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-Project Gutenberg's Berlins Drittes Geschlecht, by Magnus Hirschfeld
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Berlins Drittes Geschlecht
-
-Author: Magnus Hirschfeld
-
-Release Date: July 27, 2020 [EBook #62772]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BERLINS DRITTES GESCHLECHT ***
-
-
-
-
-Produced by Delphine Lettau, Mark Akrigg and the online
-Distributed Proofreaders Canada team at
-http://www.pgdpcanada.net
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-Berlins Drittes Geschlecht
-
-von
-
-Dr. Magnus Hirschfeld
-
-7. Auflage
-
-
- Motto: »Die grosse Überwinderin aller Vorurteile ist nicht die
- Humanität, sondern die Wissenschaft.«
-
- Berlin und Leipzig
- Verlag von Hermann Seemann Nachfolger G. m. b. H.
-
- Großstadt-Dokumente
- Band 3. Herausgegeben von Hans Ostwald
-
-
-
-
- Vorwort.
-
-
- Als ich von =Hans Ostwald= aufgefordert wurde, für die
- von ihm herausgegebenen Großstadtdokumente den Band zu
- bearbeiten, welcher das Leben der Homosexuellen in Berlin
- behandeln sollte, glaubte ich mich diesem Wunsche nicht entziehen
- zu dürfen.
-
- Wenn ich auch das Ergebnis meiner Untersuchungen
- auf dem Gebiete der Homosexualität bisher nur in wissenschaftlichen
- Fachorganen, besonders in den Jahrbüchern für
- sexuelle Zwischenstufen, publiziert hatte, so war ich mir doch
- lange darüber klar, daß die Kenntnis eines Gegenstandes, der
- mit den Interessen so vieler Familien aller Stände verknüpft
- ist, nicht dauernd auf den engen Bezirk der Fachkollegen
- oder auch nur der akademischen Kreise beschränkt bleiben
- würde und könnte.
-
- Dies zugegeben, leuchtet es gewiß ein, daß die
- populär-wissenschaftliche Darstellung in einer so diffizilen
- Frage am geeignetsten von Seiten derjenigen erfolgen sollte,
- die sich vermöge ausgedehnter wissenschaftlicher Forschungen
- und Erfahrungen und auf Grund unmittelbarer Anschauung
- die erforderliche Qualifikation und Kompetenz erworben haben.
-
- Ich war in der folgenden Arbeit bemüht, ein recht naturgetreues
- und möglichst vollständiges Spiegelbild von Berlins
- „drittem Geschlecht“, wie man es vielfach, wenn auch nicht
- gerade sehr treffend bezeichnet hat, zu geben. Ich war bestrebt,
- -- ohne Schönfärberei, aber auch ohne Schwarzmalerei --
- alles streng wahrheitsgemäß unter Vermeidung näherer
- Ortsbezeichnungen so zu schildern, wie ich es zum größten
- Teil selbst wahrgenommen, zum kleinen Teil von zuverlässigen
- Gewährsmännern erfahren habe, denen an dieser Stelle für
- das mir erwiesene Vertrauen zu danken, ich als angenehme
- Pflicht empfinde.
-
- Manchem wird sich hier innerhalb der ihm bekannten
- Welt eine neue Welt auftun, deren Ausdehnung und deren
- Gebräuche ihn mit Erstaunen erfüllen werden.
-
- Man hat gelegentlich die Befürchtung ausgesprochen, es
- könnte durch populäre Schriften für die Homosexualität selbst
- „Propaganda“ gemacht werden. So sehr eine gerechte Beurteilung
- der Homosexuellen angestrebt werden muß, so
- wenig wäre dieses zu billigen. Die Gefahr liegt aber nicht
- vor. Die Vorzüge der normalsexuellen Liebe, wie sie --
- um nur von vielen einen zu nennen -- vor allem im Glücke
- der Familie zum Ausdruck gelangen, sind denn doch so
- gewaltige, die Nachteile, die aus der homosexuellen Anlage
- erwachsen, so außerordentliche, daß, wenn ein Wechsel der
- Triebrichtung möglich wäre, er gewiß für die Homosexuellen,
- nicht aber für die Normalsexuellen in Betracht kommen würde.
-
- Tatsächlich hat aber die wissenschaftliche Beobachtung
- in Übereinstimmung mit der Selbsterfahrung sehr zahlreicher
- Personen gelehrt, daß ein derartiger Umschwung
- nicht möglich ist, da nichts dem Charakter und Wesen eines
- Menschen so adäquat und fest angepaßt ist, wie die nach
- Ergänzung der eigenen Individualität zielende Richtung
- des Liebes- und Geschlechtstriebes.
-
- Ob und inwieweit die Handlungen der Homosexuellen
- unter den Begriff von Schuld und Verbrechen fallen, ob
- und inwieweit ihre Strafverfolgung zweckmäßig oder notwendig
- erscheint, inwieweit diese überhaupt möglich ist --
- diesen Schluß möge am Ende meines Berichtes der Leser
- seinerseits ziehen.
-
- =Charlottenburg=, den 1. Dezember 1904.
-
- _Dr._ =Magnus Hirschfeld=.
-
-
-
-
-Berlins Drittes Geschlecht
-
-
-Wer das Riesengemälde einer Weltstadt, wie Berlin nicht an der
-Oberfläche haftend, sondern in die Tiefe dringend erfassen will, darf
-nicht den homosexuellen Einschlag übersehen, welcher die Färbung des
-Bildes im einzelnen und den Charakter des Ganzen wesentlich beeinflußt.
-
-Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, daß in Berlin mehr Homosexuelle
-geboren werden, wie in der Kleinstadt oder auf dem Lande, doch liegt
-die Vermutung nahe, daß bewußt ober unbewußt diejenigen, welche von
-der Mehrzahl in nicht erwünschter Form abweichen, dorthin streben,
-wo sie in der Fülle und dem Wechsel der Gestalten unauffälliger und
-daher unbehelligter leben können. Das ist ja gerade das Anziehende
-und Merkwürdige einer Millionenstadt, daß das Individuum nicht der
-Kontrolle der Nachbarschaften unterliegt, wie in den kleinen Orten, in
-denen sich im engen Kreise die Sinne und der Sinn verengern. Während
-dort leicht verfolgt werden kann und eifrig verfolgt wird, wann, wo
-und mit wem der Nächste gegessen und getrunken hat, spazieren und zu
-Bett gegangen ist, wissen in Berlin die Leute oft im Vorderhause nicht,
-wer im Hinterhause wohnt, geschweige denn, was die Insassen treiben.
-Gibt es hier doch Häuser, die an hundert Parteien, an tausend Menschen
-beherbergen.
-
-Was sich in der Großstadt dem Nichtkenner verbirgt, tritt, weil es sich
-ungezwungener gibt, dem Kenner um so leichter entgegen.
-
-
-Wer gut unterrichtet ist, bemerkt auf den Straßen, in den Lokalen
-Berlins bald nicht nur Männer und Frauen im landläufigen Sinn, sondern
-vielfach auch Personen, die von diesen in ihrem Benehmen, oft sogar
-in ihrem Äußeren verschieden sind, so daß man geradezu neben dem
-männlichen und weiblichen von einem dritten Geschlecht gesprochen hat.
-
-Ich finde diesen Ausdruck, der schon im alten Rom gebräuchlich war,
-nicht gerade glücklich, aber immerhin besser, als das jetzt so viel
-angewandte Wort homosexuell (gleichgeschlechtlich), weil dieses der
-weit verbreiteten Anschauung Nahrung gibt, es müßten, wenn irgendwo
-mehrere Homosexuelle zusammen sind, sexuelle Akte vorgenommen oder
-doch wenigstens beabsichtigt werden, was den Tatsachen in keiner Weise
-entspricht.
-
-Man möge, wenn in den folgenden Schilderungen von Homosexuellen die
-Rede ist, nicht an geschlechtliche Handlungen irgend welcher Art
-denken. Kommen diese vor, so entziehen sie sich nicht nur wegen ihrer
-Strafbarkeit, sondern vor allem wegen des natürlichen Scham- und
-Sittlichkeitsgefühls, welches bei den Homosexuellen ebenso ausgeprägt
-ist wie bei den Normalsexuellen, der Beobachtung, keineswegs sind
-sie das Hauptsächliche, sie fehlen sogar häufig. Das Wesentliche
-ist das Wesen des Uraniers -- so wollen wir in dieser Schrift den
-homosexuell Empfindenden mit Ulrichs nennen -- sein Verhalten
-gegenüber dem männlichen und weiblichen Geschlecht sind die aus seiner
-Naturbeschaffenheit sich ergebenden Sympathieen und Antipathieen.
-
-Aber selbst für den, der viele typische Eigenschaften urnischer
-Menschen kennt, bleiben doch sehr viele verborgen, sei es, weil ihnen,
-was nicht selten vorkommt, tatsächlich bemerkbare Anzeichen fehlen,
-sei es, weil sie ihre Lebenskomödie, die oft mehr eine Lebenstragödie
-ist, mit großem Geschick spielen, indem sie sich den Normalen in allen
-Gewohnheiten anpassen und ihre Neigungen wohlweislich zu verheimlichen
-wissen. Die meisten legen viel Wert darauf, daß „man ihnen nichts
-anmerkt“. Ich kenne in Berlin Homosexuelle, auch solche, die durchaus
-nicht enthaltsam sind, welche Jahre, Jahrzehnte, ja ihr ganzes Leben
-lang ihre Umgebung über ihre Natur täuschten; besonders verbreitet
-ist es auch, wenn den Kameraden über Liebesabenteuer berichtet wird,
-ähnlich manchen Übersetzern antiker Schriftsteller, die männliche
-Person in eine weibliche umzuwandeln.
-
-Die örtlichen Verhältnisse Berlins erleichtern diese Umwandlung
-ungemein. Wer im Osten wohnt, dort seine geschäftlichen und
-verwandtschaftlichen Beziehungen hat, kann sich mit seinem Freunde
-jahrelang im Süden treffen, ohne daß man in seiner Gegend etwas
-davon weiß. Es gibt viele Berliner im Westen, die nie den Wedding
-sahen, viele am Kreuzberg, die nie das Scheunenviertel betraten. Ich
-behandelte lange eine alte Berlinerin, die die Witwe eines Musikers
-war; sie hatten ein einziges Kind gehabt, einen Sohn, der nicht gut
-tun wollte, früh hinter die Schule ging, Tage lang fortblieb und
-vagabondierte. Die Eltern suchten ihn immer wieder, schließlich als
-er 21 Jahre alt war, verloren sie die Geduld und ließen ihn laufen.
-26 Jahre lang hatte die Mutter nichts mehr von ihrem Jungen gehört
-und gesehen; sie hatte die Siebzig überschritten, ihr Mann war längst
-gestorben, da tauchte er eines Tages wieder bei ihr auf, ein vorzeitig
-gealterter 47jähriger Mann mit struppigem Vollbart, ein Pennbruder,
-dessen „Organismus durch Alkohol vergiftet“ war; er wollte fragen,
-ob sie nicht noch „von Vatern ein paar alte Kleider hätte“. Das
-Eigenartige war, daß Mutter und Sohn in den 26 Jahren Berlin nie
-verlassen hatten. In einer Kleinstadt würde ein solcher Fall nicht
-möglich sein.
-
-Man sollte es kaum glauben, wie viele Personen in der preußischen
-Hauptstadt, die als ein Muster der Ordnung gilt und es auch im
-Vergleich mit anderen Weltstädten ist, leben, ohne daß die Behörden
-von ihnen wissen. Ich habe mit Erstaunen wahrgenommen, wie lange sich
-oft ausgewiesene Ausländer unbeanstandet in Berlin aufhalten, noch
-mehr, wie Personen, die polizeilich gesucht werden, Monate und Jahre
-unangemeldet hier verweilen, nicht etwa in entlegenen Stadtvierteln,
-sondern häufig auf den Sammelplätzen des Verkehrs, wo man sie am
-wenigsten vermutet.
-
-Wart Ihr schon einmal im Zimmer 361 auf dem Polizeipräsidium am
-Alexanderplatz? Es ist eine der merkwürdigsten Stätten in dieser an
-eindrucksvollen Örtlichkeiten gewiß nicht armen Stadt. Hoch über den
-Dächern der Großstadt gelegen, befindet sich dieser Raum inmitten einer
-Flucht von Zimmern, in denen alphabetisch geordnet zehn Millionen
-Blätter aufgestapelt sind. Jedes Blatt bedeutet ein Menschenleben.
-Die noch leben, liegen in blauen, die Verstorbenen ruhen in weißen
-Pappkartons. Jedes Blatt enthält Namen, Geburtsort und Geburtstag
-von jeder Person, die seit dem Jahre 1836 in einem Berliner Hause
-eine Wohnung oder ein Zimmer inne hatte. Alle An- und Abmeldungen,
-jeder Wechsel der Wohnungen wird sorgsam verzeichnet. Es gibt Bogen,
-die dreißig Wohnungen und mehr enthalten, andere, auf denen nur eine
-steht; es sind Personen darunter, die ihre Berliner Laufbahn in
-einem Keller des Ostens begannen und im Tiergartenviertel endeten,
-und andere, die anfangs vorn im ersten Stock wohnten und im Hof vier
-Treppen ihre Tage beschlossen. Nach Zimmer 361 werden alle diejenigen
-verwiesen, die in Berlin jemanden suchen. Von morgens 8 bis abends
-7 Uhr wandern Hunderte und Hunderte, im Jahre viele Tausende die
-hohen steinernen Treppen empor. Jede Auskunft kostet 25 Pfennig. Es
-kommen nicht nur solche, die Geld zu fordern haben, Leute, für die ein
-Mensch erst dann Wert bekommt, wenn er ihnen etwas schuldet, nein, so
-mancher klimmt hinauf, der aus fernen Landen heimgekehrt ist und nun
-nachforscht, ob und wo noch einer seiner Verwandten und Jugendgefährten
-lebt. Die ersten Jahre schrieben sie einander noch, dann schlief der
-Briefwechsel ein, und nun hat der Fremdling noch einmal die alte Heimat
-aufgesucht. Bangen Herzens schreibt er den Namen und die letzte ihm
-bekannte Wohnung seiner Mutter auf den Auskunftszettel -- sie ist lange
-verstorben; er fragt nach Brüdern, Schwestern und Freunden, alle, alles
-dahin, und tief bekümmert wandert der Vereinsamte die schmalen Treppen
-wieder hinunter. Wie viele erkundigen sich da oben vergebens, Eltern,
-die verlorene Söhne suchen, Schwestern, die nach ihren Brüdern fragen,
-und Mädchen, die nach dem Vater des Kindes forschen, dessen Zukunft
-in ihrem Schoße ruht. „Ist nicht gemeldet“, „unbekannt verzogen,“
-„ausgewandert“, „verstorben,“ meldet der stets gleichmütige Beamte,
-wenn er nach einer halben Stunde wiederkehrt und die Wartenden aufruft,
-welche still, ernst und verzagt, nur selten frohen Mutes herabsteigen,
-um wieder unterzutauchen in das Häuser- und Menschenmeer des gewaltigen
-Berlin.
-
-Die Leichtigkeit, in einer Stadt von 2½ Millionen Einwohnern unsichtbar
-zu versinken, unterstützt sehr jene Spaltung der Persönlichkeit,
-wie sie auf sexuellem Gebiete so häufig vorkommt. Der Berufsmensch
-und der Geschlechtsmensch, der Tag- und Nachtmensch sind oft zwei
-grundverschiedene Persönlichkeiten in einem Körper, der eine stolz
-und ehrbar, sehr vornehm und gewissenhaft, der andere von allem das
-Gegenteil. Das gilt für Homosexuelle ebenso wie für Normalsexuelle. Ich
-kannte einen urnischen Rechtsanwalt, der, wenn er abends sein Bureau im
-Potsdamer Viertel oder eine Gesellschaft seiner Kreise verlassen hatte,
-seine Stammkneipe im südlichen Teil der Friedrichstadt aufsuchte, eine
-Kaschemme, in der er mit dem Revolverheini, dem Schlächterherrmann,
-dem Amerikafranzl, dem tollen Hunde und anderen Berliner Apachen die
-halben Nächte spielend, trinkend und lärmend verbrachte. Die rohe Natur
-dieser Verbrecher schien auf ihn eine unwiderstehliche Anziehungskraft
-auszuüben. Noch weiter ging ein anderer, ein früherer Offizier, der
-einer der ersten Familien des Landes angehört. Dieser vertauschte zwei-
-bis dreimal die Woche abends den Frack mit einer alten Joppe, den
-Zylinder mit einer Schiebermütze, den hohen Kragen mit einem bunten
-Halstuch, zog sich den Sweater, Schiffer- oder Manchesterhosen und
-Kommißstiefel an und trieb sich etliche Stunden in den Destillen des
-Scheunenviertels umher, deren Insassen ihn für Ihresgleichen hielten.
-Um vier Uhr früh fand er sich im Hammelstall, einer vielbesuchten
-Arbeitslosenkneipe unweit des Bahnhofs Friedrichstraße, zum
-„Kaffeestamm“ ein, nahm sein Frühstück für zehn Pfennig mit den
-ärmsten Vagabonden, um nach einigen Stunden Schlaf wieder zum Leben
-eines untadeligen Kavaliers zu erwachen.
-
-Auch eine homosexuelle Dame ist mir erinnerlich, die in einem ganz
-ähnlichen Doppelleben oft als Köchin die Tanzlokale von Dienstboten
-besuchte, in deren Mitte sie sich außerordentlich wohl fühlte.
-
-Besonders merkwürdig ist diese Halbierung oder -- wenn man will --
-Verdoppelung der Persönlichkeit in denjenigen Fällen, wo sie zugleich
-mit einer Spaltung in zwei Geschlechter verbunden ist.
-
-Ich besitze die Photographie eines Mannes in eleganter Damentoilette,
-der jahrelang unter den Weibern der Pariser Halbwelt eine Rolle
-spielte, bis durch einen Zufall ans Licht kam, daß „sie“ in
-Wirklichkeit ein Mann und zwar nicht einmal ein homosexueller Mann war.
-Auch in Berlin sind wiederholt Männer aufgegriffen, die der weiblichen
-Prostitution oblagen. Mehr als eine Frau ist mir in Berlin bekannt, die
-zu Hause vollkommen als Mann lebt. Eine der ersten, die ich sah, war
-mir während einer Feier in der Philharmonie durch ihre tiefe Stimme und
-ihre männlichen Bewegungen aufgefallen. Ich machte ihre Bekanntschaft
-und bat, sie besuchen zu dürfen. Als ich am folgenden Sonntagnachmittag
-in der Dämmerstunde an ihrer Tür klingelte, öffnete mir ein junger
-Mann, der von einem Hunde umsprungen wurde, die dampfende Zigarre in
-der Hand hielt und nach meinem Begehr fragte. „Ich wünsche, Fräulein
-X. zu sprechen, bringen Sie ihr, bitte, meine Karte.“ „Treten Sie nur
-näher,“ erwiderte lachend der junge Bursche, „ich bin es ja selbst.“
-Ich erfuhr, daß das Mädchen in ihrer Häuslichkeit vollkommen als Mann
-lebte; es war eine wackere Person, die den Kampf mit dem Leben tapfer
-aufgenommen, manche Heirat, durch die sie „gut versorgt“ worden wäre,
-abgelehnt hatte, weil sie „keinen Mann betrügen“ wollte.
-
-Die Spaltung der Persönlichkeit kann so weit gehen, daß der Tagesmensch
-sich über die Lebensführung seines nächtlichen Ichs sittlich entrüstet
-und heftig dagegen eifert. Es ist nicht immer bloße Heuchelei gewesen,
-wenn jemand, der sich in den schärfsten Ausdrücken gegen die
-Homosexualität wandte, eines Tages mit dem § 175 R.-Str.-G.-B. in
-Konflikt geriet.
-
-Wenn übrigens auch in Berlin trotz der verhältnismäßigen Bequemlichkeit
-und Sicherheit sexuellen Verkehrs eine große Anzahl Uranier enthaltsam
-leben -- was zweifellos der Fall ist --, so geschieht dies weniger
-aus Angst, als weil ihre sonstige Charakterveranlagung sie zur
-Enthaltsamkeit führt und ihnen dieselbe ermöglicht. Viele dieser
-Homosexuellen leben als Junggesellen völlig einsam; manche bringen
-durch intensive geistige Beschäftigung ihren Sexualtrieb zum Schweigen,
-einige gelten als Sonderlinge, haben auch in der Tat häufig etwas
-Schrullenhaftes, Altjüngferliches, andere entwickeln einen großen
-Sammeleifer, der sich nicht selten auf Gegenstände erstreckt, die
-mit ihrer Neigung in einem gewissen Zusammenhang stehen; so weiß
-ich von einem urnischen Prinzen in Berlin, welcher mit einer wahren
-Leidenschaft Soldaten-Darstellungen aller Zeiten und Länder sammelte.
-Wieder andere suchen und finden eine Ablenkung und Befriedigung ihres
-sexuellen Triebes darin, daß sie Stätten aufsuchen, Schwimmbäder,
-Turnhallen, Sportplätze, wo sie Gelegenheit haben, sich am Anblick
-ihnen sympathischer Gestalten zu erfreuen, oder aber sie schließen sich
-aus denselben Grunde Vereinen an. Namentlich in den eingeschlechtlichen
-Vereinen Berlins, wie den Turnvereinen und den Vereinen christlicher
-junger Männer, ebenso auch in den Frauenklubs und Frauenvereinen --
-vom Dienstboten- bis zum Stimmrechtsverein -- sind urnische Mitglieder
-nichts Seltenes, oft ist sogar das urnische Element die treibende Kraft
-des Vereins. Vielfach sind sich die Betreffenden ihrer Urningsnatur
-gar nicht oder nur wenig bewußt und werden erst aufmerksam, wenn ein
-dritter, meist mehr im Scherz als im Ernst, Bemerkungen macht, wie.
-„Du benimmst Dich ja wie ein warmer Bruder.“
-
-Vor einiger Zeit suchte mich einmal ein Mitglied eines spiritistischen
-Vereins auf, um sich zu vergewissern, ob er homosexuell sei; ein
-Vereinsbruder habe ihm bei einem Streite zugerufen: „Schweig, Du
-Zwitter.“ Dieser stark feminine und offenbar recht nervöse Jüngling
-berichtete mir, daß er im gewöhnlichen Leben weder zum Weibe, noch zum
-Manne sinnliche Regungen verspüre, nur wenn er in den Trance-Zustand
-verfiele, was leicht der Fall sei, fühle er sich als eine Indierin und
-empfände als solche eine starke Liebe zu einem seiner Vereinsbrüder.
-
-Trotzdem sich die Urninge in ihren Vereinen meist gut zu beherrschen
-wissen, kommt es doch hie und da zum „Skandal“, namentlich wenn sich
-unter der Wirkung leichter Alkoholmengen die Zügel lockern, welche sie
-ihrer wahren Natur sonst anzulegen wissen. Ich will ein in mehr als
-einer Hinsicht lehrreiches Beispiel anführen.
-
-Vor etwa zehn Jahren veranstaltete ein Missionar in einem religiösen
-Zwecken dienenden Hause große Versammlungen und Feiern, die sich
-eines ungewöhnlich regen Zuspruches erfreuten. „Das gewinnende,
-liebenswürdige Wesen dieses Mannes zog wie ein Magnet.“ Er war eine
-Persönlichkeit von angenehmstem Äußern, Mitte der Dreißig, sehr begabt
-und ein trefflicher Redner. „Er brauchte nur zu bitten, und die Gaben
-flossen in Massen; überall war er maßgebend, geliebt und verehrt,
-besonders bei den Frauen.“ Man fand nicht Worte genug über seine
-Herzensgüte; er selber berichtete in den Versammlungen häufig, wie er
-in den Gefängnissen so oft und gern Trost spendete, wie er nachts junge
-Menschen in den Anlagen ohne alle Mittel gefunden, sie mit nach Hause
-genommen und bei sich beherbergt habe. Er hatte dabei ein im Grunde
-fröhliches Gemüt. Wer ihn auf den sommerlichen Ausflügen des Vereins
-beobachtete, wie er mit seinen Schülern Kampfspiele veranstaltete,
-mit ihnen rang und ausgelassen tollte, freute sich ohne Argwohn der
-anscheinend so harmlosen Freudigkeit des unermüdlichen Gottesstreiters.
-Eines Tages aber bemächtigte sich tiefe Betrübnis und große Entrüstung
-des frommen Vereins. Herr W. war wegen unsittlicher Handlungen mit
-jungen Männern verhaftet worden. Bei der Gerichtsverhandlung bekundeten
-zwölf Jünglinge, daß W. sie unzüchtig berührt habe, sogar hinter der
-Kanzel, an der Orgel und in der Sakristei habe er solches getan und
-jedesmal hinterher mit ihnen gebetet. Er wurde zu einer schweren
-Freiheitsstrafe verurteilt.
-
-Ich verdanke diesen Bericht einem sehr ehrenwerten Uranier, der
-demselben christlichen Verein angehörte. „Nie hätte ich,“ so schreibt
-er mir, „geglaubt, daß dieser geehrte Herr so jäh aus seiner Höhe
-stürzen könnte, daß meine inneren Empfindungen, die ich in harten
-Kämpfen unterdrückte, um deren Überwältigung willen ich jene fromme
-Gesellschaft aufgesucht hatte, so denen ihres Leiters glichen. Als
-sich das geschilderte Trauerspiel zutrug, dachte ich in Demut: „Herr,
-sei mir Sünder gnädig“, und bin mit vielen anderen aus dem schwer
-geschädigten Verein geschieden.“
-
-Vielfach widmet sich der homosexuelle Platoniker nicht sowohl einer
-Vereinigung, als vielmehr einer einzigen Person, an der er Gefallen
-gefunden hat. Wie viele dieser Männer lassen nicht ihre Schützlinge
-ausbilden, studieren, nehmen sie auf Reisen mit, setzen ihnen Renten
-aus, adoptieren sie, bedenken sie in ihrem Testament, bemühen sich um
-sie in intensivster Weise, ohne daß es je zu einem Kusse kommt, ja,
-ohne daß sich die Betreffenden der sexuellen Grundlage ihrer Neigung
-bewußt werden, wiewohl sie die Briefe ihrer Freunde nicht weniger
-sehnsüchtig erwarten, nicht minder begierig lesen, wie ein Bräutigam
-die seiner Braut. Und noch seltener ist sich der Empfangende in solchen
-Verhältnissen über die wahre Natur seines „väterlichen“ Freundes
-klar. Wohl ist er und seine Familie über „das gute Herz“ ihres besten
-Freundes des Lobes voll, das hindert aber den jungen Mann nicht,
-gelegentlich recht weidlich über die Homosexuellen zu schelten, ohne zu
-ahnen, wie schwer er jenen trifft, den er gewiß am wenigsten verletzen
-möchte.
-
-Ich will hier ein Gedicht eines Berliner Urnings an seinen Freund
-zur Kenntnis bringen, das recht anschaulich zeigt, wie schwer die
-unmerklich in einander übergehenden Grenzen zwischen den geistigen,
-seelischen und körperlichen Äußerungen des in Form und Stärke, nicht
-aber in seinem Wesen verschiedenartigen Gefühls zu ziehen sind. Es
-lautet:
-
- „Ihm in die tiefen, treuen Augen sehen,
- Mit ihm vereint an meinem Fenster stehen,
- Zu lehnen mein Gesicht an seine Wange,
- Ganz still, recht fest und lange, lange,
- Ist das nicht Glück genug --
-
- Ihm sanft die Hände zu berühren,
- Den Atem seiner Brust zu spüren,
- Mit meinem Haupt an seinem Herzen liegen
- Und meinen Mund an seine Lippen schmiegen,
- Das ist doch Glück genug --
-
- Zu schauen, wenn er lacht und froh sich regt,
- Zu merken, wenn er ernst und tief bewegt,
- Zu sehen, wie in allem, was er treibt,
- Er stets sich gleich an Kraft und Schönheit bleibt,
- Ist das nicht Glück genug --
-
- Die Ansicht mit ihm auszutauschen,
- Dem Wohllaut seiner Stimme lauschen,
- Sein Leben schöner zu gestalten,
- Wenn Leid ihn quält, treu zu ihm halten,
- Das ist doch Glück genug --
-
- Ihm sagen können, daß er mir das Höchste,
- Von ihm vernehmen, daß ich ihm der Nächste,
- Ihm schildern dürfen, wie sehr ich ihn liebe,
- Den Wunsch zu hören, daß sein Freund ich bliebe,
- Das ist doch Glück genug --
-
- O, wenn ich es doch nie erlebte,
- Daß ich noch mehr an Glück erstrebte,
- Als mir so reichlich ist beschieden,
- Dann hätten er und ich den Frieden
- Und beide Glück genug.“
-
-Auch der folgende ausführliche Bericht eines keuschen Uraniers über
-das erste Erwachen seiner Liebe -- er rührt von einem mir bekannten
-Studenten her, der sich noch nie sexuell betätigt hat -- bestätigt
-den Satz, daß sich der homosexuelle Trieb wohl in seiner Richtung
-und Bedeutung, nicht aber in seiner Naturwüchsigkeit von der
-normalsexuellen Liebe unterscheidet.
-
- „Ich bin in dem „Sündenbabel“ Berlin aufgewachsen, habe mit
- vielen gleichalterigen Kameraden eine öffentliche Schule
- besucht, bin sogar in einer Pension gewesen, wo es sicher
- nicht sehr zart herging, und habe mir trotzdem gerade in
- sexueller Beziehung merkwürdig lange meine Kindlichkeit
- bewahrt. Ich habe nie, wie andere Kinder, Vergnügen daran
- gefunden, darüber zu reden und zu grübeln, „woher die
- Kinder kommen“, ich hatte sogar eine merkwürdige Scheu,
- deren Ursachen mir noch jetzt unerklärlich sind, über
- solche Dinge reden zu hören. So galt ich noch mit 15
- Jahren, und zwar mit Recht, unter meinen Kameraden für
- „unschuldig“; an den Klapperstorch glaubte ich ja nicht
- gerade mehr, aber ich hatte keine Ahnung von dem Wesen
- des Unterschiedes der Geschlechter und von irgend welchen
- sexuellen Beziehungen. Natürlich verstand ich auch nichts
- von den bekannten Witzen, die über dieses Thema gemacht
- wurden, was am meisten dazu beitrug, den Ruf meiner
- „Unschuld“ zu verbreiten.
-
-
- In dieser Zeit, ich war 17 Jahre, faßte ich eine
- eigenartige Zuneigung zu einem meiner Mitschüler, dem
- Primus der Klasse; ich war nicht so befreundet mit ihm,
- wie mit meinen speziellen Schulfreunden, und doch hatte
- ich immer eine ganz besondere Freude daran, einmal mich
- länger mit ihm zu unterhalten, auf dem Schulhofe mit ihm
- zusammen zu gehen, oder gar einmal in der Stunde neben ihm
- zu sitzen. Gerade dies erreichte ich zu meinem Schmerz nur
- sehr selten, fast immer saß ich dritter, also noch ein
- anderer zwischen uns, und ich mußte mich begnügen, ihn so
- oft wie möglich anzusehen, wobei ich mir Mühe gab, das von
- ihm nicht bemerken zu lassen. Überhaupt nahm ich mich aufs
- äußerste in acht, daß niemand meine Beziehungen zu ihm, die
- übrigens völlig einseitig waren und blieben, bemerkte; ich
- wußte es damals nicht und weiß mir auch jetzt noch keinen
- rechten Grund dafür anzugeben, warum ich meine Zuneigung
- jedem Menschen gegenüber und besonders vor dem Geliebten
- selbst geheim hielt. Ich hatte wahrscheinlich das richtige
- Gefühl, doch nicht verstanden zu werden, und außerdem war
- ich mir meines Zustandes selbst nur ganz dunkel bewußt,
- ich hätte wohl gar nicht aussprechen und in Worte fassen
- können, was ich da eigentlich dachte und fühlte. Und doch
- war es so herrlich schön, sich vorzustellen, wenn wir
- beide so recht sehr befreundet wären, immer zusammen sein
- könnten, die Schularbeiten gemeinsam machten und uns nie zu
- trennen brauchten. Und wenn ich dann abends im Bett lag,
- malte ich mir alle möglichen Ereignisse aus, die eintreten
- müßten, damit wir recht eng befreundet werden könnten; da
- konnte doch z. B. sein Haus abbrennen, dann würde er keine
- Wohnung haben, und ich würde ihn auffordern, bei uns zu
- wohnen; und dann würde er sogar bei mir im Bett schlafen,
- so daß ich ihn so recht fest umarmen und an mich drücken
- könnte, um ihm zu zeigen, wie lieb ich ihn habe.
-
- Wohlgemerkt: Diese Gedanken kamen mir und erfüllten mich
- mit größter Seligkeit, ohne daß ich eine Ahnung hatte von
- den sexuellen Beziehungen der Geschlechter. Mein Gemüt
- war vollständig rein, unverdorben durch unsaubere und
- schmutzige Geschichten, wie sie andere Großstadtkinder oft
- allzu früh zu hören bekommen, meine Phantasie war nicht
- erregt durch derartige Dinge. Und dennoch kamen mir diese
- „unsittlichen, unzüchtigen“ Vorstellungen? Nein, es lag
- nicht das geringste Unsittliche in diesen Gedanken, konnte
- gar nicht darin liegen, und diese Tatsachen, die ich an
- mir selbst erlebt habe, die ich gefühlt und gedacht habe
- mit meinem innersten Herzen, sind mir der sicherste und
- unumstößlichste Beweis dafür, daß in der Homosexualität an
- sich keine Spur von dem enthalten ist, was Unwissenheit
- und Unkenntnis hineinlegen wollen. Es sei denn, daß man das
- Geschlechtliche überhaupt als etwas Unsittliches ansieht,
- daß man die natürliche Weltordnung anzutasten versucht,
- indem man das Heiligste im Menschenleben in den Schmutz
- zieht, dann kann man die gleichgeschlechtliche Liebe
- gleich mit verdammen. -- Jetzt weiß ich, daß das, was sich
- damals in mir abspielte, nichts anderes war, als das erste
- Erwachen der Liebe in einem noch kindlichen Gemüt, das
- nicht wußte, was in ihm vorging, und doch von dieser neuen
- Herrlichkeit gänzlich erfüllt war.
-
- Und wie hier beim ersten Male der Gegenstand meiner
- Liebe ein männliches Wesen war, so ist es bei mir bisher
- geblieben. Wenn andere „normale“ Männer auf der Straße ein
- hübsches Mädchen sehen, so blicken Sie sich unwillkürlich
- danach um; mir ergeht es genau so mit schönen Jünglingen,
- denen ich ebenso unwillkürlich nachsehe. Trete ich in eine
- Gesellschaft, komme ich auf einen Ball &c., so geschieht es
- oft, daß mir ganz unbewußt irgend einer der jungen Leute,
- den ich nicht kenne, auffällt, und ich ertappe mich nachher
- dabei, daß ich fortwährend darauf geachtet habe, was der
- Betreffende tut, mit wem er tanzt &c. &c.
-
- Jene erste Liebe wurde nach einiger Zeit abgelöst durch
- eine andere größere Leidenschaft, die mich zu einem anderen
- Mitschüler ergriff, der zwar ein ganzes Jahr älter war
- als ich, aber in einer tieferen Klasse saß. Ich kann mich
- darauf besinnen, wie ganz allmählich die ersten Zeichen
- dieser Liebe bei mir auftauchten, wie ich jede mögliche
- Gelegenheit benutzte, mit ihm zusammen zu sein: auf dem
- Schulhofe, auf der Straße, bei den Turnspielen u. s. w.
- Und dabei war es noch besonders schwierig, diesen Verkehr
- reger werden zu lassen; nicht nur, daß er in einer anderen
- Klasse war, sondern es gab auch eigentlich gar keine
- gemeinsamen Interessen zwischen uns, wir hatten keine
- gemeinsamen Freunde, und er war gerade im Kreise meiner
- nächsten Freunde besonders unbeliebt. Um so auffälliger
- mußte es sein, wenn ich mich mit ihm näher befreundete, und
- ich suchte die verschiedensten Vorwände, diese Annäherung
- zu erklären, nicht nur vor anderen, sondern besonders vor
- mir selbst, der ich noch immer nicht ahnte, was in mir
- vorging. Aber gerade in dieser Zeit, ich war 18 Jahre,
- ging mir das Licht über die wahre Bedeutung der Sache auf,
- in dieser Zeit, wo ich regelrechte Fensterpromenaden vor
- seinem Hause machte, die Zeit abpaßte, wann er herauskam,
- um ihm zufällig zu begegnen, und an nichts anderes dachte
- als an ihn. Ja, ich wußte bald, ich ihn wirklich und
- regelrecht liebte, aber es ihm zu sagen, dazu hatte ich
- nicht den Mut, ja, ich gab mir sogar noch lange Zeit Mühe,
- es ihn nicht einmal merken zu lassen. Unser Verkehr wurde
- aber reger, obgleich ich wußte, daß er sich nicht allzu
- viel aus mir machte; ich benutzte jede Gelegenheit, unsere
- Beziehungen enger und freundschaftlicher zu gestalten, was
- auch äußerlich gelang, ohne daß es jedoch trotz größter
- Anstrengung meinerseits zu einer wirklichen Freundschaft
- kam. Es lag überhaupt in K.'s Wesen, daß er keine Freunde
- besaß, und so hatte ich in dieser Zeit eigentlich nur
- einmal Gelegenheit, die Qualen der Eifersucht kennen zu
- lernen; doch gerade diese Eifersuchtsanwandlung, die mir
- ordentlich zu schaffen machte, brachte mir gleichzeitig
- volle Gewißheit über meine homosexuelle Liebe. Schließlich
- wurde das Gefühl, das mich zu ihm hinzog, so übermächtig,
- und ich wurde der Heuchelei vor ihm und vor mir selbst so
- müde, daß ich ihm eines Abends, als wir in seinem Zimmer
- zusammen arbeiteten, um den Hals fiel, ihn mit Küssen
- überschüttete und ihm alles beichtete. Er nahm diesen
- Ausbruch etwas verwundert, aber doch ganz ruhig hin,
- jedenfalls ohne zu begreifen, um was es sich eigentlich
- handelte.
-
- Die nun folgenden Wochen waren die bisher schönsten meines
- Lebens, fast jeden Abend waren wir zusammen, ich half ihm
- bei allen seinen Schularbeiten, und wenn wir damit fertig
- waren, saßen wir eng aneinander geschmiegt und sprachen
- über alles und nichts. Doch es waren leider nur wenige
- Wochen; denn genau zur selben Zeit stellte sich auch bei
- meinem K. die Liebe ein -- aber nicht zu mir, sondern zu
- einem kleinen Mädchen. Und wenn ich jetzt nachmittags zu
- ihm kam, dann hatte er mir von nichts anderem zu erzählen,
- als von =ihr=, und auf dem Schulwege sprach er mit mir
- von =ihr=, und abends ging ich mit ihm fort dahin, wo er
- =sie= treffen wollte, und wartete, bis sie kam, sprach
- ein paar Worte mit ihr, ging ein paar Schritte mit und
- verabschiedete mich dann, um die beiden allein zu lassen --
- ich war ja überflüssig. Ich kann nicht gerade sagen, daß
- ich auch hier eifersüchtig war, im Gegenteil: es floß wohl
- auch ein Teil meiner Liebe zu K. auf seine Freundin über,
- da =sie= es ja war, die ihn glücklich machte. Aber das Herz
- blutete mir doch, wenn er mir z. B. seine Tagebücher gab,
- in denen nur von =ihr= stand, was sie tat und sagte und
- dachte, und wo ich kaum mal mit einem Worte erwähnt wurde.
- Am meisten jedoch schmerzte mich, daß er sich energisch
- weigerte, meine Küsse und Zärtlichkeiten weiter zu dulden;
- denn gerade weil ich ihm klar gemacht hatte, daß meine
- Empfindungen zu ihm wahre Liebe seien, weil ich ihn mit
- allen Mitteln, die mir damals zu Gebote standen, überzeugt
- hatte, daß meine Liebe zu ihm etwas Berechtigtes sei, wie
- die zwischen Mann und Weib, gerade darum behauptete er,
- =ihr= untreu zu werden, wenn er sich noch ferner von =mir=
- küssen ließe. „Freunde können wir ja bleiben“, sagte er,
- „denn ich habe dich ganz gern, aber nicht anders wie andere
- Freunde wollen wir sein.“
-
- Und so blieben wir Freunde noch zwei Jahre lang, und ich
- schmeichle mir, wenigstens in der ersten Zeit einen recht
- guten Einfluß auf ihn ausgeübt zu haben; nicht nur, daß
- ich ihm bei seinen Arbeiten half, sondern ich versuchte
- auch, ihm etwas höhere Interessen beizubringen, als er
- sie leider besaß, ihn zu veranlassen, sich auch mit
- wissenschaftlichen, politischen &c. Fragen zu beschäftigen,
- auf die ihn die Erziehung, die er gehabt hatte, das Milieu,
- in dem er lebte, und seine eigene Interesselosigkeit bisher
- nicht hingewiesen hatten. Meine Liebe zu ihm blieb lange
- Zeit mit unverminderter Stärke bestehen, und noch heute bin
- ich von dieser Leidenschaft nicht ganz geheilt.
-
- Im Laufe dieser Jahre bin ich allmählich auf meine
- Veranlagung aufmerksam geworden, zuerst wohl nach der
- negativen Seite hin. Wenn meine Mitschüler allmählich
- anfingen, von ihren Liebsten zu erzählen, deren Namen in
- die Schulbänke einzukratzen, bei jeder Gelegenheit ihnen
- Ansichtskarten zu schreiben, so dachte ich zunächst,
- besonders da ich immer einer der Jüngsten in der Klasse
- war, das würde mit der Zeit bei mir auch noch kommen.
- Und dabei ahnte ich nicht, daß die Zuneigung zu meinem
- K. nichts anderes als wirkliche, wahrhaftige Liebe war,
- stärker vielleicht und tiefer, als sie die meisten anderen
- zu ihren Mädels empfanden. Erst durch einige Analogieen,
- die mir zufällig auffielen, kam nur eine Ahnung des wahren
- Sachverhalts. Wie jeder richtig Verliebte machte ich meine
- Fensterpromenaden, ging täglich, so oft wie möglich, und
- wenn es die größten Umwege kostete, an =seinem= Hause
- vorbei und war glücklich, wenn =er= mal am Fenster stand.
- So dämmerte es in mir auf, und nun einmal aufmerksam
- geworden, unwillkürlich weitere Anhaltspunkte suchend, kam
- ich bald zur Klarheit über mich. Ich entsinne mich z. B.
- noch genau, welch tiefen Eindruck es auf mich machte, als
- meine Mutter einmal scherzend zu mir sagte: „Paul, Paul,
- wer immer so allein spazieren geht, der ist verliebt“;
- ich hatte ja tatsächlich meinen Bruder nur darum nicht
- mitnehmen wollen, um, wenn ich =ihn= treffen sollte, allein
- mit ihm zu sein.“
-
-„Feste Verhältnisse“ homosexueller Männer und Frauen, oft von sehr
-langer Dauer, sind in Berlin etwas ganz außerordentlich Häufiges.
-
-Man muß an vielen Beispielen wahrgenommen haben, mit welcher Innigkeit
-in solchen Bündnissen häufig der eine an dem anderen hängt, wie sie
-für einander sorgen und sich nach einander sehnen, wie sich der
-Liebende in die ihm oft so fern liegenden Interessen des Freundes
-hineinversetzt, der Gelehrte in die des Arbeiters, der Künstler in
-die des Unteroffiziers, man muß gesehen haben, welche seelischen und
-körperlichen Qualen diese Menschen nicht selten infolge Eifersucht
-erleiden, wie ihre Liebe alles überdauert und alles überwindet, um
-allmählich inne zu werden, daß kein „Fall widernatürlicher Unzucht“
-vorliegt, sondern ein Teil jener großen Empfindung, die nach der
-Ansicht vieler dem Menschendasein erst Wert und Weihe giebt.
-
-Ich behandelte einst eine adelige Dame, die seit einer Reihe von Jahren
-mit einer Freundin zusammen lebte, an einem schweren Nervenleiden.
-Weder vorher noch nachher habe ich in meiner Krankenpraxis ein so
-liebevolles Aufgehen eines Gesunden in einen Kranken gesehen, wie
-in diesem Fall, weder unter Ehegatten, noch selbst bei Müttern, die
-sich um ihre Kinder bangten. Die gesunde Freundin war keine angenehme
-Mitbürgerin, sie hatte viel Rücksichtsloses und Eigenwilliges, wer aber
-diese wahrhaft ergreifende Liebe und Sorgfalt sah, dieses unablässige
-Bemühen bei Tage und bei Nacht, hielt ihr um dieses starken und
-schönen Gefühls willen vieles zu gute. Sie war mit ihrer Freundin
-tatsächlich wie verwachsen, berührte man ein schmerzhaftes Glied der
-Kranken, so zuckte sie reflektorisch zusammen, jedes Unbehagen der
-Leidenden spiegelte sich in ihrem Gesicht wider, mangelhafter Schlaf
-und schlechter Appetit übertrugen sich auf die gesunde Freundin. Der
-Fall war übrigens auch dadurch bemerkenswert, daß auch das Personal
-der Patientin, sowohl die Krankenschwester, wie das Dienstmädchen,
-einwandfrei urnisch waren.
-
-Unweit diesem Paare lebte ein anderes. Er war Referendar, sein etwa
-18jähriger Freund Damenschneider. Dieser war so feminin, daß ich dem
-Referendar einmal bemerkte, so gut wie in dieses Neunzehntel-Weib
-hätte er sich doch auch in ein ganzes Weib verlieben können. Unter
-anderem war seine Stimme so weiblich, daß, wenn er telephonisch nach
-mir verlangte, was im Interesse seines Freundes einige Male vorkam,
-mein Sekretär stets meldete. „Eine Dame wünscht sie zu sprechen.“
-Beide lebten in großer Harmonie, tags ging jeder seinem Berufe nach,
-der eine auf das Gericht, der andere in die Schneiderwerkstatt. Als
-der Referendar Berlin verließ, nahm er den Freund mit sich. Dieser
-hatte zuvor seinen Vater, einen biederen Berliner Handwerker, um
-eine aufklärende Unterredung gebeten, bei der, wie er mir schamhaft
-erzählte, das Zimmer verdunkelt werden mußte. Der Vater war garnicht
-verwundert, er habe schon längst ähnliches vermutet, und erklärte sich
-mit allem einverstanden.
-
-Der kleine Damenschneider hatte einen Arbeitskollegen, der nicht
-minder mädchenhaft war, wie er selbst. Ihr Beruf ist mehr wie irgend
-ein anderer in Berlin von urnischen Elementen durchsetzt. Dieser
-Kollege verliebte sich in den Bruder des Referendars, einen Ingenieur,
-der kurz vorher wegen unglücklicher Liebe zu einem Studenten einen
-ernsthaften Selbstmordversuch unternommen hatte. Als er schwer
-verletzt im Krankenhause lag, hatten sich die beiden gleichveranlagten
-Brüder, die bis dahin nichts von einander wußten, zu erkennen gegeben.
-Allmählich entwickelte sich nun zwischen dem Ingenieur und dem anderen
-Damenschneider ein zweites Liebesbündnis, und es entbehrte nicht einer
-gewissen Drolligkeit, wenn die beiden schön und stark gewachsenen
-Brüder mit ihren Schneiderlein Willi und Hans -- nicht viel anders
-wie andere mit ihren Putzmacherinnen -- am Sonntag den Grunewald
-durchstreiften.
-
-Daß sich die Eltern mit der urnischen Natur, ja sogar mit dem
-homosexuellen Leben ihrer Kinder abfinden, ist in Berlin durchaus
-nichts Seltenes.
-
-Vor kurzem wohnte ich auf einem Berliner Vorortkirchhof der Beerdigung
-eines alten Arztes bei. Am offenen Grabe standen der einzige Sohn
-des Verstorbenen, zur Rechten die bejahrte Mutter, an der andern
-Seite der zwanzigjährige Freund, alle drei in tiefster Trauer. Als
-der Vater, bereits über 70 Jahre alt, vom Uranismus seines Sohnes
-hörte, war er der Verzweiflung nahe, er suchte mehrere Irrenärzte
-auf, die ihm mancherlei raten, aber nicht helfen konnten. Dann
-vertiefte er sich selbst in die Litteratur über den Gegenstand und
-erkannte mehr und mehr, daß sein Sohn, den er über alles liebte, von
-Geburt an homosexuell gewesen war. Bei seiner Niederlassung hatte er
-nichts dagegen, daß er den Freund zu sich nahm, ja die guten Eltern
-übertrugen ihre volle Liebe auf den jungen Mann, der aus einfachstem
-Stande hervorgegangen war. Beide hatten auf einander sichtlich einen
-guten Einfluß; während sie einzeln nur schwer imstande gewesen wären,
-vorwärts zu kommen, gelang es ihnen zu zweit vortrefflich, indem
-das Wissen und die Liebenswürdigkeit des einen in der Energie und
-Sparsamkeit des anderen ihre Ergänzung fanden.
-
-Auf dem Sterbelager nahm der alte Doktor von seiner Frau und seinen
-„beiden Jungen“ Abschied und der Anblick dieser drei Menschenkinder,
-wie sie unter den Klängen des Mendelsohnschen Liedes: „Es ist bestimmt
-in Gottes Rat“ ihre Tränen und Trauer vereinigten, griff ungleich
-tiefer in die Seele, als die Rede des jungen Pfarrers, der in schrillem
-Tonfall die Taten des ihm gänzlich unbekannten Toten pries.
-
-Nicht vereinzelt kommt es in Berlin vor, daß urnische Junggesellen
-sich bei den Familien ihrer Freunde einmieten und dort wie Angehörige
-des Hauses angesehen werden. Es gibt Mütter, selbst wissende, die
-oft in überschwänglicher Weise das Glück preisen, daß ihr Sohn einen
-so großartigen Freund, ihre Tochter eine so ausgezeichnete Freundin
-gefunden; diese Freundschaft sei ihnen viel lieber, als wenn sich
-ihr Sohn mit Mädchen herumtreibe, ihre Tochter sich von Männern den
-Hof machen ließe. Verstieg sich doch einmal eine Mutter, die mich
-wegen eines geschlechtlich infizierten Sohnes aufsuchte, zu dem
-merkwürdigen Ausspruch: „Ich wünschte, mein zweiter Sohn wäre auch
-homosexuell.“ Manchmal liebt der Freund den Sohn des Hauses und wird
-von der Tochter geliebt, wie überhaupt zwischen den verschiedenen
-normalsexuellen und homosexuellen Personen desselben Kreises hie und
-da ganz sonderbare Verwicklungen vorkommen. Für den Psychologen und
-Schriftsteller, welcher das urnische Moment in den Beziehungen der
-Menschen untereinander zu erkennen weiß, erweitern sich dadurch die der
-Beachtung und Darstellung würdigen Konflikte in ungeahnter Weise.
-
-Ich kannte in Berlin einen Uranier, der die Schwester eines Jünglings
-heiratete, nur um mit dem Bruder oft und unauffällig zusammen sein
-zu können. Die Ehe, welche in Wirklichkeit keine war, ging nach
-einigen Jahren auseinander, nachdem der normalsexuelle Bruder seinen
-Schwager -- nicht etwa im Bösen, sondern im Guten -- um sein ganzes
-beträchtliches Vermögen gebracht hatte.
-
-Ein anderer Homosexueller liebte einen Mann, welcher mit einem Mädchen
-ein inniges Liebesverhältnis anknüpfte. Der Urning war auf das Mädchen
-sehr eifersüchtig, und auch diese war auf den Freund, der ihren
-Geliebten so viel in Anspruch nahm, nicht gut zu sprechen. Der Mann
-aber hielt auch dem Mädchen nicht die Treue und bereitete ihr ebenso
-wie dem Freunde durch seine leichtsinnigen Streiche vielen Kummer.
-Beide kannten sich nicht persönlich. Eines Morgens aber kam das
-Mädchen zu dem Urning, um ihm mitzuteilen, daß dem Freunde während
-der Nacht ein schwerer Unfall zugestoßen sei. Die gemeinsame Sorge
-machte sie allmählich zu Freunden. Da entzweite sich der Mann und sein
-Mädchen, sie war bitterböse und schien unversöhnlich, er aber hielt es
-vor Sehnsucht nicht aus, es trieb ihn immer wieder zu ihr, sie aber
-wies ihm die Türe. Schließlich wandte er sich hilfeflehend an seinen
-urnischen Freund, und dieser, der sich schon im stillen gefreut hatte,
-daß das so quälende Liebesverhältnis zu Ende sei, ging zu dem Mädchen
-und versöhnte beide.
-
-Solche und ähnliche Falle könnte ich aus der lebendigen Quelle des
-Berliner Lebens in großer Zahl berichten -- doch wir wollen jetzt
-von dem Leben und Leiden einzelner Urninge zu dem Leben und Treiben
-urnischer Gruppen übergehen.
-
-Denn wenn auch viele Uranier in selbstgewählter Einsamkeit leben, die
-nirgends so erreichbar ist, wie in weltstädtischer Menschenfülle,
-andere wiederum sich ausschließlich einer einzigen Person widmen,
-so ist doch die Zahl derer nicht minder groß, welche mit anderen
-homosexuellen Personen und Kreisen Fühlung suchen, und auch hier bietet
-sich in Berlin überreichliche Gelegenheit.
-
-Es ist recht bedauerlich, daß sich manche Urninge, die durch ihr
-Wesen und Wissen jedem Kreise zur Ehre gereichen würden, schließlich
-in normalen Gesellschaften überhaupt nicht mehr wohl fühlen. Die
-erheuchelten Komplimente und Interessen, die ihnen besonders häufig
-zuerteilten Damentoaste werden ihnen immer peinlicher, und wenn sie
-einmal die Geselligkeit kennen gelernt haben, in der sie sich frei
-geben können und Verständnis finden, ziehen sie sich aus andern Kreisen
-mehr und mehr zurück.
-
-Daß gesellige Leben der Urninge untereinander pulsiert in Berlin
-in mannigfacher Gestaltung, sowohl in geschlossenen, als auch in
-allgemein zugänglichen Zirkeln ungemein lebhaft. Größere und kleinere
-Gesellschaften von Homosexuellen für Homosexuelle sind zu jeder
-Jahreszeit, namentlich aber im Winter, an der Tagesordnung.
-
-Vielfach beschränken sich dieselben auf eine bestimmte soziale Schicht,
-auf gewisse Stände und Klassen, doch werden die Grenzen schon um der
-Freunde willen bei weitem nicht so streng innegehalten, wie dies bei
-Normalsexuellen üblich ist. Mancher Urning würde nichts so übel nehmen,
-als wenn man seinem Freunde, und sei er noch so einfachen Herkommens,
-die gesellschaftliche Ebenbürtigkeit absprechen würde.
-
-Ich werde in Anerkennung meiner Arbeit für die Befreiung der
-Homosexuellen oft ersucht, Gesellschaften gleichsam als Ehrengast
-beizuwohnen, und wenn ich auch nur einen kleinen Teil dieser
-Aufforderungen annehme, so haben sie mir doch einen genügenden Einblick
-in das gesellige Leben der Berliner Urninge verschafft.
-
-Einmal war ich in besagter Eigenschaft auf einer Gesellschaft
-unter lauter homosexuellen Prinzen, Grafen und Baronen. Außer der
-Dienerschaft, die nicht nur in Bezug auf die Zahl, sondern auch in
-Hinsicht auf ihr Äußeres besonders sorgfältig ausgewählt schien,
-unterschied sich die Gesellschaft in ihrem Eindruck wohl kaum von
-Herrengesellschaften derselben Schicht. Während man an kleinen
-Tischen sehr opulent speiste, unterhielt man sich anfangs lebhaft
-über die letzten Aufführungen Wagnerscher Werke, für welche fast alle
-gebildeten Urninge eine auffallend starke Sympathie hegen. Dann
-sprach man von Reisen und Literatur, fast gar nicht über Politik, um
-allmählich zum Hofklatsch überzugehen. Sehr eingehend verweilte man
-beim letzten Hofball, auf dem das Erscheinen des jungen Herzogs von
-X. viele Urningherzen hatte höher schlagen lassen, man schwärmte von
-seiner blauen Uniform, von seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit
-und berichtete, wie man es erreicht hätte, seiner königlichen Hoheit
-vorgestellt zu werden. Dann erzählte man sich Anekdoten über abwesende
-Urninge der Hofgesellschaft, von denen mir eine, die besonders herzhaft
-belacht wurde, im Gedächtnis geblieben ist. Ein Fürst war kurz zuvor
-bei einem homosexuellen Magnaten, von dessen urnischer Natur er so
-wenig eine Ahnung hatte, wie von der anderer Herren seiner Umgebung,
-zur Jagd geladen. Der hohe Gast war des Morgens unerwartet früh
-aufgestanden, um sich im Schloßgarten zu ergehen. Als er den Korridor
-kreuzte, erblickte er seinen Gastgeber, der zu so zeitiger Stunde nicht
-auf diese Begegnung vorbereitet war, in einem höchst sonderbaren Anzuge
-oder besser Aufzuge; der allseitig sehr abgerundete Gutsherr trug eine
-rotsammtene, mit Blumen und Spitzen reichbesetzte Matinée. Der Anblick
-dieser Gewandung war so komisch, daß der fürstliche Besucher in einen
-förmlichen Lachkrampf verfiel.
-
-Eine andere Gesellschaft, der ich beiwohnte, fand in den Sälen eines
-der vornehmsten Berliner Hotels statt. Ein wohlhabender Uranier feierte
-sein Namensfest. Es waren mit geringer Ausnahme nur Freundespaare
-zugegen, von denen die meisten schon seit Jahren zusammenlebten; jeder
-führte sein „Verhältnis“ zu Tisch. Dem Festmahl ging im Nebensaal auf
-einer aufgeschlagenen Bühne eine Theatervorstellung voraus, bei der
-ausschließlich Homosexuelle mitwirkten. Nach einigen Soloscherzen trug
-der Gastgeber vortrefflich in Maske und Spiel eine Szene als Falstaff
-aus den Lustigen Weibern von Windsor vor, dann gab man Nestroys Wiener
-Posse: „Eine Vorlesung bei der Hausmeisterin“. Alle weiblichen Rollen,
-an denen es in diesem Stücke nicht fehlt, lagen in den Händen femininer
-Urninge, namentlich erregte ein bekannter Baron in der Titelrolle durch
-seine natürliche Darstellungsweise stürmische Heiterkeit. Nach dem
-Diner folgte Tanz, und trotzdem die Weine reichlich flossen, geschah
-nichts Indezentes. Da einige Gäste in Damentoilette waren, machte
-man sich den harmlosen Spaß, Urningen, die sich besonders männlich
-vorkamen, weibliche Kleidungsstücke, wie Hüte und Shawls anzulegen;
-manche machten gute Miene zum bösen Spiel, andere aber wurden recht
-verdrießlich, denn man findet Urninge, denen alles, was zum Weibe
-gehört, so wenig zusagt, daß ihnen der Gedanke, selbst Weibliches an
-sich zu haben, unerträglich ist.
-
-Auch in minder bemittelten Urningskreisen sind Gesellschaften in
-Berlin sehr beliebt und verbreitet. Ich greife auch hier ein Beispiel
-ans der Erinnerung heraus. Ein mit Glücksgütern nicht sehr gesegneter
-Homosexueller beging seinen Geburtstag. In einer kleinen Vorortskneipe
-hatten sich die Geladenen, darunter seine zwei normalsexuellen
-Brüder, eingefunden. Man tat sich an Bockwürsten, Kartoffelsalat und
-Schweizerkäse gütlich, während der Sohn des Wirtes die Gassenhauer
-des Tages auf dem Klaviere zum besten gab. Dann trat „Schwanhilde“,
-auch „Herr Schwan geborene Hilde“ genannt, ein bekannter Berliner
-Urning, auf. Er stellte eine Berliner Köchin, welche zum Theater
-gehen wollte, dar und wirkte besonders belustigend, als er zum Schluß
-die Barfußtänzerin Isadora Duncan parodierte. Ein Damenimitator
-niedrigster Gattung, der zufällig im Vorraum der Wirtschaft saß, wurde
-gebeten, sein Repertoire vorzutragen. Dazwischen trat ein echter Mann
-auf, ein Kohlenträger vom Landwehrkanal, ein „schwerer Junge“, mit
-tätowierten Armen, glattangelegtem Scheitel, gestricketem Sweater und
-jener eigentümlichen Mischung von Plumpheit und Grazie, wie sie den
-Arbeitern dieser Gattung eigen zu sein pflegt. Er sang eine große Reihe
-nicht eben dezenter Lieder im Berliner Volkston, ohne eine Spur von
-Stimme, mit vielen Sprachfehlern, jeden Satz unterstützt von grotesken
-Bewegungen, denen zwischen den Versen Drehungen des Körpers folgten,
-alles in seiner Ungeschicklichkeit so zusammenpassend, daß es nicht
-ohne Wirksamkeit war. Allmählich rückte man Tische und Stühle bei
-Seite und ging zum Tanze über, bei dem sich eine Episode von schwer
-wiederzugebender Situationskomik ereignete. Als man mitten im Tanzen
-war, trat plötzlich -- die Polizeistunde war längst überschritten
--- ein Schutzmann mit strenger Amtsmiene ein. Nur einen Augenblick
-stockte die fröhliche Stimmung, dann faßte einer der Anwesenden -- ein
-urnischer Musiker -- den Schutzmann rasch entschlossen um die Taille
-und walzte mit ihm los. Dieser war so verblüfft, daß er kaum Widerstand
-entgegensetzte, eifrig mittanzte und sich bald mit dem Wirtssohn und
-dem Kohlenträger in die Rolle des begehrtesten und aufgefordertsten
-Tänzers teilte.
-
-Es gibt natürlich auch viele urnische Gesellschaften, die einen
-ungleich ernsteren Charakter tragen. So sammelte ein alter Berliner
-Privatgelehrter jeden Winter mehrere Male einen kleinen Kreis um sich
-in seinem künstlerisch ausgestatteten Heim. Es waren meist zehn bis
-zwölf Herren aus akademischen Ständen zugegen, von denen nur zwei
-bis drei nicht homosexuell waren. Der Alte, welcher seine Gäste mit
-schweren Südweinen, Austern, Hummern und ähnlichen Leckerbissen
-bewirtete, hatte noch Alexander v. Humboldt und Iffland gekannt,
-war mit Hermann Hendrichs und Karl Ulrichs befreundet gewesen und
-schien unerschöpflich in der Wiedergabe seiner Erinnerungen. Die
-Gespräche berührten fast ausschließlich das homosexuelle Problem. Da
-debattierte ein jüngerer katholischer Geistlicher mit einem schon
-ergrauten evangelischen Pfarrer über Uranismus und Christentum;
-mehrere Philologen stritten sich über Shakespeares Sonette, während
-die Juristen und Mediziner die Frage erörterten, inwieweit sich
-der § 51 des R.-St.-G.-B., welcher von dem Ausschluß der freien
-Willensbestimmung handelt, schon jetzt zu Gunsten der Homosexuellen
-verwenden ließe.
-
-Den ernstesten Charakter unter den Gesellschaften der Berliner Urninge
-tragen die am Weihnachtsheiligabend veranstalteten Zusammenkünfte. Mehr
-als an jedem anderen Tage fühlt an diesem Feste des Familienglücks der
-urnische Junggeselle sein einsames Los. Viele würden den Abend noch
-trauriger verleben, wenn unter den wohlhabenden Homosexuellen nicht
-stets einer oder der andere wäre, der die Heim- und Heimatlosen um sich
-sammelte.
-
-Ich greife auch hier ein Bild aus der Großstadt heraus.
-
-Schon am Tage vor dem Fest hatte der Hausherr den Weihnachtsbaum, eine
-große Silbertanne, selbst geschmückt; alles Bunte wurde vermieden,
-zwischen den weißen Wachskerzen sind Silberguirlanden, Eiszapfen,
-Schneeflocken, Glaskugeln und Engelhaar, das sich wie Spinngewebe von
-Ast zu Ast zieht, geschmackvoll angebracht, und hoch am Wipfel ist ein
-großer Silberstern befestigt, auf dem ein Posaunenengel im lichten
-Tüllgewand „Friede den Menschen auf Erden“ verkündigt. Dann wurden
-die kleinen Geschenke fein säuberlich in Seidenpapier geschlagen und
-um den Baum herumgelegt, für jeden etwas: ein Kalender, ein Buch, ein
-kleiner Schmuckgegenstand, wohl gar ein Kettenring, ein Taschenspiegel,
-eine Schnurrbartbinde. In der Frühe des Vierundzwanzigsten hat der
-Hausherr das große Tischtuch von feinstem Leinen aus dem Schranke
-hervorgeholt, mit dem Diener die Tafel gedeckt, das Silber verteilt,
-die Servietten gefaltet, mächtige Obstschalen gefüllt, jeden Teller mit
-einem Blumensträußchen versehen und vor den Kristallgläsern zierliche
-Tischkarten gelegt. Dabei kommt man manchmal bei diesem ober jenem
-der Eingeladenen in nicht geringe Verlegenheit, wenn man sich seines
-wirklichen Namens nicht entsinnen kann. Man hat ihn das ganze Jahr mit
-einem weiblichen Spitznamen angeredet, von dem man aber an diesem Abend
-gern Abstand nehmen möchte.
-
-Noch eine zweite Tafel wird im Korridor gedeckt, dort sollen die
-Kinder und das Dienstpersonal ihr Weihnachtsmahl einnehmen -- jawohl
-die Kinder -- ein seltener Anblick im Urningsheim. Man hat nämlich
-zur Bescheerung die zwei Kleinen der Waschfrau und die drei Enkel
-des Portiers geladen. Es wird Wert darauf gelegt, daß am Nebentisch
-dieselben Gerichte wie an der Haupttafel genossen werden und daß auch
-hier alles recht feierlich aussieht.
-
-Der Beginn ist erst auf 8 Uhr festgesetzt, da einige vorher in einem
-verwandten oder befreundeten Hause der Bescheerung angewohnt haben, ehe
-sie in den Kreis ihrer Freunde kommen. Endlich, als alle eingetroffen,
-verschwindet der Hausherr in den bis dahin verschlossenen Salon, zündet
-die Kerzen an, wirft noch einen Blick auf die Geschenke und ruft
-zunächst die Kinder und jenen Gast herein, der ihre Weihnachtslieder
-am Klavier begleiten soll. Nun werden die Doppeltüren geöffnet, und
-hell tönen die Kindergesänge von der stillen, heiligen Nacht und der
-seligen, fröhlichen Weihnachtszeit.
-
-Tiefer Ernst liegt auch auf allen Zügen, in manchem Auge blinkt
-eine Träne, selbst die „lange Emilie“, der sonst immer lustige
-Damenkonfektionär, kann seine Rührung nicht bemeistern. Weit, weit
-zurück ziehen die Gedanken der Uranier in jene Zeiten, in denen ihnen
-dieser Tag auch ein Familienfest war, als noch nichts gemahnte, daß
-ihr Geschick sich so ganz anders gestalten würde, wie das der längst
-verheirateten Geschwister; erst ganz allmählich öffnete sich die
-Kluft, die sie von den Ihren trennte, dann kamen die langen Jahre, wo
-sie diesen Abend friedlos und freudlos im Restaurant oder bei „einem
-guten Buch“ im „möblierten Zimmer“ verbrachten. Manche gedenken
-ihrer zerstörten Hoffnungen, was hätten sie leisten können, wenn sich
-nicht alte Vorurteile ihrer Laufbahn hindernd in den Weg gestellt
-hätten, und andere in angesehenen Stellungen gedenken der schwer auf
-ihnen lastenden Lebenslüge! Viele gedenken der Eltern, die tot oder für
-die sie tot sind, und alle in inniger Wehmut des Weibes, das sie über
-alles liebte und das sie über alles liebten -- ihrer Mutter.
-
-Jetzt sind die Kinderstimmen verklungen, man reicht sich die kleinen
-Gaben, beschenkt besonders reichlich die Kinder und die Dienstboten
-und setzt sich zu Tisch. Die Tafelgespräche sind nicht so fröhlich wie
-sonst; man spricht von dem guten X., der letztes Jahr noch am heiligen
-Abend teilnahm, und den nun auch schon die Erde deckt.
-
-Langsam läßt die Spannung nach, der Ton wird etwas heiterer, aber
-der ernste Unterton bleibt, und über dem ganzen Abend ruht ein Hauch
-weltschmerzlicher Sentimentalität.
-
-„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden! Wann
-endlich“ -- so schrieb mir vor einigen Jahren ein Homosexueller am
-Weihnachtsheiligabend -- „Wann endlich wird man erkennen, daß auch zu
-uns der Erlöser kam, daß auch wir nicht ausgeschlossen sein sollten von
-seiner gütigen, edlen, barmherzigen, allumfassenden Liebe?“
-
-Es war in der Frühe des letzten Weihnachtsmorgens, als ich zu einem
-urnischen Studenten im Westen Berlins gerufen wurde, von dem es hieß,
-daß er in der Nacht einen Tobsuchtsanfall gehabt hätte.
-
-Als ich zu ihm kam, bot sich mir ein furchtbarer Anblick; das ganze
-Zimmer war erfüllt von Scherben und Möbelstücken, zerrissenen Tüchern,
-Büchern und Papieren, alles mit Blut, Tinte und Petroleum vermischt.
-Vor dem Bette befand sich eine große Blutlache, und auf der Bettstatt
-lag ein junger Mann mit wachsbleichem Gesicht, aus dem seltsam
-tiefe, flammende Augen hervorleuchteten, schwarze Strähnen umgaben
-die feingeschnittenen, regelmäßigen Züge. Um Stirn und Arme waren
-blutdurchtränkte Lappen geschlungen.
-
-Er hatte sich wegen seines Uranismus mit seinem strengen Vater,
-einem angesehenen Bürger Berlins, überworfen, keiner gewann es über
-sich, dem andern gute Worte zu geben, und nun war er am Heiligabend,
-dem ersten, den er fern von der Familie verlebte, herumgeirrt durch
-die menschenleeren Straßen der Millionenstadt. Von der Gegenseite
-der Straße hatte er, in einem dunklen Gange sich herumdrückend, die
-glänzenden Lichter in der Wohnung der Eltern gesehen, das Lachen
-der jüngeren Geschwister war an sein Ohr gedrungen, und für einige
-Augenblicke schaute er die Umrisse der Mutter, die während des
-Kinderjubels sinnend ihre Stirn an die Fensterscheiben lehnte.
-
-Als sie oben die Lichter löschten, war er in die nächste Budike
-gegangen, hatte an einem abgelegenen Ecktisch ein Schnapsglas nach dem
-andern geleert, in einer zweiten und dritten Destille das Gleiche getan
-und in verödeten Kaffeehäusern für schwarzen Kaffee mit Kirsch sein
-letztes Geld verausgabt.
-
-Nachdem er dann in der kalten Winternacht heimgekehrt und die vier
-Treppen im Hofe heraufgewankt war, hatte sich seiner ein ungeheurer
-Erregungszustand bemächtigt. Er hatte alles zertrümmert und die
-brennende Lampe zerschlagen in der Erwartung, daß er sich an
-geöffneten Pulsadern verbluten würde. Ein von den Wirtsleuten eilends
-herbeigerufener Arzt hatte durch die Türspalte gelugt und rasch ein
-Attest zur Überführung in die Irrenabteilung der Charité geschrieben.
-
-Ein Freund des Kranken holte mich zu ihm; ich wusch und verband ihm
-an jenem Weihnachtsvormittag eine Wunde nach der andern; er klagte
-nicht und sprach kein Wort, aber die flammenden Augen sprachen und
-die blassen Lippen sprachen und jede einzelne Wunde sprach von seinem
-tiefen Leide und der hohen, heiligen Aufgabe derer, die an dem
-Befreiungswerke der Uranier arbeiten. --
-
-Neben den Privatgesellschaften, Diners, Soupers, Kaffees, 5 Uhr Thees,
-Picknicks, Hausbällen und Sommerfesten, die die Berliner Homosexuellen
-in nicht geringer Menge veranstalten, sind die Jours fixes zu erwähnen,
-von denen jeden Winter einige von Urningen und Uranierinnen für ihre
-Freunde und Freundinnen eingerichtet werden.
-
-Sehr bekannt war jahrelang der Sonntag-Nachmittags-Empfang bei einem
-urnischen Kammerherrn, auf dem viele Personen von Rang und Stand
-erschienen. Die leibliche Bewirtung besteht hier meist in Tee und
-Gebäck, die geistige in musikalischen Darbietungen. Letzten Winter
-war es besonders der _Jour_ fixe eines urnischen Künstlers, der
-sich großer Beliebtheit erfreute. Der überaus gastfreundliche Wirt
-empfing seine Gäste, unter denen sich viele homosexuelle Ausländer,
-namentlich aus den russischen Ostseeprovinzen und den skandinavischen
-Ländern, sowie auch oft homosexuelle Damen befanden, in einer Art
-Zwischenstufengewand, einem Mittelding zwischen Prinzeßrobe und
-Amtsrobe. Die Musikvorträge, zumal die Gesänge des Hausherrn in
-Baryton und Alt und das Klavierspiel eines dänischen Pianisten
-standen künstlerisch auf der Höhe. Man sah dort regelmäßig einen
-österreichischen Studenten der Chemie, der stets schweigsam und ernst
-dasaß, sich aber sichtlich unter Seinesgleichen wohl fühlte, da er
-immer wiederkam. Im Frühjahr, als die Zusammenkünfte zu Ende waren
-und der Russe Berlin verließ, ging jener Student eines Abends in eine
-Urningskneipe und ließ sich vom Klavierspieler Koschats „Verlassen“
-spielen; als die melancholische Weise erklang, nahm er unbemerkt
-ein Stückchen Cyankali, das ihn in wenigen Sekunden leblos zu Boden
-streckte. „Selbstmord aus unbekannten Gründen“ verzeichnete der
-Polizeibericht, in Wirklichkeit der Selbstmord eines Homosexuellen, wie
-er sich in Berlin nur allzu oft ereignet.
-
-Nicht immer ist die Homosexualität die direkte Ursache, aber fast
-stets ist der indirekte Zusammenhang zwischen der Homosexualität
-und dem gewaltsamen Ende leicht nachweisbar. Da ist ein urnischer
-Offizier, im Kadettenkorps erzogen, mit Leib und Seele Soldat, er
-hatte sich außerdienstlich eine homosexuelle Handlung zu Schulden
-kommen lasten, sie wurde lautbar, und ein schlichter Abschied war die
-Folge. Er hat nichts anderes gelernt, als sein Kriegshandwerk, nun
-sucht er kaufmännische Stellungen, sucht, findet und verliert eine
-nach der andern, die Familie will nichts mehr von ihm wissen, er steht
-allein, verliert jeden Halt, sinkt immer tiefer, greift zum Alkohol,
-zum Morphium und endlich zur erlösenden Waffe. So kenne ich viele
-Tragödien; erst vor wenigen Wochen endete ein früherer Leutnant auf
-diese Weise. „Ursache: Schulden“, schrieben die Zeitungen; jawohl,
-Schulden, aber die Grundursache lag tiefer, es war der Verlauf, wie
-ich ihn soeben schilderte; -- an der Homosexualität war er zu Grunde
-gegangen.
-
-Vor einigen Tagen nahm ich einem homosexuellen Lehrer, der mich
-aufsuchte, ein Fläschchen Blausäure fort. Er hatte keine strafbare
-Handlung begangen, sich nie gleichgeschlechtlich betätigt; er war
-eben erst in den Schuldienst getreten, als dem Direktor ein anonymes
-Schreiben zugegangen war, der neue Lehrer sei ein Päderast; der Chef
-ließ ihn kommen, und auf Befragen gab er zu, homosexuell veranlagt
-zu sein. Man gab ihm den wohlmeinenden Rat, auf seine Entlassung
-anzutragen, er tat es, fand aber nicht den Mut, es seiner alten Mutter
-zu sagen, die gedarbt hatte, damit er Lehrer werden könne. Nun irrte
-auch er nach Stellung umher in dem großen Berlin, in dem es so viele
-Stellen, aber so viel mehr Stellenlose gibt.
-
-Es sind gewiß mehr als zwanzig Homosexuelle, die ich im Laufe der
-letzten acht Jahre vor dem Selbstmord bewahren konnte; ob ich ihnen
-einen guten Dienst erwies, ich weiß es nicht, und doch erfüllt es mich
-mit stiller Freude, daß ich ihnen das Leben und sie dem Leben erhalten
-konnte. --
-
-Einen den geschilderten Jourfixen ähnlichen, wenn auch schon mehr
-vereinsartigen Charakter tragen die regelmäßigen Zusammenkünfte,
-wie sie von Homosexuellen an bestimmten Abenden in bestimmten
-Lokalen veranstaltet werden; auch hier ist es gewöhnlich eine
-Person, um die sich die anderen gruppieren, nur bewirtet sich
-jeder aus eigenen Mitteln. Vielbesucht war lange Jahre der Klub
-„Lohengrin“, welcher sich um einen unter dem Namen „Die Königin“
-bekannten Weinhändler zusammenfand. Während hier die Unterhaltung
-in musikalischen und deklamatorischen Darbietungen bestand, tragen
-manche dieser Vereinigungen, wie die „Gemeinschaft der Eigenen“, die
-„Platen-Gemeinschaft“, einen mehr literarischen Charakter. Auch ein
-Kabaret, das von Urningen geleitet und hauptsächlich von diesen besucht
-wird, gibt es in Berlin.
-
-Auf allen diesen Veranstaltungen tritt die eigentliche Sexualität
-genau so zurück wie in den entsprechenden normalsexuellen Kreisen.
-Das Bindemittel ist lediglich das aus der Gemeinsamkeit der
-Lebensschicksale sich ergebende Gefühl der Zusammengehörigkeit.
-
-Haben alle die genannten Gesellschaften einen mehr geschlossenen
-Charakter, so ist die Zahl derer, die allgemein zugänglich sind, noch
-viel bedeutender. Daß manche Restaurationen, Hotels, Pensionate,
-Badeanstalten, Vergnügungslokale, trotzdem sie jedermann offen
-stehen, fast ausschließlich von Urningen besucht werden, wird weniger
-merkwürdig erscheinen, wenn man bedenkt, daß viel weniger scharf
-gekennzeichnete Gruppen in Berlin ihre Lokale haben, die fast ganz von
-ihnen existieren; so gibt es Restaurationen, in denen nur Studenten,
-nur Schauspieler, nur Artisten verkehren, andere, die nur von Beamten,
-nur von Kaufleuten bestimmter Waren, von Liebhabern bestimmter
-Spiele und Sports leben, wieder andere, die nur von Buchmachern,
-Falschspielern oder irgend einer Verbrecherkategorie besucht werden.
-
-Man kann Lokalitäten unterscheiden, die von Urningen bevorzugt, aber
-auch von anderen Personen aufgesucht werden, und solche, die lediglich
-von jenen frequentiert sind. Zu ersteren gehört ein sehr großes
-Münchener Bierrestaurant der Friedrichstadt, in dem seit Jahren zu
-bestimmten Stunden stets an hundert Homosexuelle und mehr zu finden
-sind. Auch in bestimmte Kaffeehäuser ziehen sich die Urninge mit
-Vorliebe hin, wobei alle paar Jahre ein Wechsel zu beobachten ist; oft
-sind es Lokale, wo der Wirt oder ein Kellner selbst urnisch sind, meist
-werden bestimmte Abteilungen der Wirtschaften besonders bevorzugt. Die
-urnischen Damen treffen sich vielfach in Konditoreien; so befindet sich
-im Norden der Stadt eine, die täglich zwischen 4 und 6 Uhr nachmittags
-von urnischen Israelitinnen zahlreich besucht wird, welche hier Kaffee
-trinken, plaudern, Zeitungen lesen, Skat und mit Vorliebe Schach
-spielen.
-
-Im Sommer sind es stets gewisse Gartenlokale, in denen sich die Urninge
-in großer Zahl einfinden, während sie andere, wenigstens in Gruppen,
-meiden. In einigen dieser Konzertgärten macht sich neben der weiblichen
-auch die männliche Prostitution bemerkbar.
-
-In einem der vornehmsten Berliner Konzertlokale war vor einigen Sommern
-das Treiben der Homosexuellen so arg geworden, daß Kriminalbeamte
-hinbeordert wurden, um dem rücksichtslosen Gebahren, das nicht schwer
-genug gerügt werden kann, ein Ende zu bereiten.
-
-Es muß der Berliner Polizei zu ihrem Lobe nachgesagt werden, daß
-_agents provocateurs_ bei ihr außerordentlich selten sind. Es wäre
-den Beamten gewiß leicht, Homosexuelle herauszufinden, indem sie sich
-selbst als homosexuell gerierten; es soll dies in früheren Zeiten auch
-vorgekommen sein; mir ist nur ein Fall bekannt, und zwar spielte sich
-dieser in dem erwähnten Konzertlokal ab, in dem ein Urning den ihn
-beobachtenden Kriminalbeamten für Seinesgleichen hielt, glaubte, daß
-ihm Avancen gemacht würden, und keinen kleinen Schreck bekam, als er
-auf seine zärtliche Berührung hin arretiert, zur Wache gebracht und
-später dann auch wegen „tätlicher Beleidigung“ verurteilt wurde.
-
-Neben diesen Lokalen gibt es in Berlin eine ganze Anzahl, die ganz
-ausschließlich von Urningen besucht werden. Ihre Zahl genau anzugeben,
-ist sehr schwierig. Medizinalrat =Näcke=[1] dürfte wohl recht haben,
-wenn er annimmt, daß in Berlin mehr als zwanzig Urningskneipen
-vorhanden sind. Immer wieder höre ich gelegentlich in meiner Praxis
-urnische Restaurationen erwähnen, die mir bis dahin unbekannt waren.
-Jede dieser Wirtschaften hat noch ein besonderes Gepräge; in der
-einen halten sich mehr ältere, in einer anderen mehr jüngere, wieder
-in einer anderen ältere und jüngere Leute auf. Fast alle sind gut
-besucht, an Sonnabenden und Sonntagen meist überfüllt. Wirte, Kellner,
-Klavierspieler, Coupletsänger sind fast ausnahmslos selbst homosexuell.
-
-Man hat Homosexuelle aus der Provinz, die sich zum ersten Male in
-solchen Lokalen aufhielten, in tiefer seelischer Erschütterung weinen
-sehen.
-
-In allen diesen Kneipen geht es durchaus anständig zu; hie und
-da werden sie von der Kriminalpolizei oder deren Geheimagenten
-kontrolliert, doch hat sich fast nie eine Veranlassung zum
-polizeilichen Einschreiten ergeben.
-
-Rudolf Presber hat kürzlich in einem Feuilletonartikel unter dem
-Titel: „Weltstadttypen“ eine anschauliche Schilderung einer solchen
-Urningskneipe entworfen. Er schreibt:
-
-„Die letzte Station dieser interessanten Nachtfahrt machten wir in
-einem feineren Restaurant. Hier führen keine ausgetretenen klitschigen
-Stufen hinunter, sondern sauber gescheuerte Treppen hinauf. Bessere
-Gegend und ein besseres Haus. Die Ausstattung der Räume behaglich,
-nicht ohne Wärme. Bilder an den Wänden in goldenen Rahmen. Statt
-des gräflichen Orchestrions, das kaum in einer der früher gesehenen
-Kneipen fehlte, neben riesigem Notenpack ein anständiges Klavier. Und
-davor ein ganz erträglicher Spieler und daneben ein hagerer Jüngling
-mit sprossendem Bart, mit weibischen Bewegungen und einem gequält
-süßen Lächeln, einen breitrandigen Frauenhut mit wehendem Schleier
-auf dem pomadisierten Kopf. Der Jüngling singt -- Sopran.... Die
-beiden Stuben gut mit Gästen gefüllt. Kein schlechtes Publikum, so
-scheint's. Keiner spuckt auf die Dielen, keiner hat einen Zahnstocher
-zwischen den Zähnen, keiner säubert sich die Ohren oder kratzt sich
-die Beine, wie wir's den ganzen Abend über schaudernd genossen. Ein
-paar würdige alte Herren, ein paar ausrasierte Sportstypen, ein paar
-Künstler mit gebrannten und gelegten Locken. Dem Harmlosen mag hier
-zunächst wenig auffallen. Vielleicht nimmt's ihn nur Wunder, daß
-auch der zweite Sänger -- Sopran singt. Vielleicht erstaunt er, daß
-in keiner der gutgefüllten Stuben ein weibliches Wesen zu sehen ist
-... Man trinkt mäßig an sauber gedeckten Tischen. Kein unanständiges
-Wort wird gesprochen, und die Lieder, die gesungen werden, haben
-keine zotigen Pointen. Eher scheint das Sentimentale dieser andächtig
-lauschenden Versammlung zuzusagen. Und als einer der Sopransänger, sich
-in den Hüften wiegend, als schlenkere er niederfließende rauschende
-Frauenröcke, ein gar schmelzendes Liedchen beendigt, wendet sich ein
-an unserem Tisch sitzender, vornehm aussehender Greis an einen von
-uns, tippt ihn mit ganz leichter Vertraulichkeit auf den Arm und fragt
-bescheiden, aber mit seltsam leuchtenden Augen: „Gefällt's Ihnen bei
-uns?“
-
-„Keine Übeltäter hier, keine Verbrecher an der Person, keine
-Verbrecher am Eigentum. Unglückliche, Entrechtete, die den Fluch eines
-geheimnisvollen Rätsels der Natur durch ihr einsames Leben schleppen.
-Menschen, die sich im Kampf des Tages ihre geachtete Stellung erobert
-haben. Redlich arbeitende, deren Ehrenhaftigkeit niemand anzweifelt,
-deren Wort und Name seine gute Geltung hat; und die sich doch unter
-dem Druck eines mittelalterlich grausamen Gesetzesparagraphen scheu
-und heimlich zusammenfinden müssen, fern von den normalen Glücklichen
-ihre stets vom Gesetz, von der Verachtung, von der Erpressertücke
-gefährdeten unbesiegbaren Triebe den Gleichfühlenden einzugestehen.
-
-Im gefunden Herzen ehrliches Mitleid mit diesen Kranken, die eine
-letzte mittelalterliche Unvernunft den Verbrechern gleichstellt,
-treten wir hinaus auf die stille Straße. Wolkenlos spannt sich der
-Sternenhimmel der Julinacht über den mondbeglänzten Dächern. Mit
-dem riesigen Schlüsselbund rasselnd, schleicht ein Nachtwächter an
-den lichtlosen Häusern entlang. In einem Torbogen drückt sich ein
-Liebespaar inbrünstig die Hände. Fern und ferner klingt der Sopran....“
-
-So Presber. -- Eine andere Urningskneipe, die wir betreten, besteht aus
-vier ziemlich großen Zimmern. Es ist schwer Platz zu finden. Im zweiten
-und vierten Raum stehen Klaviere, in dem einen trägt „die Engeln“ die
-neuesten Lieder vor, in dem andern wird getanzt, nicht Mann und Weib,
-sondern Mann und Mann. Sie tanzen mit sichtlicher Hingebung; der
-weibliche Teil schmiegt sich schmachtend dem männlichen Partner an;
-die schlechte Musik materialisiert sich förmlich in ihnen; wenn der
-Klavierspieler abbricht, scheint es, als ob sie aus melodientrunkener
-Tonseligkeit zu rauher Wirklichkeit erwachen.
-
-Besonders eigenartig sind die Kaffeegesellschaften, wie sie nicht
-selten in diesen Lokalen stattfinden. Der Wirt, der Coupletsänger
-oder irgend ein Stammgast feiern ihren Geburtstag und haben diesem
-Fest zu Ehren ihre „Freundinnen“ zu sich gebeten. Zur festgesetzten
-Nachmittagsstunde erscheinen die Gäste, meist Urninge des Handwerker-
-und Arbeiterstandes. Jeder überreicht dem Geburtstagskinde ein
-Angebinde, eine selbstgefertigte Handarbeit, eine Probe eigener
-Kochkunst, ein paar künstliche oder natürliche Blumen. Die Begrüßungen
-sind sehr lebhaft, zierliche Knixe und Verbeugungen, denen sittsame
-Freundschaftsküsse auf die Wange folgen. Wie sie sich dann drehen und
-zieren, sich Schmeicheleien sagen, das Herausziehen der Hutnadel, das
-Aufraffen des Rockes, das Zurechtziehen der Taille, das Hinlegen der
-nicht vorhandenen Schleppe markieren, sich dann endlich mit den Worten:
-„Haben Sie schon gehört, meine Teure“ niederlassen, alles das ist
-von schwer zu schildernder Drolligkeit. Einzelne „Honoratioren“, wie
-die „Baronin“, die „Direktorin“, die „_Chambre separée_'sche“ werden
-besonders freudig und respektvoll begrüßt, die Zuspätkommenden mit
-launigen Scheltworten empfangen. Eine Stunde später, als man „geladen“,
-sitzt alles bei Tisch und während sich nun ein Schnattern und Plappern,
-ein Lachen, Juchzen und Kreischen in so verwirrendem Durcheinander
-erhebt, daß einem männlichen Gaste angst und bange werden kann,
-verschwinden mit erstaunlicher Geschwindigkeit Berge von Kuchen und
-Ströme von Kaffee. Nachdem den Sprech- und Kauwerkzeugen einigermaßen
-genüge geschehen, werden die mitgebrachten Handarbeiten hervorgeholt,
-man häkelt, strickt, stickt und näht, zugleich aber tragen die
-künstlerischen Kräfte, welche in Urningsgesellschaften selten fehlen,
-mit Gesängen, Deklamationen und Vorträgen zur Unterhaltung bei.
-Ihren Höhepunkt aber erreicht die Stimmung, wenn das Geburtstagskind
-unter lautem Beifall aller von einem der Gäste graziös zum Flügel
-geleitet wird und in wohllautendem Alt mit ebenso viel Sehnsucht, als
-Unwahrscheinlichkeit sein Lieblingslied: „Ach, wenn ich doch ein Räuber
-wär'“ zum Besten gibt. Kein Mißklang trübt das harmlose Treiben weniger
-flüchtiger Stunden, bis die Abendbrotzeit die muntere Schar wieder in
-alle Winde verscheucht.
-
-Wer zum erstenmale den Gesprächen in diesen Kneipen lauscht, wird
-erstaunt sein über die große Zahl weiblicher, oft sehr absonderlicher
-Namen, die an sein Ohr dringen. Bald wird er gewahr, daß es sich um
-Spitznamen handelt, welche die Gäste sich untereinander beilegen. Die
-Gründe dieser verbreiteten Sitte sind verschiedene; einmal verschweigen
-die meisten Personen, die sich hier einfinden, begreiflicherweise
-ihre wahren Namen, so daß die anderen, im Bedürfnis, sich über sie zu
-unterhalten, zu selbstgewählten Bezeichnungen greifen, außerdem fühlt
-man instinktiv, daß die Anrede „Herr so und so“ bei vielen, =keineswegs
-bei allen=, in so starkem Gegensatz zu ihrem femininen Wesen steht, und
-endlich bietet sich in der Wahl dieser Necknamen eine gute Gelegenheit,
-den ja auch gerade im Berliner tief wurzelnden Drang nach Scherz und
-Humor zu befriedigen. In vielen, namentlich virileren Urningskreisen
-ist der Gebrauch derartiger weiblicher Spitznamen übrigens verpönt.
-
-Viele dieser Namen sind lediglich weibliche Umgestaltungen der
-entsprechenden männlichen Vornamen; so wird aus Paul Paula, aus Fritz
-Frieda, aus Erich Erika, aus Georg Georgette, aus Theodor Dorchen oder
-Thea, aus Otto Ottilie oder auch Otéro. In einem Berliner Urningsliede,
-in welchem geschildert wird, wie eine Mutter auf die Nachricht, ihr
-Sohn sei „pervers“, in großer Besorgnis zu ihm eilt, und dieser sie
-beruhigt, indem er ihr als Zeugnis seiner Normalität die an ihn
-gerichteten Liebesbriefe vorzeigt, welche die Unterschrift „Luise“
-tragen, heißt es am Schlusse:
-
- „Beim Abschiedskuß an meiner Tür,
- Da dachte ich dann still bei mir:
- Wie gut, liebe Mutter, daß Du nicht weißt,
- Daß meine Luise -- Ludwig heißt.“
-
-Oft sind diese weiblichen Namen noch mit Unterscheidungszusätzen
-verbunden; so gibt es eine Näsenjuste, eine Schmalzjuste, eine
-Klammerjuste, Klamottenjuste, Handschuhjuste und Blumenjuste, eine
-Lange-Anna, Ballhausanna und Blaueplüschanna, eine Hundelotte und eine
-Quietschlotte, eine Spitzenkaroline und eine Umsturzkaroline (weil
-er durch seine lebhaften Armbewegungen jeden Abend mindestens ein
-Glas Bier „umstürzen“ soll), eine Butterriecke, eine Käseklara, eine
-Lausepaula, eine Harfenjule und eine Totenkopfmarie.
-
-Viele Urninge erhalten altdeutsche Beinamen, wie Hildegarde, Kunigunde,
-Thusnelda, Schwanhilde und Adelheid, oder klangvolle Adelsnamen, wie
-Wally von Trauten, Berta von Brunneck, Asta von Schönermark oder noch
-hochtönendere; so findet man in diesen Kneipen neben der Markgräfin,
-der Landgräfin, der Burggräfin und der Kurfürstin (weil sie in der
-Markgrafen-, Landgrafen-, Burggrafen- und Kurfürstenstraße wohnen)
-die Marquise de la place d'Alexandre (wohnt am Alexanderplatz), die
-Herzogin von Aschaffenburg, die Herzogin d'Angoulème, die Großfürstin
-Olga, die Königin Natalie, die Carmen Sylva, die Kaffeekönigin, die
-Polenkönigin, die Oberstallmeisterin, die Excellenzfrau, die Kaiserin
-Messalina und die Kaiserin Katharina.
-
-Manche führen ihre Namen von ihrem Beruf; so wird ein urnischer
-Ballettänzer „Jettchen Hebezeh“, ein Damenschneider „Jenny Fischbein“
-und ein Damenkomiker „Pokahuntas, die hinterindische Nachtigall“
-genannt.
-
-Ich bemerke, daß sämtliche hier angeführten Spitznamen von zwei
-Gewährsmännern innerhalb kurzer Zeit in einem einzigen Berliner
-Urningslokal gesammelt wurden. Von Beinamen, die der Zoologie
-entstammten, fanden sie unter anderen: die „Schweizerkuh“, das
-„Meerschweinchen“, „die Gipskatze“ (weil er sich stark pudert), „die
-Krückente“, „die Ententrittsche“ (weil er beim Gehen „watschelt“),
-„die schwarze Henne“, „die Nebelkrähe“, „die Spitzmaus“, „die
-Brillenschlange“ und „die Kreuzspinne“; von botanischen Bezeichnungen:
-„das Blauveilchen“, „das Apfelröschen“, „das Resedaköpfchen“, „Paprika“
-(auch „Papp-Rieka“ genannt), „die Rosine“ und „die Weintraube“ (weil er
-so leicht gerührt ist).
-
-Mit großer Vorliebe wird den Titeln oder hervorstechenden Eigenschaften
-ein „in“ oder „sche“ oft in sehr origineller Weise angehängt; der
-Direktor wird zur „Direktorin“, der Geheimrat zur „Geheimrätin“, ein
-Rechtsanwalt heißt „die Anwaltsche“, ein vornehmer Urning, der mit
-seinen Freunden häufig im Chambre separée speisen soll, heißt „die
-Chambreseparéesche“, ein anderer, der viel das Sonnenbad besucht, „die
-Lichtluftbadsche“, während ein Klavierspieler „die Klaviersche“, einer
-der sich stark schminkt „die Zinnobersche“ und ein Elektrotechniker
-kurzweg „die Elektrische“ genannt wird.
-
-Eine Gruppe für sich bilden die „Soldatentanten“, welche vielfach
-ihre Spitznamen nach denjenigen Truppenteilen bekommen, für die sie
-sich besonders interessieren; so gibt es eine „Ulanenjuste“, eine
-„Dragonerbraut“, eine „Kürassieranna“, eine „Kanoniersche“, ja sogar
-eine „Schießschulsche“, der seinen Namen davon führt, weil er mit
-Vorliebe die Wirtschaften in der Umgegend der Schießschule aufsucht.
-
-Von anderen Berliner Spitznamen, die weniger leicht zu rubrizieren
-sind, erwähne ich noch: „Minehaha, das lächelnde Wasser“, „Rebekka, die
-Mutter der Kompagnie“, „Anita mit dem Giftzahn“, „Cleo die Marode“,
-„Traudchen Hundgeburt“, „Die heilige Beryllis“, „Die Genossin meiner
-Schmach“, „die freie Schweizerin“, die „gute Partie“, „die hohe Frau“,
-„die Rollmopstante“, „Susanne in der Wanne“, „die weiße Wand“ (pudert
-sich stark), „Rotundelein“, „Locusblume“, (Namen zweier Urninge, denen
-man nachsagt, daß sie öfter, als notwendig, die Bedürfnisanstalten
-aufsuchen), „das Waldmensch“, „die Mutter Wolffen“, „Violetta“,
-„Aurora“, „Melitta“, „Rosaura“, „Kassandra“, „Goulasch“, „die Ahnfrau“,
-„die Grabesbraut“, „der Abendstern“ und „die Morgenstunde“, weil er
-Gold im Munde, nämlich mit Goldplomben versehene Zähne hat.
-
-Auch die Uranierinnen führen in ihren Kreisen, besonders auch in ihren
-Lokalen, deren es ebenfalls eine Reihe gibt, analoge Namen. Nur findet
-man bei ihnen im Gegensatz zu den Männern meist einfache Vornamen,
-selten Beinamen, die sich auf irgend eine besondere Eigenschaft ihrer
-Trägerin beziehen; bevorzugt werden einsilbige Namen, wie Fritz, Heinz,
-Max, Franz, namentlich Hans; doch findet man auch solche, die Arthur,
-Edmund, Theo, Oskar, Roderich, Rudolf genannt werden.
-
-Merkwürdig viele Namen von Uranierinnen sind der Geschichte und
-Litteratur entnommen; ich nenne von Berlinerinnen: Napoleon, Nero,
-Cäsar, Heliogabal, Caligula, Antinous, Gregor, Carlos, Posa, Mortimer,
-Götz, Tasso, Egmont, Armin, Teja, Blücher, Ofterdingen, Karl Moor,
-Franz Lerse, Jörn Uhl, Don Juan, Puck und Hiddigeigei.
-
-Weniger schöne Spitznamen weiblicher Urninge sind Bubi, Rollmops,
-Kümmelfritze und Schinkenemil.
-
-Besondere Berücksichtigung verdienen unter den Berliner Urningslokalen
-die „Soldatenkneipen“, welche, meist in der Nähe der Kasernen gelegen,
-in den Stunden vom Feierabend bis zum Zapfenstreich am besuchtesten
-sind. Um diese Zeit sieht man in diesen Wirtschaften meist gegen 50
-Soldaten, darunter auch Unteroffiziere, die hingekommen sind, um sich
-einen Homosexuellen zu suchen, der sie freihält, und selten kehrt
-jemand in die Kaserne zurück, ohne das Gewünschte gefunden zu haben.
-Diese Lokale sind meist von kurzem Bestand. Fast immer werden sie dem
-Militär nach kurzer Zeit durch Regimentsbefehl verboten, nachdem irgend
-ein Unbekannter, gewöhnlich aus Brotneid oder Rachsucht, „gepfiffen“
-hat. Es tun sich dann stets bald wieder ein oder zwei, auch mehrere
-ähnliche Lokale in derselben Gegend auf. Erst vor kurzem flog wieder
-im Südwesten der Stadt eine typische Soldatenkneipe auf, die „zur
-Katzenmutter“ genannt wurde; ich weiß nicht, ob der sonderbare Name
-von der alten Wirtin herrührte, in deren schleichendem Gang und
-rundem, schnurrbartgeziertem Gesicht etwas unverkennbar Katzenartiges
-lag, oder von den Katern und Katzen, die zwischen Tischen und Stühlen
-herumsprangen und deren Bildnisse die Wände des seltsamen Lokals
-schmückten.
-
-Würde ein Normalsexueller derartige Lokale betreten, er würde sich
-vielleicht wundern, daß dort so viele fein gekleidete Herren mit
-Soldaten sitzen, im übrigen aber wohl kaum jemals etwas Anstößiges
-finden. Die hier bei Bockwurst mit Salat und Bier geschlossenen
-Freundschaften zwischen Homosexuellen und Soldaten halten oft über die
-ganze Dienstzeit, nicht selten darüber hinaus vor. So mancher Urning
-erhält, wenn der Soldat schon längst als verheirateter Bauer fern
-von seiner geliebten Garnison Berlin in heimatlichen Gauen das Land
-bestellt, „Frischgeschlachtetes“ als Zeichen freundlichen Gedenkens.
-Es kommt sogar vor, daß sich diese Verhältnisse auf die nachfolgenden
-Brüder übertragen; so kenne ich einen Fall, wo ein Homosexueller nach
-einander mit drei Brüdern verkehrte, die bei den Kürassieren standen.
-
-
-Gewöhnlich kommt der Soldat, wenn der Dienst zu Ende, in die Wohnung
-seines Freundes, der ihm bereits sein Lieblingsessen eigenhändig
-gekocht hat, dessen gewaltige Mengen hastig verschlungen werden. Dann
-nimmt der junge Krieger in gesundheitsstrotzender Breite auf dem Sofa
-Platz, während der Urning, bescheiden auf einem Stuhle sitzend, ihm die
-mitgebrachte zerrissene Wäsche flickt oder die Weihnachtspantoffeln
-stickt, mit denen jener eigentlich überrascht werden sollte, die aber
-zu verheimlichen, die Beherrschungskraft des glücklichen Liebhabers um
-ein Beträchtliches übersteigt.
-
-
-Währenddem werden alle die kleinen Einzelheiten des königlichen
-Dienstes besprochen; was der „Alte“ (Hauptmann) beim Apell gesagt hat,
-was morgen für Dienst ist, wann man auf Wache muß und ob man ihn nicht
-am nächsten Tage irgendwo vorbeimarschieren sehen könnte. Schließlich
-geleitet man ihn bis in die Nähe der Kaserne, nicht ohne vorher die
-Feldflasche mit Rotspohn gefüllt und die Butterstullen eingepackt zu
-haben.
-
-Am Parademorgen aber steht der Urning in der Belle-Alliancestraße an
-der verabredeten Stelle schon ganz früh, um ja noch in der ersten Reihe
-Platz zu bekommen. Hoffentlich ist sein Soldat Flügelmann, daß man ihn
-auch ganz genau sieht. Und nachher wird ausgeharrt, bis er zurückkommt,
-und abends hat er dann Urlaub, dann geht es zu „Buschen“ in den Cirkus,
-nachdem er zuvor die 50 Pfennige, die er an diesem Tage als Extrasold
-erhielt, in die bei seinem Freunde stationierte Sparbüchse versenkt hat.
-
-Ein noch größerer Feiertag aber ist das
-„Kaisersgeburtstagskompagnievergnügen“. Da geht der Homosexuelle als
-„Cousin“ mit seinem Freunde hin. In rührender Glückseligkeit tanzt er
-mit dem Mädchen, mit welchem gerade zuvor sein Soldat getanzt hat, er
-hat keine Ahnung, wie sie aussieht, denn er hat nur auf ihn gesehen
-und während er das Mädchen umfaßt hielt, nur an ihn gedacht. Womöglich
-spricht auch der Hauptmann mit ihm als Cousin seines Gefreiten oder
-Unteroffiziers. Es kann sich aber auch ereignen, daß der Homosexuelle
-zu seinem Leidwesen diesem Festtage fern bleiben muß, wenn er nämlich
-einige Tage zuvor mit einem der anwesenden Offiziere irgendwo an
-demselben Diner teilgenommen hat.
-
-Die Gründe, welche den Soldaten zum Verkehr mit Homosexuellen
-veranlassen, liegen nahe; es ist einmal der Wunsch, sich das Leben
-in der Großstadt etwas komfortabler zu gestalten, besseres Essen,
-mehr Getränke, Zigarren und Vergnügungen (Tanzboden, Theater &c.) zu
-haben; dazu kommt, daß er -- der oft sehr bildungsbedürftige Landwirt,
-Handwerker oder Arbeiter -- im Verkehr mit dem Homosexuellen geistig
-zu profitieren hofft, dieser gibt ihm gute Bücher, spricht mit ihm
-über die Zeitereignisse, geht mit ihm ins Museum, zeigt ihm, was sich
-schickt und was er nicht tun soll; das oft drollige, komische Wesen
-des Urnings trägt auch zu seiner Erheiterung bei; wenn sein Freund
-ihm abends Couplets vorsingt oder ihm gar, mit dem Lampenschirm als
-Kapotte und einer Schürze weiblich zurecht gestutzt, etwas vortanzt,
-amüsiert er sich in seiner Naivität über alle Maßen. Weitere Momente
-sind der Mangel an Geld oder an Mädchen, die dem Soldaten nichts
-kosten, die Furcht vor den beim Militär sehr übel accreditierten
-Geschlechtskrankheiten und die gute Absicht, der daheim bleibenden
-Braut treu zu bleiben, der man beim Abschied die Treue geschworen und
-die in jedem „Schreibebrief“ ängstlich an diesen Schwur gemahnt.
-
-In der Nähe der geschilderten Kneipen befindet sich vielfach auch
-der „militärische Strich“, auf dem die Soldaten einzeln oder in
-Paaren gehend Annäherung an Homosexuelle suchen. Ich will hier auf
-eine wichtige Erscheinung hinweisen, auf die mich ein weit gereister
-Homosexueller aufmerksam machte, und deren Richtigkeit mir auf Befragen
-seitdem von zuverlässigen Gewährsmännern übereinstimmend bestätigt
-wurde. Die „Soldatenprostitution“ ist in einem Lande um so stärker, je
-mehr die Gesetze die Homosexualität verfolgen. Offenbar hängt diese
-Tatsache damit zusammen, daß man in Ländern mit Urningsparagraphen von
-den Soldaten am wenigsten Erpressungen und andere Unannehmlichkeiten zu
-fürchten hat.
-
-Außer in London, wo sich in den belebtesten Parks und Straßen
-vom Spätnachmittag bis nach Mitternacht zahlreiche Soldaten in
-unverkennbarer Weise feilbieten, fand unser Gewährsmann in keiner
-Weltstadt jeden Abend solche Auswahl an Soldaten verschiedener
-Waffengattungen, wie in Berlin. Es gibt etwa ein halbes Dutzend
-Stellen, auf denen die Soldaten nach Einbruch der Dämmerung in
-bestimmter Absicht auf- und abgehen. Wie die Lokale, wechseln auch die
-„Striche“ ziemlich häufig, so ist erst neuerdings ein vielbegangener
-Weg, das Planufer, den Soldaten verboten worden.
-
-Sehr verbreitet ist die Soldatenprostitution namentlich in den
-skandinavischen Hauptstädten; in Stockholm läßt man seit einigen
-Jahren sogar eigene Militärpatrouillen auf Soldaten fahnden, die
-zu dem erwähnten Zwecke „herumstreichen“, doch hat dies, wie unser
-Gewährsmann, der lange in der schwedischen Hauptstadt lebte,
-versichert, nichts geholfen.
-
-In Helsingfors, der Hauptstadt Finlands, einem Orte von etwa 80.000
-Einwohnern, ist die militärische Prostitution ganz besonders stark
-hervortretend. Etwas geringer ist sie in Petersburg, wo auf einem
-vom Centrum der Stadt weit entfernten Platz besonders Matrosen
-Bekanntschaften mit Homosexuellen suchen.
-
-Unser Gewährsmann vergleicht mit diesen Städten Paris, wo er „in
-18 Monaten nur Rudimente eines militärischen Strichs“ nachweisen
-konnte, sowie die einschlägigen Verhältnisse in Amsterdam, Brüssel,
-Rom, Mailand, Neapel und Florenz (Städte ohne Urningsparagraphen)
-und gelangt zu dem Schlusse, „daß in allen europäischen Ländern mit
-strengen Strafbestimmungen gegen den homosexuellen Verkehr die Hingabe
-von Soldaten in einer Weise auftritt, die man nicht für möglich halten
-sollte, wenn man es nicht mit eigenen Augen beobachtet hat, während man
-in Ländern ohne Urningsparagraphen fast nichts von dieser Erscheinung
-bemerkt“.
-
-Die gebräuchliche Bezeichnung „Soldatenprostitution“ entspricht
-übrigens dem sonstigen Begriff der Prostitution nicht, da es sich ja
-bei den Soldaten keineswegs „um eine berufs- oder gewerbsmäßige Hingabe
-des Körpers“ handelt. Ich möchte hier der weitverbreiteten Ansicht
-entgegentreten, als ob dem Verkehr zwischen Soldaten und Homosexuellen
-gewöhnlich Akte zu Grunde liegen, die an und für sich strafbar sind.
-Kommt es zu geschlechtlichen Handlungen, was durchaus nicht immer der
-Fall ist, so bestehen diese fast stets in Erregungen durch Umarmen,
-Aneinanderpressen und Berühren der Körperteile, wie dies überhaupt
-bei homosexueller Betätigung die Regel ist. Die Vorstellung, der
-homosexuelle, namentlich auch der weiblicher geartete, sei Päderast in
-des Wortes üblichem Sinn, ist eine vollkommen irrtümliche. In meiner
-Praxis ereignete sich kürzlich eine Episode, die mir zeigte, wie stark
-auch noch in Berlin diese Meinung vorherrscht. Bald nachdem in den
-Zeitungen infolge der von mir unternommenen statistischen Umfrage über
-die Zahl der Urninge viel von Homosexualität die Rede war, suchte
-mich ein biederer Schlächtermeister aus dem Osten auf, ein völlig
-normaler Familienvater, welcher sich allen Ernstes mit folgenden Worten
-einführte: „Ich habe seit einigen Wochen ein so starkes Jucken in der
-Nähe des Afters und wollte Sie daher bitten, einmal nachzusehen, ob ich
-homosexuell veranlagt bin.“
-
-Die Seltenheit eigentlich päderastischer Akte ändert aber nichts an
-der Grausamkeit und Ungerechtigkeit der betreffenden Strafbestimmung,
-da das gesellschaftlich Vernichtende bereits die Voruntersuchung ist
-und das Gericht -- wenn bestraft wird, auch ganz mit Recht -- sich
-nicht so streng an die bestimmte Art der Betätigung hält. Im übrigen
-wiederhole ich, daß das rein sexuelle Moment im Leben und der Liebe des
-Homosexuellen keine größere Rolle spielt, wie im nichturnischen Leben;
-ich würde diese Frage ihres intimen und privaten Charakters wegen
-überhaupt nicht in den Kreis meiner Betrachtungen gezogen haben, wenn
-sie nicht von den Verfechtern einer falschen Moral immer wieder als
-Hauptsache in den Vordergrund gezerrt würde. --
-
-Es gibt noch einen zweiten Stand, der in Berlin seit langer Zeit mit
-den Urningen vielfache Beziehungen unterhält; das sind die Athleten.
-Die zahlreichen Athleten-Vereine der Hauptstadt setzen sich zumeist aus
-unverheirateten Arbeitern zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr zusammen;
-größtenteils sind es Schlosser, Schmiede oder sonstige Eisenarbeiter.
-Bei diesen Leuten gilt Kraft, Gefahr und Kühnheit alles. In ihren Augen
-ist „der Kampf zwischen Rußland und Japan überhaupt kein Kampf, weil so
-viel geschossen und so wenig gerungen, gestochen und geboxt wird“.
-
-Wir betreten einen Athletenklub, welcher mit Homosexuellen im
-Zusammenhange steht. Im Nebenzimmer einer kleinen Gastwirtschaft wird
-„gearbeitet“. Der kleine Raum ist von Öl-, Metall- und Schweißgeruch
-erfüllt, jener eigentümlichen Ausdünstung, wie sie den Körpern der
-Eisenarbeiter zu entströmen pflegt. Auf dem Boden liegen Eisenstangen,
-Hanteln, Gewichte von 100 und mehr Pfund, daneben eine Matratze, auf
-der gerungen wird. Acht bis zehn kraftstrotzende Athleten sind zugegen,
-teils in schwarzem Tricot, teils mit entblößtem Oberkörper, Brust und
-Arme tätowiert.
-
-An der Fensterseite des Zimmers steht ein langer, schmaler Tisch,
-von Bänken umgeben, auf denen eine Anzahl Herren sitzen, deren
-vornehme Züge und Anzüge mit denen der starken Männer seltsam
-kontrastieren. Oben am Tisch sitzt die Präsidentin oder Protektorin des
-Athletenklubs, ein Damenschneider, auf den das Wort Martials zutrifft,
-„daß er mit einer kleinen Ausnahme alles von seiner Mutter hat“.
-Kein Uneingeweihter würde in ihm ein Mitglied des Athletenklubs --
-geschweige denn dessen Präsidentin vermuten.
-
-Auf dem Tisch befindet sich eine Sparbüchse, in welche die Gäste ihr
-Scherflein zur Deckung der Unkosten, Anschaffung von Gewichten und
-Matratzen tun. Außerdem berichtigen sie die Zechen ihrer Athleten, die
-vor und während der Arbeit in Selter, Limonade und Zigaretten, nach dem
-Gewichteheben und Ringen in Bier und Abendbrot bestehen.
-
-Die urnischen Freunde sorgen, daß fleißig geübt wird, die plastische
-Schönheit der Bewegungen, das Spiel der Muskeln wird von den
-sachverständigen Gönnern eifrig verfolgt, jeder „Gang“ auf das
-lebhafteste kritisiert.
-
-Manche Homosexuelle verbinden sich mit den Athleten besonders
-auch deshalb, um, wenn sie irgendwie belästigt oder infolge des
-unglücklichen § 175 erpreßt werden, handfeste, unerschrockene Männer
-zur Verfügung zu haben, auf deren Schutz und „tatkräftige“ Freundschaft
-sie sicher bauen können.
-
-Von einigen Wirten urnischer Lokale, aber durchaus nicht von diesen
-allein, werden namentlich im Winterhalbjahr große Urningsbälle
-veranstaltet, die in ihrer Art und Ausdehnung eine Spezialität von
-Berlin sind. Hervorragenden Fremden, namentlich Ausländern, die in der
-jüngsten der europäischen Weltstädte etwas ganz Besonderes zu sehen
-wünschen, werden sie von höheren Beamten als eine der interessantesten
-Sehenswürdigkeiten gezeigt. Sie sind auch bereits wiederholt
-beschrieben, so neuerdings von Oskar Méténier in „_Vertus et Vices
-allemands, les Berlinois chez eux_“.[2] In der Hochsaison von Oktober
-bis Ostern finden diese Bälle in der Woche mehrmals, oft sogar mehrere
-an einem Abend statt. Trotzdem das Eintrittsgeld selten weniger als
-1,50 M. beträgt, sind diese Veranstaltungen meist gut besucht. Fast
-stets sind mehrere Geheimpolizisten zugegen, die acht geben, daß nichts
-Ungeziemendes vorkommt; soweit ich unterrichtet bin, lag aber noch nie
-ein Anlaß vor, einzuschreiten. Die Veranstalter haben Ordre, möglichst
-nur Personen einzulassen, die ihnen als homosexuell bekannt sind.
-
-Einige der Bälle erfreuen sich eines besonderen Renommées, vor allem
-der kurz nach Neujahr veranstaltete, auf dem die neuen, vielfach
-selbst gefertigten Toiletten vorgeführt werden. Als ich diesen Ball
-im letzten Jahr mit einigen ärztlichen Kollegen besuchte, waren
-gegen 800 Personen zugegen. Gegen 10 Uhr abends sind die großen Säle
-noch fast menschenleer. Erst nach 11 Uhr beginnen sich die Räume zu
-füllen. Viele Besucher sind im Gesellschafts- oder Straßen-Anzug,
-sehr viele aber auch kostümiert. Einige erscheinen dicht maskiert in
-undurchdringlichen Dominos, sie kommen und gehen, ohne daß jemand ahnt,
-wer sie gewesen sind; andere lüften die Larve um Mitternacht, ein
-Teil kommt in Phantasiegewändern, ein großer Teil in Damenkleidern,
-manche in einfachen, andere in sehr kostbaren Toiletten. Ich sah einen
-Südamerikaner in einer Pariser Robe, deren Preis über 2000 Frcs.
-betragen sollte.
-
-Nicht wenige wirken in ihrem Aussehen und ihren Bewegungen so weiblich,
-daß es selbst Kennern schwer fällt, den Mann zu erkennen. Ich erinnere
-mich, daß ich auf einem dieser Bälle mit einem auf diesem Gebiet sehr
-erfahrenen Kriminalwachtmeister ein Dienstmädchen beobachtete, von dem
-der Beamte fest überzeugt war, daß sie ein richtiges Weib sein müsse,
-auch ich hatte nur geringe Zweifel, um in der Unterhaltung mit ihr aber
-doch wahrzunehmen, daß sie „ein Mann“ war. Wirkliche Weiber sind auf
-diesen Bällen nur ganz spärlich vorhanden, nur dann und wann bringt
-ein Uranier seine Wirtin, eine Freundin oder -- seine Ehefrau mit. Man
-verfährt im allgemeinen bei den Urningen nicht so streng wie auf den
-analogen Urnindenbällen, auf denen jedem „echten Mann“ strengstens der
-Zutritt versagt ist. Am geschmacklosesten und abstoßendsten wirken
-auf den Bällen der Homosexuellen die ebenfalls nicht vereinzelten
-Herren, die trotz eines stattlichen Schnurrbartes oder gar Vollbartes
-„als Weib“ kommen. Die schönsten Kostüme werden auf ein Zeichen, des
-Einberufers mit donnerndem Tusch empfangen und von diesem selbst
-durch den Saal geleitet. Zwischen 12 und 1 Uhr erreicht der Besuch
-gewöhnlich seinen Höhepunkt. Gegen 2 Uhr findet die Kaffeepause --
-die Haupteinnahmequelle des Saalinhabers -- statt. In wenigen Minuten
-sind lange Tafeln aufgeschlagen und gedeckt, an denen mehrere hundert
-Personen Platz nehmen; einige humoristische Gesangsvorträge und Tänze
-anwesender „Damenimitatoren“ würzen die Unterhaltung, dann setzt sich
-das fröhliche Treiben bis zum frühen Morgen fort.
-
-In einem der großen Säle, in welchem die Urninge ihre Bälle
-veranstalten, findet auch fast jede Woche ein analoger Ballabend für
-Uranierinnen statt, von denen sich ein großer Teil in Herrenkostüm
-einfindet. Die meisten homosexuellen Frauen auf einem Fleck kann man
-alljährlich auf einem von einer Berliner Dame arrangierten Kostümfest
-sehen. Das Fest ist nicht öffentlich, sondern gewöhnlich nur denjenigen
-zugänglich, die einer der Komiteedamen bekannt sind. Eine Teilnehmerin
-entwirft mir folgende anschauliche Schilderung: „An einem schönen
-Winterabend fahren von 8 Uhr ab vor einem der ersten Berliner Hotels
-Wagen auf Wagen vor, denen Damen und Herren in Kostümen aller Länder
-und Zeiten entsteigen. Hier sieht man einen flotten Couleurstudenten
-mit mächtigen Renommierschmissen ankommen, dort hilft ein schlanker
-Rokokoherr seiner Dame galant aus der Equipage. Immer dichter füllen
-sich die strahlend erleuchteten weiten Räume; jetzt tritt ein dicker
-Kapuziner ein, vor dem sich ehrfurchtsvoll Zigeuner, Pierrots,
-Matrosen, Klowns, Bäcker, Landsknechte, schmucke Offiziere, Herren und
-Damen im Reitanzug, Buren, Japaner und zierliche Geishas neigen. Eine
-glutäugige Carmen setzt einen Jockey in Brand, ein feuriger Italiener
-schließt mit einem Schneemann innige Freundschaft. Die in buntesten
-Farben schillernde fröhliche Schar bietet ein höchst eigenartiges
-anziehendes Bild. Zuerst stärken sich die Festteilnehmerinnen an
-blumengeschmückten Tafeln. Die Leiterin in flotter Sammetjoppe heißt
-in kurzer kerniger Rede die Gäste willkommen. Dann werden die Tische
-fortgeräumt. Die „Donauwellen“ erklingen, und begleitet von fröhlichen
-Tanzweisen, schwingen sich die Paare die Nacht hindurch im Kreise.
-Aus den Nebensälen hört man helles Lachen, Klingen der Gläser und
-munteres Singen, nirgends aber -- wohin man sieht -- werden die Grenzen
-eines Kostümfestes vornehmer Art überschritten. Kein Mißton trübt
-die allgemeine Freude, bis die letzten Teilnehmerinnen beim matten
-Dämmerlicht des kalten Februarmorgens den Ort verlassen, an dem sie
-sich unter Mitempfindenden wenige Stunden als das träumen durften,
-was sie innerlich sind. Wem es je vergönnt war, schließt Frl. R.
-ihren Bericht, ein derartiges Fest mitzumachen, wird aus ehrlicher
-Überzeugung sein Leben lang für die ungerecht verleumdeten Uranierinnen
-eintreten, denn er wird sich darüber klar geworden sein, daß es überall
-gute und schlechte Menschen gibt, daß die homosexuelle Naturveranlagung
-aber ebensowenig wie die heterosexuelle von vornherein einen Menschen
-zum Guten oder Bösen stempelt.“
-
-Nicht weniger wie die Bälle, sind auch die „Herrenabende“ besucht,
-theaterartige Veranstaltungen, welche von Zeit zu Zeit von Urningen für
-Urninge gegeben werden. Gewöhnlich sind sämtliche auftretenden Künstler
-„Zwischenstufen“; besonders beliebt ist es, berühmte Literaturwerke
-homosexuell zu parodieren, und es erregt nicht geringe Heiterkeit,
-wenn die Engeln als Marthe Schwertlein, die Harfenjule als Salome oder
-gar Schwanhilde, als Maria Stuart, Königin Elisabeth und Amme in einer
-Person auftritt.
-
-Außer den Restaurants gibt es in Berlin auch Hotels, Pensionate und
-Badeanstalten, die fast ausschließlich von Homosexuellen besucht
-werden; dagegen habe ich ein von Pastor Philipps neuerdings, wie
-bereits früher, erwähntes Berliner Gemeinschaftshaus der Homosexuellen
-bisher nicht ermitteln können.
-
-Die Homosexualität in Badeanstalten ist in Berlin bei weitem nicht so
-verbreitet, wie in anderen Großstädten, namentlich in St. Petersburg
-und Wien. In der österreichischen Hauptstadt befindet sich ein Bad, das
-durch den ganz außerordentlich starken Zusammenfluß von Homosexuellen
-an bestimmten Tagen, zu gewissen Stunden einzig dastehen dürfte. In
-Berlin weiß ich von vier mittelgroßen Badeanstalten, die nur von
-homosexueller Kundschaft leben. Auch einige Schwimmbassins sind zu
-bestimmten Tageszeiten Treffpunkte der Homosexuellen.
-
-Vielfach sind in diesen Anstalten, ebenso wie in den Restaurationen
-und Hotels, der Besitzer oder ein Angestellter homosexuell. Dieselben
-sind ursprünglich meist nicht in der Absicht gegründet, urnische
-Bekanntschaften zu vermitteln oder gar der Unzucht Vorschub zu leisten
-(im Sinne des § 180 R.-St.-G.-B.), vielmehr hat es sich allmählich
-herumgesprochen, daß der Eigentümer oder der Oberkellner oder ein
-Masseur „so“ ist, worauf sich dann viele Urninge dorthin ziehen, weil
-sie sich dort ungenierter fühlen.
-
-Die Besitzer sind sich oft gewiß nicht darüber klar, daß sie dabei
-Gefahr laufen, mit dem Kuppeleiparagraphen des Strafgesetzbuches in
-Konflikt zu geraten. Vor kurzem erregte ein Prozeß wegen homosexueller
-Kuppelei ziemliches Aufsehen, der gegen einen alten Uranier
-angestrengt wurde, welcher mit einem Freunde im Westen der Stadt ein
-Pensions-Hotel führte, das überwiegend von homosexuellen Damen und
-Herren aufgesucht wurde. Trotzdem die Angeklagten -- meines Erachtens
-nicht mit Unrecht -- darauf hinwiesen, daß sie keine höheren Preise
-forderten und erhielten, wie sie in ähnlichen Etablissements üblich
-sind, ferner, daß sie sich nicht befugt hielten, zu kontrollieren, was
-ihre Gäste, zu denen ein vielgenannter Reichstagsabgeordneter gehörte,
-auf ihren Zimmern mit ihren Besuchern täten, wurden beide zu einer
-Gefängnisstrafe von einem Monat verurteilt.
-
-Einer wieviel größeren Gefahr setzen sich die Hotelwirte aus, bei
-denen sich für wenige Stunden die männlichen Prostituierten mit ihren
-Herren einfinden, sowie die urnischen Absteigequartiere, deren es
-in Berlin eine ganze Anzahl geben soll. Diese Quartiere sind eine
-unmittelbare Folge der durch den § 175 geschaffenen Verhältnisse. Sie
-werden besonders von Uraniern vornehmer Gesellschaftskreise, auch viel
-von uranischen Offizieren auswärtiger Garnisonen benutzt, die sich aus
-wohlbegründeter Furcht, Erpressern, Verbrechern oder Verrätern in die
-Hände zu fallen, an diese Vertrauenspersonen wenden, die ihnen etwas
-„ganz Sicheres“ besorgen sollen.
-
-In Brüssel wurde in diesem Sommer ein Schuhmacher mit seiner Frau
-verhaftet, bei dem man zahlreiche Albums mit Photographieen vorfand,
-die den Nachfragenden zur Auswahl vorgelegt wurden. Ähnliches kommt
-auch in Berlin vor. Wie mir verbürgt mitgeteilt wurde, gibt es
-Vermittler, bei denen sich Herren mündlich und schriftlich, ja sogar
-telegraphisch Personen unter Angabe aller möglichen fetischistischen
-Liebhabereien bestellen, einen Kürassier mit weißen Hosen und hohen
-Stiefeln, Männer in Frauen- und Frauen in Männerkleidern, einen
-Bierkutscher, einen Steinträger in Arbeitsanzug, ja sogar einen
-Schornsteinfeger. Fast alle finden dann zu der bestimmten Stunde
-das Erbetene vor. Auch für urnische Damen existieren ähnliche
-Vermittelungslokale.
-
-Unbewußt leistet auch die Berliner Tagespresse den Urningen
-umfangreiche Mittlerdienste. In manchen Blättern findet man fast
-täglich mehrere Inserate, die homosexuellen Zwecken dienen, wie „junge
-Frau sucht Freundin“, „junger Mann sucht Freund“. Ich gebe hier einige
-Beispiele derartiger Annoncen wieder, die innerhalb kurzer Zeit
-Berliner Zeitungen verschiedenster Parteirichtung entnommen wurden.
-
-Wie mir mehrfach versichert wurde, werden diese Inserate von denen, für
-die sie berechnet sind, sehr wohl verstanden.
-
- =Älterer Herr=, kein Damenfreund, sucht Bekanntschaft mit
- Gleichgesinnten. Zuschr. erb. unt. _=S.O.=_ 2099 an die
- Exped. d. Bl.
-
- * * * * *
-
- =Älterer= Junggeselle wünscht gleichgesinnten „Anschluß“,
- Morgenpost Bülowstraße.
-
- * * * * *
-
- =Herr=, 23, sucht Freund. Zuschriften unter „Sokrates“ an
- Hauptexpedition Kochstraße erbeten.
-
- * * * * *
-
- Junggeselle, gut. Ges., sucht freundschaftl. Verkehr m.
- led. gleichges. Herrn in ält. Jahr. Off. =_A. B._= 11
- Postamt 76.
-
- * * * * *
-
- =Jung. geb. Mann, 29 Jahr, sucht freundschaftl. Verkehr m.
- energisch herrischem, gut situiertem Herrn. Briefe erb.
- unt. _T. L. W._ Expedit. d. Blattes.=
-
-Wir haben bereits wiederholt die männliche Prostitution erwähnen müssen
-und dürfen diese gewiß beklagenswerte Erscheinung nicht übergehen,
-wenn wir eine einigermaßen vollständige Schilderung der vielseitigen
-Gestaltungsformen geben wollen, in denen uns das urnische Leben Berlins
-entgegentritt.
-
- =Fräulein=, anständ., 24 Jahre, sucht hübsches Fräulein als
- Freundin. Offerten unt. Nr. 3654 an die Exped. erbeten.
-
- * * * * *
-
- =Dame=, 36, wünscht freundschaftlichen Verkehr. Postamt 16,
- „Plato“.
-
- * * * * *
-
- =Herzensfreundin=, nette, sucht geistvolle, lebenslustige
- Dame, 23. Psyche, Postamt 69.
-
- * * * * *
-
- =Suche gebild. Freundin, Anfang 30, am liebsten Blondine.
- Off. u. _H. R._ 1622 Exp. d. Bl.=
-
- * * * * *
-
- =Schneiderin=, 22, wünscht „Freundin“, Postamt 33.
-
-Wie jede Großstadt, hat auch Berlin neben der weiblichen eine männliche
-Prostitution. Beide sind eng verwandt durch Abstammung, Wesen,
-Ursachen und Folgen. Hier wie dort kommen stets zwei Gründe zusammen,
-von denen bald der eine, bald der andere den Ausschlag gibt: innere
-Anlagen und äußere Verhältnisse. In denjenigen, die der Prostitution
-anheimfallen, ruhen von Jugend an bestimmte Eigentümlichkeiten, unter
-welchen ein mit dem Hang zur Bequemlichkeit verbundener Drang zum
-Wohlleben am deutlichsten hervortritt. Sind bei diesen Eigenschaften
-die äußeren Verhältnisse günstig, sind namentlich die Eltern vermögend,
-so verfallen die jungen Leute nicht der Prostitution; tritt aber
-häusliches Elend hinzu, kümmerlicher Lebensunterhalt, Arbeits- und
-Stellungslosigkeit, Mangel an Unterkommen und womöglich die größte
-aller Sorgen, der Hunger, dann halten wohl von Natur aus stabile, in
-sich gefestigte Charaktere stand, die labilen aber suchen die nie
-fehlende Versuchung, sie erliegen und verkaufen sich, trotz der Tränen
-der Mutter.
-
-Es gibt Menschenfreunde, die die Besserung von der Freiheit des Willens
-und andere, die sie vom Zwang der Verhältnisse erwarten; nach Erziehung
-und Religion verlangen die einen, nach dem Zukunftsstaat die anderen.
-Beide sind zu optimistisch. Wer helfen will, muß innen und außen
-ansetzen, die Verhältnisse zu bessern trachten, daß kein Mädchen und
-kein Jüngling es nötig hat sich zu verkaufen, und die Personen bessern
-unter besonderer Rücksicht der Vererbungsgesetze, daß niemand die
-Neigung verspürt, sich als Ware feilzubieten.
-
-Ihr sagt, das ist nicht zu erreichen, ich aber meine, nur was man
-aufgibt, ist verloren.
-
-Das Arbeitsfeld der Prostitution ist die Straße; bestimmte Gegenden und
-Plätze, die sogenannten „Striche“. Ein Homosexueller zeigte mir einmal
-einen Plan von Berlin, auf dem er diese mit blauen „Strichen“ versehen
-hatte; die Zahl der so bezeichneten Stellen war keine geringe.
-
-Seit alters spielt auf diesem Gebiete der Tiergarten in einigen seiner
-Partieen eine besondere Rolle. Es gibt wohl keinen zweiten Wald, der so
-mit Menschenschicksalen verwoben ist, wie dieser über 1000 Morgen große
-Park.
-
-Nicht seine landschaftlichen Schönheiten, nicht der künstlerische
-Schmuck, der Menschen Leben, Lieben und Leiden verleihen ihm seine
-Bedeutung. Vom frühen Morgen, wenn die Begüterten auf den Reitwegen
-ihr Herz entfetten, bis zum Mittag, wenn der Kaiser seine Spazierfahrt
-unternimmt, vom Frühnachmittag, wenn im Parke tausend Kinder spielen,
-bis zum Spätnachmittag, wenn sich das Bürgertum ergeht, hat jeder
-Weg zu jeder Jahreszeit und jeder Stunde sein eigenes Gepräge. Hätte
-Emile Zola in Berlin gelebt, ich zweifle nicht, daß er diesen Forst
-durchforscht und von dem, was er wahrgenommen, ein Werk von der Wucht
-Germinals geschaffen hätte.
-
-Wenn es aber Abend wird und sich anderen Welten die Sonne neigt, mischt
-sich mit dem Hauch der Dämmerung ein Hauch, der suchend und sehnend
-aufsteigt aus Millionen irdischer Wesen, ein Teil des Welt=geistes=,
-den manche den Geist der Unzucht nennen, und der doch in Wahrheit nur
-ein Bruchstück der großen gewaltigen Triebkraft ist, die, so hoch wie
-Nichts und so niedrig wie Nichts, unablässig gestaltet, waltet, bildet
-und formt.
-
-Überall treffen sich an den Kreuzwegen des Tiergartens verabredete
-Paare, man sieht, wie sie sich entgegeneilen, sich freudig begrüßen und
-aneinander geschmiegt im Gespräch der Zukunft entgegenschreiten, man
-steht sie sich auf noch freien Bänken niederlassen und schweigend sich
-umarmen und neben der hohen, der unveräußerlichen geht die niedere,
-käufliche Liebe einher.
-
-Auf drei weit auseinander gelegenen Wegen halten sich Weiber,
-auf zweien Männer feil. Während in der Stadt die weibliche und
-männliche Prostitution durcheinander flutet, hat hier jede ihren
-„Strich“ für sich, von den männlichen ist der eine allabendlich
-fast nur von Kavalleristen erfüllt, deren Säbel in der Finsterniß
-seltsam aufblitzen, während der andere, eine ziemlich lange Strecke,
-größtenteils von den verwegenen Burschen eingenommen wird, die sich
-im Berliner Volkston mit Vorliebe selbst „keß und jemeene“ nennen.
-Hier ist eine jener alten halbrunden Tiergartenbänke, auf der in den
-Stunden vor Mitternacht an dreißig Prostituierte und Obdachlose dicht
-nebeneinander sitzen, manche sind fest eingeschlafen, andere johlen und
-kreischen. Sie nennen diese Bank die „Kunstausstellung.“ Dann und wann
-kommt ein Mann, steckt ein Wachsstreichholz an und leuchtet die Reihe
-ab.
-
-Nicht selten tönt in das Juchzen der Jungen ein greller Schrei, der
-Hilferuf eines im Walde Beraubten oder Gemißhandelten, oder ein kurzer
-Knall schallt in die von den entfernten Zelten in vereinzelten Stößen
-herüberdringende Musik -- er kündet von einem, der sein Leben verneinte.
-
-Und wer Originale sucht, von denen sehr zu Unrecht behauptet wird, sie
-seien in der Großstadt ausgestorben, im Tiergarten sind sie reichlich
-zu finden. Seht Ihr die Alte dort mit den vier Hunden am Neuen See?
-Seit vierzig Jahren macht sie mit kurzer Sommerunterbrechung zu
-derselben Stunde denselben Spaziergang, nie von Menschen begleitet, von
-jener Zeit ab, da ihr am Hochzeitstage zwischen der standesamtlichen
-und kirchlichen Trauung der Mann am Blutsturz verschied; seht Ihr
-dort die ausgedörrte, gekrümmte Gestalt im struppigen Graubart? Das
-ist ein russischer Baron, der erspäht sich abends eine einsame Bank,
-dort läßt er sich nieder und schreit „rab, rab, rab“, ähnlich wie ein
-Rabe krächzt; aus unsichtbaren Wegen tauchen auf diesen Lockruf einige
-„kesse Schieber“ hervor, es sind seine Freunde, unter denen er die
-„Platten“, gewöhnlich drei bis fünf Mark, verteilt, die ihm von seinem
-Tageszins geblieben sind.
-
-Die männlichen Prostituierten zerfallen in zwei Gruppen, in solche,
-die normalgeschlechtlich und in solche, die „echt“, d. h. selbst
-homosexuell sind. Letztere sind zum Teil stark feminin, und einige
-gehen auch gelegentlich in Weiberkleidern aus, was jedoch in den
-Kreisen der weiblichen Prostituierten übel vermerkt wird. Es ist dies
-zwischen beiden fast der einzige _casus belli_, denn die Erfahrung
-hat sie gelehrt, daß sie ohne diese Vorspiegelung falscher Tatsachen
-einander nicht die Kundschaft fortnehmen. Eine ziemlich gebildete
-Prostituierte, die ich einmal nach einer Erklärung des guten
-Einvernehmens zwischen den weiblichen und männlichen Prostituierten
-fragte, antwortete mir: „Wir wissen doch, daß jeder „Freier“ nach
-seiner Façon selig werden will.“
-
-Unter den Berliner Prostituierten kommen vielfach eigentümliche
-Paarungen vor. So tun sich normale männliche Prostituierte, die
-sogenannten Pupenluden, nicht selten mit normalen weiblichen
-Prostituierten zu gemeinsamer „Arbeit“ zusammen, auch von zwei
-Geschwisterpaaren ist mir berichtet, von denen sowohl die Schwester
-wie der Bruder diesem erniedrigenden Gewerbe obliegen; sehr häufig
-leben zwei weibliche und nicht selten auch zwei männliche Prostituierte
-zusammen, und endlich kommt es auch vor, daß sich homosexuelle
-weibliche Prostituierte mit homosexuellen männlichen Prostituierten
-als Zuhältern verbinden, die sie für weniger brutal halten, als ihre
-heterosexuellen Kollegen.
-
-Bekannt ist es, daß es unter den weiblichen Prostituierten eine große
-Anzahl homosexueller gibt, man schätzt sie auf 20%. Mancher wundert
-sich über diesen scheinbaren Widerspruch in sich, da doch das käufliche
-Dirnentum vor allem der sexuellen Befriedigung des Mannes dient.
-Vielfach meint man, es liege hier eine Übersättigung vor, das ist aber
-in Wirklichkeit nicht der Fall, denn es läßt sich nachweisen, daß
-diese Mädchen gewöhnlich schon homosexuell empfanden, ehe sie sich der
-Prostitution ergaben, und es beweist die Tatsache ihrer Homosexualität
-eigentlich nur, daß sie den Verkauf ihres Körpers lediglich als ein
-Geschäft betrachten, dem sie mit kühler Berechnung gegenüberstehen.
-
-Merkwürdig ist das Verhältnis der sich liebenden Prostituierten
-untereinander. Bis in diese Kreise ist das System der doppelten Moral
-gedrungen. Denn während der männliche, aktive Teil, der „Vater“
-sich frei fühlt und sich auch außerhalb seines gemeinschaftlichen
-Schlafgemachs weiblichen Verkehr gestattet, verlangt er von der
-weiblich passiven Partnerin in Bezug auf homosexuellen Umgang die
-vollkommenste Treue. Bei entdecktem Treubruch setzt sich sein
-Verhältnis den schwersten Mißhandlungen aus, es kommt sogar vor,
-daß der männliche Teil dem weiblichen während der Zeit ihres
-Liebesbündnisses verbietet, ihrem Gewerbe nachzugehen.
-
-Die weibliche Straßenprostitution Berlins unterhält auch vielfach
-Beziehungen mit urnischen Frauen besserer Gesellschaftskreise, ja
-sie scheut sich nicht, Frauen, die ihr homosexuell erscheinen, auf
-der Straße Anerbietungen zu machen. Dabei ist zu bemerken, daß die
-Preise für Frauen durchgängig geringere sind, ja, daß in vielen Fällen
-jede Bezahlung abgewiesen wird. Mir berichtete eine junge Dame, die
-allerdings einen sehr homosexuellen Eindruck macht, daß ihr auf der
-Straße Prostituierte Angebote von 20 Mark und mehr gemacht hätten.
-
-Sowohl die weibliche, wie die männliche Prostitution bedrohen durch ihr
-böses Beispiel nicht nur die öffentliche Sittlichkeit, nicht nur die
-öffentliche Gesundheit -- denn es ist durchaus nicht selten, daß auch
-durch männliche Prostituierte ansteckende Krankheiten von der Skabies
-(Krätze) bis zur Syphilis übertragen werden -- sondern auch in hohem
-Maße die öffentliche Sicherheit.
-
-Prostitution und Verbrechertum gehen Hand in Hand; Diebstähle
-und Einbrüche, Erpressungen und Nötigungen, Fälschungen und
-Unterschlagungen, Gewalttätigkeiten jeder Art, kurz alle möglichen
-Verbrechen wider die Person und das Eigentum sind bei dem größten
-Teile der männlichen Prostituierten an der Tagesordnung, und
-besonders gefährlich ist es, daß diese Delikte von den verängstigten
-Homosexuellen in den meisten Fällen nicht zur Anzeige gebracht werden.
-
-Verfallen in Berlin unter einer uranischen Bevölkerung von 50000
-Seelen -- diese Zahl ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen -- im Jahr
-durchschnittlich 20 „dem Arm der Gerechtigkeit“, so fällt mindestens
-die hundertfache Zahl, nämlich 2000 im Jahr, den Erpressern in die
-Arme, welche, wie die Berliner Kriminalpolizei gewiß gern bestätigen
-wird, aus der Ausbeutung der homosexuellen Natur einen weitverbreiteten
-und recht einträglichen Spezialberuf gebildet haben.
-
-Die engen Beziehungen zwischen den Prostituierten und Verbrechern
-gehen auch daraus hervor, daß beide sich desselben Jargons -- der
-Verbrechersprache bedienen. Suchen sich „die Strichjungen“ ihre Opfer,
-so nennen sie das „sie gehen auf die Krampftour“, das Erpressen selbst
-in seinen verschiedenen Abstufungen nennen sie: „abkochen“, „brennen“,
-„hochnehmen“, „prellen“, „neppen“, „abbürsten“, „rupfen“ und „klemmen“;
-es sei hier übrigens bemerkt, daß es in Berlin auch Verbrecher gibt,
-die das Rupfen der männlichen Prostituierten als Spezialität betreiben,
-indem sie diese mit Anzeige wegen Päderastie oder Erpressung bedrohen.
-Die „schwule Bande“ teilen sie nach ihrer Zahlungsfähigkeit in „Tölen“,
-„Stubben“ und „Kavaliere“, das erbeutete Geld nennen sie „Asche“,
-„Draht“, „Dittchen“, „Kies“, „Klamotten“, „Mesumme“, „Meschinne“,
-„Monnaie“, „Moos“, „Pfund“, „Platten“, „Pulver“, „Zaster“, „Zimmt“, das
-Goldgeld: „stumme Monarchen“, Geld haben heißt „in Form sein“, keins
-haben „tot sein“, kommt ihnen etwas in die Quere, so sagen sie „die
-Tour sei ihnen vermasselt“, fortlaufen heißt „türmen“, sterben „kapores
-gehen“, werden sie von den „Greifern“, d. h. den Kriminalbeamten
-oder den Blauen -- das sind die Schutzleute, abgefaßt, so nennen
-sie das „hochgehen“, „auffliegen“, „alle werden“, „krachen gehen“
-oder „verschütt gehen“. Dann kommen sie erst auf die „Polente“, das
-Polizeibureau, darauf ins „Kittchen“, das Untersuchungsgefängnis, um
-dann, wie sie sich euphemistisch ausdrücken, in einen „Berliner Vorort“
-zu ziehen, darunter verstehen sie Tegel, Plötzensee und Rummelsburg,
-die Sitze der Strafgefängnisse und des Arbeitshauses. Nur sehr selten
-verlassen sie diese gebessert: Wohlhabende Urninge geben sich oft große
-Mühe, Prostituierte von der Straße zu retten, doch gelingt auch dieses
-nur in sehr vereinzelten Fällen. Viele „zehren“, wenn sie älter werden,
-„von Erinnerungen“, indem sie ihnen als homosexuell bekannte Personen,
-die ihren Standort kreuzen, um kleine Geldbeträge „anbohren“, was sie
-als „Zinseneinholen“ oder „tirachen“ bezeichnen.
-
-Gewöhnlich hat diese gefährliche Menschenklasse einen guten Blick
-dafür, wer homosexuell veranlagt ist, doch kommt es auch sehr häufig
-vor, daß sie völlig normalsexuelle Personen bedrohen und beschuldigen.
-Ich gebe als Beispiel einen Fall, wie ich ihn vor einiger Zeit in
-folgendem Schreiben geschildert erhielt:
-
- „Im vorigen Herbst traf ich auf der Durchreise nach dem
- Süden mit dem Abendzuge in Berlin ein und nahm für eine
- Nacht Quartier in der Nähe des Zentralbahnhofes, um am
- andern Morgen weiter zu reisen. Den milden freundlichen
- Abend wollte ich zu einem Spaziergange benutzen.
-
- Beim Verlassen der Passage sah ich eine Anzahl junger
- Burschen zusammenstehen, von denen der eine, etwa 20 Jahre
- alt, ein Schnupftuch laut wimmernd an die Backe preßte.
- Unwillkührlich faßte ich ihn deshalb schärfer ins Auge,
- als man es sonst tut, drehte mich auch noch einmal in
- meinem Mitleid nach ihm um, als ich in die Mittelallee der
- Linden einbog, um auf das Brandenburger Tor zuzugehen, in
- der Absicht, das mir bis dahin unbekannte Bismarckdenkmal
- noch flüchtig zu besichtigen. Nach kurzer Zeit sah ich
- denselben jungen Mann, nunmehr allein, das Tuch noch
- immer an die Backe gepreßt, mir vorausgehen und dann an
- einer Litfaßsäule in der Nahe des Tores stehen bleiben.
- Ich dachte mir nichts besonderes dabei und ging weiter.
- Da trat er an mich heran und bat um ein Almosen, indem er
- mir mit verschleierter, winselnder Stimme und flehentlich
- bittend, ich solle ihn nicht der Polizei verraten, einen
- langen Roman vortrug: er sei aus dem Osten, der Bromberger
- Gegend, hergekommen, habe keine Arbeit gefunden, sei
- jetzt ganz mittellos und habe seine Effekten für 16
- Mark versetzt; sobald er soviel zusammenhabe, um diese
- einlösen zu können, wolle er in die Heimat zurück. Wir
- waren inzwischen an die Bedürfnisanstalt, rechts vor dem
- Tore, gekommen; ich gab ihm 50 Pfennige mit dem Bemerken,
- er solle sich durch Arbeit so viel verdienen, um seine
- Effekten auslösen zu können, ich sei hier selber fremd und
- nur auf der Durchreise; jetzt solle er seiner Wege gehen.
- Ich trat dann in die Anstalt ein und hörte wohl, daß hinter
- mir noch jemand eintrat, achtete aber nicht weiter darauf.
- Als ich mich nun auf der anderen Seite entfernen wollte,
- um den Weg nach dem Bismarckdenkmal einzuschlagen, sah ich
- meinen Burschen grinsend und ohne Tuch mir den Weg verlegen
- mit den Worten: „Wenn Sie mir jetzt nicht 16 Mark geben,
- zeige ich Sie an, dann kommen Sie ins Loch.“ Zugleich
- sagte er zu meinem namenlosen Erstaunen: „Ick zeige Ihnen
- an, Sie Hallunke, wat Sie in Ihrer Wollüstigkeit mit
- mir gemacht haben. Zahlen Sie 16 Mark, oder ick schrei,
- det janz Berlin zusammenläuft.“ -- Ich bemerke, daß ich
- 58 Jahre alt, längst mehrfacher Großvater bin und einer
- höheren Beamtenklasse angehöre. Wenn nicht mein Ruf, so
- stand doch die Fortsetzung meiner Reise auf dem Spiel,
- wenn ich in eine, noch dazu so ekelhafte, Untersuchung
- verwickelt wurde. Ich trat daher schnell an den Rand der
- Charlottenburger Chaussee und winkte eine leere Droschke
- heran, bis dahin immerfort von den unflätigen Reden des
- Burschen verfolgt. Ehe noch die Droschke hielt, schrie der
- Chanteur -- jetzt mit völlig veränderter Stimme --: „Solch'
- alter Hund, warte nur, Du sollst brummen.“ Zugleich machte
- er Miene, vor mir in die Droschke einzusteigen. Es blieben
- bereits einige Passanten stehen, einen Schutzmann aber
- konnte ich nicht entdecken. Da griff ich in die Tasche,
- hielt ihm ein Zehnmarkstück hin und warf es aufs Pflaster,
- so daß er ziemlich weit laufen mußte, um es aufzuheben.
- Diesen Moment benutzte ich, sprang in die Droschke
- und trieb den Kutscher zur Eile an, indem ich ihm den
- Zentralbahnhof als Ziel angab. Auf die Frage des Kutschers
- nach dem Zusammenhange der Dinge sagte ich ihm, der Mensch
- sei offenbar betrunken gewesen und habe von mir Geld
- verlangt, worauf dieser mir gutmütig entgegnete: „Ja, ja,
- det is hier eene Jaljenbande. Sie hatten det Aas man den
- Nickel nich jeben sollen.“ Er ahnte nicht, daß es zehn Mark
- gewesen waren. Ich verzichtete nun auf das Bismarckdenkmal
- und andere Sehenswürdigkeiten Berlins, legte mich ins
- Bett, schlief garnicht, und fuhr in aller Frühe dem Süden
- zu. Seitdem bin ich mehrfach in Berlin gewesen, habe mich
- aber wohl gehütet, Jünglinge mit oder ohne Schnupftuch
- an der Backe aus Mitleid ins Auge zu fassen. Mir ist es
- nicht zweifelhaft, daß dieses ostentative Drücken des
- Schnupftuches an die Backe ein Chanteurkniff war, um die
- Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen und unter diesen
- sich alsdann eine geeignete Persönlichkeit für seine
- Chantage auszusuchen, so einen Gutmütigen aus der Provinz,
- wie ich einer war. --
-
- Sicher ist es hohe Zeit -- so schließt der Berichterstatter
- -- diesem Verbrechertum durch Aufhebung des § 175 ein Ende
- zu bereiten.“
-
-Ich greife noch einen zweiten typischen Fall heraus, über den die
-Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 11. Nov. 1904 berichtet:
-
- th. Der 10. Strafkammer des Landgerichts I lag gestern
- wieder ein Fall vor, in dem ein verkommener Mensch den
- § 175 St. G. B. zu =Erpressungsversuchen= benutzt hat.
- Der übel beleumundete Arbeiter Karl R. hat einen Herrn,
- der im Leben nichts mit ihm zu tun gehabt hat, fort und
- fort mit Briefen bombardiert, in denen unter Hinweisen
- auf § 175 allerlei aus der Luft gegriffene Behauptungen
- aufgestellt wurden und als Refrain der Versuch, Geld zu
- erlangen, deutlich durchblickte. Der Adressat hat diese
- Erpresserbriefe zunächst unberücksichtigt gelassen, da
- er mit einer so schmutzigen Sache in gar keine Berührung
- kommen wollte. Als aber durch diese Briefe fortgesetzt
- Beunruhigung in seine Familie getragen wurde, erstattete er
- Anzeige. Der Gerichtshof verurteilte den Angeklagten zu 3
- Jahren Gefängnis.
-
-Schließlich noch aus vielen einen dritten Fall, der ebenfalls in
-mehr als einer Richtung bezeichnend ist. Ein Homosexueller war einem
-Prostituierten in seine Wohnung gefolgt; dort angelangt, sagte der
-letztere mit eisiger Ruhe: „Ich bin Staudenemil (Staude heißt Hemd),
-ein bekannter Erpresser, gib Dein Portemonnaie.“ Nachdem er dieses
-erhalten, zog er seinen Rock aus, streifte die Hemdsärmel hoch, so daß
-die mit obscönen Tätowierungen bedeckten Unterarme sichtbar wurden,
-schleppte dann den Homosexuellen am Kragen an das Fenster seiner im
-vierten Stockwerk gelegenen Wohnung und drohte ihn herunterzustürzen,
-wenn er nicht alle Wertgegenstände herausgäbe, die er bei sich führe.
-Als er sich überzeugte, daß er nichts mehr hatte, fragte er ihn,
-wieviel Geld er zur Rückfahrt brauche, „schenkte“ ihm für dieselbe 50
-Pfennig und „nun“ -- so fuhr er fort -- „kommst Du mit und saufst mit
-mir Knallblech (Champagner), jetzt bist Du mein Gast.“ Wirklich ließ er
-nicht locker, bis der Homosexuelle einen großen Teil dessen, was er von
-ihm „geerbt“, mit ihm „verschmort“ hatte.
-
-Wie kommt es, daß diese gefährlichen Subjekte so selten angezeigt
-werden? Der Homosexuelle und auch die meisten Normalsexuellen scheuen
-den Skandal, sie wissen, daß, wenn sie eine Anzeige erstatten, der
-Beschuldigte sofort teils aus Rache, teils zu seiner Rechtfertigung
-eine Gegenanzeige auf Grund des § 175 erstattet, und wenn auch die
-wohlunterrichtete Berliner Kriminalbehörde seit der einsichtsvollen
-Amtsführung des verstorbenen verdienten Kriminaldirektors von
-Meerscheidt-Hüllessem, dem die Urninge der Hauptstadt zu größtem Dank
-verpflichtet sind, auf die Aussagen der Erpresser und Diebe, sowie
-der Prostituierten im allgemeinen nichts gibt, so zeigen sich die
-Staatsanwälte und Richter oft weit weniger orientiert. Es ereignet sich
-oft genug, daß der Erpresser zwar bestraft, sein Opfer aber auch aufs
-schwerste kompromittiert, benachteiligt, in seiner Stellung vernichtet
-wird. Ich erinnere nur an den in Berlin abgeurteilten Chantagefall
-Aßmann und Genossen, dessen Opfer der unglückliche Graf H., Großvetter
-unseres Kaisers, war. Ja, ich habe Fälle erlebt, in denen die
-Staatsanwaltschaft auf die Aussage derartiger Individuen die Anklage
-erhoben hat. Ein Fall ist mir namentlich im Gedächtnis geblieben.
-
-Ein alter, homosexueller Herr hatte einen Mann, dessen Bild sich
-im Berliner Verbrecheralbum befand, wegen Diebstahl angezeigt. Der
-wiederholt vorbestrafte Dieb machte eine Gegenanzeige, er sei von
-seinem Ankläger im Schlaf vergewaltigt worden. Unglaublicherweise
-schenkte das Gericht dieser Angabe Glauben, vereidigte diesen Zeugen
-und verurteilte den Homosexuellen, der bereits zweimal aus § 175
-vorbestraft war, zu einem Jahr Gefängnis. Ich war als Sachverständiger
-geladen und werde es nie vergessen, wie der alte Mann -- ein Hüne
-von Gestalt -- bei dem ihm völlig unerwarteten Urteilsspruch in
-sich zusammensank, dann sich aufbäumte und mit entsetzlichem,
-gellenden Aufschrei seinen Richtern das eine Wort. „Justizmörder“
-entgegenschleuderte.
-
-Gewiß sind dies Ausnahmefälle, gewiß haben es die Homosexuellen, wie
-mir einmal ein hoher Staatsbeamter entgegenhielt und wie es ja auch
-aus meinen Schilderungen hervorgeht, in Berlin „bereits ganz gut“.
-Darin liegt ja aber ein Beweis mehr für die Unhaltbarkeit eines
-Gesetzes, das, wie sich kürzlich ein Urning ausdrückte, „nicht die Tat,
-sondern das Pech“ bestraft. Ich wies bereits darauf hin, daß, wenn
-man den überaus diskreten Charakter der in Frage kommenden Handlungen
-berücksichtigt und in Betracht zieht, daß die beiden Täter, ohne die
-Rechte Dritter anzutasten, die Tat unter sich und an sich vornehmen,
-nur ganz ungewöhnliche Nebenumstände in verschwindend seltenen
-Ausnahmefällen ein Bekanntwerden ermöglichen können.
-
-Und trotzdem -- würden die Kriminalbehörden -- auf der von
-Meerscheidt-Hüllessem eingerichteten „Berliner Päderastenliste“ stehen
-mehrere tausend Namen -- gegen die Homosexuellen so vorgehen, wie sie
-gegen wirkliche Verbrecher vorgehen, es würde sich in sehr kurzer
-Zeit die völlig Undurchführbarkeit der bestehenden Strafbestimmungen
-ergeben; dasselbe würde der Fall sein, wenn entsprechend der Kölner
-Resolution der evangelischen Sittlichkeitsvereine, die „wirklich
-krankhaft Geborenen“ unter den Homosexuellen in Heilanstalten
-untergebracht werden würden. Ich betone, um keinen Irrtum aufkommen zu
-lassen, hier nochmals, daß es sich bei den Forderungen zu Gunsten der
-Homosexuellen lediglich um das handelt, =was erwachsene Personen in
-freier Übereinstimmung unter einander vornehmen=; daß vor denen, die
-Rechte Dritter verletzen, die sich an Minderjährigen vergreifen, die
-Gewalt anwenden, daß vor den Sternbergen und Dippolden die Gesellschaft
-geschützt werden muß, ist selbstverständlich.
-
-Vor einiger Zeit äußerte sich in einer Berliner Lehrerzeitung[3]
-ein Lehrer, daß man in Anbetracht der wissenschaftlichen
-Forschungsergebnisse sich wohl oder übel mit der Frage beschäftigen
-müsse, wie die Homosexuellen „auf eine den Zwecken der Gesellschaft
-fördersame Art“ in dieselbe einzureihen wären.
-
-Ist denn diese Frage nicht längst gelöst?
-
-Wo ist in Berlin ein Kunstfreund, der sich nicht an der
-Darstellungskunst einer urnischen Tragödin, wo ein Musikfreund, der
-sich nicht am Gesange eines urnischen Liedersängers erfreut hätte!
-
-Bist Du denn sicher, ob nicht der Koch, der Deine Speisen bereitet,
-der Friseur, der Dich bedient, ob nicht der Damenschneider, der Deiner
-Frau Kleider fertigt, und der Blumenhändler, der Deine Wohnung ziert,
-urnisch empfinden?
-
-Vertiefe Dich in die Meisterwerke der Weltliteratur, durchmustere die
-Helden der Geschichte, wandele in den Spuren großer einsamer Denker,
-immer wirst Du von Zeit zu Zeit auf Homosexuelle stoßen, die Dir teuer
-sind und die groß waren trotz -- manche behaupten sogar durch -- ihre
-Sonderart.
-
-Ja weißt Du gewiß, ob unter denen, die Dir am nächsten stehen, die Du
-am zärtlichsten liebst, am meisten verehrst, ob nicht unter Deinen
-besten Freunden, Deinen Schwestern und Brüdern ein Urning ist?
-
-Kein Vater, keine Mutter kann sagen, ob nicht eines ihrer Kinder dem
-urnischen Geschlechte angehören wird.
-
-Ich könnte auch hier viele Beispiele anführen, will mich jedoch auf
-die Wiedergabe zweier Briefe beschränken, von denen der eine von einem
-Vater, der andere von einer Mutter stammt.
-
-Von den 750 Direktoren und Lehrern höherer Lehranstalten, die im
-Jahre 1904 neben 2800 deutschen Ärzten die Petition an den Reichstag
-unterschrieben, welche die Aufhebung des Urningsparagraphen fordert,
-schrieb ein Berliner Pädagoge, „daß er noch bis vor kurzem, unbekannt
-mit der in Rede stehenden Materie, an die Notwendigkeit des § 175
-geglaubt hätte; erst nach dem Tode eines edlen, für das Schöne, Wahre
-und Gute begeisterten Jünglings, dem die Entdeckung konträrsexueller
-Neigungen den Revolver in die Hand drückte, -- seines Sohnes -- seien
-ihm die Augen übergegangen und aufgegangen.“ „Ein schwergebeugter
-Vater“, schließt er, „dankt dem wissenschaftlich-humanitären Komitee[4]
-für sein menschenfreundliches Wirken.“
-
-Und eine Mutter schreibt:
-
- Hochgeehrter Herr!
-
- In Anbetracht Ihrer Absicht, durch die Geburt und weiter
- durch den § 175 des St. G. B. unglücklich gewordenen
- Menschen helfen zu wollen, erlaube ich mir, folgende Fragen
- an Sie zu richten, von deren Beantwortung das Wohl und Wehe
- zweier Menschen abhängt: „Ist Hoffnung vorhanden, daß der
- genannte Paragraph im Laufe dieses Winters im Reichstag
- zur Lesung gelangt und glauben Sie an die Möglichkeit
- der Aufhebung dieses Gesetzes? Ein mir sehr nahe
- stehender Verwandter[5] gehört zu diesen Unglücklichen.
- Er ist ein hochbegabter junger Mann, der sich durch
- seinen rechtschaffenen, braven Charakter, durch seinen
- sittenreinen Lebenswandel die Achtung seiner Mitbürger,
- insbesondere seiner Kollegen und Vorgesetzten in hohem
- Grade erworben hatte. Durch seine bedeutenden Kenntnisse
- verschaffte er sich bald eine gesicherte, einträgliche
- Stellung, bis sich ihm das Verhängnis nahte in Gestalt der
- abscheulichsten Erpresser. Leider war er schwach genug,
- einmal der Verführung zu folgen. Nachdem er Tausende
- geopfert, und seine Gesundheit durch die fortwährende Angst
- und Sorge vor Entdeckung untergraben war, mußte er alles
- aufgeben, seine Heimat, Eltern und Existenz, um der Schande
- zu entgehen. Nach vielen Versuchen, sich ohne Heimatsschein
- in der Schweiz eine ähnliche Stellung zu erwerben wie
- bisher, aber ohne Erfolg, faßte er den Gedanken, nach
- Amerika auszuwandern. Dort wollte er sich durch eisernen
- Fleiß und solidestes Leben einen neuen, bis dahin ihm fern
- stehenden Beruf gründen und hat auch hierin schon Examina
- bestanden. Aber durch viele Widerwärtigkeiten verliert er
- den Mut und setzt seine größte Hoffnung auf die Aufhebung
- des bewußten Paragraphen. Seinen Vater hat inzwischen der
- Tod ereilt, ohne daß der einzige Sohn an sein Sterbelager
- eilen konnte, und die Mutter steht allein mit ihrem großen
- Herzeleid, mit der ewigen Sehnsucht nach ihrem braven
- unglücklichen Kinde, und ist oft der Verzweiflung nahe.
- Dieselbe würde Ihnen, hochgeehrter Herr, in unbegrenzter
- Dankbarkeit verbunden sein, wenn Sie ihr Hoffnung auf die
- Erfüllung dieses ihres größten Wunsches machen, oder in
- irgend einer Weise Rat erteilen könnten.“
-
-Dies der Brief einer Mutter. Wem kommen bei diesen und ähnlichen
-Begebenheiten nicht Goethes Worte in den Sinn. „Opfer fallen hier,
-weder Lamm noch Stier, aber Menschenopfer unerhört“.
-
- * * * * *
-
-Wir sind am Ende unserer Wanderung, und ich danke dem Leser, der mir
-diese weite Strecke gefolgt ist, welche über so viele dunkle Abgründe
-menschlichen Elends, wenn auch über manche Höhe führte. Ehe wir uns
-trennen, laß mich Dir noch zwei Geschehnisse aus der Vergangenheit und
-Gegenwart berichten und eine Frage daran knüpfen.
-
-Es war einmal ein Fürstbischof, Philipp, der residierte in der alten
-Stadt Würzburg am Main. Es war in der Zeit von 1623-1631. In diesen
-acht Jahren ließ der Bischof, wie uns die Chroniken rühmend berichten,
-900 Hexen verbrennen. Er tat es im Namen des Christentums, im Namen der
-Sittlichkeit, im Namen des Gesetzes und starb im Wahne, ein gutes Werk
-vollbracht zu haben.
-
-Wir aber, die wir wissen, daß es niemals Hexen gab, werden noch heute
-von tiefem Schauder erfaßt, gedenken wir dieser zu unrecht gerichteten
-Frauen und Mütter.
-
-In unserer guten Stadt Berlin leben zwei geistliche Herren, von denen
-der eine Philipps, der andere Runze heißt. Sie sagen, sie verkünden die
-Lehren des verehrungswürdigsten Meisters, der da die Worte zum Volke
-sprach: „Wer unter Euch frei von Schuld ist, der werfe den ersten Stein
-auf sie.“
-
-Wie ihre Vorgänger in den Lahmen Gezeichnete, in Geisteskranken
-Besessene und in den Seuchen Strafen des Himmels sahen, so sehen sie
-in den Homosexuellen Verbrecher und bezeichnen unseren Kampf für die
-Homosexuellen als „ruchlose Schamlosigkeit“ (Kreissynode II Berlin vom
-17. Mai 1904.)
-
-Sie wähnen ein ebenso gutes Werk zu tun, wie weiland Fürstbischof
-Philipp, wenn sie schwere Freiheitsstrafen für die Homosexuellen
-fordern.
-
-Nun prüfe, was ich Dir von den Berliner Urningen erzählte -- daß
-alles der Wahrheit entspricht, dafür stehe ich ein -- erwäge es mit
-Deinem Verstande und Deinem Herzen und entscheide, wo mehr Wahrheit,
-mehr Liebe, mehr Recht, ob bei jenen Männern der Kirche, die sich
-gewiß für sehr frei von Schuld halten, sonst würden sie schwerlich so
-viel Steine auf die Homosexuellen werfen, oder auf Seiten derer, die
-nicht wollen, daß sich die Opfer menschlichen Unverstandes noch hoher
-häufen, die entsprechend den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung
-und der Selbsterfahrung vieler tausend Personen wünschen, daß endlich
-Verkennungen und Verfolgungen aufhören, an welche die Menschheit ganz
-zweifellos einst mit ebenso tiefer Beschämung zurückdenken wird, wie an
-die Hexenprozesse Philipp's, des streitbaren Bischofs von Franken.
-
-
-
-
-FUSSNOTEN
-
-
-[1] Näcke, P., _Dr._ Ein Besuch bei den Homosexuellen in Berlin; mit
-Bemerkungen über Homosexualität. Archiv für Kriminalanthropologie und
-Kriminalistik. Band XV. 1904.
-
-[2] In Paris 1904 bei Albin Michet erschienen.
-
-[3] Pädagogische Zeitung 33. Jahrgang Nr. 33, Berlin, 18. August 1904,
-Leitartikel: Die Erziehung und das dritte Geschlecht von Paul Sommer.
-
-[4] Dieses 1897 begründete Komitee, Sitz Charlottenburg, Berlinerstraße
-104, hat sich die Befreiung der Homosexuellen zur Aufgabe gesetzt.
-
-[5] Anmerk. Wie die Dame in einem zweiten Schreiben mitteilt, ist
-dieser nahe Verwandte ihr Sohn. Von seinen Erpressern erhielt der Vater
-als Hauptanstifter 2 Jahre 9 Monate, dessen zwanzigjähriger Sohn, der
-„Freund“ des Geflüchteten, 1 Jahr 9 Monate Gefängnis.
-
- * * * * *
-
-
-Band 1-10 der Großstadt-Dokumente behandeln folgende Themata:
-
-
- =1. Dunkle Winkel in Berlin=
- von Hans Ostwald.
-
- =2. Die Berliner Bohème=
- von Julius Bab.
-
- =3. Berlins drittes Geschlecht=
- von _Dr._ Magnus Hirschfeld.
-
- =4. Berliner Tanzlokale=
- von Hans Ostwald.
-
- =5. Zuhältertum in Berlin=
- von Hans Ostwald.
-
- =6. Sekten und Sektierer in Berlin=
- von Eberhard Buchner.
-
- =7. Berliner Kaffeehäuser=
- von Hans Ostwald.
-
- =8. Berliner Banken und Geldverkehr=
- von Georg Bernhard.
-
- =9. Aus den Tiefen der Berliner Arbeiterbewegung=
- von Albert Weidner.
-
- =10. Berliner Sport=
- von Arno Arndt.
-
-=Preis pro Band 1 Mark.=
-
- Von Hans Ostwald ist ferner in 2. Auflage erschienen
- =Berliner Nachtbilder.=
-
-Zu beziehen durch alle Buchhandlungen. Verlag von Hermann Seemann
-Nachfolger, Berlin SW., Tempelhofer Ufer 29.
-
- Alle Rechte vom Verleger vorbehalten.
- Druck von J. Harrwitz Nachfolger,
- G.m.b.H., Berlin SW., Friedrichstr. 16.
-
-
-
-
-
-End of Project Gutenberg's Berlins Drittes Geschlecht, by Magnus Hirschfeld
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BERLINS DRITTES GESCHLECHT ***
-
-***** This file should be named 62772-0.txt or 62772-0.zip *****
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-and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
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-Foundation
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-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
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-Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
-permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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-<title>The Project Gutenberg eBook of Berlins Drittes Geschlecht, by Magnus Hirschfeld.
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-<pre>
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-Project Gutenberg's Berlins Drittes Geschlecht, by Magnus Hirschfeld
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-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
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-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Berlins Drittes Geschlecht
-
-Author: Magnus Hirschfeld
-
-Release Date: July 27, 2020 [EBook #62772]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BERLINS DRITTES GESCHLECHT ***
-
-
-
-
-Produced by Delphine Lettau, Mark Akrigg and the online
-Distributed Proofreaders Canada team at
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-
-
-
-
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-
-</pre>
-
-<div class="image-center">
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-</div>
-<hr class="full" />
-<h1>Berlins Drittes Geschlecht</h1>
-
-<div class="center">
-<p class="noindent">
-von<br />
-<br />
-<b>Dr. Magnus Hirschfeld</b><br />
-<br />
-<span class="small">7. Auflage</span>
-<br />
-<br />
-Motto:<br />
-&raquo;Die grosse &Uuml;berwinderin aller Vorurteile ist nicht die<br />
-Humanit&auml;t, sondern die Wissenschaft.&laquo;<br />
-<br />
-Berlin und Leipzig<br />
-Verlag von Hermann Seemann Nachfolger G. m. b. H.<br />
-<br />
-Gro&szlig;stadt-Dokumente<br />
-<br />
-Band 3. Herausgegeben von Hans Ostwald<br />
-</p>
-</div>
-
-<hr class="tiny" />
-<h2><a name="Vorwort" id="Vorwort">Vorwort.</a></h2>
-
-<p>Als ich von <b>Hans Ostwald</b> aufgefordert wurde, f&uuml;r die
-von ihm herausgegebenen Gro&szlig;stadtdokumente den Band zu
-bearbeiten, welcher das Leben der Homosexuellen in Berlin
-behandeln sollte, glaubte ich mich diesem Wunsche nicht entziehen
-zu d&uuml;rfen.</p>
-
-<p>Wenn ich auch das Ergebnis meiner Untersuchungen
-auf dem Gebiete der Homosexualit&auml;t bisher nur in wissenschaftlichen
-Fachorganen, besonders in den Jahrb&uuml;chern f&uuml;r
-sexuelle Zwischenstufen, publiziert hatte, so war ich mir doch
-lange dar&uuml;ber klar, da&szlig; die Kenntnis eines Gegenstandes, der
-mit den Interessen so vieler Familien aller St&auml;nde verkn&uuml;pft
-ist, nicht dauernd auf den engen Bezirk der Fachkollegen
-oder auch nur der akademischen Kreise beschr&auml;nkt bleiben
-w&uuml;rde und k&ouml;nnte.</p>
-
-<p>Dies zugegeben, leuchtet es gewi&szlig; ein, da&szlig; die
-popul&auml;r-wissenschaftliche Darstellung in einer so diffizilen
-Frage am geeignetsten von Seiten derjenigen erfolgen sollte,
-die sich verm&ouml;ge ausgedehnter wissenschaftlicher Forschungen
-und Erfahrungen und auf Grund unmittelbarer Anschauung
-die erforderliche Qualifikation und Kompetenz erworben haben.</p>
-
-<p>Ich war in der folgenden Arbeit bem&uuml;ht, ein recht naturgetreues
-und m&ouml;glichst vollst&auml;ndiges Spiegelbild von Berlins
-&bdquo;drittem Geschlecht&ldquo;, wie man es vielfach, wenn auch nicht
-gerade sehr treffend bezeichnet hat, zu geben. Ich war bestrebt,
-&mdash; ohne Sch&ouml;nf&auml;rberei, aber auch ohne Schwarzmalerei &mdash;
-alles streng wahrheitsgem&auml;&szlig; unter Vermeidung n&auml;herer
-Ortsbezeichnungen so zu schildern, wie ich es zum gr&ouml;&szlig;ten
-Teil selbst wahrgenommen, zum kleinen Teil von zuverl&auml;ssigen
-Gew&auml;hrsm&auml;nnern erfahren habe, denen an dieser Stelle f&uuml;r
-das mir erwiesene Vertrauen zu danken, ich als angenehme
-Pflicht empfinde.</p>
-
-<p>Manchem wird sich hier innerhalb der ihm bekannten
-Welt eine neue Welt auftun, deren Ausdehnung und deren
-Gebr&auml;uche ihn mit Erstaunen erf&uuml;llen werden.</p>
-
-<p>Man hat gelegentlich die Bef&uuml;rchtung ausgesprochen, es
-k&ouml;nnte durch popul&auml;re Schriften f&uuml;r die Homosexualit&auml;t selbst
-&bdquo;Propaganda&ldquo; gemacht werden. So sehr eine gerechte Beurteilung
-der Homosexuellen angestrebt werden mu&szlig;, so
-wenig w&auml;re dieses zu billigen. Die Gefahr liegt aber nicht
-vor. Die Vorz&uuml;ge der normalsexuellen Liebe, wie sie &mdash;
-um nur von vielen einen zu nennen &mdash; vor allem im Gl&uuml;cke
-der Familie zum Ausdruck gelangen, sind denn doch so
-gewaltige, die Nachteile, die aus der homosexuellen Anlage
-erwachsen, so au&szlig;erordentliche, da&szlig;, wenn ein Wechsel der
-Triebrichtung m&ouml;glich w&auml;re, er gewi&szlig; f&uuml;r die Homosexuellen,
-nicht aber f&uuml;r die Normalsexuellen in Betracht kommen w&uuml;rde.</p>
-
-<p>Tats&auml;chlich hat aber die wissenschaftliche Beobachtung
-in &Uuml;bereinstimmung mit der Selbsterfahrung sehr zahlreicher
-Personen gelehrt, da&szlig; ein derartiger Umschwung
-nicht m&ouml;glich ist, da nichts dem Charakter und Wesen eines
-Menschen so ad&auml;quat und fest angepa&szlig;t ist, wie die nach
-Erg&auml;nzung der eigenen Individualit&auml;t zielende Richtung
-des Liebes- und Geschlechtstriebes.</p>
-
-<p>Ob und inwieweit die Handlungen der Homosexuellen
-unter den Begriff von Schuld und Verbrechen fallen, ob
-und inwieweit ihre Strafverfolgung zweckm&auml;&szlig;ig oder notwendig
-erscheint, inwieweit diese &uuml;berhaupt m&ouml;glich ist &mdash;
-diesen Schlu&szlig; m&ouml;ge am Ende meines Berichtes der Leser
-seinerseits ziehen.</p>
-
-<p><b>Charlottenburg</b>, den 1. Dezember 1904.</p>
-<p class="right">
-Dr. <i>Magnus Hirschfeld</i>.</p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<h2>Berlins Drittes Geschlecht</h2>
-
-<p>Wer das Riesengem&auml;lde einer Weltstadt, wie Berlin
-nicht an der Oberfl&auml;che haftend, sondern in die
-Tiefe dringend erfassen will, darf nicht den homosexuellen
-Einschlag &uuml;bersehen, welcher die F&auml;rbung des
-Bildes im einzelnen und den Charakter des Ganzen
-wesentlich beeinflu&szlig;t.</p>
-
-<p>Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, da&szlig; in Berlin
-mehr Homosexuelle geboren werden, wie in der Kleinstadt
-oder auf dem Lande, doch liegt die Vermutung
-nahe, da&szlig; bewu&szlig;t ober unbewu&szlig;t diejenigen, welche von
-der Mehrzahl in nicht erw&uuml;nschter Form abweichen,
-dorthin streben, wo sie in der F&uuml;lle und dem Wechsel
-der Gestalten unauff&auml;lliger und daher unbehelligter leben
-k&ouml;nnen. Das ist ja gerade das Anziehende und Merkw&uuml;rdige
-einer Millionenstadt, da&szlig; das Individuum nicht
-der Kontrolle der Nachbarschaften unterliegt, wie in den
-kleinen Orten, in denen sich im engen Kreise die Sinne
-und der Sinn verengern. W&auml;hrend dort leicht verfolgt
-werden kann und eifrig verfolgt wird, wann, wo und
-mit wem der N&auml;chste gegessen und getrunken hat,
-spazieren und zu Bett gegangen ist, wissen in Berlin die
-Leute oft im Vorderhause nicht, wer im Hinterhause
-wohnt, geschweige denn, was die Insassen treiben. Gibt
-es hier doch H&auml;user, die an hundert Parteien, an tausend
-Menschen beherbergen.</p>
-
-<p>Was sich in der Gro&szlig;stadt dem Nichtkenner verbirgt,
-tritt, weil es sich ungezwungener gibt, dem Kenner um
-so leichter entgegen.</p>
-
-<p>Wer gut unterrichtet ist, bemerkt auf den Stra&szlig;en,
-in den Lokalen Berlins bald nicht nur M&auml;nner und Frauen
-im landl&auml;ufigen Sinn, sondern vielfach auch Personen,
-die von diesen in ihrem Benehmen, oft sogar in ihrem
-&Auml;u&szlig;eren verschieden sind, so da&szlig; man geradezu neben
-dem m&auml;nnlichen und weiblichen von einem dritten Geschlecht
-gesprochen hat.</p>
-
-<p>Ich finde diesen Ausdruck, der schon im alten Rom
-gebr&auml;uchlich war, nicht gerade gl&uuml;cklich, aber immerhin
-besser, als das jetzt so viel angewandte Wort homosexuell
-(gleichgeschlechtlich), weil dieses der weit verbreiteten
-Anschauung Nahrung gibt, es m&uuml;&szlig;ten, wenn
-irgendwo mehrere Homosexuelle zusammen sind, sexuelle
-Akte vorgenommen oder doch wenigstens beabsichtigt
-werden, was den Tatsachen in keiner Weise entspricht.</p>
-
-<p>Man m&ouml;ge, wenn in den folgenden Schilderungen
-von Homosexuellen die Rede ist, nicht an geschlechtliche
-Handlungen irgend welcher Art denken. Kommen diese
-vor, so entziehen sie sich nicht nur wegen ihrer Strafbarkeit,
-sondern vor allem wegen des nat&uuml;rlichen Scham-
-und Sittlichkeitsgef&uuml;hls, welches bei den Homosexuellen
-ebenso ausgepr&auml;gt ist wie bei den Normalsexuellen, der
-Beobachtung, keineswegs sind sie das Haupts&auml;chliche, sie
-fehlen sogar h&auml;ufig. Das Wesentliche ist das Wesen des
-Uraniers &mdash; so wollen wir in dieser Schrift den homosexuell
-Empfindenden mit Ulrichs nennen &mdash; sein Verhalten
-gegen&uuml;ber dem m&auml;nnlichen und weiblichen Geschlecht
-sind die aus seiner Naturbeschaffenheit sich ergebenden
-Sympathieen und Antipathieen.</p>
-
-<p>Aber selbst f&uuml;r den, der viele typische Eigenschaften
-urnischer Menschen kennt, bleiben doch sehr viele verborgen,
-sei es, weil ihnen, was nicht selten vorkommt,
-tats&auml;chlich bemerkbare Anzeichen fehlen, sei es, weil sie
-ihre Lebenskom&ouml;die, die oft mehr eine Lebenstrag&ouml;die
-ist, mit gro&szlig;em Geschick spielen, indem sie sich den
-Normalen in allen Gewohnheiten anpassen und ihre
-Neigungen wohlweislich zu verheimlichen wissen. Die
-meisten legen viel Wert darauf, da&szlig; &bdquo;man ihnen nichts
-anmerkt&ldquo;. Ich kenne in Berlin Homosexuelle, auch solche,
-die durchaus nicht enthaltsam sind, welche Jahre, Jahrzehnte,
-ja ihr ganzes Leben lang ihre Umgebung &uuml;ber
-ihre Natur t&auml;uschten; besonders verbreitet ist es auch,
-wenn den Kameraden &uuml;ber Liebesabenteuer berichtet
-wird, &auml;hnlich manchen &Uuml;bersetzern antiker Schriftsteller,
-die m&auml;nnliche Person in eine weibliche umzuwandeln.</p>
-
-<p>Die &ouml;rtlichen Verh&auml;ltnisse Berlins erleichtern diese
-Umwandlung ungemein. Wer im Osten wohnt, dort
-seine gesch&auml;ftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen
-hat, kann sich mit seinem Freunde jahrelang im S&uuml;den
-treffen, ohne da&szlig; man in seiner Gegend etwas davon
-wei&szlig;. Es gibt viele Berliner im Westen, die nie den
-Wedding sahen, viele am Kreuzberg, die nie das
-Scheunenviertel betraten. Ich behandelte lange eine alte
-Berlinerin, die die Witwe eines Musikers war; sie hatten
-ein einziges Kind gehabt, einen Sohn, der nicht gut tun
-wollte, fr&uuml;h hinter die Schule ging, Tage lang fortblieb
-und vagabondierte. Die Eltern suchten ihn immer wieder,
-schlie&szlig;lich als er 21 Jahre alt war, verloren sie die
-Geduld und lie&szlig;en ihn laufen. 26 Jahre lang hatte die
-Mutter nichts mehr von ihrem Jungen geh&ouml;rt und gesehen;
-sie hatte die Siebzig &uuml;berschritten, ihr Mann war
-l&auml;ngst gestorben, da tauchte er eines Tages wieder bei
-ihr auf, ein vorzeitig gealterter 47j&auml;hriger Mann mit
-struppigem Vollbart, ein Pennbruder, dessen &bdquo;Organismus
-durch Alkohol vergiftet&ldquo; war; er wollte fragen, ob sie
-nicht noch &bdquo;von Vatern ein paar alte Kleider h&auml;tte&ldquo;.
-Das Eigenartige war, da&szlig; Mutter und Sohn in den
-26 Jahren Berlin nie verlassen hatten. In einer Kleinstadt
-w&uuml;rde ein solcher Fall nicht m&ouml;glich sein.</p>
-
-<p>Man sollte es kaum glauben, wie viele Personen in
-der preu&szlig;ischen Hauptstadt, die als ein Muster der Ordnung
-gilt und es auch im Vergleich mit anderen Weltst&auml;dten
-ist, leben, ohne da&szlig; die Beh&ouml;rden von ihnen
-wissen. Ich habe mit Erstaunen wahrgenommen, wie
-lange sich oft ausgewiesene Ausl&auml;nder unbeanstandet in
-Berlin aufhalten, noch mehr, wie Personen, die polizeilich
-gesucht werden, Monate und Jahre unangemeldet
-hier verweilen, nicht etwa in entlegenen Stadtvierteln,
-sondern h&auml;ufig auf den Sammelpl&auml;tzen des Verkehrs,
-wo man sie am wenigsten vermutet.</p>
-
-<p>Wart Ihr schon einmal im Zimmer 361 auf dem
-Polizeipr&auml;sidium am Alexanderplatz? Es ist eine der
-merkw&uuml;rdigsten St&auml;tten in dieser an eindrucksvollen &Ouml;rtlichkeiten
-gewi&szlig; nicht armen Stadt. Hoch &uuml;ber den
-D&auml;chern der Gro&szlig;stadt gelegen, befindet sich dieser Raum
-inmitten einer Flucht von Zimmern, in denen alphabetisch
-geordnet zehn Millionen Bl&auml;tter aufgestapelt sind. Jedes
-Blatt bedeutet ein Menschenleben. Die noch leben, liegen
-in blauen, die Verstorbenen ruhen in wei&szlig;en Pappkartons.
-Jedes Blatt enth&auml;lt Namen, Geburtsort und Geburtstag
-von jeder Person, die seit dem Jahre 1836 in einem
-Berliner Hause eine Wohnung oder ein Zimmer inne
-hatte. Alle An- und Abmeldungen, jeder Wechsel der
-Wohnungen wird sorgsam verzeichnet. Es gibt Bogen,
-die drei&szlig;ig Wohnungen und mehr enthalten, andere, auf
-denen nur eine steht; es sind Personen darunter, die
-ihre Berliner Laufbahn in einem Keller des Ostens begannen
-und im Tiergartenviertel endeten, und andere,
-die anfangs vorn im ersten Stock wohnten und im Hof
-vier Treppen ihre Tage beschlossen. Nach Zimmer 361
-werden alle diejenigen verwiesen, die in Berlin jemanden
-suchen. Von morgens 8 bis abends 7 Uhr wandern
-Hunderte und Hunderte, im Jahre viele Tausende die
-hohen steinernen Treppen empor. Jede Auskunft kostet
-25 Pfennig. Es kommen nicht nur solche, die Geld zu
-fordern haben, Leute, f&uuml;r die ein Mensch erst dann Wert
-bekommt, wenn er ihnen etwas schuldet, nein, so mancher
-klimmt hinauf, der aus fernen Landen heimgekehrt ist
-und nun nachforscht, ob und wo noch einer seiner Verwandten
-und Jugendgef&auml;hrten lebt. Die ersten Jahre
-schrieben sie einander noch, dann schlief der Briefwechsel
-ein, und nun hat der Fremdling noch einmal die alte
-Heimat aufgesucht. Bangen Herzens schreibt er den
-Namen und die letzte ihm bekannte Wohnung seiner
-Mutter auf den Auskunftszettel &mdash; sie ist lange verstorben;
-er fragt nach Br&uuml;dern, Schwestern und Freunden,
-alle, alles dahin, und tief bek&uuml;mmert wandert der Vereinsamte
-die schmalen Treppen wieder hinunter. Wie
-viele erkundigen sich da oben vergebens, Eltern, die verlorene
-S&ouml;hne suchen, Schwestern, die nach ihren Br&uuml;dern
-fragen, und M&auml;dchen, die nach dem Vater des Kindes
-forschen, dessen Zukunft in ihrem Scho&szlig;e ruht. &bdquo;Ist
-nicht gemeldet&ldquo;, &bdquo;unbekannt verzogen,&ldquo; &bdquo;ausgewandert&ldquo;,
-&bdquo;verstorben,&ldquo; meldet der stets gleichm&uuml;tige Beamte, wenn
-er nach einer halben Stunde wiederkehrt und die
-Wartenden aufruft, welche still, ernst und verzagt, nur
-selten frohen Mutes herabsteigen, um wieder unterzutauchen
-in das H&auml;user- und Menschenmeer des gewaltigen
-Berlin.</p>
-
-<p>Die Leichtigkeit, in einer Stadt von 2&frac12; Millionen
-Einwohnern unsichtbar zu versinken, unterst&uuml;tzt sehr jene
-Spaltung der Pers&ouml;nlichkeit, wie sie auf sexuellem Gebiete
-so h&auml;ufig vorkommt. Der Berufsmensch und der
-Geschlechtsmensch, der Tag- und Nachtmensch sind oft
-zwei grundverschiedene Pers&ouml;nlichkeiten in einem K&ouml;rper,
-der eine stolz und ehrbar, sehr vornehm und gewissenhaft,
-der andere von allem das Gegenteil. Das gilt
-f&uuml;r Homosexuelle ebenso wie f&uuml;r Normalsexuelle. Ich
-kannte einen urnischen Rechtsanwalt, der, wenn er abends
-sein Bureau im Potsdamer Viertel oder eine Gesellschaft
-seiner Kreise verlassen hatte, seine Stammkneipe im s&uuml;dlichen
-Teil der Friedrichstadt aufsuchte, eine Kaschemme,
-in der er mit dem Revolverheini, dem Schl&auml;chterherrmann,
-dem Amerikafranzl, dem tollen Hunde und
-anderen Berliner Apachen die halben N&auml;chte spielend,
-trinkend und l&auml;rmend verbrachte. Die rohe Natur dieser
-Verbrecher schien auf ihn eine unwiderstehliche Anziehungskraft
-auszu&uuml;ben. Noch weiter ging ein anderer,
-ein fr&uuml;herer Offizier, der einer der ersten Familien des
-Landes angeh&ouml;rt. Dieser vertauschte zwei- bis dreimal
-die Woche abends den Frack mit einer alten Joppe, den
-Zylinder mit einer Schieberm&uuml;tze, den hohen Kragen
-mit einem bunten Halstuch, zog sich den Sweater,
-Schiffer- oder Manchesterhosen und Kommi&szlig;stiefel an und
-trieb sich etliche Stunden in den Destillen des Scheunenviertels
-umher, deren Insassen ihn f&uuml;r Ihresgleichen
-hielten. Um vier Uhr fr&uuml;h fand er sich im Hammelstall,
-einer vielbesuchten Arbeitslosenkneipe unweit des
-Bahnhofs Friedrichstra&szlig;e, zum &bdquo;Kaffeestamm&ldquo; ein, nahm
-sein Fr&uuml;hst&uuml;ck f&uuml;r zehn Pfennig mit den &auml;rmsten
-Vagabonden, um nach einigen Stunden Schlaf wieder
-zum Leben eines untadeligen Kavaliers zu erwachen.</p>
-
-<p>Auch eine homosexuelle Dame ist mir erinnerlich,
-die in einem ganz &auml;hnlichen Doppelleben oft als K&ouml;chin
-die Tanzlokale von Dienstboten besuchte, in deren Mitte
-sie sich au&szlig;erordentlich wohl f&uuml;hlte.</p>
-
-<p>Besonders merkw&uuml;rdig ist diese Halbierung oder &mdash;
-wenn man will &mdash; Verdoppelung der Pers&ouml;nlichkeit in
-denjenigen F&auml;llen, wo sie zugleich mit einer Spaltung
-in zwei Geschlechter verbunden ist.</p>
-
-<p>Ich besitze die Photographie eines Mannes in eleganter
-Damentoilette, der jahrelang unter den Weibern
-der Pariser Halbwelt eine Rolle spielte, bis durch einen
-Zufall ans Licht kam, da&szlig; &bdquo;sie&ldquo; in Wirklichkeit ein
-Mann und zwar nicht einmal ein homosexueller Mann
-war. Auch in Berlin sind wiederholt M&auml;nner aufgegriffen,
-die der weiblichen Prostitution oblagen. Mehr
-als eine Frau ist mir in Berlin bekannt, die zu Hause
-vollkommen als Mann lebt. Eine der ersten, die ich sah,
-war mir w&auml;hrend einer Feier in der Philharmonie durch
-ihre tiefe Stimme und ihre m&auml;nnlichen Bewegungen aufgefallen.
-Ich machte ihre Bekanntschaft und bat, sie besuchen
-zu d&uuml;rfen. Als ich am folgenden Sonntagnachmittag
-in der D&auml;mmerstunde an ihrer T&uuml;r klingelte, &ouml;ffnete
-mir ein junger Mann, der von einem Hunde umsprungen
-wurde, die dampfende Zigarre in der Hand hielt
-und nach meinem Begehr fragte. &bdquo;Ich w&uuml;nsche, Fr&auml;ulein
-X. zu sprechen, bringen Sie ihr, bitte, meine Karte.&ldquo;
-&bdquo;Treten Sie nur n&auml;her,&ldquo; erwiderte lachend der junge
-Bursche, &bdquo;ich bin es ja selbst.&ldquo; Ich erfuhr, da&szlig; das
-M&auml;dchen in ihrer H&auml;uslichkeit vollkommen als Mann
-lebte; es war eine wackere Person, die den Kampf mit
-dem Leben tapfer aufgenommen, manche Heirat, durch
-die sie &bdquo;gut versorgt&ldquo; worden w&auml;re, abgelehnt hatte,
-weil sie &bdquo;keinen Mann betr&uuml;gen&ldquo; wollte.</p>
-
-<p>Die Spaltung der Pers&ouml;nlichkeit kann so weit gehen,
-da&szlig; der Tagesmensch sich &uuml;ber die Lebensf&uuml;hrung seines
-n&auml;chtlichen Ichs sittlich entr&uuml;stet und heftig dagegen eifert.
-Es ist nicht immer blo&szlig;e Heuchelei gewesen, wenn
-jemand, der sich in den sch&auml;rfsten Ausdr&uuml;cken gegen die
-Homosexualit&auml;t wandte, eines Tages mit dem &sect; 175
-R.-Str.-G.-B. in Konflikt geriet.</p>
-
-<p>Wenn &uuml;brigens auch in Berlin trotz der verh&auml;ltnism&auml;&szlig;igen
-Bequemlichkeit und Sicherheit sexuellen Verkehrs
-eine gro&szlig;e Anzahl Uranier enthaltsam leben &mdash; was
-zweifellos der Fall ist &mdash;, so geschieht dies weniger aus
-Angst, als weil ihre sonstige Charakterveranlagung sie
-zur Enthaltsamkeit f&uuml;hrt und ihnen dieselbe erm&ouml;glicht.
-Viele dieser Homosexuellen leben als Junggesellen v&ouml;llig
-einsam; manche bringen durch intensive geistige Besch&auml;ftigung
-ihren Sexualtrieb zum Schweigen, einige
-gelten als Sonderlinge, haben auch in der Tat h&auml;ufig
-etwas Schrullenhaftes, Altj&uuml;ngferliches, andere entwickeln
-einen gro&szlig;en Sammeleifer, der sich nicht selten
-auf Gegenst&auml;nde erstreckt, die mit ihrer Neigung in einem
-gewissen Zusammenhang stehen; so wei&szlig; ich von einem
-urnischen Prinzen in Berlin, welcher mit einer wahren
-Leidenschaft Soldaten-Darstellungen aller Zeiten und
-L&auml;nder sammelte. Wieder andere suchen und finden
-eine Ablenkung und Befriedigung ihres sexuellen Triebes
-darin, da&szlig; sie St&auml;tten aufsuchen, Schwimmb&auml;der, Turnhallen,
-Sportpl&auml;tze, wo sie Gelegenheit haben, sich am
-Anblick ihnen sympathischer Gestalten zu erfreuen, oder
-aber sie schlie&szlig;en sich aus denselben Grunde Vereinen
-an. Namentlich in den eingeschlechtlichen Vereinen
-Berlins, wie den Turnvereinen und den Vereinen christlicher
-junger M&auml;nner, ebenso auch in den Frauenklubs
-und Frauenvereinen &mdash; vom Dienstboten- bis zum
-Stimmrechtsverein &mdash; sind urnische Mitglieder nichts
-Seltenes, oft ist sogar das urnische Element die treibende
-Kraft des Vereins. Vielfach sind sich die Betreffenden
-ihrer Urningsnatur gar nicht oder nur wenig bewu&szlig;t
-und werden erst aufmerksam, wenn ein dritter, meist
-mehr im Scherz als im Ernst, Bemerkungen macht,
-wie. &bdquo;Du benimmst Dich ja wie ein warmer Bruder.&ldquo;</p>
-
-<p>Vor einiger Zeit suchte mich einmal ein Mitglied
-eines spiritistischen Vereins auf, um sich zu vergewissern,
-ob er homosexuell sei; ein Vereinsbruder habe ihm bei
-einem Streite zugerufen: &bdquo;Schweig, Du Zwitter.&ldquo; Dieser
-stark feminine und offenbar recht nerv&ouml;se J&uuml;ngling berichtete
-mir, da&szlig; er im gew&ouml;hnlichen Leben weder zum
-Weibe, noch zum Manne sinnliche Regungen versp&uuml;re,
-nur wenn er in den Trance-Zustand verfiele, was leicht
-der Fall sei, f&uuml;hle er sich als eine Indierin und empf&auml;nde
-als solche eine starke Liebe zu einem seiner Vereinsbr&uuml;der.</p>
-
-<p>Trotzdem sich die Urninge in ihren Vereinen meist
-gut zu beherrschen wissen, kommt es doch hie und da
-zum &bdquo;Skandal&ldquo;, namentlich wenn sich unter der Wirkung
-leichter Alkoholmengen die Z&uuml;gel lockern, welche sie ihrer
-wahren Natur sonst anzulegen wissen. Ich will ein in
-mehr als einer Hinsicht lehrreiches Beispiel anf&uuml;hren.</p>
-
-<p>Vor etwa zehn Jahren veranstaltete ein Missionar
-in einem religi&ouml;sen Zwecken dienenden Hause gro&szlig;e Versammlungen
-und Feiern, die sich eines ungew&ouml;hnlich
-regen Zuspruches erfreuten. &bdquo;Das gewinnende, liebensw&uuml;rdige
-Wesen dieses Mannes zog wie ein Magnet.&ldquo;
-Er war eine Pers&ouml;nlichkeit von angenehmstem &Auml;u&szlig;ern,
-Mitte der Drei&szlig;ig, sehr begabt und ein trefflicher
-Redner. &bdquo;Er brauchte nur zu bitten, und die Gaben
-flossen in Massen; &uuml;berall war er ma&szlig;gebend, geliebt
-und verehrt, besonders bei den Frauen.&ldquo; Man fand
-nicht Worte genug &uuml;ber seine Herzensg&uuml;te; er selber berichtete
-in den Versammlungen h&auml;ufig, wie er in den
-Gef&auml;ngnissen so oft und gern Trost spendete, wie er
-nachts junge Menschen in den Anlagen ohne alle Mittel
-gefunden, sie mit nach Hause genommen und bei sich
-beherbergt habe. Er hatte dabei ein im Grunde fr&ouml;hliches
-Gem&uuml;t. Wer ihn auf den sommerlichen Ausfl&uuml;gen
-des Vereins beobachtete, wie er mit seinen Sch&uuml;lern
-Kampfspiele veranstaltete, mit ihnen rang und ausgelassen
-tollte, freute sich ohne Argwohn der anscheinend
-so harmlosen Freudigkeit des unerm&uuml;dlichen Gottesstreiters.
-Eines Tages aber bem&auml;chtigte sich tiefe Betr&uuml;bnis
-und gro&szlig;e Entr&uuml;stung des frommen Vereins.
-Herr W. war wegen unsittlicher Handlungen mit jungen
-M&auml;nnern verhaftet worden. Bei der Gerichtsverhandlung
-bekundeten zw&ouml;lf J&uuml;nglinge, da&szlig; W. sie unz&uuml;chtig
-ber&uuml;hrt habe, sogar hinter der Kanzel, an der Orgel
-und in der Sakristei habe er solches getan und jedesmal
-hinterher mit ihnen gebetet. Er wurde zu einer
-schweren Freiheitsstrafe verurteilt.</p>
-
-<p>Ich verdanke diesen Bericht einem sehr ehrenwerten
-Uranier, der demselben christlichen Verein angeh&ouml;rte.
-&bdquo;Nie h&auml;tte ich,&ldquo; so schreibt er mir, &bdquo;geglaubt, da&szlig; dieser
-geehrte Herr so j&auml;h aus seiner H&ouml;he st&uuml;rzen k&ouml;nnte,
-da&szlig; meine inneren Empfindungen, die ich in harten
-K&auml;mpfen unterdr&uuml;ckte, um deren &Uuml;berw&auml;ltigung willen
-ich jene fromme Gesellschaft aufgesucht hatte, so denen
-ihres Leiters glichen. Als sich das geschilderte Trauerspiel
-zutrug, dachte ich in Demut: &bdquo;Herr, sei mir S&uuml;nder
-gn&auml;dig&ldquo;, und bin mit vielen anderen aus dem schwer gesch&auml;digten
-Verein geschieden.&ldquo;</p>
-
-<p>Vielfach widmet sich der homosexuelle Platoniker
-nicht sowohl einer Vereinigung, als vielmehr einer einzigen
-Person, an der er Gefallen gefunden hat. Wie
-viele dieser M&auml;nner lassen nicht ihre Sch&uuml;tzlinge ausbilden,
-studieren, nehmen sie auf Reisen mit, setzen ihnen
-Renten aus, adoptieren sie, bedenken sie in ihrem Testament,
-bem&uuml;hen sich um sie in intensivster Weise, ohne
-da&szlig; es je zu einem Kusse kommt, ja, ohne da&szlig; sich die
-Betreffenden der sexuellen Grundlage ihrer Neigung bewu&szlig;t
-werden, wiewohl sie die Briefe ihrer Freunde
-nicht weniger sehns&uuml;chtig erwarten, nicht minder begierig
-lesen, wie ein Br&auml;utigam die seiner Braut. Und noch
-seltener ist sich der Empfangende in solchen Verh&auml;ltnissen
-&uuml;ber die wahre Natur seines &bdquo;v&auml;terlichen&ldquo; Freundes
-klar. Wohl ist er und seine Familie &uuml;ber &bdquo;das gute
-Herz&ldquo; ihres besten Freundes des Lobes voll, das hindert
-aber den jungen Mann nicht, gelegentlich recht weidlich
-&uuml;ber die Homosexuellen zu schelten, ohne zu ahnen,
-wie schwer er jenen trifft, den er gewi&szlig; am wenigsten
-verletzen m&ouml;chte.</p>
-
-<p>Ich will hier ein Gedicht eines Berliner Urnings
-an seinen Freund zur Kenntnis bringen, das recht anschaulich
-zeigt, wie schwer die unmerklich in einander
-&uuml;bergehenden Grenzen zwischen den geistigen, seelischen
-und k&ouml;rperlichen &Auml;u&szlig;erungen des in Form und St&auml;rke,
-nicht aber in seinem Wesen verschiedenartigen Gef&uuml;hls zu
-ziehen sind. Es lautet:</p>
-
-<div class="poem">
-<p class="noindent">
-&bdquo;Ihm in die tiefen, treuen Augen sehen,<br />
-Mit ihm vereint an meinem Fenster stehen,<br />
-Zu lehnen mein Gesicht an seine Wange,<br />
-Ganz still, recht fest und lange, lange,<br />
-<span class="ind5">Ist das nicht Gl&uuml;ck genug &mdash;</span><br />
-<br />
-Ihm sanft die H&auml;nde zu ber&uuml;hren,<br />
-Den Atem seiner Brust zu sp&uuml;ren,<br />
-Mit meinem Haupt an seinem Herzen liegen<br />
-Und meinen Mund an seine Lippen schmiegen,<br />
-<span class="ind5">Das ist doch Gl&uuml;ck genug &mdash;</span><br />
-<br />
-Zu schauen, wenn er lacht und froh sich regt,<br />
-Zu merken, wenn er ernst und tief bewegt,<br />
-Zu sehen, wie in allem, was er treibt,<br />
-Er stets sich gleich an Kraft und Sch&ouml;nheit bleibt,<br />
-<span class="ind5">Ist das nicht Gl&uuml;ck genug &mdash;</span><br />
-<br />
-Die Ansicht mit ihm auszutauschen,<br />
-Dem Wohllaut seiner Stimme lauschen,<br />
-Sein Leben sch&ouml;ner zu gestalten,<br />
-Wenn Leid ihn qu&auml;lt, treu zu ihm halten,<br />
-<span class="ind5">Das ist doch Gl&uuml;ck genug &mdash;</span><br />
-<br />
-Ihm sagen k&ouml;nnen, da&szlig; er mir das H&ouml;chste,<br />
-Von ihm vernehmen, da&szlig; ich ihm der N&auml;chste,<br />
-Ihm schildern d&uuml;rfen, wie sehr ich ihn liebe,<br />
-Den Wunsch zu h&ouml;ren, da&szlig; sein Freund ich bliebe,<br />
-<span class="ind5">Das ist doch Gl&uuml;ck genug &mdash;</span><br />
-<br />
-O, wenn ich es doch nie erlebte,<br />
-Da&szlig; ich noch mehr an Gl&uuml;ck erstrebte,<br />
-Als mir so reichlich ist beschieden,<br />
-Dann h&auml;tten er und ich den Frieden<br />
-<span class="ind5">Und beide Gl&uuml;ck genug.&ldquo;</span><br />
-</p>
-</div>
-
-<p>Auch der folgende ausf&uuml;hrliche Bericht eines keuschen
-Uraniers &uuml;ber das erste Erwachen seiner Liebe &mdash; er
-r&uuml;hrt von einem mir bekannten Studenten her, der sich
-noch nie sexuell bet&auml;tigt hat &mdash; best&auml;tigt den Satz, da&szlig;
-sich der homosexuelle Trieb wohl in seiner Richtung und
-Bedeutung, nicht aber in seiner Naturw&uuml;chsigkeit von der
-normalsexuellen Liebe unterscheidet.</p>
-
-<blockquote>
-<p>&bdquo;Ich bin in dem &bdquo;S&uuml;ndenbabel&ldquo; Berlin aufgewachsen, habe mit
-vielen gleichalterigen Kameraden eine &ouml;ffentliche Schule besucht, bin
-sogar in einer Pension gewesen, wo es sicher nicht sehr zart herging,
-und habe mir trotzdem gerade in sexueller Beziehung merkw&uuml;rdig
-lange meine Kindlichkeit bewahrt. Ich habe nie, wie andere Kinder,
-Vergn&uuml;gen daran gefunden, dar&uuml;ber zu reden und zu gr&uuml;beln, &bdquo;woher
-die Kinder kommen&ldquo;, ich hatte sogar eine merkw&uuml;rdige Scheu, deren
-Ursachen mir noch jetzt unerkl&auml;rlich sind, &uuml;ber solche Dinge reden zu
-h&ouml;ren. So galt ich noch mit 15 Jahren, und zwar mit Recht, unter
-meinen Kameraden f&uuml;r &bdquo;unschuldig&ldquo;; an den Klapperstorch glaubte ich
-ja nicht gerade mehr, aber ich hatte keine Ahnung von dem Wesen
-des Unterschiedes der Geschlechter und von irgend welchen sexuellen
-Beziehungen. Nat&uuml;rlich verstand ich auch nichts von den bekannten
-Witzen, die &uuml;ber dieses Thema gemacht wurden, was am meisten dazu
-beitrug, den Ruf meiner &bdquo;Unschuld&ldquo; zu verbreiten.</p>
-
-<p>In dieser Zeit, ich war 17 Jahre, fa&szlig;te ich eine eigenartige Zuneigung
-zu einem meiner Mitsch&uuml;ler, dem Primus der Klasse; ich war
-nicht so befreundet mit ihm, wie mit meinen speziellen Schulfreunden,
-und doch hatte ich immer eine ganz besondere Freude daran, einmal
-mich l&auml;nger mit ihm zu unterhalten, auf dem Schulhofe mit ihm zusammen
-zu gehen, oder gar einmal in der Stunde neben ihm zu sitzen.
-Gerade dies erreichte ich zu meinem Schmerz nur sehr selten, fast
-immer sa&szlig; ich dritter, also noch ein anderer zwischen uns, und ich
-mu&szlig;te mich begn&uuml;gen, ihn so oft wie m&ouml;glich anzusehen, wobei ich mir
-M&uuml;he gab, das von ihm nicht bemerken zu lassen. &Uuml;berhaupt nahm
-ich mich aufs &auml;u&szlig;erste in acht, da&szlig; niemand meine Beziehungen zu
-ihm, die &uuml;brigens v&ouml;llig einseitig waren und blieben, bemerkte; ich
-wu&szlig;te es damals nicht und wei&szlig; mir auch jetzt noch keinen rechten
-Grund daf&uuml;r anzugeben, warum ich meine Zuneigung jedem Menschen
-gegen&uuml;ber und besonders vor dem Geliebten selbst geheim hielt. Ich
-hatte wahrscheinlich das richtige Gef&uuml;hl, doch nicht verstanden zu
-werden, und au&szlig;erdem war ich mir meines Zustandes selbst nur ganz
-dunkel bewu&szlig;t, ich h&auml;tte wohl gar nicht aussprechen und in Worte
-fassen k&ouml;nnen, was ich da eigentlich dachte und f&uuml;hlte. Und doch war
-es so herrlich sch&ouml;n, sich vorzustellen, wenn wir beide so recht sehr befreundet
-w&auml;ren, immer zusammen sein k&ouml;nnten, die Schularbeiten gemeinsam
-machten und uns nie zu trennen brauchten. Und wenn ich
-dann abends im Bett lag, malte ich mir alle m&ouml;glichen Ereignisse aus,
-die eintreten m&uuml;&szlig;ten, damit wir recht eng befreundet werden k&ouml;nnten;
-da konnte doch z. B. sein Haus abbrennen, dann w&uuml;rde er keine
-Wohnung haben, und ich w&uuml;rde ihn auffordern, bei uns zu wohnen;
-und dann w&uuml;rde er sogar bei mir im Bett schlafen, so da&szlig; ich ihn so
-recht fest umarmen und an mich dr&uuml;cken k&ouml;nnte, um ihm zu zeigen,
-wie lieb ich ihn habe.</p>
-
-<p>Wohlgemerkt: Diese Gedanken kamen mir und erf&uuml;llten mich mit
-gr&ouml;&szlig;ter Seligkeit, ohne da&szlig; ich eine Ahnung hatte von den sexuellen
-Beziehungen der Geschlechter. Mein Gem&uuml;t war vollst&auml;ndig rein, unverdorben
-durch unsaubere und schmutzige Geschichten, wie sie andere
-Gro&szlig;stadtkinder oft allzu fr&uuml;h zu h&ouml;ren bekommen, meine Phantasie
-war nicht erregt durch derartige Dinge. Und dennoch kamen mir diese
-&bdquo;unsittlichen, unz&uuml;chtigen&ldquo; Vorstellungen? Nein, es lag nicht das geringste
-Unsittliche in diesen Gedanken, konnte gar nicht darin liegen,
-und diese Tatsachen, die ich an mir selbst erlebt habe, die ich gef&uuml;hlt
-und gedacht habe mit meinem innersten Herzen, sind mir der sicherste
-und unumst&ouml;&szlig;lichste Beweis daf&uuml;r, da&szlig; in der Homosexualit&auml;t an sich
-keine Spur von dem enthalten ist, was Unwissenheit und Unkenntnis
-hineinlegen wollen. Es sei denn, da&szlig; man das Geschlechtliche &uuml;berhaupt
-als etwas Unsittliches ansieht, da&szlig; man die nat&uuml;rliche Weltordnung
-anzutasten versucht, indem man das Heiligste im Menschenleben
-in den Schmutz zieht, dann kann man die gleichgeschlechtliche
-Liebe gleich mit verdammen. &mdash; Jetzt wei&szlig; ich, da&szlig; das, was sich damals
-in mir abspielte, nichts anderes war, als das erste Erwachen der
-Liebe in einem noch kindlichen Gem&uuml;t, das nicht wu&szlig;te, was in ihm
-vorging, und doch von dieser neuen Herrlichkeit g&auml;nzlich erf&uuml;llt war.</p>
-
-<p>Und wie hier beim ersten Male der Gegenstand meiner Liebe ein
-m&auml;nnliches Wesen war, so ist es bei mir bisher geblieben. Wenn
-andere &bdquo;normale&ldquo; M&auml;nner auf der Stra&szlig;e ein h&uuml;bsches M&auml;dchen sehen,
-so blicken Sie sich unwillk&uuml;rlich danach um; mir ergeht es genau so mit
-sch&ouml;nen J&uuml;nglingen, denen ich ebenso unwillk&uuml;rlich nachsehe. Trete ich
-in eine Gesellschaft, komme ich auf einen Ball &amp;c., so geschieht es oft,
-da&szlig; mir ganz unbewu&szlig;t irgend einer der jungen Leute, den ich nicht
-kenne, auff&auml;llt, und ich ertappe mich nachher dabei, da&szlig; ich fortw&auml;hrend
-darauf geachtet habe, was der Betreffende tut, mit wem er
-tanzt &amp;c. &amp;c.</p>
-
-<p>Jene erste Liebe wurde nach einiger Zeit abgel&ouml;st durch eine
-andere gr&ouml;&szlig;ere Leidenschaft, die mich zu einem anderen Mitsch&uuml;ler ergriff,
-der zwar ein ganzes Jahr &auml;lter war als ich, aber in einer tieferen
-Klasse sa&szlig;. Ich kann mich darauf besinnen, wie ganz allm&auml;hlich die
-ersten Zeichen dieser Liebe bei mir auftauchten, wie ich jede m&ouml;gliche
-Gelegenheit benutzte, mit ihm zusammen zu sein: auf dem Schulhofe,
-auf der Stra&szlig;e, bei den Turnspielen u. s. w. Und dabei war es noch
-besonders schwierig, diesen Verkehr reger werden zu lassen; nicht nur,
-da&szlig; er in einer anderen Klasse war, sondern es gab auch eigentlich
-gar keine gemeinsamen Interessen zwischen uns, wir hatten keine gemeinsamen
-Freunde, und er war gerade im Kreise meiner n&auml;chsten
-Freunde besonders unbeliebt. Um so auff&auml;lliger mu&szlig;te es sein, wenn
-ich mich mit ihm n&auml;her befreundete, und ich suchte die verschiedensten
-Vorw&auml;nde, diese Ann&auml;herung zu erkl&auml;ren, nicht nur vor anderen,
-sondern besonders vor mir selbst, der ich noch immer nicht ahnte, was
-in mir vorging. Aber gerade in dieser Zeit, ich war 18 Jahre, ging
-mir das Licht &uuml;ber die wahre Bedeutung der Sache auf, in dieser Zeit,
-wo ich regelrechte Fensterpromenaden vor seinem Hause machte, die
-Zeit abpa&szlig;te, wann er herauskam, um ihm zuf&auml;llig zu begegnen, und
-an nichts anderes dachte als an ihn. Ja, ich wu&szlig;te bald, ich ihn
-wirklich und regelrecht liebte, aber es ihm zu sagen, dazu hatte ich
-nicht den Mut, ja, ich gab mir sogar noch lange Zeit M&uuml;he, es ihn
-nicht einmal merken zu lassen. Unser Verkehr wurde aber reger, obgleich
-ich wu&szlig;te, da&szlig; er sich nicht allzu viel aus mir machte; ich benutzte
-jede Gelegenheit, unsere Beziehungen enger und freundschaftlicher
-zu gestalten, was auch &auml;u&szlig;erlich gelang, ohne da&szlig; es jedoch trotz
-gr&ouml;&szlig;ter Anstrengung meinerseits zu einer wirklichen Freundschaft kam.
-Es lag &uuml;berhaupt in K.'s Wesen, da&szlig; er keine Freunde besa&szlig;, und so
-hatte ich in dieser Zeit eigentlich nur einmal Gelegenheit, die Qualen
-der Eifersucht kennen zu lernen; doch gerade diese Eifersuchtsanwandlung,
-die mir ordentlich zu schaffen machte, brachte mir gleichzeitig volle
-Gewi&szlig;heit &uuml;ber meine homosexuelle Liebe. Schlie&szlig;lich wurde das Gef&uuml;hl,
-das mich zu ihm hinzog, so &uuml;berm&auml;chtig, und ich wurde der
-Heuchelei vor ihm und vor mir selbst so m&uuml;de, da&szlig; ich ihm eines
-Abends, als wir in seinem Zimmer zusammen arbeiteten, um den
-Hals fiel, ihn mit K&uuml;ssen &uuml;bersch&uuml;ttete und ihm alles beichtete. Er
-nahm diesen Ausbruch etwas verwundert, aber doch ganz ruhig hin,
-jedenfalls ohne zu begreifen, um was es sich eigentlich handelte.</p>
-
-<p>Die nun folgenden Wochen waren die bisher sch&ouml;nsten meines
-Lebens, fast jeden Abend waren wir zusammen, ich half ihm bei allen
-seinen Schularbeiten, und wenn wir damit fertig waren, sa&szlig;en wir
-eng aneinander geschmiegt und sprachen &uuml;ber alles und nichts. Doch
-es waren leider nur wenige Wochen; denn genau zur selben Zeit
-stellte sich auch bei meinem K. die Liebe ein &mdash; aber nicht zu mir,
-sondern zu einem kleinen M&auml;dchen. Und wenn ich jetzt nachmittags
-zu ihm kam, dann hatte er mir von nichts anderem zu erz&auml;hlen, als
-von <b>ihr</b>, und auf dem Schulwege sprach er mit mir von <b>ihr</b>, und
-abends ging ich mit ihm fort dahin, wo er <b>sie</b> treffen wollte, und
-wartete, bis sie kam, sprach ein paar Worte mit ihr, ging ein paar
-Schritte mit und verabschiedete mich dann, um die beiden allein zu
-lassen &mdash; ich war ja &uuml;berfl&uuml;ssig. Ich kann nicht gerade sagen, da&szlig; ich
-auch hier eifers&uuml;chtig war, im Gegenteil: es flo&szlig; wohl auch ein Teil
-meiner Liebe zu K. auf seine Freundin &uuml;ber, da <b>sie</b> es ja war, die
-ihn gl&uuml;cklich machte. Aber das Herz blutete mir doch, wenn er mir
-z. B. seine Tageb&uuml;cher gab, in denen nur von <b>ihr</b> stand, was sie tat
-und sagte und dachte, und wo ich kaum mal mit einem Worte erw&auml;hnt
-wurde. Am meisten jedoch schmerzte mich, da&szlig; er sich energisch
-weigerte, meine K&uuml;sse und Z&auml;rtlichkeiten weiter zu dulden; denn
-gerade weil ich ihm klar gemacht hatte, da&szlig; meine Empfindungen zu
-ihm wahre Liebe seien, weil ich ihn mit allen Mitteln, die mir damals
-zu Gebote standen, &uuml;berzeugt hatte, da&szlig; meine Liebe zu ihm etwas
-Berechtigtes sei, wie die zwischen Mann und Weib, gerade darum behauptete
-er, <b>ihr</b> untreu zu werden, wenn er sich noch ferner von <b>mir</b>
-k&uuml;ssen lie&szlig;e. &bdquo;Freunde k&ouml;nnen wir ja bleiben&ldquo;, sagte er, &bdquo;denn ich habe
-dich ganz gern, aber nicht anders wie andere Freunde wollen wir sein.&ldquo;</p>
-
-<p>Und so blieben wir Freunde noch zwei Jahre lang, und ich
-schmeichle mir, wenigstens in der ersten Zeit einen recht guten Einflu&szlig;
-auf ihn ausge&uuml;bt zu haben; nicht nur, da&szlig; ich ihm bei seinen Arbeiten
-half, sondern ich versuchte auch, ihm etwas h&ouml;here Interessen beizubringen,
-als er sie leider besa&szlig;, ihn zu veranlassen, sich auch mit
-wissenschaftlichen, politischen &amp;c. Fragen zu besch&auml;ftigen, auf die ihn die
-Erziehung, die er gehabt hatte, das Milieu, in dem er lebte, und seine
-eigene Interesselosigkeit bisher nicht hingewiesen hatten. Meine Liebe
-zu ihm blieb lange Zeit mit unverminderter St&auml;rke bestehen, und noch
-heute bin ich von dieser Leidenschaft nicht ganz geheilt.</p>
-
-<p>Im Laufe dieser Jahre bin ich allm&auml;hlich auf meine Veranlagung
-aufmerksam geworden, zuerst wohl nach der negativen Seite hin.
-Wenn meine Mitsch&uuml;ler allm&auml;hlich anfingen, von ihren Liebsten zu erz&auml;hlen,
-deren Namen in die Schulb&auml;nke einzukratzen, bei jeder Gelegenheit
-ihnen Ansichtskarten zu schreiben, so dachte ich zun&auml;chst, besonders
-da ich immer einer der J&uuml;ngsten in der Klasse war, das w&uuml;rde mit
-der Zeit bei mir auch noch kommen. Und dabei ahnte ich nicht, da&szlig;
-die Zuneigung zu meinem K. nichts anderes als wirkliche, wahrhaftige
-Liebe war, st&auml;rker vielleicht und tiefer, als sie die meisten anderen zu
-ihren M&auml;dels empfanden. Erst durch einige Analogieen, die mir zuf&auml;llig
-auffielen, kam nur eine Ahnung des wahren Sachverhalts. Wie
-jeder richtig Verliebte machte ich meine Fensterpromenaden, ging t&auml;glich,
-so oft wie m&ouml;glich, und wenn es die gr&ouml;&szlig;ten Umwege kostete, an
-<b>seinem</b> Hause vorbei und war gl&uuml;cklich, wenn <b>er</b> mal am Fenster
-stand. So d&auml;mmerte es in mir auf, und nun einmal aufmerksam geworden,
-unwillk&uuml;rlich weitere Anhaltspunkte suchend, kam ich bald zur
-Klarheit &uuml;ber mich. Ich entsinne mich z. B. noch genau, welch tiefen
-Eindruck es auf mich machte, als meine Mutter einmal scherzend zu
-mir sagte: &bdquo;Paul, Paul, wer immer so allein spazieren geht, der ist
-verliebt&ldquo;; ich hatte ja tats&auml;chlich meinen Bruder nur darum nicht mitnehmen
-wollen, um, wenn ich <b>ihn</b> treffen sollte, allein mit ihm zu sein.&ldquo;
-</p>
-</blockquote>
-
-<p>&bdquo;Feste Verh&auml;ltnisse&ldquo; homosexueller M&auml;nner und
-Frauen, oft von sehr langer Dauer, sind in Berlin
-etwas ganz au&szlig;erordentlich H&auml;ufiges.</p>
-
-<p>Man mu&szlig; an vielen Beispielen wahrgenommen
-haben, mit welcher Innigkeit in solchen B&uuml;ndnissen h&auml;ufig
-der eine an dem anderen h&auml;ngt, wie sie f&uuml;r einander
-sorgen und sich nach einander sehnen, wie sich der Liebende
-in die ihm oft so fern liegenden Interessen des Freundes
-hineinversetzt, der Gelehrte in die des Arbeiters, der
-K&uuml;nstler in die des Unteroffiziers, man mu&szlig; gesehen
-haben, welche seelischen und k&ouml;rperlichen Qualen diese
-Menschen nicht selten infolge Eifersucht erleiden, wie ihre
-Liebe alles &uuml;berdauert und alles &uuml;berwindet, um allm&auml;hlich
-inne zu werden, da&szlig; kein &bdquo;Fall widernat&uuml;rlicher
-Unzucht&ldquo; vorliegt, sondern ein Teil jener gro&szlig;en Empfindung,
-die nach der Ansicht vieler dem Menschendasein
-erst Wert und Weihe giebt.</p>
-
-<p>Ich behandelte einst eine adelige Dame, die seit einer
-Reihe von Jahren mit einer Freundin zusammen lebte,
-an einem schweren Nervenleiden. Weder vorher noch
-nachher habe ich in meiner Krankenpraxis ein so liebevolles
-Aufgehen eines Gesunden in einen Kranken gesehen,
-wie in diesem Fall, weder unter Ehegatten, noch
-selbst bei M&uuml;ttern, die sich um ihre Kinder bangten.
-Die gesunde Freundin war keine angenehme Mitb&uuml;rgerin,
-sie hatte viel R&uuml;cksichtsloses und Eigenwilliges, wer aber
-diese wahrhaft ergreifende Liebe und Sorgfalt sah, dieses
-unabl&auml;ssige Bem&uuml;hen bei Tage und bei Nacht, hielt ihr
-um dieses starken und sch&ouml;nen Gef&uuml;hls willen vieles zu
-gute. Sie war mit ihrer Freundin tats&auml;chlich wie verwachsen,
-ber&uuml;hrte man ein schmerzhaftes Glied der
-Kranken, so zuckte sie reflektorisch zusammen, jedes Unbehagen
-der Leidenden spiegelte sich in ihrem Gesicht
-wider, mangelhafter Schlaf und schlechter Appetit &uuml;bertrugen
-sich auf die gesunde Freundin. Der Fall war
-&uuml;brigens auch dadurch bemerkenswert, da&szlig; auch das
-Personal der Patientin, sowohl die Krankenschwester, wie
-das Dienstm&auml;dchen, einwandfrei urnisch waren.</p>
-
-<p>Unweit diesem Paare lebte ein anderes. Er war
-Referendar, sein etwa 18j&auml;hriger Freund Damenschneider.
-Dieser war so feminin, da&szlig; ich dem Referendar einmal
-bemerkte, so gut wie in dieses Neunzehntel-Weib h&auml;tte
-er sich doch auch in ein ganzes Weib verlieben k&ouml;nnen.
-Unter anderem war seine Stimme so weiblich, da&szlig;, wenn
-er telephonisch nach mir verlangte, was im Interesse
-seines Freundes einige Male vorkam, mein Sekret&auml;r stets
-meldete. &bdquo;Eine Dame w&uuml;nscht sie zu sprechen.&ldquo; Beide
-lebten in gro&szlig;er Harmonie, tags ging jeder seinem Berufe
-nach, der eine auf das Gericht, der andere in die
-Schneiderwerkstatt. Als der Referendar Berlin verlie&szlig;,
-nahm er den Freund mit sich. Dieser hatte zuvor seinen
-Vater, einen biederen Berliner Handwerker, um eine aufkl&auml;rende
-Unterredung gebeten, bei der, wie er mir schamhaft
-erz&auml;hlte, das Zimmer verdunkelt werden mu&szlig;te.
-Der Vater war garnicht verwundert, er habe schon l&auml;ngst
-&auml;hnliches vermutet, und erkl&auml;rte sich mit allem einverstanden.</p>
-
-<p>Der kleine Damenschneider hatte einen Arbeitskollegen,
-der nicht minder m&auml;dchenhaft war, wie er
-selbst. Ihr Beruf ist mehr wie irgend ein anderer in
-Berlin von urnischen Elementen durchsetzt. Dieser Kollege
-verliebte sich in den Bruder des Referendars, einen
-Ingenieur, der kurz vorher wegen ungl&uuml;cklicher Liebe zu
-einem Studenten einen ernsthaften Selbstmordversuch
-unternommen hatte. Als er schwer verletzt im Krankenhause
-lag, hatten sich die beiden gleichveranlagten Br&uuml;der,
-die bis dahin nichts von einander wu&szlig;ten, zu erkennen
-gegeben. Allm&auml;hlich entwickelte sich nun zwischen dem
-Ingenieur und dem anderen Damenschneider ein zweites
-Liebesb&uuml;ndnis, und es entbehrte nicht einer gewissen
-Drolligkeit, wenn die beiden sch&ouml;n und stark gewachsenen
-Br&uuml;der mit ihren Schneiderlein Willi und Hans &mdash; nicht
-viel anders wie andere mit ihren Putzmacherinnen &mdash;
-am Sonntag den Grunewald durchstreiften.</p>
-
-<p>Da&szlig; sich die Eltern mit der urnischen Natur, ja sogar
-mit dem homosexuellen Leben ihrer Kinder abfinden, ist
-in Berlin durchaus nichts Seltenes.</p>
-
-<p>Vor kurzem wohnte ich auf einem Berliner Vorortkirchhof
-der Beerdigung eines alten Arztes bei. Am
-offenen Grabe standen der einzige Sohn des Verstorbenen,
-zur Rechten die bejahrte Mutter, an der andern Seite
-der zwanzigj&auml;hrige Freund, alle drei in tiefster Trauer.
-Als der Vater, bereits &uuml;ber 70 Jahre alt, vom Uranismus
-seines Sohnes h&ouml;rte, war er der Verzweiflung
-nahe, er suchte mehrere Irren&auml;rzte auf, die ihm mancherlei
-raten, aber nicht helfen konnten. Dann vertiefte er
-sich selbst in die Litteratur &uuml;ber den Gegenstand und
-erkannte mehr und mehr, da&szlig; sein Sohn, den er &uuml;ber
-alles liebte, von Geburt an homosexuell gewesen war.
-Bei seiner Niederlassung hatte er nichts dagegen, da&szlig; er
-den Freund zu sich nahm, ja die guten Eltern &uuml;bertrugen
-ihre volle Liebe auf den jungen Mann, der aus
-einfachstem Stande hervorgegangen war. Beide hatten
-auf einander sichtlich einen guten Einflu&szlig;; w&auml;hrend sie
-einzeln nur schwer imstande gewesen w&auml;ren, vorw&auml;rts zu
-kommen, gelang es ihnen zu zweit vortrefflich, indem das
-Wissen und die Liebensw&uuml;rdigkeit des einen in der Energie
-und Sparsamkeit des anderen ihre Erg&auml;nzung fanden.</p>
-
-<p>Auf dem Sterbelager nahm der alte Doktor von
-seiner Frau und seinen &bdquo;beiden Jungen&ldquo; Abschied und
-der Anblick dieser drei Menschenkinder, wie sie unter
-den Kl&auml;ngen des Mendelsohnschen Liedes: &bdquo;Es ist bestimmt
-in Gottes Rat&ldquo; ihre Tr&auml;nen und Trauer vereinigten,
-griff ungleich tiefer in die Seele, als die Rede
-des jungen Pfarrers, der in schrillem Tonfall die Taten
-des ihm g&auml;nzlich unbekannten Toten pries.</p>
-
-<p>Nicht vereinzelt kommt es in Berlin vor, da&szlig; urnische
-Junggesellen sich bei den Familien ihrer Freunde einmieten
-und dort wie Angeh&ouml;rige des Hauses angesehen
-werden. Es gibt M&uuml;tter, selbst wissende, die
-oft in &uuml;berschw&auml;nglicher Weise das Gl&uuml;ck preisen, da&szlig;
-ihr Sohn einen so gro&szlig;artigen Freund, ihre Tochter eine
-so ausgezeichnete Freundin gefunden; diese Freundschaft
-sei ihnen viel lieber, als wenn sich ihr Sohn
-mit M&auml;dchen herumtreibe, ihre Tochter sich von M&auml;nnern
-den Hof machen lie&szlig;e. Verstieg sich doch einmal eine
-Mutter, die mich wegen eines geschlechtlich infizierten
-Sohnes aufsuchte, zu dem merkw&uuml;rdigen Ausspruch:
-&bdquo;Ich w&uuml;nschte, mein zweiter Sohn w&auml;re auch homosexuell.&ldquo;
-Manchmal liebt der Freund den Sohn des
-Hauses und wird von der Tochter geliebt, wie &uuml;berhaupt
-zwischen den verschiedenen normalsexuellen und homosexuellen
-Personen desselben Kreises hie und da ganz
-sonderbare Verwicklungen vorkommen. F&uuml;r den Psychologen
-und Schriftsteller, welcher das urnische Moment in
-den Beziehungen der Menschen untereinander zu erkennen
-wei&szlig;, erweitern sich dadurch die der Beachtung und Darstellung
-w&uuml;rdigen Konflikte in ungeahnter Weise.</p>
-
-<p>Ich kannte in Berlin einen Uranier, der die Schwester
-eines J&uuml;nglings heiratete, nur um mit dem Bruder oft
-und unauff&auml;llig zusammen sein zu k&ouml;nnen. Die Ehe,
-welche in Wirklichkeit keine war, ging nach einigen
-Jahren auseinander, nachdem der normalsexuelle Bruder
-seinen Schwager &mdash; nicht etwa im B&ouml;sen, sondern im
-Guten &mdash; um sein ganzes betr&auml;chtliches Verm&ouml;gen gebracht
-hatte.</p>
-
-<p>Ein anderer Homosexueller liebte einen Mann,
-welcher mit einem M&auml;dchen ein inniges Liebesverh&auml;ltnis
-ankn&uuml;pfte. Der Urning war auf das M&auml;dchen sehr eifers&uuml;chtig,
-und auch diese war auf den Freund, der ihren
-Geliebten so viel in Anspruch nahm, nicht gut zu sprechen.
-Der Mann aber hielt auch dem M&auml;dchen nicht die Treue
-und bereitete ihr ebenso wie dem Freunde durch seine
-leichtsinnigen Streiche vielen Kummer. Beide kannten
-sich nicht pers&ouml;nlich. Eines Morgens aber kam das
-M&auml;dchen zu dem Urning, um ihm mitzuteilen, da&szlig; dem
-Freunde w&auml;hrend der Nacht ein schwerer Unfall zugesto&szlig;en
-sei. Die gemeinsame Sorge machte sie allm&auml;hlich
-zu Freunden. Da entzweite sich der Mann und
-sein M&auml;dchen, sie war bitterb&ouml;se und schien unvers&ouml;hnlich,
-er aber hielt es vor Sehnsucht nicht aus, es trieb
-ihn immer wieder zu ihr, sie aber wies ihm die T&uuml;re.
-Schlie&szlig;lich wandte er sich hilfeflehend an seinen urnischen
-Freund, und dieser, der sich schon im stillen gefreut
-hatte, da&szlig; das so qu&auml;lende Liebesverh&auml;ltnis zu Ende sei,
-ging zu dem M&auml;dchen und vers&ouml;hnte beide.</p>
-
-<p>Solche und &auml;hnliche Falle k&ouml;nnte ich aus der lebendigen
-Quelle des Berliner Lebens in gro&szlig;er Zahl berichten
-&mdash; doch wir wollen jetzt von dem Leben und Leiden
-einzelner Urninge zu dem Leben und Treiben urnischer
-Gruppen &uuml;bergehen.</p>
-
-<p>Denn wenn auch viele Uranier in selbstgew&auml;hlter
-Einsamkeit leben, die nirgends so erreichbar ist, wie in
-weltst&auml;dtischer Menschenf&uuml;lle, andere wiederum sich ausschlie&szlig;lich
-einer einzigen Person widmen, so ist doch die
-Zahl derer nicht minder gro&szlig;, welche mit anderen homosexuellen
-Personen und Kreisen F&uuml;hlung suchen, und auch
-hier bietet sich in Berlin &uuml;berreichliche Gelegenheit.</p>
-
-<p>Es ist recht bedauerlich, da&szlig; sich manche Urninge, die
-durch ihr Wesen und Wissen jedem Kreise zur Ehre gereichen
-w&uuml;rden, schlie&szlig;lich in normalen Gesellschaften &uuml;berhaupt
-nicht mehr wohl f&uuml;hlen. Die erheuchelten Komplimente
-und Interessen, die ihnen besonders h&auml;ufig zuerteilten
-Damentoaste werden ihnen immer peinlicher, und
-wenn sie einmal die Geselligkeit kennen gelernt haben,
-in der sie sich frei geben k&ouml;nnen und Verst&auml;ndnis finden,
-ziehen sie sich aus andern Kreisen mehr und mehr
-zur&uuml;ck.</p>
-
-<p>Da&szlig; gesellige Leben der Urninge untereinander
-pulsiert in Berlin in mannigfacher Gestaltung, sowohl in
-geschlossenen, als auch in allgemein zug&auml;nglichen Zirkeln
-ungemein lebhaft. Gr&ouml;&szlig;ere und kleinere Gesellschaften von
-Homosexuellen f&uuml;r Homosexuelle sind zu jeder Jahreszeit,
-namentlich aber im Winter, an der Tagesordnung.</p>
-
-<p>Vielfach beschr&auml;nken sich dieselben auf eine bestimmte
-soziale Schicht, auf gewisse St&auml;nde und Klassen, doch
-werden die Grenzen schon um der Freunde willen bei
-weitem nicht so streng innegehalten, wie dies bei Normalsexuellen
-&uuml;blich ist. Mancher Urning w&uuml;rde nichts so
-&uuml;bel nehmen, als wenn man seinem Freunde, und sei er
-noch so einfachen Herkommens, die gesellschaftliche Ebenb&uuml;rtigkeit
-absprechen w&uuml;rde.</p>
-
-<p>Ich werde in Anerkennung meiner Arbeit f&uuml;r die
-Befreiung der Homosexuellen oft ersucht, Gesellschaften
-gleichsam als Ehrengast beizuwohnen, und wenn ich auch
-nur einen kleinen Teil dieser Aufforderungen annehme,
-so haben sie mir doch einen gen&uuml;genden Einblick in das
-gesellige Leben der Berliner Urninge verschafft.</p>
-
-<p>Einmal war ich in besagter Eigenschaft auf einer
-Gesellschaft unter lauter homosexuellen Prinzen, Grafen
-und Baronen. Au&szlig;er der Dienerschaft, die nicht nur in
-Bezug auf die Zahl, sondern auch in Hinsicht auf ihr
-&Auml;u&szlig;eres besonders sorgf&auml;ltig ausgew&auml;hlt schien, unterschied
-sich die Gesellschaft in ihrem Eindruck wohl kaum
-von Herrengesellschaften derselben Schicht. W&auml;hrend
-man an kleinen Tischen sehr opulent speiste, unterhielt
-man sich anfangs lebhaft &uuml;ber die letzten Auff&uuml;hrungen
-Wagnerscher Werke, f&uuml;r welche fast alle gebildeten
-Urninge eine auffallend starke Sympathie hegen. Dann
-sprach man von Reisen und Literatur, fast gar nicht
-&uuml;ber Politik, um allm&auml;hlich zum Hofklatsch &uuml;berzugehen.
-Sehr eingehend verweilte man beim letzten
-Hofball, auf dem das Erscheinen des jungen Herzogs
-von X. viele Urningherzen hatte h&ouml;her schlagen lassen,
-man schw&auml;rmte von seiner blauen Uniform, von seiner
-bestrickenden Liebensw&uuml;rdigkeit und berichtete, wie man
-es erreicht h&auml;tte, seiner k&ouml;niglichen Hoheit vorgestellt zu
-werden. Dann erz&auml;hlte man sich Anekdoten &uuml;ber abwesende
-Urninge der Hofgesellschaft, von denen mir eine,
-die besonders herzhaft belacht wurde, im Ged&auml;chtnis geblieben
-ist. Ein F&uuml;rst war kurz zuvor bei einem homosexuellen
-Magnaten, von dessen urnischer Natur er so
-wenig eine Ahnung hatte, wie von der anderer Herren
-seiner Umgebung, zur Jagd geladen. Der hohe Gast
-war des Morgens unerwartet fr&uuml;h aufgestanden, um
-sich im Schlo&szlig;garten zu ergehen. Als er den Korridor
-kreuzte, erblickte er seinen Gastgeber, der zu so zeitiger
-Stunde nicht auf diese Begegnung vorbereitet war, in
-einem h&ouml;chst sonderbaren Anzuge oder besser Aufzuge;
-der allseitig sehr abgerundete Gutsherr trug eine rotsammtene,
-mit Blumen und Spitzen reichbesetzte Matin&eacute;e.
-Der Anblick dieser Gewandung war so komisch, da&szlig; der
-f&uuml;rstliche Besucher in einen f&ouml;rmlichen Lachkrampf verfiel.</p>
-
-<p>Eine andere Gesellschaft, der ich beiwohnte, fand in
-den S&auml;len eines der vornehmsten Berliner Hotels statt.
-Ein wohlhabender Uranier feierte sein Namensfest. Es
-waren mit geringer Ausnahme nur Freundespaare zugegen,
-von denen die meisten schon seit Jahren zusammenlebten;
-jeder f&uuml;hrte sein &bdquo;Verh&auml;ltnis&ldquo; zu Tisch. Dem
-Festmahl ging im Nebensaal auf einer aufgeschlagenen
-B&uuml;hne eine Theatervorstellung voraus, bei der ausschlie&szlig;lich
-Homosexuelle mitwirkten. Nach einigen Soloscherzen
-trug der Gastgeber vortrefflich in Maske und
-Spiel eine Szene als Falstaff aus den Lustigen Weibern
-von Windsor vor, dann gab man Nestroys Wiener
-Posse: &bdquo;Eine Vorlesung bei der Hausmeisterin&ldquo;. Alle
-weiblichen Rollen, an denen es in diesem St&uuml;cke nicht
-fehlt, lagen in den H&auml;nden femininer Urninge, namentlich
-erregte ein bekannter Baron in der Titelrolle durch
-seine nat&uuml;rliche Darstellungsweise st&uuml;rmische Heiterkeit.
-Nach dem Diner folgte Tanz, und trotzdem die Weine
-reichlich flossen, geschah nichts Indezentes. Da einige
-G&auml;ste in Damentoilette waren, machte man sich den
-harmlosen Spa&szlig;, Urningen, die sich besonders m&auml;nnlich
-vorkamen, weibliche Kleidungsst&uuml;cke, wie H&uuml;te und
-Shawls anzulegen; manche machten gute Miene zum
-b&ouml;sen Spiel, andere aber wurden recht verdrie&szlig;lich, denn
-man findet Urninge, denen alles, was zum Weibe geh&ouml;rt,
-so wenig zusagt, da&szlig; ihnen der Gedanke, selbst
-Weibliches an sich zu haben, unertr&auml;glich ist.</p>
-
-<p>Auch in minder bemittelten Urningskreisen sind
-Gesellschaften in Berlin sehr beliebt und verbreitet. Ich
-greife auch hier ein Beispiel ans der Erinnerung heraus.
-Ein mit Gl&uuml;cksg&uuml;tern nicht sehr gesegneter Homosexueller
-beging seinen Geburtstag. In einer kleinen Vorortskneipe
-hatten sich die Geladenen, darunter seine zwei
-normalsexuellen Br&uuml;der, eingefunden. Man tat sich an
-Bockw&uuml;rsten, Kartoffelsalat und Schweizerk&auml;se g&uuml;tlich,
-w&auml;hrend der Sohn des Wirtes die Gassenhauer des
-Tages auf dem Klaviere zum besten gab. Dann trat
-&bdquo;Schwanhilde&ldquo;, auch &bdquo;Herr Schwan geborene Hilde&ldquo;
-genannt, ein bekannter Berliner Urning, auf. Er stellte
-eine Berliner K&ouml;chin, welche zum Theater gehen wollte,
-dar und wirkte besonders belustigend, als er zum Schlu&szlig;
-die Barfu&szlig;t&auml;nzerin Isadora Duncan parodierte. Ein
-Damenimitator niedrigster Gattung, der zuf&auml;llig im
-Vorraum der Wirtschaft sa&szlig;, wurde gebeten, sein Repertoire
-vorzutragen. Dazwischen trat ein echter Mann auf, ein
-Kohlentr&auml;ger vom Landwehrkanal, ein &bdquo;schwerer Junge&ldquo;,
-mit t&auml;towierten Armen, glattangelegtem Scheitel, gestricketem
-Sweater und jener eigent&uuml;mlichen Mischung von
-Plumpheit und Grazie, wie sie den Arbeitern dieser
-Gattung eigen zu sein pflegt. Er sang eine gro&szlig;e Reihe
-nicht eben dezenter Lieder im Berliner Volkston, ohne
-eine Spur von Stimme, mit vielen Sprachfehlern, jeden
-Satz unterst&uuml;tzt von grotesken Bewegungen, denen
-zwischen den Versen Drehungen des K&ouml;rpers folgten,
-alles in seiner Ungeschicklichkeit so zusammenpassend, da&szlig;
-es nicht ohne Wirksamkeit war. Allm&auml;hlich r&uuml;ckte man
-Tische und St&uuml;hle bei Seite und ging zum Tanze &uuml;ber,
-bei dem sich eine Episode von schwer wiederzugebender
-Situationskomik ereignete. Als man mitten im Tanzen
-war, trat pl&ouml;tzlich &mdash; die Polizeistunde war l&auml;ngst &uuml;berschritten
-&mdash; ein Schutzmann mit strenger Amtsmiene ein.
-Nur einen Augenblick stockte die fr&ouml;hliche Stimmung,
-dann fa&szlig;te einer der Anwesenden &mdash; ein urnischer
-Musiker &mdash; den Schutzmann rasch entschlossen um die
-Taille und walzte mit ihm los. Dieser war so verbl&uuml;fft,
-da&szlig; er kaum Widerstand entgegensetzte, eifrig mittanzte
-und sich bald mit dem Wirtssohn und dem
-Kohlentr&auml;ger in die Rolle des begehrtesten und aufgefordertsten
-T&auml;nzers teilte.</p>
-
-<p>Es gibt nat&uuml;rlich auch viele urnische Gesellschaften,
-die einen ungleich ernsteren Charakter tragen. So
-sammelte ein alter Berliner Privatgelehrter jeden Winter
-mehrere Male einen kleinen Kreis um sich in seinem
-k&uuml;nstlerisch ausgestatteten Heim. Es waren meist zehn
-bis zw&ouml;lf Herren aus akademischen St&auml;nden zugegen,
-von denen nur zwei bis drei nicht homosexuell waren.
-Der Alte, welcher seine G&auml;ste mit schweren S&uuml;dweinen,
-Austern, Hummern und &auml;hnlichen Leckerbissen bewirtete,
-hatte noch Alexander v. Humboldt und Iffland gekannt,
-war mit Hermann Hendrichs und Karl Ulrichs befreundet
-gewesen und schien unersch&ouml;pflich in der Wiedergabe
-seiner Erinnerungen. Die Gespr&auml;che ber&uuml;hrten fast
-ausschlie&szlig;lich das homosexuelle Problem. Da debattierte
-ein j&uuml;ngerer katholischer Geistlicher mit einem schon ergrauten
-evangelischen Pfarrer &uuml;ber Uranismus und
-Christentum; mehrere Philologen stritten sich &uuml;ber
-Shakespeares Sonette, w&auml;hrend die Juristen und
-Mediziner die Frage er&ouml;rterten, inwieweit sich der &sect; 51
-des R.-St.-G.-B., welcher von dem Ausschlu&szlig; der freien
-Willensbestimmung handelt, schon jetzt zu Gunsten der
-Homosexuellen verwenden lie&szlig;e.</p>
-
-<p>Den ernstesten Charakter unter den Gesellschaften
-der Berliner Urninge tragen die am Weihnachtsheiligabend
-veranstalteten Zusammenk&uuml;nfte. Mehr als an
-jedem anderen Tage f&uuml;hlt an diesem Feste des Familiengl&uuml;cks
-der urnische Junggeselle sein einsames Los. Viele
-w&uuml;rden den Abend noch trauriger verleben, wenn unter
-den wohlhabenden Homosexuellen nicht stets einer oder
-der andere w&auml;re, der die Heim- und Heimatlosen um
-sich sammelte.</p>
-
-<p>Ich greife auch hier ein Bild aus der Gro&szlig;stadt
-heraus.</p>
-
-<p>Schon am Tage vor dem Fest hatte der Hausherr
-den Weihnachtsbaum, eine gro&szlig;e Silbertanne, selbst geschm&uuml;ckt;
-alles Bunte wurde vermieden, zwischen den
-wei&szlig;en Wachskerzen sind Silberguirlanden, Eiszapfen,
-Schneeflocken, Glaskugeln und Engelhaar, das sich wie
-Spinngewebe von Ast zu Ast zieht, geschmackvoll angebracht,
-und hoch am Wipfel ist ein gro&szlig;er Silberstern
-befestigt, auf dem ein Posaunenengel im lichten T&uuml;llgewand
-&bdquo;Friede den Menschen auf Erden&ldquo; verk&uuml;ndigt.
-Dann wurden die kleinen Geschenke fein s&auml;uberlich in
-Seidenpapier geschlagen und um den Baum herumgelegt,
-f&uuml;r jeden etwas: ein Kalender, ein Buch, ein kleiner
-Schmuckgegenstand, wohl gar ein Kettenring, ein Taschenspiegel,
-eine Schnurrbartbinde. In der Fr&uuml;he des Vierundzwanzigsten
-hat der Hausherr das gro&szlig;e Tischtuch
-von feinstem Leinen aus dem Schranke hervorgeholt,
-mit dem Diener die Tafel gedeckt, das Silber verteilt,
-die Servietten gefaltet, m&auml;chtige Obstschalen gef&uuml;llt, jeden
-Teller mit einem Blumenstr&auml;u&szlig;chen versehen und vor
-den Kristallgl&auml;sern zierliche Tischkarten gelegt. Dabei
-kommt man manchmal bei diesem ober jenem der Eingeladenen
-in nicht geringe Verlegenheit, wenn man sich seines wirklichen
-Namens nicht entsinnen kann. Man hat ihn das
-ganze Jahr mit einem weiblichen Spitznamen angeredet,
-von dem man aber an diesem Abend gern Abstand
-nehmen m&ouml;chte.</p>
-
-<p>Noch eine zweite Tafel wird im Korridor gedeckt,
-dort sollen die Kinder und das Dienstpersonal ihr
-Weihnachtsmahl einnehmen &mdash; jawohl die Kinder &mdash; ein
-seltener Anblick im Urningsheim. Man hat n&auml;mlich zur
-Bescheerung die zwei Kleinen der Waschfrau und die
-drei Enkel des Portiers geladen. Es wird Wert darauf
-gelegt, da&szlig; am Nebentisch dieselben Gerichte wie an der
-Haupttafel genossen werden und da&szlig; auch hier alles
-recht feierlich aussieht.</p>
-
-<p>Der Beginn ist erst auf 8 Uhr festgesetzt, da einige
-vorher in einem verwandten oder befreundeten Hause
-der Bescheerung angewohnt haben, ehe sie in den Kreis
-ihrer Freunde kommen. Endlich, als alle eingetroffen,
-verschwindet der Hausherr in den bis dahin verschlossenen
-Salon, z&uuml;ndet die Kerzen an, wirft noch einen Blick auf
-die Geschenke und ruft zun&auml;chst die Kinder und jenen
-Gast herein, der ihre Weihnachtslieder am Klavier
-begleiten soll. Nun werden die Doppelt&uuml;ren ge&ouml;ffnet, und
-hell t&ouml;nen die Kinderges&auml;nge von der stillen, heiligen
-Nacht und der seligen, fr&ouml;hlichen Weihnachtszeit.</p>
-
-<p>Tiefer Ernst liegt auch auf allen Z&uuml;gen, in manchem
-Auge blinkt eine Tr&auml;ne, selbst die &bdquo;lange Emilie&ldquo;, der
-sonst immer lustige Damenkonfektion&auml;r, kann seine
-R&uuml;hrung nicht bemeistern. Weit, weit zur&uuml;ck ziehen die
-Gedanken der Uranier in jene Zeiten, in denen ihnen
-dieser Tag auch ein Familienfest war, als noch nichts
-gemahnte, da&szlig; ihr Geschick sich so ganz anders gestalten
-w&uuml;rde, wie das der l&auml;ngst verheirateten Geschwister; erst
-ganz allm&auml;hlich &ouml;ffnete sich die Kluft, die sie von den
-Ihren trennte, dann kamen die langen Jahre, wo sie
-diesen Abend friedlos und freudlos im Restaurant oder
-bei &bdquo;einem guten Buch&ldquo; im &bdquo;m&ouml;blierten Zimmer&ldquo; verbrachten.
-Manche gedenken ihrer zerst&ouml;rten Hoffnungen,
-was h&auml;tten sie leisten k&ouml;nnen, wenn sich nicht alte Vorurteile
-ihrer Laufbahn hindernd in den Weg gestellt
-h&auml;tten, und andere in angesehenen Stellungen gedenken
-der schwer auf ihnen lastenden Lebensl&uuml;ge! Viele gedenken
-der Eltern, die tot oder f&uuml;r die sie tot sind, und
-alle in inniger Wehmut des Weibes, das sie &uuml;ber alles
-liebte und das sie &uuml;ber alles liebten &mdash; ihrer Mutter.</p>
-
-<p>Jetzt sind die Kinderstimmen verklungen, man reicht
-sich die kleinen Gaben, beschenkt besonders reichlich die
-Kinder und die Dienstboten und setzt sich zu Tisch. Die
-Tafelgespr&auml;che sind nicht so fr&ouml;hlich wie sonst; man spricht
-von dem guten X., der letztes Jahr noch am heiligen
-Abend teilnahm, und den nun auch schon die Erde deckt.</p>
-
-<p>Langsam l&auml;&szlig;t die Spannung nach, der Ton wird
-etwas heiterer, aber der ernste Unterton bleibt, und &uuml;ber
-dem ganzen Abend ruht ein Hauch weltschmerzlicher
-Sentimentalit&auml;t.</p>
-
-<p>&bdquo;Ehre sei Gott in der H&ouml;he und Friede den Menschen
-auf Erden! Wann endlich&ldquo; &mdash; so schrieb mir vor einigen
-Jahren ein Homosexueller am Weihnachtsheiligabend &mdash;
-&bdquo;Wann endlich wird man erkennen, da&szlig; auch zu uns der
-Erl&ouml;ser kam, da&szlig; auch wir nicht ausgeschlossen sein sollten
-von seiner g&uuml;tigen, edlen, barmherzigen, allumfassenden
-Liebe?&ldquo;</p>
-
-<p>Es war in der Fr&uuml;he des letzten Weihnachtsmorgens,
-als ich zu einem urnischen Studenten im Westen
-Berlins gerufen wurde, von dem es hie&szlig;, da&szlig; er in der
-Nacht einen Tobsuchtsanfall gehabt h&auml;tte.</p>
-
-<p>Als ich zu ihm kam, bot sich mir ein furchtbarer
-Anblick; das ganze Zimmer war erf&uuml;llt von Scherben
-und M&ouml;belst&uuml;cken, zerrissenen T&uuml;chern, B&uuml;chern und
-Papieren, alles mit Blut, Tinte und Petroleum vermischt.
-Vor dem Bette befand sich eine gro&szlig;e Blutlache,
-und auf der Bettstatt lag ein junger Mann mit wachsbleichem
-Gesicht, aus dem seltsam tiefe, flammende
-Augen hervorleuchteten, schwarze Str&auml;hnen umgaben die
-feingeschnittenen, regelm&auml;&szlig;igen Z&uuml;ge. Um Stirn und
-Arme waren blutdurchtr&auml;nkte Lappen geschlungen.</p>
-
-<p>Er hatte sich wegen seines Uranismus mit seinem
-strengen Vater, einem angesehenen B&uuml;rger Berlins, &uuml;berworfen,
-keiner gewann es &uuml;ber sich, dem andern gute
-Worte zu geben, und nun war er am Heiligabend, dem
-ersten, den er fern von der Familie verlebte, herumgeirrt
-durch die menschenleeren Stra&szlig;en der Millionenstadt.
-Von der Gegenseite der Stra&szlig;e hatte er, in einem
-dunklen Gange sich herumdr&uuml;ckend, die gl&auml;nzenden Lichter
-in der Wohnung der Eltern gesehen, das Lachen der
-j&uuml;ngeren Geschwister war an sein Ohr gedrungen, und
-f&uuml;r einige Augenblicke schaute er die Umrisse der Mutter,
-die w&auml;hrend des Kinderjubels sinnend ihre Stirn an
-die Fensterscheiben lehnte.</p>
-
-<p>Als sie oben die Lichter l&ouml;schten, war er in die
-n&auml;chste Budike gegangen, hatte an einem abgelegenen
-Ecktisch ein Schnapsglas nach dem andern geleert, in
-einer zweiten und dritten Destille das Gleiche getan und
-in ver&ouml;deten Kaffeeh&auml;usern f&uuml;r schwarzen Kaffee mit
-Kirsch sein letztes Geld verausgabt.</p>
-
-<p>Nachdem er dann in der kalten Winternacht heimgekehrt
-und die vier Treppen im Hofe heraufgewankt
-war, hatte sich seiner ein ungeheurer Erregungszustand
-bem&auml;chtigt. Er hatte alles zertr&uuml;mmert und die brennende
-Lampe zerschlagen in der Erwartung, da&szlig; er sich an
-ge&ouml;ffneten Pulsadern verbluten w&uuml;rde. Ein von den
-Wirtsleuten eilends herbeigerufener Arzt hatte durch die
-T&uuml;rspalte gelugt und rasch ein Attest zur &Uuml;berf&uuml;hrung
-in die Irrenabteilung der Charit&eacute; geschrieben.</p>
-
-<p>Ein Freund des Kranken holte mich zu ihm; ich
-wusch und verband ihm an jenem Weihnachtsvormittag
-eine Wunde nach der andern; er klagte nicht und sprach
-kein Wort, aber die flammenden Augen sprachen und
-die blassen Lippen sprachen und jede einzelne Wunde
-sprach von seinem tiefen Leide und der hohen, heiligen
-Aufgabe derer, die an dem Befreiungswerke der Uranier
-arbeiten. &mdash;</p>
-
-<p>Neben den Privatgesellschaften, Diners, Soupers,
-Kaffees, 5 Uhr Thees, Picknicks, Hausb&auml;llen und
-Sommerfesten, die die Berliner Homosexuellen in nicht
-geringer Menge veranstalten, sind die Jours fixes zu erw&auml;hnen,
-von denen jeden Winter einige von Urningen
-und Uranierinnen f&uuml;r ihre Freunde und Freundinnen
-eingerichtet werden.</p>
-
-<p>Sehr bekannt war jahrelang der Sonntag-Nachmittags-Empfang
-bei einem urnischen Kammerherrn, auf
-dem viele Personen von Rang und Stand erschienen.
-Die leibliche Bewirtung besteht hier meist in Tee und
-Geb&auml;ck, die geistige in musikalischen Darbietungen. Letzten
-Winter war es besonders der <i>Jour</i> fixe eines urnischen
-K&uuml;nstlers, der sich gro&szlig;er Beliebtheit erfreute. Der
-&uuml;beraus gastfreundliche Wirt empfing seine G&auml;ste, unter
-denen sich viele homosexuelle Ausl&auml;nder, namentlich aus
-den russischen Ostseeprovinzen und den skandinavischen
-L&auml;ndern, sowie auch oft homosexuelle Damen befanden,
-in einer Art Zwischenstufengewand, einem Mittelding
-zwischen Prinze&szlig;robe und Amtsrobe. Die Musikvortr&auml;ge,
-zumal die Ges&auml;nge des Hausherrn in Baryton und Alt
-und das Klavierspiel eines d&auml;nischen Pianisten standen
-k&uuml;nstlerisch auf der H&ouml;he. Man sah dort regelm&auml;&szlig;ig
-einen &ouml;sterreichischen Studenten der Chemie, der stets
-schweigsam und ernst dasa&szlig;, sich aber sichtlich unter
-Seinesgleichen wohl f&uuml;hlte, da er immer wiederkam.
-Im Fr&uuml;hjahr, als die Zusammenk&uuml;nfte zu Ende waren
-und der Russe Berlin verlie&szlig;, ging jener Student eines
-Abends in eine Urningskneipe und lie&szlig; sich vom Klavierspieler
-Koschats &bdquo;Verlassen&ldquo; spielen; als die melancholische
-Weise erklang, nahm er unbemerkt ein St&uuml;ckchen
-Cyankali, das ihn in wenigen Sekunden leblos zu
-Boden streckte. &bdquo;Selbstmord aus unbekannten Gr&uuml;nden&ldquo;
-verzeichnete der Polizeibericht, in Wirklichkeit der Selbstmord
-eines Homosexuellen, wie er sich in Berlin nur
-allzu oft ereignet.</p>
-
-<p>Nicht immer ist die Homosexualit&auml;t die direkte Ursache,
-aber fast stets ist der indirekte Zusammenhang
-zwischen der Homosexualit&auml;t und dem gewaltsamen Ende
-leicht nachweisbar. Da ist ein urnischer Offizier, im
-Kadettenkorps erzogen, mit Leib und Seele Soldat, er
-hatte sich au&szlig;erdienstlich eine homosexuelle Handlung zu
-Schulden kommen lasten, sie wurde lautbar, und ein
-schlichter Abschied war die Folge. Er hat nichts
-anderes gelernt, als sein Kriegshandwerk, nun sucht er
-kaufm&auml;nnische Stellungen, sucht, findet und verliert eine
-nach der andern, die Familie will nichts mehr von ihm
-wissen, er steht allein, verliert jeden Halt, sinkt immer
-tiefer, greift zum Alkohol, zum Morphium und endlich
-zur erl&ouml;senden Waffe. So kenne ich viele Trag&ouml;dien;
-erst vor wenigen Wochen endete ein fr&uuml;herer Leutnant
-auf diese Weise. &bdquo;Ursache: Schulden&ldquo;, schrieben die
-Zeitungen; jawohl, Schulden, aber die Grundursache
-lag tiefer, es war der Verlauf, wie ich ihn soeben
-schilderte; &mdash; an der Homosexualit&auml;t war er zu Grunde
-gegangen.</p>
-
-<p>Vor einigen Tagen nahm ich einem homosexuellen
-Lehrer, der mich aufsuchte, ein Fl&auml;schchen Blaus&auml;ure
-fort. Er hatte keine strafbare Handlung begangen, sich
-nie gleichgeschlechtlich bet&auml;tigt; er war eben erst in den
-Schuldienst getreten, als dem Direktor ein anonymes
-Schreiben zugegangen war, der neue Lehrer sei ein P&auml;derast;
-der Chef lie&szlig; ihn kommen, und auf Befragen gab er
-zu, homosexuell veranlagt zu sein. Man gab ihm den wohlmeinenden
-Rat, auf seine Entlassung anzutragen, er tat
-es, fand aber nicht den Mut, es seiner alten Mutter zu
-sagen, die gedarbt hatte, damit er Lehrer werden k&ouml;nne.
-Nun irrte auch er nach Stellung umher in dem gro&szlig;en
-Berlin, in dem es so viele Stellen, aber so viel mehr
-Stellenlose gibt.</p>
-
-<p>Es sind gewi&szlig; mehr als zwanzig Homosexuelle, die
-ich im Laufe der letzten acht Jahre vor dem Selbstmord
-bewahren konnte; ob ich ihnen einen guten Dienst erwies,
-ich wei&szlig; es nicht, und doch erf&uuml;llt es mich mit
-stiller Freude, da&szlig; ich ihnen das Leben und sie dem
-Leben erhalten konnte. &mdash;</p>
-
-<p>Einen den geschilderten Jourfixen &auml;hnlichen, wenn
-auch schon mehr vereinsartigen Charakter tragen die
-regelm&auml;&szlig;igen Zusammenk&uuml;nfte, wie sie von Homosexuellen
-an bestimmten Abenden in bestimmten Lokalen
-veranstaltet werden; auch hier ist es gew&ouml;hnlich eine Person,
-um die sich die anderen gruppieren, nur bewirtet sich
-jeder aus eigenen Mitteln. Vielbesucht war lange Jahre
-der Klub &bdquo;Lohengrin&ldquo;, welcher sich um einen unter dem
-Namen &bdquo;Die K&ouml;nigin&ldquo; bekannten Weinh&auml;ndler zusammenfand.
-W&auml;hrend hier die Unterhaltung in musikalischen
-und deklamatorischen Darbietungen bestand, tragen manche
-dieser Vereinigungen, wie die &bdquo;Gemeinschaft der Eigenen&ldquo;,
-die &bdquo;Platen-Gemeinschaft&ldquo;, einen mehr literarischen
-Charakter. Auch ein Kabaret, das von Urningen geleitet
-und haupts&auml;chlich von diesen besucht wird, gibt es
-in Berlin.</p>
-
-<p>Auf allen diesen Veranstaltungen tritt die eigentliche
-Sexualit&auml;t genau so zur&uuml;ck wie in den entsprechenden
-normalsexuellen Kreisen. Das Bindemittel ist lediglich
-das aus der Gemeinsamkeit der Lebensschicksale sich ergebende
-Gef&uuml;hl der Zusammengeh&ouml;rigkeit.</p>
-
-<p>Haben alle die genannten Gesellschaften einen mehr
-geschlossenen Charakter, so ist die Zahl derer, die allgemein
-zug&auml;nglich sind, noch viel bedeutender. Da&szlig;
-manche Restaurationen, Hotels, Pensionate, Badeanstalten,
-Vergn&uuml;gungslokale, trotzdem sie jedermann offen stehen,
-fast ausschlie&szlig;lich von Urningen besucht werden, wird
-weniger merkw&uuml;rdig erscheinen, wenn man bedenkt, da&szlig;
-viel weniger scharf gekennzeichnete Gruppen in Berlin
-ihre Lokale haben, die fast ganz von ihnen existieren; so
-gibt es Restaurationen, in denen nur Studenten, nur
-Schauspieler, nur Artisten verkehren, andere, die nur
-von Beamten, nur von Kaufleuten bestimmter Waren,
-von Liebhabern bestimmter Spiele und Sports leben,
-wieder andere, die nur von Buchmachern, Falschspielern
-oder irgend einer Verbrecherkategorie besucht werden.</p>
-
-<p>Man kann Lokalit&auml;ten unterscheiden, die von Urningen
-bevorzugt, aber auch von anderen Personen aufgesucht
-werden, und solche, die lediglich von jenen frequentiert
-sind. Zu ersteren geh&ouml;rt ein sehr gro&szlig;es M&uuml;nchener Bierrestaurant
-der Friedrichstadt, in dem seit Jahren zu bestimmten
-Stunden stets an hundert Homosexuelle und
-mehr zu finden sind. Auch in bestimmte Kaffeeh&auml;user
-ziehen sich die Urninge mit Vorliebe hin, wobei alle
-paar Jahre ein Wechsel zu beobachten ist; oft sind es
-Lokale, wo der Wirt oder ein Kellner selbst urnisch sind,
-meist werden bestimmte Abteilungen der Wirtschaften besonders
-bevorzugt. Die urnischen Damen treffen sich
-vielfach in Konditoreien; so befindet sich im Norden der
-Stadt eine, die t&auml;glich zwischen 4 und 6 Uhr nachmittags
-von urnischen Israelitinnen zahlreich besucht
-wird, welche hier Kaffee trinken, plaudern, Zeitungen
-lesen, Skat und mit Vorliebe Schach spielen.</p>
-
-<p>Im Sommer sind es stets gewisse Gartenlokale, in
-denen sich die Urninge in gro&szlig;er Zahl einfinden, w&auml;hrend
-sie andere, wenigstens in Gruppen, meiden. In einigen
-dieser Konzertg&auml;rten macht sich neben der weiblichen
-auch die m&auml;nnliche Prostitution bemerkbar.</p>
-
-<p>In einem der vornehmsten Berliner Konzertlokale
-war vor einigen Sommern das Treiben der Homosexuellen
-so arg geworden, da&szlig; Kriminalbeamte hinbeordert
-wurden, um dem r&uuml;cksichtslosen Gebahren, das
-nicht schwer genug ger&uuml;gt werden kann, ein Ende zu
-bereiten.</p>
-
-<p>Es mu&szlig; der Berliner Polizei zu ihrem Lobe nachgesagt
-werden, da&szlig; <i>agents provocateurs</i> bei ihr au&szlig;erordentlich
-selten sind. Es w&auml;re den Beamten gewi&szlig; leicht,
-Homosexuelle herauszufinden, indem sie sich selbst als
-homosexuell gerierten; es soll dies in fr&uuml;heren Zeiten
-auch vorgekommen sein; mir ist nur ein Fall bekannt,
-und zwar spielte sich dieser in dem erw&auml;hnten Konzertlokal
-ab, in dem ein Urning den ihn beobachtenden
-Kriminalbeamten f&uuml;r Seinesgleichen hielt, glaubte, da&szlig;
-ihm Avancen gemacht w&uuml;rden, und keinen kleinen Schreck
-bekam, als er auf seine z&auml;rtliche Ber&uuml;hrung hin arretiert,
-zur Wache gebracht und sp&auml;ter dann auch wegen &bdquo;t&auml;tlicher
-Beleidigung&ldquo; verurteilt wurde.</p>
-
-<p>Neben diesen Lokalen gibt es in Berlin eine ganze
-Anzahl, die ganz ausschlie&szlig;lich von Urningen besucht
-werden. Ihre Zahl genau anzugeben, ist sehr schwierig.
-Medizinalrat <i>N&auml;cke</i> <span class="small"><sup><a href="#fn1">1</a></sup></span><a name="fn1r" id="fn1r"></a> d&uuml;rfte wohl recht haben, wenn
-er annimmt, da&szlig; in Berlin mehr als zwanzig Urningskneipen
-vorhanden sind. Immer wieder h&ouml;re ich gelegentlich
-in meiner Praxis urnische Restaurationen erw&auml;hnen,
-die mir bis dahin unbekannt waren. Jede
-dieser Wirtschaften hat noch ein besonderes Gepr&auml;ge; in
-der einen halten sich mehr &auml;ltere, in einer anderen mehr
-j&uuml;ngere, wieder in einer anderen &auml;ltere und j&uuml;ngere
-Leute auf. Fast alle sind gut besucht, an Sonnabenden
-und Sonntagen meist &uuml;berf&uuml;llt. Wirte, Kellner, Klavierspieler,
-Couplets&auml;nger sind fast ausnahmslos selbst homosexuell.</p>
-
-<p>Man hat Homosexuelle aus der Provinz, die sich
-zum ersten Male in solchen Lokalen aufhielten, in tiefer
-seelischer Ersch&uuml;tterung weinen sehen.</p>
-
-<p>In allen diesen Kneipen geht es durchaus anst&auml;ndig
-zu; hie und da werden sie von der Kriminalpolizei oder
-deren Geheimagenten kontrolliert, doch hat sich fast nie
-eine Veranlassung zum polizeilichen Einschreiten ergeben.</p>
-
-<p>Rudolf Presber hat k&uuml;rzlich in einem Feuilletonartikel
-unter dem Titel: &bdquo;Weltstadttypen&ldquo; eine anschauliche
-Schilderung einer solchen Urningskneipe entworfen.
-Er schreibt:</p>
-
-<p>&bdquo;Die letzte Station dieser interessanten Nachtfahrt
-machten wir in einem feineren Restaurant. Hier f&uuml;hren
-keine ausgetretenen klitschigen Stufen hinunter, sondern
-sauber gescheuerte Treppen hinauf. Bessere Gegend und
-ein besseres Haus. Die Ausstattung der R&auml;ume behaglich,
-nicht ohne W&auml;rme. Bilder an den W&auml;nden in
-goldenen Rahmen. Statt des gr&auml;flichen Orchestrions,
-das kaum in einer der fr&uuml;her gesehenen Kneipen fehlte,
-neben riesigem Notenpack ein anst&auml;ndiges Klavier. Und
-davor ein ganz ertr&auml;glicher Spieler und daneben ein
-hagerer J&uuml;ngling mit sprossendem Bart, mit weibischen
-Bewegungen und einem gequ&auml;lt s&uuml;&szlig;en L&auml;cheln, einen
-breitrandigen Frauenhut mit wehendem Schleier auf dem
-pomadisierten Kopf. Der J&uuml;ngling singt &mdash; Sopran....
-Die beiden Stuben gut mit G&auml;sten gef&uuml;llt. Kein schlechtes
-Publikum, so scheint's. Keiner spuckt auf die Dielen,
-keiner hat einen Zahnstocher zwischen den Z&auml;hnen, keiner
-s&auml;ubert sich die Ohren oder kratzt sich die Beine, wie
-wir's den ganzen Abend &uuml;ber schaudernd genossen. Ein
-paar w&uuml;rdige alte Herren, ein paar ausrasierte Sportstypen,
-ein paar K&uuml;nstler mit gebrannten und gelegten
-Locken. Dem Harmlosen mag hier zun&auml;chst wenig auffallen.
-Vielleicht nimmt's ihn nur Wunder, da&szlig; auch
-der zweite S&auml;nger &mdash; Sopran singt. Vielleicht erstaunt
-er, da&szlig; in keiner der gutgef&uuml;llten Stuben ein weibliches
-Wesen zu sehen ist ... Man trinkt m&auml;&szlig;ig an
-sauber gedeckten Tischen. Kein unanst&auml;ndiges Wort wird
-gesprochen, und die Lieder, die gesungen werden, haben
-keine zotigen Pointen. Eher scheint das Sentimentale
-dieser and&auml;chtig lauschenden Versammlung zuzusagen.
-Und als einer der Soprans&auml;nger, sich in den H&uuml;ften
-wiegend, als schlenkere er niederflie&szlig;ende rauschende
-Frauenr&ouml;cke, ein gar schmelzendes Liedchen beendigt,
-wendet sich ein an unserem Tisch sitzender, vornehm aussehender
-Greis an einen von uns, tippt ihn mit ganz
-leichter Vertraulichkeit auf den Arm und fragt bescheiden,
-aber mit seltsam leuchtenden Augen: &bdquo;Gef&auml;llt's Ihnen
-bei uns?&ldquo;</p>
-
-<p>&bdquo;Keine &Uuml;belt&auml;ter hier, keine Verbrecher an der Person,
-keine Verbrecher am Eigentum. Ungl&uuml;ckliche, Entrechtete,
-die den Fluch eines geheimnisvollen R&auml;tsels der Natur
-durch ihr einsames Leben schleppen. Menschen, die sich
-im Kampf des Tages ihre geachtete Stellung erobert
-haben. Redlich arbeitende, deren Ehrenhaftigkeit niemand
-anzweifelt, deren Wort und Name seine gute
-Geltung hat; und die sich doch unter dem Druck eines
-mittelalterlich grausamen Gesetzesparagraphen scheu und
-heimlich zusammenfinden m&uuml;ssen, fern von den normalen
-Gl&uuml;cklichen ihre stets vom Gesetz, von der Verachtung,
-von der Erpressert&uuml;cke gef&auml;hrdeten unbesiegbaren Triebe
-den Gleichf&uuml;hlenden einzugestehen.</p>
-
-<p>Im gefunden Herzen ehrliches Mitleid mit diesen
-Kranken, die eine letzte mittelalterliche Unvernunft den
-Verbrechern gleichstellt, treten wir hinaus auf die stille
-Stra&szlig;e. Wolkenlos spannt sich der Sternenhimmel der
-Julinacht &uuml;ber den mondbegl&auml;nzten D&auml;chern. Mit dem
-riesigen Schl&uuml;sselbund rasselnd, schleicht ein Nachtw&auml;chter
-an den lichtlosen H&auml;usern entlang. In einem Torbogen
-dr&uuml;ckt sich ein Liebespaar inbr&uuml;nstig die H&auml;nde. Fern
-und ferner klingt der Sopran....&ldquo;</p>
-
-<p>So Presber. &mdash; Eine andere Urningskneipe, die wir
-betreten, besteht aus vier ziemlich gro&szlig;en Zimmern. Es
-ist schwer Platz zu finden. Im zweiten und vierten
-Raum stehen Klaviere, in dem einen tr&auml;gt &bdquo;die Engeln&ldquo;
-die neuesten Lieder vor, in dem andern wird getanzt,
-nicht Mann und Weib, sondern Mann und Mann. Sie
-tanzen mit sichtlicher Hingebung; der weibliche Teil schmiegt
-sich schmachtend dem m&auml;nnlichen Partner an; die schlechte
-Musik materialisiert sich f&ouml;rmlich in ihnen; wenn der
-Klavierspieler abbricht, scheint es, als ob sie aus melodientrunkener
-Tonseligkeit zu rauher Wirklichkeit erwachen.</p>
-
-<p>Besonders eigenartig sind die Kaffeegesellschaften,
-wie sie nicht selten in diesen Lokalen stattfinden. Der
-Wirt, der Couplets&auml;nger oder irgend ein Stammgast
-feiern ihren Geburtstag und haben diesem Fest zu Ehren
-ihre &bdquo;Freundinnen&ldquo; zu sich gebeten. Zur festgesetzten
-Nachmittagsstunde erscheinen die G&auml;ste, meist Urninge
-des Handwerker- und Arbeiterstandes. Jeder &uuml;berreicht
-dem Geburtstagskinde ein Angebinde, eine selbstgefertigte
-Handarbeit, eine Probe eigener Kochkunst, ein paar k&uuml;nstliche
-oder nat&uuml;rliche Blumen. Die Begr&uuml;&szlig;ungen sind
-sehr lebhaft, zierliche Knixe und Verbeugungen, denen
-sittsame Freundschaftsk&uuml;sse auf die Wange folgen. Wie
-sie sich dann drehen und zieren, sich Schmeicheleien
-sagen, das Herausziehen der Hutnadel, das Aufraffen
-des Rockes, das Zurechtziehen der Taille, das Hinlegen
-der nicht vorhandenen Schleppe markieren, sich dann
-endlich mit den Worten: &bdquo;Haben Sie schon geh&ouml;rt, meine
-Teure&ldquo; niederlassen, alles das ist von schwer zu schildernder
-Drolligkeit. Einzelne &bdquo;Honoratioren&ldquo;, wie die &bdquo;Baronin&ldquo;,
-die &bdquo;Direktorin&ldquo;, die &bdquo; <i>Chambre separ&eacute;e</i>'sche&ldquo; werden besonders
-freudig und respektvoll begr&uuml;&szlig;t, die Zusp&auml;tkommenden
-mit launigen Scheltworten empfangen. Eine
-Stunde sp&auml;ter, als man &bdquo;geladen&ldquo;, sitzt alles bei Tisch
-und w&auml;hrend sich nun ein Schnattern und Plappern,
-ein Lachen, Juchzen und Kreischen in so verwirrendem
-Durcheinander erhebt, da&szlig; einem m&auml;nnlichen Gaste angst
-und bange werden kann, verschwinden mit erstaunlicher
-Geschwindigkeit Berge von Kuchen und Str&ouml;me von
-Kaffee. Nachdem den Sprech- und Kauwerkzeugen
-einigerma&szlig;en gen&uuml;ge geschehen, werden die mitgebrachten
-Handarbeiten hervorgeholt, man h&auml;kelt, strickt, stickt und
-n&auml;ht, zugleich aber tragen die k&uuml;nstlerischen Kr&auml;fte, welche
-in Urningsgesellschaften selten fehlen, mit Ges&auml;ngen,
-Deklamationen und Vortr&auml;gen zur Unterhaltung bei.
-Ihren H&ouml;hepunkt aber erreicht die Stimmung, wenn das
-Geburtstagskind unter lautem Beifall aller von einem
-der G&auml;ste grazi&ouml;s zum Fl&uuml;gel geleitet wird und in wohllautendem
-Alt mit ebenso viel Sehnsucht, als Unwahrscheinlichkeit
-sein Lieblingslied: &bdquo;Ach, wenn ich doch
-ein R&auml;uber w&auml;r'&ldquo; zum Besten gibt. Kein Mi&szlig;klang
-tr&uuml;bt das harmlose Treiben weniger fl&uuml;chtiger Stunden,
-bis die Abendbrotzeit die muntere Schar wieder in alle
-Winde verscheucht.</p>
-
-<p>Wer zum erstenmale den Gespr&auml;chen in diesen
-Kneipen lauscht, wird erstaunt sein &uuml;ber die gro&szlig;e Zahl
-weiblicher, oft sehr absonderlicher Namen, die an sein
-Ohr dringen. Bald wird er gewahr, da&szlig; es sich um
-Spitznamen handelt, welche die G&auml;ste sich untereinander
-beilegen. Die Gr&uuml;nde dieser verbreiteten Sitte sind
-verschiedene; einmal verschweigen die meisten Personen,
-die sich hier einfinden, begreiflicherweise ihre wahren
-Namen, so da&szlig; die anderen, im Bed&uuml;rfnis, sich &uuml;ber
-sie zu unterhalten, zu selbstgew&auml;hlten Bezeichnungen
-greifen, au&szlig;erdem f&uuml;hlt man instinktiv, da&szlig; die Anrede
-&bdquo;Herr so und so&ldquo; bei vielen, <b>keineswegs bei allen</b>, in so
-starkem Gegensatz zu ihrem femininen Wesen steht, und
-endlich bietet sich in der Wahl dieser Necknamen eine
-gute Gelegenheit, den ja auch gerade im Berliner tief
-wurzelnden Drang nach Scherz und Humor zu befriedigen.
-In vielen, namentlich virileren Urningskreisen
-ist der Gebrauch derartiger weiblicher Spitznamen &uuml;brigens
-verp&ouml;nt.</p>
-
-<p>Viele dieser Namen sind lediglich weibliche
-Umgestaltungen der entsprechenden m&auml;nnlichen Vornamen;
-so wird aus Paul Paula, aus Fritz Frieda, aus Erich
-Erika, aus Georg Georgette, aus Theodor Dorchen oder
-Thea, aus Otto Ottilie oder auch Ot&eacute;ro. In einem
-Berliner Urningsliede, in welchem geschildert wird, wie
-eine Mutter auf die Nachricht, ihr Sohn sei &bdquo;pervers&ldquo;,
-in gro&szlig;er Besorgnis zu ihm eilt, und dieser sie beruhigt,
-indem er ihr als Zeugnis seiner Normalit&auml;t die an ihn
-gerichteten Liebesbriefe vorzeigt, welche die Unterschrift
-&bdquo;Luise&ldquo; tragen, hei&szlig;t es am Schlusse:</p>
-
-<div class="poem">
-<p class="noindent">
-&bdquo;Beim Abschiedsku&szlig; an meiner T&uuml;r,<br />
-Da dachte ich dann still bei mir:<br />
-Wie gut, liebe Mutter, da&szlig; Du nicht wei&szlig;t,<br />
-Da&szlig; meine Luise &mdash; Ludwig hei&szlig;t.&ldquo;<br />
-</p>
-</div>
-
-<p>Oft sind diese weiblichen Namen noch mit Unterscheidungszus&auml;tzen
-verbunden; so gibt es eine N&auml;senjuste,
-eine Schmalzjuste, eine Klammerjuste, Klamottenjuste,
-Handschuhjuste und Blumenjuste, eine Lange-Anna,
-Ballhausanna und Blauepl&uuml;schanna, eine Hundelotte
-und eine Quietschlotte, eine Spitzenkaroline und eine
-Umsturzkaroline (weil er durch seine lebhaften Armbewegungen
-jeden Abend mindestens ein Glas Bier &bdquo;umst&uuml;rzen&ldquo;
-soll), eine Butterriecke, eine K&auml;seklara, eine
-Lausepaula, eine Harfenjule und eine Totenkopfmarie.</p>
-
-<p>Viele Urninge erhalten altdeutsche Beinamen, wie
-Hildegarde, Kunigunde, Thusnelda, Schwanhilde und
-Adelheid, oder klangvolle Adelsnamen, wie Wally von
-Trauten, Berta von Brunneck, Asta von Sch&ouml;nermark oder
-noch hocht&ouml;nendere; so findet man in diesen Kneipen
-neben der Markgr&auml;fin, der Landgr&auml;fin, der Burggr&auml;fin
-und der Kurf&uuml;rstin (weil sie in der Markgrafen-, Landgrafen-,
-Burggrafen- und Kurf&uuml;rstenstra&szlig;e wohnen) die
-Marquise de la place d'Alexandre (wohnt am Alexanderplatz),
-die Herzogin von Aschaffenburg, die Herzogin
-d'Angoul&egrave;me, die Gro&szlig;f&uuml;rstin Olga, die K&ouml;nigin Natalie,
-die Carmen Sylva, die Kaffeek&ouml;nigin, die Polenk&ouml;nigin,
-die Oberstallmeisterin, die Excellenzfrau, die Kaiserin
-Messalina und die Kaiserin Katharina.</p>
-
-<p>Manche f&uuml;hren ihre Namen von ihrem Beruf; so
-wird ein urnischer Ballett&auml;nzer &bdquo;Jettchen Hebezeh&ldquo;, ein
-Damenschneider &bdquo;Jenny Fischbein&ldquo; und ein Damenkomiker
-&bdquo;Pokahuntas, die hinterindische Nachtigall&ldquo; genannt.</p>
-
-<p>Ich bemerke, da&szlig; s&auml;mtliche hier angef&uuml;hrten Spitznamen
-von zwei Gew&auml;hrsm&auml;nnern innerhalb kurzer Zeit
-in einem einzigen Berliner Urningslokal gesammelt wurden.
-Von Beinamen, die der Zoologie entstammten, fanden
-sie unter anderen: die &bdquo;Schweizerkuh&ldquo;, das &bdquo;Meerschweinchen&ldquo;,
-&bdquo;die Gipskatze&ldquo; (weil er sich stark pudert), &bdquo;die
-Kr&uuml;ckente&ldquo;, &bdquo;die Ententrittsche&ldquo; (weil er beim Gehen
-&bdquo;watschelt&ldquo;), &bdquo;die schwarze Henne&ldquo;, &bdquo;die Nebelkr&auml;he&ldquo;,
-&bdquo;die Spitzmaus&ldquo;, &bdquo;die Brillenschlange&ldquo; und &bdquo;die Kreuzspinne&ldquo;;
-von botanischen Bezeichnungen: &bdquo;das Blauveilchen&ldquo;,
-&bdquo;das Apfelr&ouml;schen&ldquo;, &bdquo;das Resedak&ouml;pfchen&ldquo;,
-&bdquo;Paprika&ldquo; (auch &bdquo;Papp-Rieka&ldquo; genannt), &bdquo;die Rosine&ldquo;
-und &bdquo;die Weintraube&ldquo; (weil er so leicht ger&uuml;hrt ist).</p>
-
-<p>Mit gro&szlig;er Vorliebe wird den Titeln oder hervorstechenden
-Eigenschaften ein &bdquo;in&ldquo; oder &bdquo;sche&ldquo; oft in sehr
-origineller Weise angeh&auml;ngt; der Direktor wird zur
-&bdquo;Direktorin&ldquo;, der Geheimrat zur &bdquo;Geheimr&auml;tin&ldquo;, ein Rechtsanwalt
-hei&szlig;t &bdquo;die Anwaltsche&ldquo;, ein vornehmer Urning,
-der mit seinen Freunden h&auml;ufig im Chambre separ&eacute;e
-speisen soll, hei&szlig;t &bdquo;die Chambresepar&eacute;esche&ldquo;, ein anderer,
-der viel das Sonnenbad besucht, &bdquo;die Lichtluftbadsche&ldquo;,
-w&auml;hrend ein Klavierspieler &bdquo;die Klaviersche&ldquo;, einer der
-sich stark schminkt &bdquo;die Zinnobersche&ldquo; und ein Elektrotechniker
-kurzweg &bdquo;die Elektrische&ldquo; genannt wird.</p>
-
-<p>Eine Gruppe f&uuml;r sich bilden die &bdquo;Soldatentanten&ldquo;,
-welche vielfach ihre Spitznamen nach denjenigen Truppenteilen
-bekommen, f&uuml;r die sie sich besonders interessieren;
-so gibt es eine &bdquo;Ulanenjuste&ldquo;, eine &bdquo;Dragonerbraut&ldquo;,
-eine &bdquo;K&uuml;rassieranna&ldquo;, eine &bdquo;Kanoniersche&ldquo;, ja sogar eine
-&bdquo;Schie&szlig;schulsche&ldquo;, der seinen Namen davon f&uuml;hrt, weil
-er mit Vorliebe die Wirtschaften in der Umgegend der
-Schie&szlig;schule aufsucht.</p>
-
-<p>Von anderen Berliner Spitznamen, die weniger leicht
-zu rubrizieren sind, erw&auml;hne ich noch: &bdquo;Minehaha, das
-l&auml;chelnde Wasser&ldquo;, &bdquo;Rebekka, die Mutter der Kompagnie&ldquo;,
-&bdquo;Anita mit dem Giftzahn&ldquo;, &bdquo;Cleo die Marode&ldquo;, &bdquo;Traudchen
-Hundgeburt&ldquo;, &bdquo;Die heilige Beryllis&ldquo;, &bdquo;Die Genossin
-meiner Schmach&ldquo;, &bdquo;die freie Schweizerin&ldquo;, die &bdquo;gute
-Partie&ldquo;, &bdquo;die hohe Frau&ldquo;, &bdquo;die Rollmopstante&ldquo;, &bdquo;Susanne
-in der Wanne&ldquo;, &bdquo;die wei&szlig;e Wand&ldquo; (pudert sich stark),
-&bdquo;Rotundelein&ldquo;, &bdquo;Locusblume&ldquo;, (Namen zweier Urninge,
-denen man nachsagt, da&szlig; sie &ouml;fter, als notwendig, die
-Bed&uuml;rfnisanstalten aufsuchen), &bdquo;das Waldmensch&ldquo;, &bdquo;die
-Mutter Wolffen&ldquo;, &bdquo;Violetta&ldquo;, &bdquo;Aurora&ldquo;, &bdquo;Melitta&ldquo;,
-&bdquo;Rosaura&ldquo;, &bdquo;Kassandra&ldquo;, &bdquo;Goulasch&ldquo;, &bdquo;die Ahnfrau&ldquo;,
-&bdquo;die Grabesbraut&ldquo;, &bdquo;der Abendstern&ldquo; und &bdquo;die Morgenstunde&ldquo;,
-weil er Gold im Munde, n&auml;mlich mit Goldplomben
-versehene Z&auml;hne hat.</p>
-
-<p>Auch die Uranierinnen f&uuml;hren in ihren Kreisen, besonders
-auch in ihren Lokalen, deren es ebenfalls eine
-Reihe gibt, analoge Namen. Nur findet man bei ihnen
-im Gegensatz zu den M&auml;nnern meist einfache Vornamen,
-selten Beinamen, die sich auf irgend eine besondere Eigenschaft
-ihrer Tr&auml;gerin beziehen; bevorzugt werden einsilbige
-Namen, wie Fritz, Heinz, Max, Franz, namentlich
-Hans; doch findet man auch solche, die Arthur, Edmund,
-Theo, Oskar, Roderich, Rudolf genannt werden.</p>
-
-<p>Merkw&uuml;rdig viele Namen von Uranierinnen sind
-der Geschichte und Litteratur entnommen; ich nenne von
-Berlinerinnen: Napoleon, Nero, C&auml;sar, Heliogabal,
-Caligula, Antinous, Gregor, Carlos, Posa, Mortimer,
-G&ouml;tz, Tasso, Egmont, Armin, Teja, Bl&uuml;cher, Ofterdingen,
-Karl Moor, Franz Lerse, J&ouml;rn Uhl, Don Juan, Puck
-und Hiddigeigei.</p>
-
-<p>Weniger sch&ouml;ne Spitznamen weiblicher Urninge sind
-Bubi, Rollmops, K&uuml;mmelfritze und Schinkenemil.</p>
-
-<p>Besondere Ber&uuml;cksichtigung verdienen unter den
-Berliner Urningslokalen die &bdquo;Soldatenkneipen&ldquo;, welche,
-meist in der N&auml;he der Kasernen gelegen, in den Stunden
-vom Feierabend bis zum Zapfenstreich am besuchtesten
-sind. Um diese Zeit sieht man in diesen Wirtschaften meist
-gegen 50 Soldaten, darunter auch Unteroffiziere, die
-hingekommen sind, um sich einen Homosexuellen zu suchen,
-der sie freih&auml;lt, und selten kehrt jemand in die Kaserne
-zur&uuml;ck, ohne das Gew&uuml;nschte gefunden zu haben. Diese
-Lokale sind meist von kurzem Bestand. Fast immer
-werden sie dem Milit&auml;r nach kurzer Zeit durch Regimentsbefehl
-verboten, nachdem irgend ein Unbekannter, gew&ouml;hnlich
-aus Brotneid oder Rachsucht, &bdquo;gepfiffen&ldquo; hat.
-Es tun sich dann stets bald wieder ein oder zwei, auch
-mehrere &auml;hnliche Lokale in derselben Gegend auf. Erst
-vor kurzem flog wieder im S&uuml;dwesten der Stadt eine
-typische Soldatenkneipe auf, die &bdquo;zur Katzenmutter&ldquo; genannt
-wurde; ich wei&szlig; nicht, ob der sonderbare Name
-von der alten Wirtin herr&uuml;hrte, in deren schleichendem
-Gang und rundem, schnurrbartgeziertem Gesicht etwas
-unverkennbar Katzenartiges lag, oder von den Katern
-und Katzen, die zwischen Tischen und St&uuml;hlen herumsprangen
-und deren Bildnisse die W&auml;nde des seltsamen
-Lokals schm&uuml;ckten.</p>
-
-<p>W&uuml;rde ein Normalsexueller derartige Lokale betreten,
-er w&uuml;rde sich vielleicht wundern, da&szlig; dort so viele fein
-gekleidete Herren mit Soldaten sitzen, im &uuml;brigen aber
-wohl kaum jemals etwas Anst&ouml;&szlig;iges finden. Die hier
-bei Bockwurst mit Salat und Bier geschlossenen Freundschaften
-zwischen Homosexuellen und Soldaten halten oft
-&uuml;ber die ganze Dienstzeit, nicht selten dar&uuml;ber hinaus
-vor. So mancher Urning erh&auml;lt, wenn der Soldat schon
-l&auml;ngst als verheirateter Bauer fern von seiner geliebten
-Garnison Berlin in heimatlichen Gauen das Land bestellt,
-&bdquo;Frischgeschlachtetes&ldquo; als Zeichen freundlichen Gedenkens.
-Es kommt sogar vor, da&szlig; sich diese Verh&auml;ltnisse
-auf die nachfolgenden Br&uuml;der &uuml;bertragen; so kenne
-ich einen Fall, wo ein Homosexueller nach einander mit
-drei Br&uuml;dern verkehrte, die bei den K&uuml;rassieren standen.</p>
-
-<p>Gew&ouml;hnlich kommt der Soldat, wenn der Dienst zu
-Ende, in die Wohnung seines Freundes, der ihm bereits
-sein Lieblingsessen eigenh&auml;ndig gekocht hat, dessen gewaltige
-Mengen hastig verschlungen werden. Dann
-nimmt der junge Krieger in gesundheitsstrotzender Breite
-auf dem Sofa Platz, w&auml;hrend der Urning, bescheiden auf
-einem Stuhle sitzend, ihm die mitgebrachte zerrissene
-W&auml;sche flickt oder die Weihnachtspantoffeln stickt, mit
-denen jener eigentlich &uuml;berrascht werden sollte, die aber zu
-verheimlichen, die Beherrschungskraft des gl&uuml;cklichen
-Liebhabers um ein Betr&auml;chtliches &uuml;bersteigt.</p>
-
-<p>W&auml;hrenddem werden alle die kleinen Einzelheiten
-des k&ouml;niglichen Dienstes besprochen; was der &bdquo;Alte&ldquo;
-(Hauptmann) beim Apell gesagt hat, was morgen f&uuml;r
-Dienst ist, wann man auf Wache mu&szlig; und ob man ihn
-nicht am n&auml;chsten Tage irgendwo vorbeimarschieren sehen
-k&ouml;nnte. Schlie&szlig;lich geleitet man ihn bis in die N&auml;he
-der Kaserne, nicht ohne vorher die Feldflasche mit Rotspohn
-gef&uuml;llt und die Butterstullen eingepackt zu haben.</p>
-
-<p>Am Parademorgen aber steht der Urning in der
-Belle-Alliancestra&szlig;e an der verabredeten Stelle schon ganz
-fr&uuml;h, um ja noch in der ersten Reihe Platz zu bekommen.
-Hoffentlich ist sein Soldat Fl&uuml;gelmann, da&szlig; man ihn
-auch ganz genau sieht. Und nachher wird ausgeharrt,
-bis er zur&uuml;ckkommt, und abends hat er dann Urlaub,
-dann geht es zu &bdquo;Buschen&ldquo; in den Cirkus, nachdem er zuvor
-die 50 Pfennige, die er an diesem Tage als Extrasold
-erhielt, in die bei seinem Freunde stationierte Sparb&uuml;chse
-versenkt hat.</p>
-
-<p>Ein noch gr&ouml;&szlig;erer Feiertag aber ist das &bdquo;Kaisersgeburtstagskompagnievergn&uuml;gen&ldquo;.
-Da geht der Homosexuelle
-als &bdquo;Cousin&ldquo; mit seinem Freunde hin. In
-r&uuml;hrender Gl&uuml;ckseligkeit tanzt er mit dem M&auml;dchen, mit
-welchem gerade zuvor sein Soldat getanzt hat, er hat
-keine Ahnung, wie sie aussieht, denn er hat nur auf ihn
-gesehen und w&auml;hrend er das M&auml;dchen umfa&szlig;t hielt, nur
-an ihn gedacht. Wom&ouml;glich spricht auch der Hauptmann
-mit ihm als Cousin seines Gefreiten oder Unteroffiziers.
-Es kann sich aber auch ereignen, da&szlig; der Homosexuelle
-zu seinem Leidwesen diesem Festtage fern bleiben mu&szlig;,
-wenn er n&auml;mlich einige Tage zuvor mit einem der anwesenden
-Offiziere irgendwo an demselben Diner teilgenommen
-hat.</p>
-
-<p>Die Gr&uuml;nde, welche den Soldaten zum Verkehr mit
-Homosexuellen veranlassen, liegen nahe; es ist einmal
-der Wunsch, sich das Leben in der Gro&szlig;stadt etwas
-komfortabler zu gestalten, besseres Essen, mehr Getr&auml;nke,
-Zigarren und Vergn&uuml;gungen (Tanzboden, Theater &amp;c.)
-zu haben; dazu kommt, da&szlig; er &mdash; der oft sehr bildungsbed&uuml;rftige
-Landwirt, Handwerker oder Arbeiter &mdash; im
-Verkehr mit dem Homosexuellen geistig zu profitieren
-hofft, dieser gibt ihm gute B&uuml;cher, spricht mit ihm &uuml;ber
-die Zeitereignisse, geht mit ihm ins Museum, zeigt ihm,
-was sich schickt und was er nicht tun soll; das oft drollige,
-komische Wesen des Urnings tr&auml;gt auch zu seiner Erheiterung
-bei; wenn sein Freund ihm abends Couplets vorsingt oder
-ihm gar, mit dem Lampenschirm als Kapotte und einer
-Sch&uuml;rze weiblich zurecht gestutzt, etwas vortanzt, am&uuml;siert
-er sich in seiner Naivit&auml;t &uuml;ber alle Ma&szlig;en. Weitere
-Momente sind der Mangel an Geld oder an M&auml;dchen,
-die dem Soldaten nichts kosten, die Furcht vor den
-beim Milit&auml;r sehr &uuml;bel accreditierten Geschlechtskrankheiten
-und die gute Absicht, der daheim bleibenden Braut treu
-zu bleiben, der man beim Abschied die Treue geschworen
-und die in jedem &bdquo;Schreibebrief&ldquo; &auml;ngstlich an diesen
-Schwur gemahnt.</p>
-
-<p>In der N&auml;he der geschilderten Kneipen befindet sich
-vielfach auch der &bdquo;milit&auml;rische Strich&ldquo;, auf dem die
-Soldaten einzeln oder in Paaren gehend Ann&auml;herung
-an Homosexuelle suchen. Ich will hier auf eine wichtige
-Erscheinung hinweisen, auf die mich ein weit gereister
-Homosexueller aufmerksam machte, und deren Richtigkeit
-mir auf Befragen seitdem von zuverl&auml;ssigen Gew&auml;hrsm&auml;nnern
-&uuml;bereinstimmend best&auml;tigt wurde. Die &bdquo;Soldatenprostitution&ldquo;
-ist in einem Lande um so st&auml;rker, je mehr
-die Gesetze die Homosexualit&auml;t verfolgen. Offenbar
-h&auml;ngt diese Tatsache damit zusammen, da&szlig; man in
-L&auml;ndern mit Urningsparagraphen von den Soldaten am
-wenigsten Erpressungen und andere Unannehmlichkeiten
-zu f&uuml;rchten hat.</p>
-
-<p>Au&szlig;er in London, wo sich in den belebtesten Parks
-und Stra&szlig;en vom Sp&auml;tnachmittag bis nach Mitternacht
-zahlreiche Soldaten in unverkennbarer Weise feilbieten,
-fand unser Gew&auml;hrsmann in keiner Weltstadt jeden
-Abend solche Auswahl an Soldaten verschiedener
-Waffengattungen, wie in Berlin. Es gibt etwa ein
-halbes Dutzend Stellen, auf denen die Soldaten nach
-Einbruch der D&auml;mmerung in bestimmter Absicht auf-
-und abgehen. Wie die Lokale, wechseln auch die &bdquo;Striche&ldquo;
-ziemlich h&auml;ufig, so ist erst neuerdings ein vielbegangener
-Weg, das Planufer, den Soldaten verboten worden.</p>
-
-<p>Sehr verbreitet ist die Soldatenprostitution namentlich
-in den skandinavischen Hauptst&auml;dten; in Stockholm
-l&auml;&szlig;t man seit einigen Jahren sogar eigene Milit&auml;rpatrouillen
-auf Soldaten fahnden, die zu dem erw&auml;hnten
-Zwecke &bdquo;herumstreichen&ldquo;, doch hat dies, wie unser Gew&auml;hrsmann,
-der lange in der schwedischen Hauptstadt
-lebte, versichert, nichts geholfen.</p>
-
-<p>In Helsingfors, der Hauptstadt Finlands, einem
-Orte von etwa 80.000 Einwohnern, ist die milit&auml;rische
-Prostitution ganz besonders stark hervortretend. Etwas
-geringer ist sie in Petersburg, wo auf einem vom Centrum
-der Stadt weit entfernten Platz besonders Matrosen
-Bekanntschaften mit Homosexuellen suchen.</p>
-
-<p>Unser Gew&auml;hrsmann vergleicht mit diesen St&auml;dten
-Paris, wo er &bdquo;in 18 Monaten nur Rudimente eines
-milit&auml;rischen Strichs&ldquo; nachweisen konnte, sowie die einschl&auml;gigen
-Verh&auml;ltnisse in Amsterdam, Br&uuml;ssel, Rom,
-Mailand, Neapel und Florenz (St&auml;dte ohne Urningsparagraphen)
-und gelangt zu dem Schlusse, &bdquo;da&szlig; in allen
-europ&auml;ischen L&auml;ndern mit strengen Strafbestimmungen
-gegen den homosexuellen Verkehr die Hingabe von
-Soldaten in einer Weise auftritt, die man nicht f&uuml;r
-m&ouml;glich halten sollte, wenn man es nicht mit eigenen
-Augen beobachtet hat, w&auml;hrend man in L&auml;ndern ohne
-Urningsparagraphen fast nichts von dieser Erscheinung
-bemerkt&ldquo;.</p>
-
-<p>Die gebr&auml;uchliche Bezeichnung &bdquo;Soldatenprostitution&ldquo;
-entspricht &uuml;brigens dem sonstigen Begriff der Prostitution
-nicht, da es sich ja bei den Soldaten keineswegs &bdquo;um
-eine berufs- oder gewerbsm&auml;&szlig;ige Hingabe des K&ouml;rpers&ldquo;
-handelt. Ich m&ouml;chte hier der weitverbreiteten Ansicht
-entgegentreten, als ob dem Verkehr zwischen Soldaten
-und Homosexuellen gew&ouml;hnlich Akte zu Grunde liegen,
-die an und f&uuml;r sich strafbar sind. Kommt es zu geschlechtlichen
-Handlungen, was durchaus nicht immer der
-Fall ist, so bestehen diese fast stets in Erregungen durch
-Umarmen, Aneinanderpressen und Ber&uuml;hren der K&ouml;rperteile,
-wie dies &uuml;berhaupt bei homosexueller Bet&auml;tigung die
-Regel ist. Die Vorstellung, der homosexuelle, namentlich
-auch der weiblicher geartete, sei P&auml;derast in des
-Wortes &uuml;blichem Sinn, ist eine vollkommen irrt&uuml;mliche.
-In meiner Praxis ereignete sich k&uuml;rzlich eine Episode, die
-mir zeigte, wie stark auch noch in Berlin diese Meinung
-vorherrscht. Bald nachdem in den Zeitungen infolge der
-von mir unternommenen statistischen Umfrage &uuml;ber die
-Zahl der Urninge viel von Homosexualit&auml;t die Rede
-war, suchte mich ein biederer Schl&auml;chtermeister aus dem
-Osten auf, ein v&ouml;llig normaler Familienvater, welcher
-sich allen Ernstes mit folgenden Worten einf&uuml;hrte: &bdquo;Ich
-habe seit einigen Wochen ein so starkes Jucken in der
-N&auml;he des Afters und wollte Sie daher bitten, einmal
-nachzusehen, ob ich homosexuell veranlagt bin.&ldquo;</p>
-
-<p>Die Seltenheit eigentlich p&auml;derastischer Akte &auml;ndert
-aber nichts an der Grausamkeit und Ungerechtigkeit der
-betreffenden Strafbestimmung, da das gesellschaftlich Vernichtende
-bereits die Voruntersuchung ist und das Gericht
-&mdash; wenn bestraft wird, auch ganz mit Recht &mdash; sich
-nicht so streng an die bestimmte Art der Bet&auml;tigung h&auml;lt.
-Im &uuml;brigen wiederhole ich, da&szlig; das rein sexuelle Moment
-im Leben und der Liebe des Homosexuellen keine gr&ouml;&szlig;ere
-Rolle spielt, wie im nichturnischen Leben; ich w&uuml;rde diese
-Frage ihres intimen und privaten Charakters wegen
-&uuml;berhaupt nicht in den Kreis meiner Betrachtungen gezogen
-haben, wenn sie nicht von den Verfechtern einer
-falschen Moral immer wieder als Hauptsache in den
-Vordergrund gezerrt w&uuml;rde. &mdash;</p>
-
-<p>Es gibt noch einen zweiten Stand, der in Berlin
-seit langer Zeit mit den Urningen vielfache Beziehungen
-unterh&auml;lt; das sind die Athleten. Die zahlreichen Athleten-Vereine
-der Hauptstadt setzen sich zumeist aus unverheirateten
-Arbeitern zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr
-zusammen; gr&ouml;&szlig;tenteils sind es Schlosser, Schmiede
-oder sonstige Eisenarbeiter. Bei diesen Leuten gilt Kraft,
-Gefahr und K&uuml;hnheit alles. In ihren Augen ist &bdquo;der
-Kampf zwischen Ru&szlig;land und Japan &uuml;berhaupt kein
-Kampf, weil so viel geschossen und so wenig gerungen,
-gestochen und geboxt wird&ldquo;.</p>
-
-<p>Wir betreten einen Athletenklub, welcher mit Homosexuellen
-im Zusammenhange steht. Im Nebenzimmer einer
-kleinen Gastwirtschaft wird &bdquo;gearbeitet&ldquo;. Der kleine Raum
-ist von &Ouml;l-, Metall- und Schwei&szlig;geruch erf&uuml;llt, jener
-eigent&uuml;mlichen Ausd&uuml;nstung, wie sie den K&ouml;rpern der
-Eisenarbeiter zu entstr&ouml;men pflegt. Auf dem Boden
-liegen Eisenstangen, Hanteln, Gewichte von 100 und
-mehr Pfund, daneben eine Matratze, auf der gerungen
-wird. Acht bis zehn kraftstrotzende Athleten sind zugegen,
-teils in schwarzem Tricot, teils mit entbl&ouml;&szlig;tem
-Oberk&ouml;rper, Brust und Arme t&auml;towiert.</p>
-
-<p>An der Fensterseite des Zimmers steht ein langer,
-schmaler Tisch, von B&auml;nken umgeben, auf denen eine
-Anzahl Herren sitzen, deren vornehme Z&uuml;ge und Anz&uuml;ge
-mit denen der starken M&auml;nner seltsam kontrastieren.
-Oben am Tisch sitzt die Pr&auml;sidentin oder Protektorin des
-Athletenklubs, ein Damenschneider, auf den das Wort
-Martials zutrifft, &bdquo;da&szlig; er mit einer kleinen Ausnahme
-alles von seiner Mutter hat&ldquo;. Kein Uneingeweihter
-w&uuml;rde in ihm ein Mitglied des Athletenklubs &mdash; geschweige
-denn dessen Pr&auml;sidentin vermuten.</p>
-
-<p>Auf dem Tisch befindet sich eine Sparb&uuml;chse, in
-welche die G&auml;ste ihr Scherflein zur Deckung der Unkosten,
-Anschaffung von Gewichten und Matratzen tun.
-Au&szlig;erdem berichtigen sie die Zechen ihrer Athleten, die
-vor und w&auml;hrend der Arbeit in Selter, Limonade und
-Zigaretten, nach dem Gewichteheben und Ringen in Bier
-und Abendbrot bestehen.</p>
-
-<p>Die urnischen Freunde sorgen, da&szlig; flei&szlig;ig ge&uuml;bt
-wird, die plastische Sch&ouml;nheit der Bewegungen, das
-Spiel der Muskeln wird von den sachverst&auml;ndigen
-G&ouml;nnern eifrig verfolgt, jeder &bdquo;Gang&ldquo; auf das lebhafteste
-kritisiert.</p>
-
-<p>Manche Homosexuelle verbinden sich mit den Athleten
-besonders auch deshalb, um, wenn sie irgendwie
-bel&auml;stigt oder infolge des ungl&uuml;cklichen &sect; 175 erpre&szlig;t
-werden, handfeste, unerschrockene M&auml;nner zur Verf&uuml;gung
-zu haben, auf deren Schutz und &bdquo;tatkr&auml;ftige&ldquo; Freundschaft
-sie sicher bauen k&ouml;nnen.</p>
-
-<p>Von einigen Wirten urnischer Lokale, aber durchaus
-nicht von diesen allein, werden namentlich im Winterhalbjahr
-gro&szlig;e Urningsb&auml;lle veranstaltet, die in ihrer
-Art und Ausdehnung eine Spezialit&auml;t von Berlin sind.
-Hervorragenden Fremden, namentlich Ausl&auml;ndern, die in
-der j&uuml;ngsten der europ&auml;ischen Weltst&auml;dte etwas ganz
-Besonderes zu sehen w&uuml;nschen, werden sie von h&ouml;heren
-Beamten als eine der interessantesten Sehensw&uuml;rdigkeiten
-gezeigt. Sie sind auch bereits wiederholt beschrieben, so
-neuerdings von Oskar M&eacute;t&eacute;nier in &bdquo;<i>Vertus et Vices
-allemands, les Berlinois chez eux</i>&ldquo;. <a href="#fn2"><span class="small"><sup>2</sup></span></a><a name="fn2r" id="fn2r"></a> In der Hochsaison
-von Oktober bis Ostern finden diese B&auml;lle in der Woche
-mehrmals, oft sogar mehrere an einem Abend statt.
-Trotzdem das Eintrittsgeld selten weniger als 1,50 M.
-betr&auml;gt, sind diese Veranstaltungen meist gut besucht.
-Fast stets sind mehrere Geheimpolizisten zugegen, die
-acht geben, da&szlig; nichts Ungeziemendes vorkommt; soweit
-ich unterrichtet bin, lag aber noch nie ein Anla&szlig; vor,
-einzuschreiten. Die Veranstalter haben Ordre, m&ouml;glichst
-nur Personen einzulassen, die ihnen als homosexuell bekannt
-sind.</p>
-
-<p>Einige der B&auml;lle erfreuen sich eines besonderen
-Renomm&eacute;es, vor allem der kurz nach Neujahr veranstaltete,
-auf dem die neuen, vielfach selbst gefertigten Toiletten
-vorgef&uuml;hrt werden. Als ich diesen Ball im letzten Jahr
-mit einigen &auml;rztlichen Kollegen besuchte, waren gegen
-800 Personen zugegen. Gegen 10 Uhr abends sind die
-gro&szlig;en S&auml;le noch fast menschenleer. Erst nach 11 Uhr
-beginnen sich die R&auml;ume zu f&uuml;llen. Viele Besucher sind im
-Gesellschafts- oder Stra&szlig;en-Anzug, sehr viele aber auch
-kost&uuml;miert. Einige erscheinen dicht maskiert in undurchdringlichen
-Dominos, sie kommen und gehen, ohne da&szlig;
-jemand ahnt, wer sie gewesen sind; andere l&uuml;ften die Larve
-um Mitternacht, ein Teil kommt in Phantasiegew&auml;ndern,
-ein gro&szlig;er Teil in Damenkleidern, manche in einfachen,
-andere in sehr kostbaren Toiletten. Ich sah einen S&uuml;damerikaner
-in einer Pariser Robe, deren Preis &uuml;ber
-2000 Frcs. betragen sollte.</p>
-
-<p>Nicht wenige wirken in ihrem Aussehen und ihren Bewegungen
-so weiblich, da&szlig; es selbst Kennern schwer f&auml;llt,
-den Mann zu erkennen. Ich erinnere mich, da&szlig; ich auf
-einem dieser B&auml;lle mit einem auf diesem Gebiet sehr erfahrenen
-Kriminalwachtmeister ein Dienstm&auml;dchen beobachtete,
-von dem der Beamte fest &uuml;berzeugt war, da&szlig; sie ein
-richtiges Weib sein m&uuml;sse, auch ich hatte nur geringe Zweifel,
-um in der Unterhaltung mit ihr aber doch wahrzunehmen,
-da&szlig; sie &bdquo;ein Mann&ldquo; war. Wirkliche Weiber sind auf
-diesen B&auml;llen nur ganz sp&auml;rlich vorhanden, nur dann
-und wann bringt ein Uranier seine Wirtin, eine Freundin
-oder &mdash; seine Ehefrau mit. Man verf&auml;hrt im allgemeinen
-bei den Urningen nicht so streng wie auf den analogen
-Urnindenb&auml;llen, auf denen jedem &bdquo;echten Mann&ldquo; strengstens
-der Zutritt versagt ist. Am geschmacklosesten und absto&szlig;endsten
-wirken auf den B&auml;llen der Homosexuellen
-die ebenfalls nicht vereinzelten Herren, die trotz eines
-stattlichen Schnurrbartes oder gar Vollbartes &bdquo;als Weib&ldquo;
-kommen. Die sch&ouml;nsten Kost&uuml;me werden auf ein Zeichen,
-des Einberufers mit donnerndem Tusch empfangen und
-von diesem selbst durch den Saal geleitet. Zwischen 12
-und 1 Uhr erreicht der Besuch gew&ouml;hnlich seinen H&ouml;hepunkt.
-Gegen 2 Uhr findet die Kaffeepause &mdash; die
-Haupteinnahmequelle des Saalinhabers &mdash; statt. In
-wenigen Minuten sind lange Tafeln aufgeschlagen und
-gedeckt, an denen mehrere hundert Personen Platz
-nehmen; einige humoristische Gesangsvortr&auml;ge und T&auml;nze
-anwesender &bdquo;Damenimitatoren&ldquo; w&uuml;rzen die Unterhaltung,
-dann setzt sich das fr&ouml;hliche Treiben bis zum fr&uuml;hen
-Morgen fort.</p>
-
-<p>In einem der gro&szlig;en S&auml;le, in welchem die Urninge
-ihre B&auml;lle veranstalten, findet auch fast jede Woche ein analoger
-Ballabend f&uuml;r Uranierinnen statt, von denen sich
-ein gro&szlig;er Teil in Herrenkost&uuml;m einfindet. Die meisten
-homosexuellen Frauen auf einem Fleck kann man allj&auml;hrlich
-auf einem von einer Berliner Dame arrangierten Kost&uuml;mfest
-sehen. Das Fest ist nicht &ouml;ffentlich, sondern gew&ouml;hnlich
-nur denjenigen zug&auml;nglich, die einer der Komiteedamen
-bekannt sind. Eine Teilnehmerin entwirft mir
-folgende anschauliche Schilderung: &bdquo;An einem sch&ouml;nen
-Winterabend fahren von 8 Uhr ab vor einem der ersten
-Berliner Hotels Wagen auf Wagen vor, denen Damen
-und Herren in Kost&uuml;men aller L&auml;nder und Zeiten entsteigen.
-Hier sieht man einen flotten Couleurstudenten
-mit m&auml;chtigen Renommierschmissen ankommen, dort hilft
-ein schlanker Rokokoherr seiner Dame galant aus der
-Equipage. Immer dichter f&uuml;llen sich die strahlend erleuchteten
-weiten R&auml;ume; jetzt tritt ein dicker Kapuziner
-ein, vor dem sich ehrfurchtsvoll Zigeuner, Pierrots,
-Matrosen, Klowns, B&auml;cker, Landsknechte, schmucke Offiziere,
-Herren und Damen im Reitanzug, Buren, Japaner
-und zierliche Geishas neigen. Eine glut&auml;ugige Carmen
-setzt einen Jockey in Brand, ein feuriger Italiener schlie&szlig;t
-mit einem Schneemann innige Freundschaft. Die in
-buntesten Farben schillernde fr&ouml;hliche Schar bietet ein
-h&ouml;chst eigenartiges anziehendes Bild. Zuerst st&auml;rken sich die
-Festteilnehmerinnen an blumengeschm&uuml;ckten Tafeln. Die
-Leiterin in flotter Sammetjoppe hei&szlig;t in kurzer kerniger
-Rede die G&auml;ste willkommen. Dann werden die Tische
-fortger&auml;umt. Die &bdquo;Donauwellen&ldquo; erklingen, und begleitet
-von fr&ouml;hlichen Tanzweisen, schwingen sich die Paare die
-Nacht hindurch im Kreise. Aus den Nebens&auml;len h&ouml;rt
-man helles Lachen, Klingen der Gl&auml;ser und munteres
-Singen, nirgends aber &mdash; wohin man sieht &mdash; werden
-die Grenzen eines Kost&uuml;mfestes vornehmer Art &uuml;berschritten.
-Kein Mi&szlig;ton tr&uuml;bt die allgemeine Freude,
-bis die letzten Teilnehmerinnen beim matten D&auml;mmerlicht
-des kalten Februarmorgens den Ort verlassen, an
-dem sie sich unter Mitempfindenden wenige Stunden
-als das tr&auml;umen durften, was sie innerlich sind. Wem
-es je verg&ouml;nnt war, schlie&szlig;t Frl. R. ihren Bericht, ein
-derartiges Fest mitzumachen, wird aus ehrlicher &Uuml;berzeugung
-sein Leben lang f&uuml;r die ungerecht verleumdeten
-Uranierinnen eintreten, denn er wird sich dar&uuml;ber klar
-geworden sein, da&szlig; es &uuml;berall gute und schlechte Menschen
-gibt, da&szlig; die homosexuelle Naturveranlagung aber ebensowenig
-wie die heterosexuelle von vornherein einen
-Menschen zum Guten oder B&ouml;sen stempelt.&ldquo;</p>
-
-<p>Nicht weniger wie die B&auml;lle, sind auch die &bdquo;Herrenabende&ldquo;
-besucht, theaterartige Veranstaltungen, welche
-von Zeit zu Zeit von Urningen f&uuml;r Urninge gegeben
-werden. Gew&ouml;hnlich sind s&auml;mtliche auftretenden K&uuml;nstler
-&bdquo;Zwischenstufen&ldquo;; besonders beliebt ist es, ber&uuml;hmte
-Literaturwerke homosexuell zu parodieren, und es erregt
-nicht geringe Heiterkeit, wenn die Engeln als Marthe
-Schwertlein, die Harfenjule als Salome oder gar Schwanhilde,
-als Maria Stuart, K&ouml;nigin Elisabeth und Amme
-in einer Person auftritt.</p>
-
-<p>Au&szlig;er den Restaurants gibt es in Berlin auch
-Hotels, Pensionate und Badeanstalten, die fast ausschlie&szlig;lich
-von Homosexuellen besucht werden; dagegen
-habe ich ein von Pastor Philipps neuerdings, wie bereits
-fr&uuml;her, erw&auml;hntes Berliner Gemeinschaftshaus der Homosexuellen
-bisher nicht ermitteln k&ouml;nnen.</p>
-
-<p>Die Homosexualit&auml;t in Badeanstalten ist in Berlin
-bei weitem nicht so verbreitet, wie in anderen Gro&szlig;st&auml;dten,
-namentlich in St. Petersburg und Wien. In
-der &ouml;sterreichischen Hauptstadt befindet sich ein Bad, das
-durch den ganz au&szlig;erordentlich starken Zusammenflu&szlig;
-von Homosexuellen an bestimmten Tagen, zu gewissen
-Stunden einzig dastehen d&uuml;rfte. In Berlin wei&szlig; ich von
-vier mittelgro&szlig;en Badeanstalten, die nur von homosexueller
-Kundschaft leben. Auch einige Schwimmbassins
-sind zu bestimmten Tageszeiten Treffpunkte der Homosexuellen.</p>
-
-<p>Vielfach sind in diesen Anstalten, ebenso wie in
-den Restaurationen und Hotels, der Besitzer oder ein
-Angestellter homosexuell. Dieselben sind urspr&uuml;nglich
-meist nicht in der Absicht gegr&uuml;ndet, urnische Bekanntschaften
-zu vermitteln oder gar der Unzucht Vorschub zu
-leisten (im Sinne des &sect; 180 R.-St.-G.-B.), vielmehr hat
-es sich allm&auml;hlich herumgesprochen, da&szlig; der Eigent&uuml;mer
-oder der Oberkellner oder ein Masseur &bdquo;so&ldquo; ist, worauf
-sich dann viele Urninge dorthin ziehen, weil sie sich dort
-ungenierter f&uuml;hlen.</p>
-
-<p>Die Besitzer sind sich oft gewi&szlig; nicht dar&uuml;ber klar,
-da&szlig; sie dabei Gefahr laufen, mit dem Kuppeleiparagraphen
-des Strafgesetzbuches in Konflikt zu geraten. Vor kurzem
-erregte ein Proze&szlig; wegen homosexueller Kuppelei ziemliches
-Aufsehen, der gegen einen alten Uranier angestrengt
-wurde, welcher mit einem Freunde im Westen der
-Stadt ein Pensions-Hotel f&uuml;hrte, das &uuml;berwiegend von
-homosexuellen Damen und Herren aufgesucht wurde.
-Trotzdem die Angeklagten &mdash; meines Erachtens nicht
-mit Unrecht &mdash; darauf hinwiesen, da&szlig; sie keine h&ouml;heren
-Preise forderten und erhielten, wie sie in &auml;hnlichen
-Etablissements &uuml;blich sind, ferner, da&szlig; sie sich nicht
-befugt hielten, zu kontrollieren, was ihre G&auml;ste, zu
-denen ein vielgenannter Reichstagsabgeordneter geh&ouml;rte,
-auf ihren Zimmern mit ihren Besuchern t&auml;ten, wurden
-beide zu einer Gef&auml;ngnisstrafe von einem Monat verurteilt.</p>
-
-<p>Einer wieviel gr&ouml;&szlig;eren Gefahr setzen sich die Hotelwirte
-aus, bei denen sich f&uuml;r wenige Stunden die m&auml;nnlichen
-Prostituierten mit ihren Herren einfinden, sowie
-die urnischen Absteigequartiere, deren es in Berlin
-eine ganze Anzahl geben soll. Diese Quartiere sind eine
-unmittelbare Folge der durch den &sect; 175 geschaffenen
-Verh&auml;ltnisse. Sie werden besonders von Uraniern vornehmer
-Gesellschaftskreise, auch viel von uranischen
-Offizieren ausw&auml;rtiger Garnisonen benutzt, die sich aus
-wohlbegr&uuml;ndeter Furcht, Erpressern, Verbrechern oder
-Verr&auml;tern in die H&auml;nde zu fallen, an diese Vertrauenspersonen
-wenden, die ihnen etwas &bdquo;ganz Sicheres&ldquo;
-besorgen sollen.</p>
-
-<p>In Br&uuml;ssel wurde in diesem Sommer ein Schuhmacher
-mit seiner Frau verhaftet, bei dem man zahlreiche
-Albums mit Photographieen vorfand, die den Nachfragenden
-zur Auswahl vorgelegt wurden. &Auml;hnliches
-kommt auch in Berlin vor. Wie mir verb&uuml;rgt mitgeteilt
-wurde, gibt es Vermittler, bei denen sich Herren m&uuml;ndlich
-und schriftlich, ja sogar telegraphisch Personen unter
-Angabe aller m&ouml;glichen fetischistischen Liebhabereien bestellen,
-einen K&uuml;rassier mit wei&szlig;en Hosen und hohen
-Stiefeln, M&auml;nner in
-Frauen- und Frauen
-in M&auml;nnerkleidern,
-einen Bierkutscher,
-einen Steintr&auml;ger in
-Arbeitsanzug, ja sogar
-einen Schornsteinfeger.
-Fast alle
-finden dann zu der
-bestimmten Stunde
-das Erbetene vor.
-Auch f&uuml;r urnische
-Damen existieren
-&auml;hnliche Vermittelungslokale.</p>
-
-<p>Unbewu&szlig;t leistet
-auch die Berliner Tagespresse den Urningen umfangreiche
-Mittlerdienste. In manchen Bl&auml;ttern findet man fast
-t&auml;glich mehrere Inserate, die homosexuellen Zwecken dienen,
-wie &bdquo;junge Frau sucht Freundin&ldquo;, &bdquo;junger Mann sucht
-Freund&ldquo;. Ich gebe hier einige Beispiele derartiger Annoncen
-wieder, die innerhalb kurzer Zeit Berliner Zeitungen verschiedenster
-Parteirichtung entnommen wurden.</p>
-
-<p>Wie mir mehrfach versichert wurde, werden diese
-Inserate von denen, f&uuml;r die sie berechnet sind, sehr wohl
-verstanden.</p>
-
-<hr class="minimal" />
-
-<blockquote class="med">
-<p class="noindent"><b>&Auml;lterer Herr</b>, kein Damenfreund,
-sucht Bekanntschaft
-mit Gleichgesinnten. Zuschr. erb. unt.
-<b>S.O.</b> 2099 an die Exped. d. Bl.</p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<p class="noindent"><b>&Auml;lterer</b> Junggeselle w&uuml;nscht gleichgesinnten
-&bdquo;Anschlu&szlig;&ldquo;, Morgenpost B&uuml;lowstra&szlig;e.</p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<p class="noindent"><b>Herr</b>, 23, sucht Freund. Zuschriften unter
-&bdquo;Sokrates&ldquo; an Hauptexpedition Kochstra&szlig;e
-erbeten.</p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<p class="noindent">Junggeselle, gut. Ges., sucht freundschaftl.
-Verkehr m. led. gleichges. Herrn in &auml;lt.
-Jahr. Off. <b>A. B.</b> 11 Postamt 76.</p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<p class="noindent"><b>Jung. geb. Mann, 29 Jahr, sucht
-freundschaftl. Verkehr m. energisch
-herrischem, gut situiertem Herrn.
-Briefe erb. unt. T. L. W. Expedit.
-d. Blattes.</b>
-</p>
-</blockquote>
-
-<hr class="minimal" />
-
-<p>Wir haben bereits wiederholt die m&auml;nnliche Prostitution
-erw&auml;hnen m&uuml;ssen und d&uuml;rfen diese gewi&szlig; beklagenswerte
-Erscheinung nicht &uuml;bergehen, wenn wir eine einigerma&szlig;en
-vollst&auml;ndige Schilderung der vielseitigen Gestaltungsformen
-geben wollen, in denen uns das urnische Leben
-Berlins entgegentritt.</p>
-
-<hr class="minimal" />
-
-<blockquote class="med">
-<p class="noindent"><b>Fr&auml;ulein</b>,
-anst&auml;nd., 24 Jahre, sucht h&uuml;bsches Fr&auml;ulein
-als Freundin. Offerten unt. Nr. 3654
-an die Exped. erbeten.</p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<p class="noindent"><b>Dame</b>, 36, w&uuml;nscht freundschaftlichen Verkehr.
-Postamt 16, &bdquo;Plato&ldquo;.</p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<p class="noindent"><b>Herzensfreundin</b>,
-nette, sucht geistvolle, lebenslustige Dame,
-23. Psyche, Postamt 69.</p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<p class="noindent"><b>Suche gebild. Freundin, Anfang
-30, am liebsten Blondine.
-Off. u. H. R. 1622 Exp. d. Bl.</b></p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<p class="noindent"><b>Schneiderin</b>, 22, w&uuml;nscht &bdquo;Freundin&ldquo;,
-Postamt 33.
-</p>
-</blockquote>
-
-<hr class="minimal" />
-
-<p>Wie jede Gro&szlig;stadt, hat auch Berlin neben der
-weiblichen eine m&auml;nnliche Prostitution. Beide sind eng
-verwandt durch Abstammung, Wesen, Ursachen und
-Folgen. Hier wie
-dort kommen stets
-zwei Gr&uuml;nde zusammen,
-von denen
-bald der eine, bald
-der andere den Ausschlag
-gibt: innere
-Anlagen und &auml;u&szlig;ere
-Verh&auml;ltnisse. In denjenigen,
-die der
-Prostitution anheimfallen,
-ruhen von
-Jugend an bestimmte
-Eigent&uuml;mlichkeiten,
-unter welchen ein mit dem Hang zur Bequemlichkeit
-verbundener Drang zum Wohlleben am deutlichsten
-hervortritt. Sind bei diesen Eigenschaften die &auml;u&szlig;eren
-Verh&auml;ltnisse g&uuml;nstig, sind namentlich die Eltern verm&ouml;gend,
-so verfallen die jungen Leute nicht der Prostitution;
-tritt aber h&auml;usliches Elend hinzu, k&uuml;mmerlicher
-Lebensunterhalt, Arbeits- und Stellungslosigkeit, Mangel
-an Unterkommen und wom&ouml;glich die gr&ouml;&szlig;te aller Sorgen,
-der Hunger, dann halten wohl von Natur aus stabile,
-in sich gefestigte Charaktere stand, die labilen aber suchen
-die nie fehlende Versuchung, sie erliegen und verkaufen
-sich, trotz der Tr&auml;nen der Mutter.</p>
-
-<p>Es gibt Menschenfreunde, die die Besserung von
-der Freiheit des Willens und andere, die sie vom Zwang
-der Verh&auml;ltnisse erwarten; nach Erziehung und Religion
-verlangen die einen, nach dem Zukunftsstaat die anderen.
-Beide sind zu optimistisch. Wer helfen will, mu&szlig; innen
-und au&szlig;en ansetzen, die Verh&auml;ltnisse zu bessern trachten,
-da&szlig; kein M&auml;dchen und kein J&uuml;ngling es n&ouml;tig hat sich
-zu verkaufen, und die Personen bessern unter besonderer
-R&uuml;cksicht der Vererbungsgesetze, da&szlig; niemand die Neigung
-versp&uuml;rt, sich als Ware feilzubieten.</p>
-
-<p>Ihr sagt, das ist nicht zu erreichen, ich aber meine,
-nur was man aufgibt, ist verloren.</p>
-
-<p>Das Arbeitsfeld der Prostitution ist die Stra&szlig;e;
-bestimmte Gegenden und Pl&auml;tze, die sogenannten &bdquo;Striche&ldquo;.
-Ein Homosexueller zeigte mir einmal einen Plan von
-Berlin, auf dem er diese mit blauen &bdquo;Strichen&ldquo; versehen
-hatte; die Zahl der so bezeichneten Stellen war
-keine geringe.</p>
-
-<p>Seit alters spielt auf diesem Gebiete der Tiergarten
-in einigen seiner Partieen eine besondere Rolle. Es gibt
-wohl keinen zweiten Wald, der so mit Menschenschicksalen
-verwoben ist, wie dieser &uuml;ber 1000 Morgen gro&szlig;e Park.</p>
-
-<p>Nicht seine landschaftlichen Sch&ouml;nheiten, nicht der k&uuml;nstlerische
-Schmuck, der Menschen Leben, Lieben und Leiden
-verleihen ihm seine Bedeutung. Vom fr&uuml;hen Morgen,
-wenn die Beg&uuml;terten auf den Reitwegen ihr Herz entfetten,
-bis zum Mittag, wenn der Kaiser seine Spazierfahrt
-unternimmt, vom Fr&uuml;hnachmittag, wenn im Parke
-tausend Kinder spielen, bis zum Sp&auml;tnachmittag, wenn
-sich das B&uuml;rgertum ergeht, hat jeder Weg zu jeder
-Jahreszeit und jeder Stunde sein eigenes Gepr&auml;ge.
-H&auml;tte Emile Zola in Berlin gelebt, ich zweifle nicht,
-da&szlig; er diesen Forst durchforscht und von dem, was er
-wahrgenommen, ein Werk von der Wucht Germinals
-geschaffen h&auml;tte.</p>
-
-<p>Wenn es aber Abend wird und sich anderen Welten
-die Sonne neigt, mischt sich mit dem Hauch der D&auml;mmerung
-ein Hauch, der suchend und sehnend aufsteigt aus Millionen
-irdischer Wesen, ein Teil des Welt<b>geistes</b>, den manche
-den Geist der Unzucht nennen, und der doch in Wahrheit
-nur ein Bruchst&uuml;ck der gro&szlig;en gewaltigen Triebkraft ist,
-die, so hoch wie Nichts und so niedrig wie Nichts, unabl&auml;ssig
-gestaltet, waltet, bildet und formt.</p>
-
-<p>&Uuml;berall treffen sich an den Kreuzwegen des Tiergartens
-verabredete Paare, man sieht, wie sie sich entgegeneilen,
-sich freudig begr&uuml;&szlig;en und aneinander geschmiegt
-im Gespr&auml;ch der Zukunft entgegenschreiten, man steht sie
-sich auf noch freien B&auml;nken niederlassen und schweigend
-sich umarmen und neben der hohen, der unver&auml;u&szlig;erlichen
-geht die niedere, k&auml;ufliche Liebe einher.</p>
-
-<p>Auf drei weit auseinander gelegenen Wegen halten
-sich Weiber, auf zweien M&auml;nner feil. W&auml;hrend in der
-Stadt die weibliche und m&auml;nnliche Prostitution durcheinander
-flutet, hat hier jede ihren &bdquo;Strich&ldquo; f&uuml;r sich, von
-den m&auml;nnlichen ist der eine allabendlich fast nur von
-Kavalleristen erf&uuml;llt, deren S&auml;bel in der Finsterni&szlig;
-seltsam aufblitzen, w&auml;hrend der andere, eine ziemlich
-lange Strecke, gr&ouml;&szlig;tenteils von den verwegenen Burschen
-eingenommen wird, die sich im Berliner Volkston mit
-Vorliebe selbst &bdquo;ke&szlig; und jemeene&ldquo; nennen. Hier ist
-eine jener alten halbrunden Tiergartenb&auml;nke, auf der in
-den Stunden vor Mitternacht an drei&szlig;ig Prostituierte
-und Obdachlose dicht nebeneinander sitzen, manche sind
-fest eingeschlafen, andere johlen und kreischen. Sie
-nennen diese Bank die &bdquo;Kunstausstellung.&ldquo; Dann und
-wann kommt ein Mann, steckt ein Wachsstreichholz an
-und leuchtet die Reihe ab.</p>
-
-<p>Nicht selten t&ouml;nt in das Juchzen der Jungen ein
-greller Schrei, der Hilferuf eines im Walde Beraubten
-oder Gemi&szlig;handelten, oder ein kurzer Knall schallt in
-die von den entfernten Zelten in vereinzelten St&ouml;&szlig;en
-her&uuml;berdringende Musik &mdash; er k&uuml;ndet von einem, der sein
-Leben verneinte.</p>
-
-<p>Und wer Originale sucht, von denen sehr zu Unrecht
-behauptet wird, sie seien in der Gro&szlig;stadt ausgestorben, im
-Tiergarten sind sie reichlich zu finden. Seht Ihr die
-Alte dort mit den vier Hunden am Neuen See? Seit
-vierzig Jahren macht sie mit kurzer Sommerunterbrechung
-zu derselben Stunde denselben Spaziergang, nie von
-Menschen begleitet, von jener Zeit ab, da ihr am Hochzeitstage
-zwischen der standesamtlichen und kirchlichen Trauung
-der Mann am Blutsturz verschied; seht Ihr dort
-die ausged&ouml;rrte, gekr&uuml;mmte Gestalt im struppigen Graubart?
-Das ist ein russischer Baron, der ersp&auml;ht sich abends
-eine einsame Bank, dort l&auml;&szlig;t er sich nieder und schreit
-&bdquo;rab, rab, rab&ldquo;, &auml;hnlich wie ein Rabe kr&auml;chzt; aus
-unsichtbaren Wegen tauchen auf diesen Lockruf einige
-&bdquo;kesse Schieber&ldquo; hervor, es sind seine Freunde, unter
-denen er die &bdquo;Platten&ldquo;, gew&ouml;hnlich drei bis f&uuml;nf Mark,
-verteilt, die ihm von seinem Tageszins geblieben sind.</p>
-
-<p>Die m&auml;nnlichen Prostituierten zerfallen in zwei
-Gruppen, in solche, die normalgeschlechtlich und in solche,
-die &bdquo;echt&ldquo;, d. h. selbst homosexuell sind. Letztere sind
-zum Teil stark feminin, und einige gehen auch gelegentlich
-in Weiberkleidern aus, was jedoch in den Kreisen der
-weiblichen Prostituierten &uuml;bel vermerkt wird. Es ist dies
-zwischen beiden fast der einzige <i>casus belli</i>, denn die
-Erfahrung hat sie gelehrt, da&szlig; sie ohne diese Vorspiegelung
-falscher Tatsachen einander nicht die Kundschaft
-fortnehmen. Eine ziemlich gebildete Prostituierte, die ich
-einmal nach einer Erkl&auml;rung des guten Einvernehmens
-zwischen den weiblichen und m&auml;nnlichen Prostituierten
-fragte, antwortete mir: &bdquo;Wir wissen doch, da&szlig; jeder
-&bdquo;Freier&ldquo; nach seiner Fa&ccedil;on selig werden will.&ldquo;</p>
-
-<p>Unter den Berliner Prostituierten kommen vielfach
-eigent&uuml;mliche Paarungen vor. So tun sich normale
-m&auml;nnliche Prostituierte, die sogenannten Pupenluden,
-nicht selten mit normalen weiblichen Prostituierten zu
-gemeinsamer &bdquo;Arbeit&ldquo; zusammen, auch von zwei Geschwisterpaaren
-ist mir berichtet, von denen sowohl die Schwester
-wie der Bruder diesem erniedrigenden Gewerbe obliegen;
-sehr h&auml;ufig leben zwei weibliche und nicht selten auch
-zwei m&auml;nnliche Prostituierte zusammen, und endlich kommt
-es auch vor, da&szlig; sich homosexuelle weibliche Prostituierte
-mit homosexuellen m&auml;nnlichen Prostituierten als Zuh&auml;ltern
-verbinden, die sie f&uuml;r weniger brutal halten, als ihre
-heterosexuellen Kollegen.</p>
-
-<p>Bekannt ist es, da&szlig; es unter den weiblichen Prostituierten
-eine gro&szlig;e Anzahl homosexueller gibt, man
-sch&auml;tzt sie auf 20%. Mancher wundert sich &uuml;ber diesen
-scheinbaren Widerspruch in sich, da doch das k&auml;ufliche
-Dirnentum vor allem der sexuellen Befriedigung des
-Mannes dient. Vielfach meint man, es liege hier eine
-&Uuml;bers&auml;ttigung vor, das ist aber in Wirklichkeit nicht der
-Fall, denn es l&auml;&szlig;t sich nachweisen, da&szlig; diese M&auml;dchen
-gew&ouml;hnlich schon homosexuell empfanden, ehe sie sich der
-Prostitution ergaben, und es beweist die Tatsache ihrer
-Homosexualit&auml;t eigentlich nur, da&szlig; sie den Verkauf ihres
-K&ouml;rpers lediglich als ein Gesch&auml;ft betrachten, dem sie
-mit k&uuml;hler Berechnung gegen&uuml;berstehen.</p>
-
-<p>Merkw&uuml;rdig ist das Verh&auml;ltnis der sich liebenden
-Prostituierten untereinander. Bis in diese Kreise ist
-das System der doppelten Moral gedrungen. Denn
-w&auml;hrend der m&auml;nnliche, aktive Teil, der &bdquo;Vater&ldquo; sich frei
-f&uuml;hlt und sich auch au&szlig;erhalb seines gemeinschaftlichen
-Schlafgemachs weiblichen Verkehr gestattet, verlangt er
-von der weiblich passiven Partnerin in Bezug auf
-homosexuellen Umgang die vollkommenste Treue. Bei
-entdecktem Treubruch setzt sich sein Verh&auml;ltnis den schwersten
-Mi&szlig;handlungen aus, es kommt sogar vor, da&szlig; der
-m&auml;nnliche Teil dem weiblichen w&auml;hrend der Zeit ihres
-Liebesb&uuml;ndnisses verbietet, ihrem Gewerbe nachzugehen.</p>
-
-<p>Die weibliche Stra&szlig;enprostitution Berlins unterh&auml;lt
-auch vielfach Beziehungen mit urnischen Frauen besserer
-Gesellschaftskreise, ja sie scheut sich nicht, Frauen, die ihr
-homosexuell erscheinen, auf der Stra&szlig;e Anerbietungen zu
-machen. Dabei ist zu bemerken, da&szlig; die Preise f&uuml;r
-Frauen durchg&auml;ngig geringere sind, ja, da&szlig; in vielen
-F&auml;llen jede Bezahlung abgewiesen wird. Mir berichtete
-eine junge Dame, die allerdings einen sehr homosexuellen
-Eindruck macht, da&szlig; ihr auf der Stra&szlig;e Prostituierte
-Angebote von 20 Mark und mehr gemacht h&auml;tten.</p>
-
-<p>Sowohl die weibliche, wie die m&auml;nnliche Prostitution
-bedrohen durch ihr b&ouml;ses Beispiel nicht nur die &ouml;ffentliche
-Sittlichkeit, nicht nur die &ouml;ffentliche Gesundheit &mdash; denn
-es ist durchaus nicht selten, da&szlig; auch durch m&auml;nnliche
-Prostituierte ansteckende Krankheiten von der Skabies
-(Kr&auml;tze) bis zur Syphilis &uuml;bertragen werden &mdash; sondern
-auch in hohem Ma&szlig;e die &ouml;ffentliche Sicherheit.</p>
-
-<p>Prostitution und Verbrechertum gehen Hand in
-Hand; Diebst&auml;hle und Einbr&uuml;che, Erpressungen und
-N&ouml;tigungen, F&auml;lschungen und Unterschlagungen, Gewaltt&auml;tigkeiten
-jeder Art, kurz alle m&ouml;glichen Verbrechen
-wider die Person und das Eigentum sind bei dem
-gr&ouml;&szlig;ten Teile der m&auml;nnlichen Prostituierten an der
-Tagesordnung, und besonders gef&auml;hrlich ist es, da&szlig; diese
-Delikte von den ver&auml;ngstigten Homosexuellen in den
-meisten F&auml;llen nicht zur Anzeige gebracht werden.</p>
-
-<p>Verfallen in Berlin unter einer uranischen Bev&ouml;lkerung
-von 50000 Seelen &mdash; diese Zahl ist sicherlich nicht
-zu hoch gegriffen &mdash; im Jahr durchschnittlich 20 &bdquo;dem
-Arm der Gerechtigkeit&ldquo;, so f&auml;llt mindestens die hundertfache
-Zahl, n&auml;mlich 2000 im Jahr, den Erpressern in
-die Arme, welche, wie die Berliner Kriminalpolizei gewi&szlig;
-gern best&auml;tigen wird, aus der Ausbeutung der homosexuellen
-Natur einen weitverbreiteten und recht eintr&auml;glichen
-Spezialberuf gebildet haben.</p>
-
-<p>Die engen Beziehungen zwischen den Prostituierten
-und Verbrechern gehen auch daraus hervor, da&szlig;
-beide sich desselben Jargons &mdash; der Verbrechersprache
-bedienen. Suchen sich &bdquo;die Strichjungen&ldquo; ihre Opfer,
-so nennen sie das &bdquo;sie gehen auf die Krampftour&ldquo;, das
-Erpressen selbst in seinen verschiedenen Abstufungen
-nennen sie: &bdquo;abkochen&ldquo;, &bdquo;brennen&ldquo;, &bdquo;hochnehmen&ldquo;,
-&bdquo;prellen&ldquo;, &bdquo;neppen&ldquo;, &bdquo;abb&uuml;rsten&ldquo;, &bdquo;rupfen&ldquo; und &bdquo;klemmen&ldquo;;
-es sei hier &uuml;brigens bemerkt, da&szlig; es in Berlin auch Verbrecher
-gibt, die das Rupfen der m&auml;nnlichen Prostituierten
-als Spezialit&auml;t betreiben, indem sie diese mit Anzeige wegen
-P&auml;derastie oder Erpressung bedrohen. Die &bdquo;schwule
-Bande&ldquo; teilen sie nach ihrer Zahlungsf&auml;higkeit in &bdquo;T&ouml;len&ldquo;,
-&bdquo;Stubben&ldquo; und &bdquo;Kavaliere&ldquo;, das erbeutete Geld nennen sie
-&bdquo;Asche&ldquo;, &bdquo;Draht&ldquo;, &bdquo;Dittchen&ldquo;, &bdquo;Kies&ldquo;, &bdquo;Klamotten&ldquo;,
-&bdquo;Mesumme&ldquo;, &bdquo;Meschinne&ldquo;, &bdquo;Monnaie&ldquo;, &bdquo;Moos&ldquo;,
-&bdquo;Pfund&ldquo;, &bdquo;Platten&ldquo;, &bdquo;Pulver&ldquo;, &bdquo;Zaster&ldquo;, &bdquo;Zimmt&ldquo;, das
-Goldgeld: &bdquo;stumme Monarchen&ldquo;, Geld haben hei&szlig;t &bdquo;in
-Form sein&ldquo;, keins haben &bdquo;tot sein&ldquo;, kommt ihnen etwas
-in die Quere, so sagen sie &bdquo;die Tour sei ihnen vermasselt&ldquo;,
-fortlaufen hei&szlig;t &bdquo;t&uuml;rmen&ldquo;, sterben &bdquo;kapores
-gehen&ldquo;, werden sie von den &bdquo;Greifern&ldquo;, d. h. den
-Kriminalbeamten oder den Blauen &mdash; das sind die
-Schutzleute, abgefa&szlig;t, so nennen sie das &bdquo;hochgehen&ldquo;,
-&bdquo;auffliegen&ldquo;, &bdquo;alle werden&ldquo;, &bdquo;krachen gehen&ldquo; oder &bdquo;versch&uuml;tt
-gehen&ldquo;. Dann kommen sie erst auf die &bdquo;Polente&ldquo;,
-das Polizeibureau, darauf ins &bdquo;Kittchen&ldquo;, das Untersuchungsgef&auml;ngnis,
-um dann, wie sie sich euphemistisch
-ausdr&uuml;cken, in einen &bdquo;Berliner Vorort&ldquo; zu
-ziehen, darunter verstehen sie Tegel, Pl&ouml;tzensee und
-Rummelsburg, die Sitze der Strafgef&auml;ngnisse und des
-Arbeitshauses. Nur sehr selten verlassen sie diese
-gebessert: Wohlhabende Urninge geben sich oft gro&szlig;e
-M&uuml;he, Prostituierte von der Stra&szlig;e zu retten, doch
-gelingt auch dieses nur in sehr vereinzelten F&auml;llen.
-Viele &bdquo;zehren&ldquo;, wenn sie &auml;lter werden, &bdquo;von Erinnerungen&ldquo;,
-indem sie ihnen als homosexuell bekannte
-Personen, die ihren Standort kreuzen, um kleine Geldbetr&auml;ge
-&bdquo;anbohren&ldquo;, was sie als &bdquo;Zinseneinholen&ldquo; oder
-&bdquo;tirachen&ldquo; bezeichnen.</p>
-
-<p>Gew&ouml;hnlich hat diese gef&auml;hrliche Menschenklasse
-einen guten Blick daf&uuml;r, wer homosexuell veranlagt ist,
-doch kommt es auch sehr h&auml;ufig vor, da&szlig; sie v&ouml;llig
-normalsexuelle Personen bedrohen und beschuldigen. Ich
-gebe als Beispiel einen Fall, wie ich ihn vor einiger
-Zeit in folgendem Schreiben geschildert erhielt:</p>
-
-<blockquote>
-<p>&bdquo;Im vorigen Herbst traf ich auf der Durchreise nach dem S&uuml;den
-mit dem Abendzuge in Berlin ein und nahm f&uuml;r eine Nacht Quartier
-in der N&auml;he des Zentralbahnhofes, um am andern Morgen weiter zu
-reisen. Den milden freundlichen Abend wollte ich zu einem Spaziergange
-benutzen.</p>
-
-<p>Beim Verlassen der Passage sah ich eine Anzahl junger Burschen
-zusammenstehen, von denen der eine, etwa 20 Jahre alt, ein Schnupftuch
-laut wimmernd an die Backe pre&szlig;te. Unwillk&uuml;hrlich fa&szlig;te ich ihn
-deshalb sch&auml;rfer ins Auge, als man es sonst tut, drehte mich auch noch
-einmal in meinem Mitleid nach ihm um, als ich in die Mittelallee
-der Linden einbog, um auf das Brandenburger Tor zuzugehen, in
-der Absicht, das mir bis dahin unbekannte Bismarckdenkmal noch fl&uuml;chtig
-zu besichtigen. Nach kurzer Zeit sah ich denselben jungen Mann, nunmehr
-allein, das Tuch noch immer an die Backe gepre&szlig;t, mir vorausgehen
-und dann an einer Litfa&szlig;s&auml;ule in der Nahe des Tores stehen
-bleiben. Ich dachte mir nichts besonderes dabei und ging weiter. Da
-trat er an mich heran und bat um ein Almosen, indem er mir mit
-verschleierter, winselnder Stimme und flehentlich bittend, ich solle ihn
-nicht der Polizei verraten, einen langen Roman vortrug: er sei aus
-dem Osten, der Bromberger Gegend, hergekommen, habe keine Arbeit
-gefunden, sei jetzt ganz mittellos und habe seine Effekten f&uuml;r 16 Mark
-versetzt; sobald er soviel zusammenhabe, um diese einl&ouml;sen zu k&ouml;nnen,
-wolle er in die Heimat zur&uuml;ck. Wir waren inzwischen an die Bed&uuml;rfnisanstalt,
-rechts vor dem Tore, gekommen; ich gab ihm 50 Pfennige mit
-dem Bemerken, er solle sich durch Arbeit so viel verdienen, um seine
-Effekten ausl&ouml;sen zu k&ouml;nnen, ich sei hier selber fremd und nur auf der
-Durchreise; jetzt solle er seiner Wege gehen. Ich trat dann in die
-Anstalt ein und h&ouml;rte wohl, da&szlig; hinter mir noch jemand eintrat, achtete
-aber nicht weiter darauf. Als ich mich nun auf der anderen Seite
-entfernen wollte, um den Weg nach dem Bismarckdenkmal einzuschlagen,
-sah ich meinen Burschen grinsend und ohne Tuch mir den Weg verlegen
-mit den Worten: &bdquo;Wenn Sie mir jetzt nicht 16 Mark geben,
-zeige ich Sie an, dann kommen Sie ins Loch.&ldquo; Zugleich sagte er zu
-meinem namenlosen Erstaunen: &bdquo;Ick zeige Ihnen an, Sie Hallunke,
-wat Sie in Ihrer Woll&uuml;stigkeit mit mir gemacht haben. Zahlen Sie
-16 Mark, oder ick schrei, det janz Berlin zusammenl&auml;uft.&ldquo; &mdash; Ich
-bemerke, da&szlig; ich 58 Jahre alt, l&auml;ngst mehrfacher Gro&szlig;vater bin und
-einer h&ouml;heren Beamtenklasse angeh&ouml;re. Wenn nicht mein Ruf, so stand
-doch die Fortsetzung meiner Reise auf dem Spiel, wenn ich in eine,
-noch dazu so ekelhafte, Untersuchung verwickelt wurde. Ich trat daher
-schnell an den Rand der Charlottenburger Chaussee und winkte eine
-leere Droschke heran, bis dahin immerfort von den unfl&auml;tigen Reden
-des Burschen verfolgt. Ehe noch die Droschke hielt, schrie der Chanteur
-&mdash; jetzt mit v&ouml;llig ver&auml;nderter Stimme &mdash;: &bdquo;Solch' alter Hund, warte
-nur, Du sollst brummen.&ldquo; Zugleich machte er Miene, vor mir in die
-Droschke einzusteigen. Es blieben bereits einige Passanten stehen, einen
-Schutzmann aber konnte ich nicht entdecken. Da griff ich in die Tasche,
-hielt ihm ein Zehnmarkst&uuml;ck hin und warf es aufs Pflaster, so da&szlig; er
-ziemlich weit laufen mu&szlig;te, um es aufzuheben. Diesen Moment
-benutzte ich, sprang in die Droschke und trieb den Kutscher zur Eile
-an, indem ich ihm den Zentralbahnhof als Ziel angab. Auf die Frage
-des Kutschers nach dem Zusammenhange der Dinge sagte ich ihm, der
-Mensch sei offenbar betrunken gewesen und habe von mir Geld verlangt,
-worauf dieser mir gutm&uuml;tig entgegnete: &bdquo;Ja, ja, det is hier eene
-Jaljenbande. Sie hatten det Aas man den Nickel nich jeben sollen.&ldquo;
-Er ahnte nicht, da&szlig; es zehn Mark gewesen waren. Ich verzichtete nun
-auf das Bismarckdenkmal und andere Sehensw&uuml;rdigkeiten Berlins,
-legte mich ins Bett, schlief garnicht, und fuhr in aller Fr&uuml;he dem
-S&uuml;den zu. Seitdem bin ich mehrfach in Berlin gewesen, habe mich
-aber wohl geh&uuml;tet, J&uuml;nglinge mit oder ohne Schnupftuch an der Backe
-aus Mitleid ins Auge zu fassen. Mir ist es nicht zweifelhaft, da&szlig;
-dieses ostentative Dr&uuml;cken des Schnupftuches an die Backe ein Chanteurkniff
-war, um die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen und unter
-diesen sich alsdann eine geeignete Pers&ouml;nlichkeit f&uuml;r seine Chantage auszusuchen,
-so einen Gutm&uuml;tigen aus der Provinz, wie ich einer war. &mdash;</p>
-
-<p>Sicher ist es hohe Zeit &mdash; so schlie&szlig;t der Berichterstatter &mdash; diesem
-Verbrechertum durch Aufhebung des &sect; 175 ein Ende zu bereiten.&ldquo;</p>
-</blockquote>
-
-<p>Ich greife noch einen zweiten typischen Fall heraus,
-&uuml;ber den die Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom
-11. Nov. 1904 berichtet:</p>
-
-<blockquote>
-<p>th. Der 10. Strafkammer des Landgerichts I lag gestern wieder
-ein Fall vor, in dem ein verkommener Mensch den &sect; 175 St. G. B.
-zu <b>Erpressungsversuchen</b> benutzt hat. Der &uuml;bel beleumundete
-Arbeiter Karl R. hat einen Herrn, der im Leben nichts mit ihm
-zu tun gehabt hat, fort und fort mit Briefen bombardiert, in denen
-unter Hinweisen auf &sect; 175 allerlei aus der Luft gegriffene Behauptungen
-aufgestellt wurden und als Refrain der Versuch, Geld zu
-erlangen, deutlich durchblickte. Der Adressat hat diese Erpresserbriefe
-zun&auml;chst unber&uuml;cksichtigt gelassen, da er mit einer so schmutzigen Sache
-in gar keine Ber&uuml;hrung kommen wollte. Als aber durch diese Briefe
-fortgesetzt Beunruhigung in seine Familie getragen wurde, erstattete
-er Anzeige. Der Gerichtshof verurteilte den Angeklagten zu 3 Jahren
-Gef&auml;ngnis.</p>
-</blockquote>
-
-<p>Schlie&szlig;lich noch aus vielen einen dritten Fall, der
-ebenfalls in mehr als einer Richtung bezeichnend ist.
-Ein Homosexueller war einem Prostituierten in seine
-Wohnung gefolgt; dort angelangt, sagte der letztere mit
-eisiger Ruhe: &bdquo;Ich bin Staudenemil (Staude hei&szlig;t
-Hemd), ein bekannter Erpresser, gib Dein Portemonnaie.&ldquo;
-Nachdem er dieses erhalten, zog er seinen Rock aus,
-streifte die Hemds&auml;rmel hoch, so da&szlig; die mit obsc&ouml;nen
-T&auml;towierungen bedeckten Unterarme sichtbar wurden,
-schleppte dann den Homosexuellen am Kragen an das
-Fenster seiner im vierten Stockwerk gelegenen Wohnung
-und drohte ihn herunterzust&uuml;rzen, wenn er nicht alle
-Wertgegenst&auml;nde herausg&auml;be, die er bei sich f&uuml;hre.
-Als er sich &uuml;berzeugte, da&szlig; er nichts mehr hatte, fragte
-er ihn, wieviel Geld er zur R&uuml;ckfahrt brauche, &bdquo;schenkte&ldquo;
-ihm f&uuml;r dieselbe 50 Pfennig und &bdquo;nun&ldquo; &mdash; so fuhr er
-fort &mdash; &bdquo;kommst Du mit und saufst mit mir Knallblech
-(Champagner), jetzt bist Du mein Gast.&ldquo; Wirklich lie&szlig;
-er nicht locker, bis der Homosexuelle einen gro&szlig;en Teil
-dessen, was er von ihm &bdquo;geerbt&ldquo;, mit ihm &bdquo;verschmort&ldquo; hatte.</p>
-
-<p>Wie kommt es, da&szlig; diese gef&auml;hrlichen Subjekte so
-selten angezeigt werden? Der Homosexuelle und auch die
-meisten Normalsexuellen scheuen den Skandal, sie wissen,
-da&szlig;, wenn sie eine Anzeige erstatten, der Beschuldigte sofort
-teils aus Rache, teils zu seiner Rechtfertigung eine
-Gegenanzeige auf Grund des &sect; 175 erstattet, und wenn
-auch die wohlunterrichtete Berliner Kriminalbeh&ouml;rde seit
-der einsichtsvollen Amtsf&uuml;hrung des verstorbenen verdienten
-Kriminaldirektors von Meerscheidt-H&uuml;llessem, dem
-die Urninge der Hauptstadt zu gr&ouml;&szlig;tem Dank verpflichtet
-sind, auf die Aussagen der Erpresser und Diebe, sowie
-der Prostituierten im allgemeinen nichts gibt, so zeigen
-sich die Staatsanw&auml;lte und Richter oft weit weniger
-orientiert. Es ereignet sich oft genug, da&szlig; der Erpresser
-zwar bestraft, sein Opfer aber auch aufs schwerste kompromittiert,
-benachteiligt, in seiner Stellung vernichtet
-wird. Ich erinnere nur an den in Berlin abgeurteilten
-Chantagefall A&szlig;mann und Genossen, dessen Opfer der ungl&uuml;ckliche
-Graf H., Gro&szlig;vetter unseres Kaisers, war.
-Ja, ich habe F&auml;lle erlebt, in denen die Staatsanwaltschaft
-auf die Aussage derartiger Individuen die Anklage
-erhoben hat. Ein Fall ist mir namentlich im Ged&auml;chtnis
-geblieben.</p>
-
-<p>Ein alter, homosexueller Herr hatte einen Mann,
-dessen Bild sich im Berliner Verbrecheralbum befand,
-wegen Diebstahl angezeigt. Der wiederholt vorbestrafte
-Dieb machte eine Gegenanzeige, er sei von seinem Ankl&auml;ger
-im Schlaf vergewaltigt worden. Unglaublicherweise
-schenkte das Gericht dieser Angabe Glauben, vereidigte
-diesen Zeugen und verurteilte den Homosexuellen,
-der bereits zweimal aus &sect; 175 vorbestraft war, zu einem
-Jahr Gef&auml;ngnis. Ich war als Sachverst&auml;ndiger geladen
-und werde es nie vergessen, wie der alte Mann &mdash; ein
-H&uuml;ne von Gestalt &mdash; bei dem ihm v&ouml;llig unerwarteten
-Urteilsspruch in sich zusammensank, dann sich aufb&auml;umte
-und mit entsetzlichem, gellenden Aufschrei seinen Richtern
-das eine Wort. &bdquo;Justizm&ouml;rder&ldquo; entgegenschleuderte.</p>
-
-<p>Gewi&szlig; sind dies Ausnahmef&auml;lle, gewi&szlig; haben
-es die Homosexuellen, wie mir einmal ein hoher Staatsbeamter
-entgegenhielt und wie es ja auch aus meinen
-Schilderungen hervorgeht, in Berlin &bdquo;bereits ganz gut&ldquo;.
-Darin liegt ja aber ein Beweis mehr f&uuml;r die Unhaltbarkeit
-eines Gesetzes, das, wie sich k&uuml;rzlich ein Urning
-ausdr&uuml;ckte, &bdquo;nicht die Tat, sondern das Pech&ldquo; bestraft.
-Ich wies bereits darauf hin, da&szlig;, wenn man den
-&uuml;beraus diskreten Charakter der in Frage kommenden
-Handlungen ber&uuml;cksichtigt und in Betracht zieht, da&szlig; die
-beiden T&auml;ter, ohne die Rechte Dritter anzutasten, die Tat
-unter sich und an sich vornehmen, nur ganz ungew&ouml;hnliche
-Nebenumst&auml;nde in verschwindend seltenen Ausnahmef&auml;llen
-ein Bekanntwerden erm&ouml;glichen k&ouml;nnen.</p>
-
-<p>Und trotzdem &mdash; w&uuml;rden die Kriminalbeh&ouml;rden &mdash; auf
-der von Meerscheidt-H&uuml;llessem eingerichteten &bdquo;Berliner
-P&auml;derastenliste&ldquo; stehen mehrere tausend Namen &mdash; gegen
-die Homosexuellen so vorgehen, wie sie gegen wirkliche Verbrecher
-vorgehen, es w&uuml;rde sich in sehr kurzer Zeit die
-v&ouml;llig Undurchf&uuml;hrbarkeit der bestehenden Strafbestimmungen
-ergeben; dasselbe w&uuml;rde der Fall sein, wenn
-entsprechend der K&ouml;lner Resolution der evangelischen
-Sittlichkeitsvereine, die &bdquo;wirklich krankhaft Geborenen&ldquo;
-unter den Homosexuellen in Heilanstalten untergebracht
-werden w&uuml;rden. Ich betone, um keinen Irrtum aufkommen
-zu lassen, hier nochmals, da&szlig; es sich bei den
-Forderungen zu Gunsten der Homosexuellen lediglich um
-das handelt, <b>was erwachsene Personen in freier
-&Uuml;bereinstimmung unter einander vornehmen</b>;
-da&szlig; vor denen, die Rechte Dritter verletzen, die sich an
-Minderj&auml;hrigen vergreifen, die Gewalt anwenden, da&szlig;
-vor den Sternbergen und Dippolden die Gesellschaft gesch&uuml;tzt
-werden mu&szlig;, ist selbstverst&auml;ndlich.</p>
-
-<p>Vor einiger Zeit &auml;u&szlig;erte sich in einer Berliner
-Lehrerzeitung <a href="#fn3"><span class="small"><sup>3</sup></span></a><a name="fn3r" id="fn3r"></a> ein Lehrer, da&szlig; man in Anbetracht der
-wissenschaftlichen Forschungsergebnisse sich wohl oder &uuml;bel
-mit der Frage besch&auml;ftigen m&uuml;sse, wie die Homosexuellen
-&bdquo;auf eine den Zwecken der Gesellschaft f&ouml;rdersame Art&ldquo;
-in dieselbe einzureihen w&auml;ren.</p>
-
-<p>Ist denn diese Frage nicht l&auml;ngst gel&ouml;st?</p>
-
-<p>Wo ist in Berlin ein Kunstfreund, der sich nicht an
-der Darstellungskunst einer urnischen Trag&ouml;din, wo ein
-Musikfreund, der sich nicht am Gesange eines urnischen
-Lieders&auml;ngers erfreut h&auml;tte!</p>
-
-<p>Bist Du denn sicher, ob nicht der Koch, der Deine
-Speisen bereitet, der Friseur, der Dich bedient, ob nicht
-der Damenschneider, der Deiner Frau Kleider fertigt,
-und der Blumenh&auml;ndler, der Deine Wohnung ziert,
-urnisch empfinden?</p>
-
-<p>Vertiefe Dich in die Meisterwerke der Weltliteratur,
-durchmustere die Helden der Geschichte, wandele in den
-Spuren gro&szlig;er einsamer Denker, immer wirst Du von
-Zeit zu Zeit auf Homosexuelle sto&szlig;en, die Dir teuer sind
-und die gro&szlig; waren trotz &mdash; manche behaupten sogar
-durch &mdash; ihre Sonderart.</p>
-
-<p>Ja wei&szlig;t Du gewi&szlig;, ob unter denen, die Dir am
-n&auml;chsten stehen, die Du am z&auml;rtlichsten liebst, am meisten
-verehrst, ob nicht unter Deinen besten Freunden, Deinen
-Schwestern und Br&uuml;dern ein Urning ist?</p>
-
-<p>Kein Vater, keine Mutter kann sagen, ob nicht eines
-ihrer Kinder dem urnischen Geschlechte angeh&ouml;ren wird.</p>
-
-<p>Ich k&ouml;nnte auch hier viele Beispiele anf&uuml;hren, will
-mich jedoch auf die Wiedergabe zweier Briefe beschr&auml;nken,
-von denen der eine von einem Vater, der andere von
-einer Mutter stammt.</p>
-
-<p>Von den 750 Direktoren und Lehrern h&ouml;herer Lehranstalten,
-die im Jahre 1904 neben 2800 deutschen
-&Auml;rzten die Petition an den Reichstag unterschrieben,
-welche die Aufhebung des Urningsparagraphen fordert,
-schrieb ein Berliner P&auml;dagoge, &bdquo;da&szlig; er noch bis vor
-kurzem, unbekannt mit der in Rede stehenden Materie,
-an die Notwendigkeit des &sect; 175 geglaubt h&auml;tte; erst
-nach dem Tode eines edlen, f&uuml;r das Sch&ouml;ne, Wahre
-und Gute begeisterten J&uuml;nglings, dem die Entdeckung
-kontr&auml;rsexueller Neigungen den Revolver in die Hand
-dr&uuml;ckte, &mdash; seines Sohnes &mdash; seien ihm die Augen &uuml;bergegangen
-und aufgegangen.&ldquo; &bdquo;Ein schwergebeugter
-Vater&ldquo;, schlie&szlig;t er, &bdquo;dankt dem wissenschaftlich-humanit&auml;ren
-Komitee <a href="#fn4"><span class="small"><sup>4</sup></span></a><a name="fn4r" id="fn4r"></a> f&uuml;r sein menschenfreundliches Wirken.&ldquo;</p>
-
-<p>Und eine Mutter schreibt:</p>
-
-<blockquote>
-
-<div class="center">
-<p class="noindent">
-Hochgeehrter Herr!</p>
-</div>
-
-<p>In Anbetracht Ihrer Absicht, durch die Geburt und weiter durch
-den &sect; 175 des St. G. B. ungl&uuml;cklich gewordenen Menschen helfen zu
-wollen, erlaube ich mir, folgende Fragen an Sie zu richten, von deren
-Beantwortung das Wohl und Wehe zweier Menschen abh&auml;ngt: &bdquo;Ist
-Hoffnung vorhanden, da&szlig; der genannte Paragraph im Laufe dieses
-Winters im Reichstag zur Lesung gelangt und glauben Sie an die
-M&ouml;glichkeit der Aufhebung dieses Gesetzes? Ein mir sehr nahe stehender
-Verwandter <a href="#fn5"><span class="small"><sup>5</sup></span></a><a name="fn5r" id="fn5r"></a> geh&ouml;rt zu diesen Ungl&uuml;cklichen. Er ist ein hochbegabter
-junger Mann, der sich durch seinen rechtschaffenen, braven Charakter,
-durch seinen sittenreinen Lebenswandel die Achtung seiner Mitb&uuml;rger,
-insbesondere seiner Kollegen und Vorgesetzten in hohem Grade erworben
-hatte. Durch seine bedeutenden Kenntnisse verschaffte er sich bald eine
-gesicherte, eintr&auml;gliche Stellung, bis sich ihm das Verh&auml;ngnis nahte in
-Gestalt der abscheulichsten Erpresser. Leider war er schwach genug,
-einmal der Verf&uuml;hrung zu folgen. Nachdem er Tausende geopfert,
-und seine Gesundheit durch die fortw&auml;hrende Angst und Sorge vor
-Entdeckung untergraben war, mu&szlig;te er alles aufgeben, seine Heimat,
-Eltern und Existenz, um der Schande zu entgehen. Nach vielen
-Versuchen, sich ohne Heimatsschein in der Schweiz eine &auml;hnliche Stellung
-zu erwerben wie bisher, aber ohne Erfolg, fa&szlig;te er den Gedanken, nach
-Amerika auszuwandern. Dort wollte er sich durch eisernen Flei&szlig; und
-solidestes Leben einen neuen, bis dahin ihm fern stehenden Beruf
-gr&uuml;nden und hat auch hierin schon Examina bestanden. Aber durch
-viele Widerw&auml;rtigkeiten verliert er den Mut und setzt seine gr&ouml;&szlig;te
-Hoffnung auf die Aufhebung des bewu&szlig;ten Paragraphen. Seinen
-Vater hat inzwischen der Tod ereilt, ohne da&szlig; der einzige Sohn an
-sein Sterbelager eilen konnte, und die Mutter steht allein mit ihrem
-gro&szlig;en Herzeleid, mit der ewigen Sehnsucht nach ihrem braven ungl&uuml;cklichen
-Kinde, und ist oft der Verzweiflung nahe. Dieselbe w&uuml;rde
-Ihnen, hochgeehrter Herr, in unbegrenzter Dankbarkeit verbunden sein,
-wenn Sie ihr Hoffnung auf die Erf&uuml;llung dieses ihres gr&ouml;&szlig;ten Wunsches
-machen, oder in irgend einer Weise Rat erteilen k&ouml;nnten.&ldquo;</p>
-</blockquote>
-
-<p>Dies der Brief einer Mutter. Wem kommen bei
-diesen und &auml;hnlichen Begebenheiten nicht Goethes Worte
-in den Sinn. &bdquo;Opfer fallen hier, weder Lamm noch
-Stier, aber Menschenopfer unerh&ouml;rt&ldquo;.</p>
-
-<hr class="tiny" />
-
-<p>Wir sind am Ende unserer Wanderung, und ich
-danke dem Leser, der mir diese weite Strecke gefolgt ist,
-welche &uuml;ber so viele dunkle Abgr&uuml;nde menschlichen
-Elends, wenn auch &uuml;ber manche H&ouml;he f&uuml;hrte. Ehe wir
-uns trennen, la&szlig; mich Dir noch zwei Geschehnisse aus
-der Vergangenheit und Gegenwart berichten und eine
-Frage daran kn&uuml;pfen.</p>
-
-<p>Es war einmal ein F&uuml;rstbischof, Philipp, der residierte
-in der alten Stadt W&uuml;rzburg am Main. Es war in
-der Zeit von 1623&ndash;1631. In diesen acht Jahren lie&szlig;
-der Bischof, wie uns die Chroniken r&uuml;hmend berichten,
-900 Hexen verbrennen. Er tat es im Namen des
-Christentums, im Namen der Sittlichkeit, im Namen des
-Gesetzes und starb im Wahne, ein gutes Werk vollbracht
-zu haben.</p>
-
-<p>Wir aber, die wir wissen, da&szlig; es niemals Hexen
-gab, werden noch heute von tiefem Schauder erfa&szlig;t,
-gedenken wir dieser zu unrecht gerichteten Frauen und
-M&uuml;tter.</p>
-
-<p>In unserer guten Stadt Berlin leben zwei geistliche
-Herren, von denen der eine Philipps, der andere Runze
-hei&szlig;t. Sie sagen, sie verk&uuml;nden die Lehren des verehrungsw&uuml;rdigsten
-Meisters, der da die Worte zum Volke sprach:
-&bdquo;Wer unter Euch frei von Schuld ist, der werfe den
-ersten Stein auf sie.&ldquo;</p>
-
-<p>Wie ihre Vorg&auml;nger in den Lahmen Gezeichnete,
-in Geisteskranken Besessene und in den Seuchen Strafen
-des Himmels sahen, so sehen sie in den Homosexuellen
-Verbrecher und bezeichnen unseren Kampf f&uuml;r die Homosexuellen
-als &bdquo;ruchlose Schamlosigkeit&ldquo; (Kreissynode II
-Berlin vom 17. Mai 1904.)</p>
-
-<p>Sie w&auml;hnen ein ebenso gutes Werk zu tun, wie
-weiland F&uuml;rstbischof Philipp, wenn sie schwere Freiheitsstrafen
-f&uuml;r die Homosexuellen fordern.</p>
-
-<p>Nun pr&uuml;fe, was ich Dir von den Berliner Urningen
-erz&auml;hlte &mdash; da&szlig; alles der Wahrheit entspricht, daf&uuml;r stehe
-ich ein &mdash; erw&auml;ge es mit Deinem Verstande und Deinem
-Herzen und entscheide, wo mehr Wahrheit, mehr Liebe,
-mehr Recht, ob bei jenen M&auml;nnern der Kirche, die sich
-gewi&szlig; f&uuml;r sehr frei von Schuld halten, sonst w&uuml;rden sie
-schwerlich so viel Steine auf die Homosexuellen werfen,
-oder auf Seiten derer, die nicht wollen, da&szlig; sich die
-Opfer menschlichen Unverstandes noch hoher h&auml;ufen, die
-entsprechend den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung
-und der Selbsterfahrung vieler tausend Personen w&uuml;nschen,
-da&szlig; endlich Verkennungen und Verfolgungen aufh&ouml;ren,
-an welche die Menschheit ganz zweifellos einst mit ebenso
-tiefer Besch&auml;mung zur&uuml;ckdenken wird, wie an die Hexenprozesse
-Philipp's, des streitbaren Bischofs von Franken.
-</p>
-
-<h3>FUSSNOTEN</h3>
-
-<p><a href="#fn1r">1</a><a name="fn1" id="fn1"></a> N&auml;cke, P., Dr. Ein Besuch bei den Homosexuellen in Berlin;
-mit Bemerkungen &uuml;ber Homosexualit&auml;t. Archiv f&uuml;r Kriminalanthropologie
-und Kriminalistik. Band XV. 1904.</p>
-
-<p><a href="#fn2r">2</a><a name="fn2" id="fn2"></a> In Paris 1904 bei Albin Michet erschienen.</p>
-
-<p><a href="#fn3r">3</a><a name="fn3" id="fn3"></a> P&auml;dagogische Zeitung 33. Jahrgang Nr. 33, Berlin, 18. August
-1904, Leitartikel: Die Erziehung und das dritte Geschlecht von Paul
-Sommer.</p>
-
-<p><a href="#fn4r">4</a><a name="fn4" id="fn4"></a> Dieses 1897 begr&uuml;ndete Komitee, Sitz Charlottenburg, Berlinerstra&szlig;e
-104, hat sich die Befreiung der Homosexuellen zur Aufgabe
-gesetzt.</p>
-
-<p><a href="#fn5r">5</a><a name="fn5" id="fn5"></a> Anmerk. Wie die Dame in einem zweiten Schreiben mitteilt,
-ist dieser nahe Verwandte ihr Sohn. Von seinen Erpressern erhielt
-der Vater als Hauptanstifter 2 Jahre 9 Monate, dessen zwanzigj&auml;hriger
-Sohn, der &bdquo;Freund&ldquo; des Gefl&uuml;chteten, 1 Jahr 9 Monate Gef&auml;ngnis.</p>
-
-<hr class="minimal" />
-
-<p class="noindent">Band 1&ndash;10 der Gro&szlig;stadt-Dokumente behandeln folgende Themata:</p>
-<div class="quote">
-<p class="noindent">
- <b>1. Dunkle Winkel in Berlin</b><br />
- von Hans Ostwald.<br />
-<br />
- <b>2. Die Berliner Boh&egrave;me</b><br />
- von Julius Bab.<br />
-<br />
- <b>3. Berlins drittes Geschlecht</b><br />
- von _Dr._ Magnus Hirschfeld.<br />
-<br />
- <b>4. Berliner Tanzlokale</b><br />
- von Hans Ostwald.<br />
-<br />
- <b>5. Zuh&auml;ltertum in Berlin</b><br />
- von Hans Ostwald.<br />
-<br />
- <b>6. Sekten und Sektierer in Berlin</b><br />
- von Eberhard Buchner.<br />
-<br />
- <b>7. Berliner Kaffeeh&auml;user</b><br />
- von Hans Ostwald.<br />
-<br />
- <b>8. Berliner Banken und Geldverkehr</b><br />
- von Georg Bernhard.<br />
-<br />
- <b>9. Aus den Tiefen der Berliner Arbeiterbewegung</b><br />
- von Albert Weidner.<br />
-<br />
- <b>10. Berliner Sport</b><br />
- von Arno Arndt.<br />
-<br />
-<br />
-<b>Preis pro Band 1 Mark.</b><br />
-<br />
- Von Hans Ostwald ist ferner in 2. Auflage erschienen<br />
- <b>Berliner Nachtbilder.</b><br />
-<br />
-Zu beziehen durch alle Buchhandlungen. Verlag von Hermann Seemann
-Nachfolger, Berlin SW., Tempelhofer Ufer 29.<br />
-<br />
- Alle Rechte vom Verleger vorbehalten.<br />
- Druck von J. Harrwitz Nachfolger,<br />
- G.m.b.H., Berlin SW., Friedrichstr. 16.
- </p>
-</div>
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of Project Gutenberg's Berlins Drittes Geschlecht, by Magnus Hirschfeld
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BERLINS DRITTES GESCHLECHT ***
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-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
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-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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-To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
-and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
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-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
-Foundation
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-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
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- Chief Executive and Director
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