ihren Heften und Büchern. -Mit gefalteten Händen stand die alte Frau davor und richtete ihre -Blicke bewundernd auf Suse. — Alle diese Hefte hatte ihr Liebling, die -Suse, vollgeschrieben, in all diesen Büchern konnte sie lesen, fremde -Sprachen lernte sie sogar. — Was war sie doch für ein bedeutendes -Mädchen geworden.</p> - -<p>Aber noch heller strahlten Christines Augen, als sie plötzlich ihren -Wachsengel im Glaskasten auf der Kommode entdeckte. — Unversehrt stand -er dort, heilig gehalten von den Kindern. Wie waren sie doch gut!</p> - -<p>Ein dankbarer Blick traf Suse, aber dem jungen Mädchen stieg eine heiße -Röte in die Wangen, und schnell führte sie ihren Besuch zum Fenster, -damit sie einen Blick in die schwindelnde Tiefe tue, wo die Menschen -klein wie Mücken spazieren gingen. — Gerade beugte sich Christine voll -Staunen über die Fensterbrüstung, da trafen laute Stimmen ihr Ohr und -sie fuhr zusammen. Der Lärm kam aus der Negerstube, wo Herr Schnurr -wieder einmal außer Rand und Band umherhüpfte, weil Hans aus lauter -Freude über den Besuch seiner alten Kinderfrau zum Erbarmen spielte.</p> - -<p>Als der Lärm lauter wurde, bekreuzigte sich Christine, nahm Suse bei -der Hand und sagte gefaßt: „Komm, Kind, wir gehen, hier ist es nicht -geheuer.“ Aber Suse hielt sie zurück und erklärte: „Ach, Christine, das -ist ja nur Hans seine Geigenstunde.“</p> - -<p>„Seine Geigenstunde?“ fragte Christine ganz verstört. — So was -vermochte sie nicht zu fassen. —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span></p> - -<p>„Wir wollen ihm helfen,“ sagte sie deshalb. „Das endet nicht gut.“</p> - -<p>„Nein, nein, Christine, so geht’s immer. Zuerst ist Herr Schnurr oft -wie außer sich, und hernach streicht er Hans über den Kopf Und sagt: -‚Brav, Büberl, mach’s das nächstemal wieder so.‘“</p> - -<p>Trotz dieser zuversichtlichen Rede beruhigte sich Christine keineswegs. -Bei jedem neuen Schelten fuhr sie zusammen. Ihren Schirm und Korb in -der Hand stand sie auf dem Sprung da.</p> - -<p>Ihre Angst vor der großen Stadt, wo alles drüber und drunter ging, -wo man nicht ein noch aus wußte, wurde immer größer, und schließlich -beschlich sie ein unheimliches Gefühl, als könne sie den weiten Weg -nach Hause nicht mehr zurückfinden.</p> - -<p>„Christine, gelt, du bleibst noch ein paar Tage bei uns?“ bat Suse.</p> - -<p>„Nein, nein, ich will morgen wieder fort,“ sagte die alte Frau -ängstlich. „Ich muß nach meiner Ziege sehen und nach meinem Garten.“</p> - -<p>Suse machte ein trauriges Gesicht und fragte leise: „Gelt, Christine, -du willst wieder fort, weil ich so häßlich zu dir war?“</p> - -<p>„Nein, nein, ich bin ja nicht zu euch allein gekommen, Suse, ich -bin noch wegen einem andern kleinen Mädchen gekommen, das will ich -aufsuchen.“</p> - -<p>Suse horchte verwundert auf.</p> - -<p>„Zu einem andern kleinen Mädchen?“</p> - -<p>Die alte Frau nickte. „Freilich.“</p> - -<p>„Aber, Christine, hast du Verwandte hier?“</p> - -<p>„Ja, es ist eine Enkelin von mir, ein kleines Mädchen, so alt wie du.“</p> - -<p>„Was, Christine, du hast eine Enkelin?“ rief Suse ganz erstaunt, „und -wir wissen’s nicht. Weiß es denn niemand auf der Welt?“</p> - -<p>„Doch, dein Vater und deine Mutter wissen’s. Euch hab’ ich nur nie -davon erzählt, weil ihr zu klein wart und weil ich nicht wollte, daß -ihr auch traurig würdet.“</p> - -<p>„Ach, Christine, bitte, bitte, erzähl’ mir. Ich bin ja jetzt schon -sehr groß und werde mich beherrschen, auch wenn deine Erzählung -sterbenstraurig wird. Ganz still will ich sein und dich nicht durch -dummes Reden stören,“ drängte Suse.</p> - -<p>— So erzählte denn Christine, die sonst ihre Sorgen ängstlich vor -aller Welt hütete, ganz verwirrt durch die Ereignisse des Morgens und -erschreckt durch die Eindrücke der geräuschvollen Geigenstunde, Suse -den schweren Kummer ihres Lebens.</p> - -<p>Das Doktorskind hörte still zu, und je mehr sie erfuhr, um so schwerer -wurde ihr Herz.</p> - -<p>Von einer einzigen Tochter hörte sie ihre Kinderfrau erzählen, die sich -an einen bösen Menschen verheiratet, der getrunken und seine Frau<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span> -schlecht behandelt habe und schuld an ihrem Tod geworden sei. Das Kind -aus dieser Ehe, ein kleines Töchterchen, Resi genannt, habe die alte -Frau nach dem Tode ihrer Tochter zu sich nehmen und erziehen wollen. -Aber der Vater des Kindes habe verlangt, sie solle ihr Haus verkaufen, -ihm den Erlös davon geben und mit ihm zusammen in die Stadt ziehen.</p> - -<p>Durch Susens Vater sei indes jener Plan vereitelt worden, und Christine -sei von Not und Elend verschont geblieben, wie der „Herr Doktor“ schon -so und so oft gesagt habe.</p> - -<p>Der Schwiegersohn der alten Frau habe sich schnell wieder verheiratet -und sei in die Stadt gezogen. Von ihrem Enkelkind habe Christine nie -mehr etwas erfahren, auch dann nicht, wenn sie ihm Geschenke gemacht -oder um seinen Besuch gebeten habe. Nur um Geld habe ihr Schwiegersohn -immer wieder geschrieben. Jetzt sei Christine gekommen, um ihr -Enkelkind zu suchen, damit sie es vor ihrem Tod noch einmal sehe, denn -sie wisse ja nicht, ob sie noch lange lebe.</p> - -<p>Da nahm Suse Christine in den Arm und sagte in demselben Ton, in dem -sie gewohnt war, ihre alte Kinderfrau sonst selbst reden zu hören: -„Sei still, Christine, der liebe Gott weiß alles und hilft uns sicher. -Christine, wir finden dein Resi ganz gewiß, und du wirst sehen, es wird -dir viel Freude machen.“</p> - -<p>Doch die alte Frau meinte mit Tränen im Auge: „Am Ende läßt mich der -Vater das Kind nicht sehen und schickt mich fort von seinem Hause.“</p> - -<p>„Aber nein, Christine, wir gehen ja alle mit, Hans und ich und Theobald -und Toni. — Wenn wir gleich fünf Mann hoch anrücken, wird er schon -Respekt bekommen. — Und dann fällt mir noch was ein, Christine, ich -hab’ noch ein Fünfmarkstück von Onkel Fritz für ein schönes Buch -geschenkt bekommen. Das geb’ ich deinem Schwiegersohn. Wenn dieser -scheußliche, geizige Mann das Geldstück sieht, läßt er sicher viel -besser mit sich reden. Und eines von meinen Kleidern nehmen wir auch -mit und eine Schürze und Strümpfe und Schuh.“</p> - -<p>Und in Suses Phantasie wurde dieser Gang zu Christines bösartigem -Schwiegersohn zu einem glänzenden Triumphzug, in dem sie sich alle mit -Ruhm bedeckten und Freude über Freude einheimsten.</p> - -<p>„Wo wohnt denn dein Enkelkind?“ fragte die eifrige Suse.</p> - -<p>Und die alte Frau zog ein Stück Papier hervor, auf dem eine Adresse von -Rosels Hand geschrieben stand.</p> - -<p>„Kleinstraße,“ las Suse und schüttelte den Kopf. — „Kleinstraße, die -kenn’ ich nicht.“</p> - -<p>Aber mit einemmal ging ein Leuchten über ihr Gesicht, und sie rief -strahlend: „Weißt du, wer sie kennt? Fräulein Hirt kennt sie, die -kennt<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span> alle Straßen und alle armen Kinder. — Die ist in vielen frommen -Vereinen. Die weiß es. Komm, komm. Ich glaube bestimmt, daß sie es -weiß. Sie wohnt jetzt über uns im vierten Stock, seit ihre Großmutter -gestorben ist.“</p> - -<p>Christine folgte ihr eilig mit trippelnden Schritten, das Herz schon -viel froher und zuversichtlicher als bisher. Nur im Gang blieb sie -wieder einmal erschreckt stehen. Hier streckte nämlich Ursel ihren -Kopf zur Küchentür heraus und verkündete: „Um vier Uhr ist der Kaffee -fertig,“ mit einer Miene, als wollte sie sagen: „Um vier Uhr sollt ihr -alle gefressen werden!“</p> - -<p>„Vergelt’s Gott,“ sagte die alte Frau und folgte Suse zur Tür hinaus -und die Treppe hinauf.</p> - -<p>In Fräulein Hirts Zimmer wurden die beiden von der liebenswürdigen -Lehrerin auf das freundlichste begrüßt, und Christine bekam sogar den -Ehrenplatz im Sofa angewiesen. Während sie nun dort verschüchtert und -ängstlich saß, den Blick trostheischend auf Suse gerichtet, erzählte -diese mit glühenden Wangen, ganz durchdrungen von dem Ernst der Stunde -und von der Wichtigkeit ihrer Rolle, Christines Schicksal. Ab und zu -flog ein mütterlich beruhigender Blick zu ihrer alten Kinderfrau hin -oder sie streichelte jener sanft die Hand, indem sie sagte: „Es wird -schon gut, es wird schon gut, Christine.“</p> - -<p>Fräulein Hirt aber hörte gespannt Susens Erzählungen zu. Und -schließlich, als diese fragte: „Kennen Sie die Straße, wo Resi wohnt?“ -antwortete sie lächelnd: „Nicht nur die Straße, ich kenne Resi selbst. -— Sie ist bei mir in der Sonntagsschule.“</p> - -<p>„Resi selbst?“</p> - -<p>Suse wurde dunkelrot vor Freude, sprang auf und rief: „Siehst du, -siehst du, Christine! Alles kennt sie, alle Leute, und allen hilft sie -und uns auch. Wir sind gerettet.“</p> - -<p>Und das Doktorskind sprang auf, umarmte Fräulein Hirt und Christine und -hätte sie am liebsten sofort zu Resi entführt.</p> - -<p>„Weißt du was,“ rief sie, „jetzt warten wir keine Minute mehr! Jetzt -gehen wir sofort zu Resi. Warum noch lange warten! Je eher du Resi -siehst, Christine, je lieber ist’s dir ja doch.“</p> - -<p>„Nein, nein,“ wehrte da Fräulein Hirt, „ich hole das Kind allein -hierher. Es ist besser, Christine macht den weiten Weg dorthin nicht. -So viele Anstrengungen nach einer solch langen Reise kann sie nicht -ertragen.“ —</p> - -<p>Aber den wahren Grund, weshalb sie den Besuch Christinens bei ihren -Verwandten verhindern wollte, verschwieg sie. Sie fürchtete, daß die -alte Frau von ihres Schwiegersohns Tür gewiesen würde. —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span></p> - -<p>Zur Zeit des Nachmittagskaffes verließen die alte Frau und das kleine -Mädchen ihre liebenswürdige Helferin.</p> - -<p>In der Cimhuberschen Wohnung wurden die beiden in größter Ungeduld -von Hans erwartet, dem es gar nicht angenehm gewesen war, unter Herrn -Schnurrs Lehrmethode zu schwitzen, während seine Schwester ihr Leben -genoß.</p> - -<p>Auch Toni hatte sich eingefunden, um die Doktorskinder samt ihrem -Besuch zu einer Wagenfahrt abzuholen. Strahlend erzählte sie, ihr Vater -habe ihr fünf Mark für das Vergnügen geschenkt, und Theobald käme -gleich in einer Droschke an.</p> - -<p>Bei der Spazierfahrt mit den Kindern konnte Christine von dem weichen -Sitz des Wagens aus bequem die Wunder der Stadt erschauen. Aber so -schön sie auch waren, ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, zurück -nach Frau Cimhubers Haus, wo etwas viel Schöneres und Besseres ihrer -wartete. — Ihr Enkelkind.</p> - -<p>Und nach ihrer Rückkehr aus der Stadt bekam sie das Kind endlich zu -sehen. An Fräulein Hirts Hand drückte sich Resi schüchtern zur Tür -herein und stand verwirrt vor ihr.</p> - -<p>Der alten Frau liefen die Tränen über das Gesicht, und sie brachte nur -mühsam die Worte hervor: „Ich bin deine Großmutter, Resi.“</p> - -<p>Stumm sah das kleine Mädchen zu ihr auf.</p> - -<p>Da nahm Suse sie bei der Hand und sagte strahlend: „Ja, deine -Großmutter, deine liebe Großmutter, unsere gute Christine. Die haben -wir alle schrecklich lieb. Sie gehört dir. — Willst du ein Stück -Heidelbeerkuchen haben? Den hat Christine uns mitgebracht. Wunderschön -schmeckt er. Komm, iß. — Und du besuchst deine Großmutter, gelt? Und -dann werden wir Freundinnen. Und Christine hat eine weiße Ziege und -ein kleines Häuschen und viele Blumen im Garten. Das wird dir Freude -machen, wenn du das alles siehst.“</p> - -<p>Aber trotz dieser sprudelnden Rede taute Resi nicht auf, und kein Wort -ging über ihre Lippen. Nur ganz am Schluß ihres Besuches, als Suse -sie aufforderte, doch zum Abendessen zu bleiben, schüttelte sie den -Kopf und sagte ängstlich: „Nein, nein, ich muß fort, ich werde sonst -gescholten.“</p> - -<p>So wurde sie denn entlassen, nachdem sie aber Fräulein Hirt versprochen -hatte, am andern Tag noch einmal wiederzukommen.</p> - -<p>Als Resi fortgegangen, war für Hans endlich der langersehnte Augenblick -gekommen, an dem er Suse über die geheimnisvollen Dinge zur Rede -stellen konnte, die sich hinter seinem Rücken abgespielt hatten. Er -wünschte zu wissen, was für Beziehungen zwischen Christine und dem -kleinen, fremden Mädchen beständen, und warum man gerade ihn nicht -eingeweiht habe.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span></p> - -<p>Nichts Angenehmeres konnte Suse widerfahren, als ihn über alles, was -sich während der Geigenstunde zugetragen hatte, drei lang, drei breit -aufzuklären.</p> - -<p>„Christine schien wirklich froh zu sein, daß sie eine Stütze an mir -hatte,“ schloß Suse voll Eingebildetheit ihren Bericht. „Ohne mich -hätte sie Resi sicher nicht so leicht gefunden.“</p> - -<p>Sei es nun, daß diese Aufgeblasenheit Hansens Zorn entfachte, oder daß -ihn das schlechte Betragen von Resis Vater Christine gegenüber wirklich -empörte, jedenfalls ergriff er plötzlich den ersten besten Stuhl und -stieß ihn mit einer Gebärde auf, als wolle er ihn seiner vier Beine -berauben. Dazu rief er: „Den Kopf sollte man ihm abhacken, diesem -Lumpen, diesem scheußlichen, gemeinen Kerl, diesem Vater von Resi.“</p> - -<p>„Sei still, sei doch still,“ mahnte Suse, „man meint ja gerade, du -seist Herr Schnurr. Nächstens springst du auch hier herum wie von -Sinnen. Wer benimmt sich denn so ungebildet!“</p> - -<p>Etwas später, als Suse zu Bett gegangen war, da kam ihr wieder die -Begegnung von heute morgen ins Gedächtnis zurück, und die Schamröte -stieg ihr heiß ins Gesicht.</p> - -<p>Sie mußte an die Zeit denken, als Herr Edwin dagewesen war und an ihre -Vorsätze von damals, dem Missionar nachzueifern und immer nur Gutes -zu tun. — Große Taten wollte sie vollbringen — in fremde Länder -wollte sie ziehen und unbekannten Menschen helfen. — Und nun? Ihre -alte Christine hatte sie verleugnet, die Frau, die, solange sie lebte, -ihr nur Gutes getan hatte! — Wie hatte Herr Edwin doch beim Abschied -gesagt: „Bewahret euch euer reines Herz.“ Da begann Suse laut zu -schluchzen und schlüpfte unter die Bettdecke. Und bat Gott um Hilfe -gegen ihr eitles Herz.</p> - -<p>Am folgenden Tage rüstete sich Christine zur Abreise. Ihr Gesicht -strahlte wieder in dem lieben, freundlichen Glanze. Der schwere Gang -in die Stadt war ihr schließlich doch zum Segen ausgeschlagen. Von all -den fremden Menschen, die sie hier kennen gelernt hatte, war ihr nur -Gutes widerfahren. Und was das Schönste war, sie hatte ihr Enkelkind -wiedergefunden. Es bestand sogar Aussicht, daß sie das kleine Mädchen -bald für immer zu sich nehmen konnte. —</p> - -<p>Fräulein Hirt hatte ihr Hoffnungen darauf gemacht. Mit mütterlich -beschirmendem Blick hatte Suse ihre Versprechungen angehört und war -sich fast erwachsen vorgekommen. Wußte sie doch viel mehr als Christine -und Hans, nämlich, daß Resi mit Gewalt ihren Eltern genommen werden -würde, weil sie so schlecht behandelt wurde.</p> - -<p>Aber Christine sollte davon nichts wissen. Sie sollte leichten Herzens -in ihre Heimat zurückkehren.</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span></p> - -<h2 class="left" id="Sechstes_Kapitel">Sechstes Kapitel.<br /> - -<b class="s4 mleft2">Schluß</b></h2> - -</div> - -<p class="p0"><span class="initial">E</span>s war im Winter vor Susens vierzehntem Geburtstag. Das Doktorskind war -ein großes, schlankes Mädchen geworden, und ihr Haar, das Rosel einst -mit soviel Geschick in zwei knochenharte, steif abstehende Zöpfchen -verwandelt hatte, hing ihr jetzt als langer, loser Zopf über den -Rücken. Heimlich freute sich Suse an dieser leuchtenden Haarpracht, -aber im Kreise ihrer Freundinnen hütete sie sich wohl, ihre Eitelkeit -durchblicken zu lassen.</p> - -<p>Auch Hans war genau wie sie, lang und rank geworden, und seine -Jackenärmel waren ihm immer gleich viel zu kurz.</p> - -<p>Frau Cimhuber und Ursel waren nun genötigt, zu ihren Pfleglingen -aufzublicken, nachdem sie noch vor zwei Jahren so erhaben auf sie -herabgesehen hatten.</p> - -<p>Der Pfarrfrau Urteil lautete im allgemeinen über der Kinder Charakter: -„Gute, liebe Kinder.“</p> - -<p>„Zu ausgelassen,“ setzte dann Ursel jedesmal hinzu, „zu ausgelassen. -Am liebsten sprängen sie über Tisch und Stühle. Immer über Tisch und -Stühle, vom Morgen bis zum Abend.“</p> - -<p>Nun hatte ja allerdings niemand mehr, als gerade die alte Magd, unter -der Ausgelassenheit der Kinder zu leiden. —</p> - -<p>Wie oft geschah es, daß die zwei, als Antwort auf eine von Ursels -Ermahnungen, die Predigerin ohne viel Federlesens auf ihre zum Sitz -geschlungenen Hände setzten und mit ihr im Sturmschritt durch das Haus -rannten! All ihr Schreien, all ihr Wehren nützte der alten Magd nichts. -— Sie mußte eben aushalten. — In einer Redeschlacht zog Ursel erst -recht den Kürzeren, namentlich der mundfertigen Suse gegenüber.</p> - -<p>Wenn Ursel etwa anhub: „Zuviel Dummheiten macht ihr, zuviel Dummheiten. -— Ihr wart eben von jeher zu sehr verwöhnt. Schon im Wickelkissen -ist es euch zu gut ergangen,“ fiel Suse lachend ein: „Im Wickelkissen -hat’s jedermann gut. — Ach, Ursel, wenn Sie jetzt mit einem Schlag im -Wickelkissen drin säßen! Wie herzig müßte das aussehen!“</p> - -<p>„Gräßlich dumm,“ ließ sich Ursel vernehmen. „Aus dir und Hans wird euer -Lebtag nichts. Ihr habt eben zu viel Dummheiten im Kopf. Der Ernst -fehlt euch. Ernst ist das Leben.“</p> - -<p>„Aber, Ursel,“ rief Suse, „unser Vater sagt doch immer, lieber ein -bißchen zu übermütig, als die Mundwinkel bis unters Kinn herunterhängen -lassen. Ganz elend kann es einem werden bei mißvergnügten Menschen.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span></p> - -<p>„Hm, hm,“ sagte Ursel, „mir scheint, das hast du geträumt, so spricht -ein ernster Mann nicht.“</p> - -<p>„Doch, Ursel, so hat er gesprochen, und erst bei unserem letzten Besuch -hat er gesagt, er ist sehr zufrieden mit uns. Hören Sie, Ursel, sehr, -sehr zufrieden mit unserem Lernen.“</p> - -<p>„Na, das fehlte auch noch, daß ihr nichts lerntet,“ brauste da Ursel -auf, „bei dem vielen Schulgeld, das ihr bezahlt, und bei der guten -Kost, die ihr hier bekommt, und bei der guten Aufsicht, und bei den -Tausenden von Stunden, die ihr schon auf der Schulbank herumgesessen -seid. — Das fehlte auch noch, daß ihr da nichts lerntet.“</p> - -<p>„Aber, Ursel, es gibt sogar recht viele Kinder, die trotzdem nichts -lernen.“</p> - -<p>„Was sagst du da?“ rief Ursel empört. „Was sagst du da? Wiederhol’s -noch einmal, die lernen nichts, meinst du? Na, da sollte ich der -Schuldirektor von euch sein,“ fuhr sie sich auf die Brust schlagend mit -rollenden Augen fort. „Da würde ich euch an einem schönen Montag oder -Dienstag alle miteinander auf die Straße jagen, und eure Schulsäcke -würde ich obendrein hinter euch herwerfen.“</p> - -<p>Suse lachte hell und zog sich dann schnell zurück, da die alte Magd -Miene machte, einem rachesüchtigen Schuldirektor nachzueifern.</p> - -<p>Frau Cimhuber sagte im ganzen wenig zu den Reibereien, die sich -nicht selten zwischen der alten Magd und den Kindern abspielten. Sie -wußte, sie vergingen schnell wieder, wie sie gekommen waren, und -Sonnenschein folgte dem Gewitterregen. Dann kochte Ursel den Kindern -ihre Leibgerichte und strich ihnen dicke Schichten Zwetschenmus auf -ihr Brot. „Aha, die Zwetschenmushäfen sind geöffnet, es weht ein guter -Wind,“ pflegte Suse bei dieser Gelegenheit auszurufen. —</p> - -<p>In Ursels Gemüt hatte sich mit der Zeit auch ein heilsamer Umschwung -zugunsten des Herrn Schnurr, Hansens Geigenlehrer, fühlbar gemacht.</p> - -<p>Erst hatte sie nichts als finstern Haß gegen den fremden Eindringling -verspürt, dann war ein gottergebenes Sichfügen in seine Besuche -gekommen, hierauf ein vorurteilsloses Betrachten seiner Person, dann -Nachsicht für sein Tun, Verständnis für seine Lehrweise, und ganz -zuletzt das Keimen freundschaftlicher Gefühle.</p> - -<p>Der Grund zu einer wirklichen Freundschaft zwischen ihr und Herrn -Schnurr wurde aber gelegt, als dieser gemeinsam mit den Doktorskindern -zu ihrem sechzigsten Geburtstag eine kleine Feier veranstaltete.</p> - -<p>Am Nachmittag ihres Wiegenfestes, als die alte Magd ihre Arbeit in der -Küche vollendet, ihre Werktagsschürze gegen die seidene Sonntagsschürze -umgetauscht und ihr Haar noch glätter als sonst gestrichen hatte, wurde -sie an Susens Arm in die Negerstube geführt, wo Hans<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span> mit seiner Geige -wartete und Herr Schnurr mit verstruweltem Haar am Klavier saß, bereit, -die Choräle, die er mit Hans zu Ursels Ehre eingeübt hatte, ertönen zu -lassen.</p> - -<p>Auf dem Tisch, über den ein blendend weißes, mit Tannenzweigen -geschmücktes Tischtuch gebreitet war, lagen die Geschenke für die -Sechzigjährige ausgebreitet: ein hohes, auf einem Sockel befestigtes -Alabasterkreuz von Frau Cimhuber, eine Vase mit Immortellen, Ursels -Lieblingsblumen, ein Geschenk von den Doktorskindern, eine schwarze -Seidenschürze von der Mutter der beiden und das Bild einer Tänzerin, -von Herrn Schnurr gestiftet.</p> - -<p>Leider hatte er es mit dem richtigen verwechselt, dem Bilde -Melanchtons, das seine Frau daheim los sein wollte.</p> - -<p>Geistesabwesend, wie Herr Schnurr war, hatte er das erste beste -Paketchen ergriffen und war damit davongegangen. Sein Irrtum störte -aber die Feier nicht.</p> - -<p>Ursel nahm, die Hände gefaltet, auf einem mit Tannengrün geschmückten -Stuhl Platz und erwartete die Huldigungen. Auf ein Zeichen von Herrn -Schnurr ergriff Hans die Geige, und unter Violin- und Klavierspiel -erklangen die schönsten Choräle: „Wer nur den lieben Gott läßt walten.“ -— „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ — „Harre, meine Seele.“ — -„Befiehl du deine Wege.“ — Und noch eine Menge andere Lieder.</p> - -<p>Eine feierliche, erhebende Stille herrschte in der Negerstube. Ursel -saß nickend und mit einem weltentrückten Ausdruck auf ihrem Stuhl, und -vor ihrem Geist zogen all die schweren Jahre ihres Lebens vorüber, in -denen sie nur Mühe Und Arbeit gehabt und sich zufrieden gefühlt, wenn -sie am Sonntag mit einer schwarzen Schürze vor dem Tisch in der Küche -hatte sitzen können, das Gesangbuch offen vor sich und in den Liedern -Kraft findend. — Die Tränen liefen ihr in den Schoß.</p> - -<p>Auf ihren besonderen Wunsch spielten die beiden Musikanten zum Schluß -noch ihr Lieblingslied: „Wenn ich einmal soll scheiden.“ — Man hätte -meinen können, Ursel selbst werde zu Grabe getragen, so ernst und dumpf -klang die Weise. Sogar Suse konnte die Tränen nicht zurückhalten, was -Ursel nicht ohne Genugtuung bemerkte. —</p> - -<p>Seit jenem Tage nun konnte die alte Magd Herrn Schnurr nicht mehr die -Tür öffnen, ohne an ihre schöne Geburtstagsfeier zu denken.</p> - -<p>„Ja, damals haben Sie sehr schön gespielt,“ sagte sie öfters zu ihm, -und nickte lebhaft, „oh, so schön.“</p> - -<p>„Ja, das macht die Kunst,“ erwiderte Herr Schnurr, indem er den -Zeigefinger so steil nach oben hob, daß Ursel seiner Richtung folgte.</p> - -<p>„Die Kunst, die hebt uns nach oben.“</p> - -<p>Ursel nickte beifällig.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span></p> - -<p>Allerdings, die Kunst in der Negerstube, die sich in wilden Sprüngen, -in einem Trommeln auf Tisch und Stühlen anzeigte, die behagte ihr noch -immer nicht.</p> - -<p>Deshalb konnte sie trotz ihres Wohlwollens für den Lehrer es nicht -unterlassen, ihr Ohr an die Tür der Negerstube zu legen, wenn er drin -sein Wesen trieb. Und das war schlimm, erfuhr sie auf diese Weise doch -allerlei, was im Grunde nicht für sie bestimmt war. — Herr Schnurr, -der sich in der ersten Zeit seines Amtsantrittes Hans gegenüber als -finsterer und gestrenger Lehrer gezeigt, hatte mit der Zeit geruht, den -Knaben zum Freunde zu erwählen. Es war ein merkwürdiges Verhältnis. -Herr Schnurr erzählte, und Hans hörte mit offenem Mund und offenen -Augen zu.</p> - -<p>Da kamen Bekenntnisse aus des Lehrers schweren Wanderjahren, als er in -einer größeren Musiktruppe von Ort zu Ort gezogen war. Viel Lug und -Trug habe er gesehen, aber ein ehrlicher, rechtschaffener Mensch sei er -doch immer geblieben, erwähnte er stets aufs neue. — „Rechtschaffen -müsse der Mensch sein, vor allen Dingen rechtschaffen...“ Auch seine -häuslichen Sorgen enthielt der Lehrer dem Schüler nicht vor, und dem -fuhr kein übler Schreck in die Glieder, als er seinen Geigenmeister -eines Tages in jämmerlichen Tönen von mißratenem Essen erzählen hörte, -das ihm täglich vorgesetzt werde, von unordentlichen Stuben, in denen -er sich herumtreiben müsse, und in die er Samstags mit Galoschen an -den Füßen und einem Besen und Eimer in der Hand eindringe, um eine -rauschende Sintflut darüber niedergehen zu lassen. Immer beklommener -wurde es Hans bei diesem Geständnis, und schließlich, als er Herrn -Schnurr Trost zusprechen wollte, stotterte er verlegen: „Herr Schnurr, -können Sie sich nicht eine Magd nehmen, wie Ursel, oder unser Rosel -daheim, wenn Ihre Frau Gemahlin die Haushaltung nicht versteht.“</p> - -<p>„Eine Magd!“</p> - -<p>Etwas Dümmeres hätte Hans nicht sagen können.</p> - -<p>„Was soll ich nehmen?“ rief Herr Schnurr und machte einen Sprung -rückwärts vor Entrüstung.</p> - -<p>Hans hätte vor Schreck fast die Geige hingeworfen.</p> - -<p>„Was soll ich nehmen, eine Magd? Was soll denn die essen, wenn wir -selbst am Hungertuch nagen? Oh, du einfältiger Gockel, komm jetzt her -und spiele deine Tonleiter, das ist besser, als deine Weisheitssprüche -Salomonis da herunterzulispeln, unpraktischer Held.“</p> - -<p>Und Hans tat, wie ihm gesagt worden war, und atmete dreimal tief auf, -als er den tüchtigen Lehrer wieder sein Handwerkszeug ergreifen und in -gemäßigte Bahnen zurückkehren sah.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span></p> - -<p>Ursel aber, die Herrn Schnurrs Beichte mit angehört hatte, überlegte, -ob sie sich nicht augenblicks in die Negerstube zwängen und dem Lehrer -eine gesalzene Botschaft an seine pflichtvergessene Gattin daheim -mitgeben solle.</p> - -<p>„Lieber nicht,“ sagte sie sich aber voll Klugheit.</p> - -<p>Indes sein häusliches Elend ließ ihr keine Ruh, und viel, viel später, -Anfang des Frühjahrs, da mischte sie sich endlich doch einmal in seine -Verhältnisse. Allerdings geschah es auf eine recht barmherzige und -christliche Weise.</p> - -<p>„Bringen Sie mir mal Ihre Strümpfe mit, Herr Schnurr,“ sagte sie, als -sie ihn über sein zerrissenes Zeug klagen hörte. „Ihre Frau stopft sie -ja doch nicht. Für mich ist das eine Kleinigkeit, und aus Dankbarkeit -tu ich’s gern.“</p> - -<p>Suse, die zufällig hinhorchte, war erstaunt. Sie lachte belustigt. -Ursel und Herr Schnurr gut Freund! Das war ein Spaß.</p> - -<p>Rasch entschloß sie sich, es ihrer Vertrauten, der schwarzen Carla -mitzuteilen, die mit der Zeit ihre beste Freundin geworden war. Da die -Herzensgenossin, die häufig leidend war, augenblicklich zur Pflege -ihrer Gesundheit im Süden weilte, schrieb ihr Suse die längsten Briefe. -Carla mußte von all den bunten Ereignissen im Cimhuberschen Haus -unterrichtet werden. Leichtsinnig und unüberlegt pflegte Suse drauf los -zu plaudern, und genau wie beim Reden, was immer ihr durch den Kopf -schoß, sofort auszusprechen. So schrieb sie denn an dem Brief, an dem -sie gerade angefangen hatte, weiter.</p> - -<p>„Du erkundigst Dich nach Theobald, liebe Karla, er ist lange nicht -mehr derselbe gräßliche Geck wie früher, obwohl er noch immer große -Volksreden hält. Onkel Fritzens Heirat war sein Glück. Sein Vater -meinte es auch. Er findet, Onkel Fritz hat seinem Sohn nur lauter -Raupen in den Kopf gesetzt.</p> - -<p>Nun frägst Du auch nach Ursel und Herrn Schnurr. Zwischen diesen -besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets vervollkommnende -Freundschaft, ein unaustilgbarer Herzensbund. Nächstens geben sie sich -einen Kuß. Wie die Verlobten sind sie. Wie Braut und Bräutigam. Denke -Dir, Ursel will sogar dem Herrn Schnurr die Strümpfe stopfen! Jedesmal, -wenn er erscheint, lächelt sie ihn an, süß wie ein Honighafen. Und -immer horcht sie an der Negerstube, wenn drin seine süße Stimme -erschallt, damit sie jedes Wörtlein von ihm aufschnappt.“</p> - -<p>Und dieser Brief voll leichtsinniger, loser Redensarten sollte die -schlimmsten Folgen haben.</p> - -<p>Es fügte sich nämlich, daß Suse während des schriftlichen Ausbruches<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span> -ihrer buntschillernden Geistesraketen von ihrer Freundin Grete -überrascht und zu einem Spaziergang abgeholt wurde.</p> - -<p>Kurz entschlossen packte die Schreiberin den unvollendeten Brief -nebst ihrem Tagebuch in das Bett, das neben ihrem Tisch stand, da -jenes ihr heute als sehr gutes Versteck erschien, alldieweil Hans den -Kommodenschlüssel mitgenommen hatte und sie nicht an den eigentlichen -Aufbewahrungsort ihrer Schreibsachen — die Kommodenschublade — -gelangen konnte.</p> - -<p>Frohgemut nahm sie hierauf von Frau Cimhuber und Ursel Abschied und -ging von dannen.</p> - -<p>„Bleib nicht zu lange,“ rief Ursel ihr nach, „du weißt, wir haben große -Wäsche, und du sollst mir helfen.“</p> - -<p>„In anderthalb Stunden bin ich wieder da,“ tönte es zurück.</p> - -<p>Klar wie der Himmel, der sich hoch über ihr wölbte, war es Suse zu -Sinn, und munter schritt sie fürbaß.</p> - -<p>Daheim ging inzwischen Ursel ihrer Beschäftigung nach und brummte -allerlei mißmutige Worte vor sich hin. Die Arbeit häufte sich für sie. -Je weiter die Zeit vorschritt, um so mürrischer wurde sie deshalb.</p> - -<p>Sonntag war Susens Geburtstag, den sie eingedenk des eigenen genossenen -Festtages recht schön gestaltet wissen wollte. Aber die Vorbereitungen -gingen nicht von der Stelle. Die Tannenzweige zum Ausschmücken von -Susens Stube lagen noch immer im Gang. — Suse blieb auch lang über -die Zeit weg und dachte nicht an ihre Arbeit. Dabei sollte sie im -ganzen Haus die Bettbezüge abnehmen, die Kissen mit neuen Leinen -bekleiden und die schmutzige Wäsche Ursel an das Waschfaß bringen. — -Indessen, das flatterhafte Doktorskind hielt es für besser, im lichten -Frühlingswäldchen vor der Stadt spazieren zu gehen.</p> - -<p>Als nahezu drei Stunden seit ihrem Fortgang verstrichen waren und -noch keine Spur von ihr zu entdecken war, machte sich Ursel selbst an -die Arbeit, die sie dem jungen Mädchen zugedacht hatte. Schlürfenden -Schrittes ging sie von einem Bett zum andern und nahm die Bezüge ab. So -kam sie schließlich auch an Susens Lagerstatt, in der, verhängnisvoll -wie ein Geschenk aus der Büchse der Pandora, der leichtsinnige Brief -schlummerte. Seufzend trat sie an das Bett. Jetzt breitete sie ihre -mageren Arme aus, um das Deckbett zu heben. — Hätte sich in diesem -Augenblick die Tür geöffnet und Suse sich gezeigt, so wäre alles noch -zu retten gewesen. — Aber die Übeltäterin war ja weit. Zorniger als -bei den ersten Betten zog Ursel an Susens Leinenbezug, schleuderte ihn -in die Höhe und riß ihn zu sich heran in die Stube. Polternd fiel etwas -Schweres hinterher. Ursel bückte sich und hob ein Buch und einen Brief -auf.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span></p> - -<p>„Unordnung, Unordnung,“ murmelte sie. „Wozu ist denn die Kommode da? -Aber das wird alles hingestopft, wo es gerade hingeht.“</p> - -<p>Vielleicht hätte nun die alte Magd den Brief ungelesen zur Seite -gelegt, wenn nicht auf dem ersten Blatt, nahe seinem untern Rande ein -großer Tintenklecks gewesen wäre, der ihre Blicke auf sich gezogen -hätte. Ganz mechanisch griff sie danach und prüfte, ob er auch trocken -sei. Und da legte sie ihren Finger mitten auf ihren eigenen Namen. -Ursel stand dort, dick und groß geschrieben. — „Ursel.“ — Sie sah -näher hin. Ja, es hieß Ursel. Sie hielt den Brief dichter vor ihre -Augen. Wahrhaftig, es war ihr Name. Ursel, Ursel stand dort.</p> - -<p>Und nun begann sie zu lesen, und ihr Gesicht wurde immer länger. Sie -glaubte schließlich, sie sei nicht mehr recht bei Verstand.</p> - -<p>„Du erkundigst dich nach Ursel und Herrn Schnurr,“ stand dort. -„Zwischen diesen besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets -vervollkommnende Freundschaft..., ein unaustilgbarer Herzensbund. -Nächstens geben sie sich einen Kuß... Wie die Verlobten sind sie, wie -Braut und Bräutigam.“ Ursel konnte nicht mehr weiter lesen. Träumte sie -denn, ging denn die Welt unter?</p> - -<p>Nein, nein, da stand klar und deutlich, „nächstens geben sie sich einen -Kuß, wie die Verlobten sind sie. Wenn er erscheint, lächelt sie ihn an, -süß wie ein Honighafen.“</p> - -<p>Das war zuviel. Stöhnend sank Ursel auf Susens Bett.</p> - -<p>Das war die Schändlichkeit in ihrer höchsten Vollendung! Das war der -Gipfel der Erbsünde! Das war schlecht, schlecht, erbärmlich! Das war -höllisches Gift!</p> - -<p>Ursel faßte sich an den Kopf.</p> - -<p>In diesem Augenblick klingelte es, und die alte Frau, in dem Wahne, -Suse komme, sprang mit Brief und Buch in die Höhe auf den Flur und -öffnete die Tür, um die Sünderin zu packen und zu richten.</p> - -<p>Der Einlaß Begehrende, der draußen stand, war aber nicht Suse, sondern -der unschuldige Knabe Hans, der einen großen Sprung rückwärts tat, als -er Ursels zornfunkelndes Gesicht vor sich sah.</p> - -<p>„Heilige Maria und Joseph, was ist denn los!“ rief er. „Sie blasen mich -ja um, Ursel, Sie blasen mich um.“</p> - -<p>„Soll ich vielleicht noch nicht mal mehr blasen?“ schrie Ursel. -„Unverschämter Bub! Hinter die Ohren will ich dir eins geben! Was los -ist, willst du wissen? Hier, hier steht, was deine saubere Schwester -von mir geschrieben hat. ‚Wie Braut und Bräutigam sind sie, wie die -Verlobten küssen sie sich, sie stopft Herrn Schnurr seine Strümpfe, -sie lächelt ihn wie ein Honighafen an.‘ — Willst du’s hören, willst -du’s hören?“ Und die alte Magd drückte ihm das Tagebuch mitsamt dem -Brief so<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span> fest gegen das Gesicht, daß er kaum imstande war, zu atmen, -geschweige denn ein Wörtlein zu piepsen.</p> - -<p>Nur ein eiskalter Schreck schoß ihm durchs Gebein. — Er wußte, nun war -Susens Geburtstag verdorben.</p> - -<p>„Wo, wo, wo haben Sie denn das gefunden?“ stotterte er.</p> - -<p>„Wo, wo, wo! Ei, da, wo’s lag. Und jetzt kommt’s in den Herd.“</p> - -<p>Und mit diesen erregten Worten eilte die alte Magd an Hans und Frau -Cimhuber vorüber, die seit dem ersten Entsetzensschrei ihrer alten -Dienerin bestürzt herbeigekommen und nicht mehr gewichen, sondern -händeringend gefolgt war.</p> - -<p>Ursel nahm ihren Weg in die Küche. Dort riß sie die eisernen Herdringe -zur Seite, und mit einem Schwung lagen Brief und Tagebuch im Feuer.</p> - -<p>„Halt, halt,“ rief Hans, „halt, halt,“ faßte in die Glut und zog das -versengte Tagebuch wieder heraus.</p> - -<p>Nun stürzte die alte Magd auf den Knaben zu, um ihm den Schatz zu -entreißen, und eine tolle Jagd um den Tisch herum hub an. Ursel -sprang hinter Hans her wie der Hund hinter dem Wild. Jetzt hatte sie -ihn beinahe gepackt, da war er um die Tischecke herum, und sie schoß -geradeaus gegen die Tür.</p> - -<p>Dann war sie wieder hinter ihm und riß im Laufen einen irdenen Topf vom -Tisch herunter, der polternd auf den Boden stürzte. Da brach Hans in -lautes Lachen aus, so lustig fand er das Spiel.</p> - -<p>Hierauf ging Ursel stumm hinaus.</p> - -<p>Aber es währte nicht lange, Hans stand noch immer auf derselben Stelle -wie vorhin und schnappte nach Luft, da öffnete sich die Tür wieder, und -Ursel kam zum Vorschein und trug eine große Pappschachtel schweigend -vor sich her.</p> - -<p>„Sie will fort,“ durchschoß es Hansens verängstigtes Gemüt. — „Jetzt -packt sie.“</p> - -<p>Aber vor seinen erstaunten Augen löste die alte Magd die Schnüre -der Schachtel und entnahm ihr ein schwarzes Kaschmirkleid, einen -Orangeblütenkranz und einen Schleier, indem sie mit Tränen im Auge -sagte: „Da ist mein Brautkleid und mein Schleier und mein Kranz, und -bei Königgrätz ist mein Bräutigam gefallen. Und mein ganzes Leben lang -bin ich ihm treu geblieben. Und hier ist seine Photographie. Und nun -muß ich auf meine alten Tage soviel Schande erleben.“</p> - -<p>Hans wurde es ganz schwarz vor den Augen bei dieser Beichte und so -beklommen und elend zu Sinn, als habe er selbst auf Ursels Bräutigam -die Todeskugel abgefeuert. Was sollte er nur sagen! Was sollte er nur -sagen!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span></p> - -<p>„Aber Ursel, das ist ja doch nicht Susens Ernst, das ist doch Spaß,“ -stotterte er schließlich.</p> - -<p>Noch hatte er seine Worte nicht ausgesprochen, da klingelte es -wiederum, und allen dreien fuhr es wie ein Schlag durch den Sinn, daß -jetzt Herr Schnurr zur Stunde komme.</p> - -<p>„Er bleibt draußen,“ rief Ursel mit halberstickter Stimme. „Ich will -ihn nicht sehen. Er soll mir nicht mehr vor die Augen kommen.“</p> - -<p>Frau Cimhuber war so verwirrt von den Ereignissen der letzten -Viertelstunde, daß sie nicht mehr recht wußte, was sie tat und selbst -zur Türe ging, um Herrn Schnurr abzuweisen und zwar mit einer Lüge, der -ersten, die sie seit Jahren über die Lippen brachte. Aber die Sorge um -Ursel machte selbst ihre Grundsätze wankend.</p> - -<p>„Hans ist krank,“ sagte sie leise.</p> - -<p>Kaum hatte der Lehrer das Wort „krank“ vernommen, so bestand er erst -recht darauf, seinen Schüler zu sehen und trat, Frau Cimhuber sanft auf -die Seite schiebend, in den Gang. Als er an der Küchentür vorüberging, -erspähte er Ursel, die dort vor ihrem Brautstaat tränenden Auges stand. -Den Finger schalkhaft erhebend, meinte er: „Na, na, Ursel. — Sie -werden doch nicht. — Ein schwerer Schritt das Heiraten! Da heißt’s -überlegen.“</p> - -<p>Hier fielen seine Blicke auf Hans, der wie ein verschämter Bräutigam -errötend hinter Ursel stand. Und kurz entschlossen nahm er ihn am Arm -und führte ihn mit sich fort.</p> - -<p>Nach Herrn Schnurrs wilden Ausrufen und dem Schall seiner Schritte, die -aus der Negerstube drangen, konnte man erkennen, wie eifrig er bei der -Sache war. —</p> - -<p>Der temperamentvolle Lehrer war schon längst wieder von dannen gezogen, -da kam endlich die Ausreißerin Suse nach Hause.</p> - -<p>Wie ein gezackter Gebirgsstock, über dem ein schwarzes Wetter steht, -kam ihr Ursels Gesicht bei der Begrüßung vor. Und in dem Glauben, die -Ursache von soviel finsterem Groll zu kennen, begann sie schmeichelnd: -„Bitte, bitte, liebe Ursel, entschuldigen Sie, daß ich so lange fort -war, seien Sie mir, bitte, nicht böse. Ich werde ihnen jetzt mit neuen -Kräften helfen wie eine Scheuerfrau. Es ging einfach nicht, daß ich -früher kam. Wir haben eine unserer Lehrerinnen getroffen, die wir so -gerne haben, und sie nahm uns mit in den Wald und zeigte uns Plätze, -wo schöne Anemonen stehen, herrlich! Ursel, es ist so herrlich, in -das Pflanzenleben einzudringen, dies Wachsen und Blühen und Gedeihen. -Überhaupt das ganze Pflanzenleben. Wie schön ist doch die Natur!“</p> - -<p>Ursel verzog keine Miene.</p> - -<p>Suse schwärmte weiter: „Sehen Sie, ich habe Frau Cimhuber einen<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span> ganzen -Arm voll Blumen mitgebracht. Wie ein Frühlingsgarten wird’s bei uns -sein. Ursel, der Vorfrühling ist gekommen. Man spürt’s. Und der Kuckuck -ruft. — Und der Waldesduft, und das Moos...“</p> - -<p>Ursel blieb stumm wie das Grab. Eine dicke Hornhaut schien sich über -ihr Gemüt gelegt zu haben; über die eindruckslos wie Zephyrfächeln über -Felsgestein Susens Schmeichelworte hinstrichen.</p> - -<p>Da beschloß das Doktorskind, die alte Magd nicht mehr durch Worte, -sondern durch Taten zu versöhnen, und sie ging von dannen, um sich eine -große Schürze vorzubinden und Arbeit zu suchen.</p> - -<p>Zu ihrem Erstaunen erwiderte aber auch Frau Cimhuber, die eben in die -Küche trat, ihren Gruß nur mit knappem Dank.</p> - -<p>„Wie auf einem Geisterschiff,“ murmelte das Doktorskind leise vor sich -hin, als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.</p> - -<p>„Komm nur herein, komm nur herein!“ tönte es ihr dort aus dem -Hintergrund entgegen. „Was Gutes hast du angerichtet! Was Sauberes! -Einen feinen Salat, den wir jetzt zusammen ausgrasen können!“</p> - -<p>Und in die Stube tretend, sah sie ihren Bruder auf Zehenspitzen -umherlaufen, während er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte -und beschwichtigende Bewegungen machte.</p> - -<p>„Es hat zwölf geschlagen, es hat zwölf geschlagen,“ rief er. „So was -haben wir noch nie erlebt, noch nie.“</p> - -<p>„Was ist denn los?“ fragte Suse. „Was ist geschehen? Was läufst du denn -so närrisch da herum?“</p> - -<p>„Schau,“ sagte Hans und deutete mit ausgestreckter Hand auf Susens -Bett, „guck, dann weißt du alles.“</p> - -<p>Suse folgte mit ihren Augen der Richtung seines Fingers, stieß dann -einen lauten Schreckensruf aus und ließ sämtliche Anemonen zu Boden -fallen, so daß sie mit verwirrten Köpfchen und Stielen dort lagen, wie -vom Sturmwind zerwühlt.</p> - -<p>„Wer hat das Bett abgezogen?“ stotterte Suse.</p> - -<p>„Ursel.“</p> - -<p>„Und meinen ganzen Brief hat sie gelesen?“</p> - -<p>„Ja.“</p> - -<p>„Alles, was ich zusammengeschmiert habe von Braut und Bräutigam und -Verlobtsein und Küssen und herrlicher Freundschaft und Herrn Schnurr -und gestopften Strümpfen und all das dumme Zeug?“</p> - -<p>„Ja, von A bis Z.“</p> - -<p>„Und schlecht ist mir’s noch,“ fuhr Hans fort, „wenn ich nur daran -denke, wie sie gejammert hat. Und ihr Brautkleid in einer Lade hat sie -hinterher geholt und hat drauf geweint. Entsetzlich!“</p> - -<p>„Aber eine so alte Frau kann sich doch ihr Lebtag nicht in einen solch<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span> -jungen Mann wie Herrn Schnurr verlieben,“ jammerte Suse, ihr Gesicht in -den Händen vergrabend und laut weinend. „Da lachen ja die Hühner. Sie -muß doch wissen, daß es nur Unsinn war.“ —</p> - -<p>„Nun ist alles, alles aus, mein ganzer Geburtstag. Und nie in meinem -ganzen Leben hab’ ich mich so auf einen Geburtstag gefreut, wie auf -diesen. Gelt Hans, nun ist alles verloren?“</p> - -<p>Der Bruder nickte begossen.</p> - -<p>„Was wolltet ihr denn eigentlich anfangen an meinem Geburtstag?“ fragte -Suse nach einer Weile, in Tränen zerfließend.</p> - -<p>„Ich kann dir’s jetzt ja sagen,“ entgegnete Hans zage, „denn aus ist’s -ja doch. — Die Papierschlangen und Lampions sind bereits wieder zu -Pastor Brauers zurückgeschickt worden, die sie uns geliehen hatten. -Wir hatten dir herrliche, dreistimmige Lieder eingeübt, Herr Schnurr, -Ursel und ich. Herr Schnurr ist zuweilen fast aus der Haut gefahren, -so falsch hat Ursel gesungen. Aber schließlich hat sie’s doch kapiert. -Und zur Dankbarkeit für Herrn Schnurrs Bemühungen wollte sie ihm die -Strümpfe stopfen. Dann beabsichtigten wir, dir noch eine wunderbare -Laube aufzubauen, von Tannenzweigen und Papierschlangen, und die ganze -Negerstube abends mit Lampions zu erleuchten, zu singen und zu tanzen.“</p> - -<p>Susens Tränen flossen reichlicher bei dem Gedanken an den prunkvollen -Ehrensitz, um den sie sich durch ihren Leichtsinn gebracht hatte. -Hans aber fuhr fort: „Außerdem wollten Christoph und Henner mit ihrem -Kasperletheater ankommen und ein selbsterfundenes Stück vorspielen. Es -heißt: „Wie die Fremdlinge die Kühe melken.“ Und das darf ich nicht -vergessen, Ursel wollte sich eine ganze Marzipantorte von einem halben -Meter Durchmesser abzwacken. Das ist nun alles Essig. — Ich glaub’, -sie wollen jetzt sogar der Mutter abschreiben, daß sie nicht kommt.“</p> - -<p>„Die Mutter wollte kommen?“ rief Suse aufspringend. „Die Mutter? Seit -wann wollte sie denn kommen? Seit wann? Sag’ Hans, seit wann? Gelt, das -ist meine Überraschung von daheim?“</p> - -<p>„Ach, ich dummer Papagei,“ rief Hans, sich mit beiden Händen an den -Mund fassend. „Das ist mir jetzt herausgewitscht. Ich weiß nichts, ich -weiß nichts. Ob sie kommt, ob sie nicht kommt, frag’ mich nicht.“</p> - -<p>Suse erhob sich langsam, sammelte ihre Blumen vom Boden auf und ordnete -sie zierlich. Köpfchen neben Köpfchen, und Stiel neben Stiel, und -steckte sie, mit Tränen benetzt, in eine Vase.</p> - -<p>Eigentlich waren die Anemonen für Frau Cimhuber bestimmt gewesen, aber -wie hätte sie es unter diesen Umständen gewagt, der Pfarrfrau Blumen -anzubieten.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span></p> - -<p>Nach einer Weile schlich sich Hans in die Küche, um dort zu sehen, -wie der Wind wehe. Aber schneller, als Suse gedacht, kehrte er wieder -zurück und flüsterte: „Ursel sitzt noch immer, in Tränen gebadet, auf -ihrem Stuhl und hat die Schachtel mit dem Brautkleid offen vor sich -stehen.“</p> - -<p>Susens Herz klopfte schuldbewußt. Und der Abend verlief in gedrückter -Stimmung. Nur Hans fühlte, obwohl von Mitleid für Suse ergriffen, -wie sich ein kleiner Freudefunken in seinem Herzen rührte, der immer -lebhafter wurde, so daß er ihn schließlich herausspringen lassen mußte.</p> - -<p>„Bin ein fahrender Gesell, kenne keine Sorgen,“ tönte es erst leise, -dann immer lauter werdend von seinen Lippen, „labt mich heut der -Felsenquell, tut es Rheinwein morgen...“</p> - -<p>Morgen ging es ja fort von hier, fort, hinaus in die köstliche -Freiheit, in die Berge, wo der frische Wind wehte. Mit Theobald und -Peter und einigen andern Knaben hatte er eine Wanderung verabredet. —</p> - -<p>Zwei Tage war ja keine Schule des Examens wegen. — Seine Brust dehnte -sich, und seine Augen leuchteten, und sein Gesicht rötete sich, und mit -einemmal stieß er einen solch durchdringenden Jauchzer aus, daß Ursel -und Frau Cimhuber in der Küche zusammenflogen.</p> - -<p>Schnell erinnerte er sich aber wieder an die unheimlichen -Nachtgespenster, die zurzeit im Cimhuberschen Haus umgingen, und er -schwieg.</p> - -<p>Behutsam holte er seinen Rucksack von der Wand herunter, schnürte -ihn auf und packte alle möglichen Dinge ein, die er zur Wanderschaft -brauchte: Strümpfe, Wäsche, Nähzeug, auch Brot in einen Beutel und -Suppenwürfel. Dann nähte er sich die grüne Schnur, die von seinem -Lodenhut abgerissen war, wieder kunstgerecht fest und erzählte Suse -dabei allerlei von seinen Wanderplänen. — Die erste Nacht gedachten -Theobald, Peter und er in einem größeren Ort, Wildershausen, zu -übernachten. — Wie Suse sich vielleicht noch entsinne, meinte der -Bruder, habe der Vater diesen Ort in seinem Brief ein- oder zweimal -erwähnt, und zwar mit dem Vermerk, Hans solle das Städtchen auf -seiner Wanderung doch einmal aufsuchen und ihm dann schreiben, wie -es ihm gefallen habe. — Weshalb der Vater das wissen wolle, sei ihm -allerdings nicht klar. —</p> - -<p>„Ach, könnt’ ich doch nur mit, ach, könnt’ ich doch nur mit,“ seufzte -Suse.</p> - -<p>„Sei nicht traurig,“ tröstete Hans, „Samstag abend komme ich ganz -bestimmt wieder, und wenn Ursel uns nicht haben will, so wird dein -Geburtstag eben bei Tante Hedi gefeiert. Ich werde schon dafür sorgen. -Das Theaterstück bekommst du auf alle Fälle zu sehen. Es ist, um an<span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span> -den Wänden heraufzukrabbeln vor Lachen. Solche verrückten Dinge, wie -drin vorkommen, hast du noch nie gesehen. Die Reden für das Kasperle -hat Theobald gedichtet.“</p> - -<p>Hier holte Hans seine nägelbeschlagenen Gebirgsschuhe aus dem Schrank -hervor und beschloß, sie in die Küche zu tragen und dort einzufetten.</p> - -<p>„Heute muß ich acht geben, daß ich keinen einzigen Spritzer Öl -vorbeitröpfeln lasse,“ flüsterte er Suse zu, als er zur Türe -hinausging, „sonst schlägt mir Ursel die Hasenpfoten um die Ohren, die -ich ihr neulich eigenhändig zum Schuheinschmieren gestiftet habe.“</p> - -<p>Etwas später suchte Suse Frau Cimhuber auf, um sie zu bitten, doch den -dummen Brief zu entschuldigen und ein Wörtlein zu ihren Gunsten bei -Ursel einzulegen. Aber die Pfarrfrau sagte streng: „Selbst im Spaß -schreibt man keine solch’ dummen Verleumdungen, wie du es getan hast, -Suse. Ich verstehe Ursels Empörung vollständig. Wenn sich zwei junge -Mädchen weiter nichts zu schreiben haben als Narrheiten wie ihr, dann -geben sie das Briefschreiben besser ganz auf.“</p> - -<p>„Wir schreiben uns doch auch noch andere Sachen,“ entgegnete Suse -kleinlaut.</p> - -<p>„Herrliche Naturbeschreibungen stehen manchmal in unseren Briefen, -und noch andere, viel, viel ernstere Dinge, von denen ich nicht reden -darf, so ernst sind sie. Über manchen Brief von Karla hab’ ich schon -geweint. Wir schreiben uns nämlich zurzeit gerade darüber, daß wir uns -später einen Beruf erwählen wollen, in dem wir recht viel zum Glück -der Menschheit beitragen. Ich habe in diesen Tagen auch schon an Herrn -Edwin deshalb geschrieben.“</p> - -<p>Aber Frau Cimhuber war nicht umzustimmen. Und Ursel verschloß ihr Gemüt -erst recht.</p> - -<p>Sie antwortete nicht. Sie seufzte nicht. Sie war ein Fels geworden. Sie -deckte den Tisch auf wie eine Salzsäule. Sie deckte ihn wieder ab. Sie -räusperte sich noch nicht einmal. Und das Brautkleid lag noch immer in -der Küche und quälte Suse durch seinen Anblick. —</p> - -<p>Am andern Morgen in aller Herrgottsfrühe, als die andern noch -schliefen, machte sich Hans dann auf die Wanderung.</p> - -<p>Nun war Suse allein. Trübselige Tage folgten. Die Welt erschien ihr wie -ein Grab. Kein Kuchen-, kein Schokoladeduft verkündete ihr, daß ein -Umschwung zu ihren Gunsten eingetreten sei. Die Kuchenbleche blieben -unangetastet an der Wand hängen, die Rosinen ruhten in ihrer Tüte, -die Vanillestangen in ihrer Büchse. Es roch nach Negerstube, nach -Schmierseife, nach den altbekannten Düften des Cimhuberschen Hauses, -nach nichts anderem.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span></p> - -<p>Endlich, endlich kam der Samstagabend heran, und mit ihm das Ende ihrer -Qual, wie Suse hoffte. Heute mußte Hans ja wiederkommen. Er hatte es -versprochen. Und vielleicht auch, vielleicht auch — die Mutter. Ganz -auszudenken wagte Suse diesen herrlichen Gedanken nicht. Als es aber -Abend war, lief sie zum Zug, der aus ihrer Heimat kam, um die Mutter in -Empfang zu nehmen. Doch umsonst.</p> - -<p>Auch Hans kam nicht.</p> - -<p>Den ganzen Abend wartete sie vergebens auf ihn. Es schlug zehn, es -schlug elf, es ging auf Mitternacht. Er kam immer noch nicht. Müde und -verängstigt suchte sie da ihr Bett auf. Erst spät fand sie den Schlaf.</p> - -<p>Der erste Gedanke, der Suse am andern Morgen beim Erwachen durchfuhr, -war der an ihren Geburtstag. Vierzehn Jahre war sie heute alt. Vierzehn -Jahre! Es war ein Sonntag heute. Die strahlende Sonne lachte über die -ganze Welt. Die Anemonen am Fenster hatten ihre Kelche weit geöffnet -und fingen das helle Licht in ihrem kleinen Blütentellerchen auf.</p> - -<p>Die Uhr sagte Suse, daß es schon sehr spät sei. Schon neun Uhr.</p> - -<p>Nicht wie sonst hatte Ursel sie um sieben geweckt, damit sie zur Kirche -gehe. Sie hatte sie schlafen lassen. Kein Laut regte sich im Haus. -Totenstill war es, als wären Ursel und Frau Cimhuber gestorben. Auch -Hans war nicht gekommen. Suse schlüpfte unter die Decke und machte -die Augen zu. Am liebsten wäre sie in einen hundertjährigen Schlaf -verfallen. Aber wie das anfangen.</p> - -<p>Es blieb ihr nichts anderes übrig als aufzustehen, sich anzuziehen und -Frau Cimhuber und Ursel, die aus der Kirche kamen, zu begrüßen und -nachzusehen, wie der Wind heute wehe. — Die Geburtstagswünsche fielen -mager genug aus. Und als Suse heimlich den Tisch in der Negerstube -betrachtete, auf dem sonst die Geschenke ausgebreitet lagen, sah sie, -daß er leer war wie eine frischgemähte Wiese. Keine einzige Gabe -schmückte ihn. Noch nicht einmal ein Brief aus der Heimat war zu -sehen. Wüstenartig öde kam Suse die Welt vor. Auch kein Kuchen war in -der Speisekammer zu entdecken, wohin Suse ihre Streifzüge ausdehnte. -Und als sie ihre Pflegemutter schüchtern fragte, was aus ihrer -Nachmittagseinladung werden solle, wurde ihr der betrübende Bescheid, -daß diese unter den obwaltenden Umständen natürlich unterbleiben müsse. -So fiel Suse denn die recht beschämende, peinliche Aufgabe zu, ihre -sämtlichen Gäste wieder auszuladen.</p> - -<p>Auf ihrer Morgenwanderung kam sie auch in das Haus von Onkel Sepp und -Tante Hedi und fand hier die ganze Bewohnerschaft in großer Aufregung.</p> - -<p>Theobald war genau wie Hans am gestrigen Abend nicht zurück<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span>gekehrt, -und hatte auch kein Wort der Entschuldigung geschickt. Hingegen war ein -Trupp ihm befreundeter Knaben, die auf einer Wanderschaft begriffen -waren, aus einer entfernten Stadt eingetroffen, und jetzt wußte kein -Mensch, was mit ihnen anfangen. Auch sonst hatte es noch allerlei -gegeben, was die Gemüter in Aufruhr versetzte. Am Abend vorher hatte -sich Liselotte, Theobalds älteste Schwester, verlobt, eine Gelegenheit, -die Christoph und Henner dazu benutzt hatten, sich in ihrem vollsten -Glanze zu zeigen.</p> - -<p>Bei der Verabschiedung des Bräutigams von der Braut hatten sie durch -das Treppenhaus einen bekleisterten Zeitungsausschnitt mit dem Aufruf: -„Wasche dein Haupt mit Javol“ auf die Glatze ihres zukünftigen -Schwagers fallen gelassen und saßen nun, eine harte Strafe verbüßend, -eingesperrt in der Bodenkammer.</p> - -<p>Kein Wunder, daß unter diesen Umständen Tante Hedi ihrer jungen Nichte -Geburtstag ganz vergaß.</p> - -<p>Das Doktorskind mußte darum betrübter, als sie gekommen war, von dannen -gehen. Im Vorgarten des Hauses traf sie mit Liselottes Bräutigam, einem -sehr feinen Herrn, zusammen, der mit höflicher Verbeugung zu ihr die -Worte sprach: „Guten Morgen, gnädiges Fräulein, wie geht es Ihnen?“</p> - -<p>Gnädiges Fräulein, wie achtungsvoll, wie angenehm das klang! — -Suse richtete sich an dem Gruße auf wie der erschöpfte Wanderer an -einem Stab. Nach all den Niederlagen der letzten Tage war ihr diese -Erfrischung zu gönnen.</p> - -<p>Allein, als sie wieder zu Hause angekommen war, ging ihr Freudefünkchen -jäh in der allgemeinen Begräbnisstimmung unter.</p> - -<p>Von Hans war noch immer keine Nachricht gekommen. Und Frau Cimhuber und -Ursel fingen an, sich zu ängstigen. Wie zwei aufgescheuchte Fledermäuse -huschten sie durch das Haus.</p> - -<p>Und nach Tisch zog sich jeder in seinen besonderen Unterschlupf zurück, -Frau Cimhuber in die Negerstube, Ursel in die Küche, Suse in ihr -Zimmer, um die Nachmittagsstunden nach Einsiedlerart, in sich gekehrt, -zu verbringen. Aber die Trauergesellschaft hatte die Rechnung ohne den -Wirt, in diesem Falle ohne Herrn Schnurr, gemacht.</p> - -<p>Mit einemmal trat er lächelnd mit einem Blumenstrauß in der Hand durch -die Tür der Negerstube und begehrte, Susens Wiegenfest in der geplanten -Weise zu feiern, ohne Auslassung einer einzigen Programmnummer.</p> - -<p>Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen bei seinem Anblick und quälten -sich mit dem Gedanken an das Versäumnis, das sie begangen hatten.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span></p> - -<p>Sie hatten ja ganz und gar vergessen, den Lehrer abzubestellen. -Sie hatten ihm ja kein einziges Wörtlein von der verhängnisvollen -Donnerstagkatastrophe verraten, durch die das Cimhubersche Haus -sozusagen auf den Kopf gestellt war. Nichts wußte er. Unschuldig -wie ein neugeborenes Kind stand er da. Treuherzig lächelte er Frau -Cimhuber und Ursel an. Seine Seele war rein und durchsichtig wie ein -Bergkristall. Kein Schatten trübte sie.</p> - -<p>Und nun war es zu spät, ihn wegzuschicken. Das sagten sich die zwei -Frauen, die ihn genau kannten und wohl wußten, daß er sich nicht mehr -verdrängen lasse. Er war ja störrisch wie ein Maultier.</p> - -<p>„Wo steckt denn der Hans?“ rief er. „Ich bin doch nicht für die -Katz gekommen, wir haben doch nicht wochenlang im Schweiße unseres -Angesichts gespielt und gesungen, daß wir uns heute stumm wie die -Fische gratulieren.“</p> - -<p>„Hans ist auf einer Wanderung,“ stotterte Suse.</p> - -<p>„Noch besser,“ sagte Herr Schnurr, „geht der auf eine Wanderung, wenn -ich hierher bestellt bin. Das ist so die Art der modernen Kinder. -Rücksicht auf Eltern und Erzieher kennen sie nicht.“</p> - -<p>„Hans hat Ihnen doch einen Brief geschrieben, eh’ er fortging,“ sagte -Suse stotternd. „Ich selbst hab’s gesehen. Haben Sie ihn denn nicht -bekommen? Mein Geburtstag darf nämlich nicht gefeiert werden, weil hier -allerlei vorgefallen ist.“</p> - -<p>„Brief — Brief?“ fragte Herr Schnurr. „Ich hab’ keinen Brief bekommen. -Na, ich kann’s mir schon denken, wo der hingekommen ist,“ sagte er mit -einemmal. — „Der ist mal wieder bei uns in den Papierkorb gewandert -mit den Drucksachen. — Das kommt öfters bei uns vor.“</p> - -<p>„Ja, Susens Betragen war sehr ungehörig in den letzten Tagen,“ fiel -hier die Pfarrfrau ein, „und deshalb haben wir von einer Feier ihres -Geburtstages abgesehen.“</p> - -<p>Herr Schnurr setzte sich auf einen Stuhl und erklärte kalt lächelnd, -er sei jetzt da, und er bleibe auch da. Und die einstudierten Lieder -würden trotz allem gesungen.</p> - -<p>„Gelt, Ursel?“ wandte er sich vertrauensvoll an die erschrockene Magd. -„Wir zwei singen zusammen. Wir zwei haben uns ja immer gut miteinander -vertragen. Wir zwei werden jetzt unser Licht leuchten lassen.“</p> - -<p>Ursel fuhr zusammen und wurde blaß bis an die Nasenspitze. Ihr Herz -zitterte vor Zorn.</p> - -<p>Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als vor der Sünderin Suse zu -singen. Wie Knödel steckten ihr die Töne im Hals, aber tapfer sang sie -ein Lied nach dem andern, aus lauter Angst vor ihrem Peiniger.</p> - -<p>Suse aber fühlte angesichts des fleißigen Vortrags eine tiefe, tiefe<span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span> -Beschämung über sich kommen, so daß ihr die Tränen in die Augen traten.</p> - -<p>Dort stand die gute Ursel in ihrem Sonntagsstaat und sang voller -Verzweiflung die schönsten Lieder.</p> - -<p>Und hier saß sie wie eine Königin und ließ sich feiern und hatte es so -wenig verdient.</p> - -<p>Schließlich konnte sie nicht mehr zuhören und beschloß heimlich davon -zu schleichen und die zwei allein weiter singen zu lassen.</p> - -<p>Aber Herr Schnurr hatte erraten, was sie wollte, packte sie am Arm und -drückte sie unerbittlich auf ihren Stuhl zurück.</p> - -<p>„Innsbruck, ich muß dich lassen,“ klang es begeistert von seinen Lippen -in Gemeinschaft mit Ursel.</p> - -<p>Dann empfahl er sich.</p> - -<p>Ein Alpdruck wich von den drei Frauen. Suse stürzte, einen verwirrten -Dank stammelnd, an Ursel vorbei in ihr Zimmer und wollte keinen -Menschen mehr sehen.</p> - -<p>Allein nur wenige Minuten verstrichen nach Abbruch des Vortrags, dann -öffnete sich die Tür ihres Stübchens, und Frau Cimhuber trat ein, um -ein Paket auf den Tisch zu legen.</p> - -<p>Es sei schon einige Tage da, aber in dem allgemeinen Aufruhr der -letzten Woche vergessen worden, sagte sie entschuldigend.</p> - -<p>Suse betrachtete das Paket mit freudigem Erröten und entdeckte, daß -es von Christine sei. Zärtlich wie einen lieben Bekannten drückte -sie das Geschenk an sich. Es war ihr erster Gruß aus der Heimat. Mit -aufgeregten Fingern löste sie die Schnur der Schachtel und entnahm -ihrem Innern ein buntbesticktes Seidentuch, ein Erbstück von Christines -Großmutter, das sie oft bei ihrer alten Kinderfrau bewundert und um -ihre Schultern gelegt hatte.</p> - -<p>Sie erfreute sich auch heute wieder an dem Glanz der leuchtenden Rosen- -und Veilchensträußchen, die in das lila Tuch gestickt waren, und -spürte mit Entzücken den Duft getrockneter Kräuter, der aus Christines -Kommode kam, wo Steinklee in Büscheln zwischen Hauben, Tüchern und -den sonstigen Habseligkeiten der alten Frau lag. Leibhaftig sah -Suse Christines friedliches Reich vor Augen, und es wurde ihr ganz -sehnsüchtig zu Sinn. Zu unterst in der Schachtel entdeckte sie dann -einen Brief, der von Rosel geschrieben, aber von Christine diktiert war.</p> - -<p>„Mein liebes, liebes Kind,“ stand darin, „Du weißt, ich kann nicht -schreiben. Ich hab’ es in der Schule nicht gelernt. Wir brauchten nicht -in die Schule. Rosel schreibt diesen Brief für mich. Und sie soll -Dir viel Glück wünschen und Gesundheit und ein langes Leben. Und das -Seidentuch in der Lade will ich Dir schenken, weil Du es ja immer so<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span> -gerne hast leiden mögen. Und ich weiß ja nicht, ob ich noch lange lebe. -Und vielleicht, wenn ich einmal gestorben bin, gibt’s Dir keiner.</p> - -<p>Und wenn ich auch schreiben gelernt hätte, so könnt’ ich doch jetzt -nicht mehr schreiben, liebe Suse, denn ich bin blind geworden, ganz -blind. Du kannst es auch Hans sagen. Schon Weihnachten, wie Ihr daheim -gewesen seid, und wie Du mir unter dem Tannenbaum so schön vorgelesen -hast, unter dem Tannenbaum hab’ ich’s gespürt. Ich kann Euch jetzt -nicht mehr sehen, wenn Ihr heimkommt, aber ich kann Euch noch sprechen -hören und Eure Hände in meine nehmen. Erst im Himmel, wenn wir wieder -alle zusammen kommen, kann ich Euch anschauen und sehen, ob Ihr noch -Eure lieben, guten Gesichter behalten habt.</p> - -<p>Es ist mir immer schwärzer vor den Augen geworden, und zuletzt habe ich -nur noch einen dicken Nebel gesehen, und jetzt ist es ganz dunkel um -mich wie in der Nacht. Euer Vater sagt, mir ist nicht mehr zu helfen. -Jetzt kann ich die schöne Welt nicht mehr sehen. Siebzig Jahre lang -hat unser Herrgott sie mich sehen lassen und hat es immer so gut mit -mir gemeint, und jetzt hat er mir die Augen zugemacht, und ich bin -blind. Und jetzt sitz’ ich immer draußen in der Sonne auf der Treppe -und rieche die Veilchen, die aus der Erde kommen, und höre die Vögel. -Und ich weiß doch, wie alles aussieht. Resi führt mich an der Hand -durch den Garten und den Weg ins Dorf hinauf, wenn ich zu Euern Eltern -gehe. Ich weiß, daß Ihr bald fortziehen werdet, weit, weit fort, und -nicht mehr wiederkommt. Eure Mutter hat’s mir gesagt. Ich weiß auch, -dann sehen wir uns hier nicht mehr wieder. Ich weiß, daß ich nicht mehr -lange leben werde. Der liebe Gott hat mir die Augen zugemacht, das ist -ein Zeichen, daß ich zu ihm kommen soll. Aber ich kann ruhig sterben, -denn jetzt ist alles gut. Für mein Kind sorgt der Herr Doktor und die -Frau Doktor, und ich weiß, daß auch Ihr gut zu ihm sein werdet. Alle -Leute hier sind traurig, weil Ihr fort wollt, und sie sagen, so ein -guter Doktor kommt nicht wieder...“</p> - -<p>Da konnte Suse vor Weinen nicht mehr weiter lesen. Christine war blind -geworden, und die Eltern wollten von zu Hause fort. Das war zuviel -des Traurigen auf einmal. Sie legte den Kopf auf das bunte Tuch und -schluchzte zum Herzzerbrechen.</p> - -<p>Ursel hörte sie draußen weinen. Aber sie hatte jetzt keine Zeit, -nach dem Grund ihres Schmerzes zu forschen. Eine merkwürdige -Zeitungsnachricht, die sie im Sonntagsblatt gelesen, hatte sie -erschreckt. —</p> - -<p>Ein Brandunglück war dort vom Freitag abend aus einem Ort namens -Wildershausen gemeldet. — An verschiedenen Stellen sollte es gebrannt -haben. Mehrere Scheunen sollten eingeäschert, und drei Knaben, die im -Heu übernachtet hätten, schwer zu Schaden gekommen sein.<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span> Wildershausen -— Wildershausen, ging es Ursel durch den Sinn. Das war ja der Ort, -in dem Hans am Freitag abend übernachten wollte. Ja, ja, so hieß der -Ort. Er hatte ihn ihr genannt, als er beim Schuheinfetten am Donnerstag -abend in der Küche neben ihr gesessen war und sie auf andere Gedanken -zu bringen versucht hatte.</p> - -<p>Und nun war er nicht heimgekommen. —</p> - -<p>Ursel hatte sich schon den ganzen Morgen um ihn geängstigt. — Am -Ende... Ursel wurde es ganz schwarz vor den Augen..., die Knaben waren -ja immer noch nicht da. Es ging auf fünf Uhr. Kein Mensch wußte, wo sie -waren. Gestern abend hatte Hans bestimmt kommen wollen.</p> - -<p>„Frau Pfarrer,“ rief da Ursel, „Frau Pfarrer, hieß der Ort nicht -Wildershausen, in dem Hans übernachten wollte?“</p> - -<p>„Ja, Wildershausen,“ sagte Frau Cimhuber.</p> - -<p>„Sehen Sie,“ rief die alte Magd und reichte ihrer Herrin das -Zeitungsblatt, „sehen Sie, da steht’s, Brand. Die Scheune brannte -nieder. Zwei Knaben kamen ums Leben. Nein, zu Schaden,“ verbesserte sie.</p> - -<p>„Hören Sie, das ist Wildershausen, und da wollte Hans die erste Nacht -hin. Am Ende er wird doch nicht... es wird doch nicht... unser Hans... -ich sag’s ja immer, das ist nichts mit diesen gräßlichen Wanderungen. -Da erkälten sie sich, sie essen schlecht, und zuletzt fallen sie in die -Flammen hinein. Das ist das Ende vom Lied. Haben sie es daheim nicht -viel besser!“</p> - -<p>Ursel begann nun um den Doktorssohn laut zu klagen. Er, den sie am -Donnerstag abend noch einen unverschämten Bub genannt hatte, war mit -einmal der liebe, gute, freundliche Hans, der ihr so oft das Geschirr -abgetrocknet und das Feuer angemacht hatte, wenn ihre Hände vom -Rheumatismus angeschwollen waren. Immer wieder hatte er ihr neue Mittel -zur Heilung gebracht.</p> - -<p>Noch einmal vertiefte sie sich in die Zeitungsnachricht und erklärte -dann: „Er ist’s. Drei Knaben steht hier. Das ist Theobald und Hans und -Peter. Die schlafen ja immer des Nachts in Kuhställen und auf Heuböden. -Ich will jetzt mal hingehen und sehen, was mit Theobald los ist, ob der -immer noch nicht da ist.“</p> - -<p>Damit legte sie ihren Sonntagsstaat an, einen abgelegten Capothut von -Frau Cimhuber und eine schwarze Pelerine, und machte sich auf den Weg -zu Susens Verwandten. Leider verfehlte sie Toni um einige Minuten, die -mit einer inhaltsreichen Depesche von Theobald in der Hand ihren Weg zu -Frau Cimhubers Wohnung hinauf genommen hatte.</p> - -<p>Während sich all dies in der Stadt zutrug, hatten Hans und Theobald -ereignisreiche Tage verlebt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span></p> - -<p>Im Kreise einiger Freunde waren sie am Freitag morgen dem Gebirge -zugefahren, hatten dort die Bahn verlassen und waren zur Höhe -emporgestiegen, von wo sie eine Kammwanderung angetreten hatten.</p> - -<p>Hans fühlte sich am Wandertage nach den beklemmenden, letzten -Ereignissen im Cimhuberschen Haus so frei wie der Vogel in der Luft. -Sein Hut hing am Rucksack. Der Wind spielte ihm frisch um die Stirn. -Ein herber, stärkender Hauch wehte hier oben. Große landschaftliche -Schönheit breitete sich vor seinen Augen aus. Von der Ebene her -leuchteten die Dörfer und Ortschaften, von der Sonne beschienen, weiß -herauf. Am Bergeshang tief unten lag ein zarter Schleier über den Wald -gebreitet. Es war das erste Frühlingsgrün, duftig wie ein feiner Hauch. -Hier oben, wo es nur niedere Tannen und verkrüppelte Buchen gab, merkte -man noch nichts vom Blühen und Wachsen.</p> - -<p>In dem unermeßlichen Äther in der gleichen Höhe mit den Knaben zog ein -Bussard über der Tiefe des Tals in wunderbarer Ruhe seine Kreise. Die -Knaben blieben eine Weile stehen und folgten ihm mit den Blicken. Dann -zogen sie weiter auf dem Gebirgskamm, der sich wie eine hochgespannte -Brücke unter Gottes Himmel hinzog. Mittagsrast hielten sie in einer -verlassenen Burgruine, die auf einem Gebirgsvorsprung lag und zu der -sie nach einer zweistündigen Wanderung vom Kamm heruntergestiegen -waren. In dem alten, eingeschlafenen Burghof machten sie sich ein Feuer -an, um abzukochen. Bald brodelte eine kräftige Suppe im Kochtopf.</p> - -<p>Hans langte mit großem Heißhunger zu. Die Vorstellung, daß jetzt eine -gräßliche, dumpfe Stimmung über dem Cimhuberschen Haus brüte, schien -seinen Appetit noch zu verdoppeln.</p> - -<p>Nach beendigter Mahlzeit holten einige Knaben von einem nahegelegenen -Quell Wasser und wuschen das Geschirr ab. Einer der Wanderer, ein -begeisterter Redner und Sänger, drückte sich von der Küchenarbeit -und erklomm das Gemäuer des verfallenen Rittersaals, um von einer -Fensterhöhlung herab eine flammende Rede zu halten über die Zeit, als -hier der Bauernkrieg wütete. — Hans hörte, den Kopf im Nacken, mit -großem Interesse zu. Theobald hingegen zuckte die Achseln und verzog -sich auf den Bergfried, wo er aus schwindelnder Höhe sich das Tal -betrachtete und sich an der Hand einer Karte orientierte.</p> - -<p>Nach einer guten Stunde fand der Aufbruch der Knaben statt, und die -fröhliche Schar zog singend von dannen.</p> - -<p>Bald lag der Burghof wieder vereinsamt da. Eine Eule, die erschreckt -beim Nahen der Knaben davongeflogen war, kehrte mit schwerem -Flügelschlag in ihr Reich zurück. Von unten, vom Bergeshang, tönte der -Gesang der Wanderer verhallend herauf.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span></p> - -<p>Es fing schon an zu dunkeln, als die Knaben ins Tal zurückkamen. Drei -von ihnen beschlossen, in einem kleinen Dorf am Fuß des Gebirges zu -übernachten, die andern, Theobald, Peter und Hans, weiter in die -Ebene hinaus zu gehen, nach dem eine Stunde entfernten Städtchen -Wildershausen.</p> - -<p>Hans, der schon etwas müde war, gähnte und zog die Füße nach. Theobald -pfiff einen Marsch, um seinen Vetter aufzumuntern.</p> - -<p>Plötzlich aber stieß er einen Jauchzer aus und rief: „Famos wird -das heute, Hans. Wir logieren beim Onkel Brettelkern, beim Doktor -Brettelkern. Das hat mir der Vater geraten.</p> - -<p>Kennst du den Brettelkern?“</p> - -<p>Hans schüttelte den Kopf.</p> - -<p>„Hat dein Vater nie davon erzählt?“</p> - -<p>„Nein.“</p> - -<p>„Das wundert mich,“ meinte Theobald, „der Doktor Brettelkern ist ein -Onkel von uns, ‚zehnmal um die Ecke rum‘, das heißt von meinem Alten. -Dein Vater kennt ihn aber genau, denn dein Vater und meiner waren schon -in ihrer Jugend unzertrennliche Freunde. Und der Onkel Brettelkern hat -an den beiden einen Narren gefressen gehabt, bis es eines Tages zum -Krach gekommen ist. Widerspruch konnte der Brettelkern nämlich nicht -ertragen. Und als die beiden jungen Dächse einmal in irgend einer -Frage, ich glaube, es war die Alkoholfrage, gegen ihn gewesen sind, da -wurde er fuchsteufelswild und hat sie vor die Tür gesetzt. Ich glaube, -jetzt nach Jahren hat er endlich mal wieder an deinen Vater geschrieben -wegen seiner Praxis, die er abgeben will.“</p> - -<p>„Davon weiß ich nichts,“ meinte Hans ganz verwundert.</p> - -<p>„Na, das ist ja auch nebensächlich, die Hauptsache ist, daß wir auf -seinem Heuboden übernachten wollen,“ erklärte der Vetter. „Und am -andern Morgen bringen wir ihm ein Ständchen und stellen uns vor als die -Söhne vom Sepp und vom Hermann. Schmeißt er uns dann zum Hof hinaus, so -ist’s ja noch immer Zeit zum Laufen meint der Vater.“</p> - -<p>Dieser Plan wollte Hans keineswegs einleuchten. Und auch Peter schien -es viel besser, sich einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen, wo man -am andern Morgen aufrechten Ganges davongehen konnte.</p> - -<p>Indes die beiden fügten sich schließlich doch Theobalds Anordnungen. -Bald hatten sie das freundliche Städtchen Wildershausen erreicht, und -mußten nun den ganzen Ort durchwandern, ehe sie die Wohnung ihres -Onkels gefunden hatten. Sie lag an der breiten Hauptstraße, ganz am -andern Ende der Stadt.</p> - -<p>„Aha, da sind wir,“ meinte Theobald, der zuerst das Schild mit dem<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span> -Namen des Doktors an einem der weißgetünchten Häuser entdeckt hatte. -„Dann können wir also drei Mann stark in seinen Wigwam einfallen. -Hoffentlich laufen wir ihm nicht gleich in den Weg. Sonst wirft er am -Ende einen Blick auf unsere klassischen Gesichter und drauf uns alle -drei am Kragen hinaus.“</p> - -<p>Durch die Gitterstäbe des großen eisernen Hoftores mit dem kleinen -Eingangstor an seiner Seite spähten die Knaben in den Hof. Im -Hintergrund gewährten sie eine Scheune mit einem Stall, zu dem -rechtwinklig ein Schuppen angebaut war. Eine Menge Holz war darunter -aufgeschichtet.</p> - -<p>Daneben stand ein Mann, augenscheinlich der Kutscher, der damit -beschäftigt war, Pferdegeschirr zu reinigen.</p> - -<p>„Sollen wir’s wagen, sollen wir’s wagen?“ fragte Theobald. — „Hopp, -wagen wir’s.“</p> - -<p>Und die drei traten schnellen Schrittes ein, grüßten höflich und trugen -ihr Anliegen vor. Theobald redete dabei wie ein Wasserfall. Der Mann -vor ihm sah ihn zuerst mit leichtgeöffnetem Mund ganz verständnislos -an. Dann aber begriff er langsam, langsam, lächelte verschmitzt und -nickte beifällig.</p> - -<p>„Guter Vetter, ich weiß schon, was du willst,“ meinte er, Theobald -kameradschaftlich auf die Schulter klopfend. „Wir verstehen uns in der -Angelegenheit. — Die letzte Woche sind nämlich schon ein paar von -eurer Sorte dagewesen. Die haben bei uns übernachtet. So jemand wie -euch können wir schon unterbringen. Das tun wir gern. Das macht dem -Doktor Freude. Die letzten hat er sogar im Bette schlafen lassen.“</p> - -<p>„Nur nicht in dem Brettelkern seiner Betten schlafen,“ riefen die -Knaben und dachten mit Schrecken an das Erstaunen des Doktors, wenn -dieser plötzlich die Sprößlinge der mit ihm verkrachten Verwandtschaft -in seinen warmen Federbetten entdeckte.</p> - -<p>„Auf dem Heuboden, wo es am dunkelsten ist, wollen wir schlafen,“ rief -Theobald. „Der Heuboden, das ist unser Fall. Der Heugeruch, der ist -gesund. Der schläfert ein. Wir sind sehr für die Natur, immer für die -Natur. Gucken Sie unsere Kräfte. Alles von der Natur!“</p> - -<p>Und damit ergriff er den verdutzten Peter am Kragen und hielt ihn mit -ausgestrecktem Arm dem Mann hin, indem er sagte: „Hier sehen Sie, alles -mit einem Griff. Alles von der Natur.“</p> - -<p>„Du gefällst mir, du kannst so bleiben,“ meinte der Kutscher und -klopfte Theobald wieder befriedigt auf den Rücken.</p> - -<p>„Kommt jetzt mit herein,“ setzte er zu den andern hinzu. „Die Luise -soll euch ein gutes Abendessen kochen. In einer Stunde wird der Doktor -da sein. Der wird seine Freude an euch haben. Es kommen auch noch<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span> -andere Herrschaften mit, ein Herr und eine Dame. Was sehr Feines, -glaube ich.“</p> - -<p>„Heilige Genoveva,“ rief Theobald erschreckt, „nur nichts sehr Feines -heute abend. Für Herrschaften sind wir nicht angezogen. Und dann fallen -uns die Augen zu. Man muß uns so wie so schon Hölzchen dazwischen -stecken, damit sie offen bleiben. Aber morgen um fünf Uhr bringen wir -dem Doktor ein Ständchen. Was sagen Sie dazu? Studentenlieder spielen -wir ihm auf. Die beiden da geigen wie die Engel im Himmel und ich singe -wie eine Orgel.“</p> - -<p>„Das wird den Doktor freuen,“ erwiderte der Mann lachend, „ja, das -könnte ihm Freude machen.“</p> - -<p>Hierauf brachte er den Knaben heißes Wasser aus der Küche, womit diese -sich schnell einige Tassen Kakao anrührten.</p> - -<p>Hans äugte ständig nach dem Hoftor hin wie eine Gemse, die auf -Wachtposten steht. „Hoffentlich kommt er nicht,“ murmelte er vor sich -hin. „Der wirft uns ja raus.“</p> - -<p>„Iß und jammere nicht,“ mahnte Theobald.</p> - -<p>Die Knaben verzehrten nun ein paar Stücke Brot und tranken ihren Kakao -dazu und schickten sich hierauf an, ihr Eßgeschirr zu reinigen.</p> - -<p>Da sagte der Kutscher so beiläufig mit größter Ruhe vom Hoftor herüber: -„Dort unten kommt der Doktor.“ —</p> - -<p>Die Knaben rafften ihre Rucksäcke und ihr Geschirr zusammen und rannten -davon wie die Räuber.</p> - -<p>„Kommen Sie, kommen Sie,“ rief Theobald, den Kutscher mit sich ziehend, -„und zeigen Sie uns unser Nachtquartier! Erst morgen früh wollen wir -den Doktor sehen.“</p> - -<p>Und wie die Katzen kletterten sie an einer Leiter in der Scheune auf -den Heuboden.</p> - -<p>Sich die Seiten vor Lachen haltend, wackelte der Kutscher hinterdrein. -Und oben breitete er ihnen ein Segeltuch auf das Heu, um es zu schonen, -damit die empfindlichen Pferde morgens nicht seine Annahme verweigerten.</p> - -<p>„Endlich, endlich in Sicherheit,“ meinte Theobald sich streckend und -dehnend, als der Kutscher gegangen war. „So einen Heuboden, den lob’ -ich mir. Das ist doch das Beste. Neulich der Kuhstall, der war zuviel -für meines Vaters Sohn. Erst der Kuhgeruch und dann der Hühnergeruch, -und kaum ist das überstanden und man ist eingeschlummert, da erwachen -gleich so ein paar gefiederte Bestien, die mit uns zusammen logieren, -und fühlen sofort das Bedürfnis, Eier zu legen und ihre Funktionen mit -lautem Geschrei in die vier Winde zu rufen. Schauderhaft! Und dann, als -sie damit fertig sind, fällt es ihnen ein, spazieren<span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span> zu gehen, und -sie nehmen ihren Weg direkt über unsere Köpfe und unsere Brust hinweg, -voran der Gockel. Und wie ich aufwach’, steht mir der, weiß Gott, -mitten auf der Brust und schlägt mir seine Flügel um die Ohren und -schreit ‚Kikeriki‘, daß ich aufgefahren bin und ihn gepackt habe. Fast -hab’ ich ihn ermördert.“</p> - -<p>Hans und Peter lachten und vergruben sich im Heu.</p> - -<p>„Sei still, Theobald,“ rief sein Vetter, „sonst hört uns der -Brettelkern und holt uns von seinem Heuboden runter.“</p> - -<p>„Lacht doch nicht bei dieser ernsten Geschichte,“ wehrte Theobald, -„es kommt noch besser. Kaum sind die Hühner fort und wälzen sich mit -dem vermalefitzten Gockel, dem ich ein paar Schwanzfedern abgebrochen -habe, in den Hof hinaus, so fängt einer von unsern Freunden, der -Philipp, so laut an zu schnarchen, daß man es durch drei Wände hören -konnte. Und denkt euch, da sitzen in demselben Stall mit uns ein paar -Truthähne. Die bilden sich ein, wir wollen sie uzen mit dem Schnarchen. -Und jedesmal, wenn der Philipp mit der Stimme überschnappt, fangen die -an so mordsmäßig zu kollern und zu glucksern, als wollten sie an den -Wänden in die Höhe fahren vor Geschrei. Wißt ihr, eine Musik war in -dem Stall, als wenn einer Ziehharmonika spielt, und der andere fällt -der Länge nach von rückwärts auf das Klavier, auf sämtliche Tasten mit -einem Schlag. Hinreißend! Na, da bin ich aufgestanden...“</p> - -<p>„Und?“ fragte Hans.</p> - -<p>„Laß mir meine Ruh,“ sagte Theobald, „ich will jetzt schlafen.“</p> - -<p>Und damit drehte er sich auf die andere Seite. Bald verrieten seine -tiefen Atemzüge, daß er schliefe. Und auch seine beiden Begleiter -ruhten bald, von tiefem Schlaf übermannt, auf ihrer Lagerstatt.</p> - -<p>Da — es mochte so vier Uhr morgens sein, wachte Hans plötzlich von -einem lauten Geräusch auf, das im Pferdestall nebenan erklungen war. Er -hörte Pferde wiehern. Mühsam richtete er sich auf und spürte, wie ihm -ein schwerer Druck auf der Brust lag. Sein Kopf schwindelte. — Es roch -nach Qualm und Rauch. Weit riß er die Augen auf und sah einen roten -Schein von der Öffnung, die zum Pferdestall führte, herüberleuchten. Da -war ihm plötzlich klar, was hier geschehen war. Mit einem Sprung war -er auf den Beinen, riß seinen Freund Peter mit in die Höhe und schrie -durchdringend: „Hier brennt’s! Es brennt! Feuer!“</p> - -<p>Der Freund war sofort wach, und nun rüttelten die beiden an Theobald, -der noch immer schlief wie ein Sack. Als sie ihn endlich aufgeweckt -hatten, bedurfte es nur noch weniger Sekunden, bis er sich gefaßt -hatte. Dann kommandierte er wie ein General: „Jetzt erst mal raus an -die Luft.“</p> - -<p>Mit großer Schnelligkeit ließen sich die Knaben an der Leiter hinunter -und eilten durch die Scheune ins Freie.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span></p> - -<p>Hier sahen sie den Hof tagehell erleuchtet. Der Holzstoß unter dem -Schuppen brannte lichterloh, die Flammen schlugen zum Dach hinaus und -griffen nach dem Stall hinüber.</p> - -<p>„Schöne Bescherung,“ murmelte Theobald.</p> - -<p>„Wir müssen die Pferde rauslassen,“ meinte da Hans Und die Knaben -drangen sofort in den Stall ein, schirrten die Füchse los und führten -sie ins Freie. Die Tiere drängten aufgeregt dem Feuer zu. Theobald -wurde dabei zu Boden geschleudert und schlug seinen Kopf gegen einen -Stein. Hans und Peter wurden gegen die Wand gedrückt und scheuerten -sich das Gesicht blutig.</p> - -<p>Noch rechtzeitig kam ihnen ihr Freund von gestern, der Kutscher, zu -Hilfe und brachte die Pferde, unterstützt durch einige Männer von der -Straße, ins Freie.</p> - -<p>„Es brennt an verschiedenen Stellen in der Stadt,“ hörte Hans jene -Leute rufen, und atmete erleichtert auf. Der Kutscher hatte ihn eben, -anscheinend nicht recht bei Sinnen, angefahren: „Ihr vermalefitzten -Lausbuben, habt ihr vielleicht das Feuer angemacht!“ — Fast wären sie -also noch in den Geruch von Brandstiftern gekommen.</p> - -<p>Theobald hatte sich inzwischen die Wunde mit ein paar Taschentüchern -umwickelt und ging auf das Wohnhaus zu, indem er Peter erklärte: Er -werde jetzt den Onkel „Zehnmal um die Ecke“ retten, ihn auf seinen -Händen ins Freie tragen und im Namen seiner Familie Versöhnung feiern.</p> - -<p>Als Theobald in den Hausflur eingetreten war, bemerkte er gleich auf -der Spitze der Treppe im ersten Stock einen Herrn im Nachtgewand und -rief ganz bescheiden hinauf: „Herr Doktor, kommen Sie gefälligst. Es -brennt bei Ihnen. Soll ich Ihnen helfen? Es ist nicht gefährlich.“</p> - -<p>„Aber Theobald, Junge, wo kommst du her?“ tönte da oben eine -wohlbekannte Stimme herunter. Theobald stutzte. Dann hatte er den Rufer -erkannt. Es war sein Onkel Hermann, der Vater von Hans Und in einigen -Sprüngen war er bei ihm.</p> - -<p>„Du hier, Onkel?“ rief er.</p> - -<p>„Ja, du hier? das frag ich dich auch, Theobald,“ antwortete jener ganz -betroffen. „Wo kommst du her?“</p> - -<p>„Auf einer Wandertour, Onkel. Hans ist auch da.“</p> - -<p>Und in demselben Augenblick kam der Knabe, von dem eben die Rede war, -im Sturm die Treppe hinauf und rannte den Vater fast über den Haufen. -Und nun erschien auch die Frau Doktor und war ganz bestürzt, als sie in -dem unheimlichen Lichtschein, der das Treppenhaus erleuchtete, ihren -Sohn gewahrte. —</p> - -<p>Bis vor einer Stunde noch war sie mit ihrem Mann und dem Be<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span>sitzer des -Hauses, dem Doktor, aufgewesen, und nun war sie im ersten Schlaf durch -einen furchtbaren Lärm emporgerissen worden.</p> - -<p>Gerade wollten Theobald und Hans den Doktorsleuten die nötigen -Erklärungen über ihr Hiersein geben, da rannte ein dicker, alter Herr -im Sturm an der Gruppe vorüber und warf sich seinen Rock über.</p> - -<p>Es war der Doktor Brettelkern.</p> - -<p>„Entschuldigt, ich muß mit in den Betrieb,“ rief Theobald und folgte -seinem Onkel in den Hof. Schreiende Menschen drängten hier zur Tür -herein, die Feuerwehr rasselte heran, die Pumpen wurden in Tätigkeit -gesetzt und die Spritzen auf das Haus gerichtet.</p> - -<p>Theobald suchte sofort irgendwo einzugreifen und half beim Pumpen mit -einem Eifer, als hänge das Geschick Wildershausens von seinen Muskeln -ab. Mitten im schönsten Arbeiten fühlte er plötzlich, wie ihm jemand -die Taschentücher vom Kopfe riß, ein dickes Stück Watte mit einer -brennenden Flüssigkeit in die Wunde stopfte und dann seinen Kopf mit -einer Gazebinde so fest umwickelte, daß er sich zwischen die Kinnbacken -eines Riesennußknackers geraten glaubte.</p> - -<p>Es war der Doktor Brettelkern, der ihn verbunden hatte.</p> - -<p>Unverzagt pumpte Theobald weiter, unterstützt von Hans und Peter.</p> - -<p>Als nach einer Stunde der Brand gelöscht war und die Menschen sich vom -Hofe verzogen hatten, fanden sich der Besitzer des Hauses und seine -Gäste, die Doktorsleute von Schwarzenbrunn und die drei Knaben aus der -Stadt, in dem gemütlichen Eßzimmer ein, wo sie sich an einer Tasse -warmen Kaffees stärkten, die ihnen die Haushälterin des Doktors schnell -bereitet hatte. Das Fragen und Erklären nahm nun kein Ende.</p> - -<p>Hans, der sich schon die zwei letzten Stunden über den Kopf zerbrochen -hatte, warum seine Eltern wohl hier seien und allerlei Ahnungen -verspürte, erfuhr nun, daß sein Vater gekommen sei, um mit dem Doktor -Brettelkern über seine Praxis in Wildershausen zu reden, die er in -aller Kürze übernehmen werde. — Von Pfingsten ab sei der Doktorsleute -und ihrer Kinder Wohnort Wildershausen.</p> - -<p>Da stieg dem Knaben das Blut so heiß zu Kopf, daß seine Schrammen im -Gesicht wie Feuer brannten. Für die nächste halbe Stunde kam ihm kein -Wort über die Lippen.</p> - -<p>Theobald aber betrachtete fortwährend mit sichtlichem Wohlgefallen sein -zu einem Riesenkürbis angewachsenes Haupt im Spiegel ihm gegenüber.</p> - -<p>Was Schöneres konnte er sich nicht denken, als hier sozusagen als Held -zu sitzen.</p> - -<p>Am schweigsamsten war der Hausherr, der Doktor Brettelkern. Aber -schließlich riß er sich von seinen Gedanken los, sprang auf und meinte<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span> -kopfschüttelnd: „Da hört man zwanzig Jahre nichts von einander. Und nun -sieht man sich so wieder. Der ist genau wie sein Vater,“ meinte er, auf -Theobald zeigend. „Der redete einen auch tot und lebendig.“</p> - -<p>Seines Neffen Gesicht rötete sich vor Stolz, und er erklärte: „Ja, die -Mutter sagt auch immer, Sepp, das haben sie von dir.“</p> - -<p>Bis zum Sonntag blieb nun die Gesellschaft noch im Hause des -gastfreundlichen Doktors. Früh am Morgen sollte eigentlich der -Aufbruch in die Stadt vor sich gehen, aber da die Knaben in einen -Murmeltierschlaf versunken und nicht aufzuwecken waren, bat ihr -Gastgeber, daß man die Reise noch bis zum Mittag verschiebe. So kam es, -daß Hansens Eltern erst gegen Abend von Susens Geburtstag im Hause der -Frau Cimhuber eintrafen.</p> - -<p>Kaum hatte Suse, die in inniger Umarmung mit Toni auf dem Sofa saß -und die Depesche, die jene gebracht hatte, durchlas, die Stimme ihres -Vaters und ihrer Mutter vernommen, da fuhr sie mit einem Jubelruf in -die Höhe und stürmte auf den Flur zur Begrüßung.</p> - -<p>Sie wollte ihren Vater und ihre Mutter nicht mehr loslassen. Sie -umarmte sie immer wieder. Auch Hans zog sie an sich.</p> - -<p>Aber der Bruder geriet gleich in Ursels Fänge, die ihn mit Fragen -bestürmte. Sie hatte nur ein Auge für ihn.</p> - -<p>„Lebst du noch Hans?“ rief sie. „Gelt, du bist’s doch gewesen, von dem -in der Zeitung geschrieben stand?“ fragte sie ihn. „Komm her und sieh -mich an. Dein ganzes Gesicht ist ja zerkratzt. Gott sei Dank, daß du -noch lebst.“ —</p> - -<p>„Seit wann soll ich denn gestorben sein?“ fragte Hans erstaunt.</p> - -<p>„Seit’s in der Zeitung stand,“ erwiderte Ursel. „So was Ähnliches hab’ -ich gelesen.“</p> - -<p>Nachdem der erste Begrüßungssturm vorüber war und Suse an Ursels mildem -Gesichtsausdruck merkte, daß Hader und Groll von ihr gewichen waren, -wagte sie verstohlen ihren Arm unter den der alten Magd zu schieben und -zu fragen: „Sind Sie mir böse? Haben Sie alles vergessen?“</p> - -<p>„Das wäre ja eine Sünde, jetzt böse zu sein,“ entgegnete Ursel. -„Wir wollen froh sein, daß Hans wieder da ist, und nicht an unsere -Fehltritte denken. Wir wollen alles vergessen. Unser Kummer ist jetzt -nebensächlich.“</p> - -<p>Und sie rief die beiden in ihr Zimmer und holte aus ihrer Kommode ein -silbernes Kreuz hervor, das sie Suse zum Geburtstag bestimmt, heute -aber in ihrem Zorn unterschlagen hatte, und band es dem Doktorskind um. -Und dann griff sie nach der berühmten, von Hans schon beschriebenen -Marzipantorte, die mitten auf ihrem Bett stand, und reichte<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span> sie den -beiden hin. Arm in Arm mit ihrer gütigen Geberin traten die Geschwister -wieder vor das Angesicht ihrer Eltern, und so erfuhren diese nie, wie -heftig die Wirbelstürme gewesen waren, die in der vergangenen Woche die -Freundschaft des Kleeblattes hin- und hergezaust hatten.</p> - -<p>Den Abend verbrachten die Doktorsleute nun mit ihren Kindern bei -Theobalds Eltern in der Stadt, und erst am andern Tage setzten sie -Frau Cimhuber von all den Beschlüssen, die sie in letzter Zeit gefaßt -hatten, in Kenntnis.</p> - -<p>Nach dem Städtchen Wildershausen wollten sie verziehen.</p> - -<p>Ihre Kinder wollten sie zu sich nehmen, da in ihrem neuen Wohnort -höhere Schulen seien.</p> - -<p>Frau Cimhuber traf die Nachricht wie ein Schlag.</p> - -<p>„Jetzt hat man sich gerade an die Kinder gewöhnt, und jetzt soll man -sie wieder hergeben,“ sagte sie wehmütig vor sich hin. „Scheiden und -Meiden, das ist das Leben.“</p> - -<p>Ursel weinte drei Tage lang, als sie die traurige Nachricht erfahren -hatte. Dann aber faßte sie sich und sagte zu Hans und Suse: „Ja, es ist -viel besser für euch, daß ihr fortgeht. Besonders für dich, Suse. Ich -habe es jetzt gesehen. Euer Vater ist ein ernster Mann. Er wird euch -zum Ernst erziehen. Suse, nächstes Jahr wirst du konfirmiert. Da hast -du eine strenge Aufsicht nötig und eine ernste Umgebung.“</p> - -<p>Die schwersten Stunden aber standen Ursel noch bevor. Das waren die -Wochen nach dem Fortziehen der Kinder. Mittags, wann die Zeit gekommen -war, zu der die beiden sonst aus der Schule zu kommen pflegten, horchte -sie oft, ob nicht ein stürmisches Klingeln erschalle und ob nicht zwei -fröhliche Stimmen riefen: „Was gibt’s heute zu essen? Was Feines? Was -Gutes?“ Oder sie meinte zuweilen zwei Hände zu fühlen, die sich ihr von -rückwärts um die Augen legten und jemand fragen zu hören: „Wer ist’s, -Hans oder Suse?“</p> - -<p>Am Tage aber, an dem sonst Herr Schnurr zu erwarten war, übermannte sie -häufig eine große Wehmut. Wie im Traum befangen, rückte sie dann die -Stühle und Tische in der Negerstube zurecht und dachte voll Sehnsucht -der Zeiten, in denen er hier wie ein verzückter Derwisch seine Tänze -aufgeführt hatte.</p> - -<p>Ja, die Einsamkeit im Cimhuberschen Haus wurde mit der Zeit so drückend -für sie, daß sie nicht ruhte, bis ihre Herrin neue Zöglinge aufgenommen -hatte.</p> - -<p>Und von ihren Lippen ertönte zur Ermunterung der eben eingezogenen -Kinder ständig der Ausspruch: „Oh, Hans und Suse hättet ihr sehen -sollen! Ja, Hans und Suse. Die waren artig, die waren gut! Die hatten -ein Herz wie Gold! Und so fleißig, so gescheit waren sie! Der Hans<span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span> -konnte geigen wie die Engel im Himmel! Und an den Augen sahen sie einem -ab, was sie einem helfen konnten. Und immer waren sie vergnügt. Bei -denen war’s immer Sonntag. Nie ließen sie die Ohren hängen. Hans hatte -sich einmal den Daumen gebrochen in der Turnstunde und dazu pfiff er...“</p> - -<p>Es war ein Glück, daß die Doktorskinder die Lobpreisungen nicht hörten. -Wie hoch sonst Suse wohl ihre Nase getragen hätte.</p> - -<p>Daheim aber in Schwarzenbrunn im Doktorshaus wurde es still, sehr -still. Für lange Zeit kam kein Arzt mehr in das einsame Dorf, und das -Haus stand leer. Die Fensterläden blieben geschlossen. Der Hof war -vereinsamt. Büsche und Blumen wuchsen wild im Garten. Es wurde ein -Märchengarten daraus.</p> - -<p>Babette Buntrock und die übrigen Hühner waren mit ausgewandert nach -Wildershausen. Minnette und das Käterle hatten bei Rosel, die sich -kürzlich verheiratet hatte, eine Heimat gefunden. Michel war zum -Förster gekommen. — Der Aufenthalt in der Stadt tauge ja doch nichts -für ihn, hatte der Doktor behauptet. Es sei die reine Quälerei.</p> - -<p>So konnte der tüchtige Waldbursche Michel denn jetzt ununterbrochen in -seinem geliebten Forst bleiben, wo es ihm so wohl gefiel. Zum großen -Glück hatte der Förster auch keine Kinder. Und so brauchte die Bracke, -die mit zunehmendem Alter immer hochmütiger und abwehrender gegen die -Menschen geworden war, sich ihre unangenehmen Aufdringlichkeiten und -albernen Zärtlichkeiten auch nicht mehr gefallen lassen. — Zuweilen -führte ihn sein Weg am Doktorshaus vorüber. Stolz kam er die Straße -herunter, seinen Schwanz trug er wagrecht abstehend wie ein Lineal. -Einmal blieb er stehen und sah zum Hause hinüber, als entsinne er sich -vergangener Zeiten. Doch niemand könnte sagen, ob das wirklich der Fall -war.</p> - -<p>Minnette und das Käterle dehnten ihre Streifzüge noch immer auf den Hof -und die Scheune ihres alten Wohnhauses aus. Aber abends fanden sie sich -regelmäßig bei Rosels Milchtöpfen ein.</p> - -<p>Manchmal saßen sie auch noch auf der hintern Gartenmauer, wo im -Frühjahr der Schlehdorn schneeweiß leuchtete, und sonnten sich wie in -den Zeiten, als Hans und Suse noch hier waren.</p> - -<p>Und die alte Tanne, die dort hinten in der Ecke stand, rauschte noch -immer so geheimnisvoll wie früher, als das kleine Mädchen zu ihrem -Bruder gesagt hatte: „Hörst du, Hans, jetzt kommt der Wind. Jetzt fängt -die Tanne leise zu singen an. Und der Wind erzählt ihr was. Ein feines -Lied. Das hat die Mutter gesagt. Hörst du, summ, summ...“</p> - -<hr class="r10" /> - - - - - - - - -<pre> - - - - - -End of Project Gutenberg's Hans und Suse in der Stadt, by Trude Bruns - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT *** - -***** This file should be named 60878-h.htm or 60878-h.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/6/0/8/7/60878/ - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -http://www.pgdp.net - - -Updated editions will replace the previous one--the old editions -will be renamed. - -Creating the works from public domain print editions means that no -one owns a United States copyright in these works, so the Foundation -(and you!) can copy and distribute it in the United States without -permission and without paying copyright royalties. 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Redistribution is -subject to the trademark license, especially commercial -redistribution. - - - -*** START: FULL LICENSE *** - -THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE -PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK - -To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free -distribution of electronic works, by using or distributing this work -(or any other work associated in any way with the phrase "Project -Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project -Gutenberg-tm License (available with this file or online at -http://gutenberg.org/license). - - -Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm -electronic works - -1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm -electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to -and accept all the terms of this license and intellectual property -(trademark/copyright) agreement. 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Information about the Project Gutenberg Literary Archive -Foundation - -The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit -501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the -state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal -Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification -number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at -http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg -Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent -permitted by U.S. federal laws and your state's laws. - -The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. -Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered -throughout numerous locations. Its business office is located at -809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email -business@pglaf.org. 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