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-The Project Gutenberg EBook of Gespräche im Zwielicht, by
-Karin Delmar [pseud.] and Terese Robinson
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Gespräche im Zwielicht
-
-Author: Karin Delmar [pseud.]
- Terese Robinson
-
-Release Date: August 23, 2020 [EBook #63021]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESPRÄCHE IM ZWIELICHT ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-https://www.pgdp.net
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-[Illustration]
-
-
-
-
- Karin Delmar
-
- Gespräche im Zwielicht
-
-
- Gebrüder Enoch / Verlag / Hamburg
-
-
-
-
- Alle Rechte, auch das der Übersetzung, vorbehalten
-
- =Amerikanisches Copyright 1924 by Gebrüder Enoch,
- Hamburg. Printed in Germany=
-
-
- Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
-
-
-
-
-Eine Einleitung, die eigentlich das letzte Gespräch ist und deshalb am
-Anfang und am Schluß gelesen werden kann
-
-[Illustration]
-
-
-Die Leute, die Kurt Georgi nicht näher kennen und ihm seine tadellose
-Erscheinung mißgönnen, werfen gerne die nachlässige Bemerkung hin, daß
-er doch in der Hauptsache nur dekorativ wirke und eine fatale Ähnlichkeit
-mit den unsäglich vornehmen Dandys habe, wie sie die englischen
-Familienblätter und die Plakate unserer Zigarettenfirmen schmücken.
-
-Ja, ich darf nicht verschweigen, daß eine junge Dame, die ihn in einem
-Konzert mit verschränkten Armen an einer Säule lehnen sah, in den
-erstaunten Ruf ausbrach: »Also den gibt es wirklich!«
-
-Aber ich darf auch nicht verschweigen, daß Kurt Georgi, als ich ihm diese
-frohbewegten Worte hinterbrachte, mit einem gar nicht dandyhaften, sondern
-sehr herzlichen und lauten Lachen den Kopf im Sessel hintenüberwarf und
-ein übers andere Mal »Reizend!« rief.
-
-Denn er ist in Wirklichkeit gar kein Dandy.
-
-Alles dies gehört natürlich durchaus nicht hierher, es soll nur einen
-Eindruck von dem jungen Manne geben, der, soeben zu mir ins Zimmer tretend,
-mir mit etwas übertriebener Feierlichkeit das Manuskript der Gespräche im
-Zwielicht überreicht, das ich ihm zur Durchsicht geliehen hatte.
-
-Die Feierlichkeit hält nicht lange stand, er streift mit einem
-spitzbübischen Blick den kleinen Tisch, auf dem Kuchen und Zigaretten
-aufgebaut sind und fragt mit einer leisen, aber betonten Ängstlichkeit in
-der Stimme:
-
-»Soll ich am Ende auch unter die Zwielichtfreunde in dem Buch eingereiht
-werden?«
-
-»Keine Sorge,« antworte ich, »der Kreis ist geschlossen. Sie müssen
-zugeben, elf Freunde sind genug, das Publikum könnte die Geduld
-verlieren.«
-
-»Und was schlimmer ist,« setzt er hinzu, »es könnte zwölf als ein
-Dutzend auffassen.«
-
-Ich nicke. »Aber nicht wegen dieser furchtbaren Möglichkeit allein sind
-Sie ausgeschaltet worden. Es mußte ja auch einer außerhalb bleiben, um
-unbefangen urteilen zu können und mir dann --«
-
-Georgi prallt einen Schritt zurück und hebt die Hände mit einer
-entsetzten Abwehrgeste hoch. Aber ich fahre unbeirrt fort: »Sie wissen
-doch, was vom Merker geschrieben steht: Er werde so bestellt, daß weder
-Haß noch Lieben das Urteil trüben, das er fällt. -- Und ich dachte, Ihre
-wohltuend kühle Sachlichkeit --«
-
-»Sachlichkeit!« wiederholt er empört, »für dieses harte und ungerechte
-Wort will ich mich bösartig rächen, und zwar am liebsten auf der Stelle
-durch eine peinlich sachliche Kritik.«
-
-»Erst Kaffee trinken,« bitte ich, und er setzt schnell hinzu, während er
-zufrieden den Tisch überblickt: »Wobei ich nur nebenbei bemerken möchte,
-daß ich jeder Art von Bestechung zugänglich bin.«
-
-»Ich weiß,« antworte ich, »und habe deshalb Ihre Lieblingskeks backen
-lassen, die ganz dünnen, die hauchzarten und zerbrechlichen, mit einem
-Wort, die Ästheten unter den Keks.«
-
-»Reizend!« lacht Kurt Georgi, und seine länglich geschnittenen Augen
-werden ganz schmal vor Vergnügen:
-
-»Diese Erzeugnisse einer überraffinierten Kultur sind gewiß so
-bekömmlich, daß selbst die zarteste Dame ein Dutzend davon verschlingen
-kann.«
-
-»Nur elf, wie Sie wissen,« berichtige ich, »und außerdem --
-verschlingen, wie vulgär! Genießen sagt man, oder auf der Zunge zergehen
-lassen, wenn es sich um etwas so Ästhetisches und Delikates handelt.«
-
-»Wie um Ihre Gespräche hier zum Beispiel,« bemerkt er mit einer Bewegung
-nach dem Manuskript hin. »Die haben entschieden etwas, was auf der Zunge
-zergeht, und außerdem --«
-
-»O weh,« unterbreche ich ihn, »wir kommen nicht drum herum, Sie müssen
-erst Ihre Kritik loswerden, vorher schmeckt's Ihnen nicht. Aber hüten Sie
-sich, wer weiß, ob Sie nachher noch etwas bekommen.«
-
-»Ich werde nicht zu ehrlich sein,« versichert er schnell.
-
-»Darum möchte ich auch energisch bitten,« sage ich, »denn Sie
-wissen, ich gehöre zu den seltenen Menschen, die ehrlich genug sind,
-einzugestehen, daß ihnen Ehrlichkeit in den Tod verhaßt ist.«
-
-»Wundervoll, wie Sie mir die Aufgabe erleichtern,« antwortet Georgi.
-»Aber ich hätte mir auch im anderen Fall kein Gewissen aus meiner
-Unehrlichkeit gemacht. Denn es ist doch wahrhaftig ganz und gar
-gleichgültig, was man in solchen Fällen sagt. Die Kritik kann noch so
-verneinend sein, der andere hört von allem nur das Ja. Noch dazu, wenn der
-andere eine Frau ist.«
-
-»Der Anfang ist verheißungsvoll,« sage ich, und decke die Mütze über
-die Kaffeekanne, »kommen Sie also zur Sache!«
-
-»Also,« holt Kurt Georgi aus, bequem zurückgelehnt und mit beiden
-Händen die Lehnen des Sessels umspannend, »fürs erste: Ich finde die
-Idee des Buches nett und originell. In elf zwanglosen Plaudereien sind elf
-junge Männer geschildert, die nur durch die Freundschaft zu einer Frau,
-also sozusagen durch eine Art Personalunion, miteinander verbunden sind.«
-
-Ich nicke dankbar und er fährt fort: »Vor allem bewundere ich dabei, wie
-geschickt und zartfühlend Sie es verstanden haben, in diesen Gesprächen
-jede allzu prägnante Charakterschilderung der Freunde zu vermeiden.
-Das Buch hätte im anderen Fall leicht die Art eines Schlüsselromans,
-wenigstens für Ihren Kreis, annehmen können, und das wäre natürlich
-höchst unfair gewesen.«
-
-Da ich diesmal kein Zeichen des Einverständnisses gebe, setzt er mit einem
-schnellen Blick nach den Keks und einer kleinen Neigung des Kopfes hinzu:
-»Wie gesagt, ich achte Ihre Zurückhaltung.«
-
-»Sehr fein,« lobe ich. »Reden Sie nur weiter. Es ist geradezu ein
-exquisites Vergnügen, von Ihnen massakriert zu werden.«
-
-Kurt Georgi lehnt den Kopf im Sessel hintenüber und schaut einen
-Augenblick sinnend zur Stubendecke hinauf. Dann spricht er vorsichtig,
-beinah tastend weiter:
-
-»Nun könnte man ja auch sagen, und der intelligente Leser wird es
-zweifellos tun und damit das Verdienst Ihrer Zurückhaltung schmälern,
-man könnte sagen, daß Sie die Freunde nicht schärfer charakterisieren
-konnten. Zum Teil schon deshalb nicht, weil Sie sich darauf kapriziert
-haben, sie fast ohne jede Beziehung zur Außenwelt zu zeigen und alle
-in der gleichen Atmosphäre und vom gleichen Gesichtswinkel aus gesehen.
-Dieser Umstand hat unbedingt etwas, nun ja, sagen wir etwas Nivellierendes,
-und die jungen Männer, so verschiedenartig sie sein mögen, erscheinen
-daher alle wie Glieder einer --« Georgi deutet mit einer seiner
-überlebensgroßen Gesten einen weiten Kreis an -- »wie Glieder einer
-großen Familie.«
-
-»Die sie ja in einer gewissen geistigen Art auch wirklich sind,« werfe
-ich ein, doch er achtet nicht darauf und spricht lebhaft weiter, den
-Zeigefinger hebend:
-
-»Nun kommt aber eine merkwürdige Erscheinung: Zwischen all diesen
-Köpfen schaut wie im Vexierbild ein Kopf hindurch; das eine Porträt wird
-sichtbar, das Sie wahrscheinlich nicht zu zeichnen beabsichtigten, und
-das nun, ich sage beileibe nicht ›deshalb‹, das nun das einzige von
-zwingender Ähnlichkeit geworden ist: das Porträt der Frau.«
-
-»Lieber Freund,« sage ich, »wie ist das möglich? Nicht ein einziges
-Wort spricht die Frau in dem Buch über sich und ihre Empfindungen. Sie
-schweigt sich und ihr Leben ja geradezu tot, und mir scheint es jetzt
-sehr bezeichnend für das Wesen der Freundschaft zu sein, daß keiner der
-Freunde je diese Verschwiegenheit bemerkt.«
-
-»Drollig,« lächelt Kurt Georgi und streift die Asche vorsichtig von
-seiner Zigarette, »drollig, daß wir oft am Schluß Tiefen in unseren
-Werken finden, von denen wir selbst nichts geahnt haben. -- Aber
-hoffentlich ist Ihnen diese unvermutete Tiefe nicht peinlich, gnädige
-Frau, denn es ist ja sonst in dem Buch jede Spur von Gründlichkeit aufs
-Sorgsamste vermieden. Alle Dinge sind nur im Flug berührt, alle Fragen nur
-mit den Fingerspitzen angefaßt, alles schwebt sozusagen in der Luft. In
-einer sehr angenehmen, wohltemperierten, nur wenig parfümierten Luft, in
-der nicht gelacht und nicht geschrien wird, in der man nur lächelt und
-plaudert. -- Und dann, gnädige Frau --«
-
-Er setzt sich plötzlich im Sessel aufrecht und streckt mir mit einer
-verzweifelt flehenden Gebärde die Hände entgegen: »Was haben Sie sich
-um Gottes willen dabei gedacht, nicht eine Spur von Pikanterie in diese
-Gespräche zu mischen! Wie in aller Welt glauben Sie, ein Publikum zu
-finden, wenn Sie die erotischen Probleme mit einer so geradezu minutiösen
-Sauberkeit behandeln? Mein Gott, der Titel verpflichtet doch schon beinah!
-Ja, wenn Sie schon berühmt, oder wenigstens auf irgendeine sensationelle
-Art gestorben wären! -- Man liest ja schließlich auch die Droste und
-Eichendorf und Hölderlin, und neuerdings ist bei den Obersnobs Klopstock
-wieder modern geworden und wird bald so bedeutend sein wie Goethe -- aber
-lebend und unberühmt und weder pikant noch pervers! -- Unmöglich!«
-
-Und Kurt Georgi macht eine abschließende Handbewegung, die mich erledigt,
-und lehnt sich mit allen Zeichen der empörten Hoffnungslosigkeit im Sessel
-zurück.
-
-»Vielleicht lockt der Titel,« versuche ich einzuwenden. »Oder wenn man
-einen himmelschreiend neuartigen Buchdeckel machte --«
-
-»Nein, nein,« wehrt er ab, »uns bleibt nur zu hoffen, daß der eine
-oder der andere Ihrer eventuellen Leser in dem Umgehen jeder erotischen
-Pikanterie eine besonders prickelnde Nuance entdeckt. Ja, sehen Sie,«
-setzt er wie neubelebt durch diesen Hoffnungsstrahl hinzu, »das halte ich
-noch nicht für ganz ausgeschlossen.«
-
-»Diesem verständnisvollen Leser möchte ich schon im voraus dankbar die
-Hand drücken,« sage ich lachend, »und ihn unter meine Freunde einreihen,
-denn er hat richtig erkannt, daß die ungesprochenen Worte meist die
-bedeutungsvolleren sind, daß sie noch wahrer zu reden verstehen und --«
-Ich stocke, denn Kurt Georgi blickt mir, den Kopf in die Hand gestützt,
-mit einem forschenden Blick in die Augen.
-
-»Und noch feiner zu lügen,« setzt er langsam hinzu.
-
-»Nein, nein,« winke ich ein bißchen nervös ab, »ehrlich werden ist
-gegen die Abrede und in dieser Atmosphäre so wenig angebracht wie Schreien
-oder große Worte machen in diesem Buch. Die Frau hier und dort ist nun
-einmal nicht für die großen Worte geschaffen, ebensowenig wie für die
-großen Erlebnisse.«
-
-»Das weiß Gott,« nickt Georgi elegisch. »Dazu ist sie leider
-nicht trivial genug. Sie sitzt lieber wie die besonders kostbaren und
-zerbrechlichen Kunstwerke in den Museen unter einer Glasglocke oder von
-einer roten Schnur umgeben, die sie kaum bemerkbar, aber unüberwindlich
-von der Welt abschließt. Und da sie gewohnt ist, jede Arbeit im Leben von
-anderen für sich verrichten zu lassen, so läßt sie natürlich auch die
-anderen für sich erleben. -- Was übrigens sicher der höchste Grad von
-Vornehmheit ist.«
-
-»Lieber Georgi,« sage ich, »was heißt denn erleben? Müssen wir denn
-immer leibhaftig mitagieren und die Bombenrolle in dem Stück spielen? Muß
-es nicht auch Zuschauer geben, die entzückt oder schaudernd miterleben,
-was sich auf der Bühne begiebt?«
-
-»Nein,« antwortet er, »auch der Zuschauer da unten muß ein eigenes
-Leben haben, wie könnte er sonst Schauer und Entzücken fühlen? Nur
-die Wonnen, die in unserem eigenen Empfindungsbereich liegen, können uns
-erregen, und nur der Schmerz, der unserem eigenen verwandt ist, rührt uns
-zu Tränen.«
-
-»Und so weint im Grunde genommen jeder nur um sich selbst.«
-
-»Und wenn ich eine Minute lang ehrlich sein darf,« fährt Georgi fort,
-»ich glaube auch gar nicht an dies vollkommen selbstaufgegebene Miterleben
-und an die lächelnde Gleichmäßigkeit der Frau in Ihrem Buch. Viel eher
-glaube ich, daß sie in diesen Gesprächen eine schwere Enttäuschung nicht
-totschweigt, wie Sie meinten, sondern totplaudert, was ja manchmal dasselbe
-bedeutet. Und noch eher glaube ich, und sage es, selbst auf die Gefahr hin,
-bei der Verteilung der Ästhetenkeks leer auszugehen, noch eher glaube
-ich, daß sie ein ganz raffinierter kleiner Racker ist. -- Ja, ich würde
-vorschlagen,« und Kurt Georgi deutet das Folgende in seiner lebhaften
-Gebärdensprache an, »ich würde vorschlagen, an der roten Schnur in
-Manneshöhe eine Warnungstafel für geistreiche und gemütvolle junge Leute
-anzubringen: ›Hier liegen Fußangeln‹ --«
-
-»Scht! Scht!« winke ich erschrocken ab, und er setzt schnell hinzu: »Es
-war natürlich von der Frau in dem Buch die Rede.«
-
-»Das versteht sich,« antworte ich, »und ich bin glücklich über Ihr
-Urteil, so hart es ist. Denn daß diese Frau es vermocht hat, Furcht und
-Mitleid in Ihnen zu erregen, genau nach der altgriechischen Vorschrift für
-Kunstwerke, das spricht doch ungeheuer für mich und mein Buch. Es ist der
-kleine süße Kern, den ich aus Ihrer bitteren Kritik herausschäle, das
-Ja, daß ich trotz aller Verneinung höre. -- Und nun sollen Sie doch unter
-die Freunde hier aufgenommen werden, und zwar nicht als letzter, sondern
-als erster im Dutzend. Ich will unser heutiges Gespräch als Einleitung in
-das Buch setzen, denn nach einem Vorwort habe ich schon lange verzweifelt
-gesucht. Da weiß der Leser doch gleich, woran er ist, und die Sache hat
-noch das Gute, daß die Einleitung zugleich als Schlußwort gelten kann.«
-
-»Gott bewahre,« sagt Kurt Georgi entsetzt, »auf so etwas hätte man
-doch wenigstens vorbereitet sein müssen. -- Aber,« setzt er nachdenklich
-hinzu, »wenn ich auf die ökonomische Ausschlachtung meiner geistigen
-Arbeit eingehe, welche Belohnung haben Sie mir zugedacht?«
-
-Ich sehe ihm in die vor Schelmerei ganz schmal gewordenen Augen und muß
-unwillkürlich lächeln.
-
-»Ja, ja,« nickt er, »hier wäre die beste Gelegenheit, eine Pikanterie
-anzubringen, wenn ich Ihnen diesen literarischen Rat erteilen darf.«
-
-»Unmöglich!« sage ich und schiebe den kleinen Tisch mit Kaffee und
-Kuchen zwischen uns. »Was sollte der Leser von uns denken!«
-
-
-
-
-Das typische Erlebnis
-
-[Illustration]
-
-
-Wir haben lange geschwiegen, und es ist so still im Zimmer, daß das Ticken
-der Uhr schon anfängt, aufdringlich zu werden. Endlich hebt Frank Meinert
-den Kopf mit dem zerwühlten schwarzen Haar, und über sein blasses,
-meist etwas verdrossenes Gesicht geht langsam das halb verlegene, halb
-selbstironische Lächeln, das ich sehr an ihm liebe.
-
-»Weiß der Himmel,« sagt er und wirft mit einer bei ihm ungewohnt
-lebhaften Bewegung das Zigarettenrestchen in die Aschschale, »in dieser
-fabelhaften Feiertagsstille kann ich mich unmöglich auf meine Leiden
-besinnen.«
-
-»Schade,« antworte ich und schiebe ihm die Pralinés näher, »ich werde
-auf diese Weise nie erfahren, was Sie bedrückt und weshalb Sie sich seit
-ein paar Wochen so in den Wirbel des Weltlebens gestürzt haben, daß es
-fast keine festliche Veranstaltung in Hamburg gibt, bei der nicht Frank
-Meinert bleich, mürrisch und zerwühlt, ein Miniatur-Beethoven, in einer
-Saalecke hockt. -- Oder sollte zwischen diesen Dingen kein Zusammenhang
-bestehen?«
-
-Das Lächeln um Franks großen und nervös-beweglichen Mund wird lebhafter.
-»Ja,« sagt er und sucht sich bedächtig seine Lieblingspralinés heraus,
-»so ist meine Art zu leiden.«
-
-»Vernünftig,« lobe ich, »aber leider nicht neu. Jeder, der etwas auf
-seine Leiden hält, führt sie an fashionable Betäubungsstätten. Ich
-hätte von Ihnen etwas Originelleres erwartet.« -- »Ihr alter
-Fehler!« bemerkt er mürrisch und fährt nach einem kurzen Schweigen mit
-überraschend einsetzender Beredsamkeit und nervös flackerndem Gesicht
-fort:
-
-»Sie leiden an einem fundamentalen Mangel an Menschenkenntnis. Ich bin
-kein Originalitätsfex, wie Sie hartnäckig annehmen. Und es spricht auch
-wieder einmal bedauerlich wenig für Ihren psychologischen Blick, wenn Sie
-glauben, daß ich im Trocadero oder beim Bösen-Buben-Ball oder etwa bei
-den Massenmorden der Harvestehuder Gesellschaft Betäubung gesucht habe.«
-
-Und da ich ihn erwartungsvoll ansehe, fährt er langsamer fort: »Sie haben
-es wohl noch nie erfahren, wie innig man seinen Schmerz lieben kann, gerade
-inmitten der Vielen, denen man so unendlich überlegen ist.« Und leise
-setzt er hinzu: »Weil man zu den Auserwählten gehört, die leiden.«
-
-»Lieber Freund,« sage ich und stütze den Kopf in die Hand, »selbst
-auf die Gefahr hin, Ihnen eine Glücksquelle zu verschütten: Glauben Sie
-wirklich, daß es nur die Auserwählten sind, die leiden?«
-
-»Gewiß,« antwortet er eifrig, »denn zum wirklichen Unglücklichsein
-gehört ein Maß von seelischer Tiefe, das nur wenigen eigen ist. Wie
-natürlich zu jedem großen Gefühl. Nicht nur der Schmerz, auch das Glück
-will getragen sein.« Ich nicke: »Insbesondere das der anderen. An dem
-schleppen wir oft unglaublich schwer. Das eigene Glück soll sich nicht
-schwer tragen, sagt man.«
-
-Frank Meinert ist aufgestanden und geht, seiner Gewohnheit nach heftig
-rauchend und ein wenig schlurfend, im Zimmer auf und ab.
-
-»Aber die Fähigkeit zum Glück muß da sein,« sagt er vor sich hin,
-»die ganz gemeine Begabung dazu, und die ist es, die mir fehlt. -- Das
-ist das merkwürdige bei mir, und ich habe schon unendlich viel darüber
-nachgedacht: Warum habe ich nur so gar kein Talent zum Leben?«
-
-»Nicht so schlurfen!« bitte ich ein bißchen nervös und sage dann,
-während ich mir eine frische Zigarette anzünde: »Sie haben ja so
-viele andere Talente,« -- und nach einer kleinen Pause -- »wie weit ist
-eigentlich Ihr --.« -- »Ä!« unterbricht er mich mit einer Gebärde des
-Ekels, »glauben Sie vielleicht, daß ich jetzt arbeiten kann?« Und mit
-ironisch übertriebenem Pathos die Arme reckend: »Ich bin augenblicklich
-in der Periode des Erlebens!«
-
-»Natürlich,« nicke ich ihm zu, »die muß erst überwunden sein, und ich
-bin mir schon lange darüber klar, daß Arbeit wirklich nur etwas für die
-Leute ist, die nichts zu tun haben.«
-
-Frank lächelt nachsichtig und läßt sich auf dem Klavierstuhl nieder, den
-er trotz seiner eminenten Unbequemlichkeit allen anderen Sitzgelegenheiten
-vorzieht, wie überhaupt sein Wesen zwischen Trägheit und dem Hang zur
-Selbstquälerei hin und her schwankt.
-
-»Ihr Sarkasmus trifft mich nicht,« sagt er und öffnet langsam und
-zerstreut den Flügel, »es war natürlich nur von innerem, nicht von
-äußerem Erleben die Rede.« -- »Ich kenne diese Unterscheidung gar
-nicht,« antworte ich, »was wir nicht innerlich erleben, erleben wir doch
-überhaupt nicht.« -- »Erlauben Sie, wenn ich nächstens infolge der
-mangelhaften Treppenbeleuchtung in meiner Bude abstürzen und ein
-Bein brechen werde, dann nenne ich das ein äußeres und kein inneres
-Erlebnis.«
-
-»Und ich nenne das einen Beinbruch, aber ein Erlebnis nenne ich es noch
-lange nicht. Dazu könnte es nicht einmal durch eine seelische Beziehung
-erhoben werden, wie zum Beispiel durch die Tatsache, daß Sie sich gerade
-auf den Weg nach einer gewissen kleinen Konditorei --«
-
-Frank, der, wie es seine Gewohnheit ist, mit gesenkten Lidern gesessen hat,
-hebt plötzlich den Blick, und seine graugrünen Augen schillern feindselig
-zu mir herüber. Er greift ein paar harte Akkorde und wendet sich,
-plötzlich abbrechend, mit seinem spöttischsten Lächeln zu mir:
-
-»Ihre diplomatischen Übergänge, fabelhaft geschickt! -- Übrigens danke
-ich Ihnen für die Notbrücke, denn ich bin ja natürlich gekommen, um
-Ihnen zu erzählen.«
-
-Er nimmt seine Wanderung durchs Zimmer wieder auf, und ich warte eine Weile
-vergebens.
-
-»Nicht nur heute,« sagt er endlich hastig, »ich war in der letzten Woche
-schon ein paarmal deshalb hier. Sie wissen das natürlich! Frauen wissen
-bekanntlich immer alles. -- Aber es ist jedesmal wie verhext, wenn ich hier
-sitze. So, als hätte ich das alles gar nicht erlebt, wovon ich sprechen
-will, oder irgendwo drüben an einem anderen Ufer. -- Die Dinge werden
-ja immer unwirklich, sobald man sie ausspricht. Und ich habe auch schon
-geglaubt, damit fertig zu sein. Ich konnte schon darüber lächeln. -- Ä,
-das sagt nichts, man lächelt immer darüber, aber es kam schon vor, daß
-ich eine Stunde lang nicht mehr daran dachte, und das ist weiß Gott schon
-viel. Da sagen Sie jetzt das eine Wort von der kleinen Konditorei, und
-alles ist wieder da, als wäre es niemals weg gewesen. Und es hilft kein
-Sichdagegenwehren, und es macht einen schwach und muskellos, und man fragt
-sich, ob man die verfluchte Quälerei nie los wird sein Leben lang.«
-
-Und Frank Meinert steht einen Augenblick still und starrt vor sich hin,
-dann setzt er sich plötzlich ruhig und wie ausgelöscht auf seinen Stuhl.
-
-»Frank,« sage ich leise, »schelten Sie nicht so auf Ihre Schmerzen, Sie
-fühlen doch daran, daß Sie leben.«
-
-»Weiß Gott, ich fühl's!« stößt er heraus. »Aber glauben Sie
-vielleicht, daß ich großen Wert darauf lege?«
-
-Ich antworte nicht und reiche ihm die Zigaretten hinüber, und er sagt mit
-einem träumerischen Blick, der sein häßliches Gesicht plötzlich schön
-erscheinen läßt: »Den hätte ich kennen mögen, der zuerst von
-allen Menschen den Entschluß gefaßt hat, freiwillig zu gehen. Welche
-unbegreifliche Erhabenheit lag in dieser Tat, als sie zum erstenmal
-geschah!«
-
-Ich nicke, und wir sehen beide schweigend in die Wolken unserer Zigaretten.
-Endlich fährt er fort:
-
-»Ich muß manchmal geradezu vor mich hinlächeln, wenn ich daran denke,
-daß der große Baumeister bei all seiner Klugheit eine Lücke in
-seinem Gebäude gelassen hat, ein kleines Loch, durch das wir still
-hinausschlüpfen können, wenn es uns da drinnen nicht mehr gefällt.«
-
-»Ja, Frank,« sage ich nachdenklich, »das wäre eine schöne Einrichtung,
-wenn sie nicht so unvollkommen wäre. Wenn nicht die zweite Lücke fehlte,
-durch die wir still wieder hineinschlüpfen können, wenn es uns da
-draußen nicht gefällt.«
-
-»Natürlich,« antwortet er, »Sie verlangen für jede Hintertür noch
-ein Hintertürchen! Ich finde, es ist schon fabelhaft tröstlich, daß man
-einfach weggehen kann, wie man von einem Ball geht, der anfängt langweilig
-zu werden, oder so.«
-
-»Ach lieber Frank Meinert,« sage ich lachend, »wann hätten Sie das je
-getan? Wer sitzt bei jedem Fest bis zum Kehraus gähnend und fröstelnd und
-gelangweilt in einem Klubsessel und ist nicht wegzukriegen?«
-
-»Nun ja,« gibt er mit einem nachsichtigen, fast zärtlichen Lächeln zu,
-»ich muß mich einer Art Trägheit schuldig bekennen, eines Mangels an
-körperlicher Initiative, wenn Sie wollen.« -- »Ja,« seufze ich, »daher
-auch das Schlurfen. Und in Gesellschaften da sitzt sich's immer so gut im
-Klubsessel und draußen ist vielleicht scheußliches Wetter, da bleibt man
-eben. Und eigentlich tun Sie auch ganz recht daran, zu bleiben, denn
-wer kann wissen, ob nicht am Schluß etwas unglaublich Schönes, etwas
-fabelhaft Anregendes und Sensationelles kommt. Und deshalb, -- sehen Sie,
-auch deshalb schon ist's besser, man wartet bis zum Schluß.«
-
-Wir schweigen beide, und dann sage ich in die Dämmerung hinein, die
-inzwischen gekommen ist:
-
-»Ist es denn wirklich zu Ende mit Margot und Ihnen? Ist's nicht wieder nur
-ein Hinziehen, wie schon so oft?« Er schüttelt den Kopf, und ich
-spüre es wieder einmal deutlich bis zum Schmerz, daß wir nie ärmer und
-hilfloser und verlogener sind, als wenn wir mit Worten trösten wollen. Und
-es ist ganz still im Zimmer, bis ich endlich sage:
-
-»Wir erleben es alle einmal, und in jedem von uns wird etwas dadurch
-geknickt oder zerschlagen. Bei den Durchschnittsmenschen da heilt es
-schwer, es blutet nach innen, weil kein Ventil da ist. Aber bei Ihnen gibt
-es ein Ventil, Ihr Schmerz wird ausströmen und tönen, und dann wird aus
-Ihrer Arbeit erst das Werk geworden sein, das Sie uns schuldig sind. Und
-Sie wachsen über Ihre Schmerzen hinaus und fühlen doch, daß es die
-Schmerzen sind, die Ihr Leben reich gemacht haben.«
-
-Er sieht mich zerstreut an und sagt nach einem kurzen Schweigen gequält:
-»Wenn ich nur wüßte, warum es immer so kommen muß.«
-
-Und ich weiß, daß ich umsonst geredet habe. Und versuch's doch noch
-einmal: »Vielleicht gibt es einen Grund dafür, der tiefer liegt, als
-Sie ihn suchen. Vielleicht sollen Sie jetzt nicht glücklich sein, Frank
-Meinert, vielleicht sollen Sie nie auf die Art glücklich sein, weil Sie zu
-anderem bestimmt sind als zu einem bißchen Rausch, und dann im besten
-Fall zu lebenslänglichem, spießbürgerlichem Behagen. Dazu sind Sie dem
-Schicksal zu schade. Und mir auch, trotz Ihrer Sauertöpfigkeit und der
-verdrießlichen Grimassen, die Sie sich nicht abgewöhnen wollen.«
-
-Er brütet noch immer vor sich hin, aber ein bißchen wetterleuchtet's
-schon in seinem unruhigen Gesicht. »Ich weiß, daß ich nie glücklich
-sein werde,« sagt er, »und ich weiß, daß ich einsam bleiben muß. Das
-ist merkwürdig bei mir, daß ich es von jeher gefühlt habe, schon
-als Kind zwischen all den Geschwistern. Und dies immer und immer wieder
-Enttäuscht- und Einsamwerden, das wird mein Schicksal bleiben, ich weiß
-es. Es ist mein typisches Erlebnis, wie Nietzsche sagt.«
-
-Ich nicke und bin nun schon ganz beruhigt: Fürs erste hat Frank Meinert
-sein Spielzeug gefunden.
-
-»Ob ich die Einsamkeit werde tragen können?« sagt er vor sich hin, »nur
-die Größten haben es gekonnt.«
-
-»Es ist doch nur das äußere Einsamsein,« antworte ich. »Innerlich sind
-wir ja immer allein, nur daß wir's oft nicht wissen. Aber in den lichten
-Momenten, in denen wir das ganze Dasein als sinnlos, dunkel und verworren
-empfinden -- denn das sind unsere lichten Momente, Frank Meinert --, da
-wissen wir, daß wir einsam sind, wie ein Wanderer in sturmdunkler Nacht.
-Da wissen wir auch, daß aus zweien niemals eins werden kann.«
-
-»Ja,« nickt Frank langsam vor sich hin, »auf uns trifft das zu, weil wir
-Ganze sind. Halbe können vielleicht zu einem Ganzen verschmelzen, unsere
-Bestimmung ist es, allein und wir selbst zu bleiben. --
-
-Weshalb lächeln Sie?« fragt er plötzlich mißtrauisch und gereizt.
-Ich bestreite, gelächelt zu haben und drehe das Licht an, um ähnlichen
-Irrtümern vorzubeugen. Und Frank sagt leise, den Kopf in die Hand
-gestützt: »So kommt man also früh zur Resignation.«
-
-Jetzt lächle ich wirklich: »Ach nein, lieber Freund, so leicht kommt man
-nicht zur Resignation, wie Sie in diesem Augenblick glauben. Da müssen
-noch viele bittere Schmerzen durchgebissen und überwunden werden, ehe
-Sie dahin gelangen. Resignation, das ist die reifste Frucht an unserem
-Lebensbaum.«
-
-»Und doch die bitterste,« sagt er, und wir schweigen beide.
-
-Plötzlich sieht er nach der Uhr, steht mit einem Ruck auf und streckt mir
-seufzend die Hand hin: »Ich muß gehen. Es ist fabelhaft, wie in diesem
-Zimmer die Zeit versinkt! Schon die Tapete hat so etwas unglaublich
-Wohltuendes. Aber ich muß an die Arbeit.«
-
-Ich nicke. »Man muß sich rühren, wenn man über Wasser bleiben will.«
-
-Wir stehen einen Augenblick, und dann sagt Frank:
-
-»Ob wohl alle Menschen ihr typisches Erlebnis haben?«
-
-»Ich glaube wohl,« antworte ich, »aber die wenigsten sind sich dessen
-bewußt. Und es gibt auch viele Menschen, deren typisches Erlebnis
-›Nichterleben‹ heißt.«
-
-Und da er mich fragend ansieht, setze ich hinzu: »Das will ich Ihnen
-noch sagen, Frank, weil es vielleicht ein Trost für Sie ist: Nicht das
-Unglück, das uns trifft, schafft uns das bitterste Leid. Viel schwerer als
-das traurigste Erlebnis belasten uns die unerlebten Dinge, die Ahnung der
-tausend Möglichkeiten, für die wir uns bestimmt und gerüstet fühlen,
-und die sich uns niemals ereignen.«
-
-Es ist eine Weile still im Zimmer, dann fragt Frank Meinert:
-
-»Wann darf ich wiederkommen?«
-
-»Sobald Sie wollen,« antworte ich.
-
-»Dann darf ich Ihnen morgen ausführlich erzählen, wie das alles kam, mit
-Margot und mir?«
-
-»Gewiß,« antworte ich und lächle erst, nachdem die Tür sich hinter ihm
-geschlossen hat.
-
-
-
-
-»Hat sie wirklich so schöne Schultern?«
-
-[Illustration]
-
-
-»Gnädige Frau,« sagt der sehr hübsche junge Mann, »ich möchte Ihnen
-für mein Leben gerne etwas sagen. Es quält mich, seit ich hier sitze und
-Sie ansehe, aber ich wage es nicht.«
-
-»Ist es etwas so Schlimmes?« frage ich, »dann verschweigen Sie es
-lieber. Sie wissen, ich lasse mir meine Kaffeestunde nicht gerne stören.«
-
-»Es ist nichts Schlimmes,« antwortete er, »aber es brennt mir auf der
-Zunge.«
-
-»Dann hoffe ich, daß es eine brennend pikante Geschichte ist. Aber ich
-warne Sie, je amüsanter sie ist, um so schwerer werde ich sie für
-mich behalten können. Verschwiegenheit gehört nun einmal nicht zu
-den Tugenden, die ich von mir verlange, denn man muß auch sich selbst
-gegenüber in seinen Ansprüchen maßvoll sein.«
-
-Georg Wendringer lacht: »Zum Glück beansprucht das, was ich Ihnen sagen
-will, keine Diskretion. Es ist nicht einmal neu, und eigentlich ist es nur
-_ein_ Satz: -- Gnädige Frau, Sie sind unglaublich schön.«
-
-Ich muß hell herauslachen. »Ist das alles?«
-
-»Ja,« sagte er, »das ist alles, und es ist eine wundervolle Befreiung,
-es gesagt zu haben. Und Sie sind nicht böse?«
-
-»Ich weiß noch nicht,« antworte ich. »Es liegt natürlich eine
-Beleidigung darin, besonders in dem ›unglaublich‹, das eine böse
-Nebenbedeutung haben kann. Aber diesmal will ich's nicht so nehmen und
-Ihnen sogar gestehen, daß es für eine Frau nichts Wohltuenderes und
-Erwärmenderes gibt, als das Bewußtsein, schön gefunden zu werden. Alle
-Bewunderung für unsere Tugenden, ja sogar für unsere Liebenswürdigkeit
-und unseren Geist läßt uns kalt, denn sie ist nicht das Primäre.«
-
-»Ich sehe, Sie sind nicht böse,« sagt er vergnügt, »dann darf ich mehr
-sagen.«
-
-»Davon möchte ich abraten,« antworte ich, »jedes Mehr müßte den guten
-Eindruck stören, den Sie bis jetzt gemacht haben.« --
-
-»So finden Sie also wirklich, daß für eine Frau Schönheit das Höchste
-und Begehrenswerteste ist?« fragt er kopfschüttelnd, »von Ihnen hätte
-ich das nicht gedacht.«
-
-»Warum nicht von mir?« frage ich ein wenig erstaunt.
-
-»Nun,« erklärt er mir, indem er versucht, seine langen Glieder in eine
-etwas bequemere Lage zu bringen, »ich hatte bis jetzt immer gefunden,
-daß nur die mehr klugen als schönen Frauen dieser Ansicht waren, während
-umgekehrt die mehr schönen lieber für klug --.« Hier lache ich so
-herzlich, daß er erschrocken innehält.
-
-»Und da komme ich nun, mehr dumm als häßlich und doch immer noch klug
-genug, nicht klug sein zu wollen und werfe Ihr ganzes schönes Schema über
-den Haufen.«
-
-»Habe ich wirklich so was Dummes gesagt?« fragte er kleinlaut.
-
-»Ach nein,« beruhige ich ihn, »wenn ich von dem zweifelhaften Kompliment
-für mich absehe, war es sogar eine sehr feine Beobachtung; Sie dürfen
-sie aber nicht jeder Frau verraten, denn sie ist ein Messer, das auf beiden
-Seiten schneidet. Wahr ist es übrigens schon, die Frauen, die sich ihrer
-Schönheit bewußt sind, wollen für klug gelten, denn zwei Vorzüge sind
-mehr als einer, und man überschätzt bekanntlich den Wert dessen, was man
-nicht hat. Die Klugen sind klüger und wollen gern schön sein, denn sie
-wissen, was das bedeutet und welche Macht darin liegen kann. Kann -- sage
-ich, denn es gibt sehr viel Schönheit, die ungenutzt verlorengeht.«
-
-»Ja,« antwortet er nachdenklich, »ich kenne zum Beispiel eine junge
-Frau, die jeden Abend, wenn sie vorm Spiegel steht und ihr Haar bürstet,
-›Schade, schade!‹ sagt.«
-
-»Ich will nicht indiskret sein,« versichere ich, »welche Bemerkung
-man übrigens immer voraus schickt, wenn man eine große Indiskretion
-beabsichtigt, aber ich möchte mir doch die Frage gestatten: Hat die junge
-Frau Ihnen das selbst erzählt?«
-
-»Ich muß mit Oskar Wilde antworten,« sagt Georg Wendringer, »eine Frage
-ist niemals indiskret, nur die Antwort kann es sein.«
-
-»Gut geantwortet, Georg Wendringer und Oskar Wilde,« sage ich. »Und da
-das Fragen nicht indiskret sein kann, so frage ich also getrost weiter: Hat
-sie wirklich so schöne Schultern?«
-
-»Ich glaube, ja,« antwortet Georg mit seinem verschmitzten Lächeln und
-setzt, plötzlich ernst werdend, hinzu: »Übrigens sind wir nur sehr gut
-befreundet ohne jeden erotischen Beigeschmack.«
-
-Ich muß ein wenig ungläubig dreingeschaut haben, denn er fragt schnell:
-»Aber Sie glauben vielleicht nicht an Freundschaft zwischen Mann und
-Frau?«
-
-»O Gott!« seufze ich, »seit meinem sechzehnten Jahr quält man mich mit
-dieser Doktorfrage.«
-
-»So haben Sie gewiß genügend darüber nachgedacht und können mir das
-Resultat mitteilen.«
-
-»Nein,« sage ich, »das werde ich nicht tun, denn ich habe mir
-geschworen, auf diese Frage nicht mehr einzugehen, seitdem ein vorlauter
-Jüngling mir auf meine Antwort hin die noch heiklere Frage gestellt hat:
-Und was ist es also, was zwischen uns beiden besteht?«
-
-Georg lacht: »Ich hatte nicht die Absicht, Sie in eine solche Falle zu
-locken, aber ich möchte für mein Leben gern wissen, welche Antwort der
-naseweise junge Mann bekam.«
-
-»Die Antwort, die ich allen jungen Männern gebe, sobald sie anfangen,
-naseweis zu werden. Ich habe gelacht, ihm die Zigaretten gereicht und
-gefragt, ob er sich nicht zum Abschied noch bedienen wolle.«
-
-»Das war hart,« sagt Georg, »denn seine Frage lag so nah, die
-Gelegenheit war so günstig.«
-
-»Was wäre denn Takt,« antworte ich, »wenn es nicht die Fähigkeit und
-der Wille wäre, gute Gelegenheiten ungenützt zu lassen.«
-
-Georg seufzt: »Schweigen ist aber oft sehr schwer!« und sieht so
-bekümmert aus, daß ich lachen muß. -- »Ja, es muß sehr schwer sein.
-Allein wenn ich bedenke, wie früh man sprechen lernt und wie spät erst
-schweigen.«
-
-Georg schüttelt den Kopf: »Das stimmt nicht ganz, so hübsch es klingt.
-Denn es kann sich ja nur um das richtige Sprechen und das richtige
-Schweigen handeln, und das lernt sich wohl gleich schwer und ist im Grunde
-genommen dasselbe, denn eins ohne das andere ist wertlos und eben nicht das
-Rechte.«
-
-»Natürlich,« stimme ich bei, »Ihre Gründlichkeit hat wieder mal recht,
-und ich muß es zugeben, trotzdem Sie mir damit meine schöne Sentenz
-einfach totgeschlagen haben. Es muß auch das rechte Schweigen sein, denn
-es gibt Menschen, die nur darum für verschlossen und abgründig tief
-gelten, weil sie einfach nichts zu sagen haben, und weil man sich gar nicht
-vorzustellen vermag, daß jemand wirklich so gar nichts zu sagen haben
-kann. Ihre ganze Klugheit besteht darin, zu verbergen, daß sie nichts zu
-verbergen haben, und es kann lange dauern, bis man dahinter kommt,
-daß nichts dahinter ist, und daß sie durch und durch oberflächliche
-Geschöpfe sind. Denn, so paradox es klingen mag, es gibt wirklich
-Menschen, die durch und durch oberflächlich sind.«
-
-Georg lacht: »Sie haben heute Ihren paradoxen Tag, aber es klingt wieder
-sehr hübsch, und ich werde mich diesmal hüten, Ihre schönen Sentenzen zu
-zerstören, so leicht und verlockend es wäre.«
-
-»Ich kenne aber noch eine andere Art von falschen Schweigsamen,« fahre
-ich fort, »das sind die, die in Gesellschaft mürrisch und verschlossen
-sind und selten den Mund auftun, außer zum Gähnen, weil es nur ein
-einziges Thema für sie gibt, und das ist ihre eigene Person. Wie
-gesprächig werden sie aber, wenn sie auf dies Thema kommen! Es ist ihnen
-gleichgültig, wer zuhört, es liegt ihnen auch nichts daran, sich in ein
-besonders gutes Licht zu setzen, ja, sie verleumden sich lieber, ehe sie
-eine Gelegenheit vorbeigehen lassen, von sich zu sprechen, und sie
-können in einer Viertelstunde mehr von sich preisgeben, als andere gerne
-plaudernde Menschen in Jahren.«
-
-Georg zieht nachdenklich den Rauch seiner Zigarette ein, bläst ein paar
-Ringe und fragt dann: »Steckt nicht in den meisten von uns etwas von
-dieser Leidenschaft? Und bedeutet sie nicht eigentlich nur eine übergroße
-Ehrlichkeit?«
-
-»Nun ja,« sage ich, »insoweit ein gewisser Mangel an Schamgefühl
-Ehrlichkeit bedeutet.« -- »So meinte ich's nicht,« unterbricht er mich,
-»ich meinte die Ehrlichkeit, die darin liegt, kein Interesse heucheln zu
-wollen. Und ist es nicht fast immer Heuchelei, wenn wir vorgeben, es
-könne uns irgend etwas auf der Welt mehr interessieren als unsere eigene
-Person?«
-
-Ich muß lachen, »eine Unterhaltung zwischen mehreren solcher
-Ehrlichkeitsfanatiker stelle ich mir sehr reizvoll vor. Übrigens müssen
-sie doch bedenken, daß wir mit jedem Wort, das wir sprechen, von unserer
-eigenen Person ausgehen und deshalb, streng genommen, immer nur von
-uns reden. -- Das sollte selbst dem unersättlichsten auf diesem Gebiet
-genügen.«
-
-Wir schweigen eine Weile, und ich sehe, daß Georg, trotzdem er scheinbar
-seine Rauchringe aufmerksam verfolgt, mit einem Entschluß kämpft.
-Plötzlich blickt er auf und sagt: »Verzeihen Sie, daß ich so zerstreut
-bin -- aber -- ich habe eine Bitte.«
-
-»Zerstreutheit ist bekanntlich immer der höchste Grad von Aufmerksamkeit,
-nämlich für eine andere Sache,« antworte ich, »und deshalb dachte
-ich mir's gleich, daß Sie etwas auf dem Herzen haben. Also -- herunter
-damit.«
-
-»Ja,« sagt er ein bißchen stockend, »es ist vielleicht eine sonderbare
-Bitte, aber Sie werden mich nicht mißverstehen: Ich möchte Sie für mein
-Leben gern mit meiner Freundin bekannt machen.«
-
-Ich schweige einen Augenblick und frage dann, um Zeit zu gewinnen: »Ist es
-die junge Frau mit den schönen Schultern?«
-
-Er nickt und seine blauen Augen blicken mich treuherzig ernsthaft an.
-
-»Lieber Freund,« sage ich und drücke mein Zigarettenstümpfchen langsam
-aus, »was versprechen Sie sich für Ihre Freundin und mich davon?«
-
-»Oh, sehr viel,« antwortet er lebhaft, »vor allem für Lilly. Sehen Sie,
-sie hat nicht den richtigen Verkehr, -- wenigstens ich finde das, sie
-ist ja leider ganz zufrieden damit, aber ich hoffe, wenn sie Sie
-kennenlernt --«
-
-»Hat sie denn den Wunsch geäußert?« frage ich und sehe, wie eine kleine
-Verlegenheit über sein ehrliches Gesicht schleicht.
-
-»Das nun gerade nicht,« sagt er, »es ist eigentlich mehr ein Wunsch von
-mir. Aber ich bin sicher --«
-
-»Ganz gewiß,« antworte ich, »aber wenn die junge Frau mit ihrem Verkehr
-zufrieden ist --«
-
-»Aber ich sage Ihnen ja, ihr Verkehr ist nicht der richtige,« unterbricht
-mich Georg erregt. --
-
-»Der Verkehr, mit dem man zufrieden ist, ist eigentlich immer der
-richtige,« antworte ich, »und vielleicht wäre ich ganz und gar der
-unrichtige. Sie überschätzen mich sicher, trotzdem Sie mir vor ein paar
-Minuten den Verstand so ziemlich abgesprochen haben.« -- »Das habe ich
-nicht getan,« verteidigt er sich, »Sie wissen es recht gut, und was Sie
-jetzt sagen, entspringt wieder Ihrer übergroßen Bescheidenheit!«
-
-»Bescheidenheit ist ein Ding, das ich überhaupt nicht kenne, weder bei
-mir noch bei anderen,« antworte ich, »und ich behaupte, es ist ein Wort,
-dessen Inhalt nicht existiert.«
-
-»Das ist eine kuriose Behauptung,« kopfschüttelt Georg.
-
-»Sehr einfach,« erkläre ich ihm, »entweder ein Mensch kennt seine
-Vorzüge nicht, dann ist seine Bescheidenheit nicht Bescheidenheit, sondern
-die selbstverständliche Folge seiner Selbsteinschätzung. Oder ein Mensch
-kennt seine Vorzüge, dann kann seine Bescheidenheit nichts anderes sein,
-als Heuchelei, im besten Falle Anstandsgefühl oder Rücksichtnahme auf
-Schwächere, alles, nur keine Bescheidenheit.«
-
-»Auf diese Weise läßt sich alles aus der Welt wegdisputieren,« sagt
-Georg verstimmt, »aber ich bin optimistisch genug zu behaupten, --« --
-»Ich muß Sie noch weiter ärgern,« unterbreche ich ihn lachend, »und
-behaupte, daß es mit dem Optimismus fast dieselbe Sache ist. So sicher
-Sie nämlich in dem Moment unbescheiden sind, in dem Sie sich Ihrer
-Bescheidenheit bewußt werden, so sicher sind Sie nicht mehr optimistisch
-in dem Augenblick, in dem Sie sich so nennen. -- Ich will das erst
-beweisen,« fahre ich fort, da er versucht, Einwendungen zu machen.
-
-»Optimistisch sind Sie, solange Sie die Welt schöner und besser sehen,
-als sie ist. Sobald Sie aber wissen, daß Sie die Welt besser sehen, als
-sie ist, wissen Sie auch, daß sie eigentlich schlechter ist, als Sie sie
-sehen, und mit diesem Wissen stehen Sie schon auf der anderen Seite der
-Weltanschauung und können fast für einen Pessimisten durchgehen. -- Und
-jetzt dürfen Sie antworten.«
-
-Aber Georg ist verdrießlich: »Daß ich kein Pessimist bin, weiß ich,
-trotz Ihrer philosophischen Purzelbäume, und ich verwahre mich entschieden
-dagegen.«
-
-»Weshalb denn?« frage ich, »mir sind die Pessimisten sehr viel lieber
-als die frischfröhlichen ›Lebensbejaher‹, wie es jetzt modern aber
-etwas unklar heißt. Nur über eins habe ich manchmal nachgegrübelt und
-weiß es nicht: Ist es das traurige oder das tröstliche Moment im Leben
-der Pessimisten und Skeptiker, daß Sie zum Schluß immer recht behalten?«
-
-Georg sieht mich einen Augenblick schweigend an, dann sagt er:
-
-»Sie haben mir noch keine endgültige Antwort auf meine Bitte gegeben, und
-ich müßte dümmer sein als ich bin, wenn ich nicht gemerkt hätte, daß
-all Ihr Philosophieren nur den Zweck hatte, mich davon abzulenken. Aber ich
-bestehe darauf, daß Sie --«
-
-»Lieber Herr Wendringer,« sage ich ein wenig gedehnt und greife nach
-dem Zigarettenetui, das ich ihm langsam hinüberreiche, »wollen Sie
-nicht --.«
-
-Georg ist rot geworden, er springt auf.
-
-»Jawohl -- zum Abschied, ich verstehe.«
-
-Aber schon im nächsten Augenblick geht ein spitzbübisches Lächeln über
-sein Gesicht. »Liebe gnädige Frau, ich war naseweis; aber ich hoffe, Sie
-machen mir das nicht zum Vorwurf, denn da bekanntlich die Bescheidenheit
-ins Reich der Fabel gehört, wäre es doch unbescheiden, zu verlangen, daß
-gerade ich --« -- »Jawohl,« sage ich lachend, »und ich werde bis zu
-Ihrem nächsten Besuch darüber nachgrübeln, wie es kommt, daß es zwar
-keine Bescheidenheit gibt, daß sich aber an Dreistigkeit vorerst noch kein
-Mangel fühlbar gemacht hat.«
-
-»Wann darf ich annehmen, daß Sie die Frage gelöst haben?« erkundigt
-sich Georg.
-
-»Das kommt darauf an, wie hoch Sie meinen Verstand einschätzen,«
-antworte ich, und er verbeugt sich tief und sagt galant:
-
-»Fast so hoch wie Ihre Schönheit.«
-
-
-
-
-Was man von geschmackvollen Menschen verlangen darf
-
-[Illustration]
-
-
-Ich komme von Franz Lindners Trauung und steige langsam und nachdenklich
-die Treppe der eleganten schwiegerelterlichen Villa hinunter. Neben, vor
-und hinter mir drängt sich die Schar der übrigen Gäste, und plötzlich
-sagt jemand halblaut in der Nähe meines Ohres: »Eine schöne Leich'.«
-
-Ich blicke ein wenig empört zur Seite und gerade in Doktor Paulsens
-blasses und scharfes Gesicht.
-
-»Noch nicht auf der Treppe,« wehre ich ab. »Wissen Sie nicht, daß es
-guter Ton ist, erst vor dem Haus anzufangen?«
-
-»Wohin gehen wir?« fragt er unten angelangt und sieht mir durch seinen
-Kneifer ernst und erwartungsvoll ins Gesicht. Ich muß lachen.
-
-»Ich hatte die Absicht, allein zu gehen. Hab' allerlei durchzudenken
-und durchzufühlen. Ein Freund, der einem soeben endgültig aus der Hand
-geglitten ist, Sie verstehen --«
-
-Paulsen zuckt die Achseln. »Ich erlaube mir zu bemerken, daß uns die
-Dinge meist nur aus der geöffneten Hand gleiten.«
-
-»Nun ja,« antworte ich, »aber manchmal rät der Verstand, die Hand
-rechtzeitig zu öffnen.«
-
-Paulsen verzieht das Gesicht zu einer wehmütig-spöttischen Grimasse.
-»Tja, ja, der Verstand!« bemerkt er tiefsinnig, und ich fahre fort:
-
-»Übrigens können Sie auch mitkommen, denn wenn ich mir's recht
-überlege, sind Sie einer der wenigen Menschen, mit denen sich's fast
-ebensogut geht wie allein.«
-
-Er zieht den Hut und streckt mir abschiednehmend die Hand hin: »Nach
-diesem Hymnus auf die Einsamkeit --«
-
-»Ach, keine Fissimatenten,« sage ich und schiebe ihn mit dem Ellenbogen
-vorwärts, »kommen Sie mit. Sie wissen ja, es ist ein schönes Ding um die
-Einsamkeit, aber man muß einen haben, dem man sagen kann: ›Es ist ein
-schönes Ding um die Einsamkeit‹!«
-
-»Gut und weise!« lobt er und geht langsam neben mir weiter. »Nur
-daß Sie mich damit zum Spiegel Ihrer schönen Gefühle erniedrigen! Und
-außerdem hätten Sie an Stelle des unpersönlichen Fürworts unbedingt
-›die Frau‹ sagen müssen, denn wir Männer ertragen die Einsamkeit auch
-ohne Spiegel.«
-
-»Das ist ein unliebenswürdiger Zug von euch,« behaupte ich, »und
-außerdem glaube ich's nicht. Ihr braucht euer Publikum so gut wie wir.«
-
-»Ja,« antwortet er, »aber nur von Zeit zu Zeit. Verhältnismäßig
-selten. -- Eine Frau kann aber nicht leben ohne Spiegel. Sie kann weder
-Kunst noch Natur allein genießen, sie braucht immer einen, der ihre
-Bewunderung bewundert. Ja, ich behaupte sogar, eine Frau allein in einem
-Zimmer, in dem sie weder gehört noch gesehen werden kann, hört auf zu
-existieren. Sie erlischt wie eine Kerze im luftleeren Raum.«
-
-»Hören Sie, Paulsen,« sage ich und bleibe stehen, »wirken Trauungen
-immer so beunruhigend auf Sie? Dann hätten Sie mich doch lieber allein
-gehen lassen sollen, selbst auf die Gefahr hin, daß ich wie eine Kerze im
-luftleeren Raum verlösche.«
-
-»Man muß sich austoben,« brummt er.
-
-»Und damit scheint einer der seltenen Momente gekommen zu sein, in denen
-selbst der Mann ein Publikum braucht. Was hat Sie übrigens, wenn ich
-fragen darf, in diese erfrischende Stimmung versetzt? Vielleicht der
-famose Geistliche, gegen den Franz sich noch bis zum letzten freien Atemzug
-gewehrt hat und von dem er mir eben noch schnell und mit seiner wütendsten
-Grimasse zuflüstern mußte, daß er ein idiotischer Wanderprediger sei!
-Wobei mir nur eines unklar geblieben ist: warum gerade Wanderprediger?«
-
-»Es fiel ihm wohl im Moment nichts Beschimpfenderes ein,« vermutet
-Paulsen. »Aber der ist ja nur nebenbei, gewissermaßen als ein Symbol
-dieser ganzen irrsinnigen Heiraterei.«
-
-»Wieso irrsinnig?« frage ich sanft. »Ich habe noch nie eine Heirat
-gesehen, die -- wenigstens von einer Seite aus -- von so idealer
-Vernünftigkeit getragen war wie diese. Man könnte sagen, Herz und
-Verstand halten sich bei Franz die Wage, und sieht fast die zwei
-gleichstehenden Schalen vor sich. Von Gertruds Seite muß übrigens
-wirklich nur leidenschaftliche Liebe vorliegen, denn soviel ich mir auch
-den Kopf zerbreche, sogenannte Verstandesgründe für diese Heirat sind
-nicht aufzufinden.
-
-Aber Paulsen, Sie können sagen, was Sie wollen und lächeln, wie Sie
-wollen, für euch Männer gibt es ja allerlei Glücksmöglichkeiten und
-allerlei Arten von Vernunftheiraten, aber für uns gibt es nur eine Art von
-Glück und nur eine Vernunftheirat, und das ist die Heirat aus Liebe.«
-
-Paulsen lächelt grimmig: »Es gibt für euch Frauen nur einen absolut
-sicheren Weg zum Unglücklichwerden: das ist eine Heirat aus sogenannter
-leidenschaftlicher Liebe. Mit einem ungeliebten oder gleichgültigen Mann
-kann eine Frau ja ein ähnliches Ziel erreichen, aber der Weg ist nicht
-halb so sicher. Da gibt es noch Seitenpfade, in die sie abbiegen kann,
-womit ich nicht allein die illegitimen gemeint haben will. Frauenstimmrecht
-und Wohlfahrtspflege sind sogar extra dazu angelegte, gesellschaftlich
-sanktionierte Nebenstraßen. Für die leidenschaftlich liebende Frau gibt
-es aber keine Nebenstraßen, ihr Weg führt direkt und unbedingt in die
-Hölle.«
-
-»Ja, Paulsen, denn eure Unzulänglichkeit schreit zu Himmel und Hölle.
-Aber selbst wenn Sie die Liebe als Vernunftgrund verwerfen, so müssen
-Sie doch zugeben, daß sie das einzig anständige Motiv zur Eheschließung
-ist.«
-
-Aber Paulsen ist heute durchaus nicht in der Zugebelaune und erklärt
-verbissen:
-
-»Ich will Ihnen etwas sagen, gnädige Frau, es gibt nur eine anständige
-Art von Liebe, und das ist die, von der's im Volksliede heißt: ›Kein
-Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß‹, nämlich die heimliche, von
-der ›niemand nichts weiß‹. -- Und wenn zwei Menschen es über sich
-gewinnen, mündlich und schriftlich und mit Blicken und Mienen stolz vor
-aller Welt zu verkünden, daß sie einander leidenschaftlich lieben und
-deshalb heiraten wollen, so nenne ich das eine unanständige Handlung. Von
-geschmackvollen Menschen sollte man verlangen dürfen, daß sie, wenigstens
-der Welt gegenüber, die Komödie der Vernunftehe aufrechterhalten.«
-
-Hier muß ich so herzlich lachen, daß Paulsen mich durch seinen Kneifer
-erstaunt betrachtet, denn ihm ist's, wie immer, bitter ernst.
-
-»Paulsen,« sage ich, »haben Sie wirklich keine Ahnung davon, wie viele
-Komödien uns durch diese Komödie erspart blieben? -- Aber bis jetzt haben
-Sie nur um die Sache herumgeredet und mir immer noch nicht erzählt, warum
-Sie gerade heute Ihre Grantigkeit so wenig bändigen konnten, daß sie
-schon auf der Treppe mit Ihnen durchging? Und was sollte das heißen:
-›Eine schöne Leich'‹?«
-
-»Nun, das soll heißen, daß wir heute unseren guten Franz Lindner mit
-Harmoniumklängen und Feierreden sanft eingesargt und begraben haben. Nicht
-nur für uns, was selbstverständlich und nicht von Bedeutung ist, sondern
-auch für die Welt, und -- wie ich fürchte, für ihn selbst.«
-
-»Für einen Toten fand ich ihn unverhältnismäßig zufrieden und
-glücklich aussehend,« bemerke ich etwas trivial, und Paulsen fährt denn
-auch auf: »Ein Mann und noch dazu ein Künstler, der mit fünfundzwanzig
-Jahren zufrieden und glücklich aussieht, der gehört unbesehen zu den
-Toten, denn er ist das jämmerlichste von allen Geschöpfen.«
-
-»Lieber Freund,« sage ich beschwichtigend, »ich hoffe, daß das nur
-einer Ihrer bekannten rethorischen Superlative ist, die wirklich immer
-superlativischer und rethorischer werden.«
-
-Aber Paulsen schüttelt den Kopf. »Alles darf ein Künstler wollen,« sagt
-er nachdrücklich, »das Höchste und das Niedrigste, das Edelste und das
-Gemeinste, nur das armselige Glücklichsein, das darf er nicht wollen,
-das muß er den Philistern und den Weibern überlassen, sonst hat er
-ausgespielt -- versungen und vertan.«
-
-»Ich verstehe das nicht,« antworte ich. »Sollte eines Mannes großes,
-vielleicht überschwängliches Glück nicht auch Kunstwerke schaffen
-helfen?«
-
-»Glück!« sagt Paulsen und verzieht das Gesicht, als habe er unversehens
-auf ein Pfefferkorn gebissen. »Nehmen Sie bitte das Wort einmal in die
-Hand, wie Schnee wird's darin zerfließen.«
-
-Ich schüttle langsam den Kopf, aber er fährt fort: »Jawohl, ich kenne
-allerlei angenehme Dinge, die dem Glück zum Verwechseln ähnlich
-sehen. Erstens und vor allem befriedigte Eitelkeit, dann vielleicht noch
-Sorglosigkeit und Behagen. Ich kenne auch allerlei Räusche, aber immer,
-wenn man Glück dazu sagen will, zerfließen sie wie Schnee zu Wasser und
-zu Dreck. -- Nein, das sogenannte überschwängliche Glück hat noch keine
-großen Werke geschaffen, und wenn dazu überhaupt ein Empfinden helfen
-kann, dann kann es nur ein überschwängliches Leid. Aber im allgemeinen
-bin ich der prosaischen Ansicht, daß die großen Werke keine
-Stimmungsprodukte sind, sondern Arbeitsprodukte.«
-
-Wir schweigen einen Augenblick, dann fügt er hinzu: »Und wer arbeiten
-will, muß die Arme frei haben und ohne Verantwortung sein oder ohne
-Gewissen. Und wenn Kraft dazu gehört, die Einsamkeit zu ertragen, so
-gehört Größe dazu, sich als Künstler in der Zweisamkeit zu behaupten,
-die man bürgerliche Ehe nennt, und die meist alles andere als nur
-Zweisamkeit bedeutet.«
-
-»Mag sein,« antworte ich nachdenklich. »Aber glauben Sie nicht, daß
-die Unzufriedenheit und innere Einsamkeit, die Ihnen zum Künstlertum
-unerläßlich scheinen, bei Franz schnell wieder die Oberhand gewinnen
-werden, sobald das Neue, das ihn jetzt noch berauscht wie alles Neue,
-alltäglich geworden ist?«
-
-»Vielleicht,« nickt Paulsen. »Nur daß es dann nicht mehr die rechte
-Unzufriedenheit ist und nicht mehr die rechte Einsamkeit. Nicht mehr das
-Leid, das den Menschen erhebt, indem es ihn zermalmt. -- Es wird die
-ganz alltägliche Qual sein, die einen feinnervigen Menschen im Zwang des
-immerwährenden Beisammenseins mit einem anderen zerreiben muß. Wie ja
-überhaupt die Frage, ob jemand in der Ehe unglücklich wird oder nicht,
-immer nur die Frage ist, wieviel er aushalten kann, im letzten Grund also
-nichts anderes als eine Nervenfrage.«
-
-Ich nicke und lächle vor mich hin, denn Paulsens Art, die kompliziertesten
-Dinge auf die einfachste Formel zu bringen, amüsiert mich immer von neuem.
-
-»Übrigens,« fährt er fort, »ist diese Frage absolut nebensächlich,
-und es ist möglich, daß wir Franzens Anpassungsgabe und Nervenstärke
-unterschätzen; vielleicht wird er sich bald wohl fühlen in der
-Philisterei, die er dann vornehmes Bürgertum nennen wird oder so ähnlich.
-Denn Leute, die ein bißchen journalistisch verseucht sind, finden
-bekanntlich immer ein rettendes Wort.«
-
-Wir sind an der Alster angelangt und gehen eine Weile schweigend
-nebeneinander her, bis ich endlich ein wenig kleinlaut frage: »So
-wäre also für den Künstler die Frage, glücklich oder unglücklich
-verheiratet? immer nur die Frage nach dem kleineren Übel und eine
-ungelöste, wie mir scheint.«
-
-Paulsen nickt zerstreut und deutet nach der sonnenglitzernden Alster und
-den Gärten rechts und links, von denen der Duft herüberstreift.
-
-»Da ist er wieder, der große Betrüger,« sagt er, »dem wir in unserer
-Dummheit jedes Jahr von neuem auf den Leim gehen.«
-
-Ich sehe ihn fragend an, und er fährt grimmig fort: »Oder hat Ihnen der
-Frühling vielleicht schon einmal gehalten, was er Ihnen versprochen hat?«
-
-»Nein, Paulsen,« sage ich, »er hat mir noch nie gehalten, was er mir
-versprochen hat. Aber vielleicht nur deshalb nicht, weil ich nie dumm genug
-war, ihm ganz zu glauben.«
-
-»Tja, ja,« nickt Paulsen, und sein Gesicht verzieht sich wieder zu der
-wehmütig-spöttischen Grimasse, und nach einer kleinen Pause noch einmal
-langsam: »Tja, ja.«
-
-»Ich weiß, Paulsen,« sage ich seufzend und reiche ihm die Hand zum
-Abschied, denn wir sind vor meinem Hause angelangt. »Ich weiß es schon
-lange, das Dümmste, was wir haben, ist allemal unser Verstand!«
-
-
-
-
-Von klugen und törichten Jungfrauen, himmelblauen Kleidern und schlechten
-Gewohnheiten
-
-[Illustration]
-
-
-Dufaure und ich laufen durch den Wald, das heißt wir laufen nicht so, wie
-die Kinder laufen, obwohl wir's gerne möchten, aber wir gehen auch nicht
-so kur- und promenadenmäßig, wie sich's für verheiratete und ernst zu
-nehmende Leute ziemt. Denn wir sind beide ungeduldig. Wir haben schon viel
-zu lange bei der Table d'hote stillsitzen müssen, und während die anderen
-Gäste in ihren Liegestühlen schmökern und gähnen, kommt über uns
-beide manchmal das fast unbezwingliche Verlangen, ziellos in der Welt
-herumzulaufen.
-
-»Fast so, als ob wir vor etwas davonrennen müßten, dem wir doch nicht
-entgehen werden,« sagt Dufaure, und ich nicke nur und spreche dann weiter
-über das vorher begonnene Thema und höre plötzlich ganz erstaunt mir
-selbst zu, als wär's ein fremder Mensch, der da voll Eifer Vorträge über
-Kindererziehung und Volksaufklärung hält.
-
-Und mitten drin fragt Dufaure ruhig und sanft: »Wollen wir nicht lieber
-von etwas sprechen, was Sie interessiert?«
-
-Da lache ich und sage: »Sie sind ein feiner Seelenkenner, Hänschen
-Dufaure. Mir ist's wirklich im Moment vollkommen gleichgültig, ob das Volk
-aufgeklärt wird oder dumm bleibt.«
-
-»Mir nicht,« sagt er, »aber ich glaube, selbst wenn Ihnen ernstlich
-darum zu tun wäre, kämen wir der Lösung nicht näher, solange Sie
-solchen Kuddelmuddel darüber reden wie eben jetzt. Denn -- Verzeihung, das
-haben Sie wirklich getan.«
-
-»Ach Hänschen,« seufze ich, »es ist doch unglaublich gleichgültig, was
-man redet. Wenn man nur nicht zu denken braucht.«
-
-»Merkwürdig,« sagt er kopfschüttelnd, »diese Maßnahme der
-meisten, selbst der klügsten weiblichen Wesen, beim Sprechen das Denken
-auszuschalten! Übrigens begreife ich nicht, was es für Gedanken sein
-können, die Sie so quälen, denn daß Sie sich über die Kinder- und
-Volkserziehung keine Sorge machen, ist mir soeben klar geworden, während
-Sie so leidenschaftlich darüber sprachen.«
-
-Und da ich schweige, fährt er fort: »Wenn ich ganz ehrlich sein soll,
-glaube ich überhaupt nicht, daß Sie sich über irgend etwas in der Welt
-Kummer machen. Mir scheint es so, als ob das Leben vor und hinter Ihnen
-läge wie ein schöngepflegter Park, durch den Sie in wundervollen
-himmelblauen Gewändern wandeln. Und über Ihnen schwebt so etwas wie ein
-Schutzgeist, der paßt auf Ihre himmelblauen Gewänder auf.«
-
-»Hänschen,« sage ich, »Sie sind wirklich nicht dumm.«
-
-»Wie hübsch, daß Sie das finden,« antwortet er, »noch hübscher, daß
-Sie's so überzeugend sagen, denn ich halte mich manchmal für verzweifelt
-dumm. Ja, wenn ich uns zwei so betrachte, scheint mir's immer, als wären
-wir die lebendige Illustration zu der Geschichte von der klugen Jungfrau
-und dem dummen Hans. -- Sie kennen doch die Geschichte?«
-
-»Nein,« sage ich, »aber mir scheint, Sie werden sie gleich erzählen,
-sie brennt Ihnen schon auf der Zunge.«
-
-»Nur den Anfang,« sagt er zögernd, »denn die Geschichte hat noch keinen
-Schluß.«
-
-»Sie wird auch keinen bekommen,« sage ich.
-
-Und dann sehen wir uns einen Augenblick an, und dann frage ich, ob er gute
-Nachrichten von zu Hause habe.
-
-»Ich danke,« sagt er, »die Kinder kommen täglich an die Luft und sehen
-gut aus. Und Baby hat jetzt den zweiten Zahn, und die Amme will fortgehen.
-Und der Große hat gestern zweimal gehustet, aber der Doktor sagt, es ist
-nichts. -- Ich nehme an, daß Sie sich hierfür brennend interessieren.«
--- »Nicht so sehr für die Details,« antworte ich, und wir gehen eine
-Weile schweigend nebeneinander her, bis er plötzlich fragt:
-
-»Wird Ihnen das Kleid nicht über, wenn Sie es immerfort tragen?« --
-»Welches Kleid?« frage ich erstaunt. -- »Das himmelblaue,« antwortet
-er.
-
-»Mein Gott, ob es mir über wird!« seufze ich. »Aus dem himmelblauen
-Gewand ist ja schon richtig eine Zwangsjacke geworden! Aber was nützt's,
-wenn ich auch heraus will, mein Schutzgeist zieht mir's immer wieder über
-den Kopf, und so hab' ich mich abgefunden und werde himmelblau ins Grab
-steigen, verlassen Sie sich darauf, Hänschen.«
-
-»Daran glauben Sie also wie an ein unabwendbares Fatum, das Ihr Leben
-bestimmt?«
-
-»Ich glaube, daß unsere Natur das Fatum ist, das unser Leben bestimmt, --
-ein unentrinnbares Fatum.«
-
-»Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen,« zitiert er, »aber
-wie wird es, wenn unsere Natur in Konflikt gerät mit der Natur und dem
-tiefsten Wesen eines anderen, das doch für ihn ebenso lebenbestimmend sein
-muß wie unseres für uns? Wenn zum Beispiel ein Mensch, der, sagen wir,
-vom Gesetz der Trägheit regiert wird, -- ja, jetzt lachen Sie --,«
-unterbricht er sich, »aber seien Sie ehrlich: Heißt das, was wir
-Schutzgeist und Natur und Fatum nannten, nicht wirklich so ähnlich wie
-Trägheit?«
-
-»Nennen Sie es so, wenn Sie wollen,« antworte ich, »und wenn Sie noch
-einen Namen dafür brauchen. Die meisten Menschen finden sich ja leichter
-mit einer Erscheinung ab, sobald sie erst einen Namen dafür gefunden
-haben. Und so hoffe ich, daß Sie sich endlich mit meiner Trägheit
-abfinden werden.«
-
-»Hoffen Sie das ernstlich?« fragt er, und wir stehen einen Augenblick
-still und sehen einander in die Augen.
-
-»Ja,« sage ich.
-
-»Nein,« sagt er, »Sie hoffen es nicht, und Sie glauben es auch nicht.
-Denn Sie wissen, ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich abfinden und
-sich abfinden lassen. --«
-
-»Ich hoffe es doch,« antworte ich, »denn niemand kann mit dem Kopf durch
-die Wand, -- es sei denn, er gehörte zur Kategorie derer, mit denen man
-Wände einrennt, und dazu habe ich Sie nie gezählt. -- Aber jetzt sagen
-Sie mir bitte, wann wir heute Tennis spielen wollen. Vor sechs Uhr ist es
-gewiß zu heiß und um sieben geht es schon wieder zu Tisch.«
-
-Statt aller Antwort fragt Dufaure: »Haben Sie eigentlich nie geritten?«
-
-»Nein,« antworte ich, ein bißchen erstaunt, wie immer über seine
-sprunghafte Art. »Sie wissen ja, daß ich eine unnatürliche, ich möchte
-fast sagen eine traumartige Angst vor Pferden habe.« --
-
-»Dann kennen Sie vielleicht auch nicht die eigentümliche Scheu, die
-manchmal ganz plötzlich und aus unaufgeklärten Gründen so ein Tier
-befällt. -- Stellen Sie sich vor: es geht seelenruhig und brav bis zu
-einer bestimmten, ganz harmlosen Stelle. Aber an dieser Stelle macht es
-plötzlich kehrt, und keine Mühe, kein Schmeicheln und Drohen kann es
-bewegen, weiter als bis zu diesem Punkt zu gehen.«
-
-»Ich habe schon davon gehört,« antworte ich, »und die Lösung dieses
-Rätsels wäre vielleicht ein wertvoller Beitrag zur Erforschung des
-pferdlichen Seelenlebens. Mir scheint sie übrigens nicht so schwierig wie
-Ihnen. Vielleicht ist der Punkt, vor dem die Scheu besteht, doch nicht ganz
-so harmlos wie Sie glauben. Es ist ja nicht gesagt, daß zwei Wesen darin
-gleich empfinden müssen.«
-
-»Und wenn es nun gerade die Gefahr ist, die den Reiter lockt, wenn er nun
-gerade den Widerstand überwinden und diese -- meinetwegen nicht harmlose
-Stelle erreichen will. Was dann?«
-
-»Ja, was dann?« sage ich, »Sie sind ja Reiter, lieber Freund, nicht ich.
-Wäre ich der Reiter, dann umginge ich vielleicht die gefährliche Stelle
--- vielleicht, sage ich.«
-
-»Das ist kein Heldenstück,« spottet er, »weder das Umgehen noch das
-Vielleichtsagen. Und wenn nun das andere ›Vielleicht‹ einträte, und
-Sie nicht so besonnen und weise wären, nicht so ganz kluge Jungfrau, was
-machten Sie dann?«
-
-»Dann, ja dann machte ich wahrscheinlich eine große Dummheit, bei der ich
-den Kopf riskierte, oder doch wenigstens den Kragen, was auch peinlich sein
-kann.«
-
-»Und das schöne himmelblaue Gewand, -- ja, das wäre bitter.«
-
-»Nein, Hänschen,« sage ich, »bitte zu bedenken, daß ich als Reiter
-kein himmelblaues Kleid trüge und also weit weniger zu riskieren hätte
-als die kluge Jungfrau, die außerdem bekanntlich noch eine kleine Öllampe
-in der Hand trägt, deren Licht sie treulich hütet. Ich glaube, so etwas
-kommt in der Bibel vor, und ich habe diese klugen Öllampenjungfrauen von
-jeher verabscheut.«
-
-»Ja, nicht wahr?« sagt Dufaure ordentlich glücklich, »Sie finden also
-auch, daß Lampen, die nicht im richtigen Augenblick verlöschen, so recht
-eigentlich ihren Zweck verfehlt haben.«
-
-»Ich möchte mir hierüber noch kein abschließendes Urteil gestatten,«
-antworte ich, »besonders deshalb nicht, weil der rechte Augenblick immer
-eine strittige Frage sein wird. Was aber die klugen Jungfrauen im Leben
-betrifft, so bin ich unbesorgt, denn ich habe die tröstliche Erfahrung
-gemacht, daß es gar keine gibt. Sogar unsere Tischgenossin, die alte und
-magenleidende Tante, die es so genau mit ihrer Diät nimmt, und die ich
-deshalb für das Ideal einer klugen und enthaltsamen Jungfrau hielt,
-hat neulich, als ihr der Lachs gereicht wurde, tief und schmerzlich
-aufgeseufzt: ›Einmal im Leben möchte ich mit gutem Gewissen sündigen
-dürfen.‹«
-
-Wir lachen beide, und Dufaure behauptet, daß er das gute Gewissen von
-jeher für eine Erfindung der alten und magenleidenden Tanten gehalten
-habe.
-
-»Haben Sie noch nicht bemerkt, daß es immer und ewig recht haben will,
-genau so wie die alten Tanten?« fragt er.
-
-»Es hat auch immer recht,« antworte ich, »denn es spricht nur, wenn es
-recht hat, und das unterscheidet es von allen alten Tanten der Welt.«
-
-Und nach dieser Feststellung setzen wir uns auf einen kleinen Rasenabhang
-und rauchen und starren in die Luft.
-
-Auf einmal fragt Dufaure: »Spricht Ihr Gewissen nicht schon seit drei
-Wochen unaufhörlich mit Ihnen?«
-
-»Nein,« sage ich und starre weiter in die Luft.
-
-»Dann muß es recht gut erzogen sein,« behauptet er.
-
-»Finden Sie, daß ich so in Sünden wate?«
-
-»Nun,« antwortet er, »die äußere Korrektheit bedeutet oft nichts als
-die Inkorrektheit des Herzens. Aber vielleicht reagiert Ihr Gewissen nicht
-auf Unterlassungssünden.«
-
-Ich muß unwillkürlich lächeln: »Worunter also in diesem Fall meine
-unterlassenen Sünden zu verstehen wären.«
-
-Und da er mich schweigend und mit einem eigensinnigen Ausdruck ansieht,
-kann ich nicht anders, als ein altes Kinderlied zitieren, und ich sage
-leise in seine flackernden Augen hinein: »Hänschen, Hänschen, sei
-gescheit!«
-
-»Ja,« antwortet er zwischen den Zähnen und, plötzlich aufspringend:
-»Weiß auch nicht, welcher Teufel mich manchmal packt und Ihnen den
-Spaziergang durch die himmelblauen Gärten stört.«
-
-Mir kommt plötzlich eine drollige Kindheitserinnerung, und während wir
-weitergehen erzähle ich ihm:
-
-»Als meine Schwestern und ich noch klein waren, hatten wir mal ein
-sonderbares Spielzeug. Daran muß ich jetzt denken, vielleicht weil Sie
-gerade vom Teufel sprachen. Es war ein sehr hübscher, harmlos aussehender
-Kasten, dessen Schloß schwer zu finden war. Und während man danach
-suchte, berührte man jedesmal eine geheime Feder, der Kasten sprang auf,
-und ein kleiner Teufel flog heraus. -- Und wir erschraken jedesmal zu Tod,
-und einmal habe ich sogar vor Schrecken geweint. Und wir hatten es doch
-vorher gewußt, daß der Teufel darin saß und hätten doch die Hände von
-dem gefährlichen Spielzeug lassen können.«
-
-»Ja,« sagt Dufaure, »wir hätten ja die Hände von dem gefährlichen
-Spielzeug lassen können. -- Daß es nicht geschah, trotz des besseren
-Wissens, bestätigt mal wieder meinen schönen, aber traurigen Satz:
-›Klugheit schützt vor Dummheit nicht.‹ Übrigens vermute ich, daß
-Ihre Tränen schnell getrocknet waren. Es gibt ja so viele Spielsachen auf
-der Welt, und der Teufel sitzt nicht in allen.«
-
-»Sicher war ich schnell getröstet,« antworte ich, »besonders, weil ich
-als Kind oberflächlich genug war, nicht hinter jeder harmlosen Sache eine
-tiefe Symbolik zu wittern.«
-
-»Verzeihen Sie,« sagt Dufaure, »die Symbolik lag hier so nahe. Aber
-um Sie zu versöhnen, will ich Ihnen auch etwas aus meinem Kinderleben
-erzählen, wenn Sie es hören wollen.« Ich nicke und er erzählt:
-
-»Ich hatte als Kind neben vielen schlechten Gewohnheiten eine, die
-besonders fatal und gefährlich war, nämlich die Gewohnheit, mich immer
-selbst zu sehen und zu hören. Ich ging immer gleichsam neben mir her und
-beobachtete mich. Anfangs mag es eine gewollte Spielerei gewesen sein, aber
-dann wurde es zur Gewohnheit und schließlich zum Zwang. -- Auch daß ich
-mich beobachtete, beobachtete ich und so immer weiter, so daß es war,
-als stünde ich zwischen zwei Spiegeln, die sich ineinanderspiegeln und in
-denen man sich unheimlicherweise in einer endlosen Reihe sitzen, stehen und
-bewegen sieht. Sie können sich nicht denken, wie qualvoll das war -- und
-noch ist, denn es ist noch nicht vorbei. Noch keine Erregung, noch kein
-Erlebnis war stark genug, mich in mir selbst zu verlöschen, mich von mir
-selbst zu erlösen.«
-
-Dufaure schweigt einen Augenblick und setzt dann langsam hinzu:
-
-»Und ich sehne mich nach dieser Erlösung. Ich möchte mich selbst
-verlieren, -- einmal im Leben.«
-
-Wir stehen auf der kleinen Brücke und sehen hinunter, und unsere Hände
-liegen auf dem Gitter nahe beieinander, aber nicht so nahe, daß sie sich
-berühren. Und plötzlich sage ich in die Stille hinein, fast ohne es zu
-wissen und zu wollen, und meine Stimme klingt wie dünnes Glas, das im
-nächsten Augenblick zerbrechen kann:
-
-»Ich möchte mich selbst finden, -- einmal im Leben.«
-
-Und dann sprechen wir gar nichts mehr. --
-
-
-
-
-Von Märchen und Masken
-
-[Illustration]
-
-
-Ein unbeschreiblicher Reiz liegt über der Alster, wenn sie an warmen
-Sommerabenden mit unzähligen kleinen Fahrzeugen übersät ist, wenn die
-Ruder- und Segelboote, Punts und Kanus lustig durcheinanderschießen, und
-junge Gestalten in bunten Sportgewändern einander zurufen und nicken und
-plaudern und lachen und flirten, als wäre die Welt ein großer Festplatz
-und Leben der entzückendste Sport.
-
-Aber ein anderer, feinerer Reiz liegt über der Alster, wenn man an lieben
-Sommermorgenden langsam durch ihre stillen Kanäle fährt. Gärten rechts
-und links, Weiden, deren Zweige bis ins Wasser hängen, Schwäne, die
-sich langsam dem Boot nähern, und die ein leichter Ruderschlag wieder
-vertreibt. Hier und da Kinder in den Gärten und ein kleiner Hund, der ans
-Ufer kommt und bellt. Und wir gleiten an all dem vorbei, und es ist wie im
-Märchenland.
-
-»Andersens Märchen,« sage ich, und Erich Halpern sieht nach dem Ufer
-hinüber und nickt. Er sitzt an der Spitze des Punts, in weißem Sportanzug
-mit bunter Krawatte und braunem Wildledergürtel, frisch, klug und
-hamburgisch aussehend. Langsam und wie zum Spiel läßt er das leichte
-Ruder durchs Wasser gleiten, während ich mir am Boden des Fahrzeuges
-zwischen den unzähligen bunten Kissen und Polstern mein bequemes Lager
-hergerichtet habe. --
-
-»Hier müßte man Märchen erleben,« sagt er lächelnd.
-
-»Märchen erlebt man nicht,« antworte ich ein bißchen faul und blicke
-den Wölkchen meiner Zigarette nach, »man erzählt sie höchstens seinen
-Freunden.«
-
-»Womit Sie hoffentlich nicht sagen wollen, daß alle Erlebnisse, die man
-seinen Freunden erzählt, Märchen sind?« -- »Das will ich doch hoffen,«
-entgegne ich, »denn sobald sie aufhören, Märchen zu sein, sind sie schon
-Indiskretionen.«
-
-»Müssen es denn immer Liebesgeschichten sein?« fragt er lachend.
-
-»Ach bitte ja,« antworte ich, »alle anderen sind doch wirklich gar
-zu langweilig. Oder können Sie sich etwas Tödlicheres denken, als wenn
-jemand seine Abenteuer auf anderem Gebiet zum besten gibt. Beispielsweise
-Reiseerlebnisse: Man kann mir die Besteigung des Montblanc in den
-glühendsten Farben schildern, man kann mir die Kämpfe mit Buschmännern
-und Moskitofliegen noch so reizvoll ausmalen, es wird mich alles
-gleichgültig lassen der Frage gegenüber, ob die unglückliche Liebe,
-der man auf seiner Reise um die Welt entfliehen wollte, erkaltet ist oder
-nicht. Aber leider ist es die traurige Eigentümlichkeit der unglücklichen
-Lieben, daß sie auch in der Entfernung nicht erkalten.«
-
-»Haben Sie diese betrübliche Erfahrung aktiver- oder passiverweise
-gemacht?« fragt Erich, »wenn es nicht indiskret ist, sich danach zu
-erkundigen.«
-
-»Es ist indiskret,« antworte ich, »aber ich will Ihnen trotzdem
-antworten, daß ich in unglücklichen Liebesfällen meistens die leidende
-Form bevorzugt habe.«
-
-»Bei der Sie anscheinend nicht allzuviel litten,« meint er trocken.
-
-»Ach, ein Vergnügen ist auch das Unglücklichgeliebtwerden nicht,«
-antworte ich, »und vor allem ist es bedeutend schwerer, jemanden heraus
-als hinein zu verlieben.«
-
-»Vielleicht weil man sich dieser Arbeit nicht mit der gleichen Hingabe
-unterzieht,« vermutet er, und ich kann ihm nicht ganz unrecht geben. »Es
-ist eine zu langweilige und trübselige Arbeit,« nicke ich. --
-
-»Und zudem eine, die mir die moralischen Kräfte einer Frau bedeutend zu
-übersteigen scheint,« sagt Erich und beugt sich einen Augenblick nieder,
-um unter den Weidenzweigen durchzuschlüpfen, die fast bis ins Wasser
-hängen.
-
-»Ach, man kann es schon, wenn man ernstlich will,« antworte ich
-zerstreut, denn es ist zu herrlich in der grüngoldnen Dämmerung, durch
-die wir fahren, als daß ich so recht zur Unterhaltung aufgelegt sein
-könnte.
-
-»Ja,« entgegnet Erich, »man kann bekanntlich alles, was man ernstlich
-will, es fragt sich immer nur, ob man es ernstlich wollen kann. Und --
-ich muß gestehen -- ich traue einer Frau jede Selbstlosigkeit und
-Opferfreudigkeit zu, nur die eine nicht, einen Anbeter wissentlich und
-willentlich zu ernüchtern. Es wäre fast übermenschlich.«
-
-»Wenn er uns ganz gleichgültig ist,« werfe ich dazwischen; aber Erich
-antwortet: »Ein Mensch, der uns anbetet, ist uns nie ganz gleichgültig,
-und außerdem sind wir so eitel, daß uns sogar an der Schätzung der
-Menschen, an denen uns gar nichts liegt, noch viel gelegen ist. Ich weiß
-nicht, wer das einmal gesagt hat, aber es wird wohl eine Frau gewesen
-sein.«
-
-Ich nicke. »Die Ebner-Eschenbach, und sie hatte recht. Aber unbesorgt,
-die Ernüchterung wird schon selbsttätig eintreten, denn die Eitelkeit
-der Männer ist so stark, daß ihre heißeste Liebe der Gleichgültigkeit
-gegenüber erlischt. Und wenn es schon schwer ist, den Haß oder die Liebe
-zu verkleiden, -- die Gleichgültigkeit zu verbergen, ist uns einfach
-unmöglich.«
-
-»Heil, heil!« ruft Erich vergnügt, »eine der schwierigsten
-Menschheitsfragen ist gelöst, und unglücklich liebende Männer laut
-Beschluß von heute aufgehoben. O du glückliche Welt, in der sich alles so
-spielend löst.«
-
-Ich liege auf dem Rücken, die Hände unterm Kopf, und schaue in den Himmel
-und die ziehenden weißen Wolken hinein.
-
-»Mir scheint alles so spielend leicht, wenn ich auf dem Wasser bin,« sage
-ich, »fast als ob dies Gleiten und Wiegen die Körper- und Seelenschwere
-zugleich aufgehoben hätte. Und dann all die Schönheit ringsum. Nein, es
-ist mir heute schlechterdings unmöglich, unglücklich liebende Männer
-tragisch zu nehmen.« -- Erich lacht. »Wenn ich gewußt hätte, daß der
-Wassersport auch seelisch abhärtend wirkt, dann hätte ich Ihnen nicht so
-leidenschaftlich zur Anschaffung dieses Punts geraten.«
-
-»Was verlieren Sie dabei?« frage ich und drehe den Kopf nach ihm
-hin, »Sie sind ja Gott sei Dank der einzige meiner Freunde, der nicht
-unglücklich liebt, und Sie glauben nicht, wie wohltuend das auf mich
-wirkt.«
-
-»Und auf mich erst!« lacht er. »Übrigens verspreche ich Ihnen, falls
-mich das Malheur doch mal ereilen sollte, meinen Seelenschmerz männlich
-vor Ihnen zu verschließen. Denn erstens sind Sie mitleidslos --« -- »Nur
-auf dem Wasser,« werfe ich dazwischen.
-
-»Nun, Sie werden nicht leugnen, daß Sie auch auf dem festen Land die
-Leiden anderer, und wären es die schmerzlichsten, mit bedeutend mehr
-Fassung tragen als zum Beispiel --« -- »Als zum Beispiel meine eigenen,
-und wären sie auch viel geringfügiger. Aber ich behaupte, damit keine
-unrühmliche Ausnahme zu machen, denn -- wenn Sie mir ein unpoetisches Wort
-in dieser poetischen Umgebung gestatten wollen, -- der eigne Rock ist uns
-allen immer noch bedeutend näher als andrer Leute Hemd. -- Übrigens,
-lieber Erich, glauben Sie ja nicht, mir jemals Ihre Seelenstimmung oder
-Verstimmung verbergen zu können. Sie sind durchsichtig wie Glas --«
-
-»Ich werde eine undurchdringliche Maske wählen,« verspricht er.
-
-»Ungefähr so, wie einer meiner Bekannten, der immer wenn er
-Unannehmlichkeiten erlebt hat, fröhlich trällernd zu seiner Frau
-ins Zimmer kommt, um sie über seinen Seelenzustand zu täuschen. Sie
-erschrickt denn auch jedesmal zu Tod, wenn sie sein Trällern hört.«
-
-»Wie schade,« sagt Erich, »auf diesen liebenswürdigen Trick werde ich
-also schon verzichten müssen. Und ich bin nun wirklich selbst neugierig,
-welche Maske ich mir vorbinden muß, um Sie zu täuschen. Was meinen Sie,
-wenn ich das Raffinement so weit triebe, mir die Durchsichtigkeit als Maske
-zu wählen?«
-
-»Eine gewisse kühle Durchsichtigkeit, ja. Das wäre ein sehr feiner Zug,
-der besondere Schlauheit verrät. Sie müssen nämlich wissen, daß der
-wahre Psychologe den Menschen am besten an der Maske erkennt, die er sich
-wählt. Und man könnte daher den sehr veralteten Spruch mit Recht dahin
-umändern: ›Ich weiß, wer du scheinen willst und sage dir, wer du
-bist‹.«
-
-»Und damit wäre die Maske wieder nur ein Teil von uns selbst, und es
-bedürfte einer zweiten und dritten, um die erste zu verbergen. Nein,«
-sagt Erich energisch, »da bin ich doch schon aus Klugheits- und
-Ventilationsgründen für offenes Visier.«
-
-»Das nützt auch nichts,« entgegne ich bekümmert, »denn es gibt
-Menschenkenner, die so niederträchtig fein sind, daß sie uns selbst ohne
-Maske durchschauen.«
-
-Erich lacht. »Sie rechnen sich dazu?«
-
-»Ach nein,« sage ich, »ich weiß mich frei von der Schwäche
-psychologischer Neugier und danke Gott täglich, daß er den Menschen
-die Gabe verliehen hat, ihre wahren Gesichter zu verbergen. Denn Erich,
-wirklich, bei Licht besehen, es ist ein Pack.«
-
-»Und nur wir beide nicht?« fragt er.
-
-»Ach, wir beide auch,« antworte ich, »aber von den Anwesenden spricht
-man nicht gern, und deshalb sagt man auch immer, sie sind ausgeschlossen.«
-
-Wir fahren eine Weile schweigend weiter, endlich sagt Erich, wie mir
-scheint, etwas verdrossen: »Eins begreife ich nicht und ärgere mich
-darüber, -- nämlich, was Sie zu dem abfälligen Urteil über Ihre
-Mitmenschen berechtigt. Die Erfahrungen, die Sie bisher gemacht haben,
-sollten doch gerade danach angetan sein --«
-
-»Lieber Freund,« unterbreche ich ihn, »was wissen Sie von meinen
-Erfahrungen, da Sie nur die Seite von mir und meinem Leben kennen, die
-Ihnen zugekehrt ist? -- Aber selbst, wenn Sie recht hätten, wäre es doch
-nichts als Bestechlichkeit, wenn ich Welt und Menschen deshalb im rosigen
-Schein sehen wollte, weil mir's gut geht, und weil man mich nach mancherlei
-Richtung hin verwöhnt hat. Es wäre eine ziemlich oberflächliche
-Bestechlichkeit, deren ich mich nicht schuldig machen will; trotzdem
-ich mich ganz gewiß nicht für unbestechlich halte. -- Ebensowenig wie
-irgendeinen Menschen auf der Welt.«
-
-Erich schüttelt ungeduldig den Kopf: »Ich weiß, daß es Ihre Gewohnheit
-ist, große Worte gelassen auszusprechen, aber ich glaube, dies große
-Wort von der Bestechlichkeit aller Erdenkinder werden Sie doch nicht
-aufrechterhalten können. Sie werden trotz Ihrer pessimistischen
-Weltanschauung zugeben müssen, daß es Menschen unter uns gibt, die
-niemand bestechen kann.«
-
-»Ja,« sage ich, »das gebe ich ohne weiteres zu. Niemand kann sie
-bestechen, weil niemand ihnen den Preis bieten kann, für den sie zu haben
-wären. Ich spreche natürlich nicht von Geld, denn es gibt ja Leute genug,
-die so viel Geld haben, daß sie damit nicht zu ködern sind. -- Aber wir
-alle haben Wünsche, die so brennend und tief sind, daß wir für ihre
-Erfüllung unsere Ehre und unsere sogenannte Seligkeit über Bord
-würfen. -- Da aber ein Mensch dem anderen niemals das geben oder auch nur
-versprechen kann, was dieses Opfer lohnt, so bleiben wir unbestochen bis an
-unser Lebensende, Gott sei's geklagt. --«
-
-»Vielleicht Gott sei gelobt,« meint Erich altklug, »denn wir wissen es
-ja, daß erfüllte Wünsche meist eine grausame Strafe sind. -- Und doch,«
-fährt er nachdenklich fort, »Sie haben recht. Trotzdem wir es wissen,
-wir gäben Ehre und Seligkeit und ein paar Jahre unseres Lebens für die
-Erfüllung.«
-
-»Ja,« antworte ich zögernd, »Ehre und Seligkeit gewiß, -- aber ein
-paar Jahre meines Lebens? -- Oder,« füge ich plötzlich ganz erleichtert
-hinzu, »wenn es vielleicht ein paar aus meiner Vergangenheit sein
-dürften?«
-
-Erich lacht herzlich. »So fassen Frauen das selbstverständlich immer auf,
-wenn sie für irgend etwas Jahre ihres Lebens zu opfern bereit sind. --
-Aber sind Sie wirklich so ängstlich besorgt um die zukünftigen?«
-
-»Ach ja, Erich, denn es ist ohnehin immer schon später als wir glauben.«
-
-Erich hat das Ruder eingezogen, und wir treiben jetzt in dem kleinen,
-fast ganz von Gärten eingeschlossenen See langsam im Kreise. Ich habe die
-Zigarette über Bord geworfen und die Hände um die Knie geschlungen.
-
-»Wissen Sie, Erich,« seufze ich, »es ist sonderbar mit dem Altwerden, es
-ist das leichteste und das schwerste Ding zugleich.« Er nickt. -- »Aber
-mir ist's doch immer so, als müßte es nicht sein, daß fast alle Menschen
-vom dreißigsten Jahr an geistig zu schrumpfen anfangen,« sagt er, »denn
-leider tun sie das.«
-
-»Nun ja,« antworte ich, »man hält zu oft für Temperament oder
-Begabung, was nur Jugend ist und schnell verschwindet, sobald der Mann
-Amt und Brot, und die Frau einen Mann gefunden hat. Erst wenn ein Mensch
-darüber hinaus den Schwung seines Wesens bewahrt hat, kann man sagen, daß
-er echt gewesen ist. Wie ja auch die körperliche Anmut einer Frau erst
-dann mehr ist als etwas zufällig Angeflogenes, wenn sie die Jugend
-überdauert, weil sie sich immer wieder von innen heraus durch seelische
-Kräfte erneut.«
-
-»Ja,« sagt Erich seufzend, »wenn es so eine Art seelische Kosmetik oder
-Massage gäbe --«
-
-»Die gibt es sicher,« tröste ich ihn, »eine sehr gute Seelenmassage
-ist zum Beispiel schon die Liebe. Aber um Himmels willen keine glückliche,
-denn die bewirkt gerade das Gegenteil --, führt leicht zu Ehe, Schlafrock
-und Kinderkriegen, und unmerklich aber sicher ins Himmelreich der
-Philister. Aber so eine recht unglückliche Liebe, sehen Sie --«
-
-Ich breche erschrocken ab, denn Erich lächelt gar zu wehmütig und
-schelmisch zugleich.
-
-»Erich,« sage ich und starre ihn entsetzt an, »um Himmels willen, Sie
-auch?«
-
-Er wendet mir langsam sein liebes und ehrliches Gesicht zu und nickt ...
-
-»Wie habe ich meine Maske getragen?« fragt er leise.
-
-
-
-
-»Das ist nun mal mein Fimmel --«
-
-[Illustration]
-
-
-Die Mittagstafel im Sanatorium für Nervöse und Überarbeitete geht ihrem
-Ende zu. Ja, der Doktor ist sogar schon aufgestanden, und während ein Teil
-der Gäste noch mit dem Pudding beschäftigt ist, steht er, die Hände
-auf die Lehne gestützt, hinter seinem Stuhl im Gespräch mit dem großen
-Dichter und der interessanten Frau, die ihm täglich gegenüber sitzen.
-Er spricht lebhaft und angeregt, bricht aber plötzlich mittendrin ab,
-überfliegt die Tafel mit einem zerstreuten Blick, der scheinbar nichts
-aufnimmt und zieht sich zurück, ohne sich von jemandem zu verabschieden.
-Gleich darauf erheben sich auch die Gäste, und während man sich dem
-Ausgang zudrängt, vermischen sich die zwei sonst streng geschiedenen
-Tische, der Tisch der Geistigen und der Tisch der Harmlosen, und das
-Stimmengeschwirr geht lauter hin und her.
-
-»Hie weise Reden, hie Gelalle, -- ich leg' mich in die Liegehalle,« sagt
-jemand neben mir, und da ich den Schüttelreimfimmel des sehr gesprächigen
-kleinen Assessors schon seit Wochen kenne, sage ich nur gewohnheitsmäßig:
-»Schauderhaft!« und füge gleich hinzu: »Ich komme aber mit hinauf, muß
-jetzt auch liegehallen.«
-
-Bald darauf haben wir's uns mit Hilfe von Kissen und Decken in unseren
-Liegestühlen bequem gemacht, und Fritz Burmeister sagt: »Na, bei Ihnen da
-drüben am Tisch der Berufenen und Auserwählten ging's ja heute wieder mal
-verflucht kriegerisch zu. Mir dröhnen noch die Ohren. Um welche heiligsten
-Güter wogte denn der Kampf so geräuschvoll hin und her?«
-
-»Sie hatten heute Dostojewsky vor,« berichte ich seufzend und streife
-die Asche von meiner Zigarette. »Die Brüder Karamasow waren dran, und
-sie stritten darüber, ob das Buch mehr typisch russisch oder mehr
-typisch menschlich sei. Und dabei kamen sie auf das typisch Menschliche
-im allgemeinen zu sprechen, und der große und der kleine Dichter gerieten
-einander in die Haare, und da ich gerade zwischen den beiden sitze, geriet
-ich in die Gefahr, im Interesse der typischen Menschlichkeit zerquetscht
-oder erschlagen zu werden.«
-
-»Traurig, traurig,« sagt der kleine Assessor, »aber warum krakehlen
-Sie nicht mit? Das ist gewöhnlich die einzige Rettung. Ich könnte es ja
-natürlich nicht, denn ich lese keine russischen Romane. Nicht etwa aus
-irgendeinem patriotischen oder moralischen Prinzip heraus, nein einfach
-nur, weil ich die Namen darin nicht behalten kann. Wenn nämlich der eine
-Fedor Alexandrowitsch heißt und ein anständiger Mann ist, dann heißt der
-andere unfehlbar Alexander Fedorowitsch und ist ein Schurke, und ich bin
-mir am Schluß des Buches immer noch unklar darüber, wer der eine und wer
-der andere war. Aber Sie mit Ihrem glänzenden Namengedächtnis --«
-
-»Ach, darauf kommt es nicht an,« sage ich, »und Sie hätten ruhig
-mitreden können. Man kann nämlich das Blödsinnigste sagen, ohne daß
-einer es merkt. Heute tat ich nur deshalb nicht mit, weil ich essen
-wollte.«
-
-»Was sicher das typisch Menschlichste an der Sache war,« entscheidet
-er und fährt fort: »Ich begreife überhaupt nicht, wie man die
-Geschmacklosigkeit haben kann, bei Tisch Welträtsel zu lösen!«
-
-»Ach, wenn die Beefsteaks so hart sind wie gestern abend, dann löse
-ich gern mit,« erkläre ich ihm. »Es war einfach unerhört, die reinen
-Schuhsohlen! Der große Dichter war auch empört und mußte kohlensaures
-Natron hinterher nehmen.«
-
-Burmeister schweigt einen Augenblick, und ich sehe ihn erstaunt ob der
-ungewohnten Pause an. Da hebt er aber auch schon den Zeigefinger und
-deklamiert pathetisch:
-
-»Er sprach, ich bin kein Sohlenkauer, drauf nahm er Natron kohlensauer.«
--- »Schauderhaft,« sage ich, und er antwortet mit dem treuherzigen
-Sanatoriumspruch, der hier all unsere Sünden decken muß:
-
-»Das ist nun mal mein Fimmel, deshalb bin ich hier! --
-
-Übrigens,« fährt er fort, »zeigt es sich nach Ihrer Aussage wieder
-einmal deutlich, daß die Lösung des Welträtsels nur eine Magenfrage
-ist, und wer weiß, wie nahe wir morgen mit Hilfe des Beefsteaks
-der endgültigen Entscheidung kommen. -- Wie verhält sich aber Ihre
-Tischgesellschaft zu dem schwierigen Problem der gleichzeitigen geistigen
-und leiblichen Ernährung?«
-
-»Sie löst es spielend,« antworte ich. »Der große Dichter spricht immer
-kauend, wodurch der Sinn seiner Reden nicht klarer wird, der kleine ist
-für sehr reichliche Nahrungsaufnahme, aber er beeilt sich kolossal,
-schiebt mir oder seiner Nachbarin zur Linken schnell seine abgegessenen
-Teller hin und stürzt sich kopfüber ins Gespräch. Der Doktor ißt ja
-überhaupt fast nichts aus lauter Zerstreutheit und ist zufrieden und
-glücklich, wenn er, wie jener sagenhafte Heinrich, jeden Mittag wenigstens
-einen Dichter im Topf hat.«
-
-»Erlauben Sie,« wendet Burmeister höflich ein, »es war ein Huhn, das
-jener sagenhafte und ziemlich weltfremde Heinrich jeden Sonntag im Topf
-seiner Untertanen zu sehen wünschte; und ich hege einen zu großen Respekt
-vor allem, was sich dichtend betätigt, um diese Verwechslung gutheißen zu
-können. -- Ich als simpler Bürger --«
-
-»Ich bitte Sie, ein preußischer Regierungsassessor,« erinnere ich ihn,
-aber er wehrt nervös ab: »Ach bitte, bitte! Ich bin, wie Sie wissen, ohne
-jeden Standeshochmut. Und überhaupt, preußischer Assessor, das höre ich
-gern! Welche gräßlichen Vorstellungen knüpfen sich an dieses Wort! Ein
-unsympathischer und streberhafter Geselle ohne Gemüt und Idealismus, so
-leben wir in jedem deutschen Roman, so laufen wir durch jedes deutsche
-Drama.
-
-Immer müssen wir die undankbaren Episodenrollen spielen, sind sozusagen
-die Schlagschatten, durch die die Lichtgestalt des Helden um so leuchtender
-erscheint. Und ich weiß nicht einmal, warum die Volksseele auf diese
-frevelhafte Weise vergiftet wird. -- Wir sind eben die Stiefkinder der
-Literatur,« setzt er in so tragischem Ton hinzu, daß ich gerührt
-werde und ihm verspreche, demnächst ein Drama zu schreiben, das
-eine Ehrenrettung sämtlicher Assessoren der Welt mit besonderer
-Berücksichtigung Preußens werden solle.
-
-»Ich danke Ihnen,« antwortet er und verbeugt sich, soweit der Liegestuhl
-es zuläßt. »Es wird eine befreiende Tat sein. -- Apropos befreiende
-Tat,« fährt er lebhaft fort, »hat sich denn immer noch niemand im
-Sanatorium dazu bereit finden können, die interessante Frau, die an Ihrer
-Tischecke da oben sitzt und in eminenter Geistigkeit macht, geräuschlos
-aus der Welt zu schaffen?«
-
-»Ach nein,« antworte ich, »Sie vergessen, daß wir leider alle noch
-nicht in dem vorgeschrittenen Stadium sind, in dem der Staatsanwalt und die
-Geschworenen auf Freisprechung erkennen müssen.«
-
-»Traurig, traurig!« sagt er und überlegt. »Was ist denn alles hier an
-schönen Sachen? Vollkommene Geistesgestörtheit? Nein. Totaler Stumpfsinn?
-Schon eher, aber das gibt höchstens lumpige mildernde Umstände.
-Vielleicht ginge es mit sinnlosen Wutanfällen. Und ich bin sicher, vor
-jedem Gerichtshof der Welt Verständnis zu finden, wenn ich behaupte, daß
-diese Trägerin eminenter Geistigkeit und noch eminenterer Dummheit
-mich täglich in sinnlose Wut versetzt, wenn sie ihre unkontrollierbaren
-indischen und chinesischen Weisen in den Himmel hebt und mit verächtlich
-herabgezogenen Mundwinkeln von dem langweiligen Moralphilister Kant, dem
-verwirrten Schwätzer Nietzsche und dem salbadernden Geheimrat Goethe
-spricht. Kein Gerichtshof der Welt --«
-
-»Tun Sie's trotzdem nicht,« unterbreche ich ihn. »Ihr Klaps ist leider
-noch nicht vorgeschritten genug, um vor den Sachverständigen zu bestehen.
-Und schließlich, was tut sie Schlimmes? Wenn sie nicht gerade ihre
-Verachtung für alles Europäische kundgibt, oder mit dem kleinen Dichter
-über Fragen des Unterbewußtseins diskutiert, ist sie harmlos. Sie spielt
-die Kosmopolitin, seitdem sie mit ihrem Mann ein paar Wochen in China war
-oder in Australien, was ja schließlich dasselbe ist. --«
-
-»Erlauben Sie mal!« fährt er entsetzt in seinem Stuhl hoch. »Ich
-meine ja nur, was den Effekt betrifft,« beruhige ich ihn. -- »Und das
-Unterbewußte, das ist nun einmal des kleinen Dichters Steckenpferd.«
-
-»Ich weiß,« sagt Burmeister bekümmert, »Ihr Tischgenosse Janssen
-hat mir erzählt, daß er ihn schon zweimal mit der Frage nach seinem
-unterbewußten Empfinden in die tödlichste Verlegenheit versetzt hat.
-Janssen fand das gemein und anstößig, noch dazu in Gegenwart von
-Damen und nennt den kleinen Dichter seitdem nur noch ›Mayer mit dem
-Unterbewußten‹.«
-
-Hier muß ich so laut herauslachen, daß eine der Hausdamen den Kopf zur
-Tür hereinsteckt und daran erinnert, daß Ruhezeit ist, und daß man uns
-im ganzen Haus hören könne.
-
-»Das spricht für die Harmlosigkeit unserer Unterhaltung,« versichert
-Burmeister treuherzig, schiebt aber mit Rücksicht auf das ganze
-Haus unsere Stühle so dicht wie möglich zusammen und fragt mich im
-Flüsterton, ob ich Janssens Auffassung nicht sehr berechtigt fände.
-
-»Mir scheint,« sage ich, »der Gute sucht sich an der ganzen Literatur
-dafür zu rächen, daß die Worte ›Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist
-schwer‹ nicht in der Jungfrau von Orleans vorkommen, wie er neulich
-behauptet und beinahe beschworen hat.«
-
-»Sie könnten auch ganz gut da vorkommen,« verteidigt der Assessor seinen
-Freund. »Und überhaupt, Schiller oder Goethe, so feine Nuancen braucht
-man wirklich nicht zu kennen. Mich quält aber schon seit Wochen eine
-andere Frage und zwar, welchen Befähigungsnachweis Janssen erbracht hat,
-um an Ihrem Tisch aufgenommen zu werden.«
-
-»Es war wohl hohe Protektion dabei im Spiel, wie bei mir auch,« antworte
-ich. »Der Doktor glaubte, mir damit gutzutun, und dabei blicke ich doch
-immer voll Sehnsucht zu Ihnen hinüber --«
-
-Burmeister verneigt sich. »Ich meine natürlich zu Ihrem Tisch, dem Tisch
-der Harmlosen, dem Tisch der holden Gewöhnlichkeit, wie Thomas Mann alias
-Tonio Kröger sagen würde. Es ist oft so abspannend bei uns.«
-
-»Ach, glauben Sie ja nicht, daß es bei uns leichter ist,« warnt er
-eifrig. »Es ist ein aufreibendes Stück Arbeit, bis zum Beispiel jeder
-Kurgast jeden Kurgast davon überzeugt hat, was für eine vornehme
-Persönlichkeit er in Berlin oder Stettin oder Frankfurt ist, und ich weiß
-nicht, ob die Sache dadurch einfacher oder komplizierter wird, daß jeder
-nur zuhört, solange er selber redet und voll Sehnsucht diesem Moment
-entgegenlebt, solange ein anderer das Wort hat.«
-
-»Ich finde, Sie sind ein bißchen überheblich, Burmeister,« sage ich.
-»Sie müssen doch immer bedenken, daß wir uns in einem Sanatorium für
-Nervöse und Überarbeitete aufhalten.«
-
-»Ja richtig,« antwortet er, »und dabei fällt mir ein, daß ich Sie
-schon lange etwas fragen wollte, und zwar etwas sehr Plumpes und Taktloses,
-wie ich vorausschicken muß. Ich fühle mich dabei lebhaft in die Zeit
-meiner ersten Kinderkostümfeste versetzt, bei denen ich es, trotz
-mütterlicher Ermahnungen, nie unterlassen konnte, an alle mich umgebenden
-Masken mit der taktlosen Frage heranzutreten: ›Als was bist du eigentlich
-hier?‹ Was die verschiedenen Spanier, Rotkäppchen und Schornsteinfeger
-jedesmal in peinliche Verwirrung versetzte. Also, gnädige Frau, nehmen
-Sie's nicht übel, Sie sind so staunenswert unnervös, eine Wortbildung,
-die es eigentlich nicht gibt, und für die demnach kein starkes Bedürfnis
-vorzuliegen scheint, und vor dem Gedanken, daß Sie sich jemals im Leben
-überarbeitet haben, schreckt die kühnste Phantasie zurück. Also, ich
-kann nicht anders: Als was sind Sie eigentlich hier?«
-
-»Lieber Herr Burmeister,« sage ich, »ich wußte natürlich, daß diese
-Frage kommen würde, und habe mir während Ihrer schönen Einleitung
-überlegt, ob ich sie beantworten darf. Es ist nämlich ein Geheimnis dabei
-im Spiel.«
-
-»Oh, ein Geheimnis?« fragt er eifrig. »Rätsel zu lösen, war von jeher
-meine Spezialität. Hat man etwa die Absicht, Sie langsam durch kohlensaure
-Bäder, Hypnose und schwedische Heilgymnastik aus der Welt zu schaffen, um
-einer ungeheuren Erbschaft oder gemeingefährlicher Dokumente willen?
-Oder sind Sie vielleicht als Polizeispitzel tätig und beauftragt, einer
-Eheirrung aus allerhöchsten Kreisen auf die Spur zu kommen? Oder in
-diplomatischer Mission, um etwas über die Stärke unserer Militärmacht
-oder über den Stand unserer auswärtigen Beziehungen auszukundschaften?
-Oder hat man --«
-
-»Um Gottes willen Schluß!« rufe ich, »ich hänge den Hörer an. Und ich
-will's Ihnen lieber anvertrauen, ehe Sie sich ganz und gar ins Reich der
-unbegrenzten Möglichkeiten verlieren: Ich bin wirklich partiell gesund,
-ich bin nur hier, um Studien zu machen --«
-
-»Ah,« macht er verständnisvoll, »für das Drama, das eine Ehrenrettung
-der preußischen Justizbeamten werden soll. Ich muß gestehen, Sie hätten
-sich für Ihre Studien keinen besseren Platz wählen können. Und jetzt
-begreife ich auch, warum Ihr alter Freund, der Doktor, Sie mitten zwischen
-die Dichter und Denker gesetzt hat. Er nimmt an, daß die Dichtkunst eine
-Art ansteckender Krankheit sei, vielmehr ein Bazillus, der bei häufiger
-Berührung der Ellenbogen, oder so, von einem zum anderen überspringt und
-eine verheerende Wirkung ausübt. Traurig, traurig! Mich tröstet nur
-die Gewißheit, daß es Menschen gibt, die gegen die entsetzlichsten
-Krankheiten immun sind, und -- ohne Ihnen schmeicheln zu wollen -- ich
-halte Sie für immun gegen alles, was mit Dichtkunst zusammenhängt.«
-
-»Traurig, traurig!« sage ich. »So könnte ich also mit Domingo aus dem
-Don Carlos, oder wenn Sie lieber wollen aus der Iphigenie sprechen: ›Wir
-sind vergebens hier gewesen‹.«
-
-Burmeister nickt: »Vergebens vielleicht, -- umsonst sicherlich nicht.«
-
-Und ich kann nicht umhin, diesen mehr humor- als trostvollen Ausspruch
-seufzend zu bestätigen. --
-
-Aber dann deute ich nach den Bergen drüben und dem sonntagstillen Tal
-unten und sage: »Doch nicht vergebens, und wenn es nichts weiter war als
-das.«
-
-»Das ist so weit,« murrt Burmeister, »und dann immer nur ansehen!« --
-»Ja,« gebe ich zu, »man fühlt sich übergroßer Schönheit gegenüber
-immer so hilflos und hat das Gefühl, daß es nur zwei Arten von Erlösung
-gibt: man müßte sich in das Schöne hineinstürzen oder es auffressen
-können.«
-
-Burmeister hat den Arm auf die Lehne meines Sessels gestützt und blickt
-mir von unten her ernsthaft in die Augen.
-
-»Sie haben recht,« antwortet er, »und ich empfinde es mit aller
-Entschiedenheit, deren ich fähig bin: Der Kuß wäre augenblicklich die
-einzige Lösung.«
-
-Ich muß lachen: »Ich glaube, in der Juristensprache nennt man so etwas
-eine Unterschiebung; aber ich zweifle nicht daran, daß Sie hier im
-Sanatorium allerlei Verständnis für Ihre Auffassung finden.«
-
-»Die Sie nicht teilen?«
-
-»Die ich teile, -- unter Vorbehalt natürlich.«
-
-»Unter welchem Vorbehalt?«
-
-»Nun, erstens natürlich unter dem Vorbehalt der Legitimität.«
-
-»Legitime Küsse!« Er schüttelt sich. »Aber zweitens?« drängt er.
-»Auf erstens muß doch immer ein zweites folgen.«
-
-»Zweitens,« antworte ich und lehne mich soweit in meinem Liegestuhl
-zurück wie es irgend möglich ist, »zweitens will ich Ihnen mal was
-sagen, Burmeister: Sie sind neugierig. Ich habe Ihnen heute schon ein
-Geheimnis anvertraut und diese Erinnerung macht Sie kühn, um wieder mal
-aus dem Don Carlos zu zitieren.«
-
-»Du lieber Gott, kühn!« seufzt Burmeister. »Wenn Sie wüßten, wie
-wenig kühn ich in diesem Augenblick bin!«
-
-»Na also, dann ist's ja gut,« sage ich, »dann setzen Sie sich wieder
-bequem zurück, wie sich's gehört und bedenken Sie, daß nach Tisch von
-Gottes und Doktors wegen Ruhezeit ist. Und dann will ich Ihnen das zweite
-Geheimnis anvertrauen.«
-
-»Das Geheimnis Ihrer Unnahbarkeit?« fragt er.
-
-»Ja,« antworte ich, »und nun hören Sie gut zu: Die Unnahbarkeit ist
-nämlich mein Fimmel --«
-
-»Und deshalb sind Sie hier!« stößt er mit einem so herzlichen und
-lauten Jubelton heraus, daß ich ihm unbedingt den Mund zuhalten muß.
-
-
-
-
-Und da ging Karl Gerhard zur Bar --
-
-[Illustration]
-
-
-»Herein,« sage ich ein wenig erstaunt und sehe nicht gerade angenehm
-überrascht vom Buch auf, denn meine Kaffee- und Besuchsstunde ist längst
-vorbei, und in diesem, vielleicht einzigen Punkt bin ich ein bißchen
-Pedant.
-
-Und es schießt mir durch den Kopf, ob Karl Gerhard wirklich nur darum so
-unsicher und zerknirscht aussieht, wie er da in der Türe steht, oder
-ob noch etwas anderes --? Ich habe allerlei Fatales gehört in letzter
-Zeit -- --
-
-»Kommen Sie nur näher, wenn Sie schon mal da sind,« sage ich,
-»und drehen Sie das Licht an, zum Lesen ist's schon ein bissel dunkel
-geworden.«
-
-»Das finde ich nicht,« antwortet er, an der Tür stehenbleibend, »ich
-lese sogar schon von hier aus in Ihrem Gesicht mit den hochgezogenen
-Augenbrauen mein -- nun, sagen wir wenigstens -- mein gesellschaftliches
-Todesurteil.«
-
-Ich schüttle den Kopf. »Ich habe keinerlei Urteile, am wenigsten
-Todesurteile auszusprechen.«
-
-Er kommt langsam näher, bleibt aber beim Flügel stehen und sagt, die Arme
-auf das Instrument gestützt:
-
-»Es sind nicht nur die ausgesprochenen Todesurteile, die töten. Und ich
-habe in den letzten Tagen manchmal denken müssen, daß die Menschen auch
-nicht immer an ihren eigenen Gebrechen sterben. Es ist schon mancher an der
-Herzensträgheit eines anderen zugrunde gegangen.«
-
-»Gerhard!« sage ich.
-
-»Es ist nur eine theoretische Abhandlung, gnädige Frau,« antwortet er,
-»und ich will Sie nicht mit Details quälen. -- Darf ich ein paar Minuten
-bleiben?«
-
-Ich nicke. »Aber setzen Sie sich und nehmen Sie sich etwas zu tun, denn
-ich möchte dies Kapitel gern noch zu Ende lesen.«
-
-»Darf ich mich so lange am Klavier nützlich machen, bis Sie erfahren
-haben, ob der Graf sein schändliches Ziel erreichen und die Unschuld zu
-Fall bringen wird?« Und er sitzt schon am Flügel und spielt aus Mahlers
-Achter »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«.
-
-Ich klappe seufzend das Buch zu.
-
-»Ich weiß zwar noch nicht, ob der Graf sein schändliches Ziel erreichen
-wird,« sage ich, »aber daß Sie's erreicht haben, ist sicher. Also lassen
-Sie Mahler und das Vergängliche und erzählen Sie mir, was Sie heut so
-spät noch hertreibt.«
-
-»Ich hoffe, Sie haben ein Zeichen ins Buch gelegt oder sich wenigstens
-die Seitenzahl gemerkt,« sagt er bedächtig. »Oder vielmehr, ich hoffe
-es nicht, denn es stände im Widerspruch mit meiner Anschauung von der
-weiblichen Psyche. Ehe eine Frau nämlich ein Zeichen ins Buch legt oder
-im Register nachsucht, blättert sie lieber eine halbe Stunde lang seufzend
-hin und her.«
-
-»Es wird auch Frauen geben, die es anders machen,« antworte ich, »wenn
-ich auch leider von mir zugeben muß --«
-
-»Sehen Sie,« triumphiert er mit aufgehobenem Zeigefinger, »das Zeichen
-ins Buch legen ist eben ein männlicher Zug, und wenn es Frauen gibt, die
-es dennoch tun, so beweist das nur, daß sie männliche Züge aufweisen und
-sich vom Zwang des Geschlechts befreit haben.«
-
-»O Gott,« stöhne ich, »lassen Sie Weininger ruhen, wenn Sie auf meine
-Freundschaft auch nur den geringsten Wert legen.«
-
-»Gut,« lacht Karl Gerhard, »legen wir also Weininger zu Mahler, da es
-Ihnen heute so beliebt, und da die Wahl zwischen einem toten Philosophen
-und einer lebendigen Freundin keine nennenswerten Kämpfe in mir weckt.
--- Was haben Sie aber ernstlich gegen den guten Weininger einzuwenden? Der
-Umstand, daß man ihm mit der Bezeichnung eines modernen Frauenlob
-bitter unrecht täte, dürfte doch bei Ihnen nicht schwer wiegen, da Sie
-eingestandenermaßen Ihr eigenes Geschlecht nur bis zum Backfischalter
-erträglich finden?«
-
-»Vielleicht ist der weibliche Korpsgeist doch stärker in mir als man
-denken sollte,« antworte ich, »vielleicht ist's aber auch nur die
-Weiningersche Beweisführung, die Sie soeben auch anwandten; die erscheint
-mir oft so billig, daß sie eines klugen Mannes, also auch Ihrer, nicht
-würdig ist.«
-
-Er verbeugt sich: »Dank für die gute Meinung. -- Ich tue leider in
-letzter Zeit so vielerlei, was eines klugen Mannes nicht würdig ist, daß
-der harmlose Weiningersche Trick mit unterlaufen mag.«
-
-»Ja, ich habe so etwas gehört,« sage ich und schiebe ihm die Zigaretten
-hin, da die Zöpfchen, die er aus den Fransen meiner Tischdecke flicht,
-schon anfangen mich zu irritieren. Und nach einer kurzen Pause setze ich
-langsam hinzu: »Gerhard, warum machen Sie auch so dumme Geschichten?«
-
-Er bläst ein paar Ringe in die Luft, blickt ihnen nach und fragt:
-
-»Sie wissen es nicht, gnädige Frau?«
-
-Und dann plötzlich den Kopf zu mir wendend: »Sie haben keine Ahnung,
-warum ich neulich abend von Wartenbergs fortlief wie -- na, sagen wir wie
-ein wildgewordener Esel, wenn es so was gibt, -- und geradeswegs in die
-Bar, wo ich mit einem anderen Esel in einen etwas deutlichen Wortwechsel
-geriet.«
-
-»Sie sollen ihn so verprügelt haben, daß der Wirt Sie hinauswerfen
-ließ.« -- »O nein,« widerspricht Gerhard und drückt bedächtig seine
-Zigarette aus, »ich ging ganz von selbst, nachdem ich mir ein bißchen
-Luft gemacht hatte. Und ich ging stolz.« -- »Gestützt auf Emmi,«
-unterbreche ich ihn.
-
-»Hieß sie Emmi?« fragt er, »ja richtig, gestützt auf Emmi, denn
-ein Stuhlbein hatte ich doch bei der Diskussion abgekriegt. Sie sind
-gut unterrichtet, gnädige Frau.« -- »Nicht besser als alle Welt,«
-versichere ich ihn.
-
-»Und Sie wissen auch nicht besser als alle Welt, was die Veranlassung zu
-all meinen Dummheiten ist?« fragt er vorgebeugt und nach seiner Gewohnheit
-die Hände ums Knie geschlungen.
-
-»Vielleicht doch,« antworte ich, »soweit Sinnlosigkeit eine Veranlassung
-haben kann. -- Aber ich habe schon zu viele Kinder gesehen, die wild um
-sich schlugen und sich selbst Beulen in den Kopf rannten, weil man ihnen
-einen Wunsch versagen mußte oder ihnen ein gefährliches Spielzeug aus der
-Hand nahm, als daß mich Ihre Erlebnisse in der Bar und anderswo gewundert
-hätten. Ich ahnte fast so etwas, als Sie so plötzlich bei Wartenbergs
-verschwanden.«
-
-»Sie sind ja auch so klug,« lächelt er mit ironisch verzogenen
-Mundwinkeln. »Aber ob es so klug war, mir mein Spielzeug aus der Hand zu
-nehmen, -- ich weiß doch nicht. Denn darin haben Sie recht, wir sind alle
-nur einfältige Kinder, die immer etwas zum Spielen haben müssen, damit
-wir nicht schreien. Fällt uns ein Spielzeug aus der Hand, schnell ein
-neues hineingesteckt, damit wir nicht schreien. Niemand von uns kann ohne
-ein Spielzeug leben.«
-
-»Und da ging Karl Gerhard zur Bar und kaufte sich ein neues.«
-
-»Mein Gott,« antwortet er, »man nimmt, was man gerade findet.
-Wählerisch ist man in solchen Momenten nicht.«
-
-»Nun, Gott sei Dank,« sage ich, »ich sehe, daß es Äquivalente für
-alles gibt.« -- »Es gibt keine Äquivalente auf der Welt,« bemerkt
-Gerhard, »es gibt höchstens Surrogate.«
-
-»Mag sein,« gebe ich zu, »aber Surrogate tun ja auch ihre
-Schuldigkeit.« -- »Nein,« ruft er plötzlich heftig, steht auf und
-läuft quer durchs Zimmer.
-
-»Nein?« frage ich ganz naiv erstaunt und sehe ihm nach.
-
-»Nein,« wiederholt er, »und ich will nicht, daß wir uns in diese
-Bitterkeit hineinreden, aus der wir nachher nicht wieder herauskönnen. Sie
-wissen so gut wie ich, daß ich kein Äquivalent und kein Surrogat gesucht
-habe, daß ich einfach --« -- »Ja, ich weiß,« sage ich und wundere
-mich, wie weich meine Stimme klingt.
-
-Er bleibt plötzlich stehen, kommt dann näher an den Tisch und fragt:
-
-»Darf ich noch einen Augenblick bleiben?« -- »Ja,« sage ich, und er
-setzt sich und starrt vor sich hin.
-
-»Und ich hatte mir geschworen, nie mehr hierherzukommen!«
-
-»Du lieber Himmel!« sage ich, »wenn es einen Gerichtshof für all die
-Meineide gäbe, die wir uns selber schwören! -- Aber vielleicht wäre es
-doch besser gewesen, Sie hätten diesmal Ihren Schwur gehalten, wenigstens
-ein paar Wochen lang --«
-
-Er sieht mich an und schüttelt langsam den Kopf.
-
-»Denn sehen Sie,« fahre ich fort, »es gibt außer diesem Zimmer noch so
-viel Schönes auf der Welt, das zu sehen und zu genießen lohnt.«
-
-»Ach, ich verstehe,« sagt er, »eine kleine Reise oder so etwas, was
-bessere Leute in meinem Fall immer zu unternehmen pflegen. Wenigstens steht
-es so in allen schlechten Romanen der Weltliteratur, daß der unglückliche
-Held eine Reise um die Welt unternimmt und gereinigt und herrlicher denn
-je an die Stätte seiner früheren Leiden zurückkehrt. Manchmal bringt er
-sich ein Mädchen von den Fidschiinseln mit, das an Holdheit alles Lebende
-überstrahlt und die schnöde, heimische Kokette bis auf die Knochen
-blamiert. -- Es kann auch eine Geisha sein, aber das ist veraltet und
-sentimental, und die Fidschiinseln und Neuseeland sind sozusagen noch
-unberührter Boden. Vielleicht gestatten Sie, daß ich Ihnen von da aus
-eine Ansichtskarte --«
-
-»Gerhard,« sage ich, »wer bringt jetzt den bitteren Ton hinein?« Und
-nach einer kleinen Pause: »Ich finde übrigens auch, daß eine Reise als
-seelisches Heilmittel veraltet und literarisch ist. Man denkt an Goethe und
-Italien, und die ganze Literaturstunde steht vor einem auf. Und ich glaube
-auch, es ist gleichgültig, ob man da oder dort ist, solange man sich
-selber überall mit hinschleppt.« -- »Jawohl,« sagt Gerhard, »einmal
-aus der Haut fahren, das wäre noch das einzige.«
-
-»Nein, über sich selbst hinauswachsen, oder vielmehr bis zu sich selbst
-hinwachsen, -- denn Sie wissen es ja, unser wahres Selbst liegt nicht tief
-verborgen in uns, sondern hoch über uns --«
-
-Gerhard nickt langsam: »Nietzsche, und ein großes Wort. -- Aber, Gott
-sei's geklagt, sie helfen uns nicht, die großen Worte.«
-
-»Nun, dann ein kleines, wenn Sie die großen nicht lieben. Wir müssen
-versuchen, das In-uns zu ändern, wenn wir das Außer-uns nicht ändern
-können. Wir müssen versuchen, uns anders einzustellen und an den kleinen
-Dingen des Lebens Freude zu gewinnen. Glauben Sie mir, wir leben alle
-von der Hand in den Mund und müssen uns aus lauter kleinen Stücken
-und Stückchen etwas zurechtschneidern, was vor der schlimmsten Kälte
-schützt.«
-
-Karl Gerhard lehnt sich im Sessel zurück, stützt die Fingerspitzen
-gegeneinander und sagt bedächtig: »Gestatten Sie mir, zu bemerken, was
-schon der alte Fritz Reuter richtig herausgefunden hat, daß nämlich die
-Armut allemal von der Pauvreté herrührt. Wenn ich die kleinen Freuden des
-Lebens genießen könnte, dann wäre ich gesund und brauchte Ihnen nicht
-mit Jammertönen lästig zu fallen. -- Aber das ist's ja,« fährt er
-heftig fort, »von jeher haben die satten Leute den armen hungrigen Teufeln
-gesagt: ›Was klagt ihr über Hunger! Seht doch um euch und genießt die
-herrliche Natur und die Schönheiten des Lebens und der Kunst!‹ -- Und
-von jeher haben die armen Teufel dagegen geschrien: ›Macht uns erst
-satt!‹ -- Denn wer kann Michelangelo genießen und Schuberts Unvollendete
-und den Lago Maggiore, solange ihm der Hunger die Eingeweide zerreibt!«
-
-Und er legt den Kopf im Sessel hintenüber und schließt die Augen.
-
-Ich sehe ihn eine Weile schweigend an und sage dann: »Immer muß ich doch
-denken, wieviel Glückliche man machen könnte mit dem Glück, das in
-der Welt ungenutzt verlorengeht. Da sitzen Sie nun, jung und gesund und
-unabhängig und begabt wie wenige --«
-
-»Wie hübsch,« unterbricht mich Gerhard lächelnd, »daß sich auch
-bei Ihnen einmal weiblich ökonomische Instinkte melden! Nichts umkommen
-lassen, ist ja die erste Hausfrauenregel, mögen es nun Brotkrumen sein
-oder Glücksmöglichkeiten, die unter den Tisch gefallen sind.« -- »Sie
-sollen nicht unter den Tisch fallen,« sage ich heftig. »Wo ist Ihr
-Ehrgeiz und Ihr Glaube an sich selbst, der Glaube, von dem Sie einmal
-sagten, daß es der einzige sei, der Berge versetzen könne.«
-
-»Ich will keine Berge mehr versetzen,« sagt Gerhard müde und steht auf.
-»Ich will jetzt nur noch eins: irgendwo hingehen, wo es warm ist. Mir ist
-in diesem Augenblick so erbärmlich kalt zumut. Und darin haben Sie recht,
-wir müssen uns aus den Fetzen des Lebens etwas zurechtschneidern, was vor
-der bittersten Kälte schützt.«
-
-»Ja,« antworte ich, »wir alle. Aber die Fetzen, die wir zu dem
-schützenden Mantel verwenden, die zeigen, wer wir in Wahrheit sind.
-Der eine geht zur Bar, um sich zu erwärmen, der andere schafft ein
-unsterbliches Werk. Denn was sind alle großen Werke anderes als ein
-Mantel, den ein armer frierender Mensch um seine zitternde Blöße gedeckt
-hat und um seine Wunden und Male? Und was ist alle Tollheit und aller
-Rausch und alle Niedrigkeit anderes, und was alles Insichversinken und
-Träumen anderes als ein Schutz gegen die Kälte da draußen? Aber das
-Material, das wir zu dem Mantel wählen, Gerhard, das ist's, das über uns
-entscheidet.«
-
-Gerhard kommt plötzlich einen Schritt näher und streckt mir die Hand hin.
-»Ich will wieder arbeiten,« sagt er mit so eindringlicher Plötzlichkeit,
-daß ich wider Willen lächeln muß.
-
-»Fein,« sage ich und reiche ihm die Hand. »Ehrenwort?«
-
-Er zuckt die Achseln. »Für einen anständigen Menschen ist jedes gegebene
-Wort ein Ehrenwort.«
-
-»Hören Sie, Gerhard, mit dieser Sentenz auf den Lippen müßten Sie
-gehen, es wäre ein vorzüglicher Abgang.«
-
-Er lächelt. »Ich bin zwar nicht so effektsüchtig wie Sie glauben, aber
-trotzdem, wenn es denn sein muß, -- leben Sie wohl!«
-
-
-
-
-Von Seelenmalerei und einer geschwollenen Backe
-
-[Illustration]
-
-
-Man hat mir so lange vorgeredet, ich müsse mich malen lassen, bis ich
-selber von ungeduldigem Verlangen nach meinem Bildnis erfaßt wurde und die
-Sache mit Karl Gerhard besprach. Von dem naheliegenden Gedanken, daß er
-der Maler des Bildes werden solle, haben wir schnell abgesehen, denn unsere
-Freundschaft ist uns zu heilig, um sie leichtsinnigerweise einer so harten
-Probe auszusetzen.
-
-Er hat mir aber einen jungen Künstler aus seinem Bekanntenkreis empfohlen,
-der sich schon mit viel Glück im Porträtieren versucht habe, ganz modern
-und ein Werdender sei. Von jeher waren mir die Werdenden interessanter als
-die Gewordenen, und als mir Gerhard noch erzählte, daß Artur Vollmer es
-besonders gut verstehe, die Seele seines Modells zu versinnbildlichen, da
-war mein Entschluß gefaßt.
-
-Wie wird er meine Seele malen? Diese Frage hat mich tagelang aufs
-angenehmste beschäftigt.
-
-Auch jetzt, während ich zur Besprechung in Artur Vollmers Atelier
-bin, verläßt sie mich nicht, sie hat aber inzwischen etwas leicht
-Beängstigendes angenommen.
-
-Wir haben ein paar nebensächliche Fragen bereits erledigt, er hat mir eine
-Zigarette gereicht, und ich habe versucht, mit ihm zu plaudern, da ich
-mir einrede, daß er bei dieser Gelegenheit meine Seele kennenlernen will.
-Vorerst scheint es ihm noch nicht sehr darum zu tun zu sein, denn er hat
-bis jetzt jedes meiner Worte nur mit einem leisen Lächeln quittiert, das
-genau die Mitte zwischen Höflichkeit und Unverschämtheit innehält. Ich
-ziehe es daher vor, schweigend die Bilder zu betrachten, die bunt und wirr
-an den Wänden hängen, und mein Blick bleibt an einem kauernden, etwas
-unproportionierten Mädchen haften, das so angestrengt bemüht ist, sich
-ein Strumpfband ums Bein zu binden, daß ihm die Haare wild übers Gesicht
-hängen.
-
-Und ich kann die Frage nicht unterdrücken, warum dieses junge Mädchen
-sich so leidenschaftlich um sein Strumpfband bemüht, da es doch weder
-Strümpfe noch sonst etwas an Kleidung Erinnerndes auf dem Leibe hat.
-
-»Es ist eine Studie,« beantwortet Vollmer meine unkünstlerische Frage,
-und ich bin zufrieden.
-
-»Dies Ding ist übrigens eines der ersten, die ich gemacht habe,« spricht
-er zu meinem Erstaunen weiter, sich mit einem schwermütigen Lächeln
-zu mir wendend. »Es stammt noch aus der Zeit, als ich ein junger
-Springinsfeld war und mir wer weiß was vom Leben versprach.«
-
-Er spricht langsam und in einem sehr weichen Dialekt eigner Erfindung und
-erzählt nun, einmal in Gang gekommen, ausführlich von den Enttäuschungen
-des Künstlerlebens, den Intrigen der stümpernden Kollegen, der
-Parteilichkeit der Ausstellungsdirektoren und der Verlogenheit der
-Kunsthändler. -- Ich höre schweigend zu, und während sein sanft sonores
-Organ mich weich umspült, gerate ich langsam in jenen fast hypnotischen
-Zustand, der mich jedesmal überkommt, wenn die Maniküre die Fingerspitzen
-meiner einen Hand sanft streichelt, während die der anderen im lauwarmen
-Seifenwasser ruhen.
-
-»Ja,« schließt er jetzt sein Gespräch, »wenn man nicht als Künstler
-geboren wäre! Lieber hätte man in seiner Jugend Holzhacken lernen sollen,
-es wäre damit besser für das Alter gesorgt.«
-
-Ich schüttle den hypnotischen Bann so gut es geht von mir und sage, noch
-ein wenig benommen: »Es ist gewiß sehr traurig, daß so viele Menschen
-die erste Hälfte ihres Lebens dazu benutzen, die zweite unglücklich zu
-machen.«
-
-Vielleicht, daß dieser sonst gute Ausspruch nicht hierhin paßt,
-vielleicht auch, daß Vollmer die Abstecher ins Allgemeine nicht liebt,
-jedenfalls geht er mit einem leisen, etwas unbehaglichen Räuspern darüber
-hinweg, und ich setze schnell hinzu:
-
-»Aber die Kämpfe, die Sie mir geschildert haben, sind ja kein Unglück
-zu nennen und sie bleiben wohl keinem erspart, der seine Persönlichkeit
-durchsetzen will.« -- »Gewiß,« bestätigt Vollmer, »und je neuartiger
-und origineller die Persönlichkeit sich äußert, um so härter sind
-heutzutage die Kämpfe mit der Lauheit und der Bequemlichkeit des
-Publikums.«
-
-»Man sagt das allgemein,« antworte ich und sehe mit Schrecken, daß
-wieder ein leises Unbehagen über seine etwas verschwommenen Züge geht,
-»aber ich finde, gerade das Gegenteil ist heute der Fall. Noch zu keiner
-Zeit lief eine neue und eigenartige Begabung so wenig Gefahr, übersehen
-oder verlacht zu werden, wie heutzutage. Wir verehren und lobhudeln ja
-alles Schrullenhafte, und je absurder sich ein Künstler in seinen Werken
-gebärdet, um so eifrigere Anhänger und Förderer wird er finden. Gefahr,
-übersehen zu werden, laufen eigentlich nur die Stillen im Land, die
-einfach schaffen, wie sie können und müssen, ohne sich um Richtungen und
-Moden zu kümmern, die unliterarischen, möchte ich sagen.«
-
-»Die Langweiligen mit einem Wort,« lächelt Vollmer.
-
-»Nun ja,« antworte ich lachend, »zur Gesellschaft sind mir auch die
-anderen lieber, die vielseitig Interessierten, die lebhaft Bewegten, die
-eigenartig Schillernden. Aber ich glaube bestimmt, die wirklichen Künstler
-kommen aus der anderen Sphäre, aus der Sphäre der Einseitigen und
-Schwerfälligen, die darum in Gesellschaft langweilig sind, weil sie in
-ihrer Seele zuviel Kunst haben und zuwenig Literatur.«
-
-Vollmer schweigt ein paar Sekunden. »Ja, ja, die Seele,« bemerkt er dann
-sinnend, und mir fällt plötzlich wieder der Zweck meines Besuches ein.
-
-»Sie sollen ja ein ganz besonders feiner Forscher auf diesem Gebiet
-sein,« sage ich, »wenigstens hat man mir berichtet, daß Ihre Bilder
-wahre Seelenporträts seien, und ich muß sagen, ich bin gespannt --.«
-
-Artur Vollmer lächelt zurückhaltend und weist mit der Hand auf ein
-großes Bild, das gleich beim Eintritt meinen Blick auf sich gelenkt
-hat und das ich jetzt aufmerksam betrachte. »Porträt von H. K.« steht
-darunter, und es stellt einen sorgsam und elegant gekleideten jungen Mann
-von phantastischer Häßlichkeit dar, der in einer romantischen Landschaft
-im Profil steht und einen Apfel, den er zwischen Daumen und Zeigefinger
-hält, entsetzt betrachtet.
-
-»Sehr eigenartig,« sage ich höflich und überzeugt. »Ist es wirklich
-ein Porträt?«
-
-»Sie kennen das Modell,« antwortet er und setzt nachlässig hinzu:
-»Auf die äußere Ähnlichkeit haben wir allerdings verzichtet, aber Sie
-müßten ihn schon an der Art erkennen, wie er den Apfel hält.«
-
-Ich will schon bedauernd den Kopf schütteln, denn mir fällt keiner meiner
-Bekannten ein, der die Gewohnheit hat, einen Apfel mit zwei Fingern zu
-halten, doch da kommt mir der rettende Gedanke: -- Seelenmalerei! Und ich
-sage stolz und glücklich: »Vielleicht ist es einer, der alle Dinge im
-Leben sehr vorsichtig anfaßt?« -- »Ja,« nickt Artur Vollmer, »mit
-einem gewissen Abscheu sogar. Betrachten Sie den Ausdruck von Ekel in
-seinem Gesicht.«
-
-»Nun ja,« sage ich etwas zaghaft, »aber genügt dieser eine Zug, um das
-Bild Porträt zu nennen? Und warum, wenn Sie H. K. schon malen wollten,
-haben Sie so vollkommen auf die Ähnlichkeit verzichtet?«
-
-Vollmer schweigt einen Augenblick und sagt dann mit einem zerstreuten Blick
-aus dem Fenster: »Ähnlichkeit bekommen Sie für zwanzig Mark das Dutzend
-beim Photographen.«
-
-Und so stark ist die Suggestionskraft seiner Worte, daß mir in diesem
-Augenblick die Photographen als eine durchaus minderwertige Menschengattung
-erscheinen. Aber dann erwacht mein besseres und mutiges Selbst und ich
-riskiere die Schreckensfrage, die Banausenfrage, die Frage, mit der man
-jungen Malern das Gruseln beibringt:
-
-»Kann ein Porträt nicht künstlerisch und doch ähnlich sein?«
-
-Und Artur Vollmer antwortet denn auch mit einem leisen Klang von
-Gereiztheit in seiner milden Stimme: »Sie sprechen immer von Ähnlichkeit,
-gnädige Frau, und das ist in der Kunst ein so ganz verfehlter Standpunkt.
-Die Hauptsache, daß das Bild ein Kunstwerk ist. Wer fragt in den Galerien
-und Museen heute danach, ob die Porträts von Dürer und Rembrandt und Van
-Dyk dem Modell auch ähnlich waren. Es sind Kunstwerke, und sie bleiben
-bestehen, während die Ähnlichkeit von heute schon morgen nicht mehr wahr
-ist.«
-
-»Das ist sehr richtig,« antworte ich, »nur ist es dann nicht nötig,
-sich selbst malen zu lassen. Ich kann mir statt dessen irgendein berühmtes
-Bild eines berühmten Meisters kaufen, dessen Wert anerkannt ist, während
-es doch bei aller Hochachtung vor Ihrer Kunst noch nicht völlig sicher
-ist --«
-
-»Daß ich Rembrandt oder Van Dyk erreiche,« unterbricht er mich, und die
-Stimme umspült mich wieder sanft wie Seifenwasser. »Nein, gnädige Frau,
-das ist sogar sehr unsicher, aber Sie vergessen, daß es noch eine andere
-Ähnlichkeit gibt, als die rein äußerliche, von der Sie reden. Die
-Ähnlichkeit, die vielleicht nur der Künstler sieht. -- Kennen Sie den
-hier?«
-
-Und er nimmt ein Bild vom Boden, das bis jetzt mit dem Gesicht nach der
-Wand gestanden hat, und stellt es auf eine Staffelei.
-
-»Mein Gott!« sage ich entsetzt, »Frank Meinert.«
-
-Es ist wirklich Frank Meinert, der mir aus einem blutigroten Hintergrund
-entgegenstarrt. Frank Meinert mit einer blutigroten Krawatte, die eine
-Backe geschwollen, die Züge nicht ganz unähnlich, aber ins brutal
-Verbrecherische verzerrt, und mit dem bösartig lauernden Ausdruck, mit dem
-die Shakespeareschen Meuchelmörder über die Bühne zu schleichen pflegen.
-
-»Mein Gott!« wiederhole ich nur, aber in meinem Innern setze ich hinzu:
-Was wird er aus meiner Seele machen? Gott sei meiner armen Seele gnädig!
-
-Und nach diesem Stoßgebet frage ich gefaßt:
-
-»Sie sind befreundet mit Frank Meinert?«
-
-»Ja,« sagt er, »wir treffen uns oft des Abends im Café und auch
-sonst --«
-
-»Und so erscheint Ihnen seine Seele?«
-
-»So sehe ich ihn,« antwortet er einfach.
-
-»Nun,« sage ich, »dann bewundere ich aufrichtig Ihren Mut. Fürchten Sie
-denn gar nicht, daß er Ihnen eines Abends Strichnin oder Zyankali in den
-Kaffee schüttet, oder daß er Sie auf dem Heimweg mit einem Schlagring
-überfällt?«
-
-Vollmer lächelt melancholisch. »Nein,« sagt er, »was Sie da auf dem
-Bild sehen, ruht ja ungewußt und ungehoben in den tiefsten Gründen seines
-Wesens. Es wird nie zutage kommen.«
-
-»Das wollen wir zu Gott hoffen!« antworte ich inbrünstig.
-»Lebenslängliches Zuchthaus wäre das wenigste. -- Übrigens maße ich
-mir kein Urteil darüber an, ob nicht wirklich brutale Triebe in Franks
-Seele schlummern. Er deutet selbst gern so etwas an, aber das ist kein
-Grund dafür, es nicht zu glauben. Kein Mensch kann dem anderen bis auf
-den Grund der Seele blicken, schon darum nicht, weil die Seele keinen Grund
-hat. Es geht immer noch tiefer und tiefer. Und wahrscheinlich könnten
-Sie jeden von uns mit dem gleichen Recht zum Verbrecher stempeln. -- Zum
-mindesten freundschaftlich kann ich das Bild nicht finden.«
-
-»Und wie würden Sie an meiner Stelle Frank gemalt haben?« fragt Vollmer
-lächelnd, indem er das Gemälde, diesmal richtig herum, an die Wand lehnt.
-
-»Nun,« sage ich, »da Sie die Bilderrätsel lieben, hätten Sie ihn für
-mein Gefühl am besten als Narziß gemalt, schwermütig am Bach ruhend,
-verliebt und versunken in sein Spiegelbild. -- Darf ich mir aber noch die
-Frage erlauben, welche Bedeutung die geschwollene Backe auf dem Bild hat?«
-
-»Da ist doch keine geschwollene Backe,« widerspricht er zum erstenmal
-wirklich gereizt und holt das Bild wieder herbei. »Ich bitte Sie, das
-scheint doch nur so durch die Haltung und die Beleuchtung.« -- »Ach
-so,« sage ich, froh, daß keine Beziehung zwischen Franks Seele und dieser
-Schwellung besteht.
-
-»Und wie denken Sie sich mein Bild?« frage ich dann etwas ängstlich und
-setze mich vorsichtshalber.
-
-»Tja,« sagt er, mich nachdenklich betrachtend, »ich dachte zuerst, als
-ich Sie sah, an die Franzosen. Renoir oder so etwas. Aber ich bin davon
-abgekommen. Ich möchte Sie jetzt am liebsten als Daphne malen.« --
-»Daphne?« wiederhole ich und wühle verzweifelt in den Untergründen
-meiner mythologischen Erinnerungen. Leider umsonst. »Es wird nur seine
-Schwierigkeiten haben,« fährt er fort, »wegen der Bekleidung und auch
-sonst.«
-
-Ich blicke unwillkürlich zu dem Mädchen mit dem Strumpfband hinüber und
-bitte dann etwas verschüchtert um Aufklärung über Daphne.
-
-»Daphne,« erklärt er, auf der Tischkante sitzend, mit weicher
-Stimme, »war die Tochter der Gäa, zu deutsch Erde, und des arkadischen
-Flußgottes Ladon. Andere behaupten zwar, daß Amyklas ihr Vater war und
-noch andere nennen Pennios, aber --« -- »Lassen wir die Frage offen,«
-schlage ich vor, »Sie wissen =La recherche de la paternité= --« Er
-lächelt und fährt fort:
-
-»Apollo liebte Daphne, aber er hatte einen Nebenbuhler an Leukippos, der
-ihr als Jungfrau verkleidet folgte und auf Apollos Veranlassung hin von
-den Nymphen getötet würde. Nun floh Daphne auch vor Apollo, sie wurde
-von ihrer Mutter aufgenommen und in einen immergrünen Lorbeerbaum
-verwandelt.«
-
-Ich sitze ein paar Sekunden lang still, fasse mich aber allmählich und
-sage: »Also alles in allem ein Mädchen von Charakter. -- Nun gestatten
-Sie mir aber bitte noch ein paar Fragen: Zuerst, in welchem Stadium ihres
-ereignisreichen Lebens wollen Sie Daphne malen? Zweitens, woran soll man
-mich als Daphne erkennen? Und drittens und letztens, warum überhaupt
-Daphne?«
-
-»Ich sagte es ja schon,« antwortet Artur Vollmer, »die Sache wird ihre
-Schwierigkeiten haben. Aber die Idee wird mir lieb und lieber, je mehr ich
-darüber nachdenke. Es liegt eine tiefe Symbolik darin: Die Frau, die sich,
-vor dem Geliebten fliehend, in Lorbeer verwandelt. Man müßte natürlich
-diesen Moment festhalten, noch halb Weib, halb schon Baum --.«
-
-Ich habe plötzlich das Gefühl, als ob ich schon halb zum Baum erstarrt
-wäre und mache heimlich ein paar schlenkernde Bewegungen mit den Beinen,
-um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Dann stehe ich auf und sage:
-
-»Ihre Idee ist wirklich sehr interessant und sogar geistreich wie alle
-Ihre Bilder. Aber ich weiß doch nicht, ob ich mich dazu entschließen
-kann, Ihnen als Daphne zu sitzen. Ich glaube, daß mein tiefstes Wesen
-in Ihrem Daphnebild nicht zum Ausdruck käme. Ich mache Ihnen daher einen
-anderen Vorschlag: Malen Sie mich ganz einfach hier im Sessel sitzend,
-möglichst bequem, das entspricht am besten einem Grundzug meines Wesens.
-Und machen Sie das Bild so ähnlich wie möglich, dann wird ganz gewiß
-auch etwas von meiner Seele in Ihre Farben fließen, denn ich bilde mir
-ein, daß meine Seele meinem Gesicht gar nicht so unähnlich ist. -- Und
-wann wollen wir anfangen?«
-
-Wir bestimmen die Zeit, und ich verabschiede mich von dem etwas frostig
-gewordenen Künstler, und dann sitze ich im Auto und überlege mir den
-Fall.
-
-Und je mehr ich darüber nachdenke, über die ausgeklügelt geistreichen
-Bilder und über das unproportionierte Mädchen mit dem Strumpfband und
-über Frank Meinerts geschwollene Backe, um so deutlicher steigt ein
-schwarzer Verdacht in mir heraus, der sich nach und nach zur Gewißheit
-verdichtet.
-
-Und ich nehme mir vor, morgen zu Karl Gerhard zu sagen: »Lieber Freund,
-Ihr Protegé ist ein interessanter junger Mann, wenigstens versteht er mit
-herzlich wenig Unkosten darauf zu posieren. Er hat eine einschmeichelnde
-Stimme und sehr gepflegte Hände. Er ist in der Mythologie erstaunlich gut
-bewandert und hat die eigenartigsten symbolischen Ideen. Er versteht, sehr
-nüanciert zu lächeln, und ich bin überzeugt, daß er auch sonst noch
-allerlei kann. Nur ein einziges kann er ganz bestimmt nicht, und das ist
-eigentlich sehr schade: er kann nicht malen.«
-
-
-
-
-»Mir scheint, Sie weiden sich an meiner Todesqual --«
-
-[Illustration]
-
-
-Wir haben uns gezankt und sitzen uns nun gegenüber wie Kinder, die beide
-ihre Heftigkeit bereuen und doch zu eigensinnig sind, das erste gute Wort
-zu sprechen. Wir sehen einander nicht an, aber ich merke, daß seine Hand,
-die die Zigarette hält, ein bißchen zittert, und wieder einmal, wie nach
-jedem Streit mit Herbert Arndt, steigt in mir das Mitleid auf.
-
-Vielleicht habe ich ihm doch unrecht getan, als ich ihn oberflächlich
-genannt, denke ich, und weiß doch zugleich, daß der scheinbar tiefe
-Eindruck, den der Wortwechsel auf ihn gemacht hat, wie der Eindruck
-ist, den man einem Gummiball beibringen kann. Sobald du den Finger
-zurückziehst, ist alles, wie es war.
-
-Und dieses Wissen um Herbert Arndts stets veränderliche
-Unveränderlichkeit ist es vielleicht, was mich ihm gegenüber oft zu
-einer Heftigkeit hinreißt, die mir sonst ganz fremd ist und die mich im
-Augenblick weit über den zufälligen Anlaß hinaus erbittert.
-
-Was konnte es mich zum Beispiel kümmern, daß Herbert Arndt heute fast
-verächtlich von einem Menschen sprach, den er vor kurzem voll Begeisterung
-einen bedeutenden Mann von seltener geistiger Anmut genannt, und für
-dessen vornehm künstlerische Lebensgestaltung er eine andachtvolle
-Bewunderung gezeigt hatte.
-
-Heute entsann er sich dessen kaum und nannte das Wesen des vor ein paar
-Tagen so hoch Gepriesenen unmännlich und affektiert, im Gegensatz zu der
-kraftvollen und knorrigen Einfachheit, mit der alle wirklich Großen ihr
-Leben geführt. Und ich wurde gereizt und nannte es Haltlosigkeit, nie bei
-einer Empfindung und einem Urteil beharren zu können und, wie die Snobs,
-immerfort seine Geschmacksrichtung zu ändern, sobald von den Obersnobs
-eine neue Parole ausgegeben wird. Und er nannte es Sentimentalität oder
-Indolenz, an alten Erinnerungen und alten Wertschätzungen zu kleben, und
-wir steigerten uns in immer größeren Zorn, und plötzlich schwiegen wir
-beide, weil wir fühlten, daß wir nicht weitergehen durften.
-
-Und jetzt sitzen wir da und möchten uns versöhnen und wissen nicht wie.
-Endlich steht Herbert auf und sagt mit etwas rauher Stimme, der man noch
-die Erregung anhört:
-
-»Ich will Sie lieber jetzt von meiner Gegenwart befreien. Ich kann
-mir denken, wie peinlich Ihnen der Anblick eines so charakterlosen und
-minderwertigen Menschen ist.«
-
-Nun muß ich doch lachen. »Ich finde, Ihre Zerknirschung geht zu weit.«
-Er verzieht den Mund: »Ich habe mich augenblicklich nur mit Ihren Augen
-gesehen.«
-
-»Ich habe diese Worte nicht gebraucht,« antworte ich, »und Sie wissen
-sehr gut, daß ich mit einem Menschen, den ich für charakterlos und
-minderwertig halte, nicht fünf Minuten lang sprechen, wieviel weniger mich
-in einen Streit einlassen würde.«
-
-»Ach so,« bemerkt er, »dann habe ich es vielleicht als Ehre aufzufassen,
-daß Sie sich die Mühe nahmen, mich einen Snob und einen Menschen ohne
-inneren Halt zu nennen.«
-
-»Mindestens als einen Beweis sehr herzlicher Freundschaftsgefühle,«
-antworte ich und sehe, wie ihm wider Willen ein Lächeln um die Mundwinkel
-zuckt. Und ich sage:
-
-»Seien Sie kein Frosch, Herbert Arndt, und setzen Sie sich noch mal hin,
-denn gewöhnlich machen Sie's doch wie Wotan im letzten Akt der Walküre
-und nehmen stundenlang Abschied. Und in der Zeit kann man ebensogut
-vernünftig reden.«
-
-Er setzt sich zögernd, denn trotz des Lächelns ist sein Ärger noch nicht
-überwunden, und ich schiebe ihm seine Tasse und den Kuchen näher, weil
-ich finde, daß es fast nichts auf der Welt gibt, das nicht gleich ein
-bißchen weniger schlimm aussieht, sobald man Kaffee und Kuchen vor sich
-hat.
-
-Wir schweigen einen Augenblick, dann sagt Herbert: »Was mich am meisten
-beleidigt, ist ja gar nicht, daß Sie meine Art, die Dinge zu sehen,
-verachten. Ich kann Ihnen das nicht verwehren, denn jeder schätzt im
-Grunde genommen nur seine eigene Lebensanschauung, und wenn wir von
-jemandem sagen, daß er vernünftige Ansichten habe, dann hat er sicherlich
-die gleichen Ansichten wie wir. Was mich beleidigt, ist, daß Sie an meine
-Art, die Dinge zu sehen, überhaupt nicht glauben, daß Sie annehmen, ich
-rede nur so oder so, um mich interessant zu machen, oder aus Affektiertheit
-oder aus irgendeiner anderen Verlogenheit heraus.«
-
-»Nein,« unterbreche ich ihn, »das ist ganz gewiß nicht der Fall. Und
-das ist eigentlich das Traurige an der Sache, das Hoffnungslose, möchte
-ich sagen, daß Sie immer ehrlich sind.«
-
-»Und gerade deshalb ist der Fall hoffnungslos?« fragt er. »Wie soll ich
-das verstehen?«
-
-»Es ist ganz einfach,« antworte ich, »und ich will's Ihnen erklären,
-selbst auf die Gefahr hin, Sie noch einmal zu beleidigen und auf die
-Gewißheit hin, daß es nichts nützt, denn ein Mensch, der sich immerfort
-ändert, der kann sich niemals ändern.«
-
-Herbert hebt erstaunt den Kopf. »Und ich ändere mich immerfort,« fragt
-er.
-
-»Und Sie wissen das gar nicht?« frage ich dagegen. »Sie wissen es gar
-nicht, daß bei Ihnen immerfort ein Eindruck den anderen verwischt und
-auslöscht, und daß Sie immerfort wie auf einem dünnen Seil gehen, nichts
-rechts, nichts links, so daß man ordentlich schwindelig wird, wenn man
-Ihnen zusieht.« -- »Ich verstehe das nicht,« sagt Herbert schroff.
-
-»Nun also,« antworte ich, »dann will ich Ihnen aus der leider
-übergroßen Fülle der Beispiele nur eines nennen: Waren Sie nicht vor
-kurzem noch ganz berauscht von den Versen Stefan Georges, den Sie nach
-Goethe den einzigen deutschen Dichter nannten? Und sprachen Sie nicht ein
-paar Tage darauf sehr abfällig von seiner hypermodernen Pathetik, die
-doch im Grunde genommen hohl sei, wenn man einen einzigen Mörikeschen
-Vers damit vergleicht? Und war nicht wieder ein paar Tage darauf Mörike
-spießbürgerlich und deutsch-borniert und veraltet, weil Sie gerade bei
-irgendeinem dekadenten französischen Absinthlyriker angelangt waren? --
-Und ist es nicht so auf jedem Gebiet? Die fanatische Ausschließlichkeit,
-mit der Sie jeden Tag eine andere Sache anbeten und jeden Tag mit der
-gleichen überzeugenden Ehrlichkeit, als gäbe es nur die eine auf der
-Welt, die macht mich müde und ungeduldig zugleich.«
-
-Herbert schüttelt den Kopf. »Ich verstehe nicht, was Sie mir vorwerfen.
-Gefühl ist doch nichts, was ein für allemal feststeht, Empfindungen,
-selbst die wärmstem schwanken auf und ab. Und wären wir Menschen, wenn
-wir nicht Stimmungen unterworfen wären?«
-
-»Ja,« nicke ich, »oft denke ich, Sie haben gar keine Empfindungen,
-sondern nur Stimmungen, oder besser gesagt: Anwandlungen, und Anwandlungen
-kommen nicht aus dem Gemüt, sondern aus den Nerven und der Phantasie.«
--- »Und was ist Gefühl denn anderes als Betätigung der Nerven und der
-Phantasie?« fragt Herbert lebhaft und schnell. »Können wir irgend etwas
-empfinden, Liebe, Haß, Mitleid, Begeisterung, Freude oder Schrecken,
-ohne daß unsere Nerven zucken und unsere Phantasie die Flügel hebt? Der
-phantasieloseste Mensch ist der gefühlloseste zugleich, und -- so paradox
-es klingen mag -- die Verstandsmenschen sind die dümmsten von allen.«
-
-Ich nicke ihm langsam zu: »Es ist wahr, wir sind alle nur bauernschlau,
-solange es uns nicht gegeben ist, weise zu sein. Und auch das andere, was
-Sie sagten, ist wahr: Es gibt kein wertvolles Gefühl ohne Phantasie. Aber
-die Phantasie muß in unserem Gemüt ihren Ursprung haben, sonst ist der
-Mensch wie ein Ofen, der von außen erwärmt wird statt von innen, der
-heiß, vielleicht sogar überheizt erscheint, aber niemals Wärme abgibt
-und verströmt.«
-
-»Ein sinnfälliger Vergleich!« sagt Herbert, und sein Mund verzieht sich
-spöttisch. »Ich gebe allerdings zu, daß ich wenig Talent zum traulich
-wärmenden Ofen habe, und offen gesagt, mein Ehrgeiz geht nicht dahin. --
-Ich gebe auch zu,« fährt er nach einem kurzen Schweigen fort, »daß ich
-leicht von diesem oder jenem Eindruck überwältigt werde und leicht alles
-andere darüber vergesse, aber ich schäme mich dessen nicht, im Gegenteil,
-ich bin froh und glücklich darüber, denn ich selbst liebe nur Menschen,
-die impulsiv und warm und stark empfindend sind.«
-
-»Ach, lieber Freund,« sage ich, »heute! Heute lieben Sie die Impulsiven,
-vielleicht weil heute morgen oder gestern abend ein liebes Mädel in
-schöner Impulsivität Ihnen die Hand hingestreckt und etwas Herzliches
-gesagt hat. Und morgen lernen Sie eine interessante Frau kennen, die kühl
-und geheimnisvoll und verschlossen ist, und dann erzählen Sie mir, daß
-alles Impulsive doch eigentlich recht vulgär sei, und daß der wahre Reiz
-eines Menschen in seiner geheimnisvollen Verschlossenheit läge.«
-
-»Ja,« antwortet Herbert, »und Sie erzählen mir dann, was ich Ihnen
-gestern erzählt habe, und werfen mir meine Treulosigkeit gegen das liebe
-Mädel vor. Aber der Reiz des Lebens liegt doch gerade darin, daß ich
-heute die Impulsiven lieben darf und morgen die Verschlossenen.«
-
-»Ach, lassen wir's,« sage ich ein bißchen müde, »ich merke schon, wir
-reden aneinander vorbei und werden uns nicht verstehen.«
-
-»Das ist weibliche Kriegstaktik,« antwortet Herbert, »sobald sie
-nichts zu antworten wissen, ziehen sie sich hinter die männliche
-Begriffsstutzigkeit zurück. Aber ich möchte jetzt meine Sache bis zu Ende
-verfechten und erbitte mir Antwort darauf, weshalb es ein, -- nun sagen
-wir, ein verächtlicher Zug sein soll, jeder Art und Gattung Geschmack
-abgewinnen zu können.« -- »Das ist's ja nicht,« sage ich seufzend,
-»und ich möchte Ihnen gerne noch einmal antworten, aber ich fürchte, die
-Anklagerede wird lang.«
-
-»Wenn ich als Delinquent einen letzten Wunsch äußern darf,« sagt
-Herbert, »dann möchte ich mir noch ein Stück Kuchen erbitten.«
-
-»Gewährt,« antworte ich, »und möge Ihnen das letzte Stück Kuchen
-leicht werden!« -- »So leicht wie Ihnen mein Todesurteil,« erwidert er
-mit einer höflichen Verbeugung und zieht sich den Teller mit Kuchen näher
-heran.
-
-Mein Ärger ist längst verflogen, und ich muß lachen.
-
-»Mir scheint, Sie weiden sich an meiner Todesqual?« fragt er kauend,
-»oder hat meine sieghafte Liebenswürdigkeit so schnell die Wolken von
-Ihrer Stirne verjagt? -- Es wäre eigentlich schade,« setzt er hinzu,
-»denn ich hatte mein ganzes Wesen schon auf Bußfertigkeit eingeschaltet,
-und außerdem war es von jeher meine Leidenschaft, zuzuhören, wenn von mir
-die Rede war.« -- »Ja,« sage ich, »es ist die einzige Leidenschaft, der
-Sie bis jetzt treu geblieben sind.«
-
-Er sieht mich einen Augenblick schweigend an und sagt dann: Ȇber diesen
-Punkt dürften Sie besser orientiert sein.«
-
-»Ich weiß,« antworte ich nach einer kleinen Pause, »aber ich finde
-immer, das erotische Gebiet, denn darauf spielen Sie ja an, liegt so
-abseits, daß es nicht in Betracht kommen kann, wenn von dem Charakter
-eines Menschen die Rede ist. Und selbst wenn jemand hartnäckig an seiner
-ersten Liebe hängen sollte --«
-
-»Erste Liebe,« unterbricht er mich lächelnd.
-
-»Oder an seiner dritten oder vierten,« antworte ich, »denn eine erste
-Liebe gibt es ja eigentlich nicht, weil immer schon eine vorher dagewesen
-ist. Aber es handelt sich jetzt gar nicht um die Treue gegen andere,
-sondern um die Treue, die wir uns selbst schuldig sind.«
-
-»Uns selbst, uns selbst,« sagt Herbert ungeduldig, »wie einfach klingt
-das! Aber wer von uns kennt sich und wertet sich richtig? Wir sind doch
-viel zu sehr in uns selbst gefangen, um unbefangene Richter über uns zu
-sein.«
-
-»Aber lieber Freund,« sage ich, »was hat die Treue mit der Erkenntnis zu
-tun, da sie doch nichts Bewußtes ist, sondern so selbstverständlich wie
-das Atemholen, und da sie aufhört zu existieren, sobald sie bewußt und
-ein Willensakt geworden ist. Und wer wir selbst sind, fragen Sie? Nun, wir
-sind nicht nur die, die jetzt hier sitzen und reden. Zu uns gehört alles,
-was wir vor Jahren und Monaten, und was wir gestern und heute erlebt und
-gefühlt haben. Und wenn wir das täglich und stündlich von uns werfen
-können wie alte Kleider, dann werfen wir uns täglich und stündlich
-selber weg. Wie ein Mensch ohne Schatten sind wir dann, und ich begreife
-jetzt, was ich als Kind nie verstanden habe, weshalb Chamisso es als so
-traurig und als so schmachvoll hinstellt, keinen Schatten zu haben.«
-
-Herbert ist blaß geworden. »Traurig und schmachvoll,« wiederholt er,
-während er mit nervöser Hand seine Zigarette in der Schale zerdrückt.
-
-Dann hebt er den Kopf, und seine Augen haben den eigensinnig fanatischen
-Blick, den ich kenne.
-
-»Vielleicht haben Sie Chamisso doch falsch verstanden,« sagt er leise,
-»vielleicht war es nur deshalb so traurig und schmachvoll, keinen Schatten
-zu haben, weil alle Welt einen Schatten hat, und weil alle Welt die haßt
-und verachtet, die anders sind als alle Welt.
-
-Und jetzt will ich gehen,« sagt er aufstehend, und setzt mit einem
-sonderbaren, etwas hilflosen Lächeln hinzu: »Diesmal nicht wie Wotan.«
-
-»Und doch wie Wotan,« sage ich und strecke ihm die Hand hin, die er
-einen Augenblick sehr fest in seiner hält. »Leben Sie wohl, einäugiger
-Wanderer!«
-
-
-
-
-Es ist ein echt weiblicher Zug von Ihnen --
-
-[Illustration]
-
-
-Der Fünfuhrtee im Kaiserhof ist in vollem Gang, und ich sitze an einem
-der kleinen, mit Blumen und Lampen geschmückten Tische und erwarte meinen
-Berliner Freund, den Professor, den ich fast ein halbes Jahr lang nicht
-gesehen habe.
-
-Ich behalte die Eingangstür im Auge, um ihm gleich zuwinken zu können,
-denn ich weiß, daß es ihm, trotz einer absichtlich betonten Nonchalance,
-peinlich ist, sich erst lange zwischen den eleganten Gästen und den
-unsagbar vornehmen Kellnern durchwinden zu müssen.
-
-Und dann sehe ich doch mal nach dem sehr feschen Paar am Nebentisch
-hinüber, und gerade in diesem Augenblick sagt jemand neben mir: »Guten
-Abend,« und der Professor setzt sich an den Tisch, als habe er mich
-gestern zuletzt gesehen. Ich reiche ihm die Hand hinüber und frage statt
-aller Begrüßungszeremonien:
-
-»Hoffentlich hat Sie mein telephonischer Anruf gestern nicht gestört?«
-
-»Natürlich hat er mich gestört,« antwortet er, indem er die Blumen
-vom Tisch nimmt und daran riecht. »Ich hatte gerade meinen Mittagsschlaf
-angefangen.« -- »Das schadet nichts,« sage ich kühl, »welcher
-ausgewachsene Mensch schläft auch am hellichten Tage?«
-
-»Nun, zum Beispiel ich und zum Beispiel Sie,« erwidert er, »denn Sie
-wollen mir doch nicht einreden, daß heut vormittag um zehn Uhr, als ich
-Sie vergeblich zu sprechen wünschte, Mitternacht war. -- Und übrigens --
-ausgewachsener Mensch! Wer ist ausgewachsen? Welche Anmaßung! Wollen Sie
-etwa von sich behaupten, daß Sie ein ausgewachsener Mensch seien?«
-
-»Lieber Professor,« sage ich, »ich höre gern meine Jugend preisen, aber
-ich finde, augenblicklich geht Ihre Höflichkeit zu weit.«
-
-»Und wer weiß,« fährt er fort, »ob wir nicht gerade im Schlaf am
-besten wachsen?« -- »Jawohl,« werfe ich ein, »von den Säuglingen wird
-das allgemein behauptet.«
-
-»Dummes Mädel,« fährt er mich an, »muß denn immer von körperlichen
-Funktionen die Rede sein? Es ist ein echt weiblicher Zug von Ihnen, daß
-Sie nie das Geistige ins Auge fassen können.«
-
-»Verzeihen Sie, aber der Gedanke lag mir zu fern, daß Sie als Lehrer
-der Jugend den Schlaf für das beste geistige Förderungsmittel ansehen
-könnten. Es sei denn, Ihre Vorlesungen -- --«
-
-Er schlägt mit der Hand auf den Tisch, daß das Nachbarpaar erstaunt
-herübersieht und der Kellner nervös zusammenzuckt.
-
-»Herrgott, hat dieses Mädel ein Mundwerk! Ein wahres Glück, daß ich Sie
-nicht geheiratet habe!«
-
-»Warum?« frage ich, »ich kann mir das reizend vorstellen, und es wäre
-uns beiden sicher sehr gesund gewesen.«
-
-»Gesund?« antwortet er, »das wäre möglich, etwa nach der Methode, daß
-man den einen nimmt und den anderen damit verprügelt.«
-
-»Ja, so dachte ich mir's,« bestätige ich und sehe vergnügt zu, wie er
-sich zum Entsetzen des Kellners den Teller mit Kuchen belädt. Nachdem der
-Befrackte endlich entlassen ist, sage ich:
-
-»Es ist ein echt weiblicher Zug von Ihnen, daß Sie so gern Kuchen
-essen.«
-
-»Wer sagt Ihnen, daß ich gern Kuchen esse?« fragt er gereizt, »und wenn
-Sie mich übrigens deshalb gestern am Telephon mit allen Mitteln weiblicher
-Verführungskunst hierhergelockt haben, um mir anzudeuten, daß Ihnen mein
-Appetit unsympathisch ist --.« -- »Wieso unsympathisch?« frage ich,
-»mir ist jeder menschliche Zug an Ihnen willkommen. Ich habe Sie
-aber nicht deshalb hierherbeordert --.« -- »Gefleht haben Sie.«
--- »Hierherbeordert,« wiederhole ich. -- »Auf den Knien haben Sie
-gelegen.«
-
-»Nein,« sage ich, »dazu war die Schnur zu kurz. Aber Sie sehen, ich
-habe es versucht, und das genügt Ihnen hoffentlich. Also lassen Sie mich
-gefälligst ausreden. Nicht deshalb, um mich an Ihrem Appetit zu erfreuen,
-sondern um festzustellen, ob Sie noch immer so ein Grobian sind wie
-früher. Und ich muß sagen, mein Wissensdurst ist gestillt.«
-
-»Nun, dann kann ich ja Gott sei Dank nach Hause gehen, wenn ich den Kuchen
-aufgegessen habe, denn wenn Sie etwa glauben --«
-
-»Ja, das können Sie,« unterbreche ich ihn, »eine Stunde werden Sie
-reichlich damit zu tun haben, und mehr Zeit habe ich ohnehin nicht für Sie
-vorgesehen.«
-
-»Kellner!« ruft er. -- »Um Gottes willen,« flehe ich, »Sie blamieren
-mich, wenn Sie sich noch mehr Kuchen nehmen. Wir werden hinausgeworfen.«
--- »Werden Sie jetzt artig sein?« fragt er. »Sie sehen, ich habe Sie
-in der Hand, ich kann Sie aufs tödlichste blamieren, wenn ich will. Also
-geben Sie jetzt zu, daß Sie mich angefleht haben, hierherzukommen?« --
-»Ja, ja,« sage ich, denn der Kellner steht schon neben uns.
-
-»Reichen Sie der Dame den Kuchen,« sagt der Professor großartig.
-
-Ich lasse den Kellner unverrichteterdinge abziehen und sage: »Ich habe
-mich vorhin schon bedient, während Sie wahrscheinlich noch mit Ihrem
-geistigen Wachstum beschäftigt waren.«
-
-Er schnippt mit Daumen und Mittelfinger nach meiner Hand, die ich
-erschrocken zurückziehe.
-
-»Sie haben die körperliche Züchtigung verdient,« sagt er, »denn Sie
-hätten merken können, daß ich jetzt vernünftig mit Ihnen sprechen
-will.« -- »Es ist mir nichts aufgefallen.« -- »Ruhig! -- Also, wie geht
-es Ihnen?«
-
-»Auf eine so originelle Frage kann ich nur ebenso originell antworten. Es
-geht mir natürlich sehr gut.« -- »Wieso natürlich?« fragt er, »ach
-so, Sie meinen, einer so entzückenden Dame gegenüber kann das Schicksal
-natürlich gar nicht anders als zart und galant verfahren. Sie stehen
-ja auf einem so hohen Piedestal, Sie schweben so hoch über allen
-Erdendingen --.« -- »Um Gottes willen,« sage ich, »was haben Sie
-auf einmal?« -- »Warum?« fragt er, »war ich etwa nicht grob?« --
-»Geradezu unverschämt,« versichere ich.
-
-»Na also,« sagt er, »was ist da zu erschrecken! Mir scheint, Sie sind
-etwas verwöhnt und verzärtelt worden seit unserem letzten Zusammensein.
--- Was machen übrigens Ihre vierzig Freunde?«
-
-»Sie verwechseln das,« belehre ich ihn, »bei unserem letzten
-Zusammensein war von Ihren dreiundvierzig Freundinnen die Rede.«
-
-»Nun ja, warum sollte ich nicht drei mehr haben als Sie?« fragt er,
-»gönnen Sie mir die etwa nicht?«
-
-»Von Herzen,« sage ich. »Don Juan hatte noch mehr.«
-
-»Don Juan war auch kein feiner Genießer wie ich,« erklärt er. »Ich bin
-nur für Auslese, und deshalb kann auch der Kreis unmöglich vergrößert
-werden, so sehnsüchtig Sie darauf warten, aufgenommen zu werden.«
-
-»Weshalb sind Sie so grausam?« frage ich, »gehen mir vielleicht ein
-paar Tugenden ab, die notwendig sind, um unter die Göttinnen eingereiht zu
-werden?«
-
-»Alle,« erklärt er, »zuerst die wichtigste, Bescheidenheit. Sie sind
-von einem ebenso unberechtigten wie unerträglichen Hochmut geradezu
-geschwellt. Sie halten sich für unausstehlich gescheit --.« -- »Ganz im
-Gegenteil,« versichere ich, »ich halte mich für sehr angenehm begabt.«
-
-»Sie sind überzeugt, daß Sie keine Fehler haben --.« -- »Auch das
-nicht,« antworte ich, »aber ich habe gerade meine kleinen Untugenden von
-jeher sehr reizvoll und sympathisch gefunden. -- Fahren Sie übrigens
-nur fort, es gibt für mich nichts Wohltuenderes, als wenn sich jemand so
-eingehend mit meiner Person beschäftigt.«
-
-»Für diese niedrige Eitelkeit verdienen Sie meine Verachtung,« antwortet
-er, »oder ist Ihnen eine körperliche Züchtigung lieber?«
-
-»Ach nein,« sage ich erschrocken und verstecke die Hände unterm Tisch,
-»wenn ich dann lieber um Ihre Verachtung bitten dürfte.«
-
-»Dacht ich mir's doch,« sagt er, »man hat Sie entsetzlich verweichlicht
-im letzten halben Jahr. -- Aber jetzt ernstlich: Was machen die vierzig?
-Oder sind's seitdem mehr geworden oder gar weniger?«
-
-Ich nicke: »Einer weniger.«
-
-»Verkracht?« fragt er und strahlt geradezu teuflisch. -- »Ach, wenn's
-nur das wäre,« sage ich.
-
-»So, so, also ernstlich,« überlegt er. »War's Ihr bester?«
-
-»Ich weiß nicht,« antworte ich, »aber ich glaube, der, den man verloren
-hat, war immer gerade der beste.«
-
-»Na ja,« brummt er, »das hat dann gleich so etwas vom verlorenen Sohn an
-sich. Aber mit Freunden sollte es anders sein. Die man ohne eigene Schuld
-verliert, an denen ist meistens nichts verloren. Und so streitsüchtig Sie
-sind, ich nehme an, es war nicht Ihre Schuld.«
-
-Ich muß lachen. »Ach nein,« sage ich, »ich war ganz und gar unschuldig,
-der Junge hat sich verheiratet.«
-
-»O weh, o weh!« sagt der Professor und schlenkert die Hand durch die
-Luft, als habe er sich verbrannt. »Also ein fast unheilbarer Fall. Wie
-konnte der Trottel nur?«
-
-»Trottel?« sage ich empört. »Er hat sehr vernünftig geheiratet, ideal
-und nützlich zugleich.«
-
-»Also ein idealer Nützlichkeitstrottel,« nickt er. »Und er hat Ihnen
-versprochen: Zwischen uns bleibt alles, wie es war, und unsere Freundschaft
-besteht jede Probe, und so weiter?«
-
-»So ähnlich,« antworte ich.
-
-»Und Sie Schaf haben's geglaubt?«
-
-»Lieber Professor,« sage ich, »ich bin vielleicht geistig etwas unter
-dem Durchschnitt, aber für so ein Schaf dürfen Sie mich nun doch nicht
-halten.«
-
-»Na also,« sagt er, »und trotzdem beklagen Sie sich jetzt.«
-
-»Ich glaube, ich kann Ihnen mit gutem Gewissen die ehrenvolle Anrede
-zurückgeben. Denken Sie Schaf vielleicht, uns schmerzen nur die Dinge, die
-wir nicht vorausgesehen haben?«
-
-»Es war dumm, natürlich,« brummt er. »Sie haben recht. Es gibt
-allerdings Menschen, denen das Vorhergewußthaben jeden Schmerz versüßt,
-aber dazu gehören Sie anscheinend nicht. Wieso kam es aber zum Bruch? Hat
-man Sie etwa beleidigt?«
-
-»Es ist gar kein Bruch, und mit Absicht hat man mich wohl nicht
-beleidigt,« antworte ich, »aber haben Sie nicht schon bemerkt, daß
-uns die Kränkungen am tiefsten treffen, die uns unabsichtlich zugefügt
-werden?«
-
-»Natürlich,« sagt er, »die verfluchte Eitelkeit! Wir ertragen's
-eher, daß man uns haßt und verabscheut, als daß man uns gleichgültig
-gegenübersteht. -- Übrigens vermute ich, Sie verlieren nicht mehr viel
-an dem Verkehr, denn wir waren uns ja von jeher darüber einig, daß
-glücklich verheiratete Leute kein Umgang für Menschen von Geschmack sind.
-Ob sie's wollen oder nicht, sie bringen ihr Familiensofa überall mit hin,
-und man kann sie noch so entfernt voneinander placieren, immer hat man das
-Gefühl, als säßen sie Hand in Hand. -- Ist übrigens noch kein Ersatz in
-Sicht?«
-
-»Ersatz?« wiederhole ich. »Jeder ist doch ein Mensch für sich, und
-einer kann den anderen nicht ersetzen.«
-
-»Nun,« antwortet er, »meistens ist es doch im Leben so, daß uns die
-Dinge schon halb verloren sind, während wir sie noch zu halten glauben,
-und während von uns ungeahnt, irgendwo aus der Flut der Erscheinungen
-schon das Neue aufsteigt, das den Ersatz in sich trägt.«
-
-Wir schweigen eine Zeitlang, und ich schaue ein wenig gedankenlos in die
-kleine rosa Lampe vor mir. Endlich sage ich:
-
-»Drollig, mir ist ein Wort im Ohr hängen geblieben, das Sie vorhin
-sprachen. Vielleicht, weil's so widerspruchsvoll klingt. Was ist das, ein
-idealer Nützlichkeitstrottel?«
-
-»Na,« antwortet er, »widerspruchsvoll klingt das Wort nun ganz und gar
-nicht, oder doch nur für den Trägen im Geist. Im allgemeinen drücke ich
-mich allerdings höflicher aus und sage: ideale Nützlichkeitsmenschen.
-Das Trottel sollte vorhin nur die weitverbreitete Trottelei des Heiratens
-treffen.«
-
-»Meine geistige Trägheit schreit wahrscheinlich zum Himmel,« antworte
-ich, »aber ich kann mir auch unter der milderen Form nichts vorstellen.
-Also bitte, Herr Professor --«
-
-Er fährt sich seufzend über den, trotz seiner Jugend, schon recht kahlen
-Schädel. »Gräßlich, wenn man durch die verfluchte Galanterie auch noch
-außerhalb der Vorlesungen zum Dozieren gezwungen wird. Aber nun passen Sie
-wenigstens auf, sonst setzt's was. Noch einmal kommen Sie nicht mit meiner
-Verachtung davon, diesmal knipse ich.«
-
-»Mein Denkapparat wird nur so rasseln,« versichere ich und verstecke die
-Hände unterm Tisch.
-
-»Na also,« er denkt einen Augenblick nach, »wissen Sie noch etwas von
-Lessings Hamburgischer Dramaturgie?«
-
-»Ja,« sage ich stolz, »sie handelt hauptsächlich von Laokoon.«
-
-»Ganz recht,« lobt er. »Sie meinen zwar den Laokoon von Lessing, aber
-das schadet nichts.« --
-
-»Nein,« sage ich, »es schadet sicher nichts. Was hat es aber mit den
-idealen Nützlichkeitsmenschen zu tun?«
-
-»Komische Frage,« antwortet er, »was soll es ausgerechnet damit zu tun
-haben? Ich muß morgen einen Vortrag über die Hamburgische Dramaturgie
-halten und wollte mich von Ihnen inspirieren lassen.«
-
-»Und ist es geglückt?« frage ich. -- »Vollkommen,« antwortet er, »ich
-bin nun so im Zug, daß ich Ihnen meinen Vortrag sofort halten werde.«
-
-»Ich hoffe, Sie sind nicht böse, wenn ich dabei die Augen schließe,«
-frage ich, »das ist nämlich meine Gewohnheit bei Vorträgen und
-vielleicht der Grund zu meiner geistigen Fortgeschrittenheit.«
-
-»Meinetwegen,« sagt er, »es ist mir ohnedies peinlich, wenn Sie mich so
-mit den Blicken verzehren und mir jedes Wort von den Lippen saugen.«
-
-Ich überwinde einen krampfartigen Lachanfall, und er beginnt:
-
-»Lessing war der Ansicht, daß in Hamburg das Prinzip der Nützlichkeit
-das überwiegende und ausschlaggebende sei. Davon steht zwar nichts in
-seiner Hamburgischen Dramaturgie, aber wir dürfen das dem Mann nicht zum
-Vorwurf machen, denn warum hätte er das gerade da hineinschreiben sollen?
-Er war trotzdem dieser Ansicht, und wir sind es mit ihm. Nun gibt es
-sowohl in, als auch außerhalb Hamburgs verschiedene Arten von
-Nützlichkeitsmenschem. =Ad= 1: Die gewöhnliche Feld-, Wald- und
-Wiesenpflanze, die jeder sofort erkennt, =ad= 2: die verfeinerte Sorte,
-die zwar auch nicht ganz selten ist, aber nur von Denkenden und geistig
-Hochstehenden erkannt und richtig eingereiht wird.
-
-Es sind die Glücklichen, die nie eine Überzeugung, nie eine Neigung
-opfern müssen, weil ihre Überzeugung und ihre Neigung sich immer nach
-dem ihnen Nützlichen dreht, wie die Magnetnadel nach Norden. So leben sie
-unbeschwert von Sentiments, die nicht gerade der Augenblick in ihnen weckt,
-unbeschwert vor allem von retrospektiven Störungen, denn alles ist
-in ihrem Gedächtnis, oder sagen wir in dem Gedächtnis ihres Herzens
-ausgelöscht, was ihnen nicht mehr nützen kann. Und man darf von ihnen als
-ideal veranlagten Naturen nicht verlangen, daß sie sich nach etwas anderem
-als dem Zug ihres Herzens richten.
-
-Sie sehen denn auch mit Verachtung auf den gewöhnlichen
-Nützlichkeitsmenschen herab, der der Stimme seines Herzens zuwider handelt
-und sich oft erst nach hartem Kampf mit sich selbst und mit bewußter
-Kraft und Rohheit das erringen muß, was ihnen eine besonders glückliche
-Veranlagung schenkt. Ihre Entschuldigung, wenn sie einer bedürfen, ist,
-daß sie nichts von dieser glücklichen Veranlagung wissen und ihrer
-wirklichen Überzeugung nach als ideal geartete Menschen durch die Welt
-gehen. -- Kapiert?«
-
-»Jawohl,« sage ich.
-
-»Also kurz rekapitulieren!« Er sieht mich streng an, und ich sage, die
-Hände krampfhaft unterm Tisch:
-
-»Lessings Hamburgische Dramaturgie gipfelt in der Erkenntnis, daß es
-gewöhnliche und ideale Nützlichkeitsmenschen gibt. Die ersten werden zum
-Beispiel nie ein armes Mädchen heiraten, die zweiten werden sich nie in
-ein armes Mädchen verlieben.«
-
-»Basta punktum!« sagt der Professor grinsend, »da hat sich's der
-Weiberkopf Gott sei Dank in seine Weibersprache übersetzt. Vom Verlieben
-und Heiraten muß bei euch die Rede sein, da seid ihr zu Hause und
-geborgen, da könnt ihr mitschwimmen und plätschern wie ein Fisch im
-Wasser.«
-
-»Weshalb verallgemeinern Sie so?« frage ich sanft. »Sollten Ihre
-dreiundvierzig Freundinnen am Ende ebenso trivial sein wie ich?« -- »Die
-werden sich hüten,« antwortet er, »wer mit mir vom Heiraten spricht, hat
-ausgespielt.«
-
-»Erzählen Sie ein bißchen von den dreiundvierzig,« schlage ich vor,
-um ihn wieder milder zu stimmen. »Sind sie alle sanft und bescheiden oder
-sind auch Wilde und Feurige dabei oder herb Verschlossene oder
-hinreißend Kluge? Daß sie alle berückend schön sind, setze ich als
-selbstverständlich voraus.«
-
-»Alles ist da,« antwortet er stolz.
-
-»Das muß ja unglaublich interessant und spannend sein,« schmeichle ich
-ihm, und er lächelt in teuflischer Verschlagenheit vor sich hin.
-
-»Sie sind so verschwiegen,« beklage ich mich, »und ich habe Ihnen heute
-schon so viel von mir erzählt, daß Sie sich freundschaftlicherweise
-revanchieren dürften.«
-
-»Ja,« sagt er nach einer kleinen Pause, »ich will Ihnen erzählen:
-Sie ist sanft und feurig und schelmisch und ernst und verschlossen und
-mitteilsam und stolz und bescheiden und alles zugleich. Und schön ist
-sie --«
-
-»Sie, sie!« sage ich ganz fassungslos, »ich denke, es sind
-dreiundvierzig!«
-
-»Quatschkopf!« sagt er und schnippt nach meiner Hand. »Sie wissen doch
-schon lange, daß es nur eine ist.«
-
-
-
-
-Warum der kleine Dichter einen Nasenstüber bekam --
-
-[Illustration]
-
-
-»Der kleine Dichter« hieß er im Sanatorium, wo ich ihn kennenlernte,
-zur Unterscheidung von dem großen, der ihn sowohl an Körperlänge, als
-an Berühmtheit überragte. Aber hier in Hamburg, wo er nicht im Schatten
-seines größeren Kollegen lebt, nennen wir ihn den Dichter schlechthin,
-und wenn mir doch mal das Beiwort entschlüpft, dann hat es nichts mit
-einer Wertung zu tun, sondern ist ein Kosewort, und er läßt sich's
-behaglich schnurrend wie eine Katze gefallen.
-
-Er hat mich gelehrt, daß ein Genie es unsagbar schwer im Leben hat und
-unter tausend Qualen leidet, von denen wir anderen nichts ahnen, und
-daß es daher unsere Pflicht ist, die Genies auf jede erdenkliche Art zu
-verwöhnen und ihnen so die Last ihrer Sendung zu erleichtern. Und ich habe
-damit angefangen, daß ich eine eierschalendünne Tasse gekauft habe, die
-er als seine Stammtasse betrachtet und aus der er ungeahnte Fluten von
-Kaffee schlürft, denn er bedarf starker Stimulanzen.
-
-Auch Kuchen und Zigaretten sind Stimulanzen, deren er in hohem Maße
-bedarf.
-
-Heute ist sein schmales Gesicht von Wind und Kälte gerötet, wie er bei
-mir eintritt. Er reibt sich heftig die auffallend schönen Hände, so daß
-das schmale goldene Armband ein wenig sichtbar wird, und dehnt sich dann
-behaglich im Sessel.
-
-»Geradezu niederschmetternd ist es draußen,« berichtet er, »und ich
-weiß wirklich nicht, ob wir es uns gefallen lassen müssen, daß man uns
-unausgesetzt von oben herab mit kaltem Wasser begießt.«
-
-»Ganz und gar nicht,« antworte ich und reiche ihm seine Tasse. »Sie
-haben ja auch Ihre Gegenmaßregel schon getroffen, die einzig wirksame, die
-es gibt.«
-
-»Ja, ich bin hierhergeflüchtet,« sagt er, »übrigens nicht nur vor dem
-Regen, denn ich habe ja auch zu Hause gewissermaßen ein Dach über
-dem Kopf. Aber dies hier ist kein Dach, es ist eine Art Baldachin, eine
-Tempelwölbung, wenn Sie wollen, und nach so etwas sehnt man sich von Zeit
-zu Zeit geradezu elementar.«
-
-Ich blicke ihn prüfend an und entdecke, daß er müde aussieht und daß
-sein schöngeschnittenes Gesicht noch etwas hagerer als sonst erscheint.
-
-»Sie haben zu viel gearbeitet,« sage ich. -- »Ja,« antwortet er
-seufzend, »ich habe mich geschunden und abgerackert, hundert Pferdekräfte
-habe ich vorgespannt, weil ich es zwingen wollte. Äh, lassen wir's jetzt!
-Hier ist es schön, und der Gedanke an Arbeit liegt in nebelhafter Ferne.
--- Denn sehen Sie,« fährt er lebhaft fort, »trotzdem Sie oft über
-meinen irrsinnigen Fleiß schelten, und trotzdem ich manchmal arbeite wie
-ein Tier, im Grund meines Wesens bin ich faul, -- ohne jede Beschönigung,
-schlechthin faul.«
-
-»Ich weiß,« antworte ich, »und kann Sie mir sehr gut als
-leidenschaftlichen Anhänger meines Lieblingsgottes vorstellen, des
-göttlichsten Gottes, der das absolute Nichtstun lehrt und das süße
-Versinken in sich selbst.«
-
-»Ja,« antwortet Robert Helström mit einer großen Geste, »und hier ist
-der Tempel des Gottes Tao und seine fanatischste Priesterin. Und mir ist
-fast so, als kennten wir einander von Urzeiten her, und unsere Lotosblumen
-hätten einmal nahe beieinander geblüht. Ja wahrhaftig,« er stützt den
-Kopf in die Hand und betrachtet mich aufmerksam, »wenn ich mich recht
-besinne, gnädige Frau, Sie haben sich in den letzten zweitausend Jahren
-nicht im geringsten verändert.«
-
-»Kleiner Dichter,« sage ich und sehe ihm in die necklustigen Augen. »Was
-wollen Sie eigentlich heute von mir? Ihre Redensarten sind so süß und
-glupschig wie Pralinés und haben auch das mit Pralinés gemein, daß man
-nicht recht weiß, was darin steckt. Also sagen Sie's gleich: muß ich
-wieder bei der Abfassung eines knifflichen Briefes an Ihren Verleger
-helfen, der so ungefähr haarscharf an einer Injurienklage vorbeiführt?
-Oder habe ich Sie heute mit eigener Lebensgefahr aus einer verzwickten
-Liebesaffäre zu erretten? Oder was ist es sonst?«
-
-Aber in Robert Helströms Kopf scheint nur _ein_ Wort haften geblieben zu
-sein, er macht einen langen Hals und blickt suchend auf dem Tisch umher.
-
-»Apropos Praliné?« murmelt er.
-
-Ich zeige ihm meine geöffneten Hände. »Alle,« antworte ich.
-
-»Unerhört,« sagt er und lehnt sich entrüstet im Sessel zurück. »Ich
-werde mich beschweren!«
-
-»Tun Sie das,« nicke ich. »Wer sich beschwert, erleichtert sich
-merkwürdigerweise, und das ist auch meist der einzige Erfolg, den er dabei
-aufzuweisen hat.«
-
-»Gut,« sagt Robert Hellström, »diesen Splitter aus dem Auge Ihrer
-Nächsten sollten Sie den Fliegenden Blättern übersenden und für den
-Erlös neue Pralinés kaufen. -- Übrigens ist doch sicher nur Marke zwei
-und drei ausgegangen, während Nummer eins noch beinahe unangetastet im
-Schokoladenschrank ruht.«
-
-»Selbstverständlich,« antworte ich. »Nummer eins ist streng persönlich
-und unübertragbar. Nur zur Aufheiterung meiner einsamen Stunden bestimmt
-und hie und da im Theater zur geistigen Anregung.«
-
-Robert Helström schweigt empört, aber die tausend Qualen, die ein Genie
-zu erdulden hat, stehen so deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, daß
-ich gerührt aufstehe und zum Schokoladenschrank gehe. Er bemerkt es
-scheinbar nicht, sondern blickt schweigend nach der Stubendecke. Erst wie
-ich mit der kleinen Schachtel an den Tisch zurückkomme, sagt er lebhaft:
-
-»Wir wollen sie ausschütten, der besseren Übersicht halber,« und leert
-die Schachtel vorsichtig auf einen Glasteller. Dann sitzen wir ein
-paar Minuten still und einträchtig zusammen, wie Kinder, die auf die
-angenehmste Art beschäftigt sind.
-
-Endlich sage ich: »Etwas muß auch für das nächste Mal bleiben,« und
-stelle den Teller aus seiner Reichweite.
-
-»Mir fällt übrigens ein, daß wir uns lange nicht gesehen haben.«
-
-»Vier Wochen fast,« antwortet er, »und es spricht weder für Sie
-noch für mich, daß Ihnen das jetzt erst einfällt. Ich will zu Ihrer
-Entschuldigung annehmen, daß Sie von anderer Seite genügend mit geistiger
-Kost versehen wurden.«
-
-»Es muß wohl ausreichend gewesen sein,« antworte ich. »Meine Freunde
-haben ja alle viel Zeit, und so kommt es --«
-
-»Ja, ja,« macht er nachdenklich und fährt dann lebhaft und mit etwas
-affektierter Leichtigkeit fort:
-
-»Ja, das wäre doch interessant zu wissen, gnädige Frau, und ich hoffe,
-Sie antworten mir ehrlich: Ist Ihnen noch nie der eine oder der andere
-Ihrer Freunde gefährlich geworden? Es läge doch so nahe --«
-
-Ich kann's nicht ändern, ich muß dem kleinen Dichter einmal mit der Hand
-übers Gesicht streichen und ihm dann einen Nasenstüber versetzen.
-
-»Einer?« sage ich. »Oder der andere? Was denken Sie eigentlich? Jeder
-einzelne ist mir schon gefährlich gewesen, der eine auf Tage, der andere
-auf Stunden und manchmal waren's auch nur Minuten, aber zum Glück hat
-immer einer den anderen wieder aufgehoben, so daß die Sache hübsch im
-Gleichgewicht blieb, -- =balance of power= nennt man so etwas, glaube
-ich.«
-
-Der kleine Dichter sieht unzufrieden aus, und ich beuge mich ein wenig zu
-ihm hinüber und frage:
-
-»Also weshalb habe ich Sie solange nicht gesehen?«
-
-Er weicht meinem Blick aus: »Ich wollte arbeiten, ich sagte es ja.«
-
-»Früher war das ein Grund mehr, zu kommen.«
-
-»Ja, früher!« antwortet er rätselhaft und fragt dann, unbeweglich in
-den blauen Rauch starrend, der seiner Zigarette entsteigt:
-
-»Kennen Sie das, was einen nicht arbeiten und nicht ausruhen läßt, nicht
-wachen und nicht schlafen, die Qual, die einen auffrißt bei lebendigem
-Leib?«
-
-»Wer kennt das nicht?« antworte ich, und dann ist's eine Weile still im
-Zimmer.
-
-Und dann frage ich: »Wissen Sie denn so genau, daß sie einen anderen
-liebt?«
-
-»Sie ist verheiratet,« sagt er leise, und da ich ihn schweigend ansehe,
-fährt er hastig fort: »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber er ist der
-Mann, und er hat das Recht, und ich kann den Gedanken nicht ertragen --«
-
-Er steht so heftig auf, daß der kleine Tisch ins Schwanken gerät, und die
-eierschalendünne Tasse klirrt.
-
-»Und er, der Ehemann?« frage ich. »Hat er nicht mehr Grund zur
-Eifersucht als Sie?«
-
-»Der?« lacht er. »Weshalb denn? Er ist ja seiner Sache sicher; sie ist
-vernünftig, denkt er, sie wird mir schon keine Dummheiten machen. Und
-darin hat er recht, Gott sei's geklagt!«
-
-Ich schweige, und es geht mir durch den Kopf, daß hier ein fundamentaler
-Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Empfinden sein muß. Mag
-sie lieben, wen sie will, denkt der Normalmann, wenn sie mir nur keine
-Dummheiten macht! Mag er Dummheiten machen, wenn er will, denkt die
-Normalfrau, wenn er nur keine andere so liebt wie mich!
-
-Und ich will schon ein bißchen stolz auf mein eigenes Geschlecht werden,
-denn unser Standpunkt scheint mir der geistigere und vornehmere zu sein,
-aber ehe ich dazu komme, fallen mir schon wieder hundert Für und Wider
-ein, und aus diesen Erwägungen heraus frage ich Robert Helström, der mit
-langen Schritten das Muster meines Teppichs auf und ab schreitet und dabei
-gewisse Ornamente ängstlich zu vermeiden scheint:
-
-»Weshalb sagt man eigentlich, ein Mann sinkt und eine Frau fällt?«
-
-Er steht still und sieht mich einen Augenblick zerstreut an, dann sagt
-er: »Das ist doch sehr einfach. Wir Männer sind schon unten, wir leben
-sozusagen im Sumpf und können nur noch tiefer sinken und versumpfen,
-langsam und allmählich. Die Frau steht auf einer stolzen Höhe, aber ein
-Schritt zur Seite stürzt sie in den Abgrund.«
-
-»Kinder!« sage ich, »warum habt ihr uns nur auf ein so gräßlich
-gefährliches Postament gestellt? Hat eine von uns vielleicht jemals nach
-dieser schwindelnden Höhe verlangt?«
-
-Der kleine Dichter lacht. »Meiner bescheidenen Erfahrung nach nicht. Aber
-Sie haben recht, _wir_ haben die Frau auf das ehrenvolle Piedestal erhoben.
-Im Manne ist eine Sehnsucht nach Reinheit, eine Andacht und Ehrfurcht vor
-der Unbeflecktheit des Weibes, die ihn trotz allem der Frau gegenüber
-zu dem ethisch höherstehenden Wesen macht. Bedenken Sie nur, daß selbst
-guterzogene und gut veranlagte Mädchen den berüchtigten Don Juan dem
-Tugendhelden vorziehen, während wir, trotz aller Verirrungen, das reine,
-das jungfräuliche Weib am meisten lieben.«
-
-»Ja, ja,« sage ich nachdenklich, »aber wie läßt sich diese
-rätselhafte, höchst widerspruchsvolle Tatsache erklären, denn mit einer
-höheren ethischen Veranlagung des Mannes hat sie sicher nichts zu tun.«
-
-»Ich finde das unrecht,« schmollt er, »nicht mal das bißchen höhere
-Ethik gönnen Sie uns, doch sicher einer der am wenigsten begehrten
-menschlichen Vorzüge. Oder halten Sie es vielleicht für ein Vergnügen,
-moralisch zu empfinden?«
-
-»Sicher nicht,« antworte ich. »Ihr würdet euch sonst stärker damit
-belasten. Aber ich glaube, ich habe des Rätsels Lösung gefunden: Aus
-Egoismus liebt der Mann das jungfräuliche Weib, nicht aus Ehrfurcht vor
-ihrer Reinheit, sondern aus dem rohen Verlangen heraus, der Erste zu sein,
-der diese Reinheit besitzt und der sie zugleich zerstört. Und aus tief
-ethischem Empfinden liebt die Frau den gesunkenen Mann, aus Opfer-
-und Schmerzbereitschaft und aus dem Trieb heraus, ihn zu heben und zu
-erlösen --«
-
-Ich sehe den kleinen Dichter stolz an, aber der schüttelt baß verwundert
-den Kopf.
-
-»Ei du liebes Herrgöttle!« sagt er, »seit wann sind Sie denn so
-begeistert weiblich gesinnt? Und wer sagt denn, daß wir partout eure
-Reinheit zerstören wollen? Daß wir's tun, ist eine bedauerliche
-Nebenerscheinung, aber doch nicht Zweck und Ziel. Im Gegenteil, es
-stimmt uns traurig und läßt uns immer von neuem nach neuer Reinheit und
-Unberührtheit suchen. Daher der Typ des Don Juan, der rastlos sucht und
-der erst zur Ruhe kommen kann, wenn er das Ideal gefunden hat, die Frau,
-deren Reinheit unzerstörbar ist, Mutter und Jungfrau zugleich. Denn das
-ist nicht allein das Ideal der katholischen Kirche, der Madonnenkult lebt
-in jedem Mann.«
-
-»Nun,« antworte ich, »ich bin sicher, sämtliche Lebejünglinge und
--greise werden Ihnen Dank wissen, daß Sie aus ihrer Unersättlichkeit
-die Sehnsucht nach einem Ideal, sozusagen also aus ihrer Not eine Tugend
-gemacht haben. Wie auch alle abenteuerlustigen Backfische mir dankbar die
-Hand küssen sollten, wenn ich ihre Sensationsgier in Opferfreudigkeit
-umdichte. -- Denn man kann bekanntlich alle Dinge so und anders sehen, das
-Gegenteil ist meistens ebenso richtig.«
-
-Der kleine Dichter hat sich wieder an den Tisch gesetzt und raucht mit
-Hingebung seine Zigarette.
-
-»Die Weisheit der Temperamentlosen,« bemerkt er und fährt plötzlich mit
-nervöser Gereiztheit fort: »Sie sollten sich nicht zu ihr bekennen.
-Wer alles so und anders sehen kann, der mag sehr weise sein, aber er kann
-nichts hassen und nichts lieben. Er liebt einmal hier und einmal da, und
-vielleicht gibt es sogar Menschen, die hier und da zugleich lieben können.
-Wer weiß es?«
-
-»Ja, wer weiß es?« wiederhole ich und zünde mir eine Zigarette an. Und
-dann, in unseren gewohnten Neckton verfallend, füge ich lächelnd hinzu:
-»Kleine Dichter müssen nicht so viel fragen. Sie kennen ja bekanntlich
-die Welt durch Antizipation und brauchen unsere Weisheit nicht.«
-
-Aber er fährt in seinem heftigen Tone fort, und seine Augen blitzen mich
-böse an:
-
-»Beneidenswerte Leute, die so weise sind, daß sie über alles lächeln
-können. Verspielte Leute, die das Leben zwischen ihren schmalen Händen
-und spitzen Fingern halten wie ein drolliges und seltsames Spielzeug und
-es hin und her drehen und lächelnd betrachten. Leute, denen alles zum
-Spielzeug wird, Worte und Empfindungen und Dinge und Menschen. -- Ja,
-Menschen auch!«
-
-Er schweigt, und ich nehme seine Hand und streichle sie leise.
-
-»Nicht schelten,« sage ich. »Lassen Sie uns spielen! Und lassen Sie uns
-die Augen wegwenden von dem Abgrund, der überall neben uns klafft, wo
-wir gehen und stehen, und in den wir versinken müssen, wenn wir
-hinunterschauen. Lassen Sie uns am Rand spielen, wie Kinder, die von nichts
-wissen.«
-
-Wir schweigen einen Augenblick, dann sagt er leise, seine Wange an meine
-Hand gelehnt:
-
-»Wissende Kinder sind es, die die Augen vor dem Abgrund verschließen
-und mit ihrem eigenen Herzen spielen wie mit der ganzen Welt. -- Aber
-vielleicht ist es doch wahr, daß nichts auf Erden uns so nötig ist wie
-ein Frauenlächeln, und daß nichts im Leben so ernst und so heilig ist wie
-das Spiel.«
-
-»Lieber kleiner Dichter,« sage ich und reiche ihm den Rest der Pralinés
-hinüber, »weise oder nicht, für mich sind Sie ein großer Dichter.«
-
-
-
-
-[ Hinweise zur Transkription
-
-
-Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.
-
-Darstellung abweichender Schriftarten: _gesperrt_, =Antiqua=.
-
-Bei direkter Rede wurden sowohl Komma als auch Punkt vereinheitlichend
-jeweils vor dem schließenden Anführungszeichen angeordnet.
-
-Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden
-Ausnahmen,
-
- Seite 43:
- "sie" geändert in "Sie"
- (recht gut, und was Sie jetzt sagen)
-
- Seite 44:
- "« --" eingefügt
- (optimistisch genug zu behaupten, --« --)
-
- Seite 44:
- "»" entfernt vor "Ich"
- (so nennen. -- Ich will das erst beweisen)
-
- Seite 55:
- "»" entfernt vor "Aber"
- (Aber Paulsen schüttelt den Kopf.)
-
- Seite 81:
- "»" eingefügt
- (sagt Erich, »auf diesen liebenswürdigen Trick)
-
- Seite 114:
- "»" eingefügt
- (»daß sich auch bei Ihnen einmal)
-
- Seite 127:
- "»" eingefügt
- (»wir treffen uns oft des Abends im Café)
-
- Seite 127:
- "«" eingefügt
- (Es wird nie zutage kommen.«) ]
-
-
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Gespräche im Zwielicht, by
-Karin Delmar [pseud.] and Terese Robinson
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESPRÄCHE IM ZWIELICHT ***
-
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-<title>The Project Gutenberg eBook of
-Gespräche im Zwielicht
-by
-Karin Delmar</title>
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-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Gespräche im Zwielicht, by
-Karin Delmar [pseud.] and Terese Robinson
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Gespräche im Zwielicht
-
-Author: Karin Delmar [pseud.]
- Terese Robinson
-
-Release Date: August 23, 2020 [EBook #63021]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESPRÄCHE IM ZWIELICHT ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-https://www.pgdp.net
-
-
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-
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-
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-
-
-<p class="fsxl ce"><a class="pagenum" id="page_003"> </a>
-<span class="ge">Karin Delmar</span></p>
-
-<h1>Gespräche im Zwielicht</h1>
-
-<p class="ce fsl mt2"><b>*</b></p>
-
-
-<p class="ce mt4"><span class="ge"><b>Gebrüder Enoch / Verlag / Hamburg</b></span></p>
-
-
-<p class="ce mt2"><a class="pagenum" id="page_004"> </a>
-Alle Rechte, auch das der Übersetzung, vorbehalten<br />
-<i>Amerikanisches Copyright 1924 by Gebrüder Enoch,<br />
-Hamburg. Printed in Germany</i></p>
-
-
-<p class="ce fsxs mt2">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_005" title="5"> </a>
-Eine Einleitung, die eigentlich das letzte<br />
-Gespräch ist und deshalb am Anfang und<br />
-am Schluß gelesen werden kann</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p005i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_007" title="7"> </a>
-Die Leute, die Kurt Georgi nicht näher kennen
-und ihm seine tadellose Erscheinung mißgönnen,
-werfen gerne die nachlässige Bemerkung hin, daß
-er doch in der Hauptsache nur dekorativ wirke und
-eine fatale Ähnlichkeit mit den unsäglich vornehmen
-Dandys habe, wie sie die englischen Familienblätter
-und die Plakate unserer Zigarettenfirmen schmücken.</p>
-
-<p>Ja, ich darf nicht verschweigen, daß eine junge
-Dame, die ihn in einem Konzert mit verschränkten
-Armen an einer Säule lehnen sah, in den erstaunten
-Ruf ausbrach: »Also den gibt es wirklich!«</p>
-
-<p>Aber ich darf auch nicht verschweigen, daß Kurt
-Georgi, als ich ihm diese frohbewegten Worte
-hinterbrachte, mit einem gar nicht dandyhaften,
-sondern sehr herzlichen und lauten Lachen den
-Kopf im Sessel hintenüberwarf und ein übers
-andere Mal »Reizend!« rief.</p>
-
-<p>Denn er ist in Wirklichkeit gar kein Dandy.</p>
-
-<p>Alles dies gehört natürlich durchaus nicht hierher,
-es soll nur einen Eindruck von dem jungen
-Manne geben, der, soeben zu mir ins Zimmer
-tretend, mir mit etwas übertriebener Feierlichkeit
-<a class="pagenum" id="page_008" title="8"> </a>
-das Manuskript der Gespräche im Zwielicht
-überreicht, das ich ihm zur Durchsicht geliehen
-hatte.</p>
-
-<p>Die Feierlichkeit hält nicht lange stand, er streift
-mit einem spitzbübischen Blick den kleinen Tisch,
-auf dem Kuchen und Zigaretten aufgebaut sind
-und fragt mit einer leisen, aber betonten Ängstlichkeit
-in der Stimme:</p>
-
-<p>»Soll ich am Ende auch unter die Zwielichtfreunde
-in dem Buch eingereiht werden?«</p>
-
-<p>»Keine Sorge,« antworte ich, »der Kreis ist
-geschlossen. Sie müssen zugeben, elf Freunde sind
-genug, das Publikum könnte die Geduld verlieren.«</p>
-
-<p>»Und was schlimmer ist,« setzt er hinzu, »es
-könnte zwölf als ein Dutzend auffassen.«</p>
-
-<p>Ich nicke. »Aber nicht wegen dieser furchtbaren
-Möglichkeit allein sind Sie ausgeschaltet worden.
-Es mußte ja auch einer außerhalb bleiben, um unbefangen
-urteilen zu können und mir dann&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Georgi prallt einen Schritt zurück und hebt die
-Hände mit einer entsetzten Abwehrgeste hoch. Aber
-ich fahre unbeirrt fort: »Sie wissen doch, was vom
-Merker geschrieben steht: Er werde so bestellt, daß
-weder Haß noch Lieben das Urteil trüben, das er
-fällt. &ndash; Und ich dachte, Ihre wohltuend kühle
-Sachlichkeit&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_009" title="9"> </a>
-»Sachlichkeit!« wiederholt er empört, »für dieses
-harte und ungerechte Wort will ich mich bösartig
-rächen, und zwar am liebsten auf der Stelle durch
-eine peinlich sachliche Kritik.«</p>
-
-<p>»Erst Kaffee trinken,« bitte ich, und er setzt
-schnell hinzu, während er zufrieden den Tisch überblickt:
-»Wobei ich nur nebenbei bemerken möchte,
-daß ich jeder Art von Bestechung zugänglich bin.«</p>
-
-<p>»Ich weiß,« antworte ich, »und habe deshalb
-Ihre Lieblingskeks backen lassen, die ganz dünnen,
-die hauchzarten und zerbrechlichen, mit einem Wort,
-die Ästheten unter den Keks.«</p>
-
-<p>»Reizend!« lacht Kurt Georgi, und seine länglich
-geschnittenen Augen werden ganz schmal vor
-Vergnügen:</p>
-
-<p>»Diese Erzeugnisse einer überraffinierten Kultur
-sind gewiß so bekömmlich, daß selbst die zarteste
-Dame ein Dutzend davon verschlingen kann.«</p>
-
-<p>»Nur elf, wie Sie wissen,« berichtige ich, »und
-außerdem &ndash; verschlingen, wie vulgär! Genießen
-sagt man, oder auf der Zunge zergehen lassen,
-wenn es sich um etwas so Ästhetisches und Delikates
-handelt.«</p>
-
-<p>»Wie um Ihre Gespräche hier zum Beispiel,«
-bemerkt er mit einer Bewegung nach dem Manuskript
-hin. »Die haben entschieden etwas, was auf
-der Zunge zergeht, und außerdem&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_010" title="10"> </a>
-»O weh,« unterbreche ich ihn, »wir kommen
-nicht drum herum, Sie müssen erst Ihre Kritik
-loswerden, vorher schmeckt's Ihnen nicht. Aber
-hüten Sie sich, wer weiß, ob Sie nachher noch
-etwas bekommen.«</p>
-
-<p>»Ich werde nicht zu ehrlich sein,« versichert er
-schnell.</p>
-
-<p>»Darum möchte ich auch energisch bitten,« sage
-ich, »denn Sie wissen, ich gehöre zu den seltenen
-Menschen, die ehrlich genug sind, einzugestehen,
-daß ihnen Ehrlichkeit in den Tod verhaßt ist.«</p>
-
-<p>»Wundervoll, wie Sie mir die Aufgabe erleichtern,«
-antwortet Georgi. »Aber ich hätte mir
-auch im anderen Fall kein Gewissen aus meiner
-Unehrlichkeit gemacht. Denn es ist doch wahrhaftig
-ganz und gar gleichgültig, was man in
-solchen Fällen sagt. Die Kritik kann noch so verneinend
-sein, der andere hört von allem nur das
-Ja. Noch dazu, wenn der andere eine Frau ist.«</p>
-
-<p>»Der Anfang ist verheißungsvoll,« sage ich,
-und decke die Mütze über die Kaffeekanne, »kommen
-Sie also zur Sache!«</p>
-
-<p>»Also,« holt Kurt Georgi aus, bequem zurückgelehnt
-und mit beiden Händen die Lehnen des
-Sessels umspannend, »fürs erste: Ich finde die
-Idee des Buches nett und originell. In elf zwanglosen
-Plaudereien sind elf junge Männer geschildert,
-<a class="pagenum" id="page_011" title="11"> </a>
-die nur durch die Freundschaft zu einer Frau,
-also sozusagen durch eine Art Personalunion, miteinander
-verbunden sind.«</p>
-
-<p>Ich nicke dankbar und er fährt fort: »Vor
-allem bewundere ich dabei, wie geschickt und zartfühlend
-Sie es verstanden haben, in diesen Gesprächen
-jede allzu prägnante Charakterschilderung
-der Freunde zu vermeiden. Das Buch hätte im
-anderen Fall leicht die Art eines Schlüsselromans,
-wenigstens für Ihren Kreis, annehmen können,
-und das wäre natürlich höchst unfair gewesen.«</p>
-
-<p>Da ich diesmal kein Zeichen des Einverständnisses
-gebe, setzt er mit einem schnellen Blick nach
-den Keks und einer kleinen Neigung des Kopfes
-hinzu: »Wie gesagt, ich achte Ihre Zurückhaltung.«</p>
-
-<p>»Sehr fein,« lobe ich. »Reden Sie nur weiter.
-Es ist geradezu ein exquisites Vergnügen, von Ihnen
-massakriert zu werden.«</p>
-
-<p>Kurt Georgi lehnt den Kopf im Sessel hintenüber
-und schaut einen Augenblick sinnend zur
-Stubendecke hinauf. Dann spricht er vorsichtig,
-beinah tastend weiter:</p>
-
-<p>»Nun könnte man ja auch sagen, und der intelligente
-Leser wird es zweifellos tun und damit
-das Verdienst Ihrer Zurückhaltung schmälern,
-man könnte sagen, daß Sie die Freunde nicht
-schärfer charakterisieren konnten. Zum Teil schon
-<a class="pagenum" id="page_012" title="12"> </a>
-deshalb nicht, weil Sie sich darauf kapriziert
-haben, sie fast ohne jede Beziehung zur Außenwelt
-zu zeigen und alle in der gleichen Atmosphäre
-und vom gleichen Gesichtswinkel aus gesehen.
-Dieser Umstand hat unbedingt etwas, nun ja,
-sagen wir etwas Nivellierendes, und die jungen
-Männer, so verschiedenartig sie sein mögen, erscheinen
-daher alle wie Glieder einer&nbsp;&ndash;« Georgi
-deutet mit einer seiner überlebensgroßen Gesten
-einen weiten Kreis an &ndash; »wie Glieder einer
-großen Familie.«</p>
-
-<p>»Die sie ja in einer gewissen geistigen Art auch
-wirklich sind,« werfe ich ein, doch er achtet nicht
-darauf und spricht lebhaft weiter, den Zeigefinger
-hebend:</p>
-
-<p>»Nun kommt aber eine merkwürdige Erscheinung:
-Zwischen all diesen Köpfen schaut wie im
-Vexierbild ein Kopf hindurch; das eine Porträt
-wird sichtbar, das Sie wahrscheinlich nicht zu
-zeichnen beabsichtigten, und das nun, ich sage beileibe
-nicht &rsaquo;deshalb&lsaquo;, das nun das einzige von
-zwingender Ähnlichkeit geworden ist: das Porträt
-der Frau.«</p>
-
-<p>»Lieber Freund,« sage ich, »wie ist das möglich?
-Nicht ein einziges Wort spricht die Frau in dem
-Buch über sich und ihre Empfindungen. Sie schweigt
-sich und ihr Leben ja geradezu tot, und mir scheint
-<a class="pagenum" id="page_013" title="13"> </a>
-es jetzt sehr bezeichnend für das Wesen der Freundschaft
-zu sein, daß keiner der Freunde je diese Verschwiegenheit
-bemerkt.«</p>
-
-<p>»Drollig,« lächelt Kurt Georgi und streift die
-Asche vorsichtig von seiner Zigarette, »drollig, daß
-wir oft am Schluß Tiefen in unseren Werken
-finden, von denen wir selbst nichts geahnt haben. &ndash;
-Aber hoffentlich ist Ihnen diese unvermutete Tiefe
-nicht peinlich, gnädige Frau, denn es ist ja sonst
-in dem Buch jede Spur von Gründlichkeit aufs
-Sorgsamste vermieden. Alle Dinge sind nur im
-Flug berührt, alle Fragen nur mit den Fingerspitzen
-angefaßt, alles schwebt sozusagen in der
-Luft. In einer sehr angenehmen, wohltemperierten,
-nur wenig parfümierten Luft, in der nicht gelacht
-und nicht geschrien wird, in der man nur lächelt
-und plaudert. &ndash; Und dann, gnädige Frau&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Er setzt sich plötzlich im Sessel aufrecht und
-streckt mir mit einer verzweifelt flehenden Gebärde
-die Hände entgegen: »Was haben Sie sich um
-Gottes willen dabei gedacht, nicht eine Spur von
-Pikanterie in diese Gespräche zu mischen! Wie in
-aller Welt glauben Sie, ein Publikum zu finden,
-wenn Sie die erotischen Probleme mit einer so
-geradezu minutiösen Sauberkeit behandeln? Mein
-Gott, der Titel verpflichtet doch schon beinah! Ja,
-wenn Sie schon berühmt, oder wenigstens auf
-<a class="pagenum" id="page_014" title="14"> </a>
-irgendeine sensationelle Art gestorben wären! &ndash;
-Man liest ja schließlich auch die Droste und
-Eichendorf und Hölderlin, und neuerdings ist bei
-den Obersnobs Klopstock wieder modern geworden
-und wird bald so bedeutend sein wie Goethe &ndash;
-aber lebend und unberühmt und weder pikant noch
-pervers! &ndash; Unmöglich!«</p>
-
-<p>Und Kurt Georgi macht eine abschließende Handbewegung,
-die mich erledigt, und lehnt sich mit allen
-Zeichen der empörten Hoffnungslosigkeit im Sessel
-zurück.</p>
-
-<p>»Vielleicht lockt der Titel,« versuche ich einzuwenden.
-»Oder wenn man einen himmelschreiend
-neuartigen Buchdeckel machte&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Nein, nein,« wehrt er ab, »uns bleibt nur zu
-hoffen, daß der eine oder der andere Ihrer eventuellen
-Leser in dem Umgehen jeder erotischen
-Pikanterie eine besonders prickelnde Nuance entdeckt.
-Ja, sehen Sie,« setzt er wie neubelebt durch
-diesen Hoffnungsstrahl hinzu, »das halte ich noch
-nicht für ganz ausgeschlossen.«</p>
-
-<p>»Diesem verständnisvollen Leser möchte ich schon
-im voraus dankbar die Hand drücken,« sage ich
-lachend, »und ihn unter meine Freunde einreihen,
-denn er hat richtig erkannt, daß die ungesprochenen
-Worte meist die bedeutungsvolleren sind, daß
-sie noch wahrer zu reden verstehen und&nbsp;&ndash;« Ich
-<a class="pagenum" id="page_015" title="15"> </a>
-stocke, denn Kurt Georgi blickt mir, den Kopf in
-die Hand gestützt, mit einem forschenden Blick in
-die Augen.</p>
-
-<p>»Und noch feiner zu lügen,« setzt er langsam
-hinzu.</p>
-
-<p>»Nein, nein,« winke ich ein bißchen nervös ab,
-»ehrlich werden ist gegen die Abrede und in dieser
-Atmosphäre so wenig angebracht wie Schreien oder
-große Worte machen in diesem Buch. Die Frau
-hier und dort ist nun einmal nicht für die großen
-Worte geschaffen, ebensowenig wie für die großen
-Erlebnisse.«</p>
-
-<p>»Das weiß Gott,« nickt Georgi elegisch. »Dazu
-ist sie leider nicht trivial genug. Sie sitzt lieber
-wie die besonders kostbaren und zerbrechlichen Kunstwerke
-in den Museen unter einer Glasglocke oder
-von einer roten Schnur umgeben, die sie kaum bemerkbar,
-aber unüberwindlich von der Welt abschließt.
-Und da sie gewohnt ist, jede Arbeit im
-Leben von anderen für sich verrichten zu lassen, so
-läßt sie natürlich auch die anderen für sich erleben.
-&ndash; Was übrigens sicher der höchste Grad
-von Vornehmheit ist.«</p>
-
-<p>»Lieber Georgi,« sage ich, »was heißt denn erleben?
-Müssen wir denn immer leibhaftig mitagieren
-und die Bombenrolle in dem Stück spielen?
-Muß es nicht auch Zuschauer geben, die entzückt
-<a class="pagenum" id="page_016" title="16"> </a>
-oder schaudernd miterleben, was sich auf der Bühne
-begiebt?«</p>
-
-<p>»Nein,« antwortet er, »auch der Zuschauer da
-unten muß ein eigenes Leben haben, wie könnte
-er sonst Schauer und Entzücken fühlen? Nur die
-Wonnen, die in unserem eigenen Empfindungsbereich
-liegen, können uns erregen, und nur der
-Schmerz, der unserem eigenen verwandt ist, rührt
-uns zu Tränen.«</p>
-
-<p>»Und so weint im Grunde genommen jeder nur
-um sich selbst.«</p>
-
-<p>»Und wenn ich eine Minute lang ehrlich sein
-darf,« fährt Georgi fort, »ich glaube auch gar nicht
-an dies vollkommen selbstaufgegebene Miterleben
-und an die lächelnde Gleichmäßigkeit der Frau in
-Ihrem Buch. Viel eher glaube ich, daß sie in
-diesen Gesprächen eine schwere Enttäuschung nicht
-totschweigt, wie Sie meinten, sondern totplaudert,
-was ja manchmal dasselbe bedeutet. Und noch eher
-glaube ich, und sage es, selbst auf die Gefahr hin,
-bei der Verteilung der Ästhetenkeks leer auszugehen,
-noch eher glaube ich, daß sie ein ganz raffinierter
-kleiner Racker ist. &ndash; Ja, ich würde vorschlagen,«
-und Kurt Georgi deutet das Folgende
-in seiner lebhaften Gebärdensprache an, »ich würde
-vorschlagen, an der roten Schnur in Manneshöhe
-eine Warnungstafel für geistreiche und gemütvolle
-<a class="pagenum" id="page_017" title="17"> </a>
-junge Leute anzubringen: &rsaquo;Hier liegen Fußangeln&lsaquo;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Scht! Scht!« winke ich erschrocken ab, und
-er setzt schnell hinzu: »Es war natürlich von der
-Frau in dem Buch die Rede.«</p>
-
-<p>»Das versteht sich,« antworte ich, »und ich bin
-glücklich über Ihr Urteil, so hart es ist. Denn
-daß diese Frau es vermocht hat, Furcht und
-Mitleid in Ihnen zu erregen, genau nach der altgriechischen
-Vorschrift für Kunstwerke, das spricht
-doch ungeheuer für mich und mein Buch. Es ist
-der kleine süße Kern, den ich aus Ihrer bitteren
-Kritik herausschäle, das Ja, daß ich trotz aller
-Verneinung höre. &ndash; Und nun sollen Sie doch
-unter die Freunde hier aufgenommen werden,
-und zwar nicht als letzter, sondern als erster im
-Dutzend. Ich will unser heutiges Gespräch als
-Einleitung in das Buch setzen, denn nach einem
-Vorwort habe ich schon lange verzweifelt gesucht.
-Da weiß der Leser doch gleich, woran er
-ist, und die Sache hat noch das Gute, daß
-die Einleitung zugleich als Schlußwort gelten
-kann.«</p>
-
-<p>»Gott bewahre,« sagt Kurt Georgi entsetzt,
-»auf so etwas hätte man doch wenigstens vorbereitet
-sein müssen. &ndash; Aber,« setzt er nachdenklich
-hinzu, »wenn ich auf die ökonomische Ausschlachtung
-<a class="pagenum" id="page_018" title="18"> </a>
-meiner geistigen Arbeit eingehe, welche Belohnung
-haben Sie mir zugedacht?«</p>
-
-<p>Ich sehe ihm in die vor Schelmerei ganz schmal
-gewordenen Augen und muß unwillkürlich lächeln.</p>
-
-<p>»Ja, ja,« nickt er, »hier wäre die beste Gelegenheit,
-eine Pikanterie anzubringen, wenn ich Ihnen
-diesen literarischen Rat erteilen darf.«</p>
-
-<p>»Unmöglich!« sage ich und schiebe den kleinen
-Tisch mit Kaffee und Kuchen zwischen uns. »Was
-sollte der Leser von uns denken!«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_019" title="19"> </a>
-Das typische Erlebnis</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p019i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_021" title="21"> </a>
-Wir haben lange geschwiegen, und es ist so still
-im Zimmer, daß das Ticken der Uhr schon anfängt,
-aufdringlich zu werden. Endlich hebt Frank
-Meinert den Kopf mit dem zerwühlten schwarzen
-Haar, und über sein blasses, meist etwas verdrossenes
-Gesicht geht langsam das halb verlegene,
-halb selbstironische Lächeln, das ich sehr an ihm
-liebe.</p>
-
-<p>»Weiß der Himmel,« sagt er und wirft mit
-einer bei ihm ungewohnt lebhaften Bewegung das
-Zigarettenrestchen in die Aschschale, »in dieser
-fabelhaften Feiertagsstille kann ich mich unmöglich
-auf meine Leiden besinnen.«</p>
-
-<p>»Schade,« antworte ich und schiebe ihm die Pralinés
-näher, »ich werde auf diese Weise nie erfahren,
-was Sie bedrückt und weshalb Sie sich seit
-ein paar Wochen so in den Wirbel des Weltlebens
-gestürzt haben, daß es fast keine festliche
-Veranstaltung in Hamburg gibt, bei der nicht
-Frank Meinert bleich, mürrisch und zerwühlt, ein
-Miniatur-Beethoven, in einer Saalecke hockt. &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_022" title="22"> </a>
-Oder sollte zwischen diesen Dingen kein Zusammenhang
-bestehen?«</p>
-
-<p>Das Lächeln um Franks großen und nervös-beweglichen
-Mund wird lebhafter. »Ja,« sagt er
-und sucht sich bedächtig seine Lieblingspralinés heraus,
-»so ist meine Art zu leiden.«</p>
-
-<p>»Vernünftig,« lobe ich, »aber leider nicht neu.
-Jeder, der etwas auf seine Leiden hält, führt sie
-an fashionable Betäubungsstätten. Ich hätte von
-Ihnen etwas Originelleres erwartet.« &ndash; »Ihr alter
-Fehler!« bemerkt er mürrisch und fährt nach einem
-kurzen Schweigen mit überraschend einsetzender
-Beredsamkeit und nervös flackerndem Gesicht fort:</p>
-
-<p>»Sie leiden an einem fundamentalen Mangel an
-Menschenkenntnis. Ich bin kein Originalitätsfex,
-wie Sie hartnäckig annehmen. Und es spricht auch
-wieder einmal bedauerlich wenig für Ihren psychologischen
-Blick, wenn Sie glauben, daß ich im
-Trocadero oder beim Bösen-Buben-Ball oder etwa
-bei den Massenmorden der Harvestehuder Gesellschaft
-Betäubung gesucht habe.«</p>
-
-<p>Und da ich ihn erwartungsvoll ansehe, fährt er
-langsamer fort: »Sie haben es wohl noch nie erfahren,
-wie innig man seinen Schmerz lieben kann,
-gerade inmitten der Vielen, denen man so unendlich
-überlegen ist.« Und leise setzt er hinzu: »Weil
-man zu den Auserwählten gehört, die leiden.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_023" title="23"> </a>
-»Lieber Freund,« sage ich und stütze den Kopf
-in die Hand, »selbst auf die Gefahr hin, Ihnen
-eine Glücksquelle zu verschütten: Glauben Sie
-wirklich, daß es nur die Auserwählten sind, die
-leiden?«</p>
-
-<p>»Gewiß,« antwortet er eifrig, »denn zum wirklichen
-Unglücklichsein gehört ein Maß von seelischer
-Tiefe, das nur wenigen eigen ist. Wie natürlich
-zu jedem großen Gefühl. Nicht nur der Schmerz,
-auch das Glück will getragen sein.« Ich nicke:
-»Insbesondere das der anderen. An dem schleppen
-wir oft unglaublich schwer. Das eigene Glück soll
-sich nicht schwer tragen, sagt man.«</p>
-
-<p>Frank Meinert ist aufgestanden und geht, seiner
-Gewohnheit nach heftig rauchend und ein wenig
-schlurfend, im Zimmer auf und ab.</p>
-
-<p>»Aber die Fähigkeit zum Glück muß da sein,« sagt
-er vor sich hin, »die ganz gemeine Begabung dazu,
-und die ist es, die mir fehlt. &ndash; Das ist das merkwürdige
-bei mir, und ich habe schon unendlich viel
-darüber nachgedacht: Warum habe ich nur so gar
-kein Talent zum Leben?«</p>
-
-<p>»Nicht so schlurfen!« bitte ich ein bißchen nervös
-und sage dann, während ich mir eine frische Zigarette
-anzünde: »Sie haben ja so viele andere Talente,«
-&ndash; und nach einer kleinen Pause &ndash; »wie
-weit ist eigentlich Ihr&nbsp;&ndash;.« &ndash; »Ä!« unterbricht er mich
-<a class="pagenum" id="page_024" title="24"> </a>
-mit einer Gebärde des Ekels, »glauben Sie vielleicht,
-daß ich jetzt arbeiten kann?« Und mit ironisch
-übertriebenem Pathos die Arme reckend: »Ich bin
-augenblicklich in der Periode des Erlebens!«</p>
-
-<p>»Natürlich,« nicke ich ihm zu, »die muß erst
-überwunden sein, und ich bin mir schon lange darüber
-klar, daß Arbeit wirklich nur etwas für die
-Leute ist, die nichts zu tun haben.«</p>
-
-<p>Frank lächelt nachsichtig und läßt sich auf dem
-Klavierstuhl nieder, den er trotz seiner eminenten
-Unbequemlichkeit allen anderen Sitzgelegenheiten
-vorzieht, wie überhaupt sein Wesen zwischen Trägheit
-und dem Hang zur Selbstquälerei hin und
-her schwankt.</p>
-
-<p>»Ihr Sarkasmus trifft mich nicht,« sagt er und
-öffnet langsam und zerstreut den Flügel, »es war
-natürlich nur von innerem, nicht von äußerem Erleben
-die Rede.« &ndash; »Ich kenne diese Unterscheidung
-gar nicht,« antworte ich, »was wir nicht innerlich
-erleben, erleben wir doch überhaupt nicht.« &ndash;
-»Erlauben Sie, wenn ich nächstens infolge der
-mangelhaften Treppenbeleuchtung in meiner Bude
-abstürzen und ein Bein brechen werde, dann nenne
-ich das ein äußeres und kein inneres Erlebnis.«</p>
-
-<p>»Und ich nenne das einen Beinbruch, aber ein
-Erlebnis nenne ich es noch lange nicht. Dazu könnte
-es nicht einmal durch eine seelische Beziehung erhoben
-<a class="pagenum" id="page_025" title="25"> </a>
-werden, wie zum Beispiel durch die Tatsache,
-daß Sie sich gerade auf den Weg nach einer
-gewissen kleinen Konditorei&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Frank, der, wie es seine Gewohnheit ist, mit gesenkten
-Lidern gesessen hat, hebt plötzlich den Blick,
-und seine graugrünen Augen schillern feindselig zu
-mir herüber. Er greift ein paar harte Akkorde und
-wendet sich, plötzlich abbrechend, mit seinem spöttischsten
-Lächeln zu mir:</p>
-
-<p>»Ihre diplomatischen Übergänge, fabelhaft geschickt!
-&ndash; Übrigens danke ich Ihnen für die Notbrücke,
-denn ich bin ja natürlich gekommen, um
-Ihnen zu erzählen.«</p>
-
-<p>Er nimmt seine Wanderung durchs Zimmer
-wieder auf, und ich warte eine Weile vergebens.</p>
-
-<p>»Nicht nur heute,« sagt er endlich hastig, »ich
-war in der letzten Woche schon ein paarmal deshalb
-hier. Sie wissen das natürlich! Frauen wissen
-bekanntlich immer alles. &ndash; Aber es ist jedesmal
-wie verhext, wenn ich hier sitze. So, als hätte
-ich das alles gar nicht erlebt, wovon ich sprechen
-will, oder irgendwo drüben an einem anderen Ufer.
-&ndash; Die Dinge werden ja immer unwirklich, sobald
-man sie ausspricht. Und ich habe auch schon geglaubt,
-damit fertig zu sein. Ich konnte schon darüber
-lächeln. &ndash; Ä, das sagt nichts, man lächelt
-immer darüber, aber es kam schon vor, daß ich
-<a class="pagenum" id="page_026" title="26"> </a>
-eine Stunde lang nicht mehr daran dachte, und
-das ist weiß Gott schon viel. Da sagen Sie jetzt
-das eine Wort von der kleinen Konditorei, und
-alles ist wieder da, als wäre es niemals weg gewesen.
-Und es hilft kein Sichdagegenwehren, und
-es macht einen schwach und muskellos, und man
-fragt sich, ob man die verfluchte Quälerei nie los
-wird sein Leben lang.«</p>
-
-<p>Und Frank Meinert steht einen Augenblick still
-und starrt vor sich hin, dann setzt er sich plötzlich
-ruhig und wie ausgelöscht auf seinen Stuhl.</p>
-
-<p>»Frank,« sage ich leise, »schelten Sie nicht so
-auf Ihre Schmerzen, Sie fühlen doch daran, daß
-Sie leben.«</p>
-
-<p>»Weiß Gott, ich fühl's!« stößt er heraus. »Aber
-glauben Sie vielleicht, daß ich großen Wert darauf
-lege?«</p>
-
-<p>Ich antworte nicht und reiche ihm die Zigaretten
-hinüber, und er sagt mit einem träumerischen
-Blick, der sein häßliches Gesicht plötzlich schön erscheinen
-läßt: »Den hätte ich kennen mögen, der
-zuerst von allen Menschen den Entschluß gefaßt
-hat, freiwillig zu gehen. Welche unbegreifliche Erhabenheit
-lag in dieser Tat, als sie zum erstenmal
-geschah!«</p>
-
-<p>Ich nicke, und wir sehen beide schweigend in die
-Wolken unserer Zigaretten. Endlich fährt er fort:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_027" title="27"> </a>
-»Ich muß manchmal geradezu vor mich hinlächeln,
-wenn ich daran denke, daß der große Baumeister
-bei all seiner Klugheit eine Lücke in seinem
-Gebäude gelassen hat, ein kleines Loch, durch das
-wir still hinausschlüpfen können, wenn es uns da
-drinnen nicht mehr gefällt.«</p>
-
-<p>»Ja, Frank,« sage ich nachdenklich, »das wäre
-eine schöne Einrichtung, wenn sie nicht so unvollkommen
-wäre. Wenn nicht die zweite Lücke fehlte,
-durch die wir still wieder hineinschlüpfen können,
-wenn es uns da draußen nicht gefällt.«</p>
-
-<p>»Natürlich,« antwortet er, »Sie verlangen für
-jede Hintertür noch ein Hintertürchen! Ich finde,
-es ist schon fabelhaft tröstlich, daß man einfach
-weggehen kann, wie man von einem Ball geht,
-der anfängt langweilig zu werden, oder so.«</p>
-
-<p>»Ach lieber Frank Meinert,« sage ich lachend,
-»wann hätten Sie das je getan? Wer sitzt bei jedem
-Fest bis zum Kehraus gähnend und fröstelnd und
-gelangweilt in einem Klubsessel und ist nicht wegzukriegen?«</p>
-
-<p>»Nun ja,« gibt er mit einem nachsichtigen, fast
-zärtlichen Lächeln zu, »ich muß mich einer Art
-Trägheit schuldig bekennen, eines Mangels an körperlicher
-Initiative, wenn Sie wollen.« &ndash; »Ja,«
-seufze ich, »daher auch das Schlurfen. Und in Gesellschaften
-da sitzt sich's immer so gut im Klubsessel
-<a class="pagenum" id="page_028" title="28"> </a>
-und draußen ist vielleicht scheußliches Wetter,
-da bleibt man eben. Und eigentlich tun Sie auch
-ganz recht daran, zu bleiben, denn wer kann wissen,
-ob nicht am Schluß etwas unglaublich Schönes,
-etwas fabelhaft Anregendes und Sensationelles
-kommt. Und deshalb, &ndash; sehen Sie, auch deshalb
-schon ist's besser, man wartet bis zum Schluß.«</p>
-
-<p>Wir schweigen beide, und dann sage ich in die
-Dämmerung hinein, die inzwischen gekommen ist:</p>
-
-<p>»Ist es denn wirklich zu Ende mit Margot
-und Ihnen? Ist's nicht wieder nur ein Hinziehen,
-wie schon so oft?« Er schüttelt den Kopf, und ich
-spüre es wieder einmal deutlich bis zum Schmerz,
-daß wir nie ärmer und hilfloser und verlogener
-sind, als wenn wir mit Worten trösten wollen.
-Und es ist ganz still im Zimmer, bis ich endlich
-sage:</p>
-
-<p>»Wir erleben es alle einmal, und in jedem von
-uns wird etwas dadurch geknickt oder zerschlagen.
-Bei den Durchschnittsmenschen da heilt es schwer,
-es blutet nach innen, weil kein Ventil da ist. Aber
-bei Ihnen gibt es ein Ventil, Ihr Schmerz wird
-ausströmen und tönen, und dann wird aus Ihrer
-Arbeit erst das Werk geworden sein, das Sie uns
-schuldig sind. Und Sie wachsen über Ihre Schmerzen
-hinaus und fühlen doch, daß es die Schmerzen
-sind, die Ihr Leben reich gemacht haben.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_029" title="29"> </a>
-Er sieht mich zerstreut an und sagt nach einem
-kurzen Schweigen gequält: »Wenn ich nur wüßte,
-warum es immer so kommen muß.«</p>
-
-<p>Und ich weiß, daß ich umsonst geredet habe.
-Und versuch's doch noch einmal: »Vielleicht gibt
-es einen Grund dafür, der tiefer liegt, als Sie ihn
-suchen. Vielleicht sollen Sie jetzt nicht glücklich
-sein, Frank Meinert, vielleicht sollen Sie nie auf
-die Art glücklich sein, weil Sie zu anderem bestimmt
-sind als zu einem bißchen Rausch, und dann
-im besten Fall zu lebenslänglichem, spießbürgerlichem
-Behagen. Dazu sind Sie dem Schicksal zu
-schade. Und mir auch, trotz Ihrer Sauertöpfigkeit
-und der verdrießlichen Grimassen, die Sie sich
-nicht abgewöhnen wollen.«</p>
-
-<p>Er brütet noch immer vor sich hin, aber ein bißchen
-wetterleuchtet's schon in seinem unruhigen Gesicht.
-»Ich weiß, daß ich nie glücklich sein werde,«
-sagt er, »und ich weiß, daß ich einsam bleiben
-muß. Das ist merkwürdig bei mir, daß ich es von
-jeher gefühlt habe, schon als Kind zwischen all den
-Geschwistern. Und dies immer und immer wieder
-Enttäuscht- und Einsamwerden, das wird mein
-Schicksal bleiben, ich weiß es. Es ist mein typisches
-Erlebnis, wie Nietzsche sagt.«</p>
-
-<p>Ich nicke und bin nun schon ganz beruhigt: Fürs
-erste hat Frank Meinert sein Spielzeug gefunden.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_030" title="30"> </a>
-»Ob ich die Einsamkeit werde tragen können?«
-sagt er vor sich hin, »nur die Größten haben es
-gekonnt.«</p>
-
-<p>»Es ist doch nur das äußere Einsamsein,« antworte
-ich. »Innerlich sind wir ja immer allein,
-nur daß wir's oft nicht wissen. Aber in den lichten
-Momenten, in denen wir das ganze Dasein als sinnlos,
-dunkel und verworren empfinden &ndash; denn das
-sind unsere lichten Momente, Frank Meinert&nbsp;&ndash;,
-da wissen wir, daß wir einsam sind, wie ein Wanderer
-in sturmdunkler Nacht. Da wissen wir auch,
-daß aus zweien niemals eins werden kann.«</p>
-
-<p>»Ja,« nickt Frank langsam vor sich hin, »auf
-uns trifft das zu, weil wir Ganze sind. Halbe
-können vielleicht zu einem Ganzen verschmelzen,
-unsere Bestimmung ist es, allein und wir selbst zu
-bleiben.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Weshalb lächeln Sie?« fragt er plötzlich mißtrauisch
-und gereizt. Ich bestreite, gelächelt zu
-haben und drehe das Licht an, um ähnlichen Irrtümern
-vorzubeugen. Und Frank sagt leise, den
-Kopf in die Hand gestützt: »So kommt man also
-früh zur Resignation.«</p>
-
-<p>Jetzt lächle ich wirklich: »Ach nein, lieber Freund,
-so leicht kommt man nicht zur Resignation, wie
-Sie in diesem Augenblick glauben. Da müssen
-noch viele bittere Schmerzen durchgebissen und
-<a class="pagenum" id="page_031" title="31"> </a>
-überwunden werden, ehe Sie dahin gelangen.
-Resignation, das ist die reifste Frucht an unserem
-Lebensbaum.«</p>
-
-<p>»Und doch die bitterste,« sagt er, und wir schweigen
-beide.</p>
-
-<p>Plötzlich sieht er nach der Uhr, steht mit einem
-Ruck auf und streckt mir seufzend die Hand hin:
-»Ich muß gehen. Es ist fabelhaft, wie in diesem
-Zimmer die Zeit versinkt! Schon die Tapete hat
-so etwas unglaublich Wohltuendes. Aber ich muß
-an die Arbeit.«</p>
-
-<p>Ich nicke. »Man muß sich rühren, wenn man
-über Wasser bleiben will.«</p>
-
-<p>Wir stehen einen Augenblick, und dann sagt
-Frank:</p>
-
-<p>»Ob wohl alle Menschen ihr typisches Erlebnis
-haben?«</p>
-
-<p>»Ich glaube wohl,« antworte ich, »aber die
-wenigsten sind sich dessen bewußt. Und es gibt
-auch viele Menschen, deren typisches Erlebnis
-&rsaquo;Nichterleben&lsaquo; heißt.«</p>
-
-<p>Und da er mich fragend ansieht, setze ich hinzu:
-»Das will ich Ihnen noch sagen, Frank, weil es
-vielleicht ein Trost für Sie ist: Nicht das Unglück,
-das uns trifft, schafft uns das bitterste Leid. Viel
-schwerer als das traurigste Erlebnis belasten uns
-die unerlebten Dinge, die Ahnung der tausend
-<a class="pagenum" id="page_032" title="32"> </a>
-Möglichkeiten, für die wir uns bestimmt und gerüstet
-fühlen, und die sich uns niemals ereignen.«</p>
-
-<p>Es ist eine Weile still im Zimmer, dann fragt
-Frank Meinert:</p>
-
-<p>»Wann darf ich wiederkommen?«</p>
-
-<p>»Sobald Sie wollen,« antworte ich.</p>
-
-<p>»Dann darf ich Ihnen morgen ausführlich erzählen,
-wie das alles kam, mit Margot und mir?«</p>
-
-<p>»Gewiß,« antworte ich und lächle erst, nachdem
-die Tür sich hinter ihm geschlossen hat.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_033" title="33"> </a>
-»Hat sie wirklich so schöne Schultern?«</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p033i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_035" title="35"> </a>
-»Gnädige Frau,« sagt der sehr hübsche junge
-Mann, »ich möchte Ihnen für mein Leben gerne
-etwas sagen. Es quält mich, seit ich hier sitze und
-Sie ansehe, aber ich wage es nicht.«</p>
-
-<p>»Ist es etwas so Schlimmes?« frage ich, »dann
-verschweigen Sie es lieber. Sie wissen, ich lasse
-mir meine Kaffeestunde nicht gerne stören.«</p>
-
-<p>»Es ist nichts Schlimmes,« antwortete er, »aber
-es brennt mir auf der Zunge.«</p>
-
-<p>»Dann hoffe ich, daß es eine brennend pikante
-Geschichte ist. Aber ich warne Sie, je amüsanter
-sie ist, um so schwerer werde ich sie für mich behalten
-können. Verschwiegenheit gehört nun einmal nicht
-zu den Tugenden, die ich von mir verlange, denn
-man muß auch sich selbst gegenüber in seinen Ansprüchen
-maßvoll sein.«</p>
-
-<p>Georg Wendringer lacht: »Zum Glück beansprucht
-das, was ich Ihnen sagen will, keine Diskretion.
-Es ist nicht einmal neu, und eigentlich ist
-es nur <em class="ge">ein</em> Satz: &ndash; Gnädige Frau, Sie sind unglaublich
-schön.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_036" title="36"> </a>
-Ich muß hell herauslachen. »Ist das alles?«</p>
-
-<p>»Ja,« sagte er, »das ist alles, und es ist eine
-wundervolle Befreiung, es gesagt zu haben. Und
-Sie sind nicht böse?«</p>
-
-<p>»Ich weiß noch nicht,« antworte ich. »Es liegt
-natürlich eine Beleidigung darin, besonders in dem
-&rsaquo;unglaublich&lsaquo;, das eine böse Nebenbedeutung haben
-kann. Aber diesmal will ich's nicht so nehmen und
-Ihnen sogar gestehen, daß es für eine Frau nichts
-Wohltuenderes und Erwärmenderes gibt, als das
-Bewußtsein, schön gefunden zu werden. Alle Bewunderung
-für unsere Tugenden, ja sogar für unsere
-Liebenswürdigkeit und unseren Geist läßt uns
-kalt, denn sie ist nicht das Primäre.«</p>
-
-<p>»Ich sehe, Sie sind nicht böse,« sagt er vergnügt,
-»dann darf ich mehr sagen.«</p>
-
-<p>»Davon möchte ich abraten,« antworte ich,
-»jedes Mehr müßte den guten Eindruck stören, den
-Sie bis jetzt gemacht haben.«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»So finden Sie also wirklich, daß für eine Frau
-Schönheit das Höchste und Begehrenswerteste ist?«
-fragt er kopfschüttelnd, »von Ihnen hätte ich das
-nicht gedacht.«</p>
-
-<p>»Warum nicht von mir?« frage ich ein wenig
-erstaunt.</p>
-
-<p>»Nun,« erklärt er mir, indem er versucht, seine langen
-Glieder in eine etwas bequemere Lage zu
-<a class="pagenum" id="page_037" title="37"> </a>
-bringen, »ich hatte bis jetzt immer gefunden, daß
-nur die mehr klugen als schönen Frauen dieser Ansicht
-waren, während umgekehrt die mehr schönen
-lieber für klug&nbsp;&ndash;.« Hier lache ich so herzlich, daß
-er erschrocken innehält.</p>
-
-<p>»Und da komme ich nun, mehr dumm als häßlich
-und doch immer noch klug genug, nicht klug
-sein zu wollen und werfe Ihr ganzes schönes
-Schema über den Haufen.«</p>
-
-<p>»Habe ich wirklich so was Dummes gesagt?«
-fragte er kleinlaut.</p>
-
-<p>»Ach nein,« beruhige ich ihn, »wenn ich von dem
-zweifelhaften Kompliment für mich absehe, war es
-sogar eine sehr feine Beobachtung; Sie dürfen sie
-aber nicht jeder Frau verraten, denn sie ist ein
-Messer, das auf beiden Seiten schneidet. Wahr
-ist es übrigens schon, die Frauen, die sich ihrer
-Schönheit bewußt sind, wollen für klug gelten,
-denn zwei Vorzüge sind mehr als einer, und man
-überschätzt bekanntlich den Wert dessen, was man
-nicht hat. Die Klugen sind klüger und wollen gern
-schön sein, denn sie wissen, was das bedeutet und
-welche Macht darin liegen kann. Kann &ndash; sage ich,
-denn es gibt sehr viel Schönheit, die ungenutzt verlorengeht.«</p>
-
-<p>»Ja,« antwortet er nachdenklich, »ich kenne
-zum Beispiel eine junge Frau, die jeden Abend,
-<a class="pagenum" id="page_038" title="38"> </a>
-wenn sie vorm Spiegel steht und ihr Haar bürstet,
-&rsaquo;Schade, schade!&lsaquo; sagt.«</p>
-
-<p>»Ich will nicht indiskret sein,« versichere ich,
-»welche Bemerkung man übrigens immer voraus
-schickt, wenn man eine große Indiskretion beabsichtigt,
-aber ich möchte mir doch die Frage gestatten:
-Hat die junge Frau Ihnen das selbst erzählt?«</p>
-
-<p>»Ich muß mit Oskar Wilde antworten,« sagt
-Georg Wendringer, »eine Frage ist niemals indiskret,
-nur die Antwort kann es sein.«</p>
-
-<p>»Gut geantwortet, Georg Wendringer und
-Oskar Wilde,« sage ich. »Und da das Fragen
-nicht indiskret sein kann, so frage ich also getrost
-weiter: Hat sie wirklich so schöne Schultern?«</p>
-
-<p>»Ich glaube, ja,« antwortet Georg mit seinem
-verschmitzten Lächeln und setzt, plötzlich ernst werdend,
-hinzu: Ȇbrigens sind wir nur sehr gut befreundet
-ohne jeden erotischen Beigeschmack.«</p>
-
-<p>Ich muß ein wenig ungläubig dreingeschaut
-haben, denn er fragt schnell: »Aber Sie glauben
-vielleicht nicht an Freundschaft zwischen Mann
-und Frau?«</p>
-
-<p>»O Gott!« seufze ich, »seit meinem sechzehnten
-Jahr quält man mich mit dieser Doktorfrage.«</p>
-
-<p>»So haben Sie gewiß genügend darüber nachgedacht
-und können mir das Resultat mitteilen.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_039" title="39"> </a>
-»Nein,« sage ich, »das werde ich nicht tun, denn
-ich habe mir geschworen, auf diese Frage nicht mehr
-einzugehen, seitdem ein vorlauter Jüngling mir auf
-meine Antwort hin die noch heiklere Frage gestellt
-hat: Und was ist es also, was zwischen uns beiden
-besteht?«</p>
-
-<p>Georg lacht: »Ich hatte nicht die Absicht, Sie
-in eine solche Falle zu locken, aber ich möchte für
-mein Leben gern wissen, welche Antwort der naseweise
-junge Mann bekam.«</p>
-
-<p>»Die Antwort, die ich allen jungen Männern
-gebe, sobald sie anfangen, naseweis zu werden. Ich
-habe gelacht, ihm die Zigaretten gereicht und gefragt,
-ob er sich nicht zum Abschied noch bedienen
-wolle.«</p>
-
-<p>»Das war hart,« sagt Georg, »denn seine Frage
-lag so nah, die Gelegenheit war so günstig.«</p>
-
-<p>»Was wäre denn Takt,« antworte ich, »wenn
-es nicht die Fähigkeit und der Wille wäre, gute
-Gelegenheiten ungenützt zu lassen.«</p>
-
-<p>Georg seufzt: »Schweigen ist aber oft sehr
-schwer!« und sieht so bekümmert aus, daß ich lachen
-muß. &ndash; »Ja, es muß sehr schwer sein. Allein wenn
-ich bedenke, wie früh man sprechen lernt und wie
-spät erst schweigen.«</p>
-
-<p>Georg schüttelt den Kopf: »Das stimmt nicht
-ganz, so hübsch es klingt. Denn es kann sich ja nur
-<a class="pagenum" id="page_040" title="40"> </a>
-um das richtige Sprechen und das richtige Schweigen
-handeln, und das lernt sich wohl gleich schwer
-und ist im Grunde genommen dasselbe, denn eins
-ohne das andere ist wertlos und eben nicht das
-Rechte.«</p>
-
-<p>»Natürlich,« stimme ich bei, »Ihre Gründlichkeit
-hat wieder mal recht, und ich muß es zugeben,
-trotzdem Sie mir damit meine schöne Sentenz einfach
-totgeschlagen haben. Es muß auch das rechte
-Schweigen sein, denn es gibt Menschen, die nur
-darum für verschlossen und abgründig tief gelten,
-weil sie einfach nichts zu sagen haben, und weil
-man sich gar nicht vorzustellen vermag, daß jemand
-wirklich so gar nichts zu sagen haben kann. Ihre
-ganze Klugheit besteht darin, zu verbergen, daß sie
-nichts zu verbergen haben, und es kann lange
-dauern, bis man dahinter kommt, daß nichts dahinter
-ist, und daß sie durch und durch oberflächliche
-Geschöpfe sind. Denn, so paradox es klingen
-mag, es gibt wirklich Menschen, die durch und
-durch oberflächlich sind.«</p>
-
-<p>Georg lacht: »Sie haben heute Ihren paradoxen
-Tag, aber es klingt wieder sehr hübsch, und
-ich werde mich diesmal hüten, Ihre schönen Sentenzen
-zu zerstören, so leicht und verlockend es wäre.«</p>
-
-<p>»Ich kenne aber noch eine andere Art von falschen
-Schweigsamen,« fahre ich fort, »das sind die,
-<a class="pagenum" id="page_041" title="41"> </a>
-die in Gesellschaft mürrisch und verschlossen sind
-und selten den Mund auftun, außer zum Gähnen,
-weil es nur ein einziges Thema für sie gibt, und
-das ist ihre eigene Person. Wie gesprächig werden
-sie aber, wenn sie auf dies Thema kommen! Es ist
-ihnen gleichgültig, wer zuhört, es liegt ihnen auch
-nichts daran, sich in ein besonders gutes Licht zu
-setzen, ja, sie verleumden sich lieber, ehe sie eine
-Gelegenheit vorbeigehen lassen, von sich zu sprechen,
-und sie können in einer Viertelstunde mehr von
-sich preisgeben, als andere gerne plaudernde Menschen
-in Jahren.«</p>
-
-<p>Georg zieht nachdenklich den Rauch seiner Zigarette
-ein, bläst ein paar Ringe und fragt dann:
-»Steckt nicht in den meisten von uns etwas von
-dieser Leidenschaft? Und bedeutet sie nicht eigentlich
-nur eine übergroße Ehrlichkeit?«</p>
-
-<p>»Nun ja,« sage ich, »insoweit ein gewisser Mangel
-an Schamgefühl Ehrlichkeit bedeutet.« &ndash; »So
-meinte ich's nicht,« unterbricht er mich, »ich meinte
-die Ehrlichkeit, die darin liegt, kein Interesse heucheln
-zu wollen. Und ist es nicht fast immer Heuchelei,
-wenn wir vorgeben, es könne uns irgend etwas
-auf der Welt mehr interessieren als unsere eigene
-Person?«</p>
-
-<p>Ich muß lachen, »eine Unterhaltung zwischen
-mehreren solcher Ehrlichkeitsfanatiker stelle ich mir
-<a class="pagenum" id="page_042" title="42"> </a>
-sehr reizvoll vor. Übrigens müssen sie doch bedenken,
-daß wir mit jedem Wort, das wir sprechen, von
-unserer eigenen Person ausgehen und deshalb, streng
-genommen, immer nur von uns reden. &ndash; Das sollte
-selbst dem unersättlichsten auf diesem Gebiet genügen.«</p>
-
-<p>Wir schweigen eine Weile, und ich sehe, daß
-Georg, trotzdem er scheinbar seine Rauchringe aufmerksam
-verfolgt, mit einem Entschluß kämpft.
-Plötzlich blickt er auf und sagt: »Verzeihen Sie,
-daß ich so zerstreut bin &ndash; aber &ndash; ich habe eine
-Bitte.«</p>
-
-<p>»Zerstreutheit ist bekanntlich immer der höchste
-Grad von Aufmerksamkeit, nämlich für eine andere
-Sache,« antworte ich, »und deshalb dachte
-ich mir's gleich, daß Sie etwas auf dem Herzen
-haben. Also &ndash; herunter damit.«</p>
-
-<p>»Ja,« sagt er ein bißchen stockend, »es ist
-vielleicht eine sonderbare Bitte, aber Sie werden
-mich nicht mißverstehen: Ich möchte Sie für
-mein Leben gern mit meiner Freundin bekannt
-machen.«</p>
-
-<p>Ich schweige einen Augenblick und frage dann,
-um Zeit zu gewinnen: »Ist es die junge Frau mit
-den schönen Schultern?«</p>
-
-<p>Er nickt und seine blauen Augen blicken mich
-treuherzig ernsthaft an.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_043" title="43"> </a>
-»Lieber Freund,« sage ich und drücke mein Zigarettenstümpfchen
-langsam aus, »was versprechen
-Sie sich für Ihre Freundin und mich davon?«</p>
-
-<p>»Oh, sehr viel,« antwortet er lebhaft, »vor allem
-für Lilly. Sehen Sie, sie hat nicht den richtigen
-Verkehr, &ndash; wenigstens ich finde das, sie ist ja leider
-ganz zufrieden damit, aber ich hoffe, wenn sie
-Sie kennenlernt&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Hat sie denn den Wunsch geäußert?« frage
-ich und sehe, wie eine kleine Verlegenheit über sein
-ehrliches Gesicht schleicht.</p>
-
-<p>»Das nun gerade nicht,« sagt er, »es ist eigentlich
-mehr ein Wunsch von mir. Aber ich bin
-sicher&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ganz gewiß,« antworte ich, »aber wenn die
-junge Frau mit ihrem Verkehr zufrieden ist&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Aber ich sage Ihnen ja, ihr Verkehr ist nicht
-der richtige,« unterbricht mich Georg erregt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Der Verkehr, mit dem man zufrieden ist, ist
-eigentlich immer der richtige,« antworte ich, »und
-vielleicht wäre ich ganz und gar der unrichtige.
-Sie überschätzen mich sicher, trotzdem Sie mir vor
-ein paar Minuten den Verstand so ziemlich abgesprochen
-haben.« &ndash; »Das habe ich nicht getan,«
-verteidigt er sich, »Sie wissen es recht gut, und
-was Sie jetzt sagen, entspringt wieder Ihrer übergroßen
-Bescheidenheit!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_044" title="44"> </a>
-»Bescheidenheit ist ein Ding, das ich überhaupt
-nicht kenne, weder bei mir noch bei anderen,« antworte
-ich, »und ich behaupte, es ist ein Wort,
-dessen Inhalt nicht existiert.«</p>
-
-<p>»Das ist eine kuriose Behauptung,« kopfschüttelt
-Georg.</p>
-
-<p>»Sehr einfach,« erkläre ich ihm, »entweder ein
-Mensch kennt seine Vorzüge nicht, dann ist seine
-Bescheidenheit nicht Bescheidenheit, sondern die
-selbstverständliche Folge seiner Selbsteinschätzung.
-Oder ein Mensch kennt seine Vorzüge, dann kann
-seine Bescheidenheit nichts anderes sein, als Heuchelei,
-im besten Falle Anstandsgefühl oder Rücksichtnahme
-auf Schwächere, alles, nur keine Bescheidenheit.«</p>
-
-<p>»Auf diese Weise läßt sich alles aus der Welt
-wegdisputieren,« sagt Georg verstimmt, »aber ich
-bin optimistisch genug zu behaupten,&nbsp;&ndash;« &ndash; »Ich muß
-Sie noch weiter ärgern,« unterbreche ich ihn lachend,
-»und behaupte, daß es mit dem Optimismus fast
-dieselbe Sache ist. So sicher Sie nämlich in dem
-Moment unbescheiden sind, in dem Sie sich Ihrer
-Bescheidenheit bewußt werden, so sicher sind Sie
-nicht mehr optimistisch in dem Augenblick, in dem
-Sie sich so nennen. &ndash; Ich will das erst beweisen,«
-fahre ich fort, da er versucht, Einwendungen
-zu machen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_045" title="45"> </a>
-»Optimistisch sind Sie, solange Sie die Welt
-schöner und besser sehen, als sie ist. Sobald Sie
-aber wissen, daß Sie die Welt besser sehen, als
-sie ist, wissen Sie auch, daß sie eigentlich schlechter
-ist, als Sie sie sehen, und mit diesem Wissen stehen
-Sie schon auf der anderen Seite der Weltanschauung
-und können fast für einen Pessimisten
-durchgehen. &ndash; Und jetzt dürfen Sie antworten.«</p>
-
-<p>Aber Georg ist verdrießlich: »Daß ich kein
-Pessimist bin, weiß ich, trotz Ihrer philosophischen
-Purzelbäume, und ich verwahre mich entschieden
-dagegen.«</p>
-
-<p>»Weshalb denn?« frage ich, »mir sind die Pessimisten
-sehr viel lieber als die frischfröhlichen &rsaquo;Lebensbejaher&lsaquo;,
-wie es jetzt modern aber etwas unklar
-heißt. Nur über eins habe ich manchmal nachgegrübelt
-und weiß es nicht: Ist es das traurige
-oder das tröstliche Moment im Leben der Pessimisten
-und Skeptiker, daß Sie zum Schluß immer
-recht behalten?«</p>
-
-<p>Georg sieht mich einen Augenblick schweigend
-an, dann sagt er:</p>
-
-<p>»Sie haben mir noch keine endgültige Antwort
-auf meine Bitte gegeben, und ich müßte dümmer
-sein als ich bin, wenn ich nicht gemerkt hätte, daß all
-Ihr Philosophieren nur den Zweck hatte, mich davon
-abzulenken. Aber ich bestehe darauf, daß Sie&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_046" title="46"> </a>
-»Lieber Herr Wendringer,« sage ich ein wenig
-gedehnt und greife nach dem Zigarettenetui, das
-ich ihm langsam hinüberreiche, »wollen Sie
-nicht&nbsp;&ndash;.«</p>
-
-<p>Georg ist rot geworden, er springt auf.</p>
-
-<p>»Jawohl &ndash; zum Abschied, ich verstehe.«</p>
-
-<p>Aber schon im nächsten Augenblick geht ein spitzbübisches
-Lächeln über sein Gesicht. »Liebe gnädige
-Frau, ich war naseweis; aber ich hoffe, Sie machen
-mir das nicht zum Vorwurf, denn da bekanntlich
-die Bescheidenheit ins Reich der Fabel gehört, wäre
-es doch unbescheiden, zu verlangen, daß gerade
-ich&nbsp;&ndash;« &ndash; »Jawohl,« sage ich lachend, »und ich
-werde bis zu Ihrem nächsten Besuch darüber nachgrübeln,
-wie es kommt, daß es zwar keine Bescheidenheit
-gibt, daß sich aber an Dreistigkeit vorerst
-noch kein Mangel fühlbar gemacht hat.«</p>
-
-<p>»Wann darf ich annehmen, daß Sie die Frage
-gelöst haben?« erkundigt sich Georg.</p>
-
-<p>»Das kommt darauf an, wie hoch Sie meinen
-Verstand einschätzen,« antworte ich, und er verbeugt
-sich tief und sagt galant:</p>
-
-<p>»Fast so hoch wie Ihre Schönheit.«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_047" title="47"> </a>
-Was man von geschmackvollen Menschen<br />
-verlangen darf</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p047i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_049" title="49"> </a>
-Ich komme von Franz Lindners Trauung und
-steige langsam und nachdenklich die Treppe der eleganten
-schwiegerelterlichen Villa hinunter. Neben,
-vor und hinter mir drängt sich die Schar der
-übrigen Gäste, und plötzlich sagt jemand halblaut
-in der Nähe meines Ohres: »Eine schöne Leich'.«</p>
-
-<p>Ich blicke ein wenig empört zur Seite und gerade
-in Doktor Paulsens blasses und scharfes Gesicht.</p>
-
-<p>»Noch nicht auf der Treppe,« wehre ich ab.
-»Wissen Sie nicht, daß es guter Ton ist, erst vor
-dem Haus anzufangen?«</p>
-
-<p>»Wohin gehen wir?« fragt er unten angelangt
-und sieht mir durch seinen Kneifer ernst und erwartungsvoll
-ins Gesicht. Ich muß lachen.</p>
-
-<p>»Ich hatte die Absicht, allein zu gehen. Hab'
-allerlei durchzudenken und durchzufühlen. Ein
-Freund, der einem soeben endgültig aus der Hand
-geglitten ist, Sie verstehen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Paulsen zuckt die Achseln. »Ich erlaube mir
-zu bemerken, daß uns die Dinge meist nur aus
-der geöffneten Hand gleiten.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_050" title="50"> </a>
-»Nun ja,« antworte ich, »aber manchmal rät
-der Verstand, die Hand rechtzeitig zu öffnen.«</p>
-
-<p>Paulsen verzieht das Gesicht zu einer wehmütig-spöttischen
-Grimasse. »Tja, ja, der Verstand!«
-bemerkt er tiefsinnig, und ich fahre fort:</p>
-
-<p>»Übrigens können Sie auch mitkommen, denn
-wenn ich mir's recht überlege, sind Sie einer der
-wenigen Menschen, mit denen sich's fast ebensogut
-geht wie allein.«</p>
-
-<p>Er zieht den Hut und streckt mir abschiednehmend
-die Hand hin: »Nach diesem Hymnus auf die
-Einsamkeit&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ach, keine Fissimatenten,« sage ich und schiebe
-ihn mit dem Ellenbogen vorwärts, »kommen Sie
-mit. Sie wissen ja, es ist ein schönes Ding um
-die Einsamkeit, aber man muß einen haben, dem
-man sagen kann: &rsaquo;Es ist ein schönes Ding um die
-Einsamkeit&lsaquo;!«</p>
-
-<p>»Gut und weise!« lobt er und geht langsam
-neben mir weiter. »Nur daß Sie mich damit
-zum Spiegel Ihrer schönen Gefühle erniedrigen!
-Und außerdem hätten Sie an Stelle des unpersönlichen
-Fürworts unbedingt &rsaquo;die Frau&lsaquo; sagen müssen,
-denn wir Männer ertragen die Einsamkeit auch
-ohne Spiegel.«</p>
-
-<p>»Das ist ein unliebenswürdiger Zug von
-euch,« behaupte ich, »und außerdem glaube
-<a class="pagenum" id="page_051" title="51"> </a>
-ich's nicht. Ihr braucht euer Publikum so gut
-wie wir.«</p>
-
-<p>»Ja,« antwortet er, »aber nur von Zeit zu
-Zeit. Verhältnismäßig selten. &ndash; Eine Frau kann
-aber nicht leben ohne Spiegel. Sie kann weder
-Kunst noch Natur allein genießen, sie braucht
-immer einen, der ihre Bewunderung bewundert.
-Ja, ich behaupte sogar, eine Frau allein in einem
-Zimmer, in dem sie weder gehört noch gesehen
-werden kann, hört auf zu existieren. Sie erlischt
-wie eine Kerze im luftleeren Raum.«</p>
-
-<p>»Hören Sie, Paulsen,« sage ich und bleibe
-stehen, »wirken Trauungen immer so beunruhigend
-auf Sie? Dann hätten Sie mich doch lieber allein
-gehen lassen sollen, selbst auf die Gefahr hin,
-daß ich wie eine Kerze im luftleeren Raum verlösche.«</p>
-
-<p>»Man muß sich austoben,« brummt er.</p>
-
-<p>»Und damit scheint einer der seltenen Momente
-gekommen zu sein, in denen selbst der Mann ein
-Publikum braucht. Was hat Sie übrigens, wenn
-ich fragen darf, in diese erfrischende Stimmung
-versetzt? Vielleicht der famose Geistliche, gegen
-den Franz sich noch bis zum letzten freien Atemzug
-gewehrt hat und von dem er mir eben noch
-schnell und mit seiner wütendsten Grimasse zuflüstern
-mußte, daß er ein idiotischer Wanderprediger
-<a class="pagenum" id="page_052" title="52"> </a>
-sei! Wobei mir nur eines unklar geblieben
-ist: warum gerade Wanderprediger?«</p>
-
-<p>»Es fiel ihm wohl im Moment nichts Beschimpfenderes
-ein,« vermutet Paulsen. »Aber der
-ist ja nur nebenbei, gewissermaßen als ein Symbol
-dieser ganzen irrsinnigen Heiraterei.«</p>
-
-<p>»Wieso irrsinnig?« frage ich sanft. »Ich habe
-noch nie eine Heirat gesehen, die &ndash; wenigstens von
-einer Seite aus &ndash; von so idealer Vernünftigkeit
-getragen war wie diese. Man könnte sagen, Herz
-und Verstand halten sich bei Franz die Wage,
-und sieht fast die zwei gleichstehenden Schalen
-vor sich. Von Gertruds Seite muß übrigens wirklich
-nur leidenschaftliche Liebe vorliegen, denn soviel
-ich mir auch den Kopf zerbreche, sogenannte
-Verstandesgründe für diese Heirat sind nicht aufzufinden.</p>
-
-<p>Aber Paulsen, Sie können sagen, was Sie
-wollen und lächeln, wie Sie wollen, für euch
-Männer gibt es ja allerlei Glücksmöglichkeiten
-und allerlei Arten von Vernunftheiraten, aber
-für uns gibt es nur eine Art von Glück und nur
-eine Vernunftheirat, und das ist die Heirat aus
-Liebe.«</p>
-
-<p>Paulsen lächelt grimmig: »Es gibt für euch
-Frauen nur einen absolut sicheren Weg zum Unglücklichwerden:
-das ist eine Heirat aus sogenannter
-<a class="pagenum" id="page_053" title="53"> </a>
-leidenschaftlicher Liebe. Mit einem ungeliebten
-oder gleichgültigen Mann kann eine Frau ja ein
-ähnliches Ziel erreichen, aber der Weg ist nicht
-halb so sicher. Da gibt es noch Seitenpfade, in
-die sie abbiegen kann, womit ich nicht allein die
-illegitimen gemeint haben will. Frauenstimmrecht
-und Wohlfahrtspflege sind sogar extra dazu angelegte,
-gesellschaftlich sanktionierte Nebenstraßen.
-Für die leidenschaftlich liebende Frau gibt es aber
-keine Nebenstraßen, ihr Weg führt direkt und unbedingt
-in die Hölle.«</p>
-
-<p>»Ja, Paulsen, denn eure Unzulänglichkeit schreit
-zu Himmel und Hölle. Aber selbst wenn Sie die
-Liebe als Vernunftgrund verwerfen, so müssen
-Sie doch zugeben, daß sie das einzig anständige
-Motiv zur Eheschließung ist.«</p>
-
-<p>Aber Paulsen ist heute durchaus nicht in der
-Zugebelaune und erklärt verbissen:</p>
-
-<p>»Ich will Ihnen etwas sagen, gnädige Frau,
-es gibt nur eine anständige Art von Liebe, und
-das ist die, von der's im Volksliede heißt: &rsaquo;Kein
-Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß&lsaquo;, nämlich
-die heimliche, von der &rsaquo;niemand nichts weiß&lsaquo;. &ndash;
-Und wenn zwei Menschen es über sich gewinnen,
-mündlich und schriftlich und mit Blicken und
-Mienen stolz vor aller Welt zu verkünden, daß
-sie einander leidenschaftlich lieben und deshalb
-<a class="pagenum" id="page_054" title="54"> </a>
-heiraten wollen, so nenne ich das eine unanständige
-Handlung. Von geschmackvollen Menschen
-sollte man verlangen dürfen, daß sie, wenigstens
-der Welt gegenüber, die Komödie der Vernunftehe
-aufrechterhalten.«</p>
-
-<p>Hier muß ich so herzlich lachen, daß Paulsen
-mich durch seinen Kneifer erstaunt betrachtet, denn
-ihm ist's, wie immer, bitter ernst.</p>
-
-<p>»Paulsen,« sage ich, »haben Sie wirklich keine
-Ahnung davon, wie viele Komödien uns durch
-diese Komödie erspart blieben? &ndash; Aber bis jetzt
-haben Sie nur um die Sache herumgeredet und
-mir immer noch nicht erzählt, warum Sie gerade
-heute Ihre Grantigkeit so wenig bändigen konnten,
-daß sie schon auf der Treppe mit Ihnen
-durchging? Und was sollte das heißen: &rsaquo;Eine
-schöne Leich'&lsaquo;?«</p>
-
-<p>»Nun, das soll heißen, daß wir heute unseren
-guten Franz Lindner mit Harmoniumklängen und
-Feierreden sanft eingesargt und begraben haben.
-Nicht nur für uns, was selbstverständlich und
-nicht von Bedeutung ist, sondern auch für die
-Welt, und &ndash; wie ich fürchte, für ihn selbst.«</p>
-
-<p>»Für einen Toten fand ich ihn unverhältnismäßig
-zufrieden und glücklich aussehend,« bemerke
-ich etwas trivial, und Paulsen fährt denn auch
-auf: »Ein Mann und noch dazu ein Künstler,
-<a class="pagenum" id="page_055" title="55"> </a>
-der mit fünfundzwanzig Jahren zufrieden und
-glücklich aussieht, der gehört unbesehen zu den
-Toten, denn er ist das jämmerlichste von allen
-Geschöpfen.«</p>
-
-<p>»Lieber Freund,« sage ich beschwichtigend, »ich
-hoffe, daß das nur einer Ihrer bekannten rethorischen
-Superlative ist, die wirklich immer superlativischer
-und rethorischer werden.«</p>
-
-<p>Aber Paulsen schüttelt den Kopf. »Alles darf
-ein Künstler wollen,« sagt er nachdrücklich, »das
-Höchste und das Niedrigste, das Edelste und das
-Gemeinste, nur das armselige Glücklichsein, das
-darf er nicht wollen, das muß er den Philistern
-und den Weibern überlassen, sonst hat er ausgespielt
-&ndash; versungen und vertan.«</p>
-
-<p>»Ich verstehe das nicht,« antworte ich. »Sollte
-eines Mannes großes, vielleicht überschwängliches
-Glück nicht auch Kunstwerke schaffen helfen?«</p>
-
-<p>»Glück!« sagt Paulsen und verzieht das Gesicht,
-als habe er unversehens auf ein Pfefferkorn
-gebissen. »Nehmen Sie bitte das Wort einmal
-in die Hand, wie Schnee wird's darin zerfließen.«</p>
-
-<p>Ich schüttle langsam den Kopf, aber er fährt
-fort: »Jawohl, ich kenne allerlei angenehme Dinge,
-die dem Glück zum Verwechseln ähnlich sehen.
-Erstens und vor allem befriedigte Eitelkeit, dann
-vielleicht noch Sorglosigkeit und Behagen. Ich
-<a class="pagenum" id="page_056" title="56"> </a>
-kenne auch allerlei Räusche, aber immer, wenn
-man Glück dazu sagen will, zerfließen sie wie
-Schnee zu Wasser und zu Dreck. &ndash; Nein, das
-sogenannte überschwängliche Glück hat noch keine
-großen Werke geschaffen, und wenn dazu überhaupt
-ein Empfinden helfen kann, dann kann es
-nur ein überschwängliches Leid. Aber im allgemeinen
-bin ich der prosaischen Ansicht, daß die
-großen Werke keine Stimmungsprodukte sind,
-sondern Arbeitsprodukte.«</p>
-
-<p>Wir schweigen einen Augenblick, dann fügt er
-hinzu: »Und wer arbeiten will, muß die Arme
-frei haben und ohne Verantwortung sein oder
-ohne Gewissen. Und wenn Kraft dazu gehört, die
-Einsamkeit zu ertragen, so gehört Größe dazu, sich
-als Künstler in der Zweisamkeit zu behaupten, die
-man bürgerliche Ehe nennt, und die meist alles
-andere als nur Zweisamkeit bedeutet.«</p>
-
-<p>»Mag sein,« antworte ich nachdenklich. »Aber
-glauben Sie nicht, daß die Unzufriedenheit und
-innere Einsamkeit, die Ihnen zum Künstlertum
-unerläßlich scheinen, bei Franz schnell wieder die
-Oberhand gewinnen werden, sobald das Neue,
-das ihn jetzt noch berauscht wie alles Neue, alltäglich
-geworden ist?«</p>
-
-<p>»Vielleicht,« nickt Paulsen. »Nur daß es dann
-nicht mehr die rechte Unzufriedenheit ist und nicht
-<a class="pagenum" id="page_057" title="57"> </a>
-mehr die rechte Einsamkeit. Nicht mehr das Leid,
-das den Menschen erhebt, indem es ihn zermalmt.
-&ndash; Es wird die ganz alltägliche Qual
-sein, die einen feinnervigen Menschen im Zwang
-des immerwährenden Beisammenseins mit einem
-anderen zerreiben muß. Wie ja überhaupt die
-Frage, ob jemand in der Ehe unglücklich wird
-oder nicht, immer nur die Frage ist, wieviel er
-aushalten kann, im letzten Grund also nichts
-anderes als eine Nervenfrage.«</p>
-
-<p>Ich nicke und lächle vor mich hin, denn Paulsens
-Art, die kompliziertesten Dinge auf die einfachste
-Formel zu bringen, amüsiert mich immer von neuem.</p>
-
-<p>»Übrigens,« fährt er fort, »ist diese Frage
-absolut nebensächlich, und es ist möglich, daß wir
-Franzens Anpassungsgabe und Nervenstärke unterschätzen;
-vielleicht wird er sich bald wohl fühlen
-in der Philisterei, die er dann vornehmes Bürgertum
-nennen wird oder so ähnlich. Denn Leute,
-die ein bißchen journalistisch verseucht sind, finden
-bekanntlich immer ein rettendes Wort.«</p>
-
-<p>Wir sind an der Alster angelangt und gehen
-eine Weile schweigend nebeneinander her, bis ich
-endlich ein wenig kleinlaut frage: »So wäre also
-für den Künstler die Frage, glücklich oder unglücklich
-verheiratet? immer nur die Frage nach dem
-kleineren Übel und eine ungelöste, wie mir scheint.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_058" title="58"> </a>
-Paulsen nickt zerstreut und deutet nach der sonnenglitzernden
-Alster und den Gärten rechts und links,
-von denen der Duft herüberstreift.</p>
-
-<p>»Da ist er wieder, der große Betrüger,« sagt
-er, »dem wir in unserer Dummheit jedes Jahr
-von neuem auf den Leim gehen.«</p>
-
-<p>Ich sehe ihn fragend an, und er fährt grimmig
-fort: »Oder hat Ihnen der Frühling vielleicht
-schon einmal gehalten, was er Ihnen versprochen
-hat?«</p>
-
-<p>»Nein, Paulsen,« sage ich, »er hat mir noch
-nie gehalten, was er mir versprochen hat. Aber
-vielleicht nur deshalb nicht, weil ich nie dumm
-genug war, ihm ganz zu glauben.«</p>
-
-<p>»Tja, ja,« nickt Paulsen, und sein Gesicht verzieht
-sich wieder zu der wehmütig-spöttischen Grimasse,
-und nach einer kleinen Pause noch einmal
-langsam: »Tja, ja.«</p>
-
-<p>»Ich weiß, Paulsen,« sage ich seufzend und
-reiche ihm die Hand zum Abschied, denn wir sind
-vor meinem Hause angelangt. »Ich weiß es schon
-lange, das Dümmste, was wir haben, ist allemal
-unser Verstand!«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_059" title="59"> </a>
-Von klugen und törichten Jungfrauen,<br />
-himmelblauen Kleidern und schlechten<br />
-Gewohnheiten</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p059i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_061" title="61"> </a>
-Dufaure und ich laufen durch den Wald, das
-heißt wir laufen nicht so, wie die Kinder laufen,
-obwohl wir's gerne möchten, aber wir gehen auch
-nicht so kur- und promenadenmäßig, wie sich's für
-verheiratete und ernst zu nehmende Leute ziemt.
-Denn wir sind beide ungeduldig. Wir haben schon
-viel zu lange bei der Table d'hote stillsitzen müssen,
-und während die anderen Gäste in ihren Liegestühlen
-schmökern und gähnen, kommt über uns
-beide manchmal das fast unbezwingliche Verlangen,
-ziellos in der Welt herumzulaufen.</p>
-
-<p>»Fast so, als ob wir vor etwas davonrennen
-müßten, dem wir doch nicht entgehen werden,«
-sagt Dufaure, und ich nicke nur und spreche dann
-weiter über das vorher begonnene Thema und höre
-plötzlich ganz erstaunt mir selbst zu, als wär's ein
-fremder Mensch, der da voll Eifer Vorträge über
-Kindererziehung und Volksaufklärung hält.</p>
-
-<p>Und mitten drin fragt Dufaure ruhig und sanft:
-»Wollen wir nicht lieber von etwas sprechen, was
-Sie interessiert?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_062" title="62"> </a>
-Da lache ich und sage: »Sie sind ein feiner
-Seelenkenner, Hänschen Dufaure. Mir ist's wirklich
-im Moment vollkommen gleichgültig, ob das
-Volk aufgeklärt wird oder dumm bleibt.«</p>
-
-<p>»Mir nicht,« sagt er, »aber ich glaube, selbst
-wenn Ihnen ernstlich darum zu tun wäre, kämen
-wir der Lösung nicht näher, solange Sie solchen
-Kuddelmuddel darüber reden wie eben jetzt. Denn
-&ndash; Verzeihung, das haben Sie wirklich getan.«</p>
-
-<p>»Ach Hänschen,« seufze ich, »es ist doch unglaublich
-gleichgültig, was man redet. Wenn man
-nur nicht zu denken braucht.«</p>
-
-<p>»Merkwürdig,« sagt er kopfschüttelnd, »diese
-Maßnahme der meisten, selbst der klügsten weiblichen
-Wesen, beim Sprechen das Denken auszuschalten!
-Übrigens begreife ich nicht, was es für
-Gedanken sein können, die Sie so quälen, denn daß
-Sie sich über die Kinder- und Volkserziehung keine
-Sorge machen, ist mir soeben klar geworden, während
-Sie so leidenschaftlich darüber sprachen.«</p>
-
-<p>Und da ich schweige, fährt er fort: »Wenn ich
-ganz ehrlich sein soll, glaube ich überhaupt nicht,
-daß Sie sich über irgend etwas in der Welt Kummer
-machen. Mir scheint es so, als ob das Leben
-vor und hinter Ihnen läge wie ein schöngepflegter
-Park, durch den Sie in wundervollen himmelblauen
-Gewändern wandeln. Und über Ihnen
-<a class="pagenum" id="page_063" title="63"> </a>
-schwebt so etwas wie ein Schutzgeist, der paßt auf
-Ihre himmelblauen Gewänder auf.«</p>
-
-<p>»Hänschen,« sage ich, »Sie sind wirklich nicht
-dumm.«</p>
-
-<p>»Wie hübsch, daß Sie das finden,« antwortet
-er, »noch hübscher, daß Sie's so überzeugend sagen,
-denn ich halte mich manchmal für verzweifelt
-dumm. Ja, wenn ich uns zwei so betrachte, scheint
-mir's immer, als wären wir die lebendige Illustration
-zu der Geschichte von der klugen Jungfrau
-und dem dummen Hans. &ndash; Sie kennen doch die
-Geschichte?«</p>
-
-<p>»Nein,« sage ich, »aber mir scheint, Sie werden
-sie gleich erzählen, sie brennt Ihnen schon auf
-der Zunge.«</p>
-
-<p>»Nur den Anfang,« sagt er zögernd, »denn die
-Geschichte hat noch keinen Schluß.«</p>
-
-<p>»Sie wird auch keinen bekommen,« sage ich.</p>
-
-<p>Und dann sehen wir uns einen Augenblick an,
-und dann frage ich, ob er gute Nachrichten von
-zu Hause habe.</p>
-
-<p>»Ich danke,« sagt er, »die Kinder kommen täglich
-an die Luft und sehen gut aus. Und Baby
-hat jetzt den zweiten Zahn, und die Amme will
-fortgehen. Und der Große hat gestern zweimal gehustet,
-aber der Doktor sagt, es ist nichts. &ndash; Ich
-nehme an, daß Sie sich hierfür brennend interessieren.«
-<a class="pagenum" id="page_064" title="64"> </a>
-&ndash; »Nicht so sehr für die Details,« antworte
-ich, und wir gehen eine Weile schweigend
-nebeneinander her, bis er plötzlich fragt:</p>
-
-<p>»Wird Ihnen das Kleid nicht über, wenn Sie
-es immerfort tragen?« &ndash; »Welches Kleid?« frage
-ich erstaunt. &ndash; »Das himmelblaue,« antwortet er.</p>
-
-<p>»Mein Gott, ob es mir über wird!« seufze ich.
-»Aus dem himmelblauen Gewand ist ja schon
-richtig eine Zwangsjacke geworden! Aber was
-nützt's, wenn ich auch heraus will, mein Schutzgeist
-zieht mir's immer wieder über den Kopf, und so
-hab' ich mich abgefunden und werde himmelblau ins
-Grab steigen, verlassen Sie sich darauf, Hänschen.«</p>
-
-<p>»Daran glauben Sie also wie an ein unabwendbares
-Fatum, das Ihr Leben bestimmt?«</p>
-
-<p>»Ich glaube, daß unsere Natur das Fatum ist,
-das unser Leben bestimmt, &ndash; ein unentrinnbares
-Fatum.«</p>
-
-<p>»Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen,«
-zitiert er, »aber wie wird es, wenn unsere Natur
-in Konflikt gerät mit der Natur und dem tiefsten
-Wesen eines anderen, das doch für ihn ebenso
-lebenbestimmend sein muß wie unseres für uns?
-Wenn zum Beispiel ein Mensch, der, sagen wir,
-vom Gesetz der Trägheit regiert wird, &ndash; ja, jetzt
-lachen Sie&nbsp;&ndash;,« unterbricht er sich, »aber seien Sie
-ehrlich: Heißt das, was wir Schutzgeist und Natur
-<a class="pagenum" id="page_065" title="65"> </a>
-und Fatum nannten, nicht wirklich so ähnlich wie
-Trägheit?«</p>
-
-<p>»Nennen Sie es so, wenn Sie wollen,« antworte
-ich, »und wenn Sie noch einen Namen dafür
-brauchen. Die meisten Menschen finden sich ja
-leichter mit einer Erscheinung ab, sobald sie erst
-einen Namen dafür gefunden haben. Und so hoffe
-ich, daß Sie sich endlich mit meiner Trägheit abfinden
-werden.«</p>
-
-<p>»Hoffen Sie das ernstlich?« fragt er, und wir
-stehen einen Augenblick still und sehen einander in
-die Augen.</p>
-
-<p>»Ja,« sage ich.</p>
-
-<p>»Nein,« sagt er, »Sie hoffen es nicht, und Sie
-glauben es auch nicht. Denn Sie wissen, ich gehöre
-nicht zu den Menschen, die sich abfinden und
-sich abfinden lassen.&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ich hoffe es doch,« antworte ich, »denn niemand
-kann mit dem Kopf durch die Wand, &ndash; es
-sei denn, er gehörte zur Kategorie derer, mit denen
-man Wände einrennt, und dazu habe ich Sie nie
-gezählt. &ndash; Aber jetzt sagen Sie mir bitte, wann
-wir heute Tennis spielen wollen. Vor sechs Uhr ist
-es gewiß zu heiß und um sieben geht es schon
-wieder zu Tisch.«</p>
-
-<p>Statt aller Antwort fragt Dufaure: »Haben
-Sie eigentlich nie geritten?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_066" title="66"> </a>
-»Nein,« antworte ich, ein bißchen erstaunt, wie
-immer über seine sprunghafte Art. »Sie wissen ja,
-daß ich eine unnatürliche, ich möchte fast sagen
-eine traumartige Angst vor Pferden habe.«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Dann kennen Sie vielleicht auch nicht die eigentümliche
-Scheu, die manchmal ganz plötzlich und
-aus unaufgeklärten Gründen so ein Tier befällt. &ndash;
-Stellen Sie sich vor: es geht seelenruhig und brav
-bis zu einer bestimmten, ganz harmlosen Stelle.
-Aber an dieser Stelle macht es plötzlich kehrt, und
-keine Mühe, kein Schmeicheln und Drohen kann
-es bewegen, weiter als bis zu diesem Punkt zu
-gehen.«</p>
-
-<p>»Ich habe schon davon gehört,« antworte ich,
-»und die Lösung dieses Rätsels wäre vielleicht ein
-wertvoller Beitrag zur Erforschung des pferdlichen
-Seelenlebens. Mir scheint sie übrigens nicht so
-schwierig wie Ihnen. Vielleicht ist der Punkt, vor
-dem die Scheu besteht, doch nicht ganz so harmlos
-wie Sie glauben. Es ist ja nicht gesagt, daß
-zwei Wesen darin gleich empfinden müssen.«</p>
-
-<p>»Und wenn es nun gerade die Gefahr ist, die
-den Reiter lockt, wenn er nun gerade den Widerstand
-überwinden und diese &ndash; meinetwegen nicht
-harmlose Stelle erreichen will. Was dann?«</p>
-
-<p>»Ja, was dann?« sage ich, »Sie sind ja Reiter,
-lieber Freund, nicht ich. Wäre ich der Reiter,
-<a class="pagenum" id="page_067" title="67"> </a>
-dann umginge ich vielleicht die gefährliche Stelle &ndash;
-vielleicht, sage ich.«</p>
-
-<p>»Das ist kein Heldenstück,« spottet er, »weder
-das Umgehen noch das Vielleichtsagen. Und wenn
-nun das andere &rsaquo;Vielleicht&lsaquo; einträte, und Sie nicht
-so besonnen und weise wären, nicht so ganz kluge
-Jungfrau, was machten Sie dann?«</p>
-
-<p>»Dann, ja dann machte ich wahrscheinlich eine
-große Dummheit, bei der ich den Kopf riskierte,
-oder doch wenigstens den Kragen, was auch peinlich
-sein kann.«</p>
-
-<p>»Und das schöne himmelblaue Gewand, &ndash; ja,
-das wäre bitter.«</p>
-
-<p>»Nein, Hänschen,« sage ich, »bitte zu bedenken,
-daß ich als Reiter kein himmelblaues Kleid trüge
-und also weit weniger zu riskieren hätte als die
-kluge Jungfrau, die außerdem bekanntlich noch
-eine kleine Öllampe in der Hand trägt, deren Licht
-sie treulich hütet. Ich glaube, so etwas kommt in
-der Bibel vor, und ich habe diese klugen Öllampenjungfrauen
-von jeher verabscheut.«</p>
-
-<p>»Ja, nicht wahr?« sagt Dufaure ordentlich
-glücklich, »Sie finden also auch, daß Lampen, die
-nicht im richtigen Augenblick verlöschen, so recht
-eigentlich ihren Zweck verfehlt haben.«</p>
-
-<p>»Ich möchte mir hierüber noch kein abschließendes
-Urteil gestatten,« antworte ich, »besonders
-<a class="pagenum" id="page_068" title="68"> </a>
-deshalb nicht, weil der rechte Augenblick immer
-eine strittige Frage sein wird. Was aber die klugen
-Jungfrauen im Leben betrifft, so bin ich unbesorgt,
-denn ich habe die tröstliche Erfahrung gemacht,
-daß es gar keine gibt. Sogar unsere Tischgenossin,
-die alte und magenleidende Tante, die es so genau
-mit ihrer Diät nimmt, und die ich deshalb für das
-Ideal einer klugen und enthaltsamen Jungfrau
-hielt, hat neulich, als ihr der Lachs gereicht wurde,
-tief und schmerzlich aufgeseufzt: &rsaquo;Einmal im Leben
-möchte ich mit gutem Gewissen sündigen dürfen.&lsaquo;«</p>
-
-<p>Wir lachen beide, und Dufaure behauptet, daß
-er das gute Gewissen von jeher für eine Erfindung
-der alten und magenleidenden Tanten gehalten
-habe.</p>
-
-<p>»Haben Sie noch nicht bemerkt, daß es immer
-und ewig recht haben will, genau so wie die alten
-Tanten?« fragt er.</p>
-
-<p>»Es hat auch immer recht,« antworte ich, »denn
-es spricht nur, wenn es recht hat, und das unterscheidet
-es von allen alten Tanten der Welt.«</p>
-
-<p>Und nach dieser Feststellung setzen wir uns auf
-einen kleinen Rasenabhang und rauchen und starren
-in die Luft.</p>
-
-<p>Auf einmal fragt Dufaure: »Spricht Ihr Gewissen
-nicht schon seit drei Wochen unaufhörlich
-mit Ihnen?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_069" title="69"> </a>
-»Nein,« sage ich und starre weiter in die Luft.</p>
-
-<p>»Dann muß es recht gut erzogen sein,« behauptet
-er.</p>
-
-<p>»Finden Sie, daß ich so in Sünden wate?«</p>
-
-<p>»Nun,« antwortet er, »die äußere Korrektheit
-bedeutet oft nichts als die Inkorrektheit des Herzens.
-Aber vielleicht reagiert Ihr Gewissen nicht
-auf Unterlassungssünden.«</p>
-
-<p>Ich muß unwillkürlich lächeln: »Worunter
-also in diesem Fall meine unterlassenen Sünden
-zu verstehen wären.«</p>
-
-<p>Und da er mich schweigend und mit einem eigensinnigen
-Ausdruck ansieht, kann ich nicht anders,
-als ein altes Kinderlied zitieren, und ich sage leise
-in seine flackernden Augen hinein: »Hänschen,
-Hänschen, sei gescheit!«</p>
-
-<p>»Ja,« antwortet er zwischen den Zähnen und,
-plötzlich aufspringend: »Weiß auch nicht, welcher
-Teufel mich manchmal packt und Ihnen den
-Spaziergang durch die himmelblauen Gärten
-stört.«</p>
-
-<p>Mir kommt plötzlich eine drollige Kindheitserinnerung,
-und während wir weitergehen erzähle
-ich ihm:</p>
-
-<p>»Als meine Schwestern und ich noch klein waren,
-hatten wir mal ein sonderbares Spielzeug. Daran
-muß ich jetzt denken, vielleicht weil Sie gerade
-<a class="pagenum" id="page_070" title="70"> </a>
-vom Teufel sprachen. Es war ein sehr hübscher,
-harmlos aussehender Kasten, dessen Schloß schwer
-zu finden war. Und während man danach suchte,
-berührte man jedesmal eine geheime Feder,
-der Kasten sprang auf, und ein kleiner Teufel flog
-heraus. &ndash; Und wir erschraken jedesmal zu Tod,
-und einmal habe ich sogar vor Schrecken geweint.
-Und wir hatten es doch vorher gewußt, daß der
-Teufel darin saß und hätten doch die Hände von
-dem gefährlichen Spielzeug lassen können.«</p>
-
-<p>»Ja,« sagt Dufaure, »wir hätten ja die Hände
-von dem gefährlichen Spielzeug lassen können. &ndash;
-Daß es nicht geschah, trotz des besseren Wissens,
-bestätigt mal wieder meinen schönen, aber traurigen
-Satz: &rsaquo;Klugheit schützt vor Dummheit nicht.&lsaquo;
-Übrigens vermute ich, daß Ihre Tränen schnell
-getrocknet waren. Es gibt ja so viele Spielsachen
-auf der Welt, und der Teufel sitzt nicht in allen.«</p>
-
-<p>»Sicher war ich schnell getröstet,« antworte ich,
-»besonders, weil ich als Kind oberflächlich genug
-war, nicht hinter jeder harmlosen Sache eine tiefe
-Symbolik zu wittern.«</p>
-
-<p>»Verzeihen Sie,« sagt Dufaure, »die Symbolik
-lag hier so nahe. Aber um Sie zu versöhnen, will
-ich Ihnen auch etwas aus meinem Kinderleben
-erzählen, wenn Sie es hören wollen.« Ich nicke
-und er erzählt:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_071" title="71"> </a>
-»Ich hatte als Kind neben vielen schlechten Gewohnheiten
-eine, die besonders fatal und gefährlich
-war, nämlich die Gewohnheit, mich immer
-selbst zu sehen und zu hören. Ich ging immer
-gleichsam neben mir her und beobachtete mich. Anfangs
-mag es eine gewollte Spielerei gewesen sein,
-aber dann wurde es zur Gewohnheit und schließlich
-zum Zwang. &ndash; Auch daß ich mich beobachtete,
-beobachtete ich und so immer weiter, so daß
-es war, als stünde ich zwischen zwei Spiegeln, die
-sich ineinanderspiegeln und in denen man sich unheimlicherweise
-in einer endlosen Reihe sitzen, stehen
-und bewegen sieht. Sie können sich nicht denken,
-wie qualvoll das war &ndash; und noch ist, denn es
-ist noch nicht vorbei. Noch keine Erregung,
-noch kein Erlebnis war stark genug, mich in mir
-selbst zu verlöschen, mich von mir selbst zu erlösen.«</p>
-
-<p>Dufaure schweigt einen Augenblick und setzt
-dann langsam hinzu:</p>
-
-<p>»Und ich sehne mich nach dieser Erlösung. Ich
-möchte mich selbst verlieren, &ndash; einmal im
-Leben.«</p>
-
-<p>Wir stehen auf der kleinen Brücke und sehen
-hinunter, und unsere Hände liegen auf dem Gitter
-nahe beieinander, aber nicht so nahe, daß sie sich
-berühren. Und plötzlich sage ich in die Stille hinein,
-<a class="pagenum" id="page_072" title="72"> </a>
-fast ohne es zu wissen und zu wollen, und
-meine Stimme klingt wie dünnes Glas, das im
-nächsten Augenblick zerbrechen kann:</p>
-
-<p>»Ich möchte mich selbst finden, &ndash; einmal im
-Leben.«</p>
-
-<p>Und dann sprechen wir gar nichts mehr.&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_073" title="73"> </a>
-Von Märchen und Masken</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p073i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_075" title="75"> </a>
-Ein unbeschreiblicher Reiz liegt über der Alster,
-wenn sie an warmen Sommerabenden mit unzähligen
-kleinen Fahrzeugen übersät ist, wenn die Ruder-
-und Segelboote, Punts und Kanus lustig
-durcheinanderschießen, und junge Gestalten in bunten
-Sportgewändern einander zurufen und nicken
-und plaudern und lachen und flirten, als wäre die
-Welt ein großer Festplatz und Leben der entzückendste
-Sport.</p>
-
-<p>Aber ein anderer, feinerer Reiz liegt über der
-Alster, wenn man an lieben Sommermorgenden
-langsam durch ihre stillen Kanäle fährt. Gärten
-rechts und links, Weiden, deren Zweige bis ins
-Wasser hängen, Schwäne, die sich langsam dem
-Boot nähern, und die ein leichter Ruderschlag wieder
-vertreibt. Hier und da Kinder in den Gärten
-und ein kleiner Hund, der ans Ufer kommt und
-bellt. Und wir gleiten an all dem vorbei, und es
-ist wie im Märchenland.</p>
-
-<p>»Andersens Märchen,« sage ich, und Erich
-Halpern sieht nach dem Ufer hinüber und nickt.
-Er sitzt an der Spitze des Punts, in weißem Sportanzug
-<a class="pagenum" id="page_076" title="76"> </a>
-mit bunter Krawatte und braunem Wildledergürtel,
-frisch, klug und hamburgisch aussehend.
-Langsam und wie zum Spiel läßt er das leichte
-Ruder durchs Wasser gleiten, während ich mir
-am Boden des Fahrzeuges zwischen den unzähligen
-bunten Kissen und Polstern mein bequemes
-Lager hergerichtet habe.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Hier müßte man Märchen erleben,« sagt er
-lächelnd.</p>
-
-<p>»Märchen erlebt man nicht,« antworte ich ein
-bißchen faul und blicke den Wölkchen meiner Zigarette
-nach, »man erzählt sie höchstens seinen
-Freunden.«</p>
-
-<p>»Womit Sie hoffentlich nicht sagen wollen, daß
-alle Erlebnisse, die man seinen Freunden erzählt,
-Märchen sind?« &ndash; »Das will ich doch hoffen,«
-entgegne ich, »denn sobald sie aufhören, Märchen
-zu sein, sind sie schon Indiskretionen.«</p>
-
-<p>»Müssen es denn immer Liebesgeschichten sein?«
-fragt er lachend.</p>
-
-<p>»Ach bitte ja,« antworte ich, »alle anderen sind
-doch wirklich gar zu langweilig. Oder können Sie
-sich etwas Tödlicheres denken, als wenn jemand
-seine Abenteuer auf anderem Gebiet zum besten
-gibt. Beispielsweise Reiseerlebnisse: Man kann mir
-die Besteigung des Montblanc in den glühendsten
-Farben schildern, man kann mir die Kämpfe mit
-<a class="pagenum" id="page_077" title="77"> </a>
-Buschmännern und Moskitofliegen noch so reizvoll
-ausmalen, es wird mich alles gleichgültig
-lassen der Frage gegenüber, ob die unglückliche
-Liebe, der man auf seiner Reise um die Welt entfliehen
-wollte, erkaltet ist oder nicht. Aber leider
-ist es die traurige Eigentümlichkeit der unglücklichen
-Lieben, daß sie auch in der Entfernung nicht erkalten.«</p>
-
-<p>»Haben Sie diese betrübliche Erfahrung aktiver-
-oder passiverweise gemacht?« fragt Erich, »wenn
-es nicht indiskret ist, sich danach zu erkundigen.«</p>
-
-<p>»Es ist indiskret,« antworte ich, »aber ich will
-Ihnen trotzdem antworten, daß ich in unglücklichen
-Liebesfällen meistens die leidende Form bevorzugt
-habe.«</p>
-
-<p>»Bei der Sie anscheinend nicht allzuviel litten,«
-meint er trocken.</p>
-
-<p>»Ach, ein Vergnügen ist auch das Unglücklichgeliebtwerden
-nicht,« antworte ich, »und vor allem
-ist es bedeutend schwerer, jemanden heraus als
-hinein zu verlieben.«</p>
-
-<p>»Vielleicht weil man sich dieser Arbeit nicht mit
-der gleichen Hingabe unterzieht,« vermutet er, und
-ich kann ihm nicht ganz unrecht geben. »Es ist
-eine zu langweilige und trübselige Arbeit,« nicke
-ich.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_078" title="78"> </a>
-»Und zudem eine, die mir die moralischen Kräfte
-einer Frau bedeutend zu übersteigen scheint,« sagt
-Erich und beugt sich einen Augenblick nieder, um
-unter den Weidenzweigen durchzuschlüpfen, die fast
-bis ins Wasser hängen.</p>
-
-<p>»Ach, man kann es schon, wenn man ernstlich
-will,« antworte ich zerstreut, denn es ist zu herrlich
-in der grüngoldnen Dämmerung, durch die wir
-fahren, als daß ich so recht zur Unterhaltung aufgelegt
-sein könnte.</p>
-
-<p>»Ja,« entgegnet Erich, »man kann bekanntlich
-alles, was man ernstlich will, es fragt sich immer
-nur, ob man es ernstlich wollen kann. Und &ndash; ich
-muß gestehen &ndash; ich traue einer Frau jede Selbstlosigkeit
-und Opferfreudigkeit zu, nur die eine nicht,
-einen Anbeter wissentlich und willentlich zu ernüchtern.
-Es wäre fast übermenschlich.«</p>
-
-<p>»Wenn er uns ganz gleichgültig ist,« werfe ich
-dazwischen; aber Erich antwortet: »Ein Mensch,
-der uns anbetet, ist uns nie ganz gleichgültig, und
-außerdem sind wir so eitel, daß uns sogar an der
-Schätzung der Menschen, an denen uns gar nichts
-liegt, noch viel gelegen ist. Ich weiß nicht, wer
-das einmal gesagt hat, aber es wird wohl eine
-Frau gewesen sein.«</p>
-
-<p>Ich nicke. »Die Ebner-Eschenbach, und sie hatte
-recht. Aber unbesorgt, die Ernüchterung wird schon
-<a class="pagenum" id="page_079" title="79"> </a>
-selbsttätig eintreten, denn die Eitelkeit der Männer
-ist so stark, daß ihre heißeste Liebe der Gleichgültigkeit
-gegenüber erlischt. Und wenn es schon schwer
-ist, den Haß oder die Liebe zu verkleiden, &ndash; die
-Gleichgültigkeit zu verbergen, ist uns einfach unmöglich.«</p>
-
-<p>»Heil, heil!« ruft Erich vergnügt, »eine der
-schwierigsten Menschheitsfragen ist gelöst, und unglücklich
-liebende Männer laut Beschluß von heute
-aufgehoben. O du glückliche Welt, in der sich alles
-so spielend löst.«</p>
-
-<p>Ich liege auf dem Rücken, die Hände unterm
-Kopf, und schaue in den Himmel und die ziehenden
-weißen Wolken hinein.</p>
-
-<p>»Mir scheint alles so spielend leicht, wenn ich
-auf dem Wasser bin,« sage ich, »fast als ob dies
-Gleiten und Wiegen die Körper- und Seelenschwere
-zugleich aufgehoben hätte. Und dann all
-die Schönheit ringsum. Nein, es ist mir heute
-schlechterdings unmöglich, unglücklich liebende
-Männer tragisch zu nehmen.« &ndash; Erich lacht.
-»Wenn ich gewußt hätte, daß der Wassersport
-auch seelisch abhärtend wirkt, dann hätte ich Ihnen
-nicht so leidenschaftlich zur Anschaffung dieses
-Punts geraten.«</p>
-
-<p>»Was verlieren Sie dabei?« frage ich und drehe
-den Kopf nach ihm hin, »Sie sind ja Gott sei
-<a class="pagenum" id="page_080" title="80"> </a>
-Dank der einzige meiner Freunde, der nicht unglücklich
-liebt, und Sie glauben nicht, wie wohltuend
-das auf mich wirkt.«</p>
-
-<p>»Und auf mich erst!« lacht er. »Übrigens verspreche
-ich Ihnen, falls mich das Malheur doch
-mal ereilen sollte, meinen Seelenschmerz männlich
-vor Ihnen zu verschließen. Denn erstens sind Sie
-mitleidslos&nbsp;&ndash;« &ndash; »Nur auf dem Wasser,« werfe
-ich dazwischen.</p>
-
-<p>»Nun, Sie werden nicht leugnen, daß Sie auch
-auf dem festen Land die Leiden anderer, und wären
-es die schmerzlichsten, mit bedeutend mehr Fassung
-tragen als zum Beispiel&nbsp;&ndash;« &ndash; »Als zum Beispiel
-meine eigenen, und wären sie auch viel geringfügiger.
-Aber ich behaupte, damit keine unrühmliche
-Ausnahme zu machen, denn &ndash; wenn Sie
-mir ein unpoetisches Wort in dieser poetischen Umgebung
-gestatten wollen, &ndash; der eigne Rock ist uns
-allen immer noch bedeutend näher als andrer Leute
-Hemd. &ndash; Übrigens, lieber Erich, glauben Sie ja
-nicht, mir jemals Ihre Seelenstimmung oder Verstimmung
-verbergen zu können. Sie sind durchsichtig
-wie Glas&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ich werde eine undurchdringliche Maske wählen,«
-verspricht er.</p>
-
-<p>»Ungefähr so, wie einer meiner Bekannten, der
-immer wenn er Unannehmlichkeiten erlebt hat,
-<a class="pagenum" id="page_081" title="81"> </a>
-fröhlich trällernd zu seiner Frau ins Zimmer kommt,
-um sie über seinen Seelenzustand zu täuschen. Sie
-erschrickt denn auch jedesmal zu Tod, wenn sie
-sein Trällern hört.«</p>
-
-<p>»Wie schade,« sagt Erich, »auf diesen liebenswürdigen
-Trick werde ich also schon verzichten
-müssen. Und ich bin nun wirklich selbst neugierig,
-welche Maske ich mir vorbinden muß, um Sie
-zu täuschen. Was meinen Sie, wenn ich das
-Raffinement so weit triebe, mir die Durchsichtigkeit
-als Maske zu wählen?«</p>
-
-<p>»Eine gewisse kühle Durchsichtigkeit, ja. Das
-wäre ein sehr feiner Zug, der besondere Schlauheit
-verrät. Sie müssen nämlich wissen, daß der
-wahre Psychologe den Menschen am besten an
-der Maske erkennt, die er sich wählt. Und man
-könnte daher den sehr veralteten Spruch mit Recht
-dahin umändern: &rsaquo;Ich weiß, wer du scheinen
-willst und sage dir, wer du bist&lsaquo;.«</p>
-
-<p>»Und damit wäre die Maske wieder nur ein
-Teil von uns selbst, und es bedürfte einer zweiten
-und dritten, um die erste zu verbergen. Nein,«
-sagt Erich energisch, »da bin ich doch schon aus
-Klugheits- und Ventilationsgründen für offenes
-Visier.«</p>
-
-<p>»Das nützt auch nichts,« entgegne ich bekümmert,
-»denn es gibt Menschenkenner, die so niederträchtig
-<a class="pagenum" id="page_082" title="82"> </a>
-fein sind, daß sie uns selbst ohne Maske
-durchschauen.«</p>
-
-<p>Erich lacht. »Sie rechnen sich dazu?«</p>
-
-<p>»Ach nein,« sage ich, »ich weiß mich frei von
-der Schwäche psychologischer Neugier und danke
-Gott täglich, daß er den Menschen die Gabe verliehen
-hat, ihre wahren Gesichter zu verbergen.
-Denn Erich, wirklich, bei Licht besehen, es ist ein
-Pack.«</p>
-
-<p>»Und nur wir beide nicht?« fragt er.</p>
-
-<p>»Ach, wir beide auch,« antworte ich, »aber
-von den Anwesenden spricht man nicht gern, und
-deshalb sagt man auch immer, sie sind ausgeschlossen.«</p>
-
-<p>Wir fahren eine Weile schweigend weiter, endlich
-sagt Erich, wie mir scheint, etwas verdrossen:
-»Eins begreife ich nicht und ärgere mich darüber,
-&ndash; nämlich, was Sie zu dem abfälligen Urteil
-über Ihre Mitmenschen berechtigt. Die Erfahrungen,
-die Sie bisher gemacht haben, sollten doch
-gerade danach angetan sein&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Lieber Freund,« unterbreche ich ihn, »was
-wissen Sie von meinen Erfahrungen, da Sie nur
-die Seite von mir und meinem Leben kennen, die
-Ihnen zugekehrt ist? &ndash; Aber selbst, wenn Sie
-recht hätten, wäre es doch nichts als Bestechlichkeit,
-wenn ich Welt und Menschen deshalb
-<a class="pagenum" id="page_083" title="83"> </a>
-im rosigen Schein sehen wollte, weil mir's
-gut geht, und weil man mich nach mancherlei
-Richtung hin verwöhnt hat. Es wäre eine ziemlich
-oberflächliche Bestechlichkeit, deren ich mich
-nicht schuldig machen will; trotzdem ich mich
-ganz gewiß nicht für unbestechlich halte. &ndash;
-Ebensowenig wie irgendeinen Menschen auf der
-Welt.«</p>
-
-<p>Erich schüttelt ungeduldig den Kopf: »Ich
-weiß, daß es Ihre Gewohnheit ist, große Worte
-gelassen auszusprechen, aber ich glaube, dies
-große Wort von der Bestechlichkeit aller Erdenkinder
-werden Sie doch nicht aufrechterhalten
-können. Sie werden trotz Ihrer pessimistischen
-Weltanschauung zugeben müssen, daß es Menschen
-unter uns gibt, die niemand bestechen
-kann.«</p>
-
-<p>»Ja,« sage ich, »das gebe ich ohne weiteres zu.
-Niemand kann sie bestechen, weil niemand ihnen
-den Preis bieten kann, für den sie zu haben wären.
-Ich spreche natürlich nicht von Geld, denn es gibt
-ja Leute genug, die so viel Geld haben, daß sie
-damit nicht zu ködern sind. &ndash; Aber wir alle haben
-Wünsche, die so brennend und tief sind, daß wir
-für ihre Erfüllung unsere Ehre und unsere sogenannte
-Seligkeit über Bord würfen. &ndash; Da aber
-ein Mensch dem anderen niemals das geben oder
-<a class="pagenum" id="page_084" title="84"> </a>
-auch nur versprechen kann, was dieses Opfer lohnt,
-so bleiben wir unbestochen bis an unser Lebensende,
-Gott sei's geklagt.&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Vielleicht Gott sei gelobt,« meint Erich altklug,
-»denn wir wissen es ja, daß erfüllte Wünsche
-meist eine grausame Strafe sind. &ndash; Und doch,«
-fährt er nachdenklich fort, »Sie haben recht. Trotzdem
-wir es wissen, wir gäben Ehre und Seligkeit
-und ein paar Jahre unseres Lebens für die Erfüllung.«</p>
-
-<p>»Ja,« antworte ich zögernd, »Ehre und Seligkeit
-gewiß, &ndash; aber ein paar Jahre meines Lebens?
-&ndash; Oder,« füge ich plötzlich ganz erleichtert hinzu,
-»wenn es vielleicht ein paar aus meiner Vergangenheit
-sein dürften?«</p>
-
-<p>Erich lacht herzlich. »So fassen Frauen das
-selbstverständlich immer auf, wenn sie für irgend
-etwas Jahre ihres Lebens zu opfern bereit sind. &ndash;
-Aber sind Sie wirklich so ängstlich besorgt um die
-zukünftigen?«</p>
-
-<p>»Ach ja, Erich, denn es ist ohnehin immer schon
-später als wir glauben.«</p>
-
-<p>Erich hat das Ruder eingezogen, und wir treiben
-jetzt in dem kleinen, fast ganz von Gärten eingeschlossenen
-See langsam im Kreise. Ich habe die
-Zigarette über Bord geworfen und die Hände um
-die Knie geschlungen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_085" title="85"> </a>
-»Wissen Sie, Erich,« seufze ich, »es ist sonderbar
-mit dem Altwerden, es ist das leichteste und
-das schwerste Ding zugleich.« Er nickt. &ndash; »Aber mir
-ist's doch immer so, als müßte es nicht sein, daß
-fast alle Menschen vom dreißigsten Jahr an geistig
-zu schrumpfen anfangen,« sagt er, »denn leider tun
-sie das.«</p>
-
-<p>»Nun ja,« antworte ich, »man hält zu oft für
-Temperament oder Begabung, was nur Jugend
-ist und schnell verschwindet, sobald der Mann Amt
-und Brot, und die Frau einen Mann gefunden
-hat. Erst wenn ein Mensch darüber hinaus den
-Schwung seines Wesens bewahrt hat, kann man
-sagen, daß er echt gewesen ist. Wie ja auch die
-körperliche Anmut einer Frau erst dann mehr ist
-als etwas zufällig Angeflogenes, wenn sie die Jugend
-überdauert, weil sie sich immer wieder von
-innen heraus durch seelische Kräfte erneut.«</p>
-
-<p>»Ja,« sagt Erich seufzend, »wenn es so eine Art
-seelische Kosmetik oder Massage gäbe&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Die gibt es sicher,« tröste ich ihn, »eine sehr
-gute Seelenmassage ist zum Beispiel schon die
-Liebe. Aber um Himmels willen keine glückliche,
-denn die bewirkt gerade das Gegenteil&nbsp;&ndash;, führt
-leicht zu Ehe, Schlafrock und Kinderkriegen, und
-unmerklich aber sicher ins Himmelreich der Philister.
-Aber so eine recht unglückliche Liebe, sehen Sie&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_086" title="86"> </a>
-Ich breche erschrocken ab, denn Erich lächelt gar
-zu wehmütig und schelmisch zugleich.</p>
-
-<p>»Erich,« sage ich und starre ihn entsetzt an, »um
-Himmels willen, Sie auch?«</p>
-
-<p>Er wendet mir langsam sein liebes und ehrliches
-Gesicht zu und nickt&nbsp;...</p>
-
-<p>»Wie habe ich meine Maske getragen?« fragt
-er leise.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_087" title="87"> </a>
-»Das ist nun mal mein Fimmel&nbsp;&ndash;«</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p087i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_089" title="89"> </a>
-Die Mittagstafel im Sanatorium für Nervöse
-und Überarbeitete geht ihrem Ende zu. Ja, der
-Doktor ist sogar schon aufgestanden, und während
-ein Teil der Gäste noch mit dem Pudding beschäftigt
-ist, steht er, die Hände auf die Lehne gestützt,
-hinter seinem Stuhl im Gespräch mit dem großen
-Dichter und der interessanten Frau, die ihm täglich
-gegenüber sitzen. Er spricht lebhaft und angeregt,
-bricht aber plötzlich mittendrin ab, überfliegt
-die Tafel mit einem zerstreuten Blick, der scheinbar
-nichts aufnimmt und zieht sich zurück, ohne sich von
-jemandem zu verabschieden. Gleich darauf erheben
-sich auch die Gäste, und während man sich dem
-Ausgang zudrängt, vermischen sich die zwei sonst
-streng geschiedenen Tische, der Tisch der Geistigen
-und der Tisch der Harmlosen, und das Stimmengeschwirr
-geht lauter hin und her.</p>
-
-<p>»Hie weise Reden, hie Gelalle, &ndash; ich leg' mich
-in die Liegehalle,« sagt jemand neben mir, und da
-ich den Schüttelreimfimmel des sehr gesprächigen
-kleinen Assessors schon seit Wochen kenne, sage ich
-nur gewohnheitsmäßig: »Schauderhaft!« und füge
-<a class="pagenum" id="page_090" title="90"> </a>
-gleich hinzu: »Ich komme aber mit hinauf, muß
-jetzt auch liegehallen.«</p>
-
-<p>Bald darauf haben wir's uns mit Hilfe von
-Kissen und Decken in unseren Liegestühlen bequem
-gemacht, und Fritz Burmeister sagt: »Na, bei
-Ihnen da drüben am Tisch der Berufenen und
-Auserwählten ging's ja heute wieder mal verflucht
-kriegerisch zu. Mir dröhnen noch die Ohren. Um
-welche heiligsten Güter wogte denn der Kampf so
-geräuschvoll hin und her?«</p>
-
-<p>»Sie hatten heute Dostojewsky vor,« berichte
-ich seufzend und streife die Asche von meiner Zigarette.
-»Die Brüder Karamasow waren dran, und
-sie stritten darüber, ob das Buch mehr typisch russisch
-oder mehr typisch menschlich sei. Und dabei
-kamen sie auf das typisch Menschliche im allgemeinen
-zu sprechen, und der große und der kleine
-Dichter gerieten einander in die Haare, und da ich
-gerade zwischen den beiden sitze, geriet ich in die
-Gefahr, im Interesse der typischen Menschlichkeit
-zerquetscht oder erschlagen zu werden.«</p>
-
-<p>»Traurig, traurig,« sagt der kleine Assessor,
-»aber warum krakehlen Sie nicht mit? Das ist
-gewöhnlich die einzige Rettung. Ich könnte es ja
-natürlich nicht, denn ich lese keine russischen Romane.
-Nicht etwa aus irgendeinem patriotischen
-oder moralischen Prinzip heraus, nein einfach nur,
-<a class="pagenum" id="page_091" title="91"> </a>
-weil ich die Namen darin nicht behalten kann.
-Wenn nämlich der eine Fedor Alexandrowitsch
-heißt und ein anständiger Mann ist, dann heißt
-der andere unfehlbar Alexander Fedorowitsch und
-ist ein Schurke, und ich bin mir am Schluß des
-Buches immer noch unklar darüber, wer der eine
-und wer der andere war. Aber Sie mit Ihrem glänzenden
-Namengedächtnis&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ach, darauf kommt es nicht an,« sage ich, »und
-Sie hätten ruhig mitreden können. Man kann
-nämlich das Blödsinnigste sagen, ohne daß einer
-es merkt. Heute tat ich nur deshalb nicht mit, weil
-ich essen wollte.«</p>
-
-<p>»Was sicher das typisch Menschlichste an der
-Sache war,« entscheidet er und fährt fort: »Ich
-begreife überhaupt nicht, wie man die Geschmacklosigkeit
-haben kann, bei Tisch Welträtsel zu
-lösen!«</p>
-
-<p>»Ach, wenn die Beefsteaks so hart sind wie
-gestern abend, dann löse ich gern mit,« erkläre ich
-ihm. »Es war einfach unerhört, die reinen Schuhsohlen!
-Der große Dichter war auch empört und
-mußte kohlensaures Natron hinterher nehmen.«</p>
-
-<p>Burmeister schweigt einen Augenblick, und ich
-sehe ihn erstaunt ob der ungewohnten Pause an.
-Da hebt er aber auch schon den Zeigefinger und
-deklamiert pathetisch:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_092" title="92"> </a>
-»Er sprach, ich bin kein Sohlenkauer, drauf nahm
-er Natron kohlensauer.« &ndash; »Schauderhaft,« sage
-ich, und er antwortet mit dem treuherzigen Sanatoriumspruch,
-der hier all unsere Sünden decken muß:</p>
-
-<p>»Das ist nun mal mein Fimmel, deshalb bin
-ich hier!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Übrigens,« fährt er fort, »zeigt es sich nach Ihrer
-Aussage wieder einmal deutlich, daß die Lösung
-des Welträtsels nur eine Magenfrage ist, und wer
-weiß, wie nahe wir morgen mit Hilfe des Beefsteaks
-der endgültigen Entscheidung kommen. &ndash;
-Wie verhält sich aber Ihre Tischgesellschaft zu
-dem schwierigen Problem der gleichzeitigen geistigen
-und leiblichen Ernährung?«</p>
-
-<p>»Sie löst es spielend,« antworte ich. »Der
-große Dichter spricht immer kauend, wodurch der
-Sinn seiner Reden nicht klarer wird, der kleine
-ist für sehr reichliche Nahrungsaufnahme, aber er
-beeilt sich kolossal, schiebt mir oder seiner Nachbarin
-zur Linken schnell seine abgegessenen Teller
-hin und stürzt sich kopfüber ins Gespräch. Der
-Doktor ißt ja überhaupt fast nichts aus lauter Zerstreutheit
-und ist zufrieden und glücklich, wenn er,
-wie jener sagenhafte Heinrich, jeden Mittag wenigstens
-einen Dichter im Topf hat.«</p>
-
-<p>»Erlauben Sie,« wendet Burmeister höflich ein,
-»es war ein Huhn, das jener sagenhafte und ziemlich
-<a class="pagenum" id="page_093" title="93"> </a>
-weltfremde Heinrich jeden Sonntag im Topf
-seiner Untertanen zu sehen wünschte; und ich hege
-einen zu großen Respekt vor allem, was sich dichtend
-betätigt, um diese Verwechslung gutheißen
-zu können. &ndash; Ich als simpler Bürger&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ich bitte Sie, ein preußischer Regierungsassessor,«
-erinnere ich ihn, aber er wehrt nervös ab:
-»Ach bitte, bitte! Ich bin, wie Sie wissen, ohne
-jeden Standeshochmut. Und überhaupt, preußischer
-Assessor, das höre ich gern! Welche gräßlichen
-Vorstellungen knüpfen sich an dieses Wort! Ein
-unsympathischer und streberhafter Geselle ohne Gemüt
-und Idealismus, so leben wir in jedem deutschen
-Roman, so laufen wir durch jedes deutsche Drama.</p>
-
-<p>Immer müssen wir die undankbaren Episodenrollen
-spielen, sind sozusagen die Schlagschatten,
-durch die die Lichtgestalt des Helden um so leuchtender
-erscheint. Und ich weiß nicht einmal, warum
-die Volksseele auf diese frevelhafte Weise vergiftet
-wird. &ndash; Wir sind eben die Stiefkinder der Literatur,«
-setzt er in so tragischem Ton hinzu, daß ich
-gerührt werde und ihm verspreche, demnächst ein
-Drama zu schreiben, das eine Ehrenrettung sämtlicher
-Assessoren der Welt mit besonderer Berücksichtigung
-Preußens werden solle.</p>
-
-<p>»Ich danke Ihnen,« antwortet er und verbeugt
-sich, soweit der Liegestuhl es zuläßt. »Es wird eine
-<a class="pagenum" id="page_094" title="94"> </a>
-befreiende Tat sein. &ndash; Apropos befreiende Tat,«
-fährt er lebhaft fort, »hat sich denn immer noch
-niemand im Sanatorium dazu bereit finden können,
-die interessante Frau, die an Ihrer Tischecke
-da oben sitzt und in eminenter Geistigkeit macht,
-geräuschlos aus der Welt zu schaffen?«</p>
-
-<p>»Ach nein,« antworte ich, »Sie vergessen, daß
-wir leider alle noch nicht in dem vorgeschrittenen
-Stadium sind, in dem der Staatsanwalt und
-die Geschworenen auf Freisprechung erkennen
-müssen.«</p>
-
-<p>»Traurig, traurig!« sagt er und überlegt. »Was
-ist denn alles hier an schönen Sachen? Vollkommene
-Geistesgestörtheit? Nein. Totaler Stumpfsinn?
-Schon eher, aber das gibt höchstens lumpige
-mildernde Umstände. Vielleicht ginge es mit
-sinnlosen Wutanfällen. Und ich bin sicher, vor jedem
-Gerichtshof der Welt Verständnis zu finden, wenn
-ich behaupte, daß diese Trägerin eminenter Geistigkeit
-und noch eminenterer Dummheit mich täglich
-in sinnlose Wut versetzt, wenn sie ihre unkontrollierbaren
-indischen und chinesischen Weisen in den
-Himmel hebt und mit verächtlich herabgezogenen
-Mundwinkeln von dem langweiligen Moralphilister
-Kant, dem verwirrten Schwätzer Nietzsche
-und dem salbadernden Geheimrat Goethe spricht.
-Kein Gerichtshof der Welt&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_095" title="95"> </a>
-»Tun Sie's trotzdem nicht,« unterbreche ich ihn.
-»Ihr Klaps ist leider noch nicht vorgeschritten genug,
-um vor den Sachverständigen zu bestehen.
-Und schließlich, was tut sie Schlimmes? Wenn
-sie nicht gerade ihre Verachtung für alles Europäische
-kundgibt, oder mit dem kleinen Dichter über
-Fragen des Unterbewußtseins diskutiert, ist sie
-harmlos. Sie spielt die Kosmopolitin, seitdem sie
-mit ihrem Mann ein paar Wochen in China war
-oder in Australien, was ja schließlich dasselbe ist.&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Erlauben Sie mal!« fährt er entsetzt in seinem
-Stuhl hoch. »Ich meine ja nur, was den Effekt
-betrifft,« beruhige ich ihn. &ndash; »Und das Unterbewußte,
-das ist nun einmal des kleinen Dichters
-Steckenpferd.«</p>
-
-<p>»Ich weiß,« sagt Burmeister bekümmert, »Ihr
-Tischgenosse Janssen hat mir erzählt, daß er ihn
-schon zweimal mit der Frage nach seinem unterbewußten
-Empfinden in die tödlichste Verlegenheit
-versetzt hat. Janssen fand das gemein und anstößig,
-noch dazu in Gegenwart von Damen und nennt
-den kleinen Dichter seitdem nur noch &rsaquo;Mayer mit
-dem Unterbewußten&lsaquo;.«</p>
-
-<p>Hier muß ich so laut herauslachen, daß eine der
-Hausdamen den Kopf zur Tür hereinsteckt und
-daran erinnert, daß Ruhezeit ist, und daß man uns
-im ganzen Haus hören könne.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_096" title="96"> </a>
-»Das spricht für die Harmlosigkeit unserer
-Unterhaltung,« versichert Burmeister treuherzig,
-schiebt aber mit Rücksicht auf das ganze Haus
-unsere Stühle so dicht wie möglich zusammen und
-fragt mich im Flüsterton, ob ich Janssens Auffassung
-nicht sehr berechtigt fände.</p>
-
-<p>»Mir scheint,« sage ich, »der Gute sucht sich
-an der ganzen Literatur dafür zu rächen, daß die
-Worte &rsaquo;Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer&lsaquo;
-nicht in der Jungfrau von Orleans vorkommen,
-wie er neulich behauptet und beinahe beschworen
-hat.«</p>
-
-<p>»Sie könnten auch ganz gut da vorkommen,«
-verteidigt der Assessor seinen Freund. »Und überhaupt,
-Schiller oder Goethe, so feine Nuancen
-braucht man wirklich nicht zu kennen. Mich quält
-aber schon seit Wochen eine andere Frage und
-zwar, welchen Befähigungsnachweis Janssen erbracht
-hat, um an Ihrem Tisch aufgenommen zu
-werden.«</p>
-
-<p>»Es war wohl hohe Protektion dabei im Spiel,
-wie bei mir auch,« antworte ich. »Der Doktor
-glaubte, mir damit gutzutun, und dabei blicke
-ich doch immer voll Sehnsucht zu Ihnen hinüber&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Burmeister verneigt sich. »Ich meine natürlich
-zu Ihrem Tisch, dem Tisch der Harmlosen, dem
-Tisch der holden Gewöhnlichkeit, wie Thomas
-<a class="pagenum" id="page_097" title="97"> </a>
-Mann alias Tonio Kröger sagen würde. Es ist
-oft so abspannend bei uns.«</p>
-
-<p>»Ach, glauben Sie ja nicht, daß es bei uns
-leichter ist,« warnt er eifrig. »Es ist ein aufreibendes
-Stück Arbeit, bis zum Beispiel jeder Kurgast
-jeden Kurgast davon überzeugt hat, was für eine
-vornehme Persönlichkeit er in Berlin oder Stettin
-oder Frankfurt ist, und ich weiß nicht, ob die Sache
-dadurch einfacher oder komplizierter wird, daß jeder
-nur zuhört, solange er selber redet und voll Sehnsucht
-diesem Moment entgegenlebt, solange ein
-anderer das Wort hat.«</p>
-
-<p>»Ich finde, Sie sind ein bißchen überheblich,
-Burmeister,« sage ich. »Sie müssen doch immer
-bedenken, daß wir uns in einem Sanatorium für
-Nervöse und Überarbeitete aufhalten.«</p>
-
-<p>»Ja richtig,« antwortet er, »und dabei fällt
-mir ein, daß ich Sie schon lange etwas fragen
-wollte, und zwar etwas sehr Plumpes und Taktloses,
-wie ich vorausschicken muß. Ich fühle mich
-dabei lebhaft in die Zeit meiner ersten Kinderkostümfeste
-versetzt, bei denen ich es, trotz mütterlicher
-Ermahnungen, nie unterlassen konnte, an alle
-mich umgebenden Masken mit der taktlosen Frage
-heranzutreten: &rsaquo;Als was bist du eigentlich hier?&lsaquo;
-Was die verschiedenen Spanier, Rotkäppchen und
-Schornsteinfeger jedesmal in peinliche Verwirrung
-<a class="pagenum" id="page_098" title="98"> </a>
-versetzte. Also, gnädige Frau, nehmen Sie's nicht
-übel, Sie sind so staunenswert unnervös, eine
-Wortbildung, die es eigentlich nicht gibt, und für
-die demnach kein starkes Bedürfnis vorzuliegen
-scheint, und vor dem Gedanken, daß Sie sich jemals
-im Leben überarbeitet haben, schreckt die
-kühnste Phantasie zurück. Also, ich kann nicht anders:
-Als was sind Sie eigentlich hier?«</p>
-
-<p>»Lieber Herr Burmeister,« sage ich, »ich wußte
-natürlich, daß diese Frage kommen würde, und
-habe mir während Ihrer schönen Einleitung überlegt,
-ob ich sie beantworten darf. Es ist nämlich
-ein Geheimnis dabei im Spiel.«</p>
-
-<p>»Oh, ein Geheimnis?« fragt er eifrig. »Rätsel zu
-lösen, war von jeher meine Spezialität. Hat man
-etwa die Absicht, Sie langsam durch kohlensaure
-Bäder, Hypnose und schwedische Heilgymnastik
-aus der Welt zu schaffen, um einer ungeheuren
-Erbschaft oder gemeingefährlicher Dokumente willen?
-Oder sind Sie vielleicht als Polizeispitzel tätig
-und beauftragt, einer Eheirrung aus allerhöchsten
-Kreisen auf die Spur zu kommen? Oder in diplomatischer
-Mission, um etwas über die Stärke
-unserer Militärmacht oder über den Stand unserer
-auswärtigen Beziehungen auszukundschaften? Oder
-hat man&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Um Gottes willen Schluß!« rufe ich, »ich hänge
-<a class="pagenum" id="page_099" title="99"> </a>
-den Hörer an. Und ich will's Ihnen lieber anvertrauen,
-ehe Sie sich ganz und gar ins Reich
-der unbegrenzten Möglichkeiten verlieren: Ich bin
-wirklich partiell gesund, ich bin nur hier, um Studien
-zu machen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ah,« macht er verständnisvoll, »für das Drama,
-das eine Ehrenrettung der preußischen Justizbeamten
-werden soll. Ich muß gestehen, Sie hätten
-sich für Ihre Studien keinen besseren Platz wählen
-können. Und jetzt begreife ich auch, warum Ihr
-alter Freund, der Doktor, Sie mitten zwischen
-die Dichter und Denker gesetzt hat. Er nimmt an,
-daß die Dichtkunst eine Art ansteckender Krankheit
-sei, vielmehr ein Bazillus, der bei häufiger Berührung
-der Ellenbogen, oder so, von einem zum
-anderen überspringt und eine verheerende Wirkung
-ausübt. Traurig, traurig! Mich tröstet nur die Gewißheit,
-daß es Menschen gibt, die gegen die entsetzlichsten
-Krankheiten immun sind, und &ndash; ohne Ihnen
-schmeicheln zu wollen &ndash; ich halte Sie für immun
-gegen alles, was mit Dichtkunst zusammenhängt.«</p>
-
-<p>»Traurig, traurig!« sage ich. »So könnte ich
-also mit Domingo aus dem Don Carlos, oder
-wenn Sie lieber wollen aus der Iphigenie sprechen:
-&rsaquo;Wir sind vergebens hier gewesen&lsaquo;.«</p>
-
-<p>Burmeister nickt: »Vergebens vielleicht, &ndash; umsonst
-sicherlich nicht.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_100" title="100"> </a>
-Und ich kann nicht umhin, diesen mehr humor-
-als trostvollen Ausspruch seufzend zu bestätigen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Aber dann deute ich nach den Bergen drüben
-und dem sonntagstillen Tal unten und sage: »Doch
-nicht vergebens, und wenn es nichts weiter war
-als das.«</p>
-
-<p>»Das ist so weit,« murrt Burmeister, »und
-dann immer nur ansehen!« &ndash; »Ja,« gebe ich zu,
-»man fühlt sich übergroßer Schönheit gegenüber
-immer so hilflos und hat das Gefühl, daß es
-nur zwei Arten von Erlösung gibt: man müßte
-sich in das Schöne hineinstürzen oder es auffressen
-können.«</p>
-
-<p>Burmeister hat den Arm auf die Lehne meines
-Sessels gestützt und blickt mir von unten her ernsthaft
-in die Augen.</p>
-
-<p>»Sie haben recht,« antwortet er, »und ich empfinde
-es mit aller Entschiedenheit, deren ich fähig
-bin: Der Kuß wäre augenblicklich die einzige
-Lösung.«</p>
-
-<p>Ich muß lachen: »Ich glaube, in der Juristensprache
-nennt man so etwas eine Unterschiebung;
-aber ich zweifle nicht daran, daß Sie hier im
-Sanatorium allerlei Verständnis für Ihre Auffassung
-finden.«</p>
-
-<p>»Die Sie nicht teilen?«</p>
-
-<p>»Die ich teile, &ndash; unter Vorbehalt natürlich.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_101" title="101"> </a>
-»Unter welchem Vorbehalt?«</p>
-
-<p>»Nun, erstens natürlich unter dem Vorbehalt
-der Legitimität.«</p>
-
-<p>»Legitime Küsse!« Er schüttelt sich. »Aber zweitens?«
-drängt er. »Auf erstens muß doch immer
-ein zweites folgen.«</p>
-
-<p>»Zweitens,« antworte ich und lehne mich soweit
-in meinem Liegestuhl zurück wie es irgend
-möglich ist, »zweitens will ich Ihnen mal was
-sagen, Burmeister: Sie sind neugierig. Ich habe
-Ihnen heute schon ein Geheimnis anvertraut und
-diese Erinnerung macht Sie kühn, um wieder mal
-aus dem Don Carlos zu zitieren.«</p>
-
-<p>»Du lieber Gott, kühn!« seufzt Burmeister.
-»Wenn Sie wüßten, wie wenig kühn ich in diesem
-Augenblick bin!«</p>
-
-<p>»Na also, dann ist's ja gut,« sage ich, »dann
-setzen Sie sich wieder bequem zurück, wie sich's gehört
-und bedenken Sie, daß nach Tisch von Gottes
-und Doktors wegen Ruhezeit ist. Und dann
-will ich Ihnen das zweite Geheimnis anvertrauen.«</p>
-
-<p>»Das Geheimnis Ihrer Unnahbarkeit?« fragt er.</p>
-
-<p>»Ja,« antworte ich, »und nun hören Sie gut
-zu: Die Unnahbarkeit ist nämlich mein Fimmel&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Und deshalb sind Sie hier!« stößt er mit einem
-so herzlichen und lauten Jubelton heraus, daß ich
-ihm unbedingt den Mund zuhalten muß.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_103" title="103"> </a>
-Und da ging Karl Gerhard zur Bar&nbsp;&ndash;</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p103i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_105" title="105"> </a>
-»Herein,« sage ich ein wenig erstaunt und sehe
-nicht gerade angenehm überrascht vom Buch auf,
-denn meine Kaffee- und Besuchsstunde ist längst
-vorbei, und in diesem, vielleicht einzigen Punkt
-bin ich ein bißchen Pedant.</p>
-
-<p>Und es schießt mir durch den Kopf, ob Karl
-Gerhard wirklich nur darum so unsicher und zerknirscht
-aussieht, wie er da in der Türe steht, oder
-ob noch etwas anderes&nbsp;&ndash;? Ich habe allerlei Fatales
-gehört in letzter Zeit&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Kommen Sie nur näher, wenn Sie schon mal
-da sind,« sage ich, »und drehen Sie das Licht an,
-zum Lesen ist's schon ein bissel dunkel geworden.«</p>
-
-<p>»Das finde ich nicht,« antwortet er, an der Tür
-stehenbleibend, »ich lese sogar schon von hier aus
-in Ihrem Gesicht mit den hochgezogenen Augenbrauen
-mein &ndash; nun, sagen wir wenigstens &ndash; mein
-gesellschaftliches Todesurteil.«</p>
-
-<p>Ich schüttle den Kopf. »Ich habe keinerlei Urteile,
-am wenigsten Todesurteile auszusprechen.«</p>
-
-<p>Er kommt langsam näher, bleibt aber beim
-Flügel stehen und sagt, die Arme auf das Instrument
-gestützt:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_106" title="106"> </a>
-»Es sind nicht nur die ausgesprochenen Todesurteile,
-die töten. Und ich habe in den letzten
-Tagen manchmal denken müssen, daß die Menschen
-auch nicht immer an ihren eigenen Gebrechen
-sterben. Es ist schon mancher an der Herzensträgheit
-eines anderen zugrunde gegangen.«</p>
-
-<p>»Gerhard!« sage ich.</p>
-
-<p>»Es ist nur eine theoretische Abhandlung, gnädige
-Frau,« antwortet er, »und ich will Sie nicht
-mit Details quälen. &ndash; Darf ich ein paar Minuten
-bleiben?«</p>
-
-<p>Ich nicke. »Aber setzen Sie sich und nehmen
-Sie sich etwas zu tun, denn ich möchte dies
-Kapitel gern noch zu Ende lesen.«</p>
-
-<p>»Darf ich mich so lange am Klavier nützlich
-machen, bis Sie erfahren haben, ob der Graf sein
-schändliches Ziel erreichen und die Unschuld zu
-Fall bringen wird?« Und er sitzt schon am Flügel
-und spielt aus Mahlers Achter »Alles Vergängliche
-ist nur ein Gleichnis«.</p>
-
-<p>Ich klappe seufzend das Buch zu.</p>
-
-<p>»Ich weiß zwar noch nicht, ob der Graf sein
-schändliches Ziel erreichen wird,« sage ich, »aber
-daß Sie's erreicht haben, ist sicher. Also lassen
-Sie Mahler und das Vergängliche und erzählen
-Sie mir, was Sie heut so spät noch hertreibt.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_107" title="107"> </a>
-»Ich hoffe, Sie haben ein Zeichen ins Buch
-gelegt oder sich wenigstens die Seitenzahl gemerkt,«
-sagt er bedächtig. »Oder vielmehr, ich hoffe es
-nicht, denn es stände im Widerspruch mit meiner
-Anschauung von der weiblichen Psyche. Ehe eine
-Frau nämlich ein Zeichen ins Buch legt oder im
-Register nachsucht, blättert sie lieber eine halbe
-Stunde lang seufzend hin und her.«</p>
-
-<p>»Es wird auch Frauen geben, die es anders
-machen,« antworte ich, »wenn ich auch leider
-von mir zugeben muß&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Sehen Sie,« triumphiert er mit aufgehobenem
-Zeigefinger, »das Zeichen ins Buch legen ist eben
-ein männlicher Zug, und wenn es Frauen gibt,
-die es dennoch tun, so beweist das nur, daß sie
-männliche Züge aufweisen und sich vom Zwang
-des Geschlechts befreit haben.«</p>
-
-<p>»O Gott,« stöhne ich, »lassen Sie Weininger
-ruhen, wenn Sie auf meine Freundschaft auch nur
-den geringsten Wert legen.«</p>
-
-<p>»Gut,« lacht Karl Gerhard, »legen wir also
-Weininger zu Mahler, da es Ihnen heute so beliebt,
-und da die Wahl zwischen einem toten
-Philosophen und einer lebendigen Freundin keine
-nennenswerten Kämpfe in mir weckt. &ndash; Was
-haben Sie aber ernstlich gegen den guten Weininger
-einzuwenden? Der Umstand, daß man ihm
-<a class="pagenum" id="page_108" title="108"> </a>
-mit der Bezeichnung eines modernen Frauenlob
-bitter unrecht täte, dürfte doch bei Ihnen nicht
-schwer wiegen, da Sie eingestandenermaßen Ihr
-eigenes Geschlecht nur bis zum Backfischalter erträglich
-finden?«</p>
-
-<p>»Vielleicht ist der weibliche Korpsgeist doch
-stärker in mir als man denken sollte,« antworte
-ich, »vielleicht ist's aber auch nur die Weiningersche
-Beweisführung, die Sie soeben auch anwandten;
-die erscheint mir oft so billig, daß sie
-eines klugen Mannes, also auch Ihrer, nicht
-würdig ist.«</p>
-
-<p>Er verbeugt sich: »Dank für die gute Meinung.
-&ndash; Ich tue leider in letzter Zeit so vielerlei,
-was eines klugen Mannes nicht würdig ist, daß der
-harmlose Weiningersche Trick mit unterlaufen mag.«</p>
-
-<p>»Ja, ich habe so etwas gehört,« sage ich und
-schiebe ihm die Zigaretten hin, da die Zöpfchen,
-die er aus den Fransen meiner Tischdecke flicht,
-schon anfangen mich zu irritieren. Und nach einer
-kurzen Pause setze ich langsam hinzu: »Gerhard,
-warum machen Sie auch so dumme Geschichten?«</p>
-
-<p>Er bläst ein paar Ringe in die Luft, blickt ihnen
-nach und fragt:</p>
-
-<p>»Sie wissen es nicht, gnädige Frau?«</p>
-
-<p>Und dann plötzlich den Kopf zu mir wendend:
-»Sie haben keine Ahnung, warum ich neulich abend
-<a class="pagenum" id="page_109" title="109"> </a>
-von Wartenbergs fortlief wie &ndash; na, sagen wir
-wie ein wildgewordener Esel, wenn es so was gibt, &ndash;
-und geradeswegs in die Bar, wo ich mit einem
-anderen Esel in einen etwas deutlichen Wortwechsel
-geriet.«</p>
-
-<p>»Sie sollen ihn so verprügelt haben, daß der
-Wirt Sie hinauswerfen ließ.« &ndash; »O nein,« widerspricht
-Gerhard und drückt bedächtig seine Zigarette
-aus, »ich ging ganz von selbst, nachdem ich
-mir ein bißchen Luft gemacht hatte. Und ich ging
-stolz.« &ndash; »Gestützt auf Emmi,« unterbreche ich ihn.</p>
-
-<p>»Hieß sie Emmi?« fragt er, »ja richtig, gestützt
-auf Emmi, denn ein Stuhlbein hatte ich doch bei
-der Diskussion abgekriegt. Sie sind gut unterrichtet,
-gnädige Frau.« &ndash; »Nicht besser als alle Welt,«
-versichere ich ihn.</p>
-
-<p>»Und Sie wissen auch nicht besser als alle Welt,
-was die Veranlassung zu all meinen Dummheiten
-ist?« fragt er vorgebeugt und nach seiner Gewohnheit
-die Hände ums Knie geschlungen.</p>
-
-<p>»Vielleicht doch,« antworte ich, »soweit Sinnlosigkeit
-eine Veranlassung haben kann. &ndash; Aber
-ich habe schon zu viele Kinder gesehen, die wild
-um sich schlugen und sich selbst Beulen in den
-Kopf rannten, weil man ihnen einen Wunsch versagen
-mußte oder ihnen ein gefährliches Spielzeug
-aus der Hand nahm, als daß mich Ihre Erlebnisse
-<a class="pagenum" id="page_110" title="110"> </a>
-in der Bar und anderswo gewundert hätten.
-Ich ahnte fast so etwas, als Sie so plötzlich bei
-Wartenbergs verschwanden.«</p>
-
-<p>»Sie sind ja auch so klug,« lächelt er mit ironisch
-verzogenen Mundwinkeln. »Aber ob es so
-klug war, mir mein Spielzeug aus der Hand zu
-nehmen, &ndash; ich weiß doch nicht. Denn darin haben
-Sie recht, wir sind alle nur einfältige Kinder, die
-immer etwas zum Spielen haben müssen, damit wir
-nicht schreien. Fällt uns ein Spielzeug aus der
-Hand, schnell ein neues hineingesteckt, damit wir
-nicht schreien. Niemand von uns kann ohne ein
-Spielzeug leben.«</p>
-
-<p>»Und da ging Karl Gerhard zur Bar und
-kaufte sich ein neues.«</p>
-
-<p>»Mein Gott,« antwortet er, »man nimmt, was
-man gerade findet. Wählerisch ist man in solchen
-Momenten nicht.«</p>
-
-<p>»Nun, Gott sei Dank,« sage ich, »ich sehe, daß
-es Äquivalente für alles gibt.« &ndash; »Es gibt keine
-Äquivalente auf der Welt,« bemerkt Gerhard, »es
-gibt höchstens Surrogate.«</p>
-
-<p>»Mag sein,« gebe ich zu, »aber Surrogate tun
-ja auch ihre Schuldigkeit.« &ndash; »Nein,« ruft er plötzlich
-heftig, steht auf und läuft quer durchs Zimmer.</p>
-
-<p>»Nein?« frage ich ganz naiv erstaunt und sehe
-ihm nach.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_111" title="111"> </a>
-»Nein,« wiederholt er, »und ich will nicht, daß
-wir uns in diese Bitterkeit hineinreden, aus der
-wir nachher nicht wieder herauskönnen. Sie wissen
-so gut wie ich, daß ich kein Äquivalent und kein
-Surrogat gesucht habe, daß ich einfach&nbsp;&ndash;« &ndash; »Ja,
-ich weiß,« sage ich und wundere mich, wie weich
-meine Stimme klingt.</p>
-
-<p>Er bleibt plötzlich stehen, kommt dann näher an
-den Tisch und fragt:</p>
-
-<p>»Darf ich noch einen Augenblick bleiben?« &ndash;
-»Ja,« sage ich, und er setzt sich und starrt vor
-sich hin.</p>
-
-<p>»Und ich hatte mir geschworen, nie mehr hierherzukommen!«</p>
-
-<p>»Du lieber Himmel!« sage ich, »wenn es einen
-Gerichtshof für all die Meineide gäbe, die wir
-uns selber schwören! &ndash; Aber vielleicht wäre es
-doch besser gewesen, Sie hätten diesmal Ihren
-Schwur gehalten, wenigstens ein paar Wochen
-lang&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Er sieht mich an und schüttelt langsam den
-Kopf.</p>
-
-<p>»Denn sehen Sie,« fahre ich fort, »es gibt außer
-diesem Zimmer noch so viel Schönes auf der Welt,
-das zu sehen und zu genießen lohnt.«</p>
-
-<p>»Ach, ich verstehe,« sagt er, »eine kleine Reise
-oder so etwas, was bessere Leute in meinem Fall
-<a class="pagenum" id="page_112" title="112"> </a>
-immer zu unternehmen pflegen. Wenigstens steht
-es so in allen schlechten Romanen der Weltliteratur,
-daß der unglückliche Held eine Reise um die
-Welt unternimmt und gereinigt und herrlicher denn
-je an die Stätte seiner früheren Leiden zurückkehrt.
-Manchmal bringt er sich ein Mädchen von den
-Fidschiinseln mit, das an Holdheit alles Lebende
-überstrahlt und die schnöde, heimische Kokette bis
-auf die Knochen blamiert. &ndash; Es kann auch eine
-Geisha sein, aber das ist veraltet und sentimental,
-und die Fidschiinseln und Neuseeland sind sozusagen
-noch unberührter Boden. Vielleicht gestatten
-Sie, daß ich Ihnen von da aus eine Ansichtskarte&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Gerhard,« sage ich, »wer bringt jetzt den bitteren
-Ton hinein?« Und nach einer kleinen Pause:
-»Ich finde übrigens auch, daß eine Reise als seelisches
-Heilmittel veraltet und literarisch ist. Man
-denkt an Goethe und Italien, und die ganze
-Literaturstunde steht vor einem auf. Und ich glaube
-auch, es ist gleichgültig, ob man da oder dort ist,
-solange man sich selber überall mit hinschleppt.« &ndash;
-»Jawohl,« sagt Gerhard, »einmal aus der Haut
-fahren, das wäre noch das einzige.«</p>
-
-<p>»Nein, über sich selbst hinauswachsen, oder
-vielmehr bis zu sich selbst hinwachsen, &ndash; denn
-Sie wissen es ja, unser wahres Selbst liegt
-<a class="pagenum" id="page_113" title="113"> </a>
-nicht tief verborgen in uns, sondern hoch über
-uns&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Gerhard nickt langsam: »Nietzsche, und ein
-großes Wort. &ndash; Aber, Gott sei's geklagt, sie helfen
-uns nicht, die großen Worte.«</p>
-
-<p>»Nun, dann ein kleines, wenn Sie die großen
-nicht lieben. Wir müssen versuchen, das In-uns
-zu ändern, wenn wir das Außer-uns nicht ändern
-können. Wir müssen versuchen, uns anders einzustellen
-und an den kleinen Dingen des Lebens
-Freude zu gewinnen. Glauben Sie mir, wir leben
-alle von der Hand in den Mund und müssen uns
-aus lauter kleinen Stücken und Stückchen etwas
-zurechtschneidern, was vor der schlimmsten Kälte
-schützt.«</p>
-
-<p>Karl Gerhard lehnt sich im Sessel zurück, stützt
-die Fingerspitzen gegeneinander und sagt bedächtig:
-»Gestatten Sie mir, zu bemerken, was schon der
-alte Fritz Reuter richtig herausgefunden hat, daß
-nämlich die Armut allemal von der Pauvreté herrührt.
-Wenn ich die kleinen Freuden des Lebens
-genießen könnte, dann wäre ich gesund und brauchte
-Ihnen nicht mit Jammertönen lästig zu fallen. &ndash;
-Aber das ist's ja,« fährt er heftig fort, »von jeher
-haben die satten Leute den armen hungrigen Teufeln
-gesagt: &rsaquo;Was klagt ihr über Hunger! Seht
-doch um euch und genießt die herrliche Natur
-<a class="pagenum" id="page_114" title="114"> </a>
-und die Schönheiten des Lebens und der Kunst!&lsaquo; &ndash;
-Und von jeher haben die armen Teufel dagegen
-geschrien: &rsaquo;Macht uns erst satt!&lsaquo; &ndash; Denn wer kann
-Michelangelo genießen und Schuberts Unvollendete
-und den Lago Maggiore, solange ihm der Hunger
-die Eingeweide zerreibt!«</p>
-
-<p>Und er legt den Kopf im Sessel hintenüber
-und schließt die Augen.</p>
-
-<p>Ich sehe ihn eine Weile schweigend an und
-sage dann: »Immer muß ich doch denken, wieviel
-Glückliche man machen könnte mit dem Glück,
-das in der Welt ungenutzt verlorengeht. Da
-sitzen Sie nun, jung und gesund und unabhängig
-und begabt wie wenige&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Wie hübsch,« unterbricht mich Gerhard lächelnd,
-»daß sich auch bei Ihnen einmal weiblich ökonomische
-Instinkte melden! Nichts umkommen lassen,
-ist ja die erste Hausfrauenregel, mögen es nun
-Brotkrumen sein oder Glücksmöglichkeiten, die
-unter den Tisch gefallen sind.« &ndash; »Sie sollen
-nicht unter den Tisch fallen,« sage ich heftig. »Wo
-ist Ihr Ehrgeiz und Ihr Glaube an sich selbst,
-der Glaube, von dem Sie einmal sagten, daß es
-der einzige sei, der Berge versetzen könne.«</p>
-
-<p>»Ich will keine Berge mehr versetzen,« sagt
-Gerhard müde und steht auf. »Ich will jetzt nur
-noch eins: irgendwo hingehen, wo es warm ist.
-<a class="pagenum" id="page_115" title="115"> </a>
-Mir ist in diesem Augenblick so erbärmlich kalt
-zumut. Und darin haben Sie recht, wir müssen
-uns aus den Fetzen des Lebens etwas zurechtschneidern,
-was vor der bittersten Kälte schützt.«</p>
-
-<p>»Ja,« antworte ich, »wir alle. Aber die Fetzen,
-die wir zu dem schützenden Mantel verwenden,
-die zeigen, wer wir in Wahrheit sind. Der eine
-geht zur Bar, um sich zu erwärmen, der andere
-schafft ein unsterbliches Werk. Denn was sind alle
-großen Werke anderes als ein Mantel, den ein
-armer frierender Mensch um seine zitternde Blöße
-gedeckt hat und um seine Wunden und Male?
-Und was ist alle Tollheit und aller Rausch und
-alle Niedrigkeit anderes, und was alles Insichversinken
-und Träumen anderes als ein Schutz gegen
-die Kälte da draußen? Aber das Material, das
-wir zu dem Mantel wählen, Gerhard, das ist's,
-das über uns entscheidet.«</p>
-
-<p>Gerhard kommt plötzlich einen Schritt näher
-und streckt mir die Hand hin. »Ich will wieder
-arbeiten,« sagt er mit so eindringlicher Plötzlichkeit,
-daß ich wider Willen lächeln muß.</p>
-
-<p>»Fein,« sage ich und reiche ihm die Hand.
-»Ehrenwort?«</p>
-
-<p>Er zuckt die Achseln. »Für einen anständigen
-Menschen ist jedes gegebene Wort ein Ehrenwort.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_116" title="116"> </a>
-»Hören Sie, Gerhard, mit dieser Sentenz auf
-den Lippen müßten Sie gehen, es wäre ein vorzüglicher
-Abgang.«</p>
-
-<p>Er lächelt. »Ich bin zwar nicht so effektsüchtig
-wie Sie glauben, aber trotzdem, wenn es denn
-sein muß, &ndash; leben Sie wohl!«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_117" title="117"> </a>
-Von Seelenmalerei<br />
-und einer geschwollenen Backe</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p117i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_119" title="119"> </a>
-Man hat mir so lange vorgeredet, ich müsse mich
-malen lassen, bis ich selber von ungeduldigem Verlangen
-nach meinem Bildnis erfaßt wurde und
-die Sache mit Karl Gerhard besprach. Von dem
-naheliegenden Gedanken, daß er der Maler des
-Bildes werden solle, haben wir schnell abgesehen,
-denn unsere Freundschaft ist uns zu heilig, um sie
-leichtsinnigerweise einer so harten Probe auszusetzen.</p>
-
-<p>Er hat mir aber einen jungen Künstler aus seinem
-Bekanntenkreis empfohlen, der sich schon mit
-viel Glück im Porträtieren versucht habe, ganz
-modern und ein Werdender sei. Von jeher waren
-mir die Werdenden interessanter als die Gewordenen,
-und als mir Gerhard noch erzählte, daß Artur
-Vollmer es besonders gut verstehe, die Seele seines
-Modells zu versinnbildlichen, da war mein Entschluß
-gefaßt.</p>
-
-<p>Wie wird er meine Seele malen? Diese Frage
-hat mich tagelang aufs angenehmste beschäftigt.</p>
-
-<p>Auch jetzt, während ich zur Besprechung in
-Artur Vollmers Atelier bin, verläßt sie mich nicht,
-<a class="pagenum" id="page_120" title="120"> </a>
-sie hat aber inzwischen etwas leicht Beängstigendes
-angenommen.</p>
-
-<p>Wir haben ein paar nebensächliche Fragen bereits
-erledigt, er hat mir eine Zigarette gereicht,
-und ich habe versucht, mit ihm zu plaudern, da
-ich mir einrede, daß er bei dieser Gelegenheit meine
-Seele kennenlernen will. Vorerst scheint es ihm
-noch nicht sehr darum zu tun zu sein, denn er hat
-bis jetzt jedes meiner Worte nur mit einem leisen
-Lächeln quittiert, das genau die Mitte zwischen
-Höflichkeit und Unverschämtheit innehält. Ich ziehe
-es daher vor, schweigend die Bilder zu betrachten,
-die bunt und wirr an den Wänden hängen, und
-mein Blick bleibt an einem kauernden, etwas unproportionierten
-Mädchen haften, das so angestrengt
-bemüht ist, sich ein Strumpfband ums
-Bein zu binden, daß ihm die Haare wild übers
-Gesicht hängen.</p>
-
-<p>Und ich kann die Frage nicht unterdrücken,
-warum dieses junge Mädchen sich so leidenschaftlich
-um sein Strumpfband bemüht, da es doch
-weder Strümpfe noch sonst etwas an Kleidung
-Erinnerndes auf dem Leibe hat.</p>
-
-<p>»Es ist eine Studie,« beantwortet Vollmer
-meine unkünstlerische Frage, und ich bin zufrieden.</p>
-
-<p>»Dies Ding ist übrigens eines der ersten, die
-ich gemacht habe,« spricht er zu meinem Erstaunen
-<a class="pagenum" id="page_121" title="121"> </a>
-weiter, sich mit einem schwermütigen Lächeln zu
-mir wendend. »Es stammt noch aus der Zeit, als
-ich ein junger Springinsfeld war und mir wer
-weiß was vom Leben versprach.«</p>
-
-<p>Er spricht langsam und in einem sehr weichen
-Dialekt eigner Erfindung und erzählt nun, einmal
-in Gang gekommen, ausführlich von den Enttäuschungen
-des Künstlerlebens, den Intrigen der
-stümpernden Kollegen, der Parteilichkeit der Ausstellungsdirektoren
-und der Verlogenheit der Kunsthändler.
-&ndash; Ich höre schweigend zu, und während
-sein sanft sonores Organ mich weich umspült, gerate
-ich langsam in jenen fast hypnotischen Zustand,
-der mich jedesmal überkommt, wenn die
-Maniküre die Fingerspitzen meiner einen Hand
-sanft streichelt, während die der anderen im lauwarmen
-Seifenwasser ruhen.</p>
-
-<p>»Ja,« schließt er jetzt sein Gespräch, »wenn
-man nicht als Künstler geboren wäre! Lieber hätte
-man in seiner Jugend Holzhacken lernen sollen, es
-wäre damit besser für das Alter gesorgt.«</p>
-
-<p>Ich schüttle den hypnotischen Bann so gut es
-geht von mir und sage, noch ein wenig benommen:
-»Es ist gewiß sehr traurig, daß so viele Menschen
-die erste Hälfte ihres Lebens dazu benutzen, die
-zweite unglücklich zu machen.«</p>
-
-<p>Vielleicht, daß dieser sonst gute Ausspruch nicht
-<a class="pagenum" id="page_122" title="122"> </a>
-hierhin paßt, vielleicht auch, daß Vollmer die Abstecher
-ins Allgemeine nicht liebt, jedenfalls geht
-er mit einem leisen, etwas unbehaglichen Räuspern
-darüber hinweg, und ich setze schnell hinzu:</p>
-
-<p>»Aber die Kämpfe, die Sie mir geschildert haben,
-sind ja kein Unglück zu nennen und sie bleiben
-wohl keinem erspart, der seine Persönlichkeit durchsetzen
-will.« &ndash; »Gewiß,« bestätigt Vollmer, »und
-je neuartiger und origineller die Persönlichkeit sich
-äußert, um so härter sind heutzutage die Kämpfe
-mit der Lauheit und der Bequemlichkeit des Publikums.«</p>
-
-<p>»Man sagt das allgemein,« antworte ich und
-sehe mit Schrecken, daß wieder ein leises Unbehagen
-über seine etwas verschwommenen Züge
-geht, »aber ich finde, gerade das Gegenteil ist heute
-der Fall. Noch zu keiner Zeit lief eine neue und
-eigenartige Begabung so wenig Gefahr, übersehen
-oder verlacht zu werden, wie heutzutage. Wir verehren
-und lobhudeln ja alles Schrullenhafte, und
-je absurder sich ein Künstler in seinen Werken gebärdet,
-um so eifrigere Anhänger und Förderer wird
-er finden. Gefahr, übersehen zu werden, laufen
-eigentlich nur die Stillen im Land, die einfach
-schaffen, wie sie können und müssen, ohne sich um
-Richtungen und Moden zu kümmern, die unliterarischen,
-möchte ich sagen.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_123" title="123"> </a>
-»Die Langweiligen mit einem Wort,« lächelt
-Vollmer.</p>
-
-<p>»Nun ja,« antworte ich lachend, »zur Gesellschaft
-sind mir auch die anderen lieber, die vielseitig
-Interessierten, die lebhaft Bewegten, die eigenartig
-Schillernden. Aber ich glaube bestimmt, die
-wirklichen Künstler kommen aus der anderen
-Sphäre, aus der Sphäre der Einseitigen und
-Schwerfälligen, die darum in Gesellschaft langweilig
-sind, weil sie in ihrer Seele zuviel Kunst
-haben und zuwenig Literatur.«</p>
-
-<p>Vollmer schweigt ein paar Sekunden. »Ja, ja,
-die Seele,« bemerkt er dann sinnend, und mir fällt
-plötzlich wieder der Zweck meines Besuches ein.</p>
-
-<p>»Sie sollen ja ein ganz besonders feiner Forscher
-auf diesem Gebiet sein,« sage ich, »wenigstens
-hat man mir berichtet, daß Ihre Bilder wahre
-Seelenporträts seien, und ich muß sagen, ich bin
-gespannt&nbsp;&ndash;.«</p>
-
-<p>Artur Vollmer lächelt zurückhaltend und weist
-mit der Hand auf ein großes Bild, das gleich beim
-Eintritt meinen Blick auf sich gelenkt hat und das
-ich jetzt aufmerksam betrachte. »Porträt von H.&nbsp;K.«
-steht darunter, und es stellt einen sorgsam und
-elegant gekleideten jungen Mann von phantastischer
-Häßlichkeit dar, der in einer romantischen
-Landschaft im Profil steht und einen Apfel, den er
-<a class="pagenum" id="page_124" title="124"> </a>
-zwischen Daumen und Zeigefinger hält, entsetzt betrachtet.</p>
-
-<p>»Sehr eigenartig,« sage ich höflich und überzeugt.
-»Ist es wirklich ein Porträt?«</p>
-
-<p>»Sie kennen das Modell,« antwortet er und
-setzt nachlässig hinzu: »Auf die äußere Ähnlichkeit
-haben wir allerdings verzichtet, aber Sie müßten ihn
-schon an der Art erkennen, wie er den Apfel hält.«</p>
-
-<p>Ich will schon bedauernd den Kopf schütteln,
-denn mir fällt keiner meiner Bekannten ein, der
-die Gewohnheit hat, einen Apfel mit zwei Fingern
-zu halten, doch da kommt mir der rettende Gedanke:
-&ndash; Seelenmalerei! Und ich sage stolz und
-glücklich: »Vielleicht ist es einer, der alle Dinge
-im Leben sehr vorsichtig anfaßt?« &ndash; »Ja,« nickt
-Artur Vollmer, »mit einem gewissen Abscheu sogar.
-Betrachten Sie den Ausdruck von Ekel in
-seinem Gesicht.«</p>
-
-<p>»Nun ja,« sage ich etwas zaghaft, »aber genügt
-dieser eine Zug, um das Bild Porträt zu nennen?
-Und warum, wenn Sie H.&nbsp;K. schon malen wollten,
-haben Sie so vollkommen auf die Ähnlichkeit verzichtet?«</p>
-
-<p>Vollmer schweigt einen Augenblick und sagt
-dann mit einem zerstreuten Blick aus dem Fenster:
-»Ähnlichkeit bekommen Sie für zwanzig Mark
-das Dutzend beim Photographen.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_125" title="125"> </a>
-Und so stark ist die Suggestionskraft seiner Worte,
-daß mir in diesem Augenblick die Photographen
-als eine durchaus minderwertige Menschengattung
-erscheinen. Aber dann erwacht mein besseres und
-mutiges Selbst und ich riskiere die Schreckensfrage,
-die Banausenfrage, die Frage, mit der man jungen
-Malern das Gruseln beibringt:</p>
-
-<p>»Kann ein Porträt nicht künstlerisch und doch
-ähnlich sein?«</p>
-
-<p>Und Artur Vollmer antwortet denn auch mit
-einem leisen Klang von Gereiztheit in seiner milden
-Stimme: »Sie sprechen immer von Ähnlichkeit,
-gnädige Frau, und das ist in der Kunst ein so
-ganz verfehlter Standpunkt. Die Hauptsache, daß
-das Bild ein Kunstwerk ist. Wer fragt in den
-Galerien und Museen heute danach, ob die Porträts
-von Dürer und Rembrandt und Van Dyk
-dem Modell auch ähnlich waren. Es sind Kunstwerke,
-und sie bleiben bestehen, während die
-Ähnlichkeit von heute schon morgen nicht mehr
-wahr ist.«</p>
-
-<p>»Das ist sehr richtig,« antworte ich, »nur ist es
-dann nicht nötig, sich selbst malen zu lassen. Ich
-kann mir statt dessen irgendein berühmtes Bild
-eines berühmten Meisters kaufen, dessen Wert anerkannt
-ist, während es doch bei aller Hochachtung
-vor Ihrer Kunst noch nicht völlig sicher ist&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_126" title="126"> </a>
-»Daß ich Rembrandt oder Van Dyk erreiche,«
-unterbricht er mich, und die Stimme umspült mich
-wieder sanft wie Seifenwasser. »Nein, gnädige
-Frau, das ist sogar sehr unsicher, aber Sie vergessen,
-daß es noch eine andere Ähnlichkeit gibt,
-als die rein äußerliche, von der Sie reden. Die
-Ähnlichkeit, die vielleicht nur der Künstler sieht. &ndash;
-Kennen Sie den hier?«</p>
-
-<p>Und er nimmt ein Bild vom Boden, das bis
-jetzt mit dem Gesicht nach der Wand gestanden
-hat, und stellt es auf eine Staffelei.</p>
-
-<p>»Mein Gott!« sage ich entsetzt, »Frank Meinert.«</p>
-
-<p>Es ist wirklich Frank Meinert, der mir aus
-einem blutigroten Hintergrund entgegenstarrt. Frank
-Meinert mit einer blutigroten Krawatte, die eine
-Backe geschwollen, die Züge nicht ganz unähnlich,
-aber ins brutal Verbrecherische verzerrt, und mit dem
-bösartig lauernden Ausdruck, mit dem die Shakespeareschen
-Meuchelmörder über die Bühne zu
-schleichen pflegen.</p>
-
-<p>»Mein Gott!« wiederhole ich nur, aber in meinem
-Innern setze ich hinzu: Was wird er aus
-meiner Seele machen? Gott sei meiner armen Seele
-gnädig!</p>
-
-<p>Und nach diesem Stoßgebet frage ich gefaßt:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_127" title="127"> </a>
-»Sie sind befreundet mit Frank Meinert?«</p>
-
-<p>»Ja,« sagt er, »wir treffen uns oft des Abends
-im Café und auch sonst&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Und so erscheint Ihnen seine Seele?«</p>
-
-<p>»So sehe ich ihn,« antwortet er einfach.</p>
-
-<p>»Nun,« sage ich, »dann bewundere ich aufrichtig
-Ihren Mut. Fürchten Sie denn gar nicht, daß er
-Ihnen eines Abends Strichnin oder Zyankali in
-den Kaffee schüttet, oder daß er Sie auf dem Heimweg
-mit einem Schlagring überfällt?«</p>
-
-<p>Vollmer lächelt melancholisch. »Nein,« sagt er,
-»was Sie da auf dem Bild sehen, ruht ja ungewußt
-und ungehoben in den tiefsten Gründen seines
-Wesens. Es wird nie zutage kommen.«</p>
-
-<p>»Das wollen wir zu Gott hoffen!« antworte
-ich inbrünstig. »Lebenslängliches Zuchthaus wäre
-das wenigste. &ndash; Übrigens maße ich mir kein Urteil
-darüber an, ob nicht wirklich brutale Triebe
-in Franks Seele schlummern. Er deutet selbst gern
-so etwas an, aber das ist kein Grund dafür, es
-nicht zu glauben. Kein Mensch kann dem anderen
-bis auf den Grund der Seele blicken, schon darum
-nicht, weil die Seele keinen Grund hat. Es geht
-immer noch tiefer und tiefer. Und wahrscheinlich
-könnten Sie jeden von uns mit dem gleichen Recht
-zum Verbrecher stempeln. &ndash; Zum mindesten freundschaftlich
-kann ich das Bild nicht finden.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_128" title="128"> </a>
-»Und wie würden Sie an meiner Stelle Frank
-gemalt haben?« fragt Vollmer lächelnd, indem er
-das Gemälde, diesmal richtig herum, an die Wand
-lehnt.</p>
-
-<p>»Nun,« sage ich, »da Sie die Bilderrätsel lieben,
-hätten Sie ihn für mein Gefühl am besten
-als Narziß gemalt, schwermütig am Bach ruhend,
-verliebt und versunken in sein Spiegelbild. &ndash; Darf
-ich mir aber noch die Frage erlauben, welche Bedeutung
-die geschwollene Backe auf dem Bild
-hat?«</p>
-
-<p>»Da ist doch keine geschwollene Backe,« widerspricht
-er zum erstenmal wirklich gereizt und holt
-das Bild wieder herbei. »Ich bitte Sie, das scheint
-doch nur so durch die Haltung und die Beleuchtung.«
-&ndash; »Ach so,« sage ich, froh, daß keine Beziehung
-zwischen Franks Seele und dieser Schwellung
-besteht.</p>
-
-<p>»Und wie denken Sie sich mein Bild?« frage
-ich dann etwas ängstlich und setze mich vorsichtshalber.</p>
-
-<p>»Tja,« sagt er, mich nachdenklich betrachtend,
-»ich dachte zuerst, als ich Sie sah, an die Franzosen.
-Renoir oder so etwas. Aber ich bin davon abgekommen.
-Ich möchte Sie jetzt am liebsten als
-Daphne malen.« &ndash; »Daphne?« wiederhole ich
-und wühle verzweifelt in den Untergründen meiner
-<a class="pagenum" id="page_129" title="129"> </a>
-mythologischen Erinnerungen. Leider umsonst. »Es
-wird nur seine Schwierigkeiten haben,« fährt er
-fort, »wegen der Bekleidung und auch sonst.«</p>
-
-<p>Ich blicke unwillkürlich zu dem Mädchen mit
-dem Strumpfband hinüber und bitte dann etwas
-verschüchtert um Aufklärung über Daphne.</p>
-
-<p>»Daphne,« erklärt er, auf der Tischkante sitzend,
-mit weicher Stimme, »war die Tochter der Gäa,
-zu deutsch Erde, und des arkadischen Flußgottes
-Ladon. Andere behaupten zwar, daß Amyklas ihr
-Vater war und noch andere nennen Pennios,
-aber&nbsp;&ndash;« &ndash; »Lassen wir die Frage offen,« schlage
-ich vor, »Sie wissen <i>La recherche de la paternité</i>&nbsp;&ndash;«
-Er lächelt und fährt fort:</p>
-
-<p>»Apollo liebte Daphne, aber er hatte einen
-Nebenbuhler an Leukippos, der ihr als Jungfrau
-verkleidet folgte und auf Apollos Veranlassung
-hin von den Nymphen getötet würde. Nun floh
-Daphne auch vor Apollo, sie wurde von ihrer
-Mutter aufgenommen und in einen immergrünen
-Lorbeerbaum verwandelt.«</p>
-
-<p>Ich sitze ein paar Sekunden lang still, fasse mich
-aber allmählich und sage: »Also alles in allem ein
-Mädchen von Charakter. &ndash; Nun gestatten Sie
-mir aber bitte noch ein paar Fragen: Zuerst, in
-welchem Stadium ihres ereignisreichen Lebens
-wollen Sie Daphne malen? Zweitens, woran soll
-<a class="pagenum" id="page_130" title="130"> </a>
-man mich als Daphne erkennen? Und drittens und
-letztens, warum überhaupt Daphne?«</p>
-
-<p>»Ich sagte es ja schon,« antwortet Artur Vollmer,
-»die Sache wird ihre Schwierigkeiten haben.
-Aber die Idee wird mir lieb und lieber, je mehr
-ich darüber nachdenke. Es liegt eine tiefe Symbolik
-darin: Die Frau, die sich, vor dem Geliebten fliehend,
-in Lorbeer verwandelt. Man müßte natürlich
-diesen Moment festhalten, noch halb Weib,
-halb schon Baum&nbsp;&ndash;.«</p>
-
-<p>Ich habe plötzlich das Gefühl, als ob ich schon
-halb zum Baum erstarrt wäre und mache heimlich
-ein paar schlenkernde Bewegungen mit den
-Beinen, um mich vom Gegenteil zu überzeugen.
-Dann stehe ich auf und sage:</p>
-
-<p>»Ihre Idee ist wirklich sehr interessant und sogar
-geistreich wie alle Ihre Bilder. Aber ich weiß
-doch nicht, ob ich mich dazu entschließen kann,
-Ihnen als Daphne zu sitzen. Ich glaube, daß mein
-tiefstes Wesen in Ihrem Daphnebild nicht zum
-Ausdruck käme. Ich mache Ihnen daher einen
-anderen Vorschlag: Malen Sie mich ganz einfach
-hier im Sessel sitzend, möglichst bequem, das entspricht
-am besten einem Grundzug meines Wesens.
-Und machen Sie das Bild so ähnlich wie möglich,
-dann wird ganz gewiß auch etwas von meiner
-Seele in Ihre Farben fließen, denn ich bilde
-<a class="pagenum" id="page_131" title="131"> </a>
-mir ein, daß meine Seele meinem Gesicht gar nicht
-so unähnlich ist. &ndash; Und wann wollen wir anfangen?«</p>
-
-<p>Wir bestimmen die Zeit, und ich verabschiede
-mich von dem etwas frostig gewordenen Künstler,
-und dann sitze ich im Auto und überlege mir den
-Fall.</p>
-
-<p>Und je mehr ich darüber nachdenke, über die
-ausgeklügelt geistreichen Bilder und über das unproportionierte
-Mädchen mit dem Strumpfband
-und über Frank Meinerts geschwollene Backe,
-um so deutlicher steigt ein schwarzer Verdacht in
-mir heraus, der sich nach und nach zur Gewißheit
-verdichtet.</p>
-
-<p>Und ich nehme mir vor, morgen zu Karl Gerhard
-zu sagen: »Lieber Freund, Ihr Protegé ist
-ein interessanter junger Mann, wenigstens versteht
-er mit herzlich wenig Unkosten darauf zu posieren.
-Er hat eine einschmeichelnde Stimme und sehr gepflegte
-Hände. Er ist in der Mythologie erstaunlich
-gut bewandert und hat die eigenartigsten
-symbolischen Ideen. Er versteht, sehr nüanciert zu
-lächeln, und ich bin überzeugt, daß er auch sonst
-noch allerlei kann. Nur ein einziges kann er ganz
-bestimmt nicht, und das ist eigentlich sehr schade:
-er kann nicht malen.«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_133" title="133"> </a>
-»Mir scheint, Sie weiden sich an meiner<br />
-Todesqual&nbsp;&ndash;«</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p133i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_135" title="135"> </a>
-Wir haben uns gezankt und sitzen uns nun
-gegenüber wie Kinder, die beide ihre Heftigkeit bereuen
-und doch zu eigensinnig sind, das erste gute
-Wort zu sprechen. Wir sehen einander nicht an,
-aber ich merke, daß seine Hand, die die Zigarette
-hält, ein bißchen zittert, und wieder einmal, wie
-nach jedem Streit mit Herbert Arndt, steigt in
-mir das Mitleid auf.</p>
-
-<p>Vielleicht habe ich ihm doch unrecht getan, als
-ich ihn oberflächlich genannt, denke ich, und weiß
-doch zugleich, daß der scheinbar tiefe Eindruck, den
-der Wortwechsel auf ihn gemacht hat, wie der
-Eindruck ist, den man einem Gummiball beibringen
-kann. Sobald du den Finger zurückziehst, ist
-alles, wie es war.</p>
-
-<p>Und dieses Wissen um Herbert Arndts stets
-veränderliche Unveränderlichkeit ist es vielleicht,
-was mich ihm gegenüber oft zu einer Heftigkeit
-hinreißt, die mir sonst ganz fremd ist und die mich
-im Augenblick weit über den zufälligen Anlaß
-hinaus erbittert.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_136" title="136"> </a>
-Was konnte es mich zum Beispiel kümmern,
-daß Herbert Arndt heute fast verächtlich von einem
-Menschen sprach, den er vor kurzem voll Begeisterung
-einen bedeutenden Mann von seltener geistiger
-Anmut genannt, und für dessen vornehm
-künstlerische Lebensgestaltung er eine andachtvolle
-Bewunderung gezeigt hatte.</p>
-
-<p>Heute entsann er sich dessen kaum und nannte
-das Wesen des vor ein paar Tagen so hoch Gepriesenen
-unmännlich und affektiert, im Gegensatz
-zu der kraftvollen und knorrigen Einfachheit, mit
-der alle wirklich Großen ihr Leben geführt. Und
-ich wurde gereizt und nannte es Haltlosigkeit, nie
-bei einer Empfindung und einem Urteil beharren
-zu können und, wie die Snobs, immerfort seine
-Geschmacksrichtung zu ändern, sobald von den
-Obersnobs eine neue Parole ausgegeben wird. Und
-er nannte es Sentimentalität oder Indolenz, an
-alten Erinnerungen und alten Wertschätzungen zu
-kleben, und wir steigerten uns in immer größeren
-Zorn, und plötzlich schwiegen wir beide, weil wir
-fühlten, daß wir nicht weitergehen durften.</p>
-
-<p>Und jetzt sitzen wir da und möchten uns versöhnen
-und wissen nicht wie. Endlich steht Herbert
-auf und sagt mit etwas rauher Stimme, der man
-noch die Erregung anhört:</p>
-
-<p>»Ich will Sie lieber jetzt von meiner Gegenwart
-<a class="pagenum" id="page_137" title="137"> </a>
-befreien. Ich kann mir denken, wie peinlich
-Ihnen der Anblick eines so charakterlosen und minderwertigen
-Menschen ist.«</p>
-
-<p>Nun muß ich doch lachen. »Ich finde, Ihre
-Zerknirschung geht zu weit.« Er verzieht den
-Mund: »Ich habe mich augenblicklich nur mit
-Ihren Augen gesehen.«</p>
-
-<p>»Ich habe diese Worte nicht gebraucht,« antworte
-ich, »und Sie wissen sehr gut, daß ich mit
-einem Menschen, den ich für charakterlos und
-minderwertig halte, nicht fünf Minuten lang
-sprechen, wieviel weniger mich in einen Streit einlassen
-würde.«</p>
-
-<p>»Ach so,« bemerkt er, »dann habe ich es vielleicht
-als Ehre aufzufassen, daß Sie sich die Mühe
-nahmen, mich einen Snob und einen Menschen
-ohne inneren Halt zu nennen.«</p>
-
-<p>»Mindestens als einen Beweis sehr herzlicher
-Freundschaftsgefühle,« antworte ich und sehe, wie
-ihm wider Willen ein Lächeln um die Mundwinkel
-zuckt. Und ich sage:</p>
-
-<p>»Seien Sie kein Frosch, Herbert Arndt, und
-setzen Sie sich noch mal hin, denn gewöhnlich
-machen Sie's doch wie Wotan im letzten Akt
-der Walküre und nehmen stundenlang Abschied.
-Und in der Zeit kann man ebensogut vernünftig
-reden.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_138" title="138"> </a>
-Er setzt sich zögernd, denn trotz des Lächelns ist
-sein Ärger noch nicht überwunden, und ich schiebe
-ihm seine Tasse und den Kuchen näher, weil ich
-finde, daß es fast nichts auf der Welt gibt, das
-nicht gleich ein bißchen weniger schlimm aussieht,
-sobald man Kaffee und Kuchen vor sich hat.</p>
-
-<p>Wir schweigen einen Augenblick, dann sagt
-Herbert: »Was mich am meisten beleidigt, ist ja
-gar nicht, daß Sie meine Art, die Dinge zu sehen,
-verachten. Ich kann Ihnen das nicht verwehren,
-denn jeder schätzt im Grunde genommen nur seine
-eigene Lebensanschauung, und wenn wir von jemandem
-sagen, daß er vernünftige Ansichten habe, dann
-hat er sicherlich die gleichen Ansichten wie wir.
-Was mich beleidigt, ist, daß Sie an meine Art,
-die Dinge zu sehen, überhaupt nicht glauben, daß
-Sie annehmen, ich rede nur so oder so, um mich
-interessant zu machen, oder aus Affektiertheit oder
-aus irgendeiner anderen Verlogenheit heraus.«</p>
-
-<p>»Nein,« unterbreche ich ihn, »das ist ganz gewiß
-nicht der Fall. Und das ist eigentlich das
-Traurige an der Sache, das Hoffnungslose, möchte
-ich sagen, daß Sie immer ehrlich sind.«</p>
-
-<p>»Und gerade deshalb ist der Fall hoffnungslos?«
-fragt er. »Wie soll ich das verstehen?«</p>
-
-<p>»Es ist ganz einfach,« antworte ich, »und ich
-will's Ihnen erklären, selbst auf die Gefahr hin,
-<a class="pagenum" id="page_139" title="139"> </a>
-Sie noch einmal zu beleidigen und auf die Gewißheit
-hin, daß es nichts nützt, denn ein Mensch, der
-sich immerfort ändert, der kann sich niemals ändern.«</p>
-
-<p>Herbert hebt erstaunt den Kopf. »Und ich ändere
-mich immerfort,« fragt er.</p>
-
-<p>»Und Sie wissen das gar nicht?« frage ich dagegen.
-»Sie wissen es gar nicht, daß bei Ihnen
-immerfort ein Eindruck den anderen verwischt und
-auslöscht, und daß Sie immerfort wie auf einem
-dünnen Seil gehen, nichts rechts, nichts links, so
-daß man ordentlich schwindelig wird, wenn man
-Ihnen zusieht.« &ndash; »Ich verstehe das nicht,« sagt
-Herbert schroff.</p>
-
-<p>»Nun also,« antworte ich, »dann will ich Ihnen
-aus der leider übergroßen Fülle der Beispiele nur
-eines nennen: Waren Sie nicht vor kurzem noch
-ganz berauscht von den Versen Stefan Georges,
-den Sie nach Goethe den einzigen deutschen Dichter
-nannten? Und sprachen Sie nicht ein paar
-Tage darauf sehr abfällig von seiner hypermodernen
-Pathetik, die doch im Grunde genommen hohl
-sei, wenn man einen einzigen Mörikeschen Vers
-damit vergleicht? Und war nicht wieder ein paar
-Tage darauf Mörike spießbürgerlich und deutsch-borniert
-und veraltet, weil Sie gerade bei irgendeinem
-dekadenten französischen Absinthlyriker angelangt
-waren? &ndash; Und ist es nicht so auf jedem
-<a class="pagenum" id="page_140" title="140"> </a>
-Gebiet? Die fanatische Ausschließlichkeit, mit der
-Sie jeden Tag eine andere Sache anbeten und
-jeden Tag mit der gleichen überzeugenden Ehrlichkeit,
-als gäbe es nur die eine auf der Welt, die
-macht mich müde und ungeduldig zugleich.«</p>
-
-<p>Herbert schüttelt den Kopf. »Ich verstehe nicht,
-was Sie mir vorwerfen. Gefühl ist doch nichts,
-was ein für allemal feststeht, Empfindungen, selbst
-die wärmstem schwanken auf und ab. Und wären
-wir Menschen, wenn wir nicht Stimmungen
-unterworfen wären?«</p>
-
-<p>»Ja,« nicke ich, »oft denke ich, Sie haben gar
-keine Empfindungen, sondern nur Stimmungen,
-oder besser gesagt: Anwandlungen, und Anwandlungen
-kommen nicht aus dem Gemüt, sondern
-aus den Nerven und der Phantasie.« &ndash; »Und
-was ist Gefühl denn anderes als Betätigung der
-Nerven und der Phantasie?« fragt Herbert lebhaft
-und schnell. »Können wir irgend etwas empfinden,
-Liebe, Haß, Mitleid, Begeisterung, Freude
-oder Schrecken, ohne daß unsere Nerven zucken
-und unsere Phantasie die Flügel hebt? Der phantasieloseste
-Mensch ist der gefühlloseste zugleich,
-und &ndash; so paradox es klingen mag &ndash; die Verstandsmenschen
-sind die dümmsten von allen.«</p>
-
-<p>Ich nicke ihm langsam zu: »Es ist wahr, wir
-sind alle nur bauernschlau, solange es uns nicht
-<a class="pagenum" id="page_141" title="141"> </a>
-gegeben ist, weise zu sein. Und auch das andere,
-was Sie sagten, ist wahr: Es gibt kein wertvolles
-Gefühl ohne Phantasie. Aber die Phantasie muß
-in unserem Gemüt ihren Ursprung haben, sonst ist
-der Mensch wie ein Ofen, der von außen erwärmt
-wird statt von innen, der heiß, vielleicht sogar überheizt
-erscheint, aber niemals Wärme abgibt und
-verströmt.«</p>
-
-<p>»Ein sinnfälliger Vergleich!« sagt Herbert, und
-sein Mund verzieht sich spöttisch. »Ich gebe allerdings
-zu, daß ich wenig Talent zum traulich wärmenden
-Ofen habe, und offen gesagt, mein Ehrgeiz
-geht nicht dahin. &ndash; Ich gebe auch zu,« fährt er
-nach einem kurzen Schweigen fort, »daß ich leicht
-von diesem oder jenem Eindruck überwältigt werde
-und leicht alles andere darüber vergesse, aber ich
-schäme mich dessen nicht, im Gegenteil, ich bin froh
-und glücklich darüber, denn ich selbst liebe nur
-Menschen, die impulsiv und warm und stark empfindend
-sind.«</p>
-
-<p>»Ach, lieber Freund,« sage ich, »heute! Heute
-lieben Sie die Impulsiven, vielleicht weil heute
-morgen oder gestern abend ein liebes Mädel in
-schöner Impulsivität Ihnen die Hand hingestreckt
-und etwas Herzliches gesagt hat. Und morgen
-lernen Sie eine interessante Frau kennen, die kühl
-und geheimnisvoll und verschlossen ist, und dann
-<a class="pagenum" id="page_142" title="142"> </a>
-erzählen Sie mir, daß alles Impulsive doch eigentlich
-recht vulgär sei, und daß der wahre Reiz eines
-Menschen in seiner geheimnisvollen Verschlossenheit
-läge.«</p>
-
-<p>»Ja,« antwortet Herbert, »und Sie erzählen
-mir dann, was ich Ihnen gestern erzählt habe, und
-werfen mir meine Treulosigkeit gegen das liebe
-Mädel vor. Aber der Reiz des Lebens liegt doch
-gerade darin, daß ich heute die Impulsiven lieben
-darf und morgen die Verschlossenen.«</p>
-
-<p>»Ach, lassen wir's,« sage ich ein bißchen müde,
-»ich merke schon, wir reden aneinander vorbei und
-werden uns nicht verstehen.«</p>
-
-<p>»Das ist weibliche Kriegstaktik,« antwortet
-Herbert, »sobald sie nichts zu antworten wissen,
-ziehen sie sich hinter die männliche Begriffsstutzigkeit
-zurück. Aber ich möchte jetzt meine Sache bis
-zu Ende verfechten und erbitte mir Antwort darauf,
-weshalb es ein, &ndash; nun sagen wir, ein verächtlicher
-Zug sein soll, jeder Art und Gattung
-Geschmack abgewinnen zu können.« &ndash; »Das ist's
-ja nicht,« sage ich seufzend, »und ich möchte Ihnen
-gerne noch einmal antworten, aber ich fürchte, die
-Anklagerede wird lang.«</p>
-
-<p>»Wenn ich als Delinquent einen letzten Wunsch
-äußern darf,« sagt Herbert, »dann möchte ich mir
-noch ein Stück Kuchen erbitten.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_143" title="143"> </a>
-»Gewährt,« antworte ich, »und möge Ihnen
-das letzte Stück Kuchen leicht werden!« &ndash; »So
-leicht wie Ihnen mein Todesurteil,« erwidert er
-mit einer höflichen Verbeugung und zieht sich den
-Teller mit Kuchen näher heran.</p>
-
-<p>Mein Ärger ist längst verflogen, und ich muß
-lachen.</p>
-
-<p>»Mir scheint, Sie weiden sich an meiner Todesqual?«
-fragt er kauend, »oder hat meine sieghafte
-Liebenswürdigkeit so schnell die Wolken von Ihrer
-Stirne verjagt? &ndash; Es wäre eigentlich schade,«
-setzt er hinzu, »denn ich hatte mein ganzes Wesen
-schon auf Bußfertigkeit eingeschaltet, und außerdem
-war es von jeher meine Leidenschaft, zuzuhören,
-wenn von mir die Rede war.« &ndash; »Ja,« sage ich,
-»es ist die einzige Leidenschaft, der Sie bis jetzt
-treu geblieben sind.«</p>
-
-<p>Er sieht mich einen Augenblick schweigend an
-und sagt dann: »Über diesen Punkt dürften Sie
-besser orientiert sein.«</p>
-
-<p>»Ich weiß,« antworte ich nach einer kleinen
-Pause, »aber ich finde immer, das erotische Gebiet,
-denn darauf spielen Sie ja an, liegt so abseits,
-daß es nicht in Betracht kommen kann, wenn von
-dem Charakter eines Menschen die Rede ist. Und
-selbst wenn jemand hartnäckig an seiner ersten Liebe
-hängen sollte&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_144" title="144"> </a>
-»Erste Liebe,« unterbricht er mich lächelnd.</p>
-
-<p>»Oder an seiner dritten oder vierten,« antworte
-ich, »denn eine erste Liebe gibt es ja eigentlich nicht,
-weil immer schon eine vorher dagewesen ist. Aber
-es handelt sich jetzt gar nicht um die Treue gegen
-andere, sondern um die Treue, die wir uns selbst
-schuldig sind.«</p>
-
-<p>»Uns selbst, uns selbst,« sagt Herbert ungeduldig,
-»wie einfach klingt das! Aber wer von
-uns kennt sich und wertet sich richtig? Wir sind
-doch viel zu sehr in uns selbst gefangen, um unbefangene
-Richter über uns zu sein.«</p>
-
-<p>»Aber lieber Freund,« sage ich, »was hat die
-Treue mit der Erkenntnis zu tun, da sie doch nichts
-Bewußtes ist, sondern so selbstverständlich wie das
-Atemholen, und da sie aufhört zu existieren, sobald
-sie bewußt und ein Willensakt geworden
-ist. Und wer wir selbst sind, fragen Sie? Nun,
-wir sind nicht nur die, die jetzt hier sitzen und
-reden. Zu uns gehört alles, was wir vor Jahren
-und Monaten, und was wir gestern und heute
-erlebt und gefühlt haben. Und wenn wir das
-täglich und stündlich von uns werfen können wie
-alte Kleider, dann werfen wir uns täglich und
-stündlich selber weg. Wie ein Mensch ohne Schatten
-sind wir dann, und ich begreife jetzt, was ich als
-Kind nie verstanden habe, weshalb Chamisso es
-<a class="pagenum" id="page_145" title="145"> </a>
-als so traurig und als so schmachvoll hinstellt,
-keinen Schatten zu haben.«</p>
-
-<p>Herbert ist blaß geworden. »Traurig und schmachvoll,«
-wiederholt er, während er mit nervöser Hand
-seine Zigarette in der Schale zerdrückt.</p>
-
-<p>Dann hebt er den Kopf, und seine Augen haben
-den eigensinnig fanatischen Blick, den ich kenne.</p>
-
-<p>»Vielleicht haben Sie Chamisso doch falsch verstanden,«
-sagt er leise, »vielleicht war es nur deshalb
-so traurig und schmachvoll, keinen Schatten
-zu haben, weil alle Welt einen Schatten hat,
-und weil alle Welt die haßt und verachtet, die
-anders sind als alle Welt.</p>
-
-<p>Und jetzt will ich gehen,« sagt er aufstehend,
-und setzt mit einem sonderbaren, etwas hilflosen
-Lächeln hinzu: »Diesmal nicht wie Wotan.«</p>
-
-<p>»Und doch wie Wotan,« sage ich und strecke
-ihm die Hand hin, die er einen Augenblick sehr
-fest in seiner hält. »Leben Sie wohl, einäugiger
-Wanderer!«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_147" title="147"> </a>
-Es ist ein echt weiblicher Zug von Ihnen&nbsp;&ndash;</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p147i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_149" title="149"> </a>
-Der Fünfuhrtee im Kaiserhof ist in vollem Gang,
-und ich sitze an einem der kleinen, mit Blumen
-und Lampen geschmückten Tische und erwarte meinen
-Berliner Freund, den Professor, den ich fast ein
-halbes Jahr lang nicht gesehen habe.</p>
-
-<p>Ich behalte die Eingangstür im Auge, um ihm
-gleich zuwinken zu können, denn ich weiß, daß es
-ihm, trotz einer absichtlich betonten Nonchalance,
-peinlich ist, sich erst lange zwischen den eleganten
-Gästen und den unsagbar vornehmen Kellnern
-durchwinden zu müssen.</p>
-
-<p>Und dann sehe ich doch mal nach dem sehr
-feschen Paar am Nebentisch hinüber, und gerade
-in diesem Augenblick sagt jemand neben mir:
-»Guten Abend,« und der Professor setzt sich an
-den Tisch, als habe er mich gestern zuletzt gesehen.
-Ich reiche ihm die Hand hinüber und frage statt
-aller Begrüßungszeremonien:</p>
-
-<p>»Hoffentlich hat Sie mein telephonischer Anruf
-gestern nicht gestört?«</p>
-
-<p>»Natürlich hat er mich gestört,« antwortet er,
-indem er die Blumen vom Tisch nimmt und daran
-<a class="pagenum" id="page_150" title="150"> </a>
-riecht. »Ich hatte gerade meinen Mittagsschlaf
-angefangen.« &ndash; »Das schadet nichts,« sage ich
-kühl, »welcher ausgewachsene Mensch schläft auch
-am hellichten Tage?«</p>
-
-<p>»Nun, zum Beispiel ich und zum Beispiel Sie,«
-erwidert er, »denn Sie wollen mir doch nicht einreden,
-daß heut vormittag um zehn Uhr, als ich
-Sie vergeblich zu sprechen wünschte, Mitternacht
-war. &ndash; Und übrigens &ndash; ausgewachsener Mensch!
-Wer ist ausgewachsen? Welche Anmaßung!
-Wollen Sie etwa von sich behaupten, daß Sie
-ein ausgewachsener Mensch seien?«</p>
-
-<p>»Lieber Professor,« sage ich, »ich höre gern
-meine Jugend preisen, aber ich finde, augenblicklich
-geht Ihre Höflichkeit zu weit.«</p>
-
-<p>»Und wer weiß,« fährt er fort, »ob wir nicht
-gerade im Schlaf am besten wachsen?« &ndash; »Jawohl,«
-werfe ich ein, »von den Säuglingen wird
-das allgemein behauptet.«</p>
-
-<p>»Dummes Mädel,« fährt er mich an, »muß
-denn immer von körperlichen Funktionen die Rede
-sein? Es ist ein echt weiblicher Zug von Ihnen,
-daß Sie nie das Geistige ins Auge fassen können.«</p>
-
-<p>»Verzeihen Sie, aber der Gedanke lag mir zu
-fern, daß Sie als Lehrer der Jugend den Schlaf
-für das beste geistige Förderungsmittel ansehen
-könnten. Es sei denn, Ihre Vorlesungen&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_151" title="151"> </a>
-Er schlägt mit der Hand auf den Tisch, daß
-das Nachbarpaar erstaunt herübersieht und der
-Kellner nervös zusammenzuckt.</p>
-
-<p>»Herrgott, hat dieses Mädel ein Mundwerk!
-Ein wahres Glück, daß ich Sie nicht geheiratet
-habe!«</p>
-
-<p>»Warum?« frage ich, »ich kann mir das reizend
-vorstellen, und es wäre uns beiden sicher sehr
-gesund gewesen.«</p>
-
-<p>»Gesund?« antwortet er, »das wäre möglich,
-etwa nach der Methode, daß man den einen nimmt
-und den anderen damit verprügelt.«</p>
-
-<p>»Ja, so dachte ich mir's,« bestätige ich und
-sehe vergnügt zu, wie er sich zum Entsetzen des
-Kellners den Teller mit Kuchen belädt. Nachdem
-der Befrackte endlich entlassen ist, sage ich:</p>
-
-<p>»Es ist ein echt weiblicher Zug von Ihnen, daß
-Sie so gern Kuchen essen.«</p>
-
-<p>»Wer sagt Ihnen, daß ich gern Kuchen esse?«
-fragt er gereizt, »und wenn Sie mich übrigens
-deshalb gestern am Telephon mit allen Mitteln
-weiblicher Verführungskunst hierhergelockt haben,
-um mir anzudeuten, daß Ihnen mein Appetit unsympathisch
-ist&nbsp;&ndash;.« &ndash; »Wieso unsympathisch?«
-frage ich, »mir ist jeder menschliche Zug an Ihnen
-willkommen. Ich habe Sie aber nicht deshalb
-hierherbeordert&nbsp;&ndash;.« &ndash; »Gefleht haben Sie.« &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_152" title="152"> </a>
-»Hierherbeordert,« wiederhole ich. &ndash; »Auf den
-Knien haben Sie gelegen.«</p>
-
-<p>»Nein,« sage ich, »dazu war die Schnur zu
-kurz. Aber Sie sehen, ich habe es versucht, und
-das genügt Ihnen hoffentlich. Also lassen Sie
-mich gefälligst ausreden. Nicht deshalb, um mich
-an Ihrem Appetit zu erfreuen, sondern um festzustellen,
-ob Sie noch immer so ein Grobian sind
-wie früher. Und ich muß sagen, mein Wissensdurst
-ist gestillt.«</p>
-
-<p>»Nun, dann kann ich ja Gott sei Dank nach
-Hause gehen, wenn ich den Kuchen aufgegessen
-habe, denn wenn Sie etwa glauben&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ja, das können Sie,« unterbreche ich ihn,
-»eine Stunde werden Sie reichlich damit zu tun
-haben, und mehr Zeit habe ich ohnehin nicht für
-Sie vorgesehen.«</p>
-
-<p>»Kellner!« ruft er. &ndash; »Um Gottes willen,«
-flehe ich, »Sie blamieren mich, wenn Sie sich
-noch mehr Kuchen nehmen. Wir werden hinausgeworfen.«
- &ndash; »Werden Sie jetzt artig sein?«
-fragt er. »Sie sehen, ich habe Sie in der Hand,
-ich kann Sie aufs tödlichste blamieren, wenn
-ich will. Also geben Sie jetzt zu, daß Sie
-mich angefleht haben, hierherzukommen?« &ndash;
-»Ja, ja,« sage ich, denn der Kellner steht schon
-neben uns.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_153" title="153"> </a>
-»Reichen Sie der Dame den Kuchen,« sagt der
-Professor großartig.</p>
-
-<p>Ich lasse den Kellner unverrichteterdinge abziehen
-und sage: »Ich habe mich vorhin schon bedient,
-während Sie wahrscheinlich noch mit Ihrem
-geistigen Wachstum beschäftigt waren.«</p>
-
-<p>Er schnippt mit Daumen und Mittelfinger nach
-meiner Hand, die ich erschrocken zurückziehe.</p>
-
-<p>»Sie haben die körperliche Züchtigung verdient,«
-sagt er, »denn Sie hätten merken können,
-daß ich jetzt vernünftig mit Ihnen sprechen will.« &ndash;
-»Es ist mir nichts aufgefallen.« &ndash; »Ruhig! &ndash;
-Also, wie geht es Ihnen?«</p>
-
-<p>»Auf eine so originelle Frage kann ich nur
-ebenso originell antworten. Es geht mir natürlich
-sehr gut.« &ndash; »Wieso natürlich?« fragt er, »ach
-so, Sie meinen, einer so entzückenden Dame gegenüber
-kann das Schicksal natürlich gar nicht anders
-als zart und galant verfahren. Sie stehen ja
-auf einem so hohen Piedestal, Sie schweben so
-hoch über allen Erdendingen&nbsp;&ndash;.« &ndash; »Um Gottes
-willen,« sage ich, »was haben Sie auf einmal?« &ndash;
-»Warum?« fragt er, »war ich etwa nicht grob?« &ndash;
-»Geradezu unverschämt,« versichere ich.</p>
-
-<p>»Na also,« sagt er, »was ist da zu erschrecken!
-Mir scheint, Sie sind etwas verwöhnt und verzärtelt
-worden seit unserem letzten Zusammensein.
-<a class="pagenum" id="page_154" title="154"> </a>
-&ndash; Was machen übrigens Ihre vierzig
-Freunde?«</p>
-
-<p>»Sie verwechseln das,« belehre ich ihn, »bei
-unserem letzten Zusammensein war von Ihren
-dreiundvierzig Freundinnen die Rede.«</p>
-
-<p>»Nun ja, warum sollte ich nicht drei mehr
-haben als Sie?« fragt er, »gönnen Sie mir die
-etwa nicht?«</p>
-
-<p>»Von Herzen,« sage ich. »Don Juan hatte
-noch mehr.«</p>
-
-<p>»Don Juan war auch kein feiner Genießer wie
-ich,« erklärt er. »Ich bin nur für Auslese, und
-deshalb kann auch der Kreis unmöglich vergrößert
-werden, so sehnsüchtig Sie darauf warten, aufgenommen
-zu werden.«</p>
-
-<p>»Weshalb sind Sie so grausam?« frage ich,
-»gehen mir vielleicht ein paar Tugenden ab, die
-notwendig sind, um unter die Göttinnen eingereiht
-zu werden?«</p>
-
-<p>»Alle,« erklärt er, »zuerst die wichtigste, Bescheidenheit.
-Sie sind von einem ebenso unberechtigten
-wie unerträglichen Hochmut geradezu
-geschwellt. Sie halten sich für unausstehlich gescheit&nbsp;&ndash;.«
-&ndash; »Ganz im Gegenteil,« versichere
-ich, »ich halte mich für sehr angenehm begabt.«</p>
-
-<p>»Sie sind überzeugt,
- daß Sie keine Fehler
-haben&nbsp;&ndash;.« &ndash; »Auch das nicht,« antworte ich,
-<a class="pagenum" id="page_155" title="155"> </a>
-»aber ich habe gerade meine kleinen Untugenden
-von jeher sehr reizvoll und sympathisch gefunden. &ndash;
-Fahren Sie übrigens nur fort, es gibt für mich
-nichts Wohltuenderes, als wenn sich jemand so
-eingehend mit meiner Person beschäftigt.«</p>
-
-<p>»Für diese niedrige Eitelkeit verdienen Sie meine
-Verachtung,« antwortet er, »oder ist Ihnen eine
-körperliche Züchtigung lieber?«</p>
-
-<p>»Ach nein,« sage ich erschrocken und verstecke
-die Hände unterm Tisch, »wenn ich dann lieber
-um Ihre Verachtung bitten dürfte.«</p>
-
-<p>»Dacht ich mir's doch,« sagt er, »man hat Sie
-entsetzlich verweichlicht im letzten halben Jahr. &ndash;
-Aber jetzt ernstlich: Was machen die vierzig?
-Oder sind's seitdem mehr geworden oder gar
-weniger?«</p>
-
-<p>Ich nicke: »Einer weniger.«</p>
-
-<p>»Verkracht?« fragt er und strahlt geradezu
-teuflisch. &ndash; »Ach, wenn's nur das wäre,« sage ich.</p>
-
-<p>»So, so, also ernstlich,« überlegt er. »War's
-Ihr bester?«</p>
-
-<p>»Ich weiß nicht,« antworte ich, »aber ich glaube,
-der, den man verloren hat, war immer gerade der
-beste.«</p>
-
-<p>»Na ja,« brummt er, »das hat dann gleich so
-etwas vom verlorenen Sohn an sich. Aber mit
-Freunden sollte es anders sein. Die man ohne
-<a class="pagenum" id="page_156" title="156"> </a>
-eigene Schuld verliert, an denen ist meistens nichts
-verloren. Und so streitsüchtig Sie sind, ich nehme
-an, es war nicht Ihre Schuld.«</p>
-
-<p>Ich muß lachen. »Ach nein,« sage ich, »ich
-war ganz und gar unschuldig, der Junge hat sich
-verheiratet.«</p>
-
-<p>»O weh, o weh!« sagt der Professor und schlenkert
-die Hand durch die Luft, als habe er sich verbrannt.
-»Also ein fast unheilbarer Fall. Wie
-konnte der Trottel nur?«</p>
-
-<p>»Trottel?« sage ich empört. »Er hat sehr vernünftig
-geheiratet, ideal und nützlich zugleich.«</p>
-
-<p>»Also ein idealer Nützlichkeitstrottel,« nickt er.
-»Und er hat Ihnen versprochen: Zwischen uns
-bleibt alles, wie es war, und unsere Freundschaft
-besteht jede Probe, und so weiter?«</p>
-
-<p>»So ähnlich,« antworte ich.</p>
-
-<p>»Und Sie Schaf haben's geglaubt?«</p>
-
-<p>»Lieber Professor,« sage ich, »ich bin vielleicht
-geistig etwas unter dem Durchschnitt, aber für so ein
-Schaf dürfen Sie mich nun doch nicht halten.«</p>
-
-<p>»Na also,« sagt er, »und trotzdem beklagen
-Sie sich jetzt.«</p>
-
-<p>»Ich glaube, ich kann Ihnen mit gutem Gewissen
-die ehrenvolle Anrede zurückgeben. Denken
-Sie Schaf vielleicht, uns schmerzen nur die Dinge,
-die wir nicht vorausgesehen haben?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_157" title="157"> </a>
-»Es war dumm, natürlich,« brummt er. »Sie
-haben recht. Es gibt allerdings Menschen, denen das
-Vorhergewußthaben jeden Schmerz versüßt, aber
-dazu gehören Sie anscheinend nicht. Wieso kam es
-aber zum Bruch? Hat man Sie etwa beleidigt?«</p>
-
-<p>»Es ist gar kein Bruch, und mit Absicht hat
-man mich wohl nicht beleidigt,« antworte ich,
-»aber haben Sie nicht schon bemerkt, daß uns
-die Kränkungen am tiefsten treffen, die uns unabsichtlich
-zugefügt werden?«</p>
-
-<p>»Natürlich,« sagt er, »die verfluchte Eitelkeit!
-Wir ertragen's eher, daß man uns haßt und verabscheut,
-als daß man uns gleichgültig gegenübersteht.
-&ndash; Übrigens vermute ich, Sie verlieren nicht
-mehr viel an dem Verkehr, denn wir waren uns
-ja von jeher darüber einig, daß glücklich verheiratete
-Leute kein Umgang für Menschen von Geschmack
-sind. Ob sie's wollen oder nicht, sie bringen ihr
-Familiensofa überall mit hin, und man kann sie
-noch so entfernt voneinander placieren, immer hat
-man das Gefühl, als säßen sie Hand in Hand. &ndash;
-Ist übrigens noch kein Ersatz in Sicht?«</p>
-
-<p>»Ersatz?« wiederhole ich. »Jeder ist doch ein
-Mensch für sich, und einer kann den anderen nicht
-ersetzen.«</p>
-
-<p>»Nun,« antwortet er, »meistens ist es doch
-im Leben so, daß uns die Dinge schon halb verloren
-<a class="pagenum" id="page_158" title="158"> </a>
-sind, während wir sie noch zu halten glauben,
-und während von uns ungeahnt, irgendwo aus
-der Flut der Erscheinungen schon das Neue aufsteigt,
-das den Ersatz in sich trägt.«</p>
-
-<p>Wir schweigen eine Zeitlang, und ich schaue
-ein wenig gedankenlos in die kleine rosa Lampe
-vor mir. Endlich sage ich:</p>
-
-<p>»Drollig, mir ist ein Wort im Ohr hängen
-geblieben, das Sie vorhin sprachen. Vielleicht,
-weil's so widerspruchsvoll klingt. Was ist das,
-ein idealer Nützlichkeitstrottel?«</p>
-
-<p>»Na,« antwortet er, »widerspruchsvoll klingt
-das Wort nun ganz und gar nicht, oder doch
-nur für den Trägen im Geist. Im allgemeinen
-drücke ich mich allerdings höflicher aus und sage:
-ideale Nützlichkeitsmenschen. Das Trottel sollte
-vorhin nur die weitverbreitete Trottelei des Heiratens
-treffen.«</p>
-
-<p>»Meine geistige Trägheit schreit wahrscheinlich
-zum Himmel,« antworte ich, »aber ich kann mir
-auch unter der milderen Form nichts vorstellen.
-Also bitte, Herr Professor&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Er fährt sich seufzend über den, trotz seiner Jugend,
-schon recht kahlen Schädel. »Gräßlich, wenn
-man durch die verfluchte Galanterie auch noch
-außerhalb der Vorlesungen zum Dozieren gezwungen
-wird. Aber nun passen Sie wenigstens auf, sonst
-<a class="pagenum" id="page_159" title="159"> </a>
-setzt's was. Noch einmal kommen Sie nicht mit
-meiner Verachtung davon, diesmal knipse ich.«</p>
-
-<p>»Mein Denkapparat wird nur so rasseln,« versichere
-ich und verstecke die Hände unterm Tisch.</p>
-
-<p>»Na also,« er denkt einen Augenblick nach,
-»wissen Sie noch etwas von Lessings Hamburgischer
-Dramaturgie?«</p>
-
-<p>»Ja,« sage ich stolz, »sie handelt hauptsächlich
-von Laokoon.«</p>
-
-<p>»Ganz recht,« lobt er. »Sie meinen zwar den
-Laokoon von Lessing, aber das schadet nichts.«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Nein,« sage ich, »es schadet sicher nichts. Was
-hat es aber mit den idealen Nützlichkeitsmenschen
-zu tun?«</p>
-
-<p>»Komische Frage,« antwortet er, »was soll es
-ausgerechnet damit zu tun haben? Ich muß morgen
-einen Vortrag über die Hamburgische Dramaturgie
-halten und wollte mich von Ihnen inspirieren
-lassen.«</p>
-
-<p>»Und ist es geglückt?« frage ich. &ndash; »Vollkommen,«
-antwortet er, »ich bin nun so im Zug,
-daß ich Ihnen meinen Vortrag sofort halten
-werde.«</p>
-
-<p>»Ich hoffe, Sie sind nicht böse, wenn ich dabei
-die Augen schließe,« frage ich, »das ist nämlich
-meine Gewohnheit bei Vorträgen und vielleicht
-der Grund zu meiner geistigen Fortgeschrittenheit.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_160" title="160"> </a>
-»Meinetwegen,« sagt er, »es ist mir ohnedies
-peinlich, wenn Sie mich so mit den Blicken verzehren
-und mir jedes Wort von den Lippen saugen.«</p>
-
-<p>Ich überwinde einen krampfartigen Lachanfall,
-und er beginnt:</p>
-
-<p>»Lessing war der Ansicht, daß in Hamburg das
-Prinzip der Nützlichkeit das überwiegende und
-ausschlaggebende sei. Davon steht zwar nichts in
-seiner Hamburgischen Dramaturgie, aber wir dürfen
-das dem Mann nicht zum Vorwurf machen, denn
-warum hätte er das gerade da hineinschreiben
-sollen? Er war trotzdem dieser Ansicht, und wir
-sind es mit ihm. Nun gibt es sowohl in, als
-auch außerhalb Hamburgs verschiedene Arten von
-Nützlichkeitsmenschem. <i>Ad</i>&nbsp;1: Die gewöhnliche Feld-,
-Wald- und Wiesenpflanze, die jeder sofort erkennt,
-<i>ad</i>&nbsp;2: die verfeinerte Sorte, die zwar auch
-nicht ganz selten ist, aber nur von Denkenden und
-geistig Hochstehenden erkannt und richtig eingereiht
-wird.</p>
-
-<p>Es sind die Glücklichen, die nie eine Überzeugung,
-nie eine Neigung opfern müssen, weil ihre Überzeugung
-und ihre Neigung sich immer nach dem
-ihnen Nützlichen dreht, wie die Magnetnadel nach
-Norden. So leben sie unbeschwert von Sentiments,
-die nicht gerade der Augenblick in ihnen
-weckt, unbeschwert vor allem von retrospektiven
-<a class="pagenum" id="page_161" title="161"> </a>
-Störungen, denn alles ist in ihrem Gedächtnis,
-oder sagen wir in dem Gedächtnis ihres Herzens
-ausgelöscht, was ihnen nicht mehr nützen kann.
-Und man darf von ihnen als ideal veranlagten
-Naturen nicht verlangen, daß sie sich nach etwas
-anderem als dem Zug ihres Herzens richten.</p>
-
-<p>Sie sehen denn auch mit Verachtung auf den
-gewöhnlichen Nützlichkeitsmenschen herab, der der
-Stimme seines Herzens zuwider handelt und sich
-oft erst nach hartem Kampf mit sich selbst und
-mit bewußter Kraft und Rohheit das erringen
-muß, was ihnen eine besonders glückliche Veranlagung
-schenkt. Ihre Entschuldigung, wenn sie
-einer bedürfen, ist, daß sie nichts von dieser glücklichen
-Veranlagung wissen und ihrer wirklichen
-Überzeugung nach als ideal geartete Menschen
-durch die Welt gehen. &ndash; Kapiert?«</p>
-
-<p>»Jawohl,« sage ich.</p>
-
-<p>»Also kurz rekapitulieren!« Er sieht mich streng
-an, und ich sage, die Hände krampfhaft unterm
-Tisch:</p>
-
-<p>»Lessings Hamburgische Dramaturgie gipfelt
-in der Erkenntnis, daß es gewöhnliche und ideale
-Nützlichkeitsmenschen gibt. Die ersten werden zum
-Beispiel nie ein armes Mädchen heiraten, die
-zweiten werden sich nie in ein armes Mädchen
-verlieben.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_162" title="162"> </a>
-»Basta punktum!« sagt der Professor grinsend,
-»da hat sich's der Weiberkopf Gott sei Dank in
-seine Weibersprache übersetzt. Vom Verlieben und
-Heiraten muß bei euch die Rede sein, da seid ihr
-zu Hause und geborgen, da könnt ihr mitschwimmen
-und plätschern wie ein Fisch im Wasser.«</p>
-
-<p>»Weshalb verallgemeinern Sie so?« frage ich
-sanft. »Sollten Ihre dreiundvierzig Freundinnen
-am Ende ebenso trivial sein wie ich?« &ndash; »Die
-werden sich hüten,« antwortet er, »wer mit mir
-vom Heiraten spricht, hat ausgespielt.«</p>
-
-<p>»Erzählen Sie ein bißchen von den dreiundvierzig,«
-schlage ich vor, um ihn wieder milder zu
-stimmen. »Sind sie alle sanft und bescheiden oder
-sind auch Wilde und Feurige dabei oder herb
-Verschlossene oder hinreißend Kluge? Daß sie alle
-berückend schön sind, setze ich als selbstverständlich
-voraus.«</p>
-
-<p>»Alles ist da,« antwortet er stolz.</p>
-
-<p>»Das muß ja unglaublich interessant und spannend
-sein,« schmeichle ich ihm, und er lächelt in
-teuflischer Verschlagenheit vor sich hin.</p>
-
-<p>»Sie sind so verschwiegen,« beklage ich mich,
-»und ich habe Ihnen heute schon so viel von mir
-erzählt, daß Sie sich freundschaftlicherweise revanchieren
-dürften.«</p>
-
-<p>»Ja,« sagt er nach einer kleinen Pause, »ich
-<a class="pagenum" id="page_163" title="163"> </a>
-will Ihnen erzählen: Sie ist sanft und feurig
-und schelmisch und ernst und verschlossen und
-mitteilsam und stolz und bescheiden und alles zugleich.
-Und schön ist sie&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Sie, sie!« sage ich ganz fassungslos, »ich denke,
-es sind dreiundvierzig!«</p>
-
-<p>»Quatschkopf!« sagt er und schnippt nach meiner
-Hand. »Sie wissen doch schon lange, daß es nur
-eine ist.«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_165" title="165"> </a>
-Warum der kleine Dichter einen Nasenstüber<br />
-bekam&nbsp;&ndash;</h2>
-
-<p class="ce"><img src="images/p165i.jpg" alt="" /></p>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_167" title="167"> </a>
-»Der kleine Dichter« hieß er im Sanatorium,
-wo ich ihn kennenlernte, zur Unterscheidung von
-dem großen, der ihn sowohl an Körperlänge, als
-an Berühmtheit überragte. Aber hier in Hamburg,
-wo er nicht im Schatten seines größeren
-Kollegen lebt, nennen wir ihn den Dichter schlechthin,
-und wenn mir doch mal das Beiwort entschlüpft,
-dann hat es nichts mit einer Wertung
-zu tun, sondern ist ein Kosewort, und er läßt
-sich's behaglich schnurrend wie eine Katze gefallen.</p>
-
-<p>Er hat mich gelehrt, daß ein Genie es unsagbar
-schwer im Leben hat und unter tausend Qualen
-leidet, von denen wir anderen nichts ahnen,
-und daß es daher unsere Pflicht ist, die Genies
-auf jede erdenkliche Art zu verwöhnen und ihnen
-so die Last ihrer Sendung zu erleichtern. Und ich
-habe damit angefangen, daß ich eine eierschalendünne
-Tasse gekauft habe, die er als seine Stammtasse
-betrachtet und aus der er ungeahnte Fluten
-von Kaffee schlürft, denn er bedarf starker Stimulanzen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_168" title="168"> </a>
-Auch Kuchen und Zigaretten sind Stimulanzen,
-deren er in hohem Maße bedarf.</p>
-
-<p>Heute ist sein schmales Gesicht von Wind und
-Kälte gerötet, wie er bei mir eintritt. Er reibt sich
-heftig die auffallend schönen Hände, so daß das
-schmale goldene Armband ein wenig sichtbar wird,
-und dehnt sich dann behaglich im Sessel.</p>
-
-<p>»Geradezu niederschmetternd ist es draußen,«
-berichtet er, »und ich weiß wirklich nicht, ob wir
-es uns gefallen lassen müssen, daß man uns unausgesetzt
-von oben herab mit kaltem Wasser begießt.«</p>
-
-<p>»Ganz und gar nicht,« antworte ich und reiche
-ihm seine Tasse. »Sie haben ja auch Ihre Gegenmaßregel
-schon getroffen, die einzig wirksame, die
-es gibt.«</p>
-
-<p>»Ja, ich bin hierhergeflüchtet,« sagt er, »übrigens
-nicht nur vor dem Regen, denn ich habe ja
-auch zu Hause gewissermaßen ein Dach über dem
-Kopf. Aber dies hier ist kein Dach, es ist eine Art
-Baldachin, eine Tempelwölbung, wenn Sie wollen,
-und nach so etwas sehnt man sich von Zeit zu
-Zeit geradezu elementar.«</p>
-
-<p>Ich blicke ihn prüfend an und entdecke, daß er
-müde aussieht und daß sein schöngeschnittenes
-Gesicht noch etwas hagerer als sonst erscheint.</p>
-
-<p>»Sie haben zu viel gearbeitet,« sage ich. &ndash;
-»Ja,« antwortet er seufzend, »ich habe mich geschunden
-<a class="pagenum" id="page_169" title="169"> </a>
-und abgerackert, hundert Pferdekräfte
-habe ich vorgespannt, weil ich es zwingen wollte.
-Äh, lassen wir's jetzt! Hier ist es schön, und der
-Gedanke an Arbeit liegt in nebelhafter Ferne. &ndash;
-Denn sehen Sie,« fährt er lebhaft fort, »trotzdem
-Sie oft über meinen irrsinnigen Fleiß schelten, und
-trotzdem ich manchmal arbeite wie ein Tier, im
-Grund meines Wesens bin ich faul, &ndash; ohne jede
-Beschönigung, schlechthin faul.«</p>
-
-<p>»Ich weiß,« antworte ich, »und kann Sie mir
-sehr gut als leidenschaftlichen Anhänger meines
-Lieblingsgottes vorstellen, des göttlichsten Gottes,
-der das absolute Nichtstun lehrt und das süße
-Versinken in sich selbst.«</p>
-
-<p>»Ja,« antwortet Robert Helström mit einer
-großen Geste, »und hier ist der Tempel des Gottes
-Tao und seine fanatischste Priesterin. Und mir ist
-fast so, als kennten wir einander von Urzeiten
-her, und unsere Lotosblumen hätten einmal nahe
-beieinander geblüht. Ja wahrhaftig,« er stützt den
-Kopf in die Hand und betrachtet mich aufmerksam,
-»wenn ich mich recht besinne, gnädige Frau,
-Sie haben sich in den letzten zweitausend Jahren
-nicht im geringsten verändert.«</p>
-
-<p>»Kleiner Dichter,« sage ich und sehe ihm in die
-necklustigen Augen. »Was wollen Sie eigentlich
-heute von mir? Ihre Redensarten sind so süß und
-<a class="pagenum" id="page_170" title="170"> </a>
-glupschig wie Pralinés und haben auch das mit
-Pralinés gemein, daß man nicht recht weiß, was
-darin steckt. Also sagen Sie's gleich: muß ich
-wieder bei der Abfassung eines knifflichen Briefes
-an Ihren Verleger helfen, der so ungefähr haarscharf
-an einer Injurienklage vorbeiführt? Oder
-habe ich Sie heute mit eigener Lebensgefahr aus
-einer verzwickten Liebesaffäre zu erretten? Oder
-was ist es sonst?«</p>
-
-<p>Aber in Robert Helströms Kopf scheint nur
-<em class="ge">ein</em> Wort haften geblieben zu sein, er macht einen
-langen Hals und blickt suchend auf dem Tisch
-umher.</p>
-
-<p>»Apropos Praliné?« murmelt er.</p>
-
-<p>Ich zeige ihm meine geöffneten Hände. »Alle,«
-antworte ich.</p>
-
-<p>»Unerhört,« sagt er und lehnt sich entrüstet im
-Sessel zurück. »Ich werde mich beschweren!«</p>
-
-<p>»Tun Sie das,« nicke ich. »Wer sich beschwert,
-erleichtert sich merkwürdigerweise, und das ist auch
-meist der einzige Erfolg, den er dabei aufzuweisen
-hat.«</p>
-
-<p>»Gut,« sagt Robert Hellström, »diesen Splitter
-aus dem Auge Ihrer Nächsten sollten Sie den
-Fliegenden Blättern übersenden und für den Erlös
-neue Pralinés kaufen. &ndash; Übrigens ist doch sicher
-nur Marke zwei und drei ausgegangen, während
-<a class="pagenum" id="page_171" title="171"> </a>
-Nummer eins noch beinahe unangetastet im
-Schokoladenschrank ruht.«</p>
-
-<p>»Selbstverständlich,« antworte ich. »Nummer
-eins ist streng persönlich und unübertragbar. Nur
-zur Aufheiterung meiner einsamen Stunden bestimmt
-und hie und da im Theater zur geistigen
-Anregung.«</p>
-
-<p>Robert Helström schweigt empört, aber die
-tausend Qualen, die ein Genie zu erdulden hat,
-stehen so deutlich auf seinem Gesicht geschrieben,
-daß ich gerührt aufstehe und zum Schokoladenschrank
-gehe. Er bemerkt es scheinbar nicht, sondern
-blickt schweigend nach der Stubendecke. Erst wie
-ich mit der kleinen Schachtel an den Tisch zurückkomme,
-sagt er lebhaft:</p>
-
-<p>»Wir wollen sie ausschütten, der besseren
-Übersicht halber,« und leert die Schachtel vorsichtig
-auf einen Glasteller. Dann sitzen wir ein
-paar Minuten still und einträchtig zusammen,
-wie Kinder, die auf die angenehmste Art beschäftigt
-sind.</p>
-
-<p>Endlich sage ich: »Etwas muß auch für das
-nächste Mal bleiben,« und stelle den Teller aus
-seiner Reichweite.</p>
-
-<p>»Mir fällt übrigens ein, daß wir uns lange
-nicht gesehen haben.«</p>
-
-<p>»Vier Wochen fast,« antwortet er, »und es
-<a class="pagenum" id="page_172" title="172"> </a>
-spricht weder für Sie noch für mich, daß Ihnen
-das jetzt erst einfällt. Ich will zu Ihrer Entschuldigung
-annehmen, daß Sie von anderer Seite
-genügend mit geistiger Kost versehen wurden.«</p>
-
-<p>»Es muß wohl ausreichend gewesen sein,« antworte
-ich. »Meine Freunde haben ja alle viel
-Zeit, und so kommt es&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Ja, ja,« macht er nachdenklich und fährt
-dann lebhaft und mit etwas affektierter Leichtigkeit
-fort:</p>
-
-<p>»Ja, das wäre doch interessant zu wissen,
-gnädige Frau, und ich hoffe, Sie antworten mir
-ehrlich: Ist Ihnen noch nie der eine oder der
-andere Ihrer Freunde gefährlich geworden? Es
-läge doch so nahe&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Ich kann's nicht ändern, ich muß dem kleinen
-Dichter einmal mit der Hand übers Gesicht
-streichen und ihm dann einen Nasenstüber versetzen.</p>
-
-<p>»Einer?« sage ich. »Oder der andere? Was
-denken Sie eigentlich? Jeder einzelne ist mir schon
-gefährlich gewesen, der eine auf Tage, der andere
-auf Stunden und manchmal waren's auch nur
-Minuten, aber zum Glück hat immer einer den
-anderen wieder aufgehoben, so daß die Sache hübsch
-im Gleichgewicht blieb, &ndash; <i>balance of power</i>
-nennt man so etwas, glaube ich.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_173" title="173"> </a>
-Der kleine Dichter sieht unzufrieden aus, und
-ich beuge mich ein wenig zu ihm hinüber und
-frage:</p>
-
-<p>»Also weshalb habe ich Sie solange nicht gesehen?«</p>
-
-<p>Er weicht meinem Blick aus: »Ich wollte
-arbeiten, ich sagte es ja.«</p>
-
-<p>»Früher war das ein Grund mehr, zu kommen.«</p>
-
-<p>»Ja, früher!« antwortet er rätselhaft und fragt
-dann, unbeweglich in den blauen Rauch starrend,
-der seiner Zigarette entsteigt:</p>
-
-<p>»Kennen Sie das, was einen nicht arbeiten und
-nicht ausruhen läßt, nicht wachen und nicht schlafen,
-die Qual, die einen auffrißt bei lebendigem
-Leib?«</p>
-
-<p>»Wer kennt das nicht?« antworte ich, und
-dann ist's eine Weile still im Zimmer.</p>
-
-<p>Und dann frage ich: »Wissen Sie denn so
-genau, daß sie einen anderen liebt?«</p>
-
-<p>»Sie ist verheiratet,« sagt er leise, und da ich
-ihn schweigend ansehe, fährt er hastig fort: »Ich
-weiß, was Sie sagen wollen. Aber er ist der
-Mann, und er hat das Recht, und ich kann den
-Gedanken nicht ertragen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Er steht so heftig auf, daß der kleine Tisch ins
-Schwanken gerät, und die eierschalendünne Tasse
-klirrt.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_174" title="174"> </a>
-»Und er, der Ehemann?« frage ich. »Hat er
-nicht mehr Grund zur Eifersucht als Sie?«</p>
-
-<p>»Der?« lacht er. »Weshalb denn? Er ist ja
-seiner Sache sicher; sie ist vernünftig, denkt er,
-sie wird mir schon keine Dummheiten machen.
-Und darin hat er recht, Gott sei's geklagt!«</p>
-
-<p>Ich schweige, und es geht mir durch den Kopf,
-daß hier ein fundamentaler Unterschied zwischen
-männlichem und weiblichem Empfinden sein muß.
-Mag sie lieben, wen sie will, denkt der Normalmann,
-wenn sie mir nur keine Dummheiten
-macht! Mag er Dummheiten machen, wenn er
-will, denkt die Normalfrau, wenn er nur keine
-andere so liebt wie mich!</p>
-
-<p>Und ich will schon ein bißchen stolz auf mein
-eigenes Geschlecht werden, denn unser Standpunkt
-scheint mir der geistigere und vornehmere zu sein,
-aber ehe ich dazu komme, fallen mir schon wieder
-hundert Für und Wider ein, und aus diesen Erwägungen
-heraus frage ich Robert Helström, der
-mit langen Schritten das Muster meines Teppichs
-auf und ab schreitet und dabei gewisse Ornamente
-ängstlich zu vermeiden scheint:</p>
-
-<p>»Weshalb sagt man eigentlich, ein Mann sinkt
-und eine Frau fällt?«</p>
-
-<p>Er steht still und sieht mich einen Augenblick
-zerstreut an, dann sagt er: »Das ist doch sehr einfach.
-<a class="pagenum" id="page_175" title="175"> </a>
-Wir Männer sind schon unten, wir leben
-sozusagen im Sumpf und können nur noch tiefer
-sinken und versumpfen, langsam und allmählich.
-Die Frau steht auf einer stolzen Höhe, aber ein
-Schritt zur Seite stürzt sie in den Abgrund.«</p>
-
-<p>»Kinder!« sage ich, »warum habt ihr uns nur
-auf ein so gräßlich gefährliches Postament gestellt?
-Hat eine von uns vielleicht jemals nach
-dieser schwindelnden Höhe verlangt?«</p>
-
-<p>Der kleine Dichter lacht. »Meiner bescheidenen
-Erfahrung nach nicht. Aber Sie haben recht, <em class="ge">wir</em>
-haben die Frau auf das ehrenvolle Piedestal erhoben.
-Im Manne ist eine Sehnsucht nach Reinheit,
-eine Andacht und Ehrfurcht vor der Unbeflecktheit
-des Weibes, die ihn trotz allem der
-Frau gegenüber zu dem ethisch höherstehenden
-Wesen macht. Bedenken Sie nur, daß selbst guterzogene
-und gut veranlagte Mädchen den berüchtigten
-Don Juan dem Tugendhelden vorziehen,
-während wir, trotz aller Verirrungen, das
-reine, das jungfräuliche Weib am meisten
-lieben.«</p>
-
-<p>»Ja, ja,« sage ich nachdenklich, »aber wie läßt
-sich diese rätselhafte, höchst widerspruchsvolle Tatsache
-erklären, denn mit einer höheren ethischen
-Veranlagung des Mannes hat sie sicher nichts
-zu tun.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_176" title="176"> </a>
-»Ich finde das unrecht,« schmollt er, »nicht
-mal das bißchen höhere Ethik gönnen Sie uns,
-doch sicher einer der am wenigsten begehrten
-menschlichen Vorzüge. Oder halten Sie es vielleicht
-für ein Vergnügen, moralisch zu empfinden?«</p>
-
-<p>»Sicher nicht,« antworte ich. »Ihr würdet
-euch sonst stärker damit belasten. Aber ich glaube,
-ich habe des Rätsels Lösung gefunden: Aus Egoismus
-liebt der Mann das jungfräuliche Weib,
-nicht aus Ehrfurcht vor ihrer Reinheit, sondern
-aus dem rohen Verlangen heraus, der Erste zu
-sein, der diese Reinheit besitzt und der sie zugleich
-zerstört. Und aus tief ethischem Empfinden liebt
-die Frau den gesunkenen Mann, aus Opfer- und
-Schmerzbereitschaft und aus dem Trieb heraus,
-ihn zu heben und zu erlösen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Ich sehe den kleinen Dichter stolz an, aber der
-schüttelt baß verwundert den Kopf.</p>
-
-<p>»Ei du liebes Herrgöttle!« sagt er, »seit wann
-sind Sie denn so begeistert weiblich gesinnt? Und
-wer sagt denn, daß wir partout eure Reinheit
-zerstören wollen? Daß wir's tun, ist eine bedauerliche
-Nebenerscheinung, aber doch nicht Zweck und
-Ziel. Im Gegenteil, es stimmt uns traurig und
-läßt uns immer von neuem nach neuer Reinheit
-und Unberührtheit suchen. Daher der Typ des
-Don Juan, der rastlos sucht und der erst zur
-<a class="pagenum" id="page_177" title="177"> </a>
-Ruhe kommen kann, wenn er das Ideal gefunden
-hat, die Frau, deren Reinheit unzerstörbar ist,
-Mutter und Jungfrau zugleich. Denn das ist
-nicht allein das Ideal der katholischen Kirche, der
-Madonnenkult lebt in jedem Mann.«</p>
-
-<p>»Nun,« antworte ich, »ich bin sicher, sämtliche
-Lebejünglinge und -greise werden Ihnen Dank
-wissen, daß Sie aus ihrer Unersättlichkeit die
-Sehnsucht nach einem Ideal, sozusagen also aus
-ihrer Not eine Tugend gemacht haben. Wie auch
-alle abenteuerlustigen Backfische mir dankbar die
-Hand küssen sollten, wenn ich ihre Sensationsgier
-in Opferfreudigkeit umdichte. &ndash; Denn man
-kann bekanntlich alle Dinge so und anders sehen,
-das Gegenteil ist meistens ebenso richtig.«</p>
-
-<p>Der kleine Dichter hat sich wieder an den Tisch
-gesetzt und raucht mit Hingebung seine Zigarette.</p>
-
-<p>»Die Weisheit der Temperamentlosen,« bemerkt
-er und fährt plötzlich mit nervöser Gereiztheit fort:
-»Sie sollten sich nicht zu ihr bekennen. Wer alles
-so und anders sehen kann, der mag sehr weise sein,
-aber er kann nichts hassen und nichts lieben. Er
-liebt einmal hier und einmal da, und vielleicht
-gibt es sogar Menschen, die hier und da zugleich
-lieben können. Wer weiß es?«</p>
-
-<p>»Ja, wer weiß es?« wiederhole ich und zünde
-mir eine Zigarette an. Und dann, in unseren gewohnten
-<a class="pagenum" id="page_178" title="178"> </a>
-Neckton verfallend, füge ich lächelnd
-hinzu: »Kleine Dichter müssen nicht so viel
-fragen. Sie kennen ja bekanntlich die Welt durch
-Antizipation und brauchen unsere Weisheit nicht.«</p>
-
-<p>Aber er fährt in seinem heftigen Tone fort, und
-seine Augen blitzen mich böse an:</p>
-
-<p>»Beneidenswerte Leute, die so weise sind, daß
-sie über alles lächeln können. Verspielte Leute,
-die das Leben zwischen ihren schmalen Händen
-und spitzen Fingern halten wie ein drolliges und
-seltsames Spielzeug und es hin und her drehen
-und lächelnd betrachten. Leute, denen alles zum
-Spielzeug wird, Worte und Empfindungen und
-Dinge und Menschen. &ndash; Ja, Menschen auch!«</p>
-
-<p>Er schweigt, und ich nehme seine Hand und
-streichle sie leise.</p>
-
-<p>»Nicht schelten,« sage ich. »Lassen Sie uns
-spielen! Und lassen Sie uns die Augen wegwenden
-von dem Abgrund, der überall neben
-uns klafft, wo wir gehen und stehen, und in den
-wir versinken müssen, wenn wir hinunterschauen.
-Lassen Sie uns am Rand spielen, wie Kinder,
-die von nichts wissen.«</p>
-
-<p>Wir schweigen einen Augenblick, dann sagt er
-leise, seine Wange an meine Hand gelehnt:</p>
-
-<p>»Wissende Kinder sind es, die die Augen vor
-dem Abgrund verschließen und mit ihrem eigenen
-<a class="pagenum" id="page_179" title="179"> </a>
-Herzen spielen wie mit der ganzen Welt. &ndash; Aber
-vielleicht ist es doch wahr, daß nichts auf Erden
-uns so nötig ist wie ein Frauenlächeln, und daß
-nichts im Leben so ernst und so heilig ist wie das
-Spiel.«</p>
-
-<p>»Lieber kleiner Dichter,« sage ich und reiche ihm
-den Rest der Pralinés hinüber, »weise oder nicht,
-für mich sind Sie ein großer Dichter.«</p>
-
-
-<hr />
-
-
-
-<h2>Hinweise zur Transkription</h2>
-
-
-<p class="in0">Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.</p>
-
-<p class="in0">Darstellung abweichender Schriftarten: <em class="ge">gesperrt</em>, <i>Antiqua</i>.</p>
-
-<p class="in0">Bei direkter Rede wurden sowohl Komma als auch Punkt vereinheitlichend
-jeweils vor dem schließenden Anführungszeichen angeordnet.</p>
-
-<p class="in0">Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten,
-mit folgenden Ausnahmen,</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_043">43</a>:<br />
-"sie" geändert in "Sie"<br />
-(recht gut, und was Sie jetzt sagen)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_044">44</a>:<br />
-"«&nbsp;&ndash;" eingefügt<br />
-(optimistisch genug zu behaupten,&nbsp;&ndash;«&nbsp;&ndash;)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_044">44</a>:<br />
-"»" entfernt vor "Ich"<br />
-(so nennen. &ndash; Ich will das erst beweisen)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_055">55</a>:<br />
-"»" entfernt vor "Aber"<br />
-(Aber Paulsen schüttelt den Kopf.)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_081">81</a>:<br />
-"»" eingefügt<br />
-(sagt Erich, »auf diesen liebenswürdigen Trick)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_114">114</a>:<br />
-"»" eingefügt<br />
-(»daß sich auch bei Ihnen einmal)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_127">127</a>:<br />
-"»" eingefügt<br />
-(»wir treffen uns oft des Abends im Café)</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="nd" href="#page_127">127</a>:<br />
-"«" eingefügt<br />
-(Es wird nie zutage kommen.«)</p>
-
-<hr />
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Gespräche im Zwielicht, by
-Karin Delmar [pseud.] and Terese Robinson
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESPRÄCHE IM ZWIELICHT ***
-
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-To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
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-and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
-
-
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
-Foundation
-
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
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-http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
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-
-The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
-Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
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-business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
-information can be found at the Foundation's web site and official
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-
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-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
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